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Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
1849.
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Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Aus dem Jahre
1849.
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Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
der Wissenschaften.
1851.
In Commission bei F. Dümmler’s Buchhandlung.
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Historische Einleitung ....». se. e.ereeeernerenne ee Seite I
Verzeichnifs der Mitglieder und Correspondenten derfAkademie vo dee. - VO
Y vGedächtnifsrede auf Italien 680.056 wa 6 686 8806 80006 OR N
„ Physikalische Abhandlungen.
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Rıess über die Seitenentladung der elektrischen Batterie ..... >». oo... Seite 1
MÜLLER über die Larven und die Metamorphose der Holothurien und Asterien. - 35
v W Gustav Rose über die Krystallform der rhombo@drischen Metalle, namentlich des
DV VII SIEREh S eren teten su siene = 7)
ji VLisk: Bermerkungen über den Bau der Orchideen. Erste Abhandlung... ... - 103
Mathematische Abhandlungen.
v WENCKE über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen ... .Seite 1
/ Leseune DirichLer über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlen-
OIE ee ee ee ee Ra RO - 69
Abhandlungen der philosophisch-historischen Klasse.
VRırTer über räumliche Anordnungen auf der Aulsenseite des Erdballs, und ihre
Funktionen im Entwicklungsgange der Geschichten... .... Seite 1
" PAnorkA: Die griechischen Eigennamen mit KALOX im Zusammenhang mit dem
Bilderschmuck auf bemalten Gefälsen ....... er. .00.0 - 37
' Dirksen: Von den Pflichten der Pietät gegen die Person des regierenden römi-
SCHEenSKarserse res ans ee eslerunn oSlolenie, oh eriehlege = 127
V“JACoB GRIMM über schule universität akademie ... 2...» » rc eeerene. - 193
“Derselbe über das verbrennen der leichen ... 2... . sr ernennen - 191
TRENDELENBURG über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg... .....» S
"Wisneuv: Grimm über Freidank .....o.o20oe.0-.0unnennnnene - 331
“D ensalbesNledeutsche Gespräche '. ... 2... 2... NN. sro nun - 415
Dirrerıcı über den Begriff der Übervölkerung » . ... +...» n0n.. .Seite437
GERHARD über das Metroon zu Athen und über die Göttermutter der griechischen
Mydholostern gen nee ote ER E- UBS Eee - 459
Derselbe über eine Cista mystica des brittischen Museums ........... - 491
ScuorT: Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China ........... ZaAg7
Derselbe: Das Reich Karachatai oder Si-Liao ...- 2 2.2 een er en en ne. = alE
RANKE: Zur Kritik Preulsischer Memoiren .. 2... 2 2200er 20er een 5
JAcoB GRIMM: Einige berichtigungen zu der abhandlung über das verbrennen
derüleichen %. :; "02. 1.7.10 Soda at 1 RM nee en are ER TEERR. E - 545
Jahr 189.
zoo
D:. Akademie der Wissenschaften beging am 25. Januar den Jah-
restag des Königs Friederichs des Zweiten in einer öffentlichen
Sitzung. Der vorsitzende Sekretar Herr Böckh hielt einen einlei-
tenden Vortrag, welcher in den Monatsberichten der Akademie ab-
gedruckt ist, und schlols ihn den Statuten gemäls mit einem Über-
blick über die im abgelaufenen Jahre bei der Akademie erfolgten
Personalveränderungen. Sodann las Herr Dove unter Vorlegung von
12 Charten über Linien gleicher Monatswärme. Diese Arbeit ist in-
zwischen in den Abhandlungen der Akademie aus dem Jahre 1848
erschienen.
Die öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahres-
tages eröffnete Herr Ehrenberg als vorsitzender Sekretar mit einer
Einleitungsrede, worin er in Kürze die Gründe der Tagesfeier ent-
wickelte und woran er als wissenschaftliche Festgabe Nachrichten über
einen in Irland am 14. Apr. d. J. gefallenen schwarzen, tintenartigen
Regen anschlofs. Über diesen wissenschaftlichen Inhalt ist das Nä-
here in den Monatsbericht der Akademie aufgenommen worden. Hier-
auf wurde von Herrn Trendelenburg als Sekretar der philoso-
phisch-historischen Klasse folgendes Urtheil über die Preisbewerbung
des Tages vorgetragen. „Die Akademie, in der Voraussetzung, dals
es oft nur des Antriebs oder Vorschubs bedürfe, um eine zeitge-
mälse, vom Stand der Wissenschaft längst geforderte, aber weit aus-
sehende Forschung von nicht geringem Belang in erwünschten Gang
zu bringen, hatte vor drei Jahren eine Preisaufgabe über die deut-
schen Eigennamen gestellt. Unser urkundlicher Vorrath von sol-
chen Namen ist fast noch unberührt, geschweige erschöpft, so dals
eine geordnete Zusammenstellung derselben nicht nur überraschen,
u
sondern auch von mehr als einem Gesichtspunkte aus bisher unge-
ahnte Ergebnisse an den Tag bringen mülste. Um hier die sprach-
liche Seite hervorzuheben, so liegt in den Eigennamen eine beträcht-
liche Menge von Wurzeln und Formen geborgen, die sich in der
laufenden Sprache verloren haben, und deren wieder habhaft zu
werden, unserem Alterthum zum Gewinn ausschlagen würde. Nicht
weniger Vortheil hätten historische und geographische Untersuchun-
gen aus der Sammlung zu ziehen. Der Arbeit grölster Erfolg be-
ruhte in ihrer Genauigkeit und Fülle, und wir haben es uns nicht
verhehlt, dafs auf die Schultern eines Jeden, der sich ihrer gedeih-
lich unterfinge, eine grolse Last gewälzt sein würde. Unausgesetzter
Fleils, ja persönliche und selbst örtliche Begünstigung waren nöthig,
um innerhalb der gesteckten Frist der Aufgabe Meister zu werden.
Die unser Vaterland aller Enden durchdringende öffentliche Bewe-
gung und Unruhe konnte diesem mühevollen Geschäft nur Abbruch
thun und Gefahr bringen. Wahrscheinlich ist mehr als ein Vorsatz
dadurch erstickt worden, oder die Ausführung auf halbem Wege
stehen geblieben. Es ist nur eine einzige Schrift eingelaufen, die an
ihrer Spitze den Spruch von Göthe führt: „So eine Arbeit wird
eigentlich nie fertig, man muls sie für fertig erklären, wenn man
nach Zeit und Umständen das Möglichste daran gethan hat.” Der
Verfasser hat, ohne sich darüber zu erklären oder zu entschuldigen,
sich gestattet, seine Sammlung auf die althochdeutschen Eigennamen
zu beschränken, während die Aufgabe, mit gutem Bedacht, sie auch
auf die niederdeutschen, friesischen und longobardischen erstreckt
wissen wollte. Schon darum kann ihm, der Strenge nach, der Preis
nicht zuerkannt: werden. Die Akademie hätte sich vielleicht bewogen
gefunden, ihn dennoch einer blolsen Sammlung althochdeutscher
Namen zu ertheilen, wenn darin das ihr vorschwebende Ziel in Be-
zug auf sie erreicht worden wäre. Allein auch des in dieser Schranke
immer noch gewaltigen Stoffes ist der Verfasser keinesweges mäch-
tig geworden, da er von den sehr zahlreichen gedruckten Haupt-
III
quellen, nach ungefährem Überschlag, etwa nur die Hälfte genutzt
und ausgezogen, noch viel minder gestrebt hat, sich die in bekann-
ten Archiven liegenden ungedruckten zugänglich zu machen. Seine
Auszüge lassen grolsentheils, und es ist dabei nicht gleichförmig zu
Werke geschritten, die hier unumgängliche Schärfe und Bestimmt-
heit der Belegstellen vermissen. Die eingereichte Arbeit scheint dem-
nach, sowohl ihrer Grundlage als Ausführung nach, ungenügend, und
kann nicht gekrönt werden. Gleichwohl bezeugt sie, was aus Lösung
der Aufgabe hätte werden können, und die Akademie hat, den Auf-
wand angestrengter Mühe, wie er schon aus dem beträchtlichen Um-
fang der Sammlung hervortritt, erkennend und zur ferneren Ermun-
terung des Verfassers, nach $. 68 ihrer Statuten beschlossen, ihm, ob-
wohl nicht den Preis, doch den Werth des Preises, die ausgesetzte
Summe von hundert Dukaten zu bewilligen. Der uneröffnet aufbe-
wahrte Zettel des Verfassers wird, je nachdem er es verlangt, später
eröffnet und sein Name auf geeignetem Wege bekannt gemacht, oder
auch ihm uneröffnet zurückgestellt, wenn keines von beiden begehrt
sein sollte, in der nächsten Leibnizischen Sitzung öffentlich verbrannt
werden. Des Verfassers Anspruch an die zuerkannte Summe ist aber
erloschen, falls er die Eröffnung seines Zettels nicht bis zum letzten
März 1850 verlangt hat.” Es mag hier bemerkt werden, dals sich später
der Akademie Herr Dr. E. Förstemann zu Danzig als Verfasser der
eingesandten Schrift genannt hat und ihm nach Entsiegelung des Zet-
tels die gedachte Summe ausgezahlt worden. Nach der Verkündigung
des Urtheils verlas der vorsitzende Sekretar folgende von der physika-
lisch- mathematischen Klasse gestellte neue Preisfrage der Akademie:
„Eine Untersuchung des Torfs mit besonderer Rücksicht auf die Anwen-
dung desselben und seiner Asche als Düngungsmittel. Die Akademie ver-
langt eine chemische und anatomische Untersuchung einer gewöhnlichen
Torfpflanze (Sphagnum acutifolium, obtusifolum) in frischem Zustande,
in Torf umgeändert und in so vielen Zwischenzuständen, als zur Aufklä-
rung dieser Umänderung nöthig ist; die chemische muls sich sowohl auf
b
IV
die Zellwände und den Inhalt derselben, so weit dies ausführbar ist, als
auf die Asche beziehen. Kleine, abgeschlossene Torfmoore, welche in
der Nähe von Berlin häufig vorkommen, die in rascher Fortbildung sich
befinden, hauptsächlich aus Sphagnum bestehen, und deren Wasser gleich-
falls untersucht werden mülste, sowie ein Hochmoor, wie z. B. das zwi-
schen Oldenburg und Leer, würden die besten Materialien zu einer sol-
chen Untersuchung liefern. Besonders verdient der Torf der Moore von
Linum wegen seiner Güte und seines grolsen Verbrauchs berücksichtigt
zu werden. Zugleich würde es der Akademie sehr wünschenswerth sein,
wenn auf ähnliche Weise, wie vom Sphagnum, die Untersuchung einer
andern, vom Sphagnum in der Zusammensetzung und im Bau wesent-
lich verschiedenen Pflanze, welche auf den Mooren wächst und deren
Zersetzungsprodukte gewöhnlich einen bedeutenden Theil des Torfs aus-
machen, angestellt würde. Aus diesen Untersuchungen wird der Bewer-
ber auf die Art, wie der Torf und seine Asche, so wie die Asche der an-
dern Pflanzenart, auch Haidearten, als Düngungsmittel angewendet wer-
den können, Folgerungen machen und die bisherigen Erfahrungen beur-
theilen, auch danach neue Versuche auf eine wissenschaftliche Weise
anstellen können. Die ausschlielsende Frist für die Einsendung der
Beantwortungen dieser Aufgabe, welche nach der Wahl der Bewerber in
deutscher, lateinischer oder französischer Sprache abgefasst sein können,
ist der erste März 1852. Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Motto
zu versehen und dieses auf dem Äulsern des versiegelten Zettels, welcher
den Namen des Verfassers enthält, zu wiederholen. Die Entscheidung
über die Zuerkennung des Preises von 100 Dukaten geschieht in der
öffentlichen Sitzung am Leibnizischen Jahrestage im Juli 1852.” Endlich
las noch Herr Garl Ritter über räumliche Anordnungen auf der Aus-
senseite des Erdballs und über Functionen derselben im Entwicklungs-
gange der Geschichte. Die Abhandlung ist in den gegenwärtigen Jahr-
gang aufgenommen worden.
In der öffentlichen Sitzung zur Nachfeier des Geburtstags Sr.
Maj. des Königs hielt der vorsitzende Sekretar Herr Trendelenburg
V
den Vortrag zur Einleitung des Festes, in welchem er die sittliche
Idee des Rechts zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Erörterung
machte, und erstattete über die Thätigkeit der Akademie im letzten
Jahre den in den Statuten geforderten Bericht. Die Einleitungsrede
ist als Beilage dem Monatsberichte der Akademie beigegeben worden.
Hierauf trug Herr Encke die unten folgende Gedächtnilsrede auf
Herrn Eytelwein vor.
Zu wissenschaftlichen Zwecken hat die Akademie in diesem
Jahre folgende Summen bewilligt:
400 Rihlr. zur Herausgabe der akademischen Sternkarten.
Sul,
150 ”
6008;
400 ”
Hd;
422 „
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300 ”
an Hrn. Prof. Dr. Rammelsberg zu Untersuchungen
über die Zusammensetzung des Turmalin.
zur Bestreitung kleiner Ausgaben für das beabsichtigte
Corpus Inscriptionum Latinarum.
zur Unterstützung der Ausgabe des Yajurveda von Dr.
Weber für 10 Exemplare des 1sten Bandes.
an Hrn. Prof. Dr. Franz für die Bearbeitung des Cor-
pus Inscriptionum Graecarum.
an Hrn. Dr. Reilsek in Wien, um den Druck seiner für
die Bewerbung um die Preisfrage zu spät eingegangenen
Schrift „anatomische Untersuchung des Flachses” zu för-
dern, für eine aequivalente Anzahl von Exemplaren.
für meteorologische Instrumente zur wissenschaftlichen
Ausrüstung des Herrn Otto Schomburgk bei seiner
Übersiedelung nach Süd-Australien, sammt einem Mi-
kroskop aus dem Besitz der Akademie.
für eine galvanische Säule zu einer Untersuchung über
die Zusammenziehung der Muskeln.
zum Druck der koptischen Handschriften gnostischen
Inhalts aus dem Nachlasse des verstorbenen Professors
Dr. Schwartze.
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VI
100 Rithlr. an Hrn. Dr. Eisenstein für numerische Rechnungen
bei seinen Untersuchungen über die Theorie der po-
sitiven ternären quadratischen Formen der Zahlen.
200 „ an Hrn. Dr. Kiepert in Weimar, Beitrag zur Heraus-
gabe seiner grolsen Karte der europäischen Türkei.
200 „ an Hrn. Dr. Karsten in Venezuela zur Fortsetzung
von Ausgrabungen eines urweltlichen Skeletts.
Personal - Veränderungen im Jahre 1819.
Wahlen und Ernennungen neuer Mitglieder und Correspon-
denten haben nicht stattgefunden.
Gestorben sind:
Herr Eytelwein, ordentliches Mitglied der physikalisch-mathemati-
schen Klasse, am 18. August.
„ Zumpt, ordentliches Mitglied der philosophisch - historischen
Klasse, am 26. Juni.
„ Graf von Hoffmansegg in Dresden, Ehrenmitglied, am 13.
December.
„ Döbereiner in Jena, Correspondent der physikalisch-mathe-
matischen Klasse, am 24. März.
„ Seebeck in Dresden, desgl, am 19. März.
„ von Orelli in Zürich, Correspondent der philosophisch - histo-
rischen Klasse, am 6. Januar.
Sir Graves Chamney Haughton, desgl., auf einer Reise in Paris
am 28. August.
Herr Sarti in Rom, desgl., am 27. October.
III
I. Ordentliche Mitglieder.
Verzeichnils
der Mitglieder der Akademie
am Schlusse des Jahres 1849.
Physikalisch-mathematische Klasse.
Herr Grüson, Veteran » «
A.v. Humboldt .
vw. Buch
Erman, Veteran .
Lichtenstein, Veteran .
Weiß .
Link
Mitscherlich
Karsten
Encke, Sekretar :
Dirksen (E.H.).. .
Ehrenberg, Sekretar
Crelle .
Klug
Datum der Königl.
Bestätigung.
„>
1798 Febr. 22.
1800 Aug. 4.
1806 März 27.
1806 März 27.
1814 Mai 14.
1815 Mai 3.
1815 Juli 15.
1822 Febr. 7.
1822 April 18.
1825 Juni 21.
1825 Juni 21.
1827 Juni 18.
1827 Aug. 23.
1830 Jan. 11.
Herr Kunth .
Dirichlet .
H. Rose
Müller .
G. Rose ..
‚Steiner
Jacobi .
v.Olfers . .
Dove 5
Poggendorff .
Magnus
Hagen .
Riefs
Philosophisch-historische Klasse.
Herr Gerhard .
®. Savigny, Veteran
Böockh, Veteran. Sekretar .
Bekker, Veteran .
Ritter .
Bopp
Meineke .
Lachmann . ...
Hanke 3 20:
v. Schelling.
Jac. Grimm
1811 April 29.
1814 Mai 14.
1815 Mai 3.
1822 April 18.
1822 April 18.
1830 Juni 11.
1830 Juni 11.
1832 Febr. 13.
1832 Mai 7.
1832 Mai 7.
Panofka .
Neander . .
won der Hagen
Wilh. Grinm .
Schott . . .
Dirksen(H.E.) . .
Pertz
Trendelenburg, Sexretar
Dieterici .
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Datum der Königl.
Bestätigung
1830 Jan. 11.
1832 Febr. 13.
1832 Febr. 13.
1834 Juli 16.
1834 Juli 16.
1834 Juli 16.
1836 April 5.
1837 Jan. 4.
1837 Jan. 4.
1839 Febr. 4.
1840 Jan. 27.
1842 Juni 28.
1842 Juni 28.
1835 März 12.
1836 April 5.
1839 März 14.
1841 März 9.
1841 März 9.
1841 März 9.
1841 März 9.
1843 Jan. 23.
1846 März 11.
1847 Jan. 20.
VIm
I. Auswärtige Mitglieder.
Physikalisch-mathematische Klasse.
Herr Gaufßs in Göttingen ......
Aragonın Daniel usnnn. ener
Robert Brown in London.
Cauchy in Paris
Sir John Herschel in Hawkhurst in der Grafschaft Kent
Herr Faraday in London .
Sir David Brewster in Edinburg .........
Gay-Lussac in Paris
Philosophisch-historische Klasse.
Herr H. Ritter in Göltingen
Eichhorn in Ammern bei Tübingen .
Cousin in Paris .
Lobeck in Königsberg 4
H. H. Wilson in Oxford .
Guizot in Paris .
Weleker in Bonn .
Creuzer in Heidelberg
Datum der Königl.
Bestätigung.
1810 Juli 18.
1828 Jan. 4.
1834 März 20.
1836 April 5.
1839 Febr. 4.
1842 Juni 28.
1842 Juni 28.
1846 März 11.
1832 Febr. 13.
1832 Febr. 13.
1832 Mai 7.
1832 Mai 7.
1839 April 21.
1840 Dec. 14.
1846 März 11.
1846 März 11.
IM. Ehren-Mitglieder.
Herr /mbert Delonnes in Paris .
William Hamilton in London .
Leake in London Be Te aa IE;
General-Feldmarschall Freiherr v. Müffling in Erfurt
Datum der Königl.
Bestätigung.
—
1801 Oct. 22.
1815 Juni 22.
1815 Juni 22.
1823 Juni 23.
v. Hisingerauf Skinskatteberg bei Köping in Schweden 1828 Jan. 4.
Freiherr ®. Zindenau in Altenburg
Bunsen in London SE:
Duca di Serradifalco in Palermo .
Freiherr Prokesch von Osten in Berlin
Duc de Luynes in Paris EL 2
Carl Lucian Bonaparte Prinz von Canino in Rom
Merian in Basel Saar 5
Garabed Artin Davoud-Oghlou in Berlin
1828 Jan. 4.
1835 Jan. 7.
1836 Juli 29.
1839 März 14.
1840 Dec. 14.
1843 März 27.
1845 März 8.
1847 Juli 24.
Herr Agassiz in Boston . 5
Biddell Airy in Gresnseich :
Amici in Florenz
Argelander in Bonn .
®. Baer in St. Petersburg
IV. Correspondenten.
Für die physikalisch-mathematische Klasse.
Becquerel in Paris.
P. Berthier in Paris .
Biot in Paris . 0
Brandt in St. Peteraburg :
Adolphe Brongniart in Paris
Bunsen in Marburg
Carlini in Mailand
Carus in Dresden .
Chevreul in Paris
v. Dechen in Bonn
Dufrenoy in Paris .
Duhamel in Paris .
I. B. Dumas in Paris
Elie de Beaumont in Paris
Eschricht in Kopenhagen .
Fechner in Leipzig
F.E.L. Fischer in St. Peiersbine.
.
Goithelf Fischer in Moskau .
Flauti in Neapel
Fuchs in München
Gaudichaud in Paris .
Gergonne in Montpellier
C. G. Gmelin in Tübingen
L. Gmelin in Heidelberg
Göppert in Breslau
Thom. Graham in London
Haidinger in Wien .
Datum der Wahl.
1836 März 24.
1834 Juni.
1836 Dec. 1.
1836 März 24.
1834 Febr. 13.
1835 Febr. 19.
1829 Dec. 10.
1820 Juni.
1839 Dec. 19.
1835 Mai 7.
1846 März 19.
1826 Juni 22.
1827 Dec. 13.
1834 Juni 5.
1842 Febr. 3.
1835 Febr. 19.
1847 April 15.
. 1834 Juni 5.
1827 Dec. 13.
1842 April 7.
1841 März 25.
1832 Jan. 19.
1832 Jan. 19.
1829 Dec. 10,
1834 Febr. 13.
1834 Febr. 13.
1832 Jan. 19.
1834 Febr. 13.
1827 Dec. 13.
1839 Juni 6.
1835 Febr. 19.
1842 April 7.
Sir W. R. Hamilton in Dublin
Herr Hansen in Gotha
- Hansteen in Christiania
- Hausmann in Göltingen
Sir W. J. Hooker in Kew
Herr Jameson in Edinburg
- Kämtz in Dorpat .
- Kummer in Breslau
= ikPameam Paris. 2 2.
- w. Ledebour in Heidelberg
- Le Ferrier in Paris
- Graf Zibri in London
- Freiherr ®. Liebig in Gielsen
- Zindley in London
- Liowville in Paris
- w. Martius in München.
- Melloni in Neapel .
- Milne Edwards in Paris
- Möbius in Leipzig ;
- Hugo v. Mohl in Tübingen .
- Morin in Metz
- Moser in Königsberg . }
- "Mulder in Utrecht . ....
Sir Roderick Impey Murchison in London .
Herr Naumann in Leipzig .
- F. E. Neumann in Königsberg
- Oersted in Kopenhagen .
- Ohm in München
- R. Owen in London .
- de Pambour in Paris
- Pfaff in Kiel .
- Plana iu Turin .
- Poncelet in Paris
- de Pontecoulant in Paris
- Presl in Prag.
- Purkinje in Prag
- Quetelet in Brüssel
- Ratlıke in Königsberg
Datum der Wahl.
1839 Juni 6.
1832 Jan. 19.
1827 Dec. 13.
1812
1834 Febr. 13.
1820 Juni.
1841 März 25.
1839 Juni 6.
1838 Dec. 20.
1832 Jan. 19.
1846 Dec 17.
1832 Jan. 19.
1833 Juni 20.
1834 Febr. 13.
1839 Dec. 19.
1832 Jan. 19.
1836 März 24.
1847 April 15.
1829 Dec. 10.
1847 April 15.
1839 Juni 6.
1843 Febr. 16.
1845 Jan. 23.
1847 April 15.
1846 März 19.
1833 Juni 20.
1820 Nov. 23.
1839 Juni 6.
1836 März 24.
1839 Juni 6.
1812
1832 Jan. 19.
1832 Jan. 19.
1832 Jan. 19.
1838 Mai 3.
1832 Jan. 19.
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1834 Febr. 13.
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Reemanlt in Paris ; cdılack Ag abis
Retzius in Stockholm .
Achille Richard in Paris .
Richelot in Königsberg .
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Aug. de Saint- Hilaire in Montpellier .
Jul. Cesar de Savigny in Paris
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Marcel de Serres in Montpellier .
v. Siebold in Freiburg .
Struye in St. Petersburg
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Tiedemann in Frankfurt aM... .
Tilesius in Leipzig
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Rud. PWYagner in Göttingen .
Wahlenberg in Upsala. . . . .
Wallich in Calcutta .
E. H. Weber in Leipzig .
W. Weber in Göttingen .
FWöhler in Göttingen
Datum der Wahl.
1847 April 15.
1842 Dec. 8.
1835 Mai 7.
1842 Dec. 8.
1835 Febr. 19.
1834 Febr. 13.
1826 April 13.
1834 Febr. 13.
1826 Juni 22.
1826 April 13.
1841 März 25.
1832 Jan. 19.
1845 Jan. 23.
1835 Febr. 19.
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1836 März 24.
1841 März 25.
1814 März 17.
1832 Jan. 19.
1827 Dec. 13.
1834 Febr. 13.
1833 Juni 20.
Für die philosophisch-historische Klasse.
Avellino in Neapel e
Bancroft in New York. . . .
Bartholmess in Paris .
Bergk in Marburg .
Bernhardy in Halle .
Böhmer in Frankfurt a. M.
Graf Borghesi in St. Marino
Brandis in Bonn
Braun in Rom
Burnouf in Paris
1812
1845 Febr. 27.
1847 Juni 10.
1845 Febr. 27.
1846 März 19.
1845 Febr. 27.
1836 Juni 23.
1832 April 12.
1843 Aug. 3.
1837 Febr. 16.
Herr Cavedoni in Modena .
Chmel n Wien. .... ;
Charl. Purton Cooper in London .
Dahlmann in Bonn
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W.Dindorf in Leipzig. . . : . »
Dureau de la Malle in Paris
v. Frähn in St. Petersburg .
Freytag in Bonn
Del Furia in Florenz nat:
GeellinLeyden.. label u.a
Gervinus in Heidelberg .
Göttling in Jena iyk
G. F. Grotefend in one ale
Guerard in Paris . . . . N
Freih. v. Hammer- Bursnall in a weien
Hase in Paris
Haupt in Leipzig . . s
C. F. Hermann in Göttingen
Hildebrand in Stockholm .
Jomard in Paris
Stanisl. Julien in Paris.
Kemble in London .
Kopp in Luzern e
Kosegarten in Greifswald .
Labus in Mailand .
Lajard in Paris .
Lappenberg in Hamburg
Lassen in Bonn.
Leemans in Leyden .
Lehrs in Königsberg .
Lenormant in Paris
Lepsius in Berlin
Löbell in Bonn .
J. J. da Costa de ae, in ben
Madvig in Kopenhagen .
Mai ın Rom .
Graf della Marmora in Genua
Datum der Wahl.
m —
1845 Febr. 27.
1846 März 19.
1836 Febr. 18.
1845 Febr. 27.
1845 Febr. 27.
1846 Dec. 17.
1847 April 15.
1834 Dec. 4.
1829 Dec. 10.
1819 Febr. 4.
1836 Juni 23.
1845 Febr. 27.
1844 Mai 9.
1847 April 15.
1845 Febr. 27.
1814 März 17.
1812
1846 März 19.
1840 Nov.5.
1845 Febr. 27.
1821 Aug. 16.
1842 April 14.
1845 Febr. 27.
1846 März 19.
1829 Dec. 10.
1843 März 2.
1846 Dec. 17.
1845 Febr. 27.
1846 Dec. 17.
1844 Mai 9.
1845 Febr. 27.
1845 Febr. 27.
1844 Mai 9.
1846 Dec. 17.
1838 Febr. 15.
1836 Juni 23.
1822 Febr. 28.
1844 Mai 9.
c2
XIH
XIV
Herr Meier in Halle .
Sir
Molbech in Kopenhagen
Munch in Christiania
Mustoxides in Corfu
C. F. Neumann in München
Constantinus Oeconomus in Athen
Orti Manara in Verona
Palacky in Prag 3
Francis Palgrave in London .
Herr Peyror in Turin
Sir
Thomas Phillipps in Middlehill :
Herr Prescott in Boston
Et. Quatremere in Paris
Rafn in Kopenhagen
Raoul-Rochetie in Paris
Ravaisson in Paris
v. Reiffenberg in Brüssel
Ritschl in Bonn ae
[RoysınElalleur rn.
de Santarem in Paris
Schaffarik in Prag.
‚Schmeller in München
Schömann in Greifswald
Secchi in Rom &
Sparks in Cambridge bei Boston.
Spengel in Heidelberg
Stälin in Stuttgart.
Stenzel in Breslau.
Thiersch in München
Uhland in Tübingen .
Foigt in Königsberg .
Maitz in Göttingen .
de Witte in Paris .
—— IE I —
Datum der Wahl,
——
1824 Juni 17.
1845 Febr. 27.
1847 Juni 10.
1815 Juni 22.
1829 Dec. 10.
1832 Dec. 13.
1842 Dec. 22.
1845 Febr. 27.
1836 Febr. 18.
1836 Febr. 18.
1845 Febr. 27.
1845 Febr. 27.
1812
1845 Febr. 27.
1832 April 12.
1847 Juni 10,
1837 Dec. 7.
1845 Febr. 27.
1836 Febr. 18.
1847 Juni 10.
1840 Febr. 13.
1836 Febr. 18.
1824 Juni 17.
1846 März 19.
1845 Febr. 27.
1842 Dec. 22.
1846 Dec. 17.
1845 Febr. 27.
1825 Juni 9.
1845 Febr. 27.
1846 Dec. 17.
1842 April 14.
1845 Fehr. 27.
Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
vr Von
H” ENCKE.
nn
B;: zwei Monaten verlor die Akademie, durch den Tod des früheren
Oberlandesbaudirektor Eytelwein, eines ihrer ältesten Mitglieder welches,
wenn gleich körperliche schwere Leiden seit 18 Jahren seine unmittelbare
Theilnahme an unseren Sitzungen gehindert hatten, doch früher mit vielen
der schätzbarsten Abhandlungen unsere Sammlung bereicherte, und aufser-
dem durch seine lange segensreiche Lehrthätigkeit in einem für den Staat
höchst wichtigen Zweige der angewandten Mathematik, und eine vieljährige
Oberleitung der Geschäfte desselben in dem ganzen Preufsischen Staate als
Lehrer und Beamter, in unserm engeren Vaterlande eine eben so hohe Stelle
eingenommen hatte, als in den weiteren wissenschaftlichen Kreisen. Ob-
gleich deshalb die gegenwärtige öffentliche Sitzung nicht eigentlich zur Er-
innerung an unsere vorausgegangenen Oollegen bestimmt ist, so ist mir doch
theils in Rücksicht auf die Bedeutung des Verstorbenen, theils wegen einer
besondern hier nicht weiter zu erwähnenden Veranlassung, der Auftrag ge-
worden, ein Bild seiner Thätigkeit zu entwerfen, und wenn auch die Ver-
schiedenheit meines Faches von dem seinigen mich nicht hoffen läfst, diese
Aufgabe mit der nöthigen Vollständigkeit lösen zu können, so bietet doch
gerade das Leben von Eytelwein und sein Wirken, so manche Betrach-
tungen dar, dafs ich auch trotz dieses wesentlichen Mangels geglaubt habe
den Auftrag übernehmen zu dürfen.
Johann Albert Eytelwein, geb. am 31. Debr. 1764 zu Frankfurt
am Main, war der Sohn eines dortigen Kaufmanns (Christ. Philipp), und
stammte von mütterlicher Seite aus einer Familie Hung. Von seiner Erzie-
hung und den ersten Lebensjahren konnten selbst die direkten Nachkommen
RW Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
mir keine Auskunft geben. Verwandte in Frankfurt am Main giebt es nicht
mehr. Wahrscheinlich verlor sein Vater sein Vermögen, denn ohne weitere
Angabe über die Veranlassung, findet sich im Jahre 1779 der junge Eytel-
wein als 15 jähriger Knabe in Berlin, und meldet sich zum Eintritt in die
preufsische Artillerie als Bombardier bei dem General Tempelhof, schon
in diesem jugendlichen Alter ganz allein auf sich und seine inneren Hülfs-
quellen angewiesen. Bei einer mündlichen Unterhaltung vor etwa 5 Jahren,
in welcher ich unsern Collegen ersuchte, mir von seinem merkwürdigen
Lebensgange einiges mitzutheilen, überging er ebenfalls ganz die frühere
Periode seiner ersten Erziehung, und begann sogleich ohne weitere Erwäh-
nung, die Erzählung dieses Zusammentreffens mit Tempelhof. Bekanntlich
gehörte dieser bedeutende Mann zu den Zöglingen des siebenjährigen Krie-
ges, und hatte Manches von der rauhen Aufsenseite des damaligen Militairs,
eine Rauhheit, die er fast geflissentlich noch bei der Anmeldung junger
Fremden verstärkte um bei dem Andrang an die damals erste Kriegerschule
in Europa, gleich beim Eintritt die Festigkeit und Charakterstärke der sich
Meldenden zu prüfen. Dabei darf aber doch nicht übersehen werden, dafs
Tempelhof eine für seine Zeit und seinen Stand ungemein hervorragende
wissenschaftliche Bildung besafs, und aufser den reinmilitairischen Schrif-
ten, auch über den theoretischen Theil der Artillerie, und selbst über einige
astronomische Gegenstände, namentlich über Sonnenfinsternisse, Werke ge-
schrieben hat. Aus Eytelwein’s Erzählung ging deutlich hervor, dafs vor-
züglich der schon in dem Knaben hervorgetretene Sinn, der sich nicht durch
die erste Weigerung abschrecken lies, und der bis in das hohe Alter hin in
der äufseren Erscheinung Eytelwein’s ausgeprägt war, zu der Erreichung
seines Zieles beigetragen hat. Ich erinnre mich nicht mehr, ob auch die
Kenntnisse des jungen Mannes ein Gewicht in die Wagschale gelegt, aber
dennoch möchte ich glauben, dafs die Menschenkenntnifs, die so häufig und
vorzugsweise in der militairischen Laufbahn bei hochstehenden Militairs sich
findet, weil gerade sie alle Stufen selbst durchgemacht haben, und häufig
auf sich allein angewiesen gewesen sind, den General Tempelhof günstig für
den damals noch zarten frankfurter Ankömmling gestimmt habe, und dafs
der ihm einwohnende Sinn für Wissenschaft, die künftige Ausbildung des
jungen Aspiranten im Voraus erkennen liefs.
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XVII
Die Bombardiere der damaligen Zeit, eine Klasse die weder gemeine
Artilleristen waren, noch Unteroffiziere, zu welcher Charge sie erst avanciren
mufsten, füllten die Stelle der jetzigen jungen Leute aus welche auf Avan-
cement dienen. Die damals sehr strenge militairische Zucht, mufste auf der
einen Seite eine treffliche Schule werden, in welche sie commandiren lern-
ten, weil sie gehorchen mufsten, auf der andern war es natürlich, dafs ge-
rade junge Leute die höher strebten, sich durch den äufseren Zwang auf
irgend welche Weise zu entschädigen suchten, mit einiger Ausgelassenheit
auftraten, wo sie es sich erlauben durften, und eben dadurch mit gleichgesinn-
ten Cameraden in ein engeres Schutz und Trutz-Bündnifs traten, ähnlich
wie so häufig Schulfreundschaften, gerade auf den Anstalten der strengsten
Diseciplin, sich für das Leben bilden. Ein solches Band knüpfte der junge
Eytelwein mit zwei Männern, die Bombardiere wie er, später auf ehrenvolle
Weise sich hinaufgearbeitet haben, dem nachmaligen Obristlieutenant v. Tex-
tor, der sich das Verdienst erworben hat, durch eine trigonometrische Ver-
messung die erste Grundlage zu einer genauen Karte von Ostpreufsen gelegt
zu haben, und dem nachmaligen schwedischen Artilleriegeneral v. Cardell.
Die drei jungen Bombardiere scheinen nach einigen Jahren des Zusammen-
lebens, bei der geringen Aussicht auf schnelles Avancement, einmal auf die
Idee gekommen zu sein, nach der Türkei auszuwandern, um dort die Bil-
dung einer neuen Artillerie zu versuchen. Der Plan wurde indessen bald
aufgegeben, und das Kleeblatt zerstreute sich, indem der eine nach Schwe-
den ging, der andere, unser Eytelwein, sich auf eine bürgerliche Laufbahn
vorbereitete, und nur der dritte den eingeschlagenen Weg beharrlich ver-
folgte. Dennoch vereinigte ununterbrochen ein enges Freundschaftsband
diese drei Jugendgenossen während ihres ganzen Lebens.
Der innere Trieb, vielleicht auch die praktische Richtung, welche
=
damals überall in Preufsen vorherrschte, lenkte Eytelwein re
hin. Dabei waren jedoch grofse Hindernisse zu überwinden, die in der da-
maligen Gestaltung des öffentlichen Bauwesens ihren Grund hatten. Es
fehlte nämlich zu jener Zeit ganz an einer Anstalt, in welcher die vielen
Gegenstände mit welchen sich das Baufach zu beschäftigen hat, im Zusam-
menhange mit einander gelehrt wurden. Selbst eine Oberbehörde für den
Staat war erst seit kurzem für diesen wichtigen Zweig der Staatsverwaltung
eingesetzt. Früher bestanden nämlich in den einzelnen Provinzen, in jeder
XVII Gedächtnifsrede au f Eytelwein.
besonders, Verwaltungen in welchen bei den Krieges und Domänenkam-
mern, die Baugeschäfte von den Bau-Direktoren durch die Bau-Inspektoren
und Land -Baumeister besorgt wurden. Diese Trennung bewirkte natürlich,
dafs die Fortschritte in jeder Provinz von den einzelnen Bau-Direktoren ab-
hingen, und eine Einheit nicht vorhanden war. Allerdings waren schon
unter Friedrich I. Prachtgebäude für öffentliche Zwecke aufgeführt, und
unter Friedrich Wilhelm II. ebenfalls hier in Berlin, einige der jetzt noch
sich auszeichnenden Kirchen gebaut, vorzüglich aber von Friedrich II. die
grofsen Muster der Baukunst aufgestellt, die wir noch jetzt bewundern.
Man denke nur an das königliche Schlofs, das Zeughaus, die Garnisonkir-
che, das Opernhaus, das neue Palais, so wie an mehrere der gröfseren Ge-
bäude, die früher im Besitze angesehener Familien, zum Theil jetzt in Pri-
vathände übergegangen sind. Weniger indessen möchte sich aus den älteren
Gebäuden der Privatleute, die aus dem Anfang und der Mitte des vorigen
Jahrhunderts noch in ihrer ursprünglichen Form übrig geblieben sind, schlie-
fsen lassen, dafs der Geschmack bei den kleineren bürgerlichen Häusern ge-
reinigt war. Wenigstens fällt dem der Berlin durchwandert, ein ungemei-
ner Abstich dieser älteren Wohnungen, von solchen auf, die jetzt von Pri-
vatleuten gebaut werden, und von welchen eines der ersten von unserm
Schinkel erbauten Friedrichstr. No. 103. den Typus angiebt. Es lag in je-
ner Zeit, dafs fast Alles Bedeutende und Geschmackvolle von der obersten
Behörde und einzelnen Familien ausging. Den Privatleuten fehlte die Kraft
ohne Unterstützung das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden.
Ein beträchtlicher Fortschritt war es daher, dafs Friedrich II. im
Jahr 1770 das Oberbaudepartement gründete, von welchem die Bausachen
aller unter dem Generaldirektorium stehenden Provinzen (d. h. aller mit
Ausnahme von Schlesien welches ein eigenes Finanzdepartement hatte) res-
sortirten. Geht man indessen die Namen durch, welche zuerst dieses Ober-
baudepartement bildeten, Struve, Vofs, v. Harlem, Naumann, Boumann,
Silberschlag, Gerhardt, Holsche, Seidel, so zeigt sich so viel aus den publi-
eirten Werken dieser Männer hervorgeht, dafs Keiner von ihnen mit der
theoretischen Behandlung der wichtigen hier vorkommenden Fragen vertraut
war, vielleicht mit Ausnahme von Silberschlag, der wenigstens in einigen
Werken Lehrbücher für den Wasserbau im Allgemeinen, das Feldmessen,
den Mühlenbau gab. Es mag hierin der Grund liegen, dafs der berühmte
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XIX
Lambert als Ehrenmitglied dieser Behörde beigegeben war, so wie schon
im Jahr 1749, bei einem Gutachten über den Finow-Kanal, der Name des
grofsen Euler in der Commission die dazu niedergesetzt war vorkommt.
Überhaupt wenn wie jetzt hin und wieder gewichtige Stimmen sich äulsern,
die sogenannten Rectificationen und Eindämmungen der Oder zur Austrock-
nung der Moräste, die von Friedrich II. mit einer gewissen Leidenschaft be-
trieben wurden, dieser für Preufsen so wichtigen Wasserstrafse einen Scha-
den zugefügt haben, der bei mehr rationeller Behandlung der Aufgabe hätte
vermieden werden können, so möchte man kaum bezweifeln, dafs das Bau-
wesen zu jener Zeit hauptsächlich in den Händen reiner sogenannten Prak-
tiker war, die den augenblicklichen Zweck ohne die nöthige Voraussicht auf
die daran sich knüpfenden Folgen zu eifrig verfolgten, und der gänzliche
Mangel einer eigenen Unterrichtsanstalt würde diesen ungünstigen Umstand
einfach erklären.
Gewifs ist deshalb die mündliche Äufserung von Eytelwein nicht
übertrieben, wenn er mir versicherte, dafs in diesen ersten Jahren seiner
militairischen Anstellung, es ihm unsägliche Anstrengung gekostet habe, die
ES)
theoretischen Vorkenntnisse für das Bauwesen sich zu erwerben, und dafs
seine Nächte meist mit dem Studium der verschiedensten Werke durchwacht
worden wären, deren Auswahl selbst so wie das Verstehen ihm ganz allein
überlassen geblieben. Eytelwein war ganz Autodidakt, keine Hülfe eines
Lehrers erleichterte ihm seinen mühsamen Weg, aber eben diese Nothwendig-
keit der eigenen Kraft allein zu vertrauen, hat auch seine Laufbahn bestimmt,
und ist durch sein Leben hindurch der vorherrschende Sporn gewesen.
Während sieben Jahre von 1779-1786 war er ausschliefslich bei dem
1. Artillerie Regiment in Berlin amtlich beschäftigt; In dem Todesjahr
Friedrich II., im Jahr 1786, vielleicht weil mit dem Hintritte des greisen
Helden die militairische Laufbahn ihm vollends wenig lohnend erschien, liefs
er sich als Feldmesser examiniren, wobei es nicht unmöglich ist, dafs er
diesen Schritt heimlich that. Im folgenden Jahr 1787 ward er Lieutenant,
und drei Jahre darauf ward er als Architekt vom Oberbaudepartement (1790)
examinirt, worauf er sogleich den Abschied als Lieutenant nahm, und als
Deich-Inspector des Oderbruchs in Cüstrin angestellt, so wie zum Comissa-
rius zur Regulirung des Oder und des Warthe-Stromes ernannt ward. Hier-
durch war ihm sein eigentlicher Lebensberuf schon ziemlich frühzeitig in
d
xx Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
seinem 24sten Jahre angewiesen, dem er ununterbrochen in angestrengter
Thätigkeit 40 Jahre hindurch treu geblieben ist, und für welchen auch nach-
her noch 19 Jahre zu wirken, oder doch die Fortbildung desselben zu ver-
folgen, das gütige Geschick ihm vergönnte.
Der Mangel einer Unterrichtsanstalt für das Bauwesen, scheint sich be-
sondersauch dadurch bemerklich gemacht zu haben, dafs die theoretische Be-
gründung der Hauptlehren, sowohl in den untern als auch in den oberen Be-
hörden selbst, schwach vertreten war. Nach dem frühzeitigen Tode von Lam-
bert im Jahre 1777, findet sich unter den Mitgliedern des Oberbaudeparte-
ments nur ein Namen, der sich als Mathematiker und doch auch eigentlich
nur durch Herausgabe von Tafeln bekannt gemacht hat, nämlich der des
Professors Joh. Carl Schultze, der von 1783 bis zu seinem Tode 1790 in
dem Oberbaudepartement thätig war. Bedenkt man dafs dieser Behörde nach
ihrer Instruktion auch die Examina der Baukandidaten zukamen, und dafs des-
halb mindestens ein Mitglied die rein theoretischen Fragen zu behandeln an-
gewiesen sein mufste, so liegt die Vermuthung sehr nahe, dafs eine theore-
tische Schrift, die erste die Eytelwein publieirte: Aufgaben gröfsten-
theils aus der angewandten Mathematik zur Übung der Analysis,
1793 herausgekommen, die nächste Veranlassung war, dafs er schon ein
Jahr nachher 1794, nachdem er nur 4 Jahre in dem praktischen Theile des
Wasserbaues als Deich-Inspektor thätig gewesen war, in das Oberbaudepar-
tement als Geheimer Oberbaurath berufen ward, und sonach in dem lebens-
kräftigen Alter von 30 Jahren, mit an die Spitze des Bauwesens trat. Diese
Versetzung mufste um so günstiger auf sein Fortstreben wirken, als seit dem
Jahre 1787 die Mitglieder durch einen vermehrten Gehaltsetat in den Stand
gesetzt waren, sich nur mit den ihrer Stellung eigenthümlichen Geschäften zu
befassen, und die bis dahin noch mitverwalteten Nebenämter bei dem Forst-
und Bergwerks-Departement, so wie bei der Churmärkischen Kammer,
aufzugeben.
Das Fach welchem Eytelwein von dieser Zeit an ausschliefslich seine
Kraft zuwandte, die Statik und Mechanik fester und flüssiger Körper, ge-
hört zu den Wissenschaften, bei welchen Theorie und Praxis stets engver-
bunden mit einander gehen müssen, und nur allzuhäufig, die von der Theo-
rie geleitete Erfahrung, mehr nach einem nicht streng zu definirenden Takte,
als nach sicheren Principien die Entscheidung zu geben vermag. Denn wenn
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XXI
auch unter der Ausnahme, dafs eine doppelte Kraft diejenige sein soll, wel-
che so viel wirkt als zwei einfache, die Statik als eine streng mathematische
Wissenschaft abgeleitet werden kann, wenn man die Eigenschaft der Körper
ebenfalls durch streng mathematische Definitionen ausdrückt, also z. B. ab-
solute Festigkeit oder absolute Biegsamkeit annimmt, so findet doch in der
Natur ein solcher steter Übergang der einen Eigenschaft in die andere statt,
dafs unsere theoretischen Begriffsbestimmungen in der Anwendung nirgends
ausreichen, und die Reibung mit ihrer eben so hemmenden als wohlthätigen
Einwirkung auf das Bestehen und den Gang der Maschienen, fügt überdem
noch ein neues nicht ganz strenge nachzuweisendes, sondern nur muthmafs-
lich zu erklärendes Element hinzu, was überall berücksichtigt werden mufs,
und niemals aus rein theoretischen Ansichten abgeleitet. werden kann. Be-
trachtet man z. B. das Problem, was in der Baukunst immer und bei jeder
Gelegenheit vorkommt, die Ermittelung des Druckes der Lasten auf ihre
Unterlagen, wenn ihrer mehr als zwei in einer geraden Linie vorkommen,
so läfst die reine Theorie wenn absolut starre Körper angenommen werden,
das Problem unbestimmt, und die Versuche durch eine Modification dieser
Eigenschaft, eine der Natur angemessene Lösung zu erhalten, haben zum
Theil wenigstens auf den handgreiflichen Widerspruch geführt, dafs die ent-
ferntesten Stützen am meisten tragen. Ein anderes Beispiel von der eigen-
thümlichen Schwierigkeit der nothwendigsten Bestimmungen, führe ich hier
um so lieber an, als es hin und wieder mifsverstanden, zu einer etwas her-
abwürdigenden Ansicht über den Nutzen von Versuchen überhaupt geführt
hat. Eytelwein hat durch mühsame Versuche über die Festigkeit der
verschiedenen Holzarten, diesen für die Baukunst so hoch wichtigen Gegen-
stand auf bestimmte Zahlen zu bringen gesucht. Er hing zu dem Ende an
verschiedene Hölzer von bestimmter Dimension in der Mitte Gewichte an,
und ermittelte die allmählige Biegung derselben bei vermehrter Last, bis er
die Belastung fand, bei der das Holz wirklich brach. Diese Versuche waren
in ähnlicher Art von Parent, Musschenbrock, Büffon, Belidor, Girard an-
gestellt, aber dabei nicht immer auf Umstände geachtet worden, die wesent-
lich einwirken, wie z. B. der ist, dafs die Wirkung einer Belastung auf Bie-
gung der Balken nicht momentan ist, und deshalb eine vermehrte oder ver-
minderte Länge der Zeit, die man jeder Belastung zur Einwirkung bestimmt,
die Versuche wesentlich modifiziren kann. Abgesehen indessen von diesen
d2
XXI Gedächtnifsrede auf Eytelwein. '
und vielen andern Nebenumständen, dem Grade der Trockenheit des Hol-
zes, dem Unterschiede des Bodens auf dem das Holz gewachsen ist, der
freieren oder gedeckteren Lage der Bäume von denen es genommen, so giebt
das Endresultat der Versuche, nämlich die Zahl von Pfunden, deren Ge-
wicht bei der Belastung eines Balkens von bestimmter Dimension denselben
zerbricht, noch keine Antwort auf die eigentlich für die Baukunst so wich-
tige Frage, wie grols ist die Belastung welche ein Balken mit Sicherheit
und auf die Dauer tragen kann. Eytelwein wendet sich deshalb an die
Erfahrung, und leitet aus der Betrachtung von Getreideböden, bei welchen
die Belastung als gleichmäfsig vertheilt angenommen werden kann, in der
ersten Ausgabe seiner Statik 1803, das Resultat ab, dafs ein Balken in sei-
ner Mitte, den zwei und dreifsigsten Theil derjenigen Last tragen kann,
welche denselben im ersten Augenblicke zu zerbrechen im Stande wäre. In
der zweiten Ausgabe der Statik 1832 medifizirt er dieses Resultat, aus den-
selben Versuchen und denselben Erfahrungssätzen dahin, dafs ein Balken
in seiner Mitte den zwanzigsten Theil derjenigen Last mit der gröfsten Sicher-
heit tragen kann, welche denselben im ersten Augenblicke zu zerbrechen im
Stande wäre. Brüche von dieser Kleinheit wie 4; und 4, gewähren noth-
wendig in der wirklichen Anwendung einen so beträchtlichen Spielraum,
dafs wenn auch die Theorie mit einiger Zuverläfsigkeit die Zunahme der
Tragfähigkeit bei verschiedenen Dimensionen derselben Holzart anzugeben
vermag, die eigene Erfahrung des Baumeisters in jedem speciellen Falle die
endliche Entscheidung wird geben müssen, und die leitende Hand der Theo-
rie, wohl die Vergleichung ähnlicher Fälle unter sich zu vermitteln, nicht
aber das absolute Maafs für jeden einzelnen bestimmt anzugeben vermag.
Wenn schon bei festen Körpern Schwierigkeiten solcher Art stattfin-
den, bei welchen doch die mathematische Form, von der Annahme unend-
lich kleiner Molecüle zu einem zusammenhängenden Continuum aufzustei-
gen, und innerhalb einer festen Grenze, entweder eine gleichmäfsige oder
eine ungleichmäfsige Vertheilung anzunehmen, sich der wirklich stattfinden-
den Massenvertheilung brträchtlich nähert: wie viel gröfser werden die
Schwierigkeiten der mathematischen Behandlung werden, bei flüssigen Kör-
pern, von deren Natur wir eigentlich gar keine bestimmte Definition geben
können. Es fehlt in der That noch ganz an dem bestimmten Begriff, wie
sich das flüssige vom festen unterscheidet. Denn die Vorstellung von der
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XXI
Zusammensetzung des flüssigen ebenfalls aus unendlich kleinen Theilchen,
die mit der gröfsten Leichtigkeit an einander verschiebbar, bei einer be-
stimmten Masse, die Form derselben jedesmal nach den Wänden und Kräf-
ten welche ihre Verschiebbarkeit hindern, oder das Gleichgewicht herstel-
len, ändern können, und bei welchen deshalb ein irgendwo angebrachter
Druck, nach allen Richtungen hin in gleicher Stärke sich fortpflanzt, ist
eine so wenig das eigentliche Wesen des flüssigen vollständig bestimmende,
dafs die allergewöhnlichsten Erscheinungen noch durchaus nicht theoretisch
daraus hergeleitet werden können. Die gleich zuerst, bei dem Ausflufs des
Wassers aus Öffnungen, sich zeigende Contraction des Wasserstrahls, ist,
bis diesen Augenblick noch durch keine Theorie nachgewiesen, sondern
höchstens nur als möglich anerkannt, während sie bei jedem Versuche so-
gleich sich zeigt. Unsere ganze Hydrostatik und Hydraulik, beruht bis jetzt
noch nicht auf der eigentlichen Erkentnifs des Wesens der Flüssigkeit, son-
dern auf einer einzelnen Eigenschaft der Fortpflangung des Druckes in jeder
Richtung und in gleicher Stärke, welche wir als streng richtig annehmen,
während die Cohaesion der Theile unter sich, und die Reibung an den Wän-
den, oder vielleicht noch andere Molecularkräfte siemodifiziren, und die eben
deshalb bei jeder darauf gegründeten theoretischen Betrachtung, der sehr
beträchtlichen und nie zu umgehenden Vermittelung durch direkte Versuche
bedarf, damit die theoretische Annahme nicht völlig dem Erfolge wieder-
spreche. Weder Newton, der zuerst die Bewegungen der Flüssigkeiten
theoretisch behandelte, noch Daniel Bernoulli und d’Alembert, die ihre
hervorragenden Talente dieser Untersuchung zuwandten, haben diese in un-
sern noch ganz mangelhaften Begriffsbestimmungen begründete Lücke aus-
zufüllen vermocht, und die direkten, nur durch die Beihülfe der mangel-
haften Theorie geleiteten, Versuche der Italiener und Franzosen, hatten
gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts die theoretische Betrachtung eini-
germafsen nutzbar gemacht, wozu die praktischen Erfahrungen und Annah-
men der deutschen holländischen und englischen Wasserbaumeister, eben-
falls ein reiches Material darboten.
Es giebt gewisse Theile der Mathematik, die frei von solchen Hinder-
nissen, der reinen Speculation ein offnes Feld darbieten, und da sie sich
nur an Begriffe knüpfen, ein eigentlicher Prüfstein der Stärke der mathema-
tischen Spekulation genannt werden können; um so mehr als sie ihrer rein
XXIV Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
theoretischen Form wegen, der Unterstützung durch räumliche und bildli-
che Darstellung, (für die Meisten so wesentlich um vollständige Deutlich-
keit zu bewirken) ganz entbehren. Dieses findet z. B. bei der reinen Zah-
lenlehre statt, bei der aus dem Begriffe der Zahl allein, einem völlig ab-
strakten, die Eigenschaften der Zahlen unter sich abgeleitet werden. Sie
entbehrt der geometrischen Veranschaulichung, oder kann doch ihrer ent-
behren, und hat deshalb gerade in der neuesten Zeit, durch die Vereinigung
ausgezeichneter Talente, in unserer der reinen Spekulation, häufig freilich
auch der unpraktischen Aufstellung von abstrakten Theorien, so sehr ge-
neigten Zeit, einen ungewöhnlichen Aufschwung genommen. Aber sie kennt
dagegen auch gar nicht die Hindernisse, welche die ganz unerkannten, oder
nur halb verstandenen Eigenschaften der Körperwelt, Dem in den Weg le-
gen, der nicht blofs das Abstrakte sondern auch das Anwendbare zu er-
reichen strebt.
Es giebt andere mathematische Wissenschaften, bei denen die gütige
Natur uns gewissermafsen die Möglichkeit dargeboten hat, die reinen Gesetze
der Bewegung und des allgemeinen Bandes was die Körperwelt zusammen-
hält, zu erkennen und zu prüfen, weil bei ihnen die vielen kleinen Schwan-
kungen, welche im gewöhnlichen Leben uns von der Erkenntnifs der reinen
Gesetze entfernt halten, durch die gröfsere Entfernung aus welcher wir die
Erscheinung betrachten, verschwinden, oder weil durch die Isolirung der
einzelnen Theile, das vorhandene System dem gewils mangelhaften, aber
für uns bis jetzt nur allein möglichen Begriffe, sich noch am nächsten an-
schliefst, wonach das Ganze aus einzelnen Theilen zusammengesetzt ist, die
in den meisten Beziehungen als unabhängig von einander gelten können, wäh-
rend ihre gegenseitige Abhängigkeit in einer einzelnen Erscheinung um so
stärker hervortritt. Eine solche Wissenschaft ist die Astronomie, die gerade
deshalb weil sie theoretische Sätze häufig zuerst erkennen, und durch fort-
gesetzte Versuche ihre Richtigkeit prüfen und ermitteln liefs, von jeher in
beiden Beziehungen für Theorie und Praxis so wohlthätig zur gegenseitigen
Förderung beigetragen hat. Aber wenn sie auch nicht ganz frei von allen
Hemmungen ist, welche unsere mangelhafte Erkenntnifs der Naturkräfte uns
in den Weg legt, so erfreut sie sich doch der Abwesenheit der bei weitem
gröfsten Zahl von engeren Verbindungen der in Betrachtung kommenden
Körper, die überall wo wir mit irdischen Combinationen zu thun haben,
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XXV
die Untersuchung erschweren und verwickeln. Ihre Ausbildung ist wesent-
lich bedingt durch ihre Einfachheit, entbehrt aber auch eben deshalb’ des
Reizes der vielfachen Combinationen, die in den anderen Naturwissenschaf-
ten so glänzend hervortreten.
Es liegt tief in der menschlichen Natur, dafs die reine Abstraction,
oder die Verbindung derselben mit Anwendungen, welche wir noch zu be-
herrschen vermögen, der inneren Consequenz der Resultate wegen, einen
bedeutenden Eindruck auf Alle machen, die nur den Erfolg sehen, ohne die
Wege selbst erforscht zu haben. Ob indessen die Ubung des Scharfsinnes,
und das Verdienst des Fortschrittes, bei diesen einfacheren Forschungen
grölser ist, als bei solchen Untersuchungen, in welchen erst das innere We-
sen der Körper mit denen wir uns beschäftigen erforscht oder geahnt werden
mufs, um überhaupt nur die Schritte leiten zu können, möchte sehr in Frage
gestellt werden. Die Masse der Schwierigkeiten bei Betrachtungen, wo alle
die zwar bekannten, aber gewifs nicht erkannten, Kräfte, die wir bei jeder
Combination zugleich umfassen müssen, einwirken, übersteigt bis jetzt aller-
dings noch die Kraft unseres Geistes. Aber es kann nicht ausbleiben, dafs
die Zeit kommen wird, wo auch hier ein zweiter Newton das Licht verbrei-
tet, was der erste in so vielen Richtungen verbreitet hat, und so wenig es
uns entgehen kann, dafs erst der Anfang von richtiger Behandlung solcher
praktischer Aufgaben, wie die Baukunst überhaupt und der Wasserbau ganz
besonders sie uns vorlegen, gemacht ist: so gefafst wir bei jeder versuchten
Lösung sein müssen, die immer hervortretenden Mängel derselben, für jetzt
noch durch das etwas rohe Hülfsmittel von Corrections- Coeffizienten heben
zu müssen: um so dankbarer müssen wir den Männern sein, welche wie
Eytelwein, den nicht immer lohnenden Weg anbahnen, die Einzelnheiten
der Erscheinungen unter allgemeine Formen zusammen zu fassen, und wenn
sie auch nicht die Erscheinung selbst vollständig aufklären können, doch
die Modificationen angeben welche dieselbe erleidet, wenn die Grundbe-
dingungen dieselben bleiben, aber die Dimensionen der Körper die davon
betroffen werden sich ändern.
Denn gerade darin möchte ich, so weit meine unvollkommene Kennt-
nifs dieser Fächer geht, das Hauptverdienst setzen, was Eytelwein sich um
die Baukunst überhaupt, und den Wasserbau besonders, erworben hat.
Aus eigener Erfahrung die Nothwendigkeit erkennend, der noch unvollkom-
XXVI Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
menen Theorie durch Zusammenhaltung mit genauen Versuchen zu Hülfe
zu kommen, hat er einmal z. B. über die Festigkeit der Materialien, über
den Ausflufs des Wassers aus Öffnungen, über den Stofsheber, grofse Rei-
hen von höchst schätzbaren Versuchen angestellt, die noch jetzt die Grund-
lage für die geltenden Annahmen bilden. Dann aber hat er mit seltenem
glücklichen Takte, die theoretischen Formen abgeleitet, so weit die unvoll-
kommene Theorie es gestattete, und ihnen die Gestalt gegeben, welche mit
der für die Anwendung nöthigen Bequemlichkeit und Genauigkeit, den wirk-
lichen Gebrauch derselben sicherten. Hierin liegt der Grund, warum ein
sehr grofser Theil der von Eytelwein aufgestellten Normen, noch jetzt
nach länger als funfzig Jahren gilt, und das unschätzbare Hülfsmitttel für
die auf wirkliche Ausführung angewandte Theorie bildet, welches bei dem
jetzigen Stande der Wissenschaften das einzig erreichbare ist. Dieses letz-
tere grofse Verdienst war Eytelwein unter seinen Zeitgenossen eigenthüm-
lich, und die enge Freundschaftsverbindung, welche ihn mit den ersten
Männern seines Faches in Deutschland, wie Langsdorf, v. Gerstner und ganz
vorzüglich dem höchst ausgezeichneten Wasserbaudirektor Woltmann in
Hamburg verband, gewährte ihm durch die Benutzung der Erfahrungen
dieser Männer, eine häufige Gelegenheit, diese durch schickliche Form erst
recht eigentlich in das Leben einzuführen.
Dieses Verdienst, und die fortdauernde Einwirkung desselben auch
auf die noch jetzt aufgestellten Grundsätze, ist um so höher anzuschlagen,
je grölser die Fortschritte sind, die die Mechanik und Baukunst besonders
in der Ausführung grofser Wasserbauten in den letzten 50 Jahren gemacht
hat. Als ein höchst schlagendes Beispiel der reilsenden Fortschritte in die-
sen Fächern erlaube ich mir anzuführen, dafs in dem vortrefflichen früheren
Bau-Journal, noch im Jahre 1806, zwei Unternehmungen als hoffnungslos
hingestellt sind, ja selbst mit einigem Spotte begleitet, die wir jetzt ausge-
führt sehen, und selbst als eine der wichtigeren Entwickelungen des Unter-
nehmungsgeistes begrülsen. Es werden gegen einen Tunnel, unter der
Themse durch, die gröfsten Bedenklichkeiten erhoben, ein Tunnel der nach
Lichtenberg’s witziger Benennung eine negative Brücke ist; und es wird die
positive Brücke, die wir jetzt als Seil- oder Kettenbrücke als etwas gewöhnli-
ches betrachten, ein Hirngespinst genannt, welches im Ernst nicht hätte ver-
öffentlicht werden dürfen, Allerdings war bei den damals angegebenen Seil-
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XxXVII
brücken, die Idee zwar ausgesprochen, aber die vorgeschlagene Ausführung
ganz verschieden von der jetzigen, und in der That sehr grofsen Einwürfen
ausgesetzt.
Mit dem Eintritte von Eytelwein entwickelte sich in dem Oberbau-
departement eine bedeutende Thätigkeit, wozu wahrscheinlich Eytelwein’s
Verbindung mit dem älteren und jüngeren Gilly, demselben dem wir die
Pflege des Talentes von unserem Schinkel verdanken, wesentlich beitrug.
Zwei Jahre nach seinem Eintritte stattete Eytelwein die Übersetzung des
wichtigen Werkes von Du Buat, Grundlehren der Hydraulik, mit rei-
chen Anmerkungen aus, und gab im Eingange eine Zusammenstellung der
Hauptformeln welche er aus den Versuchen abgeleitet, die in gewissem Sinne
die Grundlage seiner späteren Ermittelungen ward. Im folgenden Jahre
begann 1797 das Bau-Journal: Sammlung nützlicher Aufsätze und
Nachrichten die Baukunst betreffend, herausgegeben von meh-
reren Mitgliedern des Öberbaudepartements, welches als das erste
in Deutschland, nicht ohne die bedeutendste Einwirkung auf das ganze Bau-
wesen sein konnte, und bis zu dem unglücklichen Jahre 1806 fortdauerte.
Eytelwein lieferte darin eine bedeutende Reihe von theoretischen und
praktischen Abhandlungen, die er später überarbeitet, besonders heraus gab.
Der wichtigste Fortschritt indessen war die durch das Oberbaudepartement
angeregte Stiftung der Bauakademie, die am 13. April 1799 in das Leben
trat. Schon im Jahre 1788 hatte der Oberbaurath Becherer bei dem tiefge-
fühlten Bedürfnifs einer Lehranstalt einen Plan eingereicht, um in Verbin-
dung mit der königlichen Akademie der Künste, eine allgemeine Bau - Un-
terrichtsanstalt zu errichten. Obgleich diese nicht in das Leben trat, so
hatte doch von 1790 an eine Lehr-Anstalt bei der Kunstakademie bestan-
den, in welcher in einigen besonderen architektonischen Klassen, Vorlesun-
gen über Construction der Stadtgebäude und den Geschmack der Baukunst
gehalten, so wie Unterricht im Zeichnen gegeben, und auf Bildung von Ge-
werbleuten hingewirkt wurde. Zur Ausfüllung der hier noch stattfindenden
Lücken, entschlossen sich 4 Mitglieder des Oberbaudepartements, Winter-
vorlesungen zu halten, wobei Eytelwein die Statik, Hydrostatik, Hydrau-
lik, Maschinenlehre, Deich - und Strombaukunst übernahm. Hieraus ging
denn endlich die Bauakademie hervor, zu welcher die Geh. Oberbauräthe
Riedel, Gilly und Eytelwein den Plan ausgearbeitet hatten, und welche nach
e
XXVII Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
erfolgter königlicher Genehmigung, unter der Direktion von Eytelwein in
das Leben trat.
Seit dieser Zeit bis zum Jahre 1830, wo Eytelwein den Staatsdienst
verliefs, ist die Bauakademie die Pflanzschule für alle Baubeamte des Preu-
fsischen Staates gewesen, und selbst dem Unkundigen würden die umfassen-
den Bauten an Strafsen, Gebäuden, Strömen, und in der See, die seitdem
ausgeführt sind, und in unsern nächsten Umgebungen sowohl als in den ent-
ferntesten Theilen der Monarchie unser bürgerliches Leben so gänzlich um-
gestaltet haben, das kräftigste Zeugnifs an die Hand geben, dafs die Wirk-
samkeit dieser Unterrichtsanstalt, wenn auch Mängel daran hafteten, und
zeitgemäfse Umgestaltungen nöthig waren, eine segensreiche gewesen ist.
Eytelwein lehrte darin, aulserdem dafs er die Geschäfte der Oberleitung
hatte, die Hydrostatik und Hydraulik, so wie er auch eine Zeit lang eine
Vorlesung über den Strom- und Deichbau hielt. Später bei der Stiftung
der hiesigen Universität hat er auch an dieser, in denselben Fächern und in
der Analysis, während der Jahre 1810-1815 als aufserordentlicher Professor
Vorlesungen gehalten. Nach dem Zeugnifs seiner noch lebenden Schüler,
war seine Lehrgabe eine sehr ausgezeichnete, und dafs sie es sein mufste,
zeigen auch die Lehrbücher welche er über diese und andere Fächer heraus-
gab. Die bestimmte klare Form in der er die Vorschriften ableitete und aus-
sprach, die Ordnung der Eintheilungen, die feste Sprache in der er das was
er als das beste erkannte vortrug und einprägte, gab auch in den häufigen
Fällen wo ein strenger Beweis nicht geführt werden konnte, dem Schüler
in kurzer Fassung das Resultat der besten Erfahrung bis zu dem Zeitpunkte
des Vortrages, und gewährte dem Schwankenden dadurch einen sicheren
und niemals ungeprüften Anhalt. Wenn diese Festigkeit in einzelnen Fällen,
den Zahlenangaben bei dem weniger Selbstprüfenden eine zu grofse Auto-
rität verlieh, und hin und wieder von dem eigenen Fortbilden abhalten
mochte, so führte sie doch in keinem Falle zu sehr irrigen Anschlägen, und
war nur dem unverständigen Gebrauche wie jede andere ausgesetzt.
Vorzüglich zeichnen sich aber diese Lehrbücher, und ganz besonders
das über die Hydraulik, wovon die erste Auflage 1801, die zweite 1823,
die dritte 1842 erschien, durch eine zweckmäfsige und gedrängte Zusam-
menstellung des wahrhaft Brauchbaren und für die Anwendung Wichtigsten
aus. Es giebt für diesen grofsen Vorzug das neueste französische Lehrbuch
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. HRIX
über die Hydraulik von d’Aubuisson ein sehr redendes Zeugnifs, da sich bei
der Vergleichung dieses letzteren mit dem Eytelweinschen, unwillkührlich
die Überzeugung aufdrängt, dafs das deutsche Lehrbuch dem französischen
zur allgemeinen Grundlage gedient hat, die in einigen Punkten erweitert,
doch nirgends die Ähnlichkeit mit dem Urbilde ganz verwischt. Noch
schmeichelhafter für Eytelwein, mufste ein anderes öffentliches Zeugnifs
sein, was einer der bedeutendsten Männer seiner Zeit, der berühmte Tho-
mas Young in England, gleich nach dem ersten Erscheinen der Hydraulik,
in dem Nicolsonschen Journal of natural history chemistry and the arts,
durch eine ausführliche Beurtheilung ablegte, welche durch die fast voll-
ständige Darlegung seines Inhalts, das Buch für die englischen Leser erse-
tzen sollte. Young bekanntlich ursprünglich mit medicinischen Studien be-
schäftigt, war durch einen längeren Aufenthalt in Göttingen und Berlin mit
der deutschen Literatur sehr vertraut geworden, hatte später seine ärztliche
sewandter Mathematik be-
8
schäftigt, in der er ausgezeichnetes leistete, und hat durch die überwiegende
Laufbahn verlassen, und sich mit reiner und an
Kraft seines Geistes das ungewöhnliche Beispiel gegeben, dafs ein Physiker
der in der Theorie des Lichtes die hochwichtige Entdeckung von den Inter-
ferenzen machte, zugleich auch den langgesuchten Schlüssel zu dem Ver-
ständnils der Ägyptischen Hieroglyphen fand, und in den letzten Jahren der
Astronomie sich widmen konnte. In der That eine der glänzendsten Er-
scheinungen unserer Zeit, wenn man die ganz ungewöhnliche Vielseitigkeit,
verbunden mit einer musterhaften Gründlichkeit in jedem Fache dem er sich
zuwandte, und den hervorragenden Scharfsinn betrachtet, der ihn so zu
neuen und ungeahneten Aufschlüssen führte. Gerade ein solcher Mann
mulste mehr wie jeder Andere dazu geeignet sein, das Verdienst welches
Eytelwein sich durch seine Hydraulik erworben, auf die rechte Weise zu
würdigen, und wenn er um seine Worte zu gebrauchen: die grofse Schwie-
rigkeit der Untersuchung, die gründliche Zusammenstellung der Hauptdata,
welche sich sowohl aus eigenen Versuchen Eytelwein’s, als denen anderer
Schriftsteller ergeben haben, und zwar vorzüglich solcher die einer Anwen-
dung fähig sind, die zierliche Kürze mit der Alles gesammelt ist, was in
Hinsicht auf Hydraulik aus der Theorie abgeleitet werden kann, und die mit
einer musterhaften Einfachheit häufig vereinigte vorzügliche Genauigkeit an
diesem Werke rühmt, so hat er in der That die Haupt- Vorzüge geistreich
e?
KRX Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
zusammengefafst, und sein Lob noch dadurch erhöht, dafs die grofsen Vor-
züge ihn nicht zu einem blinden Nachtreter gemacht haben, sondern zu ei-
nem prüfenden Beurtheiler, welcher im Gefühl der eigenen Kraft, die fremde
desto bereitwilliger anerkennt.
Eytelwein hat mehrere Lehrbücher geschrieben über Statik, Hy-
draulik, Perspective, Grundlehren der Analysis, und noch in seinem hohen
Alter über Auflösung der numerischen Gleichungen. In Allen treten die
hier aufgeführten Vorzüge mehr oder minder hervor. Die Rücksicht auf
praktische Anwendung überwiegt stets; zahlreiche Beispiele werden immer
angeführt, um den Leser gewissermalsen zu nöthigen, nicht blos die For-
men in sich auf zu nehmen, sondern sie auch gehörig zu verarbeiten. Diese
Hinneigung zum praktischen Gebrauch scheint überhaupt bei Eytelwein
die rein theoretischen Speculationen zurückgedrängt zu haben, und die durch
sie hervorgebrachte Färbung, tritt überall auch in den Lehrbüchern und
Abhandlungen welche anscheinend der reinen Speculation angehören, über-
wiegend hervor.
Aufser diesen Lehrbüchern gehört ein grofser Theil der herausgege-
benen Werke, der praktischen Anwendung noch unmittelbarer an, in so fern
sie die Ausführung bestimmter Bauten im Einzelnen durchgehen, und die
leitenden Grundsätze bei jeder einzelnen Vorschrift erläutern. Hieher ge-
hört die Anleitung Blitzableiter anzulegen, die Anweisung zu ökonomischen
und militairischen Situationskarten, zum Bau der Faschinenwerke an Flüs-
sen und Strömen, Anlage einer Brauerei, praktische Anweisung zur Wasser-
baukunst, und einige andere minder umfangreiche Publikationen. Unter
diesen, die in gewissem Sinne aus den theoretischen Lehrbüchern hervorge-
gangen sind, zeichnet sich vor Allem die Anleitung zur Construktion der
Faschinenwerke an Flüssen und Strömen aus, welche zuerst in dem erwähn-
ten Bau-Journal bekannt gemacht ward, dann 1800 zusammengedruckt er-
schien und 1818 die zweite Auflage erhielt. Noch bis zu dieser Zeit ist
diese Anweisung das Allerbeste, was über diesen wichtigen Theil der Was-
serbauten erschienen ist, und die erste Anstellung Eytelwein’s in den be-
sten Jahren der Kraft, als Deich-Inspektor bei den Oder und Warthe-Strö-
men, hat unverkennbar in der lebendigen Auffassung der Einzelnheiten, und
der genauen Detaillirung der zweckmäfsigen Einrichtungen, ihre schöne
Frucht getragen. Schwerlich wird in unserer so rasch vorschreitenden Zeit,
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XXXI
das Beispiel häufig sich finden, dafs eine Anweisung zu der praktischen Aus-
führung gröfserer Werke, nach 50 Jahren noch nicht übertroffen ist.
Aufserdem sind in einzelnen Abhandlungen, die gröfseren Versuchs-
reihen welche Eytelwein über verschiedene wichtige Punkte angestellt hat
enthalten, unter welchen sich die Bemerkungen über die Wirkung und vor-
theilhafteste Anwendung des Stofshebers auszeichnen, die gleich nach dem
ersten Bekanntwerden dieser neuen französischen Erfindung, 1805 besonders
herausgegeben wurden. Wenn gleich wie es scheint die Erwartung von dem
Nutzen dieser merkwürdigen Maschine in der ersten Zeit etwas zu grols
war, (so viel bekannt ist er wenig oder gar nicht in Anwendung gekommen)
so gewährt doch die genauere Untersuchung dieses Wasserpendels, wie man
es wohl nennen könnte ein hohes Interesse, und auch hier hat Eytelwein
die Versuche so zweckmäfsig angestellt, dafs sie bis auf die neueste Zeit die
eigentliche Grundlage aller Untersuchungen darüber bilden.
Diese sehr grofse literarische Thätigkeit Eytelwein’s, war mit einer
eben so grofsen amtlichen verbunden, vielleicht einer noch gröfseren, wenn
man die hohe Stellung und den Ernst der schweren Zeiten betrachtet, die
Preufsen in den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts erlebt hat.
Nach dem er 1799 zum Direktor der Bau-Akademie ernannt war, und 1803
als wirkliches Mitglied in unsere Akademie eingetreten, ward er im Jahre
1809 auch der Direktor der jetzt so benannten Oberbaudeputation, und trat
als solcher an die Spitze des gesammten Staatsbauwesens. Ein Jahr später
1810 ward er zum Mitglied und vortragenden Rath im Ministerio für Han-
del und Gewerbe ernannt, und nach dem Befreiungskriege zum Oberlandes-
baudirektor befördert, ein Titel der nach ihm nur noch unserm Schinkel
ertheilt worden ist, zugleich ward er Mitdirektor in dem Ministerium für
Handel und Gewerbe, welche Posten er bis zu seinem Austritte aus dem
Staatsdienste bekleidete. Schon im Jahre 1825 wo ich ihn zuerst persönlich
kennen lernte, hatte er in Folge seiner angestrengten Arbeiten, mit grofsen
körperlichen Beschwerden zu kämpfen, welche ihn bewogen bald nach sei-
nem 50jährigen Dienstjubilaeum im Jahre 1830 seine Entlassung zu neh-
men, und von dieser Zeit an in dem Kreise seiner Familie zurückgezogen
zu leben, ohne doch so viel seine Gesundheit es erlaubte, den literarischen
Arbeiten zu entsagen. Denn seine letzte gröfsere Schrift über die numeri-
schen Gleichungen, kam im Jahre 1837 seinem 73sten Lebensjahre heraus.
XXXIL Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
Unter den vielen gröfseren Staats- Verhandlungen an denen er Theil nahm
oder die er leitete, zeichnen sich die Regulirungen der Oder, Warthe,
Weichsel und des Niemens, die Hafenbauten von Memel, Pillau und Swine-
münde, die Grenzregulirung der Rheinprovinz mit dem Königreiche der
Niederlande, und die Bestimmung eines definitiven Maafses und Gewichtes
für Preufsen aus, welche letztere er in Gemeinschaft mit dem Geh. Rath
Pistor, wie die spätere Prüfung der Maafse von Bessel gezeigi hat, mit be-
sonderer Genauigkeit ausgeführt hat.
Eytelwein verlebte den Rest seiner Tage theils in Merseburg theils
hier. Gegen das achzigste Lebensjahr trat ein Augenübel ein, welches zuletzt
fast in völlige Blindheit ausartete. Der Unterricht seiner Enkel in den mathe-
matischen Elementen, und zu seiner eigenen Unterhaltung der Entwurf zu ei-
nem Systeme der Krystallographie, waren die Beschäftigungen welche sein Al-
ter erheiterten. Als in dem Sästen Lebensjahre auch das Gehör seine Dienste
versagte, und vielfache körperliche Beschwerden eintraten, ward der immer
noch thätige Geist von der Last des Körpers am 18. August 1848 erlöst,
und der Schmerz der Trennung bei seiner Familie durch die Befreiung des
Leidenden von Übeln gemildert, denen menschliche Kunst keine Erleichte-
rung gewähren konnte.
Eytelwein hat sich früh verheirathet in seinem 25sten Jahre, und 39
Jahre hindurch mit seiner Gattin ein musterhaftes Familienleben geführt. Von
7 Töchtern und 2 Söhnen haben ihn 4 Töchter und 1 Sohn überlebt. Ob-
gleich das genauere Eingehen in die Familienverhältnisse, bei meiner entfern-
teren Stellung, sich von selbst untersagt, so kann ich doch nicht unterlassen
einen Zug hier anzuführen, der mir von Eytelwein selbst mitgetheilt, sei-
nen Charakter sehr bestimmt bezeichnet. Sein später verstorbener Sohn
diente in dem Regimente von Schill, mit welchem dieser im Jahre 1809 den
so unglücklich endenden Zug ausführte. Bekanntlich zog Schill von Ber-
lin wie zum Exerziren aus, ohne dafs er den eigentlichen Zweck des Aus-
marsches irgend Jemanden mitgetheilt hätte. Einige von der Mannschaft
. waren deshalb, theils Krankheits halber, theils weil bei dem blofsen Exer-
ziren ihr Dienst nicht nöthig that, in Berlin zurückgeblieben. In der Nacht
darauf wurde der Vater von einem Offizier des Regiments geweckt, der ei-
gentliche Zweck und Marsch nach Wittenberg zu ihm mitgetheilt, und ihm
freigestellt ob er den Sohn, der als Ordonnanz in Berlin geblieben war, be-
Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XXXIII
nachrichtigen wolle und zur Nachfolge veranlassen oder nicht. Bei der Eile
der Zeit beräth sich Eytelwein gleich in der Nacht mit seiner Gattin, und
entschlofs sich schnell, den Wünschen seines Sohnes gemäfs, ihn nachzu-
senden, um den selbst nach der damals herrschenden Ansicht allerdings
höchst gewagten Versuch zur Befreiung des Vaterlandes mitzuwirken nicht
zu versäumen. Wenigen Eltern möchte in ähnlicher Lage das immer noch
zweifelhafte Opfer so pflichtgemäfs erschienen sein. Es kostete der Familie
nach der schnellen Katastrophe grofse Opfer und Verwendungen, um den
geliebten Sohn den Folgen seiner patriotischen Gesinnung zu entziehen.
Eytelwein gehörte zu den vielen hochstehenden Beamten des Preufsi-
schen Staates, die in einem andern deutschen Stamme geboren, frühzeitig
sich das neue Vaterland gewählt, und mit warmer Anerkennung ihrer Ver-.
dienste, von der, wie man gewöhnlich es ausdrückt, fremden Regierung
aufgenommen, zu den höchsten Stellen befördert wurden. Treu seinem
gegebenen Worte und anhänglich an den König und die von ihm gewählte
Verwaltung, hat er alle seine Kräfte dem ergriffenen Lebenswege zuge-
wandt, und wie die letzte Erzählung beweist, sein eigenes Leben und das der
Seinigen nicht gezögert aufzuopfern, wenn selbst bei nur schwacher Hoff-
nung des Gelingens das wahre Wohl Preufsens auf dem Spiele stand. In
einer Zeit wie die jetzige wo Unverstand Hinterlist Undank und überlegte
Intrigue sowohl der Einigung und dem Aufblühen des gesammten deutschen
Vaterlandes, als auch besonders unseres Staates, von den verschiedensten
Seiten her drohende Gefahren bereiten, und der anscheinende Conflikt der
Pflichten gegen Deutschland überhaupt und Preufsen insbesondere schwa-
che und ängstliche Gemüther hin und her wirft, ohne den einfachen Gedan-
ken erfassen zu können, dafs zu einem weit verzweigten Baume nothwendig
ein fester gedrungener innerer Korn gehöre und erhalten werden müsse, in
einer solchen Zeit des Schwankens und der Wankelmüthigkeit möge auch
in diesem Stücke Eytelwein wie in so manchen andern uns ein Vorbild
werden für die Fahne die wir ergreifen sollen, uns Allen die ähnlich wie er
aus den deutschen Gauen uns hierher gewandt haben. Möge deshalb bei
uns wie in dem gesammten deutschen Vaterlande das trübe Dunkel künst-
lich hervorgerufener Antipathien immer mehr und mehr sich erhellen und
der so wahre als nahe liegende Gedanke immer klarer und klarer sich her-
XXXIV Gedächtnifsrede auf Eytelwein.
ausbilden, dafs in kleineren wie in gröfseren Vereinen die Stärke des Ganzen
auf der Stärke der einzelnen Glieder beruht und dem grofsen anzustreben-
den Ziele bei richtiger Leitung niemals die Kraft und Blüthe der einzelnen
Theile hindernd in den Weg treten kann.
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Physikalische
Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Aus dem Jahre
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Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
der Wissenschaften.
1851.
In Commission in F. Dümmler’s Buchhaudlung.
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MÜLLER über die Larven und die Metamorphose der Holothurien und Asterien. - 35
Gustav Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle, namentlich des
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Link: Bermerkungen über den Bau der Orchideen. Erste Abhandlung. ..... =. 4082
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Über
die Seitenentladung der elektrischen Batterie.
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mmnnnannnmnnme
[Gelesen in der Gesammtsitzung der Königl. Akademie der Wissenschaften
am 15. Februar 1849.]
Einleitung. Versuche über die Seitenentladung $. 1-15. Entstehung derselben $. 16-19.
Schlagweite der strömenden Elektricität $&. 20—21. Die Seitenentladung im verzweigten Schlielsungs-
drahte und im Nebendrahte $. 22—30.
W.n dem Drahte, der eine elektrische Batterie schliefst, ein Leiter hin-
länglich nahe steht, so geht während der Entladung der Batterie, zwischen
ihm und dem Schliefsungsdrahte ein Funke über. Diese Erscheinung,
Seitenentladung genannt, ist seit lange bekannt. In neuerer Zeit ist ge-
funden worden dafs, wenn auch derLeiter dem Drahte zu fern steht, um den
Funken erscheinen zu lassen, dennoch im Leiter eine Elektrieitätsbewegung
stattfindet, die unter dem Namen des Nebenstromes vielfach untersucht
worden ist. Ob diese beiden, dem Scheine nach nahestehenden Erschei-
nungen identisch oder, wenn nicht, worin sie von einander verschieden
sind, ist eine bisher nicht gelöste Frage. Vor Entdeckung des Nebenstro-
mes sind viele Untersuchungen über die Seitenentladung angestellt worden,
gröfstentheils der Belehrung wegen, die man von ihnen über die Anlegung
von Blitzableitern erwartete; eine kurze Übersicht derselben möge meiner
Untersuchung als Einleitung dienen.
Im Jahre 1769 machte Priestley die Erfahrung, (?) dafs wenn eine
Metallkette, die von der äufsern Belegung einer geladenen Flasche ausging,
auf seinem Arme lag und die Flasche durch einen Theil der Kette entladen
wurde, die Haut auch unter dem übrigen Theile der Kette geröthet war,
(') Philosophical Transactions Vol. 59. Priestley Geschichte der EI.* S. 472.
Phys. Kl. 1849. A
> Rıerss
der nicht in der Schliefsung gelegen hatte. Er stellte über diese Erscheinung
unter der Bezeichnung lateral explosion (Seitenplatzung) im folgenden Jahre
eine ausführliche Untersuchung an (!). Ein 7 Fufs langer Pappcylinder,
der mit Stanniol bekleidet war, wurde isolirt; + Zoll von einem seiner En-
den befand sich der Knopf eines Eisendrahts, der mit der äufsern Belegung
einer Flasche verbunden war. Bei der Entladung der Flasche durch eine
Metallkette sprang ein Funke von dem Knopfe zum Cylinder über, aber zu
Priestley’s Verwunderung war der Cylinder dadurch gar nicht oder nur sehr
schwach elektrisch geworden. Die Elektricität des Cylinders, mit feinen
Prüfungsmitteln aufgefunden, war positiv, wie die, womit die Flasche di-
rekt geladen war. Je kleiner der isolirte Leiter war, der den Funken em-
pfing, um so näher mufste er dem Knopfe des Eisendrahts gebracht werden,
und desto weniger Elektricität fand sich in ihm vor. Von den vielfachen
Abänderungen dieses Versuches verdient die, später in Vergessenheit gera-
thene Erfahrung einer Erwähnung, dafs mehrere Seitenentladungen gleich-
g erhalten werden konnten.
5
Es wird zum Erscheinen des Funkens eine gewisse Unterbrechung in der
zeitig an verschiedenen Stellen der Schliefsun
Hauptschliefsung nöthig gefunden, die gewöhnlich durch eine Gliederkette
bewirkt wurde. Als Grund der Erscheinung wird angegeben, dafs die Elek-
trieität der Flasche, auf ihrem Wege zur äufsern Belegung aufgehalten, auf
nahe Körper übergehe und zur Schliefsung wieder zurückkehre. Der Fall
sei also derselbe, als ob der isolirte Leiter sich in einer Unterbrechung des
Schliefsungsbogens befände, nur dafs alsdann die Elektricität der Flasche
an verschiedenen Punkten desselben hinein- und hinaustrete, was bei der
Seitenentladung an einem und demselben Punkte geschähe.
Henly (?) stellte 1774 einen häufig angeführten Versuch an, von
dem es zweifelhaft ist, ob er eine reine Seitenentladung darstellt. An den
Conduktor einer Elektrisirmaschine war der Knopf einer Flasche gestellt,
von deren äufserer Belegung eine eiserne Kette ausging, die in eine Metall-
platte endigte, durch deren Verbindung mit dem Conduktor die Flasche
entladen wurde. An einem andern Punkte der äufsern Belegung der Flasche
wurde eine lange Messingkette befestigt, an deren Ende ein 8 Zoll langer
(') Philosoph. Transact.* Vol. 60. p. 192.
(?) Philosoph. Transact.* Vol. 64. p. 402.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 3
Holzstab angesetzt und mit Sägespänen bestreut war, dessen Ende 4; Zoll von
der erwähnten Metallplatte entfernt blieb. Bei der Entladung der Flasche
wurden beide Ketten und die Sägespäne auf dem Holzstabe leuchtend.
Henly räth nach diesem Versuche davon ab, Ketten zu Blitzableitern zu
verwenden, was damals häufig geschah.
In naher Verbindung mit der Seitenentladung steht eine Erscheinung,
die Lord Mahon (Graf Stanhope) 1779 entdeckt und sorgfältig untersucht
hat (!). Ein Metallcylinder, der einem elektrisirten Conduktor nahe
steht, wird an seinem nächsten Ende mit dem Conduktor ungleichnamig, an
dem entfernten Ende gleichnamig elektrisch. Entladet man den Conduktor,
so vereinigen sich die Elektricitäten wieder. Diese Entladung geschieht mit
einem Funken, wenn der Cylinder an einer Stelle durch eine Luftschicht
unterbrochen ist. Mahon hat über die Stärke dieser Entladung, die er
Rückschlag (returning stroke) nennt, folgenden Versuch angestellt. Dem
einen Ende eines 10-41 Fufs langen Eisencylinders war eine Metallkugel
sehr nahe und in den Zwischenraum ein Stanniolblatt gestellt. In der Nähe
der Kugel, aber aufserhalb der Schlagweite, befand sich der Conduktor
einer Elektrisirmaschine, der geladen und sodann durch Funkenziehen ent-
laden wurde. Bei der Entladung ging ein starker Funke zwischen Kugel
und Cylinder über und schmelzte das Staniolblatt. Der Verfasser suchte
durch den Rückschlag den, übrigens nicht constatirten Fall zu erklären,
dafs in gröfserer Entfernung von dem Orte, wo ein Blitz einschlug, ein
Mann ohne Lichterscheinung getödtet wurde. Obgleich von Reimarus
das Irrige dieser Erklärung aufgezeigt worden ist (?), hat dieselbe und zu-
weilen auch die ihr beigegebene Abbildung, auf der ein Mensch ohne Noth
erschlagen liegt, Eingang in die Lehrbücher gefunden.
Cuthbertson stellte über die Seitenentladung folgende Versuche
an (?). Eine Funkenflasche, die sich bei bestimmter Ladung zwischen zwei
Kugeln entlud, wurde an den Conduktor einer Elektrisirmaschine gestellt;
von ihrer äufsern Belegung ging ein kurzer Draht in die Höhe, der in eine
Kugel endigte, und dieser wurde der Knopf einer kleinen leydener Flasche
(') Mahon Principles of electr. 1779. Deutsch * 1789. S. 97— 160.
(?) Neuere Bemerk. v. Blitze. * Hamb. 1794. S. 176 Ag.
(°) Abhandlung von d. Elektricität.* 1786. S. 204.
A2
4 BnIvENsus
nahe gebracht. Bei der Entladung der grofsen Flasche ging ein Funke zur
kleinen über und lud diese mit derselben Elektricitätsart, welche der Con-
duktor in die grofse Flasche geführt hatte. Der Verf. schliefst, dafs diese
Erscheinung von einer Überladung der Flasche herrühre, der mehr Elektri-
cität zugeführt worden als sie habe halten können und dafs diese Elektrieität
bei der Entladung zu dem nächsten Leiter übergesprungen sei.
Eine Seitenentladung von einem einfachen Conduktor hat v. Marum
mit Hülfe der grofsen Teyler’schen Maschine erhalten (!). Ein grofser Me-
tallkörper, auf den von dem Gonduktor der Maschine Funken schlugen,
war durch einen } Zoll dicken Kupferstab mit dem feuchten Erdboden ver-
bunden. Man konnte von diesem Stabe während des Spieles der Maschine
Funken ziehen. Ein zum Theil hieher gehöriger Versuch ist folgender (?).
v. Marum spannte einen 12 Zoll langen „1, Zoll dicken Eisendraht in gera-
der Linie aus und legte einen 20 Zoll langen 4, Zoll dicken Eisendrath in
einen Bogen, dessen Enden dem geraden Drathe bis 3% Zoll nahe, kamen.
Die Entladung einer Batterie durch den geraden Drath schmelzte beide
Drähte.
In den vorhergehenden Versuchen ist die Seitenentladung von der
o
Belegung einer Flasche oder einem derselben nahen Theile des Schliefsungs-
bogens ausgegangen; Bohnenberger (?) versuchte die Seitenentladung
von der Mitte des Bogens zu erhalten, machte den Versuch aber dadurch
zweifelhaft, dafs er diese Mitte durch einen Luftraum unterbrach. Zwei
Drähte wurden in gerader Linie gegen einander gestellt, so dafs ihre zuge-
kehrten Enden !; Zoll von einander standen. Winkelrecht gegen die Ver-
bindungslinie dieser Enden und 3 Linien von ihr entfernt wurde ein dritter
Drath angebracht, der mit einem Elektroscope oder dem Knopfe einer klei-
nen leydener Flasche in Verbindung stand. Bei der Entladung einer Batterie
durch die geraden Drähte wurde Divergenz und gleich darauffolgendes Zu-
sammenfallen der Goldblätter des Elektroscops oder eine bleibende sehr
schwache l.adung der kleinen Flasche bemerkt. Als Grund der Erscheinung
wird angeführt, dafs die äufsere Belegung der Batterie nicht die ganze Menge
(') Beschreibung einer grofsen Electrisirmasch. * Leipzig 1786. S. 11.
(2) Derselben erste Fortsetz. * 1788. S. 31.
(°) Beschreibung unterschiedl. Elektricitätsverdoppler.* Tüb. 1798. S. 172.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 5
der in ihrem Innern angehäuften Elektrieität aufnehmen kann und diese
Menge, indem sie mit grolser Gewalt gegen die äufsere Belegung anprallt,
auf nahe Körper durch Mittheilung oder Influenz wirke.
Saxtorph(') rechnet zu den Ursachen des Seitenschlages, und für
viele der angeführten Versuche gewifs nicht mit Unrecht, auch die unvoll-
kommene Ableitung, die der äufseren Belegung der Batterie zur Erde ge-
geben sei, bei welcher der UÜberschufs der Elektrieität der innern Belegung
nicht schnell genug abgeleitet werde. Er vermuthet, dafs wenn die äufsere
Belegung mit tief in die Erde gehenden Leitern verbunden würde, kein
Funke zwischen ihr und einem isolirten Leiter erscheinen würde.
Biot (?) brachte das eine Ende eines isolirten Metalleylinders durch
eine Kette mit der äufsern Belegung einer Batterie in Verbindung. Dem-
selben Ende des Oylinders stellte er einen ähnlichen isolirten Cylinder nahe,
der mit Elektrometerpendeln versehen war. Als durch Verbindung des
freien Endes des ersten Cylinders mit dem Innern der Batterie diese entla-
den wurde, ging ein Funke zwischen beiden Cylindern über und die Pendel
stiegen und fielen in demselben Augenblicke. Die dunkle und schwankende
Erklärung dieser Erscheinung, die nahe das Richtige trifft, setze ich mit
Biot’s Worten her: Die Elektrieität der Batterie entladet sich nicht in einem
untheilbaren Augenblicke, wie gut auch der Leiter sei, den man ihr bietet;
sie wirkt während ihres Durchgangs durch Influenz auf die Elektricitäten
der Körper, die den Schliefsungsdraht berühren und bringt darin eine augen-
blickliche Trennung derselben zu Wege. Man sieht hieraus (par cela meme)
dafs diese Wirkung aufserordentlich schwach sein mufs, denn sie wird allein
durch Influenz desjenigen Theils von Elektrieität hervorgebracht, der auf
einer der Belegungen der Batterie frei bleibt und dessen Repulsivkraft durch
die Ausbreitung der Elektrieität auf den dargebotenen Leiter zwar sehr ge-
schwächt, aber nicht gänzlich vernichtet wird. — In dem später erschiene-
nen Precis de physique ist der letzte Satz gestrichen und dafür gesetzt: Es
leuchtet hiernach von selbst ein, dafs diese Wirkung um so schwächer sein
mufs, je vollkommener und dicker die Leiter sind, durch welche man die
Schliefsung der Batterie bewirkt. (°)
(') Electricitätslehre. Deutsch * 1803. Bd. 1. S. 349.
(?) Traite de Physique.* Par. 1816. t.2. p.452.
(?) Biot Lehrbuch d. Experimentalphysik v. Fechner. * 1829. Bd. 2. S. 288.
6 Rıreisıs
Bei Gelegenheit eines Streites über Blitzableiter auf Schiffen stellte
Sturgeon (') Versuche über die Seitenentladung an. Auf eine Metallplatte
wurde eine geladene Leydener Flasche und neben dieselbe ein vertikaler
Metallstab gestellt. Wurde nun die Flasche entladen, indem das obere
Ende des Stabes durch einen Auslader mit dem Knopfe der Flasche verbun-
den wurde, so gab der Stab einer seitlich gestellten, am besten nicht iso-
lirten Kugel einen Funken. Dasselbe geschah, als die Flasche an der vom
Stabe abgewandten Seite durch den Auslader allein entladen wurde, und
der Funke gab alle Wirkungen, wie der der Hauptentladung, unter welchen
die chemische Zersetzung namentlich aufgeführt wird. Der Funke trat auf,
als der Stab von der Metallplatte 50 Fufs entfernt und mit dieser durch
einen Draht verbunden war. Der Funke nahm an Stärke ab, als die Aufsen-
seite der Flasche eine gute Ableitung zur Erde erhielt, aber er blieb nicht
aus, selbst wenn die Aufsenseite und der Metallstab durch Drähte mit einer
metallenen Brunnenröhre verbunden waren.
Snow Harris hat sich gegen diese Versuche mit einer leidenschaft-
lichen Kritik gewendet (?), die ihn so weit führte, dafs er in ihnen überall
nur einen von einem geladenen Conduktor überspringenden Funken erkannte.
Er stellte eine geladene Flasche mit einem Metallstabe auf einen isolirten
Teller und konnte nach der Entladung von allen Metalltheilen Funken zie-
hen; da nun die Entladung so aufserordentlich schnell geschähe, so müsse
während der Entladung ein Funke entstehen können, wenn die Flasche auch
nicht isolirt sei. Hiernach wird die Seitenentladung, die der Verf. mit Ma-
hon’s Rückschlag verwechselt, gänzlich geleugnet. Diese Meinung erhielt
1840 eine sehr gewichtige Stütze.
Es war von der englischen Admiralität eine Commission niedergesetzt
worden um über die Anlage von Blitzableitern auf Kriegsschiffen zu berathen.
Da diese Ableiter durch die Pulverkammer geführt werden sollten, so rich-
tete man an Wheatstone und Faraday die Anfrage, ob eine Seitenent-
ladung zu fürchten sei. Wheatstone (?) gab die oben mitgetheilte Biot’sche
Darstellung der Seitenentladung und fügte hinzu, dafs von der Seitenentla-
(') Annals of electricity.* Vol. IV. (1839) p. 175.
(?) Annals of electricity.* Vol. IV. p. 313.
(°) ididem. Vol. V. p. 10.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie 7
dung des Blitzes nur in dem Falle Schaden zu fürchten sei, wenn der Ab-
leiter nicht die gehörige Dicke besitze, die ganze Electrieitätsmenge fort-
zuführen.
Faraday gab keine Seitenentladung zu, sondern nur eine Ablenkung
und Theilung des Hauptstromes, die durch das gute Leitungsvermögen der
Schliefsung vermieden werden könne (').
Ich habe die Übersicht der Untersuchungen einer Erscheinung
mit einem Ausspruche schliefsen müssen, der die Erscheinung gänzlich in
Frage stellt. Die Meinung des grofsen Naturforschers erscheint nicht ganz
ungerechtfertigt, wenn man bedenkt, dafs keiner der angeführten Versuche
mit der nöthigen Vorsicht angestellt worden ist, um jeden Zweifel zu besei-
tigen. Überall sind übermäfsig starke Ladungen der Batterie gebraucht, der
Funke ist in grofser Nähe der geladenen Fläche erzeugt worden; es wurde
nicht dafür gesorgt, äufsere Belegung und Schliefsungsbogen vollkommen zur
Erde abzuleiten und endlich ist nirgends ein durchgängig gut leitender Schlie-
fsungsbogen angewandt worden. Frühere Erklärungen der Erscheinung ma-
chen diese Unvollkommenheit der Schliefsung zur Bedingung. Biot giebt
sie zwar nicht wörtlich zu, aber er zeichnet sie in der seiner Erklärung bei-
gegebenen Abbildung, indem er den gröfsten Theil des Schliefsungsbogens
aus einer schlaffen Gliederkette bestehen läfst. Dafs dies nicht zufällig sei,
beweist die Änderung seiner Erklärung in den spätern Ausgaben des Precis.
Eine Entladung aber, welche die Zwischenräume in den losen Gliedern einer
Kette zu durchbrechen hat, seitlich abspringen zu sehen, hat nichts Auffal-
lendes. Ebenso wenig nöthigte der Fall, wo der Entladungsstrom einen
dünnen Draht verläfst um auf einen, von demselben getrennten, dickeren
überzugehen, zur Annahme einer eigenthümlichen Wirkung der Entladung.
Ich habe mich daher nicht beschränken dürfen, die bereits vorlie-
genden Versuche fortzusetzen; ich hatte von vorn anzufangen und das Vor-
handensein der Seitenentladung aufzuzeigen. Nachdem sich ergeben hatte,
(') He was not aware of any phenomenon called lateral discharge, which was not a
diversion or division of the primary current and that all liabilities to a diversion of the main
charge would decrease in proportion to the capability and goodness of the primary conductor.
Annals of elecir. * Vol.V. p.7.
8 RıeEss
dafs auch die schwächste Entladung, die in der vollkommen metallischen
Schliefsung keine wahrnehmbare Erwärmung hervorbringt, dennoch eine Sei-
tenentladung erzeugt und dafs diese ihre eigenen Gesetze befolgt, war mir
darum das weitere Ergebnifs nicht minder überraschend, dafs nämlich, ganz
im Gegensatze zu der oben angeführten Behauptung, eine Ablenkung und
Theilung des Entladungsstromes erst durch das Vorangehen einer Seiten-
entladung möglich gemacht wird. Im Laufe der Untersuchung hatte ich
Gelegenheit, ein Gesetz über die Schlagweite der strömenden Elektricität
abzuleiten, das mir für die Elektricitätslehre im Allgemeinen von Wichtig-
keit zu sein scheint.
I. Versuche über die Seitenentladung.
SE
Es soll eine Wirkung des Entladungsstromes untersucht werden und
man hat zu vermeiden, dafs dieselbe nicht durch eine Wirkung verwirrt
werde, die während der Ladung der Batterie eingeleitet wird. Mit andern
Worten, es mufs der Rückschlag an dem Prüfungsinstrumente jener Wir-
kung möglichst klein gemacht, dieses daher von der Batterie so weit entfernt
werden, dafs es von ihr keine merkbare Einwirkung erfährt. Eine andere
Vorsicht zu demselben Zwecke, die auch durch die in der Einleitung be-
zeichnete Rücksicht geboten wird, besteht darin, sich nur mäfsiger Ladun-
gen der Batterie zu bedienen. Ich habe bei der stärksten der in der Folge
angewandten Ladungen ein empfindliches Goldblattelektroscop dem Knopfe
der Batterie bis 10 Zoll nähern müssen, um eine Divergenz von einigen
Linien zu erhalten. Der Schliefsungsbogen kann mit seinem Ende nicht aus
dem Bereiche der merkbaren Influenz durch die Batterie entfernt werden,
aber der Theil desselben an dem die Ansätze angebracht wurden, lag nie
näher als 24 Zoll von der nächsten geladenen Fläche der Batterie. Der
Schliefsungsbogen war aus gut leitenden Stücken zusammengesetzt und in
vollkommen leitender Verbindung mit der Erde, wie aus der genauen Be-
schreibung der unveränderlichen, den Belegungen der Batterie zunächst lie-
genden Theile desselben ersichtlich ist.
6. 2.
Der Schliefsungsbogen geht von der nahe 4zölligen Messingkugel aus,
in welche die Drähte der einzelnen Batterieflaschen eingreifen und die während
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 9
der Ladung durch einen beweglichen Arm mit dem 30 Zoll entfernten Con-
duktor der Maschine (einer 5zölligen Kugel) verbunden ist. Eine gekrümmte
Messingröhre, 24,1 par. Zoll lang, 4% Lin. dick, geht von der Batterie-
kugel nach unten und endigt in eine Kugel, auf welche die Kugel des Ent-
ladungsapparates aufschlägt. Es folgt im Schliefsungsbogen der Messingstab
des Entladungsapparats, 9 Zoll lang, 3% Lin. dick, das Kugelgelenk, um
das sich derselbe dreht, und dann ein aufwärts gehender Messingdraht, 22,2
Zoll lang, 1% Lin. dick, der in einem mit Schraubenverbindungen versehe-
nen isolirten Gestelle endigt. In gleicher Höhe mit diesem Gestelle und 25
Zoll von ihm entfernt befindet sich ein zweites Gestell das einen Messingstab
trägt, 5,8 Zoll lang 34, Lin. dick, an dem ein vertikaler, mit den Gasröhren
des Hauses verbundener Kupferstreifen aufgehängt ist. Dieser Kupferstreifen,
131, Lin. breit /, Lin. dick, wird durch eine Feder gegen den 14, Linie dik-
ken Kupferdraht gedrückt, der von dem Metallboden der Batterie zu der
Maafsflasche geht. Es gehören vom Kupferstreifen 32,3, von dem Drahte
14, Zoll zum Schliefsungsbogen. Dies sind die unveränderlichen Stücke
des Schliefsungsbogens; das veränderliche Stück desselben, das Schlie-
fsungsdraht oder Stammdraht heifsen soll, wird mit seinen Enden in den
beiden erwähnten Gestellen befestigt. Bei dem kürzesten Schliefsungsdrabte,
der aus dickem Messingdraht von 4% Zoll Länge bestand, mifst die Länge
des ganzen Schliefsungsbogens von der Batteriekugel bis zum Batterieboden
nahe 138 Zoll.
3.
Um die Seitenentladung zu Stande zu bringen, wird an dem Stamm-
drahte, winkelrecht gegen ihn, das Ende eines Drahtes befestigt, der Ast-
draht heifsen soll. (Unter Zweigdraht wird ein Draht verstanden, der mit
beiden Enden am Stamme befestigt ist). Zur Befestigung des Astes benutzte
ich eine doppelte Schraubenklemme, deren Bohrungen winkelrecht auf ein-
ander stehen. Das freie Ende des Astes war mit der einen Kugel eines Fun-
kenmikrometers verbunden, dessen Vernier die Entfernung der Kugeln di-
rekt bis 0,02 par. Lin. angab. Mit der zweiten Kugel war das Ende eines
Drahtes verbunden, der Seitendraht, der in der Verlängerung des Ast-
drahtes lag. Man hat durch diese Einrichtung das Schema eines horizontal
ausgespannten Drahtes (des Stammdrahtes) und eines winkelrecht an ihm
Phys. Kl. 1849. B
10 Ruroe sus
befestigten Drahtes, letzteren durch einen Zwischenraum in zwei Stücke
(den Ast und Seitendraht) getheilt.
a
Ast- und Seitendraht wurden mit einander verbunden und das Ende
des letzteren an dem Knopfe eines, 51, Fufs von dem Stammdrahte entfern-
ten, Goldblattelektroscops befestigt. Als die Entladung der Batterie durch
den Stammdraht geschah, zuckten die Blätter des Elektroscops; wurde die-
ses mit einem Säulenelektroscope vertauscht, so zuckte das Goldblatt bei
der Entladung stets nach derselben Polplatte, positive Elektrieität anzeigend,
die hier (wie weiterhin) zur Ladung der Batterie gebraucht wurde. Ein em-
pfindliches Luftthermometer (mit Platindraht von rad. 0,0185 Lin.) wurde
in den Seitendraht eingeschaltet; es wurde keine Erwärmung des Drahtes
bemerkt bei Entladungen solcher Stärke, die ich bei diesen Untersuchungen
nicht zu überschreiten gesonnen war. Das Ende des Seitendrahts wurde
durch eine Platinspitze verlängert, die auf einem isolirten mit Jodkalium-
lösung genäfsten Papiere stand; eine zweite Platinspitze stand von der ersten
4 Linie entfernt und war mit einem isolirten Kupferdrahte verbunden. Es
wurde keine Spur von Zersetzung bei der Entladung bemerkt. Das Prü-
fungsmittel, das ich bei dem Nebendrahte angegeben ('), nämlich durch das
Drahtende auf Pechplatten Staubfiguren zu bilden, habe ich hier nicht an-
angewandt. Während dies Mittel dort nützlich geworden war, die von meh-
reren Seiten in Frage gestellte Unveränderlichkeit der Richtung des Neben-
stromes darzulegen, erschien es bei der Seitenentladung unnütz, für welche
ein solcher Zweifel nicht besteht. Ebenso wenig habe ich versucht, mit dem
Seitendrahte Stahlnadeln zu magnetisiren, da kein Resultat dieser Versuche
eine Frage über die Seitenentladung zu entscheiden geeignet sein konnte.
$. 9.
Der Astdraht wurde von dem Seitendrahte durch die Kugeln des Fun-
kenmikrometers getrennt. Ich bemerke, dafs hier und überall in der Folge
die Drähte, wenn sie nicht sehr dünn waren, nicht unmittelbar in den
Schraubenklemmen des Mikrometers befestigt wurden, da sie sonst durch
Gewicht und Starrheit die sichere Einstellung der Kugeln verhindern konn-
(') Poggend. Annalen Bd. 51. S. 351.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 11
ten, sondern dafs zwischen die Drähte und das Mikrometer kleine Spiral-
federn eingeschoben waren, die aus einem !; Lin. dicken, 7 Zoll langen
gut ausgeglühten Kupferdrahte bestanden. Die Entfernung der Kugeln be-
trug hier 1 bis 4 Zehntel Linie. Als eine hinlängliche Electricitätsmenge
aus der Batterie durch den Stammdraht entladen wurde, erschien zwischen
den Kugeln der allen Beobachtern der Seitenentladung bekannte Funke.
Danach erwies sich der ganze Seitendraht elektrisch. Das Ende des Drahtes,
an ein Säulenelektroscop gehalten, brachte das Goldblatt zum Anschlagen
an die Polplatte und zwar mit positiver, derselben Elektrieität, mit der die
Batterie geladen war. An ein Goldblattelektroscop gehalten, brachte das
Ende des Seitendrahtes die Goldblätter zu einer Divergenz mit positiver
Elektrieität, die 5 bis 10 Grade betrug. Gröfsere Divergenzen traten ein,
wenn der Seitendrabt während der Entladung mit dem Elektroscope ver-
bunden war. Das Ende des Drahtes wurde an der obern dreizölligen Platte
eines Condensators mit Glasplatte befestigt; nach der Entladung war die
Platte mit positiver Elektrieität geladen, die am Elektroscope eine Divergenz
von 25 bis 40 Graden hervorbrachte. Hieraus folgt, dafs in der Seitenentla-
dung einer mit positiver Elektrieität geladenen Batterie eine Bewegung von
positiver Elektrieität in der Richtung von dem Aste zum Seitendrahte statt
findet.
$.r6%
Die Divergenz des mit dem Ende des Seitendrahtes verbundenen
Elektroscops ist eine in hohem Grade wandelbare Erscheinung. Bei an-
scheinend identischen Versuchen sieht man häufig die Divergenzen vom Ein-
fachen bis Vierfachen wechseln, und es kommt nicht selten vor, dafs der
Seitendraht fast ganz unelektrisch bleibt. Läfst man den Apparat ungeän-
dert und steigert die Elektrieitätsmenge der Batterie, so ist damit keines-
weges ein Steigen der Divergenzen bestimmt. So fand ich einmal bei An-
wendung der Elektricitätsmengen 14, 15, 16, die Divergenzen des Elek-
troscops 20 13 5 Grad, ein anderesmal für die Elektricitätsmengen 16, 17,
18, die Divergenzen 15, 7, 12 Grad. Anderte ich die Entfernung des Astes
von dem Seitendrahte und damit die Länge des überspringenden Funkens,
wodurch zugleich eine Änderung der Ladung der Batterie geboten wurde,
so gab der längere Funke nicht immer die gröfsere Divergenz. So fand ich
z.B. in einer Versuchsreihe
B2
12 RızEss
bei der Funkenlänge o,ı Lin. die Divergenz 10 bis 20 Grad.
0,2 0 20
0,% 5 20
0,7 10 20
Trotz dieser unregelmäfsigen Divergenzen wurde eine bestimmte Ab-
hängigkeit der Funkenlänge von der Ladung der Batterie bemerkt. Die Di-
vergenzen, obgleich von der Seitenentladung herrührend, hängen mit dieser
nur in loser Weise zusammen, die sich leicht angeben läfst. Der Seiten-
draht, der während der Entladung der Batterie von dem Aste, wie dieser
vom Stamme, elektrisch gemacht wird, wird nach der Entladung durch den
Ast wieder gröfstentheils entladen. Der Funke zwischen Ast und Seitendraht
ist ein doppelter, von der. Bewegung derselben Elektricitätsart nach entge-
gengesetzten Richtungen herrührend. Priestley hatte denselben Schlufs
aus der, gegen den Glanz des Funkens unverhältnifsmäfsig geringen Elektri-
sirung des Seitendrahtes gezogen. Die Entladung des Seitendrahtes ist nach
Umständen, welche die Seitenentladung nicht ändern, mehr oder weniger
vollständig. Sie kann absichtlich unvollständig gemacht werden, wenn man
das Ende des Drathes mit einer Condensatorplatte verbindet ($.5). Es ist
daher bei dem Studium der Seitenentladung die Beobachtung der Divergenz
des Elektroscops unnütz, wenn man sie nicht, wie ich es gethan, zur ge-
legentlichen Unterstützung des Auges bei ungünstiger Stellung des Funken-
mikrometers benutzen will. Eine Divergenz des Elektroscops setzt stets
einen Funken voraus, aber nicht umgekehrt.
ST7
Durch zahlreiche übereinstimmende Versuche verschiedener Beob-
achter ist der Satz festgestellt, dafs eine elektrisirte einfache oder Conden-
satorfläche von einem genäherten Körper in einer gröfsten Entfernung (der
Schlagweite) entladen wird, die der Dichtigkeit der Elektrieität auf der Fläche
proportional ist. Eine Batterie, deren Elektrieität die Dichtigkeit 1 besitzt
und von dem Ende des Schliefsungsbogens in der Entfernung 1 entladen
wird, wird bei der Dichtigkeit 2 in der Entfernung 2 und in keiner gröfsern
entladen; dies ist so sicher, dafs man bei der Batterie die Bezeichnungen
Dichtigkeit und Schlagweite häufig mit einander vertauscht. Um so auffal-
lender war es mir, dafs schon die ersten Versuche über die Schlagweite des
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 13
Seitenstroms eine andere Abhängigkeit derselben von der Dichtigkeit der
Elektrieität in der Batterie auf das Bestimmteste nachwiesen. Es wurde das
Mikrometer, dessen Kugeln die Enden des Astes und Seitendrahtes bilden,
in verschiedene Entfernungen von einander gestellt und jedesmal die kleinste
Elektrieitätsmenge gesucht, deren Entladung aus der Batterie einen Funken
im Mikrometer erzeugte. Die Elektricitätsmenge wurde durch die Maafsflasche
bestimmt, deren Kugeln in der Entfernung % Linie standen; beim Anfange
der Ladung lieferte die Maschine ungefähr 25 Einheiten der Menge durch
eine Umdrehung. Es wurde zuerst eine beliebige Elektricitätsmenge ge-
braucht, bei der der Funke im Mikrometer erschien, die Menge sodann
successiv um eine Einheit vermindert, bis der Funke ausblieb. Gab die
letzte gebrauchte Menge, um 1 vermehrt, den Funken wieder, so ist die
volle Zahl in der Tabelle angegeben, mufste aber, wie es später vorkam,
die Menge um 2 vermehrt werden, um den Funken sicher erscheinen zu las-
sen, so ist die Menge, bei welcher der Funke ausblieb, um 11, vermehrt,
in die Tabelle aufgenommen.
Schlagweite des Seitenstroms x Elektrieitätsmenge der Batterie
beobachtet q berechnet
0,1 par. Lin, 12 12,1
0,20 16 17,1
0,24 18 18,7
0,30 20 20,9
0,34 22 22,3
0,40 25 24,2
0,44 26 25,4
0,48 27 26,5
Die Schlagweiten des Seitenstroms verhalten sich nahe wie die Qua-
drate der Elektrieitätsmengen der Batterie, wie aus der Berechnung hervor-
geht, die nach der Relation q = 38,23 Yx geführt ist.
3%
Die Batterie war unverändert geblieben, mit der Elektricitätsmenge
also ihre Dichtigkeit in gleichem Verhältnisse geändert worden. Es war nicht
zu zweifeln, dafs die Schlagweite allein von der Dichtigkeit abhängt, doch
habe ich bei der Wichtigkeit des Gesetzes dies an einer spätern Stelle der
Untersuchung, wo der Schliefsungsbogen eine andere Einrichtung besafs,
14 RıeEss
bestätigt und führe die Versuche sogleich an. Es wurden zu zwei Schlag-
weiten die nöthigen Elektrieitätsmengen gesucht, je nachdem 2 bis 7 Fla-
schen gebraucht wurden (jede Flasche von 2,6 par. quadr. Fufs innerer Be-
legung).
Flaschenzahl Schlagweite 0,1 Lin. Schlagweite 0,4
$ beobachtetg berechnet beob.g berechn.
2 6 5,2 11 10,4
3 8 7,8 16 15,6
[N 10 10,4 21 20,7
5 13 13 26 25,9
15 15,6 31 Sn
18 18,1 36 36,3
Die Rechnung ist nach dem Ausdrucke geführt g=8,2.sVx und
giebt die Beobachtung vollkommen wieder. Das Gesetz, das sich in dem-
selben ausspricht, hat sich in einer grofsen Anzahl von Versuchen ohne
Ausnahme bestätigt. Man hat also für die Seitenschlagweite
x=a(*)
Ss
Die Schlagweite der Seitenentladung ist proportional dem
Quadrate der Dichtigkeit der in der Batterie angehäuften
Elektrieität.
S.9.
Ich werde auf die Folgerungen, die dies merkwürdige Gesetz zuläfst,
weiter unten aufmerksam machen, und gehe zu seiner Anwendung zur Un-
tersuchung des Seitenstromes. Der Seitenstrom, das heifst die Elektrici-
tätsbewegung, die von dem Stamme durch den Ast und die Luftschicht im
Mikrometer sich bis zum Ende des Seitendrahtes fortpflanzt, übt im durch-
strömten Drahte keine an den bisher angewandten Instrumenten erkennbare
constante Wirkung aus ($. 4). Wir entbehren also eines, an andern elek-
irischen Strömen angewandten Maafses für den Seitenstrom und müssen uns
an die Schlagweite halten, die keinen Schlufs auf die in Bewegung gesetzte
Elektricitätsmenge zuläfst. Ich werde daher für den Seitenstrom die Be-
zeichnung Seitenentladung auch ferner beibehalten und diese gröfser
oder kleiner nennen, je nachdem sie eine gröfsere oder kleinere Luftschicht
zu durchbrechen fähig ist. Um die Änderung der Seitenentladung nach ver-
schiedener Anordnung ihrer Leiter zu erfahren, hätte ich Batterie und La-
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 15
dung ungeändert lassen und mit dem Funkenmikrometer in jedem Falle die
Schlagweite der Seitenentladung aufsuchen müssen. Diese Methode wäre
aber ebenso beschwerlich als sie ungenau ist, da häufig der Fehler beim
Einstellen des Mikrometers die wesentlichen Unterschiede verdecken würde.
Dieser Übelstand wird zwar vermieden ‚ wenn man in der Formel x—=a (=
aus verschiedenen Versuchen mit passend gewählten Ladungen den Werth
für a sucht, aber die Methode bleibt noch immer sehr zeitraubend.
Leicht ausführbar und für die folgenden Versuche hinreichend ist die
Bestimmung von er ‚ indem für im Voraus gewählte Schlagweiten die kleinste
Elektrieitätsmenge gesucht wird, die eine Seitenentladung liefert. Die Ver-
suche können dann immer so eingerichtet werden, dafs der Beobachtungs-
fehler, der nahe bis 1 gehen kann, das Resultat nicht wesentlich beeinträch-
tigt. Ich habe in den folgenden Versuchen 3 Flaschen angewendet, für die
Constante = 5 das Mittel aus mehreren Beobachtungen genommen und
die nach q = 5 V.x berechneten Elektricitätsmengen neben die beobachteten
gesetzt. Die Constante 5 giebt die Elektricitätsmenge an, die aus 3 Fla-
schen entladen, eine Seitenentladung von 1 Linie Schlagweite liefert; die
Stärke der Seitenentladung wird also mit 5 in entgegengesetztem Sinne va-
rliren.
Einflufs des Seiten-, Ast- und Stammdrahtes auf die
; Seitenentladung.
S. 10.
Länge des Seitendrahtes. Die eine Kugel des Mikrometers war
mit dem Stamme durch einen 35 Zoll langen Draht verbunden, während an
die andere Kugel ein kupferner Seitendraht (3 Lin. dick) von verschiedener
Länge angesetzt wurde.
Länge Schlagweite Elektrieitätsmenge (g=bVr)
des Seitendrahtes ar beobachtet g berechnet Constante 5
7 Zoll 0,1 Lin. 20 19,9
0,2 28 28,1 62,9
56 0,1 12 11,8
0,2 16 16,7
0,3 20 20,4 3753
160,6 0,1 1055 10,3
0,2 14 14,5
0,4 21 20,6 32,5
16 R nie s.8
Eine weitere Verlängerung des Seitendrahtes bis 328 Zoll brachte
keine wesentliche Änderung der Entladung hervor. _ Die Seitenentladung
nimmt also mit Verlängerung des Seitendrahtes an Stärke zu, aber nur bis
zu einer bestimmten Gränze. Bei gleicher Ladung der Batterie verhalten
sich die Schlagweiten umgekehrt wie die Quadrate der Constante 5. Hat
man bei einem Seitendrahte von 7 Zoll Länge die Seitenschlagweite 1 er-
halten, so läfst sich diese, wie man sieht, durch Verlängerung des Drahtes
auf 3,75, aber nicht weiter, steigern.
SM.
Länge des Astdrahtes. Der Ast wurde, so weit möglich, auf
Null gebracht, indem der Zapfen, auf dem die eine Kugel des Mikrometers
steht, unmittelbar in dem Stamme des Schliefsungsbogens angebracht wurde.
Als Seitendraht diente hier und überall in der Folge der 160,6 Zoll lange
Kupferdraht. Nach Untersuchung der Schlagweite wurde dann das Mikro-
meter durch einen 1; Lin. dicken Kupferdraht mit dem Stamme verbunden
und die Länge dieses Drahtes verändert.
Länge Schlagweite Electrieitätsmenge (g=b Vz)
des Astdrahtes z beobacht. g berechn. Constante 5
) 0,1 Lin. 8,5 8,1
0,2 1 11,4
0,4 16 16,2 25,6
7 Zoll 0,1 9 8,8
0,2 12 12,5
0,4 18 17,6 27,9
61 0,1 10,5 10,1
0,2 14 14,3
0,4 20 20,2 32,0
188 0,1 11 11
0,2 15,5 15,5
0,4 22 21,9 34,7
Die Seitenentladung nimmt also mit Verlängerung des Astdrahtes ab,
aber in sehr geringem Verhältnisse zur gesteigerten Länge. Dies erscheint
deutlicher, wenn man die Schlagweite für eine bestimmte Ladung der Bat-
terie (z.B. die Elektrieitätsmenge 16) berechnet.
Länge des Astes o 7 61 ıss Zoll
Schlagweite 0,39 0,33 0,25 0,21 Linie
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 17
Ne 2
Stellung des Astes am Stamme. Die Stelle des Stammes, von
welcher der Ast ausgeht, hat einen bedeutenden Einflufs auf die Stärke der
Seitenentladung, wie die folgenden Versuche zeigen. Der Schliefsungsbo-
gen enthielt aufser den unveränderlichen Theilen, die $. 2 beschrieben sind,
einen Messingdraht von 241, Zoll Länge % Lin. Dicke, der die beiden dort
beschriebenen Gestelle verband. Der ganze Schliefsungsbogen, von der
Kugel der Batterie bis zu ihrem Boden gemessen, hatte eine Länge von 138
Zoll. Der Astdraht wurde 54 Zoll lang genommen, so dafs das Mikrometer
bei der ganzen Versuchsreihe an derselben Stelle stehen blieb. Zur Bezeich-
nung der Stelle des Stammes, an welcher der Ast eingefügt war, wird die
Länge des Stückes vom Schliefsungsbogen angegeben, das zwischen jener
Stelle und der Batteriekugel lag. Die erste brauchbare Stelle des Stammes
lag dicht hinter dem Gelenke des Entladungsapparates, 38 Zoll von der
Batteriekugel entfernt; die letzte bei 81 Zoll, vor dem Kupferstreifen, der
den Draht der Maafsflasche berührte.
Entfernung d. Astes Schlagweite Electricitätsmenge (g=bVx)
v. d. Batteriekugel = beobacht. g berechn. Constante d
38 Zoll otLin. 6,5 6,6
0,2 10 9
0,4 13 13
8,7 1755 17,6 21,0
50 0,1 7,0 7,5
0,2 12 10,6
0,4 14 14,9
0,7 20 19,8 23,7
59 0,1 8 7,8
0,2 11 11
0,4 15 15,6
0,7 21 20,6 24,7
61 0,2 11 1133
0,4 15,5 15,9
0,7 22,5 21,2 25,3
1 0,1 11 10,7
0,2 15,5 15,2
0,4 21 21,5
0,7 28 28,5 34
sı 0,1 14 14,3
0,2 21 20,2
0,4 28 28,6 45,2
Phys. Kl. 1849. C
18 R ne ’sus
Eine constante Electricitätsmenge, z.B. 17,6, würde Seitenentladun-
gen mit folgenden Schlagweiten gegeben haben:
Entfernung d. Stelle s so 9 6 n sıZoll
Schlagweite 07 056 051 048 027 0,15 Lin.
Die ersten 3 Stellen lagen, wie die letzten, auf einem continuirlichen
Drahte und waren durch kein Verbindungsstück von einander getrennt. Bei
einem Intervalle von 20 Zollen nimmt die Schlagweite auf dem ersten Drahte
im Verhältnisse 10 zu 7, auf dem zweiten wie 10 zu 3ab. Die Schlagweite
der Seitenentladung nimmt also ab mit zunehmender Länge des Stückes
vom Schliefsungsbogen, das den Ast von dem Innern der Batterie trennt,
aber desto schneller, je mehr man sich von der Batterie entfernt.
$. 13.
Dafs diese auffallende Abnahme der Schlagweite nicht durch eine In-
fluenz der Batteriekugel bedingt werde, erhellt daraus, dafs die mit 61 be-
zeichnete Stelle des Schliefsungsbogens, durch die Luft gemessen, 26 Zoll,
die Stelle 71 24 und die Stelle 81 26 Zoll von der Batteriekugel entfernt
war. Doch wurde noch folgender Versuch angestellt. Statt des Messing-
drathes zwischen den Gestellen wurde ein zweimal im rechten Winkel ge-
bogener Kupferdraht von 118 Zoll Länge 5, Lin. Dicke in den Stammdraht
eingeschaltet, dessen mittlerer Theil, 38 Zoll lang, über 5 Fufs von der
Batteriekugel entfernt war. Dadurch war der ganze Schliefsungsbogen 231
Zoll lang geworden. Das Mikrometer wurde durch einen 7 Zoll langen
Astdraht successiv mit 3 verschiedenen Stellen des Stammes verbunden, von
welchen die beiden letzten auf dem mittleren Theil des Kupferdrahtes lagen.
Entfernung d. Astes Schlagweite Electricitätsmenge (g=bVx)
v. d. Batteriekugel = beobacht. g berechn. Constante 5
61 Zoll 0,2 8 8,2
0,4 11 11,3
0,7 15,5 15 17,9
101 0,1 8 7,9
0,2 11 11,1
0,4 15 15,8
0,7 22 20,9 25,0
136 0,1 At 11,2
0,2 16 16
0,4 23 22,6 35,7
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 19
Die Entladung mit der Elektrieitätsmenge 17,6 würde in der Seiten-
entladung folgende Schlagweiten geben.
Entfernung v. d. Batteriekugel 6ı ı01 136 Zoll
Schlagweite 0,97 0,50 0,24
Auch hier sehen wir die Schlagweiten auf dem der Batterie näheren
Drahtstücke langsamer abnehmen, als auf dem entfernteren; auf dem ersten
im Intervall von 40 Zoll im Verhältnisse 1 zu 0,52, auf dem letzten im In-
tervalle 35 Zoll wie 1 zu 0,48. Aber besonders auffällig sind die absoluten
Werthe der Schlagweiten mit denen des vorigen Paragraphs verglichen, die
hier in gleichen Entfernungen viel gröfser sind. So ist hier, für gleiche
Elektrieitätsmenge berechnet, die Schlagweite noch bei 136 Zoll gröfser als
früher bei 81 Zoll und bei 61 Zoll Entfernung gröfser als früher bei 38.
Dieser grofse Unterschied der Schlagweiten kann nicht von der verschiede-
nen Länge der Astdrähte herrühren, deren Einflufs nach $. 11 nur gering
ist und ebenso wenig von der, durch den veränderten Schliefsungsbogen ver-
minderten Stärke des Entladungsstromes, da deren Einflufs nach dem fol-
genden $. 14 hier unmerklich bleibt. Diese Vergröfserung der Schlagweite
rührt von der veränderten Länge des Schliefsungsbogens her; die Seiten-
entladung ist in bestimmter Entfernung vom Innern der Batterie desto grö-
fser, je länger der ganze Schliefsungsbogen ist.
S. 14.
Einflufs des Stammdrahtes auf die Seitenentladung. Die
Stärke des Entladungsstromes bei constanter Ladung der Batterie hängt be-
kanntlich von Beschaffenheit und Dimensionen des Schliefsungsbogens ab.
Um den Einflufs dieser Stärke auf die Seitenentladung zu finden, die stets
an derselben Stelle des Stammes hervorgebracht wurde, habe ich in den 3
ersten der folgenden Versuchsreihen Länge und Form des Stammes unge-
ändert gelassen, in den zwei letzten geändert. Das Mikrometer war an
einem 7 Zoll langen Aste dicht an dem ersten Gestelle ($. 2), also 61
Zoll von der Batteriekugel entfernt am Stamme angebracht. Als Seiten-
draht diente, wie immer, der 160,6 Zoll lange Kupferdraht. Zwischen bei-
den Gestellen wurden verschiedene Drähte befestigt, in den drei ersten
Reihen straff gespannt, in den beiden letzten spiralförmig gewunden.
C2
20 Brensnß,
Im Stamme Schlagweite Elektricitätsmenge (ga=b Vr)
x beobacht. g berechn. Constante b
Messing rad. 2 Lin. Or TKın 9 9
Länge 24,5 Zoll 0,2 12 12,7
0,4 18 18
0,7 25 23,8 28,4
Messing rad. 7 Lin. 0,1 9 8,8
Länge 24,5 Zoll 0,2 12 12,4
0,% 17 155
0,7 24 23,2 27,7
Neusilber rad. 4 Lin. 0,1 s 77
Länge 21,5 Zoll. 0,2 11 10,9
0,4 15 15,4
0,7 20 20,3 24,3
Messing rad. /, Lin. 0,1 M 7
Länge 4s,3 Zoll 0,2 10 9,9
0,4 14 14
0,7 19 18,6 22,2
Neusilber rad. 4 Lin. 0,1 7 6,7
Länge 32 Zoll 0,2 10 9,5
0,4 12 13,5
0,7 18 1758 21,3
g: 19.
In bestimmter Entfernung vom Innern der Batterie nimmt also die
[e) E
Stärke der Seitenentladung zu, während die Stärke des Entladungsstromes
durch Änderung des Schliefsungsbogens abnimmt, aber in einem aufseror-
dentlich geringen Verhältnisse, wie die folgende Berechnung zeigt. Die
Stärke des Entladungsstromes bei constanter Ladung der Batterie, oder der
1 1
umgekehrte Werth seiner Dauer, hat den Ausdruck 7 —, wo — den
—+-FV
b
Verzögerungswerth des unveränderten Theils des Schliefsungsbogens, Y den
des veränderlichen bezeichnet. Wir wollen 7 für den dicken Messingdraht
ES 1 N
zur Einheit nehmen und = nach Schätzung = 4 setzen. Der Strom der er-
sten Reihe ist dann £
- und die übrigen Ströme werden Auch Vergleichung
der Werthe Y für die einzelnen Drähte gefunden. Ze — ‚ wo l Länge, r
Radius, & Verzögerungskraft des Metalles bedeutet. Die Entladungsströme
haben der Reihe nach die Werthe --, 4,5, 52005 > sısr.: Nimmt man
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. al
den schwächsten Strom zur Einheit und setzt die Schlagweiten der für die
Elektrieitätsmenge 23,8 berechneten Seitenentladungen hinzu, so kommt
folgende Zusammenstellung:
Stärke des Entladungsstromes 837 168 1,35 926 A
Stärke der Seitenentladung 0,70 0,74 1 1,15 1,25 Linie
Die ersten 3 Spalten, bei welchen der Schliefsungsbogen dieselbe
Länge behielt, zeigen, wie gering die Zunahme der Seitenentladung im Ver-
hältnisse zur Abnahme des Entladungsstromes ist. Indem der letztere von
620 bis 1 abnimmt, nimmt die Schlagweite nur im Verhältnisse von 7 zu
10 zu. Die vierte Spalte zeigt den überwiegenden Einflufs der Länge des
Schliefsungsdrahtes auf die Seitenentladung ($.13). Wäre die Stromstärke
92,6 ohne Änderung der Länge der Schliefsung erhalten worden, so hätte
die Schlagweite kaum 0,8 Linien betragen können, statt dafs sie durch Ver-
doppelung der Länge des Stammes auf 1,15 gebracht worden ist. In dem
Beispiele der öten Spalte endlich wirkten Schwäche des Stromes und Länge
des Stammes zusammen, die gröfste Schlagweite herbeizuführen. Es folgt
hieraus, dafs die Seitenentladung an einer bestimmten Stelle des Stammes
zunimmt, wenn das Leitungsvermögen des Stammes zwischen dieser Stelle
und der äufseren Belegung der Batterie verschlechtert wird. Die Zunahme
ist bedeutend, wenn die Verringerung der Leitung durch Verlängerung des
Stammes, äufserst gering aber, wenn sie durch Änderung der Dicke und
5
des Metalles des Schliefsungsdrahtes bewirkt wird.
Il. Entstehung der Seitenentladung.
$. 16.
Nach allen vorhergehenden Versuchen erscheint die Seitenentladung
als eine Influenzwirkung des während der Entladung der Batterie elektrisch
gewordenen Schliefsungsdrahtes, von dem Rückschlage nur der Richtung
nach unterschieden. Nähert man eine positiv elektrische Kugel dem Ende
eines Drahtes, so fliefst während der ganzen Zeit der Annäherung ein Strom
im Drahte in der Richtung von der Kugel ab. Dieser Strom ist gewöhnlich
sehr schwach, nicht seiner Elektricitätsmenge wegen, die sehr grofs sein
kann, sondern der langen Zeit wegen, durch welche seine Bewegung dauert.
98 Rıess
Hebt man die Einwirkung der Kugel plötzlich auf, indem man sie entladet,
so fliefst im Drahte ein starker Strom, der Rückschlag, in der Richtung auf
die Kugel zu. Ein eben so starker Strom, nur in entgegengesetzter Rich-
tung mufs entstehen, wenn die Kugel dem Drahte mit grolser Geschwindig-
keit genähert wird. Dieser Strom, durch den Schliefsungsbogen erzeugt,
bringt die Erscheinung der Seitenentladung hervor. Da der Schliefsungs-
bogen in sehr kurzer Zeit elektrisch und wieder unelektrisch wird, so mufs
einer jeden Seitenentladung ein Rückschlag folgen, wenn dieser nicht ver-
hindert wird. Derselbe hat auf die Gesetze der Seitenentladung aber keinen
Einflufs, da der Rückschlag durch Anlegung des Seitendrahtes an eine
Condensatorplatte verringert oder, wie wir unten sehen werden, in anderer
Weise gänzlich aufgehoben werden kann, ohne dafs die Regelmäfsigkeit der
Seitenentladung gestört würde.
Me
Die Elektrieitätsbewegung im Stammdrahte, die den Hauptstrom bil-
det, hat keinen direkten Antheil an der Bildung des Seitenstromes, wie
schon Biot vermuthete. Es ist dafür in den obigen Versuchen der schla-
gende Beweis geliefert. Der Hauptstrom nämlich ist an jeder Stelle des
Schliefsungsbogens von gleicher Stärke und wird durch Veränderung von
Stoff und Dimensionen der Schliefsung durchweg geändert. Wo dieser
Strom wirkt, finden sich diese beiden Merkmale wieder. So wirkt der Haupt-
strom in die Ferne durch Induktion und man findet den Nebenstrom, den
ein bestimmter Theil des Schliefsungsdrahtes erzeugt, von gleicher Stärke,
an welcher Stelle auch sich jener Theil befinden mag. Man findet ferner
den Nebenstrom verstärkt oder geschwächt, wenn der Hauptstrom verstärkt
oder geschwächt wird. Die Seitenentladung hingegen ist auf das Auffal-
lendste verschieden nach der Stelle des Schliefsungsdrahtes die sie erzeugt,
und ist desto stärker je näher man der inneren Belegung der Batterie kommt
($. 12). Ferner ändert sich die Seitenentladung zwar mit der Stärke des
Hauptstromes, aber in äulserst geringem Verhältnisse und in entgegenge-
setztem Sinne ($. 15). —
$. 18.
Aufser der Elektrieität, die den Hauptstrom bildet, ist noch Elektri-
eität auf dem Schliefsungsbogen in Bewegung, die nämlich, welche die in-
nere Belegung der Batterie mehr hat, als die äufsere. Diese Elektrieität
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 233
erregt die Seitenentladung und den direkten Beweis dafür giebt dieschon den
früheren Beobachtern bekannte Thatsache, dafs die in dem Seitendrahte
zurückgebliebene Elektrieität stets mit der Elektrieität im Innern der Bat-
terie von derselben Art ist. Entladet man eine isolirte Batterie durch einen
isolirten Schliefsungsbogen, so findet man den letztern mit dem Innern der
Batterie gleichnamig elektrisch. Es ist der erwähnte Elektrieitätsüberschufs,
der bei der Entladung nicht ausgeglichen werden konnte und sich nach den
Gesetzen der ruhenden Elektrieität auf der Oberfläche des Schliefsungsbo-
gens angeordnet hat. Die Erscheinungen der Seitenentladung zeigen, dafs
diese oberflächliche Anordnung einen Augenblick nach dem Aufhören des
Entladungsstromes auch auf dem nicht isolirten Schliefsungsbogen statt
findet. Alsdann nämlich mufs durch jeden Querschnitt des Schliefsungsbo-
gens desto weniger von der überschüssigen Elektrieität strömen, je mehr
davon schon zur oberflächlichen Anordnung verwendet ist, je entfernter also
dieser Querschnitt von dem Innern der Batterie liegt. Die Seitenentladung
ist Folge der Influenz des nächsten Stückes des Stammdrahtes auf den Ast-
draht, sie ist desto stärker, je dichter die Elektrieität in diesem Stücke ist.
Ich nehme Influenz, nicht Mittheilung der Elektrieität auf dem Astdrahte
an (was übrigens für die andern Momente der Erklärung gleichgültig ist),
weil wir später sehen werden, dafs die Seitenentladung ungehindert statt
findet, wenn auch der Ast gänzlich vom Stamme getrennt ist. Aufser von
der Dichtigkeit im Stammdrahte hängt die Influenz auf den Ast und damit
die Seitenentladung, wenn auch nur in sehr geringem Grade, von der Zeit
ab, während welcher der Stamm elektrisch bleibt. Darauf deutet die Er-
fahrung, dafs an einer bestimmten Stelle des Stammes die Seitenentladung
etwas gröfser wird, wenn man die Dauer des Entladungsstromes vergröfsert
($. 15). Der grofse Einflufs aber der Verlängerung des Stammes auf die Sei-
tenentladung ($. 13) wird hierdurch nicht erklärt und hängt wahrscheinlich
ab von der eigenthümlichen Anordnung der Elektricität auf dem Stamme,
die ich einer späteren Untersuchung überlasse.
$. 19.
Nach dem Vorhergehenden findet ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen der Seitenentladung und dem Nebenstrome statt, obgleich beide der
Einwirkung von in Bewegung begriffener Elektricität ihr Entstehen verdan-
24 R weiss
ken. Der Nebenstrom entsteht durch gleichzeitige Einwirkung beider Elek-
trieitätsarten (Induktion), die Seitenentladung durch Einwirkung nur Einer
Elektricitätsart (Influenz) (?).
Der Seitenstrom ist vorhanden, wenn der Seitendraht normal auf
dem Stamme steht, der Nebenstrom aber nicht; die Richtung des Seiten-
stromes gegen die des Hauptstromes ist von der Lage des Seitendrahtes ab-
hängig, er fliefst mit ihm in gleicher oder entgegengesetzter Richtung, je nach
der Neigung des Seitendrahtes nach der einen oder andern Seite. Die Rich-
tung des Nebenstromes hingegen folgt stets der des Hauptstromes. Dafs
der Nebenstrom unmittelbar von der Stärke des Hauptstromes abhängt und
proportional mit dieser zu und abnimmt, der Seitenstrom hingegen nur
mittelbar und im entgegengesetzten Sinne, ist schon oben bemerkt.
III. Schlagweite der strömenden Elektricität.
6. 20.
Das Gesetz der Schlagweite einer ruhenden Elektrieität ist seit lange
bekannt und zuletzt durch meine eigenen Versuche an der Torsionswage
in aller Schärfe bestätigt worden (?). Ein Körper, auf dessen Oberfläche
die Elektricität im Gleichgewichte ist, hat an jedem Punkte eine Schlagweite,
die, unter sonst gleichen Umständen, der elektrischen Dichtigkeit dieses Punk-
tes einfach proportional ist. Verändert man die Dichtigkeit des Punktes auf
irgend eine Weise, so wird die Schlagweite in gleichem Verhältnisse ge-
ändert; geschieht jene Anderung durch verschiedene Elektrisirung, so giebt
die Schlagweite das Maafs für die Elektrieitätsmenge, die dem Körper zu-
(') Ich sehe so eben, dafs Hr. Verdet im Dezemberheft der Annales de chimie 1848
zu einem ähnlichen Schlusse gekommen ist. Er sagt nämlich nach Versuchen über den
Nebenstrom p. 401: La cause de ces phenomenes est sans doute une action particuliere,
resultant du mowvement de PelectricitE et essentiellement distinecte de l’influence que l’elec-
tricite libre de la batterie exerce sur les conducteurs voisins. D’ailleurs pour reconnaitre la
difference de ses deux ordres de faits, il suffit de remarquer que la direction de la decharge
induite change en m&me temps que celle de la decharge inductrice et ne depend pas de la
nature de PelectricitE libre de la batterie,
(2) Poggendorff’s Annalen B. 73. 379.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 25
getheilt worden ist. Welches Gesetz die Schlagweite befolgen würde, wenn
der Körper von Elektrieität durchströmt wird und diese Elektrieität, in dem
Augenblicke wo sie an seine Oberfläche tritt, entladen wird, war bisher
gänzlich unbekannt; dasselbe geht aus den Versuchen mit der Seitenentla-
dung klar hervor. Je mehr Elektrieität im Stamme dem Astdraht vorbei-
geführt wird, desto mehr Elektrieität muls in dem Aste durch Influenz er-
regt werden; die Kugel am Ende des Astes müfste daher, wenn die erregte
Elektrieität auf ihrer Oberfläche zur Ruhe käme, eine desto gröfsere Dich-
tigkeit und Schlagweite erhalten. Es bezeichne ın das Verhältnifs der Elek-
trieitätsmengen auf den Belegungen der Batterie und die Batterie sei mit der
Menge g geladen, so führt der Hauptstrom die wirkende Elektricitätsmenge
q (1—m) an den Ast vorüber. Aber nicht von dieser Elektrieitätsmenge,
sondern von ihrer Dichtigkeit = ‚ wo s die geladene Fläche der Batterie
bedeutet, hängt die Schlagweite am Astdrahte ab. Wir haben hier den
anderweitig begründeten Satz (!) zu beachten, dafs die Entladung der Bat-
terie aus einer grolsen Menge Partialentladungen besteht. Wenn die Elek-
trieitätsmengen q und 2q mit gleicher Dichtigkeit durch den Schliefsungs-
bogen gehen, so wird der Bogen in ganz gleicher Weise beziehungsweise
nmal und 2nmal elektrisch. Es wirkt in beiden Fällen gleich dichte Elek-
trieität auf den Astdraht ein. Die Dichtigkeit der influencirenden Elektri-
eität bringt eine proportionale Dichtigkeit der im Astdrahte influeneirten
hervor und dieser Draht wird also von Elektricität durchströmt, deren Dich-
tigkeit proportional der Dichtigkeit der Elektrieität in der Batterie ist. Ich
habe vor 11 Jahren die Vermuthung ausgesprochen, dafs die Geschwindig-
keit einer bewegten Elektricitätsmenge ihrer Dichtigkeit proportional sei (?),
und diese Vermuthung hat seitdem mehr und mehr an Wahrscheinlichkeit
gewonnen. Es wird hiernach der Astdraht von Elektrieität durchströmt,
deren Geschwindigkeit proportional der elektrischen Dichtigkeit in der Bat-
terie ist, und wir können aus den Versuchen über die Schlagweite der Sei-
tenentladung mit grofser Wahrscheinlichkeit folgern: die Schlagweite
einer beweg'en Elektricitätsmenge ist dem Quadrate ihrer Ge-
schwindigkeit proportional.
(') Poggendorff Annalen B. 53. 14.
(°) Poggendorff Annalen B. 40. 341.
Phys. Kl. 1849. D
26 Ririeus'is
$. D4r
Die Unabhängigkeit der Seitenentladung von der entladenen Elektri-
citätsmenge kann nicht in aller Strenge bestehen, da eine doppelte Menge
eine doppelte Entladungszeit hat und nach $. 18 die Seitenentladung mit der
Zeit zunimmt, während welcher der Schliefsungsbogen elektrisch bleibt.
Dieser Einflufs ist aber so gering, dafs wir von ihm gänzlich absehen kön-
nen. Als in den 3 ersten Versuchen des $. 15 die Entladungszeit durch
Veränderung des Schliefsungsbogens von 1 auf 620 gebracht wurde, nahm
die Schlagweite der Seitenentladung im Verhältnisse 7 zu 10 zu. Eine Stei-
gerung der Entladungszeit aber durch die Elektrieitätsmenge wird in den
ausführbaren Versuchen sehr weit unter der angegebenen und die Zunahme
der Schlagweite daher unbemerkt bleiben. — Der gefundene Satz erklärt
viele bisher auffallende Erscheinungen bei der Entladung der Batterie, wozu
ich Folgendes als Beispiel anführe. Die Franklin’sche Batterie besteht aus
einzelnen isolirten, in eine Reihe gestellten Batterieen, von welchen die
äufsere Belegung jeder Batterie mit der innern der nächst folgenden durch
einen Draht verbunden ist; durch Ladung der ersten Batterie werden auch
die übrigen geladen. Als Hr. Dove (!) ein Luftthermometer in den Verbin-
dungsdraht der ersten und zweiten Batterie eingeschaltet hatte, erhielt der-
selbe die Erwärmungen 1, 2, 3, 4, je nachdem 1 bis 4 Batterieen zugleich
entladen wurden. Ein Funkenmikrometer, an die Stelle des Thermometers
gesetzt, zeigte unter denselben Bedingungen der Entladung die Schlagweiten
1,4, 9, 16. Nach der hypothetischen Bedeutung, die ich meiner Wärme-
formel gegeben habe, ist die Erwärmung eines Drahtes in einem constanten
Schliefsungsbogen W = En wo z die Entladungszeit der Elektricitäts-
menge g bedeutet (?). Nach dem Satze des vorigen Paragraphs ist die
Schlagweite einer bewegten Elektrieitätsmenge dem Quadrate ihrer Ge-
schwindigkeit proportional. Es mufs also in den beschriebenen Versuchen
die Schlagweite proportional a oder W° sein, wie der Erfolg in der That
z
»
gezeigt hat.
(*) Poggendorff Annalen B. 72. 409 u. 414.
(2) Poggendorff Annalen 69. 427.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 27
IV. ‚Die Seitenentladung im verzweigten Schlielsungsdrahte
ö und im Nebendrahte.
$. 22.
Bei allen bisher aufgeführten Versuchen ist der Seitendraht isolirt
gewesen; es erfolgte aber weder eine Änderung des Funkens noch der
Schlagweite, als die Isolation aufgehoben, das Ende des Seitendrahtes auf
die Zimmerdiele gelegt oder in eine Spiritusflamme gesteckt war. Als ich
hingegen dieses Ende vollkommen zur Erde ableitete, war die Schlagweite
geändert und der Funke, der früher lichtschwach und linienförmig war,
erschien gleichsam körperlich und mit starkem Glanze. Der Grund hiervon
war sogleich klar. Der Schliefsungsbogen und die äufsere Belegung der
Batterie waren vollkommen (metallisch) zur Erde abgeleitet, wurde nun der
Seitendraht gleichfalls vollkommen abgeleitet, so trat er mit in die Schlie-
fsung ein, und es wurden die Schlagweiten in einem verzweigten Schlie-
fsungsbogen beobachtet. Da diese Schlagweiten neuerdings wieder zur
Sprache gebracht worden sind, ohne Erwähnung der bereits darüber vor-
liegenden Erfahrungen, so mögen diese hier angeführt werden. Priestley (!)
bog einen dünnen messingenen Draht von 1 Yard Länge in die Form des
grofsen Omega (2) und legte die Enden desselben an die Belegungen einer
geladenen Flasche. Als die Öffnung des Omega %, Zoll betrug, ging durch
sie bei der Entladung ein starker Funke über. Bei einem längeren und dün-
neren Eisendrahte konnte so ein Funke von 4 Zoll Länge erhalten werden.
Mit 4 bis 5 Yards eines /, Zoll dicken Eisendrahtes war der Funke 4, Zoll
lang und ebenso mit einem 3%, Yards langen Eisendrahte von / Zoll Dicke.
Als hingegen die Hälfte des letzten Drahtes angewandt wurde, konnte nur
ein Funke von !, Zoll Länge erhalten werden, und als das Omega in der
Mitte des letzten Drahtes gebildet wurde, so dafs die horizontalen Theile
desselben sehr lang blieben, betrug die Länge des Funkens nur % Zoll.
Priestley überzeugte sich durch einen eigenen Versuch, dafs überall nicht
die ganze Ladung der Flasche, sondern nur ein kleiner Theil den Weg durch
die Luft genommen hatte.
(') Geschichte d. Elektricität. 1772. S. 475.
238 RıeEss
$. 23.
Aus diesen Versuchen folgt, dafs wenn ein zwiefacher Weg von einer
Belegung einer Flasche zur andern führt, der Schliefsungsdraht sich also in
Zweige spaltet, die Entladung durch beide Zweige geht, wenn auch der
eine Zweig durch eine Luftschicht unterbrochen ist. Diese Unterbrechung
darf aber eine gewisse Länge nicht überschreiten, die bei constantem Stamme
und derselben Ladung der Flasche mit der Länge des nicht unterbrochenen
Zweiges zunimmt. Diese Erfahrung widerspricht dem Gesetze der Thei-
lung des Entladungsstromes, nach welchem die durch jeden Zweig hin-
durchgehende Elektricitätsmenge dem Verzögerungswerthe dieses Zweiges
umgekehrt proportional ist. Der Verzögerungswerth eines unterbrochenen
Zweiges ist gegen den eines ganz metallischen unermefslich grofs, und es
dürfte daher durch den unterbrochenen Zweig nur eine unendlich kleine
Elektricitätsmenge gehen, wogegen man in der That eine in jeder Weise
merkbare Menge die Luftschicht durchbrechen sieht. Die Seitenentladung
löst diesen Widerspruch. In dem unterbrochenen Zweige sind alle Bedin-
gungen zu einer Seitenentladung gegeben und es ist kein Zweifel gestattet,
dafs dieselbe wirklich eintritt. Mit dem Übergehen eines Funkens ist aber
die Isolation der Luftschicht aufgehoben, ein Schlufs der von Faraday (?)
und mir (?) aus ganz verschiedenartigen Versuchen gezogen worden ist. Das-
selbe findet selbst für den Voltaischen Strom statt, der nach Herschel’s Ver-
such (3) durch eine Luftschicht übergeht, nachdem die Entladung einer ley-
dener Flasche sie durchbrochen hat. In dem uns vorliegenden Falle wird
die erste Partialentladung des Hauptstromes nicht durch den Zwischenraum
im unterbrochenen Zweige gehen, wohl aber daselbst den Funken der Sei-
tenentladung erzeugen und dieser Funke es möglich machen, dafs alle fol-
genden Partialentladungen des Hauptstromes den Zwischenraum durchbre-
chen und den ganzen Zweig ergreifen. Die Versuche bestätigten dies voll-
kommen.
G. 24.
Die beiden isolirten Gestelle des Schliefsungsbogen ($. 2) wurden
durch einen 48 Zoll langen, /, Lin. dicken Messingdraht mit einander ver-
(') Experimental researches alin. 1418.
(2) Poggendorff Annalen 53. 15.
(°) Poggendorff Annalen 49. 122. Sturgeon annals of electr. III, p. 507.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 29
bunden; dicht am ersten Gestelle war der Ast angelegt, 7 Zoll lang % Lin.
dick, der Seitendraht war gleichfalls von Kupfer 160,6 Zoll lang % Lin.
dick. Das Ende des Seitendrahtes blieb in der ersten Versuchsreihe isolirt,
in der zweiten wurde es am Stamme bei dem zweiten Gestelle befestigt, so
dafs nun Ast und Seitendraht zusammen einen unterbrochenen Zweig bil-
deten. Die Batterie bestand aus 3 Flaschen. Es wurden folgende Elektri-
citätsmengen bei verschiedenen Schlagweiten im Zweige beobachtet.
Der Seitendraht isolirt.
Schlagweite x Elektricitätsmenge q (g=bV«x)
beobachtet berechnet Constante 5
0,1 Lin. 8 7
0,4 14 14
0,7 19 18,6 22,2
Ast und Seitendraht als Zweig.
0,1 10 8,6
0,2 11,5 12,1
0,4 dm 71
0,6 21,5 21,0
0,7 23,5 22,6 27,1
Ast 54 Zoll lang, vorige Anordnung.
0,1 12 11,4
0,2 17 16,2
0,4 22 22,9
0,7 29 30,4 36,3
$. 3.
In der ersten Reihe findet die reine Seitenentladung mit sehr geringer
Elektrieitätsmenge statt, während in der zweiten und dritten Reihe ein Theil
des Hauptstromes durch die Unterbrechung im Zweige übergegangen ist.
Gehörten die beobachteten Schlagweiten diesem Hauptstrome an, so muls-
ten sie nothwendig gröfser sein als die der ersten Reihe, da die Dichtigkeit
im Hauptstrom jedenfalls gröfser ist als in dem von ihm durch Influenz er-
regten Seitenstrome. Das sind sie aber nicht, wie die Tabelle zeigt und
sich noch auffallender herausstellt, wenn wir für die constante Elektricitäts-
menge 18,6 die Schlagweiten berechnen.
erste zweite dritte Reihe
Schlagweite 0,7 Lin. 0,47 0,34
30 Purseus#s
(In der dritten Reihe ist der Einflufs des längern Astes berücksichtigt und
die Constante nach $. 44 reducirt). Die Schlagweiten der Zweigströme sind
also nicht nur nicht gröfser als die der Seitenentladung sondern sogar be-
deutend kleiner, und wir.können um so bündiger schliefsen, dafs die Schlag-
weiten nicht unmittelbar von den Zweigströmen herrühren, sondern durch
die Seitenentladung vermittelt sind.
$. 26.
Das quadratische Gesetz der Schlagweite in dem Zweigdrahte findet,
je nach der Beschaffenheit der Zweige, in gröfserer oder geringerer Schärfe
statt und stellt sich keinesweges allgemein so klar dar, wie in $. 24 oder in
allen Versuchen mit der Seitenentladung. Bei mehrfacher Abänderung des
vollen Zweiges fand ich bedeutende Abweichungen von diesem Gesetze,
aber immer nur in der Weise, dafs die Schlagweiten schneller zunahmen,
als nach dem Quadrate der Dichtigkeit erwartet wurde. Annäherungen an
die Proportionalität der Schlagweite mit der einfachen Dichtigkeit sind nicht
vorgekommen. Eine der stärksten Abweichungen von dem Gesetze zeigte sich
in der folgenden Versuchsreihe, wo der volle Zweig aus einem Neusilber-
draht von 32 Zoll Länge 4 Lin. Dicke bestand, während der durch das
Funkenmikrometer unterbrochene aus dem 7 Zoll langen Aste und 160,6
Zoll langen Seitendrahte, wie früher, gebildet wurde.
Schlagweite x Elektrieitätsmenge gq -—
0,1 12 38,0
0,2 15 33,5
0,4 17 26,9
07 19 22,7
Die Gröfse I- ‚ die bei den frühern Versuchen constant war, nimmt
hier mit steigender Dichtigkeit bedeutend ab. Diese Abweichungen von der
Regel der Schlagweiten können nicht auffallen, da ich bei Untersuchung
der Erwärmung in vollen Zweigen, wenn das Leitungsvermögen beider
Zweige sehr verschieden war, nicht geringere Abweichungen von dem Ge-
setze der Erwärmungen nachgewiesen habe (!). Ich habe damals wahr-
1) Poggendorff Annalen 63. 501.
( 55
über die Seitenentladung der electrischen Batterie. 31
scheinlich gemacht, dafs diese Störungen von Nebenströmen herrühren, die
in jedem der beiden Zweige erregt werden und durch den andern Zweig
abfliefsen. Hierdurch findet auch die auffallende Verminderung der Schlag-
weite durch Zurückführung des Seitendrahtes zum Stamme ($. 25) ihre Er-
klärung. Jeder Nebenstrom ist nämlich, wie wir sogleich sehen werden,
von zwei Seitenströmen begleitet, die auf einander zu fliefsen. Wenn dem-
nach im vorigen Paragraphe bei isolirtem Seitendrahte die Kugel des Astes
elektrisch wurde, die des Seitendrahtes unelektrisch blieb, so wurden bei
der Zweigentladung beide Kugeln gleichartig elektrisch. Dafs im letzten
Falle die Schlagweite für dieselbe Ladung der Batterie kleiner sein mufs als
im ersten, ist eine nothwendige Folge bekannter Erfahrungen.
727.
Wenn dem Hauptschliefsungsdrahte der Batterie ein Nebendraht pa-
rallel ausgespannt wird und man die Enden des letztern zum Funkenmikro-
meter führt, so überzeugt man sich leicht, dafs an diesen Enden zwei Sei-
tenströme entstehen, die am Mikrometer mit entgegensetzter Richtung
ankommen. An demjenigen Ende des Nebendrahtes, das dem Innern der
Batterie zunächst liegt, wird der stärkere Seitenstrom erregt, der die Sei-
tenentladung bestimmt, die auf die oben angegebene Weise die Entladung
des Nebenstromes möglich macht. Der beobachtete Funke ist daher dem
Nebenstrome entsprechend und bei grofsen Induktionsspiralen, selbst für
geringe Ladungen der Batterie, voll und glänzend. Das quadratische Gesetz
der Schlagweite läfst sich leicht aufzeigen. Es wurde eine ebene Spirale,
aus 53 Fufs eines % Linie dicken Kupferdrahtes bestehend, mittels zweier
dicken Kupferdrähte zwischen den Gestellen des Schliefsungsbogens ($. 2)
eingeschaltet. Derselben gegenüber stand die gleiche Nebenspirale, deren
Enden durch 4 Linie dicke Kupferdrähte mit dem 4 Fufs davon entfernten
Funkenmikrometer verbunden waren. Es wurden 3 Flaschen gebraucht und
folgende Elektricitätsmengen für geänderte Schlagweiten beobachtet. Die
Beobachtung ist zweimal, bei zunehmender und abnehmender Schlagweite
angestellt.
32 Botıeus
Entfernung der Spiralen 3 Linien.
Schlagweite x Elektricitätsmenge q Mittel berechnet (g=bVx)
Constante b
0,1 Lin. 5,5 5 5,3 5,4
0,2 8 8 8 7,7
0,4 10,5 a 10,8 10,8
0,8 15 15 15 15,3
1,6 21,5 22 21,8 21,6 17,1
Entfernung der Spiralen 9 Linien.
0,1 7 7 7 6,8
0,2 9,5 10 9,8 9,6
0,4 14 13,5 13,8 13,5
0,8 18 18 18 19,1
1,6 26 27 26,5 27,1 21,4
Dafs bei constanter Schlagweite die Dichtigkeit der Ladung
zeigten die folgenden Versuche mit geänderter Flaschenzahl und der Schlag-
constant war,
weite 0,2 Linie.
Flaschenzahl 2 3 4 5 6 7
Elektricitätsmenge 5 8 1 13 4165 49
Dichtigkeit 235% 2:2,6.462:;7. 1109,63 wor Bor
6. 28.
Es ist hier das Gesetz der einfachen Seitenentladung beobachtet wor-
den; dafs die Schlagweiten in der That der Seitenentladung und nicht dem
Nebenstrome zugehören, läfst sich leicht darthun, indem man einen schlecht-
leitenden Draht in die Hauptschliefsung bringt. Die Dauer des Nebenstro-
mes wird durch diese Einschaltung verlängert, die Seitenentladung aber
nach den obigen Versuchen nicht verringert. Gehört die beobachtete Schlag-
weite dem Nebenstrome an, so muls sie verringert werden, weil nun die
Elektrieität mit geringerer Geschwindigkeit an die Kugeln des Mikrometers
tritt. Der Versuch zeigte keine solche Verringerung und gab also den Be-
weis, dafs die Schlagweiten der Seitenentladung zugehören, in deren Folge
der Nebenstrom überzugehen im Stande ist. Da mir diese Versuche von
besonderem Interesse zu sein schienen, so bestimmte ich zum Überflusse
die Verzögerung des Nebenstromes durch die Einschaltung im Hauptdrahte
und theile die Beobachtungen zum Schlusse ausführlich mit.
über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 33
6. 29.
Die Hauptspirale wurde so in dem Schliefsungsbogen angebracht,
dafs vor oder hinter derselben ein Draht eingeschaltet werden konnte; die
Lage dieses Drahtes zeigte keinen Einflufs auf die folgenden Versuche. Die
Nebenspirale wurde zuerst vollkommen geschlossen, mit Einschaltung eines
elektrischen Thermometers, in dessen Kugel sich ein Platindraht, 98,6 Li-
nien lang, rad. 0,018, befand. Je nachdem ein Messing- oder Neusilber-
- draht in die Hauptschliefsung genommen wurde, gab das Thermometer die
folgenden Erwärmungen an:
Einschaltung Messingdraht Neusilberdraht
Flaschenzahl Elektrieitätsmenge Erwärmung Erwärmung
s q beobacht. 9 berechn. beobacht. 9 berechn.
3 12 21,4 21,1 8,5 8,5
14 28,2 28,7 AO 14,5
16 37,8 37,5 15,2 15,1
2
Für den ersten Nebenstrom hat man d — 0,447- für den zweiten —
0, 17T; bei gleicher Ladung der Batterie wurden also bei Einschaltung von
Messing oder Neusilber im Hauptdrahte, Nebenströme erregt, deren Ent-
ladungszeiten sich wie 17 zu 44 verhielten. Die Nebenschliefsung wurde
nun durch das Funkenmikrometer unterbrochen und zu verschiedenen
Schlagweiten die Elektricitätsmengen gesucht. Beiläufig wurde auch die
Erwärmung im Thermometer beobachtet.
Oo
Einschaltung Messingdraht Neusilberdraht
Schlagweite Elektricitätsmenge Erwärmung Elektricitätsmenge Erwärmung
0,2 Lin. 5 4,8
0,4 7 9 9 5,8
0,8 11 20,1 11 7.2
1,6 13,5 28 14 12,5
Man sieht hier bei denselben Schlagweiten bewegter Elektricitätsmen-
gen sehr verschiedene Erwärmungen, woraus folgt, dafs die Schlagweiten
nicht dem Strome zugehören, der die Erwärmung hervorbringt.
$. 30.
Es ist beiläufig auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der
zwischen den Erwärmungen im Nebenstrom bei voller und unterbrochener
Schliefsung stattfindet. Die letzteren zeigen nicht die strenge Gesetzmäfsig-
keit der ersten. Dies kann bei dem zusammengeseizten Mechanismus der
Phys. Kl. 1849. E
34 Rırss über die Seiteneniladung der electrischen Batterie.
Entladung des Nebenstromes durch die Unterbrechung hindurch nicht auf-
fallen, und wirklich zeigten die Kugeln des Mikrometers durch unregelmäfsig
zerstreute Flecke, dafs in den verschiedenen Versuchen die Funken nicht
an derselben Stelle der Kugeln übergegangen waren. So giebt auch eine
Wiederholung eines Versuches Unterschiede der Erwärmungen, wie sie bei
voller Schliefsung niemals vorkommen. Aber fast durchgängig wurden die
Erwärmungen bei der Unterbrechung im Nebendrahte gröfser gefunden, als
ohne dieselbe. Dies ist besonders auffallend bei den folgenden Versuchen
‚mit verschiedener Flaschenzahl und der constanten Schlagweite 0,4 Linie.
Im Hauptschliefsungsdrahte befand sich der oben angewandte Messingdraht.
[o)
ds
Flaschenzahl Elektricitätsmenge Erwärmung im Nebenstrom wu
s q 9
2 6 9,2 0,51
3 9 14 0,52
4 12 17,2 0,48
5 15 20,3 0,45
6 17 28,7 0,60
7 19 26,7 0,52
Wir finden für 2 durchgängig gröfsere Zahlen als 0,44, welcher
Werth oben für den geschlossenen Nebenstrom gefunden worden ist. In
meiner ersten Untersuchung über den Nebenstrom(!) ist in drei Versuchen,
wo eine Unterbrechung im Nebendrahte von 0,1 Linie angebracht war, die
tief unter der Schlagweite lag, eine Verminderung der Erwärmung durch
die Unterbrechung gefunden worden. Dieser entgegengesetzte Erfolg ist
ganz den Versuchen entsprechend, die ich über die Erwärmung im Haupt-
drahte bei Unterbrechungen verschiedener Längen angestellt habe(?), und
findet in der dort gegebenen Betrachtung eine genügende Erklärung.
(') Poggendorff Annal. B. 47. 67.
(°) Poggendorff Annal. B. 43. 78.
—IKau——
Über
die Larven und die Metamorphose der
Holothurien und Asterien.
Von
H"”- MÜLLER.
mmnnanan ara
[Gelesen in der K. Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 15. November
1849. (') und 18. April 1850.]
I. Über die Larven der Holothurien.
D. jüngsten Holothurien, die man bis jetzt gesehen hat, waren in ihrer
Gestalt und in ihrem Bau mit den erwachsenen übereinstimmend, so dafs
man sie eben hieran als Holothurien hat erkennen können. Dalyell sagt,
die jungen Holothurien gleichen einer weilsen Made, wenn sie die Gröfse
eines Gerstenkorns erreicht haben (?). Der embrione dell’o. tubulosa
osservato in settembre su l’ulva lattuga, Delle Chiaje, animali
senza vertebre, Taf. 116. Fig. 16 — 18 ist nichts weniger als ein Embryon.
Der kleine Wurm der nach den Abbildungen 24 — 34” Länge hat, besitzt
schon alle Eigenschaften einer Holothurie. Man konnte daran den kalki-
gen Ring um den Mund, die Tentakeln, Darm und baumförmige Lunge,
die weilse Haut mit braunen Flecken, die rauhen mit kalkigen Spicula ver-
sehenen Hautpapillen unterscheiden, worauf sogar die Bestimmung der Spe-
cies gegründet werden konnte. Dafs die Holothurien, ehe sie ihre definitive
Gestalt erreichen, grofsen Metamorphosen unterworfen seien, war zu er-
() Ein Auszug dieser Abhandlung befindet sich im Bericht über die Verhandlungen
der K. Pr. Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahre 1849. November. pag.
301. und im Archiv für Anat. u. Physiol. 1849. pag. 364., der Nachtrag im Bericht der
Akademie 1850. April.
(*) Report on the Brit. Assoc. 1840. Froriep’s Not. 1840. N. 331.
E2
36 Müırer über die Larven und die Metamorphose
warten nach dem, was über die Metamorphose der Asteriden und Echiniden
bekannt geworden. Ein glücklicher Zufall hat mich auf die Larven der
Holothurien geführt.
Sie haben in ihrem ersten Stadium mit einer Holothurie nicht die ent-
fernteste Ähnlichkeit. Ich kannte sie schon seit einiger Zeit, ehe ich wufste,
dafs es Holothurienlarven sind, und meine Kenntnifs reichte nur so weit,
dafs es Echinodermenlarven waren. Ein nicht minder glücklicher Zufall
hat mich jetzt auf die Metamorphose derselben bis zu Gestalten geführt, in
welchen die Holothurien nicht mehr zu verkennen sind.
Die Objecte, von denen ich jetzt handeln werde, sind nur 4 so grofs
im Durchmesser, als der sogenannte Embryon der Holothuria tubulosa von
Delle Chiaje und dreimal so grofs, als der Dotter eines Eies der Holo-
thuria tubulosa (im September). Es sind dem hohen Meer angehörende,
durch Wimpern sich bewegende Formen.
In meiner zweiten Abhandlung über die Metamorphose der Echino-
dermen (!) beschrieb ich unter den Zusätzen von 1849 eine neue Gattung
von Echinodermenlarven, die ich Auricularia nannte, nach Beobachtungen
die im Februar und März zu Marseille angestellt sind. Die Auricularien
gleichen, oberflächlich betrachtet, einem Wappenschild mit Roccocoverzie-
rungen des Randes. Man unterscheidet an ihnen die Bauch- und die Rü-
ckenfläche und die concav-ausgefurchten Seitenflächen. Da wo die Rü-
cken und Bauchflächen den Seiten begegnen, sind die Ränder in einen
welligen Saum ausgezogen, der sich in einige Zipfel verlängert. Die
Seiten sind also von zwei Säumen begrenzt, einem dorsalen und ven-
tralen Saum. Die Länge des Körpers übertrifft die Breite fast um
das Doppelte, in seinem breitern Theile ist er doppelt so breit als
dick. Gegen das eine Ende bilden die Rücken- uud Bauchflächen und die
ausgehöhlten Seitenflächen eine vierseitige Pyramide, deren Kanten die
saumartige Verlängerung der Ränder theilen. An dem entgegengesetzten
breitern stumpfen Ende geht die Rückseite gebogen in die Bauchseite über,
so zwar, dafs auch der dorsale und ventrale Hautsaum in einander umbiegen
und bei dieser Umbiegung rechts und links einen ohrartigen Zipfel bilden.
(') Über die Larven und die Metamorphose der Echinodermen. Zweite Abhandlung.
Berlin 1849. p. 26. Abhandlungen der K. Akademie der Wissenschaften zu Berlin a. d.J.
1848. Berlin 1850.
der Holothurien und Asterien. 37
Die Rückseite ist ohne Einschnitt. Die Bauchseite dagegen besitzt eine
Querfurche nahe der Mitte der Länge des Körpers, nämlich zwischen dem
kürzern pyramidalen und dem längern breiten Theil des Körpers, in der
Querfurche liegt der Mund. Vom dorsalen Randsaum ist ein Lappen ge-
wöhnlich gegen die Bauchseite und gegen die Querfurche umgebogen. In
dem pyramidalen Theil des Körpers liegen keine Eingeweide. Vom Munde
beginnt der fleischige Schlund, dieser führt in den Magen, daran schliefst
sich der Darm, welcher in der Mitte des Körpers das stumpfe Ende erreicht
und gegen die Bauchseite sich biegend, kurz vor dem stumpfen Ende in den
After sich endigt. Zur Seite des Magens liegt jederseits ein wurstförmiger
Körper, der auch in den Larven der Ophiuren beobachtet wurde; er ist
ohne alle Verbindung mit dem Magen.
Die Wimperschnur bekleidet den Rand der beschriebenen Säume,
am dorsalen Seitenrande ist sie ununterbrochen, an den ohrartigen Zipfeln
des breitern Körperendes geht sie auf den ventralen Saum ihrer Seite über
und geht dann an dem Rande der Querfurche von der rechten zur linken
über. Am pyramidalen Theil des Körpers bekleidet die dorsale Wimper-
schnur den dorsalen Seitenrand der Pyramide oder dessen häutige Ausbrei-
tung und biegt an der Spitze der Pyramide auf den ventralen Seitenrand
derselben um, um dann an der Querfurche angelangt, den zweiten Rand
derselben zu besetzen und auf die andere Seite überzusetzen. Demnach
biegt die Wimperschnur sowohl am oberen als unteren Ende von der Rü-
ckenseite zur Bauchseite um. Die Umbiegungen am breitern oder stumpfen
Ende des Körpers finden an den ohrartigen Zipfeln statt, die Umbiegungs-
schlingen sind dagegen am pyramidalen Ende einander genähert und berüh-
ren sich an der Spitze der Pyramide. (Über die Larven und die Metamor-
phose der Echinodermen. II. Abhand. Berlin 1849. Taf. IV. V. Fig. 1—3.
Die Auricularien ziehen kreisend im Wasser hin, die Pyramide voran.
Die Bauch - oder Rückenseite ist meist nach oben gekehrt. Bald sind ihre
Bahnen Kreise, bald, indem der ideale Mittelpunkt des Kreises selbst vor-
rückt, sind es ebene Spiralen. Dieses Kreisen wird eintreten, wenn die
Wimpern auf der rechten oder linken Seite des Körpers stärker wirken.
Zuweilen erfolgt bei dem Kreisen auch die Umdrehung des Körpers um
seine Längsachse, und dies geschicht ganz gewöhnlich, wenn die Längsachse
des Thieres schief steht oder aufgerichtet ist. Hiebei beschreibt der Kör-
38 Mürrer über die Larven und die Metamorphose
per selbst wieder seine Bahnen. Am Körper des Thiers erfolgt aufser der
Wimperthätigkeit der Wimperschnüre und des Darmkanals und aufser der
Zusammenziehung des Schlundes nie irgend eine Bewegung.
Im vorigen Winter beobachtete ich zu Marseille zwei Arten von Auri-
cularia, ich fand sie wieder, als ich in diesem Sommer (1849) in Nizza die
Beobachtungen fortsetzte und lernte ihr endliches Ziel kennen. Die Auri-
cularien sind die Larven der Holothurien. Die Metamorphose dieser Ab-
theilung von Echinodermen hat das Ausgezeichnete, dafs sie in ganz ande-
rer Weise als bei den Ophiuren, Seeigeln und Bipinnarien erfolgt. Nicht
eine in der Larve als Minimum angelegte Knospe entwickelt sich zur Gestalt
des Echinoderms wie dort, sondern die ganze Larve wird in das Echino-
derm umgewandelt, so dafs in diesem Fall die Metamorphose alle Ähn-
lichkeit mit dem Generationswechsel verliert, welche sie bei den Ophiuren,
Seeigeln und gewissen Asterien (Bipinnaria) hat.
Die Metamorphose der Holothurien ist übrigens verwickelter als bei
irgend einem andern Echinoderm. Sie durchgehen vom Ei bis zur vollen-
deten Form mindestens drei Stufen der Verwandlung. In der ersten sind
sie Auricularien und also rein bilateral mit lateraler Wimperschnur; im zwei-
ten Stadium sind sie wurmförmig-radial und besitzen kreisförmige Wim-
perschnüre, wie die Larven der Anneliden. Jetzt bewegen sie sich noch
allein durch die Wimperbewegung, denn ihre spätern locomotiven Organe
sind noch nicht hervorgebrochen. Nachdem dies geschehen ist, schwimmen
sie durch die Wimperbewegung und kriechen zugleich mit den Mundtenta-
keln. In diesem Zustande stimmt ihr innerer Bau schon fast ganz mit den
erwachsenen Holothurien, aber sie haben noch keine Füfse und sie bewegen
sich noch schwimmend und kreisend durch die Wimperbewegung. Im drit-
ten Stadium erst, nachdem sie die Wimperkränze verloren, sind sie allein
kriechend.
1. Auricularia und Holothuria mit Kalkrädchen.
Die eine Auricularia von Marseille hat das ausgezeichnete, dafs sich
in ihren Ohrzipfeln kleine Kalkrädchen und auf der einen oder andern Seite
eben daselbst auch eine rundliche Kalkdruse entwickeln. Zweite Abhand-
lung. a. a. O. Taf. IV. Zuerst soll von der Verwandlung dieser Art ge-
handelt werden. Während des Aufenthaltes in Nizza vom 19. August bis
der Holothurien und Asterien. 39
Ende September kam diese Auricularia sehr häufig vor. Die mehrsten In-
dividuen, bei denen schon diejenige erste Andeutung zur Verwandlung er-
kennbar war, die ich in meiner vorigen Abhandlung bezeichnete, hatten
3,” Länge, nur selten erreichten sie eine Gröfse bis 45”. Dem, was über
ihren innern Bau schon früher bemerkt worden, konnte ich nur weniges hin-
zufügen. In der glasartig durchsichtigen Substanz ihres Körpers bemerkte
man zerstreute, theils rundliche, theils unregelmäfsige Kernen ähnlich sehende
durchsichtige Körperchen. Taf. I. Fig. 2. 8. der gegenwärtigen Abhand-
lung. Der Magen besteht aus einer äufsern durchsichtigen und einer innern
zelligen Schicht. Die Zellen des Magens sind gröfser als die Zellen, aus
deren Anhäufung der Wimperwulst des Körpers zusammengesetzt ist. Taf.
I. Fig. 2. Letztere sind nur + — 4 so grofs.
Die Kalkrädchen in den Ohrzipfeln haben 12 — 16 Speichen. Die
Speichen sind leicht gegen den Rand des Rades gebogen, der kreisförmige
Kalkreifen, der die Speichen aufnimmt, hat an seinem innern Rande Dop-
pelconturen und man unterscheidet an dem Reifen einen äufsern Theil auf
welchem die Speichen sich inseriren und einen innern Saum, der dabei
nicht betheiligt ist. Die Bildung des Rädchens erfolgt so, dafs um den
mittlern kalkigen Kern erst die Speichen sich ansetzen, und dann erst der
peripherische Reifen entsteht. In der vorigen Abhandlung habe ich ange-
geben, wie dieser Reifen aus vielen kleinern Stückchen zusammengesetzt
wird; wenn die Rädchen vollendet sind, verschwindet diese Gliederung
wieder und der Reifen ist ganz und ungetheilt. Taf. I. Fig. 7*. Die Zahl
der Rädchen in einem Ohrzipfel ist 1 —4, die in einem der Öhrzipfel vor-
handene Kalkdruse ist meist nur einmal, zuweilen aber zu 2 oder 3 vor-
handen.
In der vorigen Abhandlung habe ich des in den reifern Larven auf-
tretenden Sterns von Blinddärmehen gedacht, der die erste Andeutung auf
Verwandlung der Auricularia giebt. Er liegt an der Rückseite über dem
Anfang des Magens oder bei Magen und Schlund, und immer etwas nach
der einen Seite hin. Taf. I. Fig. 7.8. Zwischen den 5 Hauptblättern oder
Hauptblinddärmchen kommen noch Spuren von 5 kleineren vor, die mit
jenen alterniren und die ganze Rosette hat das Ansehen einer um ein rundes
mittleres Feld der Rosette hin und her geschlagenen Membran. So viel
war mir bei der ersten Mittheilung bekannt, ich vermuthete daraus, dafs diese
40 Müuter über die Larven und die Metamorphose
Rosette die erste Spur des künftigen Echinoderms sei. Dies war nicht rich-
tig: ich weils jetzt aus direeter Beobachtung, dafs der Stern von Blind-
därmchen nur die Anlage der Mundtentakeln des Echinoderms (1) ist, wel-
che jetzt die Gestalt einer sternförmigen in 5 Zipfel auslaufenden Mütze
hat. Auch kann ich dem früher mitgetheilten hinzufügen, dafs die Ro-
sette von Blinddärmchen jedesmal durch einen von ihrer Mitte abgehenden,
wie eine Röhre aussehenden Strang an die Rückseite der Larve befestigt ist.
So wie die Rosette nicht in der Mitte, sondern etwas seitwärts liegt, so ist
auch die Insertion des Stranges in die Haut des Rückens nicht in der Mittel-
linie des Rückens, sondern beträchtlich seitwärts am Rücken.
Der röhrige Strang scheint mit der Entwickelung der Blinddärmchen
im innigsten Zusammenhange zu stehen. Er ist schon vorhanden, wenn
statt der Rosette von Blinddärmchen erst ein einfaches Bläschen da ist.
Taf. I. Fig. 5. 6. Dies Bläschen ist an den röhrigen Strang befestigt; wo
es an der Röhre hängt, ist es offen und zeigt einen freien Rand, aber seine
aus Zellen oder Körnern bestehenden Wände sind keine unmittelbare Fort-
setzung der Röhre, sondern nur daran befestigt. Taf. I. Fig. 6*. Wenn
sich der Schlund zusammenzieht, wird der Magen passiv mitbewegt, nicht
aber die Knospe; vielmehr entsteht zwischen der Knospe von Blinddärm-
chen und dem Schlund ein Zwischenraum: so zeigt sich, dafs sie weder
mit dem Schlund noch mit dem Magen zusammenhängt. Die Substanz der
Rosette von Blinddärmchen erscheint bei starken Vergrölserungen aus kör-
nerartigen Zellen zusammengesetzt. Einmal wurden auch einige noch ganz
geringe Spuren von Kalkabsatz unter dem Kranz von Blinddärmchen wahr-
genommen.
Wo die den Mund der Larve enthaltende Querfurche in die Seiten-
furchen des Körpers übergeht, befindet sich eine der Länge nach verlaufende
erhabene Linie oder Leiste, welche also das Feld der Querfurche, wo der
Mund liegt, bestimmter abgrenzt. Taf. I. Fig. 1. 8.
Zuweilen gelingt es, die Auricularia bei aufgerichteter Achse sich
drehend zu sehen, dann ist der pyramidale Theil oben, der breitere unten,
letzterer wird schon durch das Gewicht der Kalktheile in den Ohrzipfeln
nach unten gehalten. Auch wenn die Larve horizontal kreisend hinzieht,
(‘) Hierdurch wird die Deutung der analogen Rosette von Brachiolaria zweifelhaft.
der Holothurien nnd Asterien. 41
ist leicht das Ende wo die Ohrzipfel, tiefer gestellt, oder die eine Seite
dieses Endes tiefer, wenn der eine Ohrzipfel mehr Kalktheile enthält als
der andere.
Zur selbigen Zeit mit dieser Auricularia kamen bei Nizza und im Golf
am
von Villa franca wurmförmige Thierchen von #” Länge vor, welche ich
bald für junge Holothurien und eben so gewils für eine Verwandlung der
Auricularia mit Kalkrädchen erkannte. Taf. III. Fig. 2-6. Sie gehören
wie die Auricularien der hohen See an. In der Gestalt des Körpers hatten
diese Thierchen nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Auricularia. "Das
Thier glich einem mit Reifen in regelmäfsigen Abständen umgebenen Fafse,
dessen Länge sich zur Breite wie 3:2 verhielt. Die Reifen sind schwach
erhabene, mit Wimpern besetzte zirkelförmige Leisten oder Bänder; ihrer
sind 5. Der erste liegt am vordern Rande des Schlauchs, oder am Eingang
des Fasses, die andern folgen in regelmäfsigen Abständen, der letzte liegt
vor dem hintern Ende, welches abgerundet ist. Die Wimpern sind schief
nach auswärts rückwärts gerichtet, durch sie bewegt sich das Thierchen
vorwärts, indem es sich zugleich um seine Achse dreht. Der Körper ist
vollkommen durchsichtig, die Wimperreifen sind gelb pigmentirt. Was das
Innere betrifft, so ist der Raum der kleinen Tonne in eine vordere kleinere
und hintere gröfsere Abtheilung zu unterscheiden. Die vordere Abtheilung
nimmt das erste Drittel des ganzen ein und bildet einen Vorhof vor Mund
und Bauchhöhle; er ist von 5 dicken und langen konischen Tentakeln aus-
gefüllt, welche, im Kreise stehend, bald in die Aushöhlung des Fäfschens
zurückgezogen sind, ohne den Rand des freien Einganges zu überragen,
bald auch weit aus diesem Eingang hervorragen und dann sich tastend und
haftend umherbewegen. Im letzten Fall ist das hintere abgerundete Ende
des Fälschens aufwärts gewandt. Man erkennt dann, dafs der Körper nicht
völlig walzenförmig, sondern leicht pentagonal mit abgerundeten Kanten
ist. Bei dieser Stellung sieht man auch die Bewegung der Wimpern an den
fünf Wimperorganen am schönsten, sie erinnert an die Radbewegung der
Wimperorgane der Larven der Anneliden.
Hinter den Basen der 5 Tentakeln, zwischen denen alternirend die
ersten Andeutungen von noch anderen 5 Tentakeln sichtbar werden, ist der
Eingang in den Darm; dieser beginnt weit und wird nach hinten allmählig
enger; in seinem Verlauf biegt er sich um und nachdem er eine Schlinge
Phys. Kl. 1849. F
42 Mürren über die Larven und die Metamorphose
gebildet geht er wieder nach hinten, wo er sich nahe dem hintern Ende,
oder vielmehr bei dem hintersten Wimperreifen, also nicht in der hintern
Mitte öffnet, die vielmehr von später zu beschreibenden Kalkgebilden ein-
genommen ist. Ob diese Öffnung hinter dem hintersten Wimperreifen oder
kurz vor demselben liegt, ist mir nicht ganz sicher. In mehreren Fällen
wollte es scheinen, als wenn sie noch vor diesem Ringe gelegen wäre. Hin-
ter den Tentakeln, am Anfang des Nahrungkanals erscheint in allen Indivi-
duen ein Kalkring, gebildet aus 10 aneinander stofsenden Stückchen; jedes
Stück ist eine quere Leiste, welche sich an den Enden gabelig theilt, wo-
rauf die Gabeläste mit einem Knauf von kurzen Zweigen endigen. Aus-
wendig an diesem Kalkringe hängen in regelmäfsen Abständen ringsum 10
rundliche Bläschen, an denen man 2 Membranen unterscheidet. Im Innern
dieser Blasen bewegen sich einige (4— 8) Doppelkörner zitternd, wahrschein-
lich in Folge von Wimperbewegung. Es sind Körperchen, die aus 2 mit
einander verbundenen Körnern bestehen. Hinter dem Kalkring ist der An-
fang des Nahrungsschlauches von einem Cirkelkanal umgeben; von diesem
gehen in regelmäfsigen Abständen 5 Kanäle nach den fünf Tentakeln; an
denselben Ringkanal schliefst sich in der entgegengesetzten Richtung ein
sackförmiger Anhang. Im Innern der Bauchhöhle erkennt man noch 5 sich
von Zeit zu Zeit bewegende Längsmuskeln in regelmäfsigen Abständen an
den Körperwänden. Endlich ist noch in allen Exemplaren ein besonderer
Kanal sichtbar, der vorn in der Nähe des Kalkringes beginnt und sich an
die Körperwandlung anlegend weit nach rückwärts verfolgt werden kann und
welcher sich dadurch auszeichnet, dafs auf seinem vordern Theile nicht weit
hinter dem Kalkringe eine bogenförmige, in der Mitte angeschwollene Kalk-
leiste aufliegt, was sich in allen Individuen wiederholt. Der Ursprung die-
ses Kanals ist mir nicht ganz klar. Es hatte mehrmals das Ansehen, als
wenn dieser Kanal mit dem Ringkanal zusammenhänge, bei der später zu
beschreibenden zweiten Species von kleinen Holothurien habe ich ihn aber
über den Ringkanal hinweg verfolgen können.
Was die Strucktur der Haut betrifft, so besteht dieselbe aus kleinen
zellenartigen Körnern; auch die Wände der Tentakeln scheinen aus Zellen
zu bestehen; man erkennt länglich-runde Abtheilungen in diesen Wänden,
welche senkrecht gegen die Flächen des Tentakels gerichtet sind, die ganze
der Holothurien und Asterien. 43
Masse der Tentakelwände ausmachen, aber nicht so grofs sind, dafs jede
Abtheilung durch die ganze Dicke der Tentakelwände durchginge.
Jeder mit der Anatomie der Holothurien Bekannte wird sogleich die
genaue Übereinstimmung unserer Thierchen mit den Holothurien erkennen.
Der Kalkring der letztern hat dieselbe Zusammensetzung; an ihm befinden
sich zehn Bläschen oder zwanzig Blinddärme (Holothuria tubulosa), die mit
dem Wassergefälssystem der Tentakeln zusammenhängen. Der Ringkanal
um den Schlund, die von ihm abgehenden 5 Kanäle zu den Tentakeln und
die Polische Ampulle verhalten sich in beiden Fällen gleich. Die fünf Läns-
muskeln des Körpers sind völlig gleich, auch scheint der von der bogenför-
migen Kalkleiste umfafste Kanal auf den Ausführungsgang der Genitalien
bezogen werden zu können. Wir haben es also ganz gewifs mit einer jun-
gen Holothuria zu thun, die jetzt noch erst 5 Tentakeln hat, aber schon
die Anlagen von noch 5 andern Tentakeln besitzt.
Unsere junge Holothuria ist ohne Fülschen, ihre Bewegungsorgane
sind nur die Mundtentakeln und noch vielmehr die Wimperreifen; und dies
steht schon jetzt fest, dafs die Holothurien einen Larvenzustand besitzen,
in dem sie statt der locomotiven Füfse mit Wimperreifen gleich den Larven
der Anneliden umgeben sind.
Ich komme jetzt zu dem andern Punkt, nämlich zu beweisen, dafs
die Auricularia nichts anders als unsere junge Holothuria in einer ganz an-
dern Larvenform ist, und dafs die Form der Auricularia sich in die Form
der jungen Holothuria mit Wimperreifen verwandelt. Beide Formen sind
einander so völlig unähnlich, dafs niemand nur auf den Gedanken kommen
kann, ihre Gestalt mit einander zu vergleichen, sobald er sie neben einan-
der sieht. Und dennoch besitzt die beschriebene junge Holothuria etwas,
das sogleich auf die Auricularia mit Kalkrädchen zurückführt, nämlich die
mikroskopischen Kalkgebilde am hintern abgerundeten Ende der jungen
Holothuria; dies sind nämlich die Kalkrädehen der Auricularia mit 12 — 16
Speichen, und auch die in einem der Öhrzipfel neben den Kalkrädchen
vorkommende rundliche Kalkdruse. Die Kalkrädchen der jungen Holo-
thuria und diejenigen der Auricularia haben genau dieselbe Gestalt und
Gröfse, 0,0170, und sie sind platterdings nicht von einander zu unterschei-
den, ebenso gleicht sich die Kalkdruse der Holothuria und der Auricularia.
Die Kalkgebilde unterscheiden sich bei beiden Thieren nur hinsichtlich ihrer
F2
44 Mürren über die Larven und die Metamorphose
Lage. Bei der Auricularia lagen sie zwar in dem hintern Theil des Körpers,
der den After enthält, aber ganz seitwärts, nämlich in den Obrzipfeln; in
der jungen Holothurie, die nichts von diesen Zipfeln aufzuweisen hat, lie-
gen sie in dem hintern Theil des Körpers, der den After enthält, über dem-
selben bei der Mitte, und zwar die Kalkdruse regelmäfsig in der Mitte, die
Kalkrädchen herum gruppirt, in veränderlicher Zahl. Was die Zahl der
Rädchen betrifft, so zeigen die jungen Holothurien gleiche Verschiedenhei-
ten wie die Auricularien; ich sah junge Holothurien mit 1 — 6 Kalkrädchen,
und es ereignet sich selbst, obwohl sehr selten, dafs nur erst die Kalkdruse,
aber noch nicht die Kalkrädchen, vorhanden ist, ein Fall, der mir auch
schon bei den Auricularien vorgekommen ist. Die Kalkdruse ist meist ein-
fach, seltener sieht man mehrere, z. B. 3 rundliche Kalkdrusen bei nur
einem Rädchen. Selten fehlt sie ganz; ich sah den Fall, dafs die Mitte des
Hinterendes nur von einem einzigen Rädchen, ohne Kalkdruse, eingenom-
men war, dies ist eine Parallele zu der eben so seltenen Erscheinung bei
Auricularien, dafs einer der Ohrzipfel ein oder mehrere Rädchen enthält,
dafs aber in keinem der beiden Ohrzipfel eine Kalkdruse entwickelt ist.
Indem nun für mich der innere Zusammenhang der Auricularia mit
Kalkrädchen und der Holothuria mit Kalkrädchen unabweisslich gegeben
war, stellte ich mir die Aufgabe, durch direete Beobachtung den Übergang
der einen in die andere Form zu ermitteln.
8
reifen aus einer Zeit der Entwickelung aufzufinden, wo die Tentakeln noch
Zuerst gelang es, junge Holothurien in Fäfschenform mit Wimper-
nicht frei waren, vielmehr der ihnen bestimmte Vorhof noch kuppelförmig
geschlossen war oder abgerundet anfing, in der Mitte eine kleine Offnung
zu bekommen, die vom ersten Wimperreifen umgeben war. Taf. II. Fig. 3.
4. Taf. III. Fig. I. Diese den Östruslarven ähnlichen, an beiden Enden ab-
gerundeten, = langen Gestalten, deren Länge sich zur Breite wie 7:4 ver-
hielt, waren gleichsam die Puppen. Zuweilen waren diese Formen ein we-
nig, aber nur ganz schwach gekrümmt. Die Thierchen bewegten sich lebhaft,
aber nur durch die Wimperbewegung ihrer Reifen; sie schwimmen behende,
indem sie sich beständig um die Achse drehen. Die Tentakeln bilden jetzt
einen in der Höhle vor dem Kalkring liegenden Stern von Blinddärmchen.
An dem gewölbten Ende, wo sich die Öffnung bildet, erkennt man rechts
und links noch die Umbiegungsschlinge eines Wulstes, welcher auf die Um-
der Holothurien und Asterien. 45
biegungsschlingen des frühern Wimperwulstes der bilateralen Auricularia zu
deuten ist. Werden diese Larven mit einem Glasplättchen bedeckt, so än-
dert sich die Gestalt und sie erinnert wieder einigermaafsen an die allgemeine
Form der Auricularia. Taf. II. Fig.2. Das obere Ende, vorher abgerun-
det, erscheint nun wieder mehr oder weniger ähnlich dem Ende der frühern
Pyramide. Diese Änderung der Gestalt durch den Druck scheint davon
abzuhängen, dafs die bilaterale Wimperschnur und die frühere Körperan-
lage versteckt noch vorhanden sind. Beim Druck mit dem Glasplättchen
erscheint die frühere bilaterale Wimperschnur an den Seitenrändern. Ihre
grolsen Biegungen sind eingezogen, und ihr Verlauf nur wellig. Man sieht
jetzt deutlicher die Endumbiegungsschlingen rechts und links am vordern
Ende. Die Ohrzipfel sind ganz eingezogen, aber die Umbiegung der Wim-
perschnur ist noch zu erkennen. Nahe dabei liegen in dem Hinterende des
Thiers die Kalkrädchen, näher der Mitte die Kalkdruse, zuweilen aber auch
noch etwas zur Seite. Man mufs sich den Lauf der frühern bilateralen
Wimperschnur an der Puppe mit 5 Wimperreifen so denken, dafs die Bie-
gungen der bilateralen Schnur, welche früher vom Körper abstanden, jetzt
auf der Oberfläche nur Wellen bilden. Die neuen Wimperreifen laufen
gerade über die Wellengipfel herüber. In einer dieser Larven, welche,
obgleich schon mit den 5 Wimperreifen versehen, doch noch von dem Zu-
stand der Auricularia weniger weit entfernt war, als andere Individuen,
erschien das Vestibulum, worin die Tentakeln liegen, als ein besonderer
blasenartig geschlossener Raum, in welchem der von den Tentakeln gebil-
dete Stern gelegen war. Taf. II. Fig. 2. Dieser Raum erreichte nicht den
Gipfel der Pyramide der frühern Auricularia.. An der Basis der Tentakel-
anlagen waren die ersten Andeutungen des Kalkringes sichtbar. Vom Mund
und Schlund der bilateralen Larve war nichts mehr zu sehen, dagegen war
nun von der
einge
das Ende des Magens, in welches früher der Schlund überging,
Tentakelanlage gekrönt.
Auf der andern Seite habe ich auch Auricularien beobachtet, bei de-
nen sich der Stern von Blinddärmchen, aus welchen die Tentakeln entste-
grofse Ähnlichkeit mit
der Anlage der Tentakeln in den Holothurienpuppen besafs, während die
Form der Larve im Übrigen noch alle Eigenschaften der Auricularia, ihre
Wimpersäume und noch nichts von den Wimperreifen der Holothurienpup-
hen, bedeutend vergröfsert hatte und bereits eine
46 Mürzer über die Larven und die Metamorphose
pen besafs. In diesem Fall waren bereits kleine Spuren des Kalkabsatzes
an dem Kranz der Blinddärmchen sichtbar.
Wenn es nun erlaubt ist, die Lücken zwischen den Beobachtungen
ergänzend auszufüllen, so scheint es, dafs die Auricularien zur Zeit ihrer
Verwandlung aus ihrem Mittelkörper die walzige Gestalt der Holothurien-
puppen entwickeln, während die seitlichen Verlängerungen desselben und
der bilaterale Wimperwulst sich verkürzen und einziehen, und bis auf die
nachgewiesenen geringen Spuren bald verschwinden, dafs zu dieser Zeit
aber die neuen Wimperreifen entstehen. Von der frühern Querfurche der
Auricularia, worin ihr Mund, habe ich in den Puppen der Holothurien nichts
mehr wahrgenommen. Mund und Schlund der Auricularia scheinen ganz
zu verschwinden, wie bei den Larven in den anderen Abtheilungen der Echi-
nodermen, statt deren aber ein neuer Mund im Zusammenhang mit dem
Tentakelstern sich zu bilden, und die zuerst noch geschlossene Vorhöhle
vor dem Munde mit den Tentakeln sich zu öffnen, d. h. die Leibeswan-
dungen zu durchbrechen.
An welcher Stelle die Vorhöhle mit den Tentakeln in Beziehung zur
frühern Auricularia aufbricht, ist mir nicht ganz klar geworden, so wie ob
damit der röhrige Strang im Zusammenhange ist, der die sternförmige An-
lage der Tentakeln in der Auricularia seitwärts der Mitte an den Rücken der
Larve befestigt, nämlich ob die Vorhöhle für die Tentakeln aus diesem Strang
entstanden ist. Aus der directen Beobachtung ergiebt sich aber, dafs der Auf-
bruch der Tentakel- Vorhöhle durch die Leibeswandungen in der Nähe der
Umbiegungsschlingen der frühern bilateralen Wimperschnur, d. h. in der
Nähe der Spitze der Pyramide der Auricularia erfolgt. Denn bei der auf-
gebrochenen Stelle sind die Reste der Umbiegungsschlingen der bilateralen
Wimperschnur zu erkennen. Eben so gewifs halte ich, dafs der Aufbruch
nicht in der Spitze der Pyramide selbst erfolgt, denn die Offnung der Vor-
höhle in der Holothurienpuppe befindet sich nicht zwischen den Umbiegungs-
schlingen, sondern liegt so, dafs die einander genäherten Reste der Umbie-
gungsschlingen in der Leibeswand selbst liegen.
Erwägt man nun, dafs die sternförmige Tentalanlage in der Aurieu-
laria an der Rückseite gelegen ist, nämlich an der Rückseite des Anfanges
des Magens und des Schlundes der Larve, so wird es schon daraus wahr-
scheinlich, dafs das neue Echinoderm an der Rückseite des pyramidalen
der Holothurien und Asterien. 47
Theiles der Larve, welcher unterdefs sich abrundet und wölbt, aufbrechen
werde. Damit stimmt auch die directe Beobachtung an einer Holothurien-
puppe überein, an welcher zu erkennen war, wie die ganze ventrale Seite
der frühern Pyramide der Auricularia mit dem Rest des frühern Wimper-
wulstes und mit dem Rest der Umbiegungsschlingen desselben der Wand
des Körpers der Holothurienpuppe angehört, wie dagegen die Öffnung auf
dem Scheitel der Holothurienpuppe die entgegengesetzte, also dorsale Lei-
beswand dicht vor jenen Umbiegungsschlingen durchbrochen hat.
Die Gattung und Species von Holothurien für das Thierchen mit
Kalkrädchen zu bestimmen, würde unmöglich sein, wenn diese Kalkrädchen
nicht wieder einen wichtigen Anhaltpunkt lieferten. Man mufs vermuthen,
dafs die Kalkrädchen, welche an unserer jungen Holothurie dermalen nur
den hintersten Theil besetzen, sich später an andern Stellen der Haut des
Thiers entwickeln werden. Denn bei allen Holothurien enthält die Haut
eigenthümlich geformte Kalkgebilde. Einigemal nahm ich an den fraglichen
jungen Holothurien am vordern Theil des Körpers hinter dem Kalkring
rosettenartige Körperchen wahr, deren Sitz die Haut zu sein schien; sie gli-
chen im Allgemeinen ganz den Kalkrosetien am hintern Theile des Körpers,
waren aber etwas (4 — 1) kleiner, und obwohl die Mitte und die Radien
bereits angedeutet waren, fehlte noch die Verkalkung. Sie lagen, drei oder
vier in einer einzigen (Juerreihe, auf die Breite des Körpers vertheilt.
Bei Untersuchung der mikroskopischen Kalkgebilde in der Haut vie-
ler Arten von Holothurien des Mittelmeers und der nordisch - europäischen
Meere wollte es mir nicht gelingen, solche Rädchen mit Speichen wieder-
zufinden; und eben so wenig kommen solche unter den Formen vor, wel-
che v. Düben und Koren (K. Vet. Akad. Handl. för 1844.) und Frey
(über die Bedeckungen der wirbellosen Thiere, Gött. 1848.) aus der Haut
der Holothurien beschrieben und abgebildet haben. Dagegen hat Hr.
Peters eine analoge Form in der Haut einer von ihm von Mozambique
mitgebrachten Chirodota mit 12 gefiederten Tentakeln (Ch. violacea Pet.
nov. sp.) beobachtet. Die Kalkrädchen dieser Chirodota befinden sich in
den Wärzchen der Haut angehäuft. Die übrige Haut enthält in ihrer Sub-
stanz eine Menge klammerartiger, halbmondförmig gebogener Kalkgebilde,
wie sie Hr. Valentin aus der Mundröhre des Echinus lividus (Anat. du
genre Echinus, Fig. 65.) und wie sie Hr. Ehrenberg aus dem Meeresab-
48 Mürzer über die Larven und die Metamorphose
satz von Veracruz unter der Bezeichnung Spongolithis uncinata abge-
bildet haben. (Abh. d. Akad. a. d. J. 1841. Taf. II. Nr. VI. Fig. 37.).
Die Rädchen der Chirodota sind ganz nach demselben Typus gebildet, wie
die unserer Holothurienlarve und zeigen nur specifische Unterschiede. Das
Centrum ist verhältnifsmäfsig kleiner, Speichen sind nur 6 vorhanden und
der Umkreis ist am innern Rande sägeförmig gezähnelt. Dagegen sind die
Kalkrädchen der Peters’schen Chirodota in allen Punkten mit dem Gebilde
übereinstimmend, welches Hr. Ehrenberg aus dem Meeresabsatz von
Veracruz unter dem Namen Actinoptychus? hexapterus abgebildet
hat (Abh. d. Akad. a. d. J. 1841. Taf. III. Nr. VII. Fig. 2.), und von
welchem er selbst schon die Vermuthung ausgesprochen hat, dafs es zu den
Zoolitharien und Kalktheilen von Echinodermen gehören könne.
Die nähere Untersuchung der Organe der Chirodota, worin diese
Rädchen enthalten sind, bietet noch so viel merkwürdiges dar, dafs ich einen
Augenblick dabei verweilen mufs. Bei der Chirodota von Mozambique ste-
hen die Wärzchen in einer unordentlichen Reihe zwischen den 5 Längsstrei-
fen des Körpers, welche den Stellen entsprechen, wo inwendig die Längs-
muskeln liegen. Schneidet man etwas von dem Wärzchen ab, und unter-
sucht es unter dem Mikroskop, so sieht man zwar sogleich die wunderlichen
Kalkgebilde, allein die sonderbare Art, wie sie in dem Wärzchen enthalten
sind, wird dabei nicht erkannt. Diese Einsicht erhält man vielmehr erst
durch die Zergliederung. Als nämlich die Wärzchen unter einer Lupe auf-
geschnitten wurden, zeigte sich das Innere hohl und mit einer in Windun-
gen zusammengelegten Schnur ausgefüllt, welche daraus hervorgezogen gegen
2— 3” lang war. An dieser Schnur sind die Rädchen befestigt, wie Blu-
men an einer Guirlande. Taf. II. Fig. 8. Die Achse der Schnur bildet ein
Strang von thierischer Masse, der zu der Mitte jedes Rädchens einen Ast
als Stiel abgiebt. Einige hundert Rädchen hängen an dem Faden von 2 —
3" Länge. Zuweilen ist die Schnur mit den Rädchen getheilt, ypsilonför-
mig. Ich dachte an Haftorgane, und dafs die Schnur aus dem Säckchen
oder der hohlen Warze hervorgetrieben werden könne. Allein ich habe
mich von der Existenz einer Öffnung an den Säckchen nicht überzeugen kön-
nen; auch scheint an den Rädchen das zu fehlen, was sie besitzen müfsten,
wenn sie als Saugnäpfe wirken könnten. Obgleich nämlich die Speichen
der Hololhurien und Asterien. 49
ein wenig gebogen sind, also ein Gewölbe bilden, so sind die Lücken zwi-
schen den Speichen doch nicht ausgefüllt.
Aus der Gegenwart der Rädchen bei den Chirodota scheint zu folgen,
dafs unsere Auricularia mit Rädchen und die dazu gehörende junge Holo-
thurie der Gattung Chirodota angehöre. Mit der allgemeinen Körperge-
stalt dieser meist langen wurmartigen Holothurien hat unsere junge Holo-
thurie sonst die wenigste Ähnlichkeit.
Die Anatomie der Chirodota palst zu der Organisation unserer jun-
gen Holothurie. Der Kalkring, das Wassergefälssystem verhalten sich in
den Chirodota, wie in den übrigen Holothurien. Der Kalkring ist niedrig,
wie in der Gattung Holothuria; die ihm aufliegenden Säckchen sind nicht
blinddarmförmig, sondern rund und flach, die Polische Blase ist vorhan-
8
den (!). Nur die grofse Vorhöhle für die Tentakeln stimmt nicht zu den
Chirodoten; bei welchen, wie bei den Synapten und eigentlichen Holothu-
ria, der Raum vom vordern Rande des Körpers bis zum Kalkring sehr kurz
ist. Dagegen findet sich eine grofse Vorhöhle für die Tentakeln bei den
Holothuriae pentactae, bei denen der Mundring weit in den Körper zurück-
gezogen werden kann.
Die Gattung Chirodota gehört zu der Abtheilung der Holothurien
ohne locomotive Füsschen. Zu dieser Abtheilung gehören ferner die Gat-
tungen SynaptaEsch., Liosoma Brandt, Molpadia Cuv., Haplo-
dactyla Grube, im Ganzen fünf Gattungen. Von diesen sind die Gattun-
gen Liosoma, Haplodactyla und Molpadia mit Lungen versehen, die Gat-
tungen Chirodota und Synapta ohne Lungen. — Im Mittelmeere kommen
Thiere der Gattungen Synapta, Molpadia, Haplodactyla vor. Es waren
auch von Grube fufslose Holothurien des Mittelmeers unter dem Namen
Chirodota beschrieben. Actinien, Echinodermen und Würmer des adriati-
schen und Mittelmeers. Königsberg 1840. pag. 41. Nach einer neuern
Mittheilung von Grube gehören diese jedoch der Gattung Synapta an und
auch Haplodactyla ist ohne Rädchen. Müller’s Arch. f. Anat. u. Physiol.
1850. pag. 111. Die Kalkgebilde in der Haut der Synapten haben keine
(') Die Chirodota violacea Pet. hat mehrere Polische Blasen am Cirkelcanal der Ten-
takeln. Eine sehr kleine aber vollständig erhaltene Chirodota im zoologischen Museum zu
Hamburg (nur 1” 4” lang), mit 12 gefiederten Tentakeln hat mehrere Polische Blasen. Ihre
Kalkrädchen haben 6 Speichen.
Phys. Kl. 1849. G
50 Mürrer über die Larven und die Metamorphose
Ähnlichkeit mit unsern Kalkrädchen. Die Kalkscheibchen in der Haut einer
Molpadia aus Chili waren gegittert wie bei Holothuria tubulosa. Die Kalk-
rädchen sind daher der Gattung Chirodota eigenthümlich. Ich fand sie auch
in keinen andern ausländischen Holothurien Gattungen wieder.
Die Zahl der Speichen an den Rädchen der Chirodota scheint bei der
Mehrzahl der Arten 6 zu sein. Die zwei von mir untersuchten Arten hatten
constant 6. Chirodota discolor Esch. hat nach Grube auch meist 6, zu-
weilen jedoch 10 Speichen an den Rädchen. Unter diesen Umständen ist
es am wahrscheinlichsten, dafs unser Thierchen mit Kalkrädchen eine noch
nicht beobachtete dem Mittelmeere eigene wahre Chirodota sei. Oder es
müfsten die Kalkrädchen in unsern Thierchen nur vorübergehende Bildun-
gen sein und später in der Haut dieser Holothurie andere Kalkbildungen
auftreten.
2. Zweite Art der Auricularia und Holothuria.
Ich wende mich nun zu der zweiten in Marseille und Nizza beobach-
teten Art von Auricularia. Da ihre Beschreibung und Abbildung schon vor-
liegt, so reicht es hin, das Charakteristische und für die folgende Untersu-
chung Wichtige hervorzuheben. Bei dieser Art ist der pyramidale Theil
am Ende abgestutzt, daher die Endumbiegungsschlingen der Wimperschnur
sich nicht berühren, sondern durch einen kleinen sattelförmigen Zwischen-
raum von einander getrennt sind. Das entgegengesetzte breitere Ende des
Körpers ist in der Mitte aufgetrieben; in dieser Hervorragung befindet sich
eine rundliche Kalkdruse, welche nach innen einige mehr oder weniger
verästelte Zacken abwirft. Über ihr, dicht unter der Haut an der hintern
Mitte, befindet sich eine graue granulirte Stelle. Zweite Abhandlung a. a.
O. Taf. V. Fig. 1 — 3. Gegenwärtige Abhandlung Taf. IV. Fig. 1 — 6. Sel-
ten kommen statt des einen, 2 oder mehrere Kalkknöpfe in der Mitte bei-
sammen vor. Dieses Ende scheint das schwerere zu sein, und steht, wenn
die Larve im Wasser schwebt, meist mehr oder weniger tiefer. Die Ohr-
zipfel enthalten keine Kalktheile.. Die Wimperschnur ist gelb und roth
gefleckt und gelbe Tüpfel sind über den durchsichtigen Körper zerstreut.
In der vorigen Abhandlung machte ich schon auf ein paar Längs-
und Querlinien aufmerksam, wovon die erstern den Mittelkörper des Thiers
gegen die davon abgehenden Hautsäume begrenzen, die Querlinien aber
der Holothurien und Asterien. 51
von den Längslinien ab über und unter der Querfurche auslaufen. Ich
bemerkte, dafs diese Linien beim Verstellen des Focus sich etwas verschie-
ben, und dafs die Längslinien mit dem Grunde der Seitenfurchen, die Quer-
linien mit den innern Grenzen der Querbucht zu stimmen scheinen. Dieser
Deutung wiederspreche jedoch die beim Zusammenhang der Seitenlängs-
furche mit der Querbucht fortlaufende Längslinie, welche daher wirklich
ein Faden zu sein schien. Daher war ich geneigt, die Linien als Fäden und
wegen der kleinen Anschwellungen an der Verbindung der Längs- und Quer-
linien als Nervenfäden zu deuten. Die Untersuchung zahlreicher Exemplare
auf diesen Punkt hat mich jetzt überzeugt, dafs die Linien constant, dafs
sie aber keine Nerven sind. Die vorher genannte andere Deutung ist viel-
mehr die richtige. Die Längslinien bezeichnen die Grenzen des Mittelkör-
pers, die Querlinien die inneren Grenzen der Querbucht, welche von den
sie begleitenden Hautsäumen noch etwas bedeckt ist und daher gröfser ist
als sie nach der Entfernung der Hautsäume und ihrer Wimperschnüre zu sein
scheint. An der Verbindung der Seitenlängsfurchen mit der Querbucht
grenzt sich die Querbucht durch eine erhabene Längsleiste etwas ab, was den
Schein hervorbringt, dafs die Längslinie hier ununterbrochen fortgehe.
Mund, Schlund, Magen und Darm verhalten sich wie bei der ande-
ren Auricularia. Der After befindet sich auf der Bauchseite des hintern
breitern Theiles der Larve.
Bei der Auricularia mit Kalkrädchen ist angegeben, dafs die erste
Anlage des Tentakelsterns durch einen röhrigen Strang, seitwärts der Mittel-
linie an die Rückenhaut geheftet ist. Jene Röhre habe ich auch bei der
gegenwärtigen Larve constant beobachtet.
Die Gröfse dieser Auricularia ist 5 — # Linie.
Was für die Wiedererkennung unserer Larve während ihrer Verwand-
lung besonders wichtig ist und die Kalkrädchen des ersten Falls vertreten
kann, ist theils die Kalkdruse mit Zacken am hintern Ende und die darauf
liegende Granulation; theils eine bestimmte Anzahl von Blasen, welche den
Körper garniren. (Siehe Taf. V. Fig. 1 --3 der vorigen Abhandlung.) Die-
ser Blasen sind 11, davon gehören 10 dem dorsalen Hautsaume an, 5 für
jede Seite, die elfte liegt in der Mitte des hintern Endes dicht vor der Kalk-
druse. Die 5 seitlichen sind auf die Seiten so vertheilt, dafs die erste in
der obern Umbiegungsschlinge der Wimperschnur, die untere in der untern
G2
32 Mürten über die Larven und die Metamorphose
Umbiegungsschlinge liegt. Bei den im Winter untersuchten Exemplaren
dieser Auricularia hatten diese kugelförmigen Blasen ein blasrothes Anse-
hen. Die in Nizza zahlreich vorgekommnen Individuen dieser Species
waren noch etwas jünger, sie hatten zwar schon die Kalkdruse mit Ae-
sten, aber noch nicht die 11 Blasen entwickelt. Gleichwohl müssen die
Blasen eine ganz constante Erscheinung an den reifern Larven sein, denn
man wird sehen, dafs sie sich constant in der Puppe und jungen Ho-
lothurie wiederfinden. Hätte ich die 11 Blasen als Bestandtheil der rei-
fern Auricularia nicht vom vorigen Winter gekannt, so würde es mir
schwer oder unmöglich gewesen sein, das Thier bei seiner Verwandlung in
die radiale Wurmform zu erkennen, jetzt aber gaben mir die 11 Blasen
und die ästige Kalkdruse eine gute Anleitung die Thierchen wiederzuer-
kennen. Neben den jungen Holothurien mit Kalkrädchen kamen nämlich
in Nizza andere im allgemeinen gleichgestaltete und gleichgrofse (7) junge
Holothurien mit 5 Wimperreifen vor, welche am Hinterende statt der Kalk-
rädchen einen rundlichen Kalkknopf enthielten, der nach vorn einige mehr
oder minder ästige Zacken abgab. Taf. IV. Fig. 8. 9. Taf. V. Fig. 4—6.
Einmal war zwischen diesem Kalkknopf und der Haut der hintern Mitte
noch der graue Körnerhaufen zu erkennen wie bei der Auricularia. Taf. V.
Fig. 6. Trotzdem dafs diese jungen Holothurien die drehrunde Gestalt be-
safsen, so gaben sie doch ihre bilaterale Abkunft in allen Fällen durch zwei
Reihen von durchsichtigen Blasen zu erkennen, welche die entgegengesetz-
ten Seiten des Körpers von vorn nach hinten einnehmen, so dafs auf jede
Seite 5 Blasen kommen; eine elfte Blase befand sich in der Mitte am hin-
tern Ende dicht vor der Kalkdruse, von ihren Ästen gleichsam gekrönt. So
verhielten sich die jungen Holothurien, mochten ihre 5 Tentakeln schon frei
oder das Vorderende des Körpers noch geschlossen sein. Diese Art hat
auch das eigene, dafs ihre Haut bald stark mit gelbem Pigment getüpfelt ist,
welches also nicht blos auf die Wimperkreise beschränkt ist, und dafs die
10 Kalkstückchen an der Basis des Tentakelkranzes, wenn gleich von glei-
cher Gestalt wie in der Holothurie mit Kalkrädchen, doch viel zarter sind.
Dagegen entwickeln sich in der Haut der jungen Holothurien bald eine Menge
von kreuzförmigen Kalkfiıguren und Kreuze mit gabeligen Asten.
Der Tentakeln sind 5, dazwischen mit ihnen alternirend bemerkt man
die rudimentären Anlagen von noch 5 andern Tentakeln. Die ihnen be-
der Holothurien und Asterien. 53
stimmte Vorhöhle des Körpers nimmt das erste Drittel der Körperhöhle ein,
ganz so wie bei der ersten jungen Holothurie. Dies erinnert an die Holo-
thuriae pentactae, bei denen die Tentakelvorhöhle sehr grofs ist und der
Mundring weit zurückgezogen werden kann. Das Ende der Tentakeln ist
abgerundet und geknöpft, nicht konisch, wie in der vorigen Art, der Knopf
nimmt zuletzt gelbes Pigment auf. Das Wassergefäfssystem, nämlich der
Ringkanal um den Schlund, die davon abgehenden 5 Kanäle nach den Ten-
takeln, die Ampulla Poliana, die am Kalkring befestigten runden Bläschen
mit Doppel-Körnern, der Darmkanal, alles dies verhält sich durchaus wie
in der ersten Art.
Eigenthümlich ist dagegen wieder der auf das Genitalsystem gedeu-
tete Kanal ausgezeichnet, welcher an der Stelle wo in der ersten Art eine
halbeirkelförmige Kalkleiste den Kanal umfafst, von einem Knauf oder Krone
unregelmäfsig gebogener und ästiger Kalkleisten bedeckt ist. Dies Verhalten
ist ganz constant und ist vielleicht auf das von Kalkleisten in seinen Wänden
stark durchdrungene Säckchen zu deuten, welches einmal oder mehrmal
vorhanden bei den Holothurien nach Tiedemann mit dem ausführenden
Geschlechtstheil verbunden ist, nach Krohn aber in den Ringkanal einmün-
det und dem Steinkanal der Asterien fragweise verglichen wird. Froriep’s
N. Not. XVII 1841. p.52.(') Von den Füfschen ist noch keine Spur zu sehen,
aber man erkennt bereits 5 Stränge der Länge nach an den Körperwandun-
gen herablaufend, welche entweder auf die Längskanäle des Wassergefäfs-
systems oder als Muskeln zu deuten sind. Die immer stärkere Färbung der
Haut und die beträchtliche Dicke, welche die Wand im Verhältnifs zur Lei-
beshöhle annimmt, machen bald eine weitere Einsicht in die innere Organi-
sation schwierig. Die Dicke der Körperwandung beträgt aber jeizt gegen
4 des Querdurchmessers der Bauchhöhle. An reifern Individuen, welche
die 5 Wimperreifen noch besitzen, aber mit den Mundtentakeln am Boden
des Glases umhertasten, bei aufgerichtetem Körper, kann man sich leicht
(') Ich war schon der Ansicht von Tiedemann gefolgt. Was mir bei Pentacta
doliolum dafür zu sprechen schien, hat jedoch bei einer Revision der Anatomie der Holo-
thurien eine Aufklärung gefunden, welche jener Meinung nicht ferner günstig ist. Siehe
meine Anatomische Studien über die Echinodermen. Archiv für Anat. u. Physiol. 1850.
pag- 117.
54 Müruer über die Larven und die Metamorphose
überzeugen, dafs die 11 Blasen in der Dicke der: Wand selbst liegen. An
diesen Blasen sind aufser ihrer Vergröfserung weiter keine Veränderungen
zu bemerken, blafsroth wie in den Auricularien vom vorigen Winter habe
ich die Blasen nicht wiedergesehen, sie waren entweder farblos oder gelb-
lich-durchsichtig. Wenn das Thier durch ein Glasplättchen comprimirt
wird, oder wenn es ohne äufsern Anlafs auf dem Glase aufliegt, nehmen sie
immer die beiden Seiten ein; es ist also bereits Rücken und Bauchseite,
rechts und links wie in der erwachsenen Holothurie geschieden, und es feh-
len nur die locomotiven Füfschen, von denen noch keine Spur zu erkennen
ist und die sich wahrscheinlich erst dann entwickeln, wenn die locomotiven
Bewegungsorgane der wurmförmigen Larve, die Wimperkränze schwinden.
Von einer baumförmigen Lunge war in der Regel noch nichts zu sehen, nur
einmal sah ich etwas, was darauf gedeutet werden könnte, aber zu undeut-
lich, als dafs es hätte gezeichnet werden können.
Über die Umwandlung der Auricularia mit Blasen in die Holothuria
mit Blasen liegen mir eine Reihe von Beobachtungen und Zeichnungen vor,
die keinen Zweifel an dieser Metamorphose übrig lassen, und denen nur
wenig fehlt, ein fortlaufendes Ganze zu bilden. Taf. IV. Fig. 7. Taf. V.
Fig. 1-3.
Will man den Zustand Puppe nennen, wo das Thierchen einer Oe-
struslarve im Allgemeinen ähnlich walzenförmig geworden, mit 5 kreisför-
migen Wimperkränzen versehen, die Wimpern der bilateralen Wimperschnur
eingebüfst hat, am Vorderende noch rundlich abgeschlossen und ungeöffnet
ist Taf. IV. Fig. 7. Taf. V. Fig. 1., so gleicht diese Puppe völlig derjenigen
von der anderen Species mit alleiniger Ausnahme der Speciescharactere von
den 11 Blasen, der zackigen Kalkdruse und der Kalkkrone auf dem be-
zeichneten Kanal. An solchen Puppen läfst sich noch eine Spur der bila-
teralen Wimperschnur an den Seiten des Körpers erkennen an Exemplaren,
die mit einem Glasplättchen bedeckt sind Taf. V. Fig. 2. 3.; es erscheint
dann am Seitenrande ein wellig herablaufender Wulst mit den dunklern
Pigmentflecken des früheren bilateralen Wimperwulstes, gekreuzt mit den
kreisförmigen Wimperreifen der gegenwärtigen Entwickelungsstufe. Unter
denselben Umständen erkennt man auch noch die Endumbiegungsschlingen
des frühern bilateralen Wimperwulstes am vordern abgerundeten Ende, dicht
an dem vordersten kreisförmigen Wimperreifen, und wenn man die Larven
der Holothurien und Asterien. 55
frei um ihre Achse sich drehend beobachtet und den Augenblick benutzen
kann, wo ihr Vorderende nach oben gerichtet ist, so sieht man die gedach-
ten Endumbiegungsschlingen und den ersten Wimperkreis zugleich am ab-
gerundeten, noch geschlossenen obern Ende, im Innern aber den Stern der
fünf blinddarmförmigen Tentakeln. Bei andern Puppen hat sich das abge-
rundete Ende in der Mitte des ersten Wimperreifens schon geöffnet, die
Tentakeln fangen an sich zu bewegen, von nun an wird diese Öffnung bald
weiter, mit ihr erweitert sich der erste Wimperreifen. Von den 5 Blasen
jeder Seite liegt die erste immer am Rande der vordern Öffnung, oder wenn
diese noch nicht aufgeschlossen ist, dicht bei dem ersten Wimperreifen.
Worauf diese Blasen zu deuten, ist nicht ganz gewifs. Ich finde in
der Haut der Holothuria pudendum regale überall an den Seiten, wie am
Bauch und Rücken kleine runde Blasen von einer braun pigmentirten Mem-
bran eingestreut. Eine bestimmtere Deutung unserer Holothurie auf Gat-
tung und Art ist dermalen unmöglich.
Künstliche Befruchtungsversuche mit Holothurien im Frühjahr ver-
anstaltet, werden die Gegenprobe zu unseren Beobachtungen liefern, wie
diese bereits für die Beobachtungen über die Seeigellarven durch die von
Derbes und Krohn ausgeführten Befruchtungen geliefert ist. Ich selbst
hatte bei so vorgerückter Jahreszeit wenig Hoffnung dafs sie noch gelingen
könnte. Die Hoden der Männchen der Holothuria tubulosa enthielten zum
Theil nur Samen mit Zoospermien und die Ovarien der Weibchen nur zum
Theil noch Eier, d. h. einzelne Schläuche waren noch damit gefüllt. Die
Eichen waren mit einer dicken Eihaut versehen. Der gelbröthliche Dotter
hatte 0,088” Durchmesser. Nach der Vermischung der Eier und des Sa-
mens trat bald eine bedeutende Auflockerung und Anschwellung der Eihaut
ein, in deren Substanz die Zoospermien eindrangen, aber der Dotter ver-
änderte sich nicht und das Keimbläschen blieb unversehrt.
II. Neue Beobachtungen über Tornaria, Bipinnaria, und die
Metamorphose der Asterien.
1. Tornaria Taf. VI. Pie. 1-7.
In Marseille habe ich eine eigenthümliche Larvenform beobachtet,
welche ich Tornaria nannte und in der vorigen Abhandlung, Taf. V. Fig.
4— 10, abbildete. Sie hat den bilateralen Wimperwulst und zugleich am
55 Mürten über die Larven und die Metamorphose
Hintertheil einen kreisförmigen Wimperreifen, in dessen Mitte der After.
Am entgegengesetzten Ende befinden sich zwei schwarze halbmondförmige
Pigmentflecke, wie Augenpunkte. Die Wimperschnüre biegen hier um,
aber nicht wie bei den Auricularien, sondern wie bei den Bipinnarien von
rechts nach links. Ein Strang geht von der Gegend des Innern, wo der
Schlund, beim Rücken des Schlundes zu dem Ende des Körpers, wo die
augenförmigen Pigmentflecke und inserirt sich in einem farblosen birnförmi-
gen Knöpfchen, dessen breiteres Ende unter und zwischen den Schlingen
der Wimperschnüre zum Vorschein kommt und hier mit den beiden Augen-
punkten besetzt ist. Diese Larve habe ich häufig in Nizza wiedergesehen,
aber aus jüngerem Stadium mit weniger gebogenem Verlauf der bilateralen
Wimperschnur, die sich ohngefähr wie bei der jüngsten Bipinnaria verhielt,
die in meiner zweiten Abhandlung Taf. I. Fig. 1—3 abgebildet ist, dann
war das kreisförmige Wimperorgan noch nicht entwickelt. Bei starken Ver-
gröfserungen erschien die Oberfläche des Körpers voll feiner querer Run-
zeln. Bei diesen Larven habe ich mich überzeugt, dafs der vorhergenannte
Strang von der Schlundgegend nach dem oculirten Ende ein Muskel ist.
Ich habe ihn öfter im Akt der Contraction gesehen, wobei er plötzlich Ziek-
zackform und zugleich Querrunzeln annahm. Das Körperende wurde dann
eingezogen, ohne dafs der Schlund selbst in Bewegung oder Zerrung gerieth,
so wie auch, wenn der Schlund sich heftig zusammenzog, dieser Strang nicht
mitbewegt oder gezerrt wurde. Gerade wo das innere Ende dieses Mus-
kels auf die Gegend zwischen Schlund und Magen stöfst, geht ein zweiter
Strang nach dem Rücken des Thiers. Der Muskel und der ebenerwähnte
Strang stolsen unter einem rechten Winkel zusammen. Dieser letztere Strang
ist eine Röhre, deren Wände inwendig mit länglichen Kernen besetzt sind.
Die Kerne (oder Zellen) stehen zerstreut auf der Wand und ragen nach in-
nen vor, die innerste Grenze der Wand der Röhre scheint noch von einer
feinen Haut gebildet zu sein, welche auch über die Kerne hinzieht. Das
Ende der Röhre inserirt sich in der Haut des Rückens in der Mitte an einer
granulirten runden nabelförmigen Stelle, an welcher beim Druck Doppel-
Contouren als 2 concentrische Kreise (ob Öffnung?) zum Vorschein kommen.
Von dieser Echinodermen -Larve wissen wir also jetzt, dafs sie früher nur
eine bilaterale Wimperschnur besitzt und hernach noch ein kreisförmiges
Wimperorgan erhält.
der Holothurien und Asterien. 57
Ich halte sie für die Larve einer Asterie und stütze diese Deutung auf
die Übereinstimmung ihrer bilateralen Wimperschnur mit derjenigen der
Bipinnaria und ihre Abweichung von der bilateralen Wimperschnur der Ho-
lothurienlarve. (') Die gröfsten Individuen der Tornaria, die ich in Nizza
vr
sah, hatten eine Gröfse von 5”. Kleinere waren häufig (1), die kleinsten
m
hatten nicht mehr als 4”.
Bei fortgesetzten Studien über die Metamorphose der Tornaria wird
besonders auf die Röhre zu achten sein, welche einerseits an die Rücken-
wand, anderseits an den Schlund anstöfst. Es scheint dieselbe Röhre, wel-
che schon bei der bilateralen Holothurienlarve beobachtet ist, wo sie den
Stamm für den Stern von Blinddärmchen bildet, aus welchen sich das Ten-
takelsystem entwickelt. Es ist daher anzunehmen, dafs um diese Röhre auch
bei der Tornaria sich die zum Wassergefäfssystem gehörenden Organe der
Asterie bilden werden, die aber jetzt noch nicht vorhanden sind. Es bleibt
dermalen ungewils, ob die fragliche Röhre in Beziehung steht zu dem spä-
tern Munde der Asterie oder vielmehr Stamm des Wassergefälssystems, näm-
lich Steinkanal wird. Im letztern Fall wird es von Interesse sein zu erfahren,
wo das ventrale und wo das dorsale Ende des Steinkanals ist, ob nämlich
das innere auf den Larvenschlund stofsende Ende der Röhre, oder das
äufsere nabelförmige Ende die Stelle ist, wo sich die Madreporenplatte der
Asterie bildet. Das letztere wäre, sofern überhaupt die Voraussetzung rich-
tig, wahrscheinlicher, weil sich bei der Auricularia an dem innern Ende der
Röhre der Stern der Tentakeln bildet. Wenn aber die Röhre der Tornaria
dem Steinkanal der Asterien entsprechen sollte, so würde eine gleiche An-
lage auch bei den Bipinnarien zu erwarten sein, in demjenigen Stadium der
Larve, wo sich das Wassergefäls- und Tentakelsystem zu entwickeln be-
ginnt. Aus dieser Zeit liegen noch keine Beobachtungen von den Bipini-
narien vor. Endlich würde von den Asterien mit mehrfachen Madreporen-
platten und Steinkanälen zu erwarten sein, dafs ihre Larven mehrere solche
von aufsen nach innen dringende Röhren, wie Tornaria eine hat, besitzen
werden.
(') Aus demselben Grunde kann die in Helsingör beobachtete Brachiolaria auch nur
die Larve einer Asterie sein.
Phys. K1. 1849. H
58 Mürter über die. Larven und die Metamorphose
2. Wurmförmige Asterienlarve. Taf. VI. Fig. 8 — 12.
Taf. VII. Fig. 1 —4.
Ich beschreibe nun ein junges Echinoderm, von dem es auf den er-
sten Blick zweifelhaft sein kann, ob es eine Holothurie oder ein Seestern
ist. Denn es ist ein Wurm und ein Stern zugleich, so nahe berühren sich
die Typen der verschiedenen radialen Entwickelungen.
Das Thierchen ist }” lang, seine Länge verhält sich zur Breite wie
4:3. Sein wurmförmiger etwas abgeplatteter Körper ist vorn und hinten
abgerundet und durch 4 quere Furchen auf der Rückenfläche in 5 Segmente
getheilt, von denen das zweite und dritte die gröfsern sind; das letzte Seg-
ment ist so kurz, dafs es nur von hinten deutlich gesehen werden kann.
Die Oberseite ist braun ins violette stark pigmentirt und dunkel. Die Un-
terseite ist bis zum vierten Segment farblos und gleicht hier einem fünflap-
pigen Stern, hinter diesem Stern nimmt der Körper auch unten wieder die
wurmförmige Gestalt und die Farbe des Rückens an. Die Mitte des hinter-
sten Segments ist eingedrückt und dunkel, es blieb ungewils ob diese Stelle
geöffnet ist. Auf dem sternförmigen Feld der Unterseite, dessen Mitte dem
Munde entspricht, treten, symmetrisch vertheilt, 10 lange, farblose, weiche,
eylindrische Tentakeln oder Füfse mit abgerundeten Enden hervor, so zwar,
dafs auf jeden der fünf Lappen 2 Füfse kommen. Wimperkränze und Wim-
perschnüre sind nicht verhanden. Mit den Füfschen tastet das Thierchen
umher; wenn man es auf den Rücken umwendet, so sucht es sich mittelst
der Füfschen immer wieder umzuwenden. Ob in der Mitte des Sterns schon
die Mundöffnung vorhanden ist, läfst sich nicht erkennen. Jedenfalls ist
das Thier noch in der Verwandlung begriffen, wie wir bald sehen werden.
Wir haben es also mit einem auf der Rückseite und am Hintertheil
überall wurmförmigen Körper zu thun, dessen Bauchseite auf $ der ganzen
Länge in einen gelappten Stern mit 10 Füsschen ausgeprägt ist. Die que-
ren Rückenfurchen verlieren sich auf der Bauchseite in die Einschnitte zwi-
schen den Lappen oder Strahlen.
Indem einer der 5 Lappen des Sterns nach vorn gerichtet ist und die
Unterseite des abgerundeten vordern Endes des Körpers ausmacht, läuft
die erste Querfurche des Rückens unten jederseits in die Einschnitte zwi-
schen dem vordern Lappen oder Radius des Sterns und dem ersten oder
vordern Seitenradius aus. In gleicher Weise läuft die zweite Querfurche
der Holothurien und Asterien. 59
des Rückens jederseits in die Einschnitte zwischen dem vordern und hintern
Seitenradius aus. Die dritte Querfurche begrenzt den hintern Rand der
beiden bintern Seitenlappen oder Radien.
Anfangs glaubte ich, eine Holothurie mit sehr kurzem Körper und
nach abwärts gekrümmtem Mundtheil vor mir zu haben. Diese Lage des
Mundes nehmen die erwachsenen Holothurien der Gattung Holothuria,
mit ausgeprägtem Unterschied des Rückens und Bauches (nicht die Pentac-
tae), sehr gewöhnlich an, die sehr platte Holothuria pudendum regale hat
den Mund und seinen Tentakelkranz im contrahirten Zustande des Thiers
ganz auf der untern Seite und hinter dem vordern Ende des Thiers. Bei
weiterer Untersuchung unseres wurmförmigen Sterns hat sich indefs erge-
ben, dafs es keine Holothurie, sondern ein Seestern ist. Uber die Einge-
weide habe ich zwar wegen der völligen Undurchsichtigkeit nichts ermitteln
können, beim Zerdrücken des Thierchens kommt aber, aufser einem Kalk-
netz in der Haut, eine sternförmige Kalkfıgur um die dem Mund entspre-
chende Mitte zum Vorschein, und diese Figur pafst in keiner Weise zu dem
Kalkring des Mundes einer Holothuria. Dieser Stern mit 5 vorspringenden
und 5 eintretenden Winkeln wird von 10 Kalkstücken gebildet, welche sich
mit ihren Enden abwechselnd zu Ecken und Winkeln aneinander legen.
Die Kalkgebilde gleichen im Allgemeinen denjenigen des Mundringes der
jungen Holothurien. Jedes besteht in seinem mittlern Theil aus einer stär-
kern Leiste, welche sich auf der Aufsenseite und noch mehr an den Enden
stark verzweigt und in ein dichtes Netz endigt. Die Netze zweier Stücke
sind auch stellenweise mit einander verbunden. In dem Netzwerk hinter
jeder der 10 Leisten zeichnet sich eine gröfsere Masche aus. Aufser der
sternförmigen Figur dieses Gebildes ist auch sein Verhalten zu den Lappen
oder Radien des Sterns für die Asterie entscheidend. Denn bei den Holo-
thurien entsprechen 5 von den 10 Kalkstückchen des Mundringes den 5
Ambulacralfeldern des Thiers und die an diesen Feldern anliegenden Längs-
muskeln befestigen sich selbst oder (Holothuriae pentactae) mittelst eines
abgegebenen Fleischbündels an dieselben 5 Kalkstücke. Bei den Seester-
nen hingegen entspricht nicht ein Kalkstück allein alternirend einem Ambu-
lacrum, sondern je zwei zu einem vorspringenden Winkel verbundene. Dies
beruht auf dem Unterschied, dafs die Knochenstücke, welche den Mund
der Asterien begrenzen, nichts anders, als die Enden des Ambulacralskeletes
H2
60 Mürrer über die Larven und die Metamorphose
sind, dagegen der Kalkring des Mundes der Holothurien nicht zu der häu-
tigen Schale des Thiers gehört, sondern eine darin aufgehängte Basis der
Mundtentakeln ist, welche in vielen Holothurien, namentlich in den Pentac-
tae, grofser Ortsbewegungen durch Muskeln fähig ist. Dieser Ring ist daher
auch nicht den Schalenstücken der Seeigel, sondern den Basaltheilen der
Kiefer der Seeigel zu vergleichen.
Bei weiterer Entwickelung unseres Thierchens wird auch die Rück-
seite pentagonal und entwickelt 5 Ecken, welche durch gerade Seiten ver-
verbunden sind. Die Querfurchen sind auch dann noch vorhanden und
eben so das hintere wurmförmige Ende, welches aus der hintern Seite des
Pentagons hervortritt. In diesem Zustande sah ich das Thierchen nur ein-
mal. Die Haut war bis an die Ecken von einem dichten Kalknetz durch-
drungen. Aus jeder der 5 Ecken ragte aus einer Öffnung ein weicher Fort-
satz hervor, viel kleiner, als die Fülschen, dessen Bedeutung, ob Anlage
eines Stachels, ob Fühler mir unklar geblieben ist. Er wurde nicht wie die
Füfschen gekrümmt und zeigte selten nur eine geringe Bewegung. Ich ver-
muthe, dafs es einer jener der Rückseite der Seesterne eigenen sogenannten
respiratorischen Tentakeln ist, von welchen man nach Tiedemann an-
nimmt, dafs sie am Ende offen sind und das Wasser ins Innere der Leibes-
höhle des Seesterns führen, welche aber in der That am Ende geschlossen
sind. (1) An den 5 Seiten des Pentagons erschienen 1 oder 2 ganz kurze
Spitzen, wie Anlagen von Stacheln, welche der Unterseite angehörten.
Dieser Seestern, den ich auf eine bestimmte Gattung und Art nicht
zu deuten vermag, vermehrt die Typen der sich entwickelnden Asterien um
eine neue vierte Form. Wir kennen nämlich jetzt schon 4 Formen, die
unter einander keine Ähnlichkeit darbieten. 1) Typus des Echinaster und
Asteracanthion. 2) Typus der Bipinnarien. 3) Typus der Ophiuren. 4)
Der Typus unserer Asteride. In dieser entwickelt sich der Stern auf der
Seite eines wurmförmigen Körpers, dessen Segmente sich zum Theil in ei-
(') Wenigstens bin ich bei Untersuchung sehr kleiner Exemplare des Asteracanthion
violaceus, die ich kürzlich in Flensburg mikroskopisch beobachtete, gewils geworden, dafs
diese Röhrchen hier blinddarmförmige Verlängerungen im Zusammenhange mit der Leibes-
höhle sind. Die Wimperströmung geht in ihrem Innern auf und abwärts und kehrt am ge-
schlossenen Ende um. Ich kann in dieser Hinsicht nur die Angaben von Hrn. Ehren-
berg bestätigen. Siehe Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften a. d. J. 1835.
der Holothurien und Asterien. 61
nen, zum Theil in zwei Arme verlängern. Ob der hintere Theil des Wurms
das frühere Larvenmaul bildete und das wurmförmige Ende sich in die
Madreporenplatte umbildet, oder ob es als der After des Seesterns übrig
bleibt, ist ungewils.
Weiter habe ich dieses Echinoderm nicht verfolgen können. Es ist
ohne Zweifel eine Asterie, nicht eine Ophiure, und nicht eine Comatula.
Bei den Ophiuren entsprechen die vorspringenden Kanten des Skelets am
Munde den Interradien, nicht den Radien, wie hier. Die Form des jun-
gen Sterns ist diejenige einer Asterie, nicht einer Ophiure und nicht einer
Comatula. Gegen letztere spricht auch das Kalkgebilde um die ventrale
Mitte. Die Comatula mediterranea zeigt nichts davon in ihrem ventralen
Perisom.
Es ist nun noch anzudeuten, dafs der wurmförmige Seestern vielleicht
die Fortsetzung der Tornaria sein könnte. Was dieser Vermuthung einiges
Recht giebt, ist erstens der Umstand, dafs die Tornaria nur die Larve einer
Asterie sein kann und zweitens deutet der wurmförmig gegliederte Körper
der zuletzt beschriebenen Asterie darauf hin, dafs er früher vom Wimper-
kränzen umgeben war. Ist aber die wurmförmige Asterienlarve die Fort-
setzung der Tornaria, dann würde das hintere Ende ohne Zweifel dem After-
ende der Tornaria entsprechen, welches von einem Wimperkranz umgeben
ist, die der Madreporenplatte entsprechende Stelle würde dann zwischen
den hintern Armen zu suchen sein. Es handelt sich also bei der Fortsetzung
dieser Untersuchung darum, ob es eine Form von Asterien giebt, welche
abweichend von der Metamorphose der Bipinnarien, statt zweier, drei Pha-
sen durchläuft, so dafs die anfangs bilaterale Larve in eine wurmförmige
Larve mit Wimperkränzen wie bei den Holothurien verwandelt wird.
3. Bipinnariaasterigera. Taf. VII. Fig.5—8.
Koren und Danielssen hatten die Madreporenplatte aus der Tren-
nung des Seesterns von der Larve erklärt, wo eine in den Seestern führende
Athemröhre der Bipinnaria abreifse. In der zweiten Abhandlung über die
Metamorphose der Echinodermen wurde von mir nachgewiesen, dafs diese
sogenannte Athemröhre der Mund und Schlund der Larve ist, welche in den
im Innern des Seesterns liegenden Magen führt; bei der natürlichen Tren-
nung der Larve von dem Seestern mufs daher die Stelle vernarben, wo der
62 Mürrer über die Larven und die Metamorphose
Schlund abgerifsen ist. Nach dem Abreifsen der Larve vom Seestern zeigte
sich mir bei dieser Öffnung noch eine zweite, welche in einen Kanal führt,
der mit dem spätern Steinkanal gleiche Richtung hat. Auch nach dieser
Verbefserung der von den Norwegischen Naturforschern aufgestellten Mei-
nung blieb die Erklärung der Madreporenplatte insofern noch unbefriedigend,
als bei mehreren Seesternen kein Larventheil sich abstöfst, und als es See-
sterne mit mehreren Madreporenplatten giebt. Bei der Larve der Holo-
thurie im Zustande der Auricularia wurde eine von einer nabelförmigen
Stelle des Rückens entspringende nach innen dringende Röhre erwähnt,
an deren innerm Ende sich das Tentakelsystem entwickelt; diese Röhre
wurde sowohl bei der Auricularia als bei der Tornaria beobachtet, die
mit guten Gründen als die Larve einer Asterie bezeichnet wurde. Es
mufste indefs zweifelhaft gelafsen werden, ob die Röhre der Auricularia in
Beziehung steht zur Vorhöhle der Tentakeln oder ob die Röhre der Torna-
ria Stamm des Wassergefälssystems der Tentakeln wird, verglichen dem
aus der porösen Madreporenplatte entspringenden Steinkanal, der als Stamm
des Wassergefäfssystems mit dem Cirkelkanal um den Mund zusammenhängt.
Wie sich dies auch verhalten möge, es läfst sich jedenfalls jetzt beweisen,
dafs die von Koren und Danielssen angeregte Idee über den Ursprung
der Madreporenplatte auch nach der angebrachten Verbefserung nicht weiter
festgehalten werden kann. Denn es ist mir gelungen an einigen wohlerhal-
tenen neuen Exemplaren der Bipinnaria asterigera an dem noch mit der Larve
unversehrt zusammenhängenden Seestern die Madreporenplatte zu beobach-
ten. Es ist eine kleine mit winzigen Papillen umgebene Hervorragung, an
derselben Stelle, wo ich schon früher die zweite Öffnung an dem von der
Larve abgerifsenen Seestern gesehen. Diese Warze liegt in der Nähe der
Eintrittsstelle des Schlundes in den Seestern, in der Richtung von da nach
der Bauchseite (nicht auf der Bauchseite selbst) im Interradius, zwischen
den zwei der Larve nächsten Armen des Seesterns. Wenn die Bauchseite des
Seesterns nach oben gerichtet, diese beiden Arme gegen den Beobachter ge-
richtet sind, so ist die Warze in allen 3 Exemplaren übereinstimmend dem
linken Arme des Seesterns etwas näher. An ihr beginnt der sehr deutliche
Steinkanal, dieser geht in den ebenso deutlichen Cirkelkanal des Wasserge-
fälssystems, aus dem die ebenfalls sichtbaren Längskanäle für die Füfschen
der Arme entspringen. Die Madreporenplatte des Seesterns der Bipinnaria
der Holothurien und Asterien. 63
erregt durch ihr Ansehen zuerst die Vorstellung, dafs sie eine von Papillen
umgebene Spalte sei, sie scheint aber zwischen den Papillen nur wenig ver-
tieft zu sein und eine Nadelspitze hier aufgesetzt, stöfst auf Widerstand,
eben so wenig konnte ein Haar dort in den Steinkanal geführt werden. Da
diese Stelle auf der Grenze des Seesternes und der Larve liegt, so kann sie
beim Abreifsen des Seesterns leicht verletzt werden und so wird die Öff-
nung zu erklären sein, welche an den künstlich abgerifsenen Seesternen früher
hier von mir bemerkt wurde. Wurde die Haut der Larve auf der Bauch-
seite der letztern in der Nähe des Seesternes aufgeschlitzt, so konnte man
sich überzeugen, wie die Haut der Larve mit der Haut des Seesterns, die
Leibeshöhle der Larve um den Schlund herum mit der Leibeshöhle des
Seesternes communicirte, wie der Schlund mit dem Magen zusammenhing
und letzterer in den Darm und die Afterröhre sich fortsetzte. An jüngern
Exemplaren hängt ein Theil des Magens aus der Bauchöhle des Seesternes
bis in die Leibeshöhle der Larve sackartig herunter und die Verbindung der
Larve und des Seesternes ist daher breiter als an Exemplaren, wo der See-
stern schon gröfser ist. i
Es verdient besonders hervorgehoben zu werden, welche Lage das war-
zenförmige Ende des Steinkanals, welcher übrigens noch als einfache Röhre
erscheint, in Beziehung zur Rückseite der Larve oder Bipinnaria hat. Die
Afterröhre des Seesternes tritt bekanntlich auf der Bauchseite der Larve
über dem Munde der Larve hervor. Der Steinkanal endet aber auf der
entgegengesetzten Seite, nämlich da wo die Rückseite der Larve an den
entsprechenden Interradialraum des Seesternes grenzt. Stellen wir uns einen
Augenblick voraussetzend vor, der Steinkanal als Stamm des späteren Was-
sergefälssystems wäre vor der Entwickelung des Seesternes schon in der Bi-
pinnaria angelegt, so würde sein Ende auf der Rückseite der Bipinnaria
sein, so wie der vorher angeführte Kanal der Tornaria auf der Rückseite der-
selben endet; auf der Rückseite der Auricularia oder Holothurienlarve endet
auch die Röhre, an deren innerm Ende sich das Tentakelsystem entwickelt.
Für jetzt läfst sich diese Analogie nicht weiter führen, weitere Untersuchun-
gen müfsen zeigen, ob die Vergleichung wirklich identische Theile umfafst
oder mehr sinnreich als begründet ist. Wird sich die Analogie bestätigen,
so würde damit der Beweis geliefert werden, dafs der Steinkanal oder der
Kanal, der bei Tornaria schon vor der Entwickelung der Tentakeln vor-
64 Mürrer über die Larven und die Metamorphose
handen ist, in dieser Larve überhaupt das erste wäre, was von dem ganzen
& tritt. Monatsbericht der Akademie
späteren Echinoderm in Erscheinung
1850 April.
Anmerkung. Ich verdanke die Untersuchung dieser Exemplare der Bi-
pinnaria asterigera dem zoologischen Museum in Hamburg, das sie von
Hrn. Dr. Krohn erhalten. Sie stammen also wohl aus Sicilien. Den
norwegischen Exemplaren gleichen sie sowohl in Gröfse als Gestalt, aber
die Wimpeln sind viel länger. Der Seestern ist eben so weit entwickelt
als in den früher untersuchten norwegischen Exemplaren.
Unter den in Nizza vorgekommenen Larven war die häufigste ein
Thierchen von 4— 4" Durchmesser, welches man wegen seiner Form
wohl für eine junge Meduse halten kann; denn man unterscheidet an ihm
einen halbsphärischen, später scheibenförmigen Körper, von dessen Mitte
ein Schlund herabhängt. Aber diese Larve unterscheidet sich von den jun-
gen Medusen, dafs sie sich durch Wimperbewegung kreisend fortbewegt
und nie zeigt sie etwas von den zuckenden Bewegungen der jungen Medusen.
Sie besitzt mehrere kolbige Fortsätze, gleich den von Sars beschriebenen
Larven von Echinaster und Asteracanthion. Diese Fortsätze, deren Zahl
(meist 2—3, seltener mehr bis 6) und Gröfse variirt, befinden sich unterhalb
der Hemisphäre, zwischen ihr und dem Schlund, auf verschiedene Stellen
des Umfanges vertheilt, die Kolben sind mit Wimpern besetzt, ohne Wim-
perschnüre, auf ihrer Oberfläche sind einige ovale helle Körnchen zerstreut.
Die Kolben sind untereinander sehr ungleich an Gröfse, sie sind steif aus-
gestreckt, aber durch die Bewegung ihrer Wimpern entsteht das beständige
Kreisen des Thierchens. Der Körper des Thierchens ist fast durchsichtig
und hat zuweilen einen bläulichen Schein. Im Innern der Hemisphäre er-
kennt man den Magen und darin Rotation von Wimperbewegung. Der
Schlund wird zuweilen gegen den Körper und Magen heraufgezogen. Am
Umfange des Körpers unterhalb der Hemisphäre stehen auch zwei bis vier
kurze steife Röhrchen hervor, auf verschiedene Stellen des Umfanges ver-
theilt. Das angewachsene Ende der Röhrchen ist dünner, das andere Ende
ist wie quer abgeschnitten und zeigt eine dunkle Contour. (') Die Scheibe
(') An einer jungen Meduse würde hier an Otolithen zu denken sein. Es gelang nicht,
sich von dem Vorhandensein eines solchen zu überzeugen, und eben so wenig auszumitteln,
ob die Röhrchen offen sind.
der Holothurien und Asterien. 65
wird hernach eckig, und bildete einmal ein Oktagon mit Einschnitten, was
befser auf Medusen als Echinodermen pafst. Kalkabsätze wurden nie gese-
hen. Wenn diese Larve wegen ihrer Ahnlichkeit mit den Larven von Sars
zu den Echinodermen gehören sollte, so könnte sie nur unter den vielarmi-
gen aufgesucht werden. Es wird bei weiterer Beobachtung an Asteracan-
thion tenuispinus zu denken sein, der 6 — 8 Arme bei 2—3 Madreporen-
platten besitzt. Auch wird zu ermitteln sein, ob die auf der Oberfläche des
Körpers und der Kolben zerstreuten hellen Körnchen nicht die Structur der
Nefselorgane der Medusen haben. Während der Beobachtung dieses Thier-
chens, das täglich in vielen Exemplaren erschien, schwankte ich in Unge-
wifsheit, ob ich es für die Larve eines Echinoderms oder eine junge Meduse
zu nehmen hatte und bald war mir das eine, bald das andere wahrscheinlicher.
Unter meinen Notizen zu den Zeichnungen finde ich die Deutung der hellen
Körnchen als Nefselorgane. Da aber eine detaillirte Zeichnung darüber fehlt,
woraus der Bau der Nefselorgane hervorginge, so weifs ich dermalen nicht
mehr, worauf diese Zusammenstellung beruht. Ich will also auf diese No-
tiz keinen Werth legen und behalte mir vor, diese Frage bei der Wiederbe-
obachtung des Thierchens zu entscheiden.
11I. Allgemeine Bemerkungen.
Beim Schlufs der diesjährigen Beobachtungen lassen sich die Variati-
onen, welchen die Metamorphose der Echinodermen unterworfen ist, voll-
ständiger übersehen.
4) Die Verwandlung der bilateralen Larve in das Echinoderm erfolgt
zur Zeit, wo die Larve noch auf dem Embryonentypus steht und allgemein
mit Wimpern bedeckt ist, ohne Wimperschnüre. Ein Theil des Larven-
körpers nimmt die Form des Echinoderms an; der Rest der Larve wird in
die Gestalt des Echinoderms absorbirt. (Ein Theil der Asteriden. Echina-
ster. Asteracanthion Mülleri Sars.)
2) Die Verwandlung der bilateralen Larve in das Echinoderm erfolgt
zur Zeit, wo die Larve vollkommen organisirt ist d. h. Verdauungsorgane
und eine besondere Wimperschnur besitzt. Das Echinoderm wird in
dem Pluteus, wie das Gemälde auf seinem Gestell, eine Stickerei in einem
Phys. K1. 1849. I
66 Mürrer über die Larven und die Metamorphose
Stickrahmen aufgeführt, und nimmt sodann das Verdauungsorgan der Larve
in sich auf. Hierauf gehen die Larvenreste allmählig zu Grunde (Ophiura,
Seeigel) oder werden abgestofsen (Bipinnaria).
3) Die Verwandlung der Larve erfolgt zweimal. Das erstemal geht sie
aus dem bilateralen Typus mit seitlicher Wimperschnur in den radialen Typus
über und erhält statt der früheren Wimperschnur neue locomotive Larven-
organe, die Wimperreifen. Aus diesem Zustand entwickelt sich das Echi-
noderm, ohne dafs ein Theil der Larve oder Puppe abgestofsen wird. Ent-
weder wird nun das Echinoderm an einem Theil der wurmförmigen Larve
ausgebildet und der Rest der Larve in das Echinoderm absorbirt (Tornaria?
wurmförmige Asterienlarve), oder die ganze Larve wird gleichzeitig in das
Echinoderm verwandelt (Holothurien).
Bezeichnen wir als Embryonentypus den Zustand, wie das Thier aus
dem Ei hervorgeht und wo die innern Organe noch nicht ausgebildet sind,
so erhalten wir vier Stadien oder Typen, den Embryonentypus, den Lar-
ventypus, den Puppentypus und den Typus des Echinoderms. Das Thier
kann von jedem der drei ersten aus sogleich in das Echinoderm übergeführt
werden, oder sie alle durchlaufen.
Schon lange hatte ich getrachtet, der Entwickelung und Verwandlung
der Comatulen auf die Spur zu kommen, um einen Begriff von dem Lar-
venplan eines Crinoids und hiedurch einen Standpunkt zu erhalten, geeig-
net, das Feld der Entwickelung und Metamorphose der Echinodermen bis
in den Naturreichthum der Vorwelt zu übersehen. Da die Eier der Coma-
tula im Juli aus den Pinnulae austreten und zu dieser Zeit nach Thompson
an den Pinnulae klebend gefunden werden, so mufste man sie aufsuchen
und ihre Entwickelung verfolgen. Selbst aufser Stande, im Juli ein Gestade
zu besuchen, wo Comatulen reichlich vorkommen, schrieb ich im Sommer
dieses Jahres zur rechten Zeit an einen jungen Freund, der mich auf dreien
frühern Reisen begleitet hatte, und damals die brittischen Küsten besuchte,
und forderte ihn auf, diese Untersuchung anzustellen.
Der Erfolg ist in den Mittheilungen des Hrn. Dr. Busch aus Kirk-
wall (Orkneys) über die Larve der Comatula zu ersehen, wovon in der
Akademie am 15. November und 20. December 1849 Kenntnifs gegeben
ist. Die Larven der Comatula scheinen äufserst rasch das Stadium der
der Holothurien und Asterien. 67
bilateralen Form zu durchlaufen und in das Stadium der Puppenform
mit Wimperkränzen einzutreten. (!)
Was die bilateralen Larvenformen, insbesondere die mit Wimper-
schnüren betrifft, so lassen sich alle aus einem gemeinsamen Typus, aus
einer idealen Grundgestalt entwickeln, so die Larven der Ophiuren, See-
igel, die Bipinnarien, Auricularien. Allen ist in der einfachsten Form
eine ceirculäre Wimperschnur eigen, welche bilateral an den Seiten her-
abgeht und mit einem obern und untern queren Theil über die Bauch-
seite weggeht. Zwischen dem obern und untern queren Theil ist im-
mer der Mund, bald der einen, bald der andern queren Schleife näher,
bald mitten zwischen beiden. Bei den Seeigeln und Ophiuren ist der Mund
der untern queren Schleife näher, bei den Bipinnarien und Auricularien
gehen sie dicht über und unter ihm weg. Man kann diese circulare Wim-
perschnur zur Unterscheidung von solchen Wimperreifen, die quer um den
Leib herumgehen, die bilaterale Wimperschnur nennen. Wichtig ist, dafs
die Larven der Ophiuren, Seeigel und die Auricularien nur eine einzige bi-
laterale Wimperschnur besitzen, die Bipinnarien, Tornarien und Brachiola-
rien oder überhaupt die Asterienlarven aber zwei, wovon die eine über, die
andere unter dem Munde weggeht. Die verwickelten Formen der verschie-
denen Larven entstehen, indem aus der gemeinsamen Grundgestalt an ver-
schiedenen Stellen Fortsätze ausgezogen werden, auf welche die Wimper-
schnur mit ausgezogen wird. Ich habe eine Tafel schematischer Zeichnun-
gen entworfen, auf welcher die Gestalten der verschiedenen Pluteus aus ei-
ner Grundgestalt abgeleitet sind. Wegen der Öconomie in den Kupferta-
feln habe ich sie bis zur nächsten Abhandlung zurückgestellt, die auch die in
der Akademie schon gelesenen Beobachtungen über die Larven der Seeigel
des Mittelmeers (?) enthalten wird.
Die Metamorphose ist nunmehr durch alle Abtheilungen der wahren
Echinodermen nachgewiesen. Die Sipunculiden sind von den Echinoder-
men auszuschliefsen, sie weichen von ihnen schon in einem die Structur be-
(') Bericht der Verhandlungen der Königl. Preuls. Akademie der Wissenschaften 1849.
p- 331. und 380. Archiv. f. Anat. u. Physiol. 1849. p. 400. und 439.
(*) Eine vorläufige Notiz über die an der Seeigellarve von Derbes bis zur Entwicke-
lung aller Fortsätze, der Wimperepauletten und der Seeigelscheibe angestellten Beobach-
tungen ist im Archiv 1849. p. 112 gegeben.
12
68 Mürrer über die Larven und die Metamorphose
treffenden Hauptcharakter der Echinodermen ab, bei welchen sowohl in
den Bedeckungen als in den Eingeweiden eigenthümlich geformte Kalkbil-
dungen auftreten, die den Sipunculiden überall fehlen. Defswegen ist
auch nicht zu erwarten, dafs man bei der Entwickelung der Sipunculiden
auf solche fundamentale Formveränderungen stofsen wird, wie sie in der
Classe der Echinodermen charakteristisch sind. (')
(‘) Ein auf einen jungen Sipunculus zu deutendes Thier ist mir einmal in Helgoland
vorgekommen, es war 4” lang. Dieser borstenlose mit Mundtentakeln versehene grau-
gelbliche halbdurchsichtige Wurm konnte wegen seiner Gestalt nur auf Sipunculus bezogen
werden, mit welchem er im äufsern vollkommen übereinstimmte. Ein rothes Blut mit run-
den Blutkörperchen führendes Längsgefäls des Körpers verzweigte sich auf die Mundtenta-
keln, in denen die Gefälse Schlingen bildeten.
der Holothurien und Asterien. 69
Erklärung der Abbildungen.
Die verschiedenen Vergrölserungen sind nach den in der Abhandlung angegebenen absoluten
Gröfsen der Objecete zu beurtheilen.
Taf. I. Auricularien mit Kalkrädchen.
Fig. 1. Unreife Auricularia von der Bauchseite.
a Mund, 5 Schlund, c Magen, dDarm, e After.
Fig. 2. Stärkere Vergrölserung der Rückseite.
Fig. 3. Unreife Auricularia schief von der Seite und auf die Bauchseite angesehen.
Bezeichnung dieselbe.
Fig. 4. Dieselbe auf das pyramidale Ende angesehen.
Fig. 5. Auricularia von der Rückseite, f wurstförmige Körper, g röhriger Strang am
Rücken einseitig befestigt, % das daran hängende Bläschen, woraus sich das
Tentakelsystem entwickelt.
Fig. 6. Dieselbe schief auf die Seite und den Rücken angesehen. Bezeichnung die-
selbe.
Fig. 6*. Die Röhre mit dem Bläschen stark vergrölsert.
Fig. 7. Auricularia von der Rückseite. % Der Stern von Blinddärmchen, woraus sich
das Tentakelsystem entwickelt.
Fig. 7*. Ein Kalkrädchen bei stärkerer Vergrölserung.
Fig. 8. 9. 10. Eine Auricularia von verschiedenen Seiten. 8. von der Bauchseite. 9.
schief vom Rücken, 10. von der Seite. g, die Röhre am Rücken mit dem
Stern der Blinddärmchen 2.
Fig. 11. Der Tentakelstern in der zerdrückten Larve bei starker Vergrölserung, g die
Röhre, : Kalkabsätze.
Taf. II. Auricularien und Holothurienpuppen mit Ralkrädchen.
Fig. 1. Auricularia aus der Zeit der Verwandlung. Die Ohren sind eingezogen. Man
erkennt zwei reifenartige Querleisten, ob quere Theile der bilateralen Wim-
perschnur oder kreisförmige Wimperreifen?
Fig. 2. Holothurienpuppe.
Fig. 3. Eine platt gedrückte Holothurienpuppe, bei der die bilaterale Wimperschnur
wieder hervor tritt. Man sieht das Vestibulum % für die Tentakeln ausgebil-
det, und die Kalkabsätze Z für den Kalkring. m der Darm in Verbindung
mit dem Kalkring und Tentakelstern. Bei rn innerhalb des ersten Wimper-
70
Müruer über die Larven und die Metamorphose
reifens ist die Stelle wo später der Aufbruch des Vestibulums für die Tenta-
keln erfolgt.
Fig. 4.a—f Holothurienpuppen in verschiedenen Ansichten.
Fig. 5.
Holothurienpuppe unter einem Glasplättchen, so dals die frühere bilaterale
Wimperschnur wiedererscheint. Bezeichnung wie in Fig. 3.
Die Figuren 6. a c stellen eine schwimmende Holothurienpuppe vor, in Stellun-
gen, wo sich die Wimperreifen, der die Tentakeln enthaltende Theil des Körpers und
die Reste des bilateralen Wimperwulstes unter verschiedenen jedoch schwer verständ-
lichen Ansichten unter dem Mikroskop darstellen.
Taf. III. Holothurienpuppen und junge Holothurien mit Wimperreifen und
Kalkrädchen.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 7.
Fig. 8.
Holothurienpuppe mit Wimperreife, bei welcher unter dem Compressorium
die Stelle, welche zum Aufbruch des Vestibulum der Tentakeln bestimmt ist,
sich vordrängt. a Darm, c Cirkelcanal des Wassergefälssystems, d Bläschen
mit den Doppelkörnern, e Kalkring, f Tentakeln, c Polische Blase.
Junge Holothurie mit 5 Wimperreifen schwimmend. @ Kalkrädchen, & Kalk-
druse.
Eine junge Holothurie mit 5 Wimperreifen 5 Kalkrädchen und einer Kalk-
druse, im kriechenden Zustande.
Junge Holothurie unter einem Glasplättchen.
a Darm, d After, c Cirkelcanal des Wassergefälssystems, d Bläschen mit den
Doppelkörnern, e Kalkring, g Canal mit der halbmondförmig gebogenen
Kalkleiste. % Längsmuskeln. i Kalkdruse.
Eine andere Larve, Bezeichnung dieselbe.
Eine junge Holothurie mit Wimperreifen unter einem Glasplättchen, stärker
vergrößsert. c Cirkelkanal des Wassergefälssystems. c Polische Blase. ec"
5 Äste des Cirkelcanals nach den Tentakeln. d Bläschen mit den Doppelkör-
nern. g Canal mit der halbmondförmigen Kalkleiste. 7% Längsmuskeln.
Kalkring, Bläschen mit Doppelkörnern und Tentakeln.
Ein Stück der Schnur mit Kalkrädchen aus einer Hautwarze der Chirodota
violacea Pet. Fig. 5.* ein Kalkrädchen stark vergrölsert.
Taf. IV. Zweite Auricularia und Holothuria.
Fig. 1— 5. Unreife Auricularien in verschiedener Stellung und bei verschiedener Ver-
Fig. 1.
Fig. 2.
grölserung. Nizza.
Eine Auricularia von der Bauchseite, a Mund, 5 Schlund, ce Magen, d Darm,
e After, f Kalkdruse, g graue Granulation über der Kalkdruse.
Auricularia schief vom Rücken und von der Seite angesehen, durch Wimper-
bewegung schwimmend, Bezeichnung dieselbe. g Röhre vom Rücken abge-
hend, an deren innerm Ende sich die Tentakelanlage entwickelt.
Fig. 3. 4. 5. Ein anderes Exemplar schwimmend, Fig. 3. von der Bauchseite angese-
hen, Fig. 4. vom Rücken, Fig. 5. von der Seite gesehen.
In „ts 5
der Holothurien und Asterien. 71
Fig. 6. Reife Auricularia mit 11 Blasen. Marseille. (Der Darmcanal ist nach den Be-
obachtungen von Nizza verbelsert).
Fig. 7. Holothurienpuppe mit Wimperreifen und Blasen.
Fig. 8
Taf. V.. Hol
Fig. 1
. 9. Junge Holothurie mit Wimperreifen, schwimmend und kriechend.
othurienlarven mit Blasen.
— 3. Drei verschiedene Exemplare, wie sie unter Glasplättchen bei starker Ver-
grölserung erscheinen.
Fig. 4. Holothurienlarve mit freien Tentakeln, @ Darm, ec Cirkelcanal des Wasserge-
Fig. 4
Fig. 5
fälssystems, ce polische Blase, ce 5 Äste des Cirkelcanals zu den Tentakeln,
e Kalkring, f Tentakeln, g Canal mit der Kalkkrone. 7 die seitlichen Blasen,
h die unpare hintere Blase, i die ästige Kalkdruse. % Reste des bilateralen
Wimperwulstes, 7 kreislörmige Wimperreifen.
*
Details aus der vorigen Figur.
. Eine ähnliche Larve unter dem Glasplättchen bei stärkerer Vergrölserung.
Fig. 5* Form eines Theils der Kalkkreuze in der Haut, mit mittlerm Knopf.
Fig. 6. Eine Larve bei geringerer Vergrölserung, unter einem Glasplättchen. Es
sind noch die Reste des bilateralen Wimperwulstes erkennbar. Fig. 6* Details
des hintern Endes. ; ästige Kalkdruse, i graue Granulation. k Reste des bila-
teralen Wimperwulstes.
Taf. VI. Tornaria (Fig. 1 — 7) und wurmförmige Asterienlarve (Fig. 8 — 12).
Fig. 1
. Tornaria von der Seite. & Mund, 5 Schlund, ce Magen, d Darm, e After,
f Muskel, g Röhre am Rücken befestigt. % Dem Alter entgegengesetztes
Ende, wo die beiden halhmondförmigen Pigmentflecke.
Fig. 2. Tornaria von der Bauchseite.
Fig. 3. Desgleichen schief von der Bauchseite.
Fig. 4. Tornaria von der Seite. Fig. 4* Details des dem After entgegengesetzten
Endes mit den halbmond[örmigen Pigmenillecken.
Fig. 5. Tornaria von der Bauchseite.
Fig. 6. Tornaria schief von der Seite. Fig. 6° Ansicht des dem After entgegengesetz-
ten Endes mit den Schleifen der doppelten Wimperschnur, Schlund, f Mus-
kel. % Anschwellung am Ende des Muskels, worauf die Pigmentllecke.
Fig. 7. Details der Eingeweide besonders. Bezeichnung wie in den vorhergehenden
Abbildungen.
Fig. 8. Wurmförmige Asterienlarve bei geringer Vergrölserung von der Rückseite an-
gesehen.
Fig. 9. Dieselbe von der Seite.
Fig. 10. Dieselbe von unten. a Fülschen.
Fig. 11. Ein anderes Exemplar von oben,
Fig. 12. von unten.
Taf. VII. Wurmförmige Asterienlarve (Fig. 1—4), neue Larve von Nizza
(Fig. 9—11.). Bipinnaria asterigera. (Fig. $—8.).
Mürrer über die Larven und die Metamorphose u. s. w.
Fig. 1 und 2. Wurmförmige Asterienlarve, von oben angesehen.
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 7.
Fig. 8.
Fig. 9.
Kalkfıgur bei Comprelsion des Thierchens erscheinend.
Weiter entwickeltes Exemplar von pentagonaler Form, von oben gesehen.
Der Seestern der Bipinnaria asterigera in Verbindung mit der Bipinnaria.
Die Ansicht ist von der Rückseite der Bipinnaria. a Madreporenplatte, d der
durch die Haut des Seesterns durchscheinende Steincanal. 2’ der Cirkelcanal
des Wassergefälssystems, 6" die davon entspringenden Längscanäle der
Arme, % Haut des Seesternes übergehend in die Haut der Bipinnaria.
Der Seestern der Bipinnaria im Zusammenhang mit der Schlundröhre und
Afterröhre, von hinten gesehen. a, 6, wie in der vorigen Figur d Schlund-
röhre der Bipinnaria in den Seestern führend, g Afterröhre.
Schlundröhre und Afterröhre im Zusammenhang mit dem Seestern der Bipin-
naria von der Bauchseite der letztern. « Obere Wimperschnur über der Huf-
eisenförmigen Querfurche, worin der Mund, 3 untere Wimperschnur unter
der Querfurche. ce Mund, d Schlundröhre, e Magen, welcher sich nach den
Armen des Seesterns und dann auch nach der Bipinnaria hin aussackt. f Darm,
so weit er in der Leibeshöhle des Seesternes liegt, mit den Biegungen nach
zweien Armen hin. g frei hervorstehende Afterröhre. A Haut des Seesternes
in die Haut der Bipinnaria übergehend.
Schlund, Magen und Darm allein. Bezeichnung dieselbe.
Die unbestimmte Larve von Nizza. a Maul. 5 Wimperarme. c Röhrchen.
Fig. 10. Dieselbe auf die Fläche angesehen.
Fig. 11. Ein anderes Exemplar mit 4 Röhrchen.
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die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
namentlich des Wismuths.
Von Si
IPA UÜSTAVIR OSB.
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 26. April 1849.]
eeantich lassen sich die Krystallformen sämtlicher Metalle aus drei
Formen ableiten, nämlich dem regulären Octaöder, einem Rhomboeder von
86-88° und einem Quadratoctaäder von 105° 47’ (in den Endkanten). Zu
den octaödrischen Metallen gehören Gold, Silber, Kupfer, Blei; zu den
rhombo&@drischen Antimon, Arsenik, Tellur; zu den quadratoctaödrischen,
so viel man bis jetzt weils, nur das Zinn, bei welchem diefs von Miller (!)
nachgewiesen ist. Das Wismuth wurde bisher immer zu den regulären Me-
tallen gerechnet; diefs ist ein Irrthum, ich habe gefunden, dafs es rhombo-
edrisch sei, und zu derselben Gruppe gehöre, wie Antimon, Arsenik und
Tellur, und dieser Umstand hat mir Veranlassung gegeben, nicht allein die
Formen des Wismuths genauer zu untersuchen, sondern auch die aller übri-
gen rhomboädrischen Metalle, um sie mit denen des Wismuths vergleichen
zu können. — Ich will nun meine über diese Metalle angestellten Untersu-
chungen der Reihe nach anführen.
1) Antimon.
Das Antimon findet sich in der Natur nicht häufig. Es kommt auf
ö
Gängen und Lagern vor und zwar zu Sahla in Schweden, wo es zuerst auf-
gefunden wurde, zu Allemont im Dauphine, Andreasberg im Harz und Przi-
bram in Böhmen, gewöhnlich nur derb, nur in Andreasberg krystallisirt;
aber die derben Massen enthalten grobkörnige Zusammensetzungsstücke
ö ie) ö »
(') Poggendorffs Annalen Bd. 58, S. 660,
Phys. Kl. 1849. K
74 G. Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
die in mehreren Richtungen deutlich spaltbar sind, dagegen die Krystalle
wiederum gewöhnlich sehr zusammengehäuft und schwer erkennbar sind,
so dafs aus den derben Massen die Beschaffenheit der Grundform leichter
zu erkennen ist, als aus den Krystallen. Künstlich kann man das Antimon
wie die meisten der folgenden Krystalle krystallisirt erhalten, wenn man
gröfsere Massen in einem Thontiegel schmilzt, die Masse dann soweit er-
kalten läfst, dafs sich nur an den Seiten und der Oberfläche eine Kruste
bildet, in welche man sodann mit einer glühenden Kohle oder einem spitzen
Instrumente ein Loch macht, und die innere noch flüssige Masse in einen
kleineren Tiegel giefst, mit der man sodann ebenso verfährt. Zerschlägt
man nun die erhaltenen Krusten, so findet man die inneren Seiten mit Kry-
stallen besetzt. Die auf diese Weise beim Antimon erhaltenen Krystalle
sind jedoch nur klein, und ihre Flächen sind, wie diefs bei den auf die an-
gegebene Weise dargestellten Krystallen gewöhnlich der Fall ist, treppen-
arlig vertieft, was die genauere Bestimmung der Winkel erschwert. Läfst
man die geschmolzene Masse des Antimons ruhig erkalten, so enthält sie oft
sehr grofskörnige, deutlich spaltbare Zusammensetzungsstücke, während
sich auf der Oberfläche Gruppirungen undeutlicher Krystalle bilden, die
den gestrickten Gestalten Werner’s entsprechen.
Haüy ('!) hielt noch die Krystallform des Antimons für nicht ver-
schieden von der Form, die man seit Rome de Isle allen Metallen zuzu-
schreiben gewöhnt war, nämlich der regulären. Er untersuchte nur die
Spaltungsrichtungen der geschmolzenen und langsam erkalteten grofskörni-
gen Massen, und bemühte sich zu zeigen, dafs sie sowohl parallel den Flä-
chen des Octaöders als auch des Dodeca@ders gehen, so dafs deren also im
Ganzen 10 stattfinden. Mohs (?) ist der erste gewesen, der dierhombo&drische
Form des Antimons erkannt kat. Er beschrieb sonst ebenfalls nur die der-
ben, körnigen Massen, und zeigte, dafs die Spaltungsflächen wohl der Zahl
nach so viele vorkommen, wie Haüy angegeben, dafs sie aber parallel einem
Rihomboäder von 117° 15, dem zweiten spitzeren Rhomboeder desselben,
dem zweiten sechsseitigen Prisma und der geraden Endfläche gehen und unter
sich von sehr verschiedener Vollkommenheit sind. Die Spaltungsfläche,
(') Traite de Mineralogie sec. @d. t. 4, p.281; 1822.
'@) Anfangsgründe der Mineralogie Th. 1, S.496. 1824.
namentlich des Wismuths. 75
parallel der Endfläche, ist nach ihm die deutlichste und sehr vollkommen,
die Spaltungsflächen nach dem Hauptrhomboöder sind zwar noch deutlich
und leicht zu erhalten, doch weniger glänzend, und die nach dem zweiten
spitzeren Rhomboöder schwieriger zu erhalten und unterbrochen; von de-
nen, parallel dem zweiten Prisma finden sich gewöhnlich nur schwache Spu-
ren, die schwer wahrzunehmen sind. Da die von Mohs angegebenen Win-
kel nur für ungefähre ausgegeben werden (!), so war es sehr schätzenswerth,
dafs Marx diese Winkel genauer zu bestimmen suchte (?). Er mafs den
Winkel der Endfläche zur Rhömboederfläche und fand ihn in einem Mittel
zu 142° 15’, daraus ergiebt sich der Winkel des Rhomboeders zu 116° 59,
was von dem Mohs’schen Winkel um 16 Minuten abweicht. Von den Spal-
tungsflächen konnte er nur die vier vollkommneren, parallel der Endfläche
und den Flächen des Hauptrhomboeders wahrnehmen, die übrigen unvoll-
kommneren nahm er daher nicht an, und glaubte in der Annahme derselben
von Mohs nur eine Connivenz gegen die Autorität Haüy’s zu sehen.
Marx untersuchte auch die auf die eben angegebene Weise durch
Schmelzung dargestellten Krystalle, die er von der Gröfse einer viertel bis
zu einer halben Linie erhielt, und zeigte, dafs sie stets das erste, spitzere
Rhomboöder des angegebenen, also Rhomboeder von 87° 28’ wären, deren
Winkel daher von denen des Hexaöders so wenig abwichen, dafs die frü-
here Verwechselung damit wohl verzeihlich gewesen wäre. Diese Krystalle
sind entweder einzeln aufgewachsen, oder sie liegen in paralleler Stellung
den drei Endkanten eines Rhomboäders entlang, so also dafs die Spaltungs-
richtungen in allen in paralleler Richtung hindurch gehen.
Hessel, der in Leonhard’s Jahrbuch einen Auszug der Arbeit von
Marx giebt (°), führt dabei an, dafs die von ihm beobachteten künstlichen
Krystalle Combinationen des Hauptrhomboeders von 116° 50’ mit dem ersten
spitzeren und der geraden Endfläche gewesen wären, die durch Vorherrschen
der letztern Fläche eine tafelförmige Gestalt und aufserdem einen Durch-
messer von 47 Linie bei einer Dicke einer halben Linie gehabt hätten. Übri-
() A.a. 0. zweite Ausgabe Th. 2, S. 474.
(*) Journal für Chemie und Physik von Schweigger-Seidel 1830 B. 59, S. 211.
(°) Neues Jahrbuch der Mineralogie etc. von v. Leonhard u. Bronn 1833 $. 56.
(°) Neues Jahrbuch der Mineralogie etc. von v.Leonhard u. Bronn 1848 S. 310.
:K 2
76 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
gens konnte auch er nur die von Marx angegebenen Spaltungsflächen be-
obachten.
Die sehr complieirten Krystalle von Andreasberg sind bisher weder
von Mohs noch einem andern Mineralogen untersucht worden, auch er-
schwerte der geringe Glanz und die unebene Beschaffenheit der Flächen ihre
genaue Bestimmung. In der neuesten Zeit sind sie wieder häufiger und wie
8
es scheint schöner als früher vorgekommen, und dieses neue Vorkommen
ist von Fr. Römer in Clausthal beschrieben. Hiernach erscheinen die Kry-
stalle von einer sehr bedeutenden Ausbildung, denn aufser den von Mohs
und Marx angegebenen Formen, dem Hauptrhombo&der, dem zweiten spitze-
ren Rhombo&der, dem zweiten sechsseitigen Prisma, und der geraden End-
fläche, die Römer mit den Buchstaben A, f, d, c bezeichnet, werden hier
noch angeführt das erste stumpfere und das erste spitzere Rhomboeder d
und o, das erste Prisma /, und ein Skalenoöder, ?, zwischen dem ersten
und zweiten spitzeren Rhomboöder, so dafs also die Krystalle Combinatio-
nen von 8 einfachen Formen sind. Aber die Flächen des ersten stumpferen
Rhomboeders waren durch 2 sich in der Mitte kreuzende Furchen in 4
Theile getheilt, daher Römer annehmen zu dürfen glaubte, dafs die Kry-
stallform auf einer Zwillingsbildung beruhe und die mit einander verwach-
und 27’ bestehen,
’
senen Individuen nur aus den drei Rhomboedern A, %r
wobei die Flächen des ersten spitzeren Rhomboeders von 4 Individuen in
eine Ebene fallen. Die Krystalle erreichen nach Römer eine Gröfse von
8 Linien.
Ich habe sowohl die natürlichen als auch künstlich dargestellten der-
ben Massen und Krystalle untersucht. Bei den derben Massen von Cha-
lanches und Sahla, sowie auch bei dem gewöhnlich im Handel vorkommen-
den Antimon sind die körnigen Stücke so grofs, dafs man die Spaltungsflä-
chen sehr gut untersuchen kann, und ich habe sehr gut alle die von Mohs
angegebenen gesehen, und von den verschiedenen Graden der Vollkom-
menheit, wie Mohs sie anführt, so dafs ich den Angaben von Marx und
Hessel, die sie zum Theil abläugnen, nicht beipflichten kann.
Von den künstlichen Krystallen besitze ich schon seit längerer Zeit
ein sehr schönes Präparat, das ich der Güte des Hrn. Dr. Elsner verdanke,
der es dargestellt hatte, und der mir nun auch auf meine Bitte die übrigen
von ihm dargestellten Präparate des hiesigen Gewerbe-Instituts mittheilte.
namentlich des Wismuths. 77
Die Krystalle haben, wie die von Marx beschriebenen Krystalle, die Form
des ersten spitzeren Rhomboäders ohne alle weitere Abänderungsflächen,
und haben auch ebenso die angegebene Gröfse. Ihre Flächen sind nicht
sehr glänzend, aber sie sind immer noch glänzender als die dem Hauptrhom-
boöder parallel gehenden Spaltungsflächen, welche Marx gemessen hat, da-
her ich es nicht für überflüssig hielt, sie auch zu messen. Ich stellte die
Messung bei zwei Krystallen an, bei dem einen mafs ich einen Seitenkanten-,
bei dem andern einen Endkantenwinkel, und erhielt folgende Resultate:
1 2.
ageltz: 2° 24t'
- 134 2. 23
6 en)
- 13 - 26
ST. - 28
el - 25
3 92% 354
92 515 ae
Die Mittel beider Messungen weichen demnach um 33’ von einander
ab, daindessen der Krystall, welcher zur zweiten Messung gedient hatte,
bessere Bilder reflectirte, als der erstere, so ziehe ich es vor, die erste Mes-
sung gänzlich zu verwerfen, als aus beiden das Mittel zunehmen. Der somit
gefundene Endkantenwinkel von 87° 35’ liegt zwischen den Winkeln von 87°
39 und 87° 28’, die Mohs und Marx erhalten haben, nähert sich aber mehr
dem ersteren. Obgleich er der Beschaffenheit der Flächen halber auch nicht
für ganz genau zu halten ist, so kann ich ihn aus den angegebenen Gründen
dem von Marx erhaltenen nicht nachstellen, wenngleich derselbe anführt,
dafs seine Angabe einen Fehler von nur höchstens 2 Minuten einschliefsen
möchte. Es scheint mir ferner zweckmäfsig, dieses Rhomboöder mit dem
Endkantenwinkel von 87° 35 als Hauptrhomboeder anzunehmen, da es bei
den künstlichen Krystallen in der Regel allein vorkommt, und auch bei den
übrigen rhombo&drischen Metallen, wie sich später ergeben wird, in der
Regel herrscht. Nimmt man nun bei diesem einen Winkel von 87° 35’ in
den Endkanten an, so wird
die Hauptaxe = 1,3068
78 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
und es betragen die Winkel
von R:R in der Endkante ... 87° 35
” 2r: 2r ( ; ) Pr 5 2. 69723
„+ Ar:$r „9 „ UMTS
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Bei dem einen der erwähnten Präparate sitzen die Rhomboeder ein-
zeln auf der Unterlage, bei dem andern sind sie dagegen auf eine bemer-
kenswerthe, schon von Marx angedeutete Weise aufeinander gehäuft. Eine
Reihe Rhomboeder nämlich, nach oben stetig kleiner werdend, sitzen in
paralleler Stellung mit ihren Endecken aufeinander; jedes derselben ist aber
mit Schaalen von Rhomboedern bedeckt, die aber bei den oberen in der
Mitte der Flächen nicht mehr zusammenhängen, und nach den Seitenecken
zu, immer kleiner werden, wie letzteres die Fig. 15 angiebt. Gewöhnlich
sind die Schaalen in der Richtung der horizontalen Diagonalen der Flä-
chen nicht ausgebildet; sie zerfallen nun nach den Seitenecken zu in im-
mer kleiner werdende Rhombo&der, die in der obern Endkante und den
zwei unteren Seitenkanten der Seitenecken anliegen, und besonders in der
Richtung der horizontalen Diagonalen tiefe Rinnen bilden. Die nach einer
Seitenecke auslaufenden Rhomboöder bilden auf diese Weise dreikantige,
in der Mitte der Flächen vertiefte Spitzen, von denen nun 3 von einem Mit-
telpunkte sich so verbreiten, dafs ihre Axen in einer und derselben Ebene
liegen und unter Winkel von 120° aufeinanderstofsen (Fig. 16). Dergleichen
dreistrahlige Gruppen liegen nun in vertikaler Richtung aufeinander, werden
nach oben immer kleiner (Fig. 17) und die ganze Gruppe erscheint so als
die Endecke eines spitzen Rhomboäders, das in der Richtung der schiefen
Diagonalen eingesunken ist. Es ist also dieselbe Gruppirung, die so schön
im regulären System z.B. bei dem gediegenen Silber oder dem Speisko-
balte vorkommt, und die Werner als besondere äufsere Gestalt mit dem
(') Die Form 2r', die beim Wismuth vorkommt, ist beim Antimon nicht beobachtet, wie
sich weiter unten ergeben wird, und hier nur desVergleiches halber mit dem Wismuth aufgeführt.
namentlich des Wismuths. 79
Namen der gestrickten bezeichnet hat (1). Dafs übrigens alle einzelnen
kleinen Krystalle, die die ganze Gruppe bilden, untereinander parallel sind,
sieht man daran, dafs ihre entsprechenden Flächen alle zu gleicher Zeit spie-
geln, und die Spaltungsflächen, namentlich die parallel der geraden End-
fläche, in gleicher Richtung durch alle hindurchgehen.
In der Hoffnung, dafs das neue Vorkommen von Antimonkrystallen
in Andreasberg, dessen Römer erwähnt, besser mefsbare Krystalle darbie-
ten konnte, hatte ich mich an Hrn. Römer gewandt mit der Bitte, mir in
diesem Falle dergleichen Krystalle zur Messung zu schicken. Obgleich nun
auch diese Krystalle sich zu genauen Messungen nicht eigneten, so hatte
Hr. Römer doch die Güte mir auf alle Fälle zu schicken, was er besafs, und
dabei auch den fraglichen Zwillingskrystall, den er beschrieben. Wenn ich
so nun auch die Krystalle nicht zu genauen Messungen benutzen konnte, so
hatte ich doch Gelegenheit, diesen merkwürdigen Krystall selbst untersu-
chen zu können und es zeigte sich nun bald, dafs der Krystall allerdings
eine Zwillingsgruppe sei, und zum Theil auch so wie Hr. Römer vermuthet
hatte. Die Flächen, welche Römer für die geraden Endflächen und die
Flächen von 4r genommen und mit e und / bezeichnet hat (?), sind nun die
geraden Endflächen von lauter verschiedenen Krystallen; aber wenngleich
der Krystall mit einem Ende aufgewachsen ist, so sieht man doch, dafs sich
von diesen Flächen nicht 8, wie Römer gezeichnet hat, sondern nur 6 fin-
den. Die mit in der Richtung der Diagonalen laufenden Furchen versehenen
Flächen, die Flächen o von Römer, sind die Flächen des würfelähnlichen
oder des Hauptrhomboöäders, die Flächen d darüber, die Flächen des zwei-
ten stumpferen Rhomboeders ';r, die bisher beim Antimon noch nicht be-
schrieben sind, und das Ganze ist demnach eine Gruppirung von 6 Kry-
stallen, von denen je zwei immer mit einer Fläche, die rechtwinklig auf
() In den gestrickten äulseren Gestalten bestehen die einzelnen, das Ganze bildenden Kry-
stalle immer nur aus einfachen Krystallen, die in paralleler Richtung aufeinander gruppirt
sind, und sie unterscheiden sich dadurch von den regelmälsig baum-, blech- und blatt-
förmigen, zahn- und drathförmigen Gestalten, die immer nur aus einer Aneinander-
reihung von Zwillingskrystallen in paralleler Richtung nach bestimmten Linien, den Dia-
gonalen nämlich der Hexa@derllächen, die in der Zwillingsebene liegen, bestehen. (Vergl. Reise
nach dem Ural, dem Altai und dem Kaspischen Meere von Gustav Rose Th. 1, S. 402).
(*) Vgl. die Fig. zu Römer's Abhandlung a.a. O.
S0 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
einer Fläche des ersten stumpferen Rhomboeders steht, miteinander ver-
bunden sind; die Zwillingsebene ist daher diese Fläche selbst, es ist die
Fläche A, die auch von Römer gezeichnet ist, da sie sich an andern Kry-
stallen, die Römer gesehen hat, findet, jedoch an dem übersandten Krystall
nicht vorkommt. Es ist dasselbe Gesetz, welches so ausgezeichnet beim
Rothgültigerz vorkommt und von Mohs und Haidinger beschrieben ist; doch
sind es hier gewöhnlich nur 4 Individuen, die mit einander verwachsen,
ein mittleres, an deren dreierlei Endkanten 3 andere angewachsen sind,
nicht 6 wie in diesem Fall. Es bilden hier gewissermafsen 2 Krystalle oder
ein Zwillingskrystall den Mittelpunkt, um welchen sich die andern 4 Kry-
stalle herumgelegt haben, je 2 an die 2 freien Endkanten von jedem der
mittleren Krystalle. In der beigefügten Zeichnung, Fig. 10, sind die 6 In-
dividuen leicht an den kleinen, dreieckigen Flächen c zu erkennen, welches
die geraden Endflächen der 6 Individuen sind; die mittlere ce der 3 vorderen
c Flächen mit der ihr gegenüberliegenden hintern (c’), bezeichnen die mitt-
leren Individuen, die beiden andern vordern Flächen c, und c,, die an den
freien Endkanten des vordern mittleren Individuums, die 2 andern hinteren
Flächen (c‘, und c/,) die an den freien Endkanten des hintern mittleren In-
dividuums angewachsenen Individuen. Von den Hauptrhomboöderflächen,
die rechts und links zwischen den vordern und hintern Individuen liegen,
fallen vier in eine Ebene; von denen, die vorn und hinten zwischen den
rechten und linken Individuen liegen, drei. Die ersteren, aus den Haupt-
rhomboöderflächen von 4 Individuen bestehenden Flächen bilden eine Art
Deltoid (dgfh in Fig. 8) () mit zweierlei Seiten aber nur zweierlei Win-
keln, nämlich mit 3 Winkeln von 87° 0,5 und einem Winkel von 98° 58',5.
Der erste Winkel ist derselbe, wie der spitze ebene Winkel des Hauptrhom-
boöders; die Linien de und ef, in welchen die Individuen AR, und A, mit
R, und AR, oder auf der andern Seite A, und /i, mit A’, und Zi, aneinan-
dergrenzen, fallen in eine gerade Linie, dagegen die Linien ge und eh, in
(') Die gemeinschaftliche Fläche ist hier in horizontaler Projection, also mit unverkürzter
Länge der Seiten gezeichnet. dgfA ist ihre Gestalt, wenn, wie in der Natur gewöhnlich, die
mit einander verbundenen Krystalle Combinationen des Hauptrhombo&@ders mit —r und der ge-
raden Endfläche, oder mit dieser allein sind, und die Flächen dieser Formen bis zu den Seiten-
kanten der Hauptrhombo&der reichen. ik/mn würde ihre Gestalt sein, wenn die Krystalle nur
aus dem Hauptrhombo@der ohne Combination mit anderen Formen beständen.
N | uch 5 kcaree
Y\
/ N
4
t
mn N et A \
ren 0 "
namentlich des Wismuths. Si
welchen R, und AR, mit R, und R/,, oder auf der andern Seite R, und R',
mit R, und AR‘, aneinander gränzen, unter einem sehr stumpfen Winkel von
174° 1’ zusammenstofsen. Die Endkanten von AR eines jeden Individuums
sind nicht zu sehen, da sie durch die Flächen von 1, r verdrängt sind. Trä-
ten die Flächen von 4,7’ des ersten stumpferen Rhomboöäders hinzu, so wür-
den sie die sechsflächigen Ecken, in welchen je 2 Individuen aneinander
gränzen, abstumpfen, und die Abstumpfungsflächen, obgleich sie zwei In-
dividuen angehören, würden stets eine gerade Ebene bilden, da diese die
Zwillingsebene ist.
Diese Zwillingsgruppen, die aus Verwachsungen von 6 Individuen be-
stehen, scheinen erst in der neuern Zeit vorgekommen zu sein, sie finden
sich in den Andreasberger Antimonkrystallen der Königlichen Sammlung
nicht, und ebenso wenig auch unter den übrigen Krystallen, die Hr. Römer
die Güte hatte mir zu schicken. Unter diesen kommen indessen auch nur
Zwillingsgruppen vor, aber sie sind stets nur Verwachsungen von 4 Indivi-
duen, die dadurch von einander verschieden sind, dafs sie entweder zu
dreien sich um ein mittleres Individuum gruppiren, oder ringförmig und
einer Fläche des Hauptrhomboöders parallel aneinander schliefsen. Die
erste Art der Gruppirung ist Fig. 11 (!), die zweite 12 u. 13 (2) dargestellt.
Die Flächen des zweiten stumpferen Rhomboöders fehlen hier gänzlich oder
erscheinen nur als schwache Abstumpfungsflächen der hier stets herrschen-
den geraden Endflächen. Die Neigung der Flächen c des einen Individuums
gegen c des andern ist gleich der doppelten Neigung der Endkante des
Hauptrhombo&ders zur Hauptaxe, und beträgt also 105° 56. Bei der ring-
förmigen Gruppirung rücken die Krystalle gewöhnlich mehr aneinander,
wie Fig. 13 zeigt; die allen gemeinsame Rhomboöderfläche verschwindet fast
gänzlich, und die Krystalle erhalten ein octa@derähnliches Ansehen mit 3
(') Die gerade Endfläche des mittleren Individuums ist hier mit c, bezeichnet; von den 3
seitlichen Rhomboedern liegen die Endflächen von zweien, c, und ce, vorn, von dem dritten
hinten. Die Lage des mittleren Individuums ist in der Zeichnung dieselbe, wie in Fig. 10 die
von dem hinteren mittleren Individuum, nur dals hier die Kanten, die bei Fig. 10 nach hinten
liegen, hier nach vorn gezeichnet sind und umgekehrt.
(*) Die 4 Individuen haben dieselbe Lage, wie in Fig. 10 das vordere und mittlere Indivi-
duum und die beiden links liegenden, seitlichen Individuen; nur ist die Figur so gewendet, dals
die den 4 Individuen gemeinschaftliche Hauptrhomboäderfläche nach oben gekehrt ist.
Phys. Kl. 1849. ı®
82 G.Rosz über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
Kanten von 105° 46, und einer Kante von 114° 26’, in welcher das erste
und vierte Individuum zusammenstofsen. Zuweilen legt sich hier noch ein
fünftes Individuum dazwischen, welches mit dem ersten unter einem sehr
stumpfen einspringenden Winkel von 172° 0’ zusammenstöfst.
2) Arsenik.
Das Arsenik kommt in der Natur gewöhnlich derb und feinkörnig
vor; ich habe es nie krystallisirt gesehen, doch scheint Breithaupt auch
natürliche Krystalle untersucht zu haben. Künstlich kann man es durch
Sublimation in ziemlich grofsen Krystallen erhalten.
Die Krystalle des Arseniks sind zuerst von Breithaupt (') gemessen
und beschrieben worden. Er giebt als Formen desselben an ein spitzes
Rhomboöder A, dessen Winkel er annähernd zu 85° 26’ bestimmt, das erste
stumpfere desselben 47’ mit einem Winkel von 114° 26’, ein noch stumpfe-
res erster Ordnung, das er für das zweite stumpfere };r hält, aber nicht hat
messen können, und die gerade Endfläche. Die Krystalle sind nach ihm
sehr vollkommen nach der Endfläche spaltbar, aufserdem nach den Rhom-
boedern R und 47‘. Andre Beschreibungen sind mir nicht bekannt geworden.
Ich besitze ein Stück krystallisirten Arseniks, das sichtlich durch
Sublimation dargestellt ist. Die Masse besteht aus stängligen Zusammen-
setzungsstücken, die aber an den Enden in Krystallen auslaufen, welche 1-
3 Linien grofs sind. Die Krystalle sind zwar graulichschwarz angelaufen,
haben dessenungeachtet aber noch hinreichenden Glanz, um sich ziemlich
gut messen zu lassen; die kleineren sind Combinationen des spitzen Rhom-
boöders mit der geraden Endfläche (Fig. 2). Die gröfseren enthalten noch
die Fläche eines spitzen Rhomboäders zweiter Ordnung (a: a: 00a:3,c) (?)
und stellen so sechsseitige Tafeln mit zugeschärften Randflächen dar (Fig. 3),
denn immer herrschen die geraden Endflächen vor. Parallel dieser Fläche
sind die Krystalle überaus vollkommen spaltbar, noch vollkommner als An-
timon, und die Spaltungsflächen sind spiegelflächig glänzend und vollkom-
(') Schweigger Journal f. Chem. u. Phys. 1828, B.52, S. 167.
(°) Diese Fläche ist mit der des ersten spitzeren Rhomboeders, die ich bei dem Arsenik
nicht beobachtet habe, nicht zu verwechseln. Die Combinationskanten mit R sind untereinan-
der wohl beinahe, aber nicht vollkommen parallel; sie convergiren bestimmt nach oben.
namentlich des Wismuths. 83
men eben; aufserdem fand ich die Krystalle noch spaltbar nach den Flä-
chen von 7’, die ich als Krystallflächen selbst nicht wahrgenommen habe;
die Spaltbarkeit nach diesen Flächen ist von der Vollkommenheit, wie die
nach denselben Flächen beim Antimon; die von Breithaupt beobachteten
Spaltungsflächen nach A habe ich nicht wahrgenommen.
Die Krystalle sind aber gewöhnlich mit andern regelmäfsig verwach-
sen, und bald mit diesen nur aneinander, bald durcheinander gewachsen.
Das Gesetz ist dasselbe wie beim Antimon, die Zwillingsebene eine Fläche
von 47’; die durcheinandergewachsenen Krystalle haben daher das Ansehen
von Fig. 5. Die geraden Endflächen ce der beiden Individuen bilden bei
ihnen tiefe einspringende Winkel von abwechselnd 102° und 78°, an den
stumpfen Winkeln liegen die Flächen von A, von denen die an der Zwil-
lingsgränze anliegenden Flächen von beiden Individuen in eine Ebene fallen,
während an den scharfen einspringenden Winkeln die Flächen von 3,7" lie-
gen, und an der Zwillingsgränze stumpfe ausspringende Winkel bilden.
Träten die Flächen von 4 r’ hinzu, so würden sie die Kanten zwischen ‘,r’
und c abstumpfen, und die, welche dem stumpfen einspringenden Winkel
von e und c, beider Individuen zunächst liegen, in eine Ebene fallen. Sind
die Individuen nur aneinander gewachsen, so sind sie bald mit der Fläche
von %r', bald mit einer darauf senkrechten Fläche verbunden; im erstern
Fall stofsen die geraden Endflächen unter dem spitzen von 78°, im letztern
Falle unter dem stumpfen Winkel von 102° zusammen.
Dafs die Krystalle so häufig in Zwillingskrystallen vorkommen, ist
ein sehr glücklicher Umstand für die genaue Bestimmung ihrer Winkel, denn
da die Krystalle parallel der Endfläche so vollkommen spaltbar sind, so
kann man bei den Zwillingskrystallen durch Benutzung der vollkommenen
Spaltungsflächen die Winkel der Endfläche des einen Individuums gegen die
Endfläche des andern messen, und erhält so alle Data zur Bestimmung der
übrigen Winkel. Da die Flächen der Krystalle wohl glatt, aber angelaufen
sind, so würde man diese selbst nicht mit grofser Genauigkeit messen
können.
Ich habe aber jene Winkel bei 3 Krystallen gemessen, und jede Mes-
sung mehrfach wiederholt. Die Resultate waren folgende:
84 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
1: 2. 3
101° 59’ 102° 1
102 0- 102 3
(e} A, 1 1
102 Er - 0% nz
- 41- N u
- 2 - 1— - 2—
2 2
101 57— 101 59 - 44
1 1
102 is 102 om - 1
- Din: - 1m - 2
- 4 EN - 0
Mittel 102 1 102 0,22 102 2—
Die zweite Messung war die beste, da die Flächen bei ihr am glän-
zendsten waren, auch entfernte sich bei ihr die abweichendste Messung von
dem Mittel nur um 1,22’, während sich diese bei der ersten Messung um %/,
bei der dritten um 2 entfernte. Legt man daher die zweite Messung für die
weitere Berechnung der Winkel zum Grunde, so erhält man für
die Axe c den Werth 1,4025
und es betragen die Winkel
von AR:R Endkante 85° 4
Rs —r Sr —_ 113 59
"> ur —r —_ 13535
taeswera so < 121 42
EN 141 0
er: änraae 112 23
3) Tellur.
Das gediegene Tellur ist bis jetzt nur zu Facebay bei Zalathna in Sie-
benbürgen gefunden worden, wo es derb und eingesprengt in Quarz auf
Gängen vorkommt. Es ist gewöhnlich feinkörnig, aber der begleitende Quarz
ist voller kleinerer oder gröfserer Höhlungen, die an den Wänden mit, wenn
auch nur äufserst kleinen, doch stark glänzenden Krystallen, die zwischen
den hier auch nur kleinen Quarzkrystallen sitzen, besetzt sind (1). Künstlich
(') In diesen Höhlungen, sowie auch in den derben körnigen Massen des Tellurs sitzen
auch kleine Krystalle von Gold in der Form von dem Ikositetraäder (3a :3a : a), sowie auch
von Eisenkies, und daher schreibt sich auch wohl der kleine Gehalt an Gold und Eisen, den
Klaproth in dem gediegenen Tellur angiebt, und der daher demselben nur beigemengt ist. Das
reine gediegene Tellur sublimirt im Kolben vor dem Löthrohr ohne den mindesten Rückstand.
namentlich des Wismuths. 85
kann man das Tellur auf mehrere Weise krystallisirt erhalten, theils durch
Schmelzung auf dieselbe Weise wie das Antimon, theils durch freiwillige
Zersetzung einer Auflösung von Tellurkalium oder Tellurammonium in
Wasser.
Die Krystalle des gediegenen Tellurs wurden schon von W.Phillips (')
untersucht und drei- und einaxig beschrieben, und es ist daher hierdurch
vielleicht zuerst bewiesen worden, dafs die Metalle auch in andern Formen
als den regulären krystallisiren können. Phillips beschreibt die Krystalle als
Combinationen eines sechsseitigen Prisma mit einem Hexagondodecaöder
gleicher Ordnung und der geraden Endfläche. Die Neigung der Flächen des
sechsseitigen Prisma zu denen des Hexagondodecaeders giebt er zu 147°
36' an. Rücksichtlich der Structur führt er an, dafs es spaltbar wäre, doch
konnte er bei der Kleinheit der Krystalle Zahl und Richtung der Spaltungs-
flächen nicht bestimmen.
Breithaupt (*) beschreibt die Krystalle als Combinationen eines stum-
pfen Rhomboöders von 115° 12°, das dem des Arseniks ähnlich ist, mit
der geraden Endfläche, ohne aber eigene Winkelmessungen anzugeben, da
die von ihm angeführten nach den Angaben von Phillips berechnet sind.
Die Spaltbarkeit der Krystalle ist nach ihm, wie beim Arsenik, nur sind die
Spaltungsflächen nach dem Rhombo&der undeutlicher, die nach der geraden
Endfläche dagegen sehr vollkommen.
Hausmann (?) untersuchte künstliches aus dem Tellur-Wismuth re-
ducirtes Tellur, das durch den verstorbenen Bergrath Wehrle in Schemnitz
dargestellt war. Die untersuchte Masse war derb, bestand aber aus grob-
körnigen, deutlich spaltbaren Zusammensetzungsstücken. Die Spaltungs-
flächen fand er ganz verschieden von Breithaupt, den Flächen eines regu-
lären sechsseitigen Prisma und der geraden Endfläche parallel; die erstern
waren sehr vollkommen, die leztern dagegen nur unvollkommen.
Ich habe das natürliche und das künstlich dargestellte Tellur unter-
sucht; von dem ersteren kleine Krystalle aus den Höhlungen des Quarzes
von einem Stücke der hiesigen Königlichen Sammlung, von dem letzteren
€) Elementary introduction to the knowledge of mineralogy, London 1823, p. 327.
(*) A.a. 0. S.16s.
(°) Handbuch der Mineralogie Th. II, B. 1, S. 16.
S6 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
sowohl durch Schmelzung des aus Tellurwismuth reducirten Tellurs dar-
gestellte Krystalle, die ich schon vor längerer Zeit von Wehrle, von dem
auch das von Hausmann untersuchte Tellur stammte, erhalten, als auch
durch Zersetzung von Tellurkalium und Tellurammonium gebildete Kry-
stalle. Auf leztere hatte mich zuerst Mitscherlich aufmerksam gemacht und
mir einige Krystallchen gegeben, die er aber selbst von Wöhler erhalten
hatte, der mir auf meine Bitte nun auch gern seinen ganzen kleinen Vorrath
zur Untersuchung schickte.
Die Krystalle des gediegenen Tellurs haben die von Phillips beschrie-
bene und Fig. 7 dargestellte Form; sie sind zwar nur äufserst klein, fast
mikroskopisch, doch waren die Flächen so glatt und so stark glänzend, dafs
ich wenigstens einen Krystall mit ziemlich grofser Genauigkeit messen konnte.
Namentlich war eine Seitenfläche des Prisma, und die darauf oben, weni-
ger die darauf unten aufgesetzte Zuspitzungsfläche mefsbar. Ich erhielt fol-
gende Resultate:
1) Neigung der Seitenfläche zur oberen Zuspitzungsfläche.
2) Neigung der Seitenfläche zur unteren Zuspitzungsfläche bei demselben
Krystall.
3) Neigung der Seitenfläche zu einer darauf aufgesetzten Zuspitzungsfläche
bei einem zweiten Krystall.
1 2. 3
OL [o) 31 A) 17
BB 525 330.07 32. 59
@ 4 - 6 33022
3 3
- 4 3 Zi
Fe 33 3— SL
>=
az
2
1
E Fer
- 5z
5
3
- 3—
33 4,425
Die Messungen 2. und 3. sind wegen der undeutlich reflectirten Bil-
der für die Feststellung der Winkel des Tellurs nicht zu benutzen, indessen
zeigt die Messung 2. doch an, dafs die auf einer Seitenfläche oben und unten
namentlich des Wismuths. 87
aufgesetzten Zuspitzungsflächen von einerlei Art sind. Die Neigung der Sei-
tenflächen gegeneinander konnte ich bei mehreren Krystallen und zwar sehr
gut messen; ich habe bei ihnen stets einen Winkel von 120° erhalten, daher
ich das Einzelne nicht anzuführen brauche. Die Spaltbarkeit konnte ich
wie Phillips bei der Kleinheit der Krystalle und der körnigen Zusammen-
setzungsstücke nicht untersuchen.
Betrachtet man die Krystalle des gediegenen Tellurs als eine Com-
bination des Hauptrhomboeders und seines Gegenrhomboeders mit dem er-
sten sechsseitigen Prisma, wozu man wegen der Analogie mit den übrigen
rhomboedrischen Metallen als auch wegen der übrigen Krystallformen des
Tellurs berechtigt ist, und berechnet man nach der ersten angeführten Mes-
sung die Winkel des Hauptrhomboeders, so betragen diese in den End-
kanten desselben 86° 57’, so dafs hiernach also die Winkel der Grundform
des Tellurs von der des Antimons nur um wenig mehr als einen halben
Grad verschieden sind.
Die künstlichen durch Schmelzung dargestellten Krystalle safsen in
einer Höhlung einer derben Masse, die aus grobkörnigen Zusammensetzungs-
stücken bestand, und auf der Oberfläche, wie das geschmolzene und erstarrte
Antimon, deutlich gestrickt war. Die Krystalle waren Rhomboöder und zwar
dieselben, wie die, welche beim Antimon durch Schmelzung erhalten wer-
den, also wie Fig. 1; sie waren auch nicht viel gröfser als diese, aber ihre
Flächen noch weniger glänzend; sie konnten daher nur annähernd mit dem
Wollaston’schen Goniometer gemessen werden; ich erhielt dabei Winkel
von 85 bis 86°. So unvollkommen diese Messungen sind, so geht doch
daraus hinreichend hervor, dafs die Grundform des gediegenen Tellurs und
der durch Schmelzung dargestellten Krystalle dieselbe ist. Die Spaltbarkeit
dieser Krystalle wie auch der derben Masse fand ich genau so, wie sie Haus-
mann bei dieser beschrieben hatte, sehr vollkommen nach den Flächen eines
sechsseitigen Prisma und nur unvollkommen nach der geraden Endfläche,
aber ich konnte bei den Krystallen auch ausmachen, dafs die Spaltbarkeit
nach den Flächen des ersten sechsseitigen Prisma oder desjenigen geht,
welches bei den Rhomboedern die Abstumpfungsflächen der Seitenecken
bildet, und welches auch bei den Krystallen des gediegenen Tellurs vor-
kommt, daher nach dessen Flächen wahrscheinlich auch ebenso eine Spalt-
barkeit statt finden wird, die nur bei der Kleinheit der Krystalle nicht wahr-
ss G.Rosz über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
genommen werden konnte (1). Eine Spaltbarkeit nach Rihomboederflächen
habe ich gar nicht wahrnehmen können; da sie indessen Breithaupt angiebt,
so ist wohl anzunehmen, dafs ich sie wegen Kleinheit der Krystalle und der
Zusammensetzungsstücke nicht gesehen habe, wenn die Annahme von Breit-
haupt auf keiner Verwechslung mit den Spaltungsflächen nach dem Prisma
beruht, von denen Breithaupt nichts erwähnt.
Die Krystalle aus dem Tellurkalium waren nadelförmig und stellten,
wie Fig. 9 zeigt, reguläre sechsseitige Prismen g dar, die an den Enden mit
einem auf den abwechselnden Seitenkanten aufgesetzten Rhombo&der s be-
gränzt waren. Ungeachtet die Krystalle nur sehr dünn, und auch nur an
den Kanten ausgebildet waren, oder vielmehr nur aus einer Zusammenhäu-
fung einer grofsen Menge kleiner Krystalle in paralleler Stellung in der Rich-
tung der Kanten der beschriebenen Form bestanden, so dafs die Krystalle
dreikantigen, in der Mitte der Flächen vertieften Spitzen glichen, so waren
ihre Winkel doch mit ziemlicher Genauigkeit zu bestimmen, nicht blofs die
der Seitenflächen, die fast genau von 120° gefunden wurden, sondern auch
die der Endkanten. Ich habe gemessen:
4) die Neigung einer Seitenfläche,
2) die Neigung derselben Fläche zu der Rhomboederfläche jenseits der
Endkante,
3) die Neigung der Rhomboederflächen in der Endkante.
und fand für den ersten Winkel 144° 5-10’, für den zweiten 35° 40-55’ und
für den dritten 71°50-57’. Nimmt man an, dafs das sechsseitige Prisma,
welches hier vorkommt, wenngleich es bei der Kleinheit und Zerbrech-
lichkeit der Krystalle auf seine Spaltbarkeit nicht untersucht werden konnte,
dasselbe ist, welches als Spaltungsgestalt bei den durch Schmelzung dar-
gestellten Krystallen erhalten werden kann, und als Krystallform bei dem
gediegenen Tellur vorkommt, so folgt aus den angegebenen Messungen,
dafs das bei den Krystallen aus dem Tellurkalium herrschende Rhom-
boeder s, das Rhomboeder (a:+a:a:c) sei; denn berechnet man
jene drei Winkel aus dem bei dem gediegenen Tellur gemessenen Winkel,
(®) Haidinger hat nun in der That auch eine Spaltbarkeit des gediegenen Tellurs nach den
Flächen eines regulären sechsseitigen Prisma beobachtet. Vergl. Sitzungsberichte der kais.
Akad. d. Wiss. Heft V, S. 150 (späterer Zusatz).
»-f a
1 k oc c
di ua, Tr wawer
namentlich des Wismuths. 89
so ergeben sich für sie die Werthe von 144° Y, 35° 51’ und 74° 51’, die
mit den durch die Messung gefundenen Werthen so gut übereinstimmen,
als man es bei der angegebenen Beschaffenheit der Krystalle nur verlangen
kann. Das hier vorkommende Rhomboeder ist also dasselbe, welches Mohs
für die Grundform des Tellurs schon angenommen hatte, ohne es beobach-
tet zu haben; seine Flächen stehen zu der bei den Krystallen des gediegenen
Tellurs vorkommenden Zuspitzung in demselben Verhältnifs, wie die Rhom-
benflächen des Quarzes zu der gewöhnlichen sechsflächigen Zuspitzung des-
selben; ob nun aber an dem untern Ende, welches bei allen von mir unter-
suchten Krystallen nicht ausgebildet war, die parallelen Flächen der oberen,
oder wie beim Quarz die nicht parallelen, vorkommen, so dafs die Flächen
statt Rhomboeder Trigonoöder bilden, und die Krystalle dann in rechte
und linke, wie beim Quarz zu scheiden sind, das war bei der Kleinheit und
der Unvollständigkeit der Krystalle nicht zu bestimmen. Vielleicht gelingt
es die Krystalle später noch vollständiger und gröfser zu erhalten und diese
Fragen zu beantworten, die in vieler Rücksicht von grofsem Interesse sind.
Ganz verschieden von den Krystallen aus dem Tellurkalium ist das Ansehen
der Krystalle aus dem Tellurammonium. Sie bildeten, so wie sie mir Wöh-
ler überschickte, ganz dünne Rinden, die da wo sie auf dem Glase ange-
sessen hatten, glatt und glänzend, auf der entgegengesetzten Seite aber von
kleinen aufsitzenden Krystallen rauh waren. Betrachtet man diese unter dem
Mikroscop bei etwa 100facher Vergröfserung und bei auffallendem Lichte,
so sieht man, wie mir schon Wöhler gemeldet hatte, äufserst glatte und
glänzende Flächen, die die Gestalt von gleichseitigen Dreiecken haben, die
zuweilen an den Ecken schwach abgestumpft sind. Das Ansehen der Flä-
chen gleicht ganz dem des krystallisirten Arseniks auf den spiegelflächig glän-
zenden Spaltungsflächen, und ich möchte sonach auch die Krystalle für
nichts anderes als für sehr dünne basische Rhomboöäder halten.
Nach dem bei dem gediegenen Tellur gemessenen Winkel wird für
das Hauptrhomboäder des Tellurs
die Hauptaxe c = 1,3298,
und es betragen die Winkel
von R:R
ah
Pa
Phys. K1. 1849, M
\ (Endkante) . . 86° 577
90 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
ads 146 56
3 TER:
LER, 130 28
» s:s (Endkante). . 71 51
ST ER ei nee 144 9
or ot 110 36
4) Wismuth.
Das Wismuth findet sich in der Natur zwar häufiger als Antimon,
kommt aber noch weniger deutlich krystallisirt vor. Derb mit ziemlich grob-
körnigen Zusammensetzungsstücken kennt man es von Altenburg in Sachsen,
Tuneberg in Schweden und in Monte Video; undeutliche Krystalle finden
sich zu Biber bei Hanau; in der gröfsten Menge scheint es in Schneeberg in
Sachsen vorzukommen, wo es sich feinkörnig und in regelmäfsig baumför-
migen Gestalten mit ganz unkenntlichen Individuen in Speiskobalt und Quarz
eingewachsen findet. Künstlich kann man es dagegen auf die beim Antimon
angegebene Weise krystallisirt erhalten, doch gehören dazu, um besonders
schöne Krystalle darzustellen, einige Vorsichtsmafsregeln, die Quesneville
gelehrt hat (!) und die darin bestehen, dafs man in das geschmolzene Wis-
muth von Zeit zu Zeit kleine Stückchen Salpeter thut, dabei umrührt und
eine zur Zersetzung des Salpeters hinreichende Hitze giebt. Hat man so
mehrere Stunden unter beständigem Salpeterzusatz geschmolzen, so kommt
ein Zeitpunkt, wo eine herausgenommene Probe nicht mehr, wie bisher ro-
senrothe, violette oder indigblaue Farben spielt, die beim Erkalten des
Metalls verschwinden, sondern prächtige grüne und goldgelbe Farben, die
beim Erkalten bleiben; diefs ist der Zeitpunkt, den man wählen mufs, um
die geschmolzene Masse auszugiefsen und auf die beim Antimon angegebene
Weise zu behandeln. Diese gebildeten Krystalle erscheinen als gewöhnlich
langgezogene Hexaöder, die zuweilen von bedeutender Gröfse sind, und
bei mehreren Linien Dicke oft Zoll lang von den Seiten nach der Mitte des
Tiegels hineinragen. Auch sind sie für solche Hexaöder bisher immer ge-
halten; ich war selbst bisher immer dieser Meinung, obgleich ich mir
') Journ. f. Chem. u. Phys. von Schweigger-Seidel 1830, B. 60, S. 378.
( } ss
namentlich des Wismuths. 91
gleich nach dem Erscheinen der Quesnevilleschen Abhandlung recht schöne
Krystalle dargestellt hatte. Zufällig betrachtete ich vor Kurzem einen der
abgebrochenen längeren Krystalle und sah, dafs er statt der Endfläche eine
sehr flache Zuschärfung hatte, deren Zuschärfungsflächen auf 2 gegenüber-
liegenden Kanten aufgesetzt waren. Somit konnte der Krystall kein Hexa-
der sein, und die nun angestellte Messung zeigte, dafs die Krystalle die
Hexaeöder-ähnlichen Rhomboäder (Fig. 1), wie beim Antimon sind. Die
Zwillingskrystalle (Fig. 6) sind ebenso nach dem bekannten Gesetze gebildet,
dafs die Zwillingsebene die Fläche des ersten stumpfern Rhomboöders ist;
sie unterscheiden sich von denen des Antimons nur dadurch, dafs die Zwil-
lingsebene hier auch zu gleicher Zeit die Ebene ist, in welcher die Indivi-
duen des Zwillings mit einander verbunden sind, statt dafs beim Antimon
die Zusammenwachsungsebene stets rechtwinklig auf der Zwillingsebene steht.
Dergleichen Zwillingskrystalle fanden sich bei den von mir dargestell-
ten Wismuthkrystallen häufig, andere künstlich dargestellte Krystalle, die
ich gesehen habe, waren nur einfach; aber abgesehen von diesen Zwillings-
verwachsungen zeigten diese Krystalle gar keine Modificationen, wie diefs
auch bei dem künstlich dargestellten Antimon und Tellur der Fall ist, wo
nicht einmal die Zwillingskrystalle vorkommen. Dagegen sind die Krystalle
wieder in mehreren Richtungen spaltbar, nämlich nach der geraden End-
fläche und nach dem ersten stumpferen und dem ersten spitzeren Rhombo-
äder. Nach der ersten Richtung sind sie, wie beim Antimon und Arsenik
am vollkommensten spalibar, doch sind die Spaltungsflächen bei weitem
nicht so eben, wie beim Arsenik und selbst beim Antimon; nach dem ersten
spitzeren sind sie etwas weniger vollkommen spaltbar als nach der Endfläche,
und nach dem ersten stumpfern Rhombo&äder, am wenigsten deutlich spalt-
bar, wodurch sie sich wieder von den Antimon -Krystallen unterscheiden,
bei welchen die Spaltungsilächen nach 5’ deutlicher sind als nach 27".
Ungeachtet die Krystalle recht glänzende Flächen haben, lassen sich
ihre Winkel doch selten mit grofser Genauigkeit bestimmen, da die Flächen
nicht sehr eben sind, auch sich gewöhnlich statt ihrer terrassenförmige Ver-
tiefungen zeigen. Da auch die deutlichsten Spaltungsflächen nicht eben
sind, so erhält man auch kein besseres Resultat, wenn man am Zwilling die
Neigung der deutlichsten Spaltungsflächen gegen einander zu messen ver-
sucht. Am besten gelingt noch die Messung bei den kleinen Krystallen,
M2
92 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
und hier fand ich einen, der ziemlich brauchbar war. Ich erhielt bei ihm
folgende Winkel:
87 39,625
Hieraus ergiebt sich ein Werth für
die Hauptaxe c = 1,3035,
und es betragen hiernach die Winkel:
'
von R:R (Endkante) 87° 40
a an Dir: g:8217 en 69 27
a WEICH nee 123 36
Mn +r An nu 143 2
5 rer 108 23
Die Neigung von einer Fläche von A des einen Individuums zu einer
Fläche von A des andern am Zwilling:
1783216.
Die körnigen Zusammensetzungsstücke des gediegenen Wismuths ha-
ben dieselben Spaltungsrichtungen, wie die künstlichen Krystalle. Da die
Neigungen derselben gegeneinander 110° 33’ und 108° 23’ betragen, so sind
diese von den Winkeln des regulären Octaäders von 109° 28’ so wenig ver-
schieden, dafs bei der Unmöglichkeit sie genau zu messen, sie wohl damit
verwechselt werden konnten. Indessen hebt doch auch hier jeden Zweifel
der nicht zu verkennende Unterschied in der Vollkommenheit der Spaltbar-
keit nach der geraden Endfläche und dem ersten spitzeren Rhomboe&der (!).
(') Nachdem ich die gegenwärtige Abhandlung in der Akademie schon längst gelesen hatte,
erhielt ich das fünfte Heft der Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
in Wien, worin sich auch eine Abhandlung über die Form der Wismuthkrystalle und zwar von
Haidinger befindet, der dieselben ebenfalls rhombo&@drisch beschreibt. Die Messungen waren
auch an durch Schmelzung dargestellten, doch wie es scheint nur unvollkommenen Krystallen
angestellt, denn Haidinger berechnet daraus für die Endkanten des würfelähnlichen Rhombo-
öders Winkel von 90° 52’, und für die des ersten spitzeren Rhomboeders d. i. des Rhomboäders
der Spaltungsflächen Winkel von 70° 53." — Aufserdem führt Haidinger an, dafs auch Hörnes
aus Beobachtungen an natürlichen Krystallen geschlossen hatte, dals das Wismuth rhombo&drisch
namentlich des Wismuths. 93
5) Das Tellur- Wismuth (Tetradymit).
Das Tellurwismuth wurde zu Schubkau bei Schernowitz unweit
Schemnitz in einer Lettenkluft im Trachytconglomerat gefunden und von
Wehrle (!) beschrieben und analysirt. Die gründliche Untersuchung der
Krystallform verdanken wir Haidinger (?). Hiernach sind die Krystalle Com-
binationen eines spitzen Rhomboöders mit der geraden Endfläche; sie kom-
men jedoch selten einfach vor, sondern, wie der von Haidinger gewählte
Namen andeutet, fast stets in Zwillingsgruppen von 4 Individuen, die so
gebildet sind, dafs an ein mittleres Individuum 3 andere so anwachsen, dafs
die 3 Endkanten des ersten stumpferen Rhomboeders von dem mittleren
Krystalle in gleicher Lage sind, wie 3 Endkanten der ersten stumpferen
Rhomboeder von den 3 umgebenden Krystallen, wie diefs Fig. 14 anzeigt.
Dieses stumpfere Rhomboeder weicht aber in den Winkeln nicht viel von
dem Hauptrhombo&der des Antimons ab; die Verwachsung ist daher ebenso,
wie sie bei diesem Metalle vorkommt (Fig. 11), und die Zwillingsgruppe
unterscheidet sich demnach nur dadurch von der des Antimons, dafs hier das
Rhomboöder, parallel dessen Endkanten die Verwachsung statt findet, selbst
vorkommt, dagegen sich beim Tetradymit das erste spitzere vor diesem fin-
det. Parallel den Endflächen sind die Krystalle ebenfalls vollkommen und
so spaltbar, dafs sie sich in dünne, stark metallisch glänzende Blättchen
theilen lassen; da aber die Spaltungsflächen uneben, und die Krystalle da-
bei weich und biegsam sind, so läfst sich die Neigung derselben gegenein-
ander am Zwilling mit einer grofsen Genauigkeit nicht bestimmen. Den-
noch ist man für die Messung der Winkel der Krystalle auf diese beschränkt,
da die Flächen der Krystalle selbst ganz matt sind und gar nicht spiegeln.
Haidinger findet für die Neigung der Spaltungsflächen den Winkel von 95°,
und berechnet daraus für das Rhombo&der nach dessen Endkanten die Ver-
sei; indem er Krystalle von Penzance in Cornwall beobachtet hätte, die Combinationen eines
spitzen Rhombo@ders mit einem stumpferen gleicher Ordnung und der geraden Endfläche wä-
ren, wobei die den letzteren entsprechenden Flächen so grols wären, dafs die Krystalle tafelar-
tig erschienen. Die Flächen der Krystalle waren jedoch zu Messungen mit dem Reflexionsgo-
niometer nicht geeignet (späterer Zusatz).
(') Zeitschrift für Phys. und Math. von Baumgärtner und v. Ettinghausen von 1831 B. 9.
S. 133, und Poggendorffs Ann. S. 21 S. 595.
(*) A.a. 0. S. 129 und S. 595.
94 G. Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
wachsung geschieht, Endkantenwinkel von 81°, für das gewöhnlich vor-
kommende, Endkantenwinkel von 66° 40’. Der erstere Winkel weicht zwar
von dem entsprechenden Winkel der übrigen rhombo&drischen Metalle ab,
von dem Winkel des Arseniks, das ihm unter den bisher betrachteten Me-
tallen am nächsten kommt, schon um volle 4 Grad; dennoch trage ich kein
Bedenken ihn als mit diesen isomorph zu betrachten, da die übrige Über-
einstimmung in Form und Spaltbarkeit namentlich mit Arsenik, Antimon
und Wismuth überaus grofs ist, und die Unvollkommenheit der Messung
doch auch annehmen läfst, dafs bei Auffindung von vollkommneren Kry-
stallen die Übereinstimmung in den Winkeln gröfser ausfallen werde.
Indessen enthält der Tetradymit nicht blofs Wismuth und Tellur,
sondern nach Wehrle, wie auch nach Berzelius, der die Krystalle später
ebenfalls untersucht hat, 4,8 - 4,32 pC. Schwefel. Berzelius betrachtet ihn
daher als eine Verbindung von Schwefelwismuth mit Tellurwismuth, und
stellt für ihn folgende Formel auf:
Bi2.S3 + 2Bi? Te?
Nach dem, was über seine Krystallform gesagt ist, kann man ihn nur
für eine Zusammenkrystallisirung von Wismuth, Tellur und Schwefel hal-
ten, und zwar von je 2 Atomen der ersteren Metalle mit 1 Atom Schwefel;
indessen kann man fragen, ob bei der geringen Menge des letzteren derselbe
als wesentlich anzusehen sei, oder aber bei der grofsen Ähnlichkeit, die in
chemischer Hinsicht überhaupt zwischen ihm und dem Tellur stattfindet,
derselbe nicht in gewissen Fällen die Form des Tellur annehmen und mit
ihm zusammen krystallisiren kann, ohne die Form des letzteren zu ändern.
Diese letztere Ansicht möchte doch die wahrscheinlichere sein, und es könnte
daher wohl sein, dafs diesem Umstande und der Schwierigkeit, die mit dem
Krystallisiren des Schwefels in Rhomboödern verbunden zu sein scheint,
die Abweichung der Krystallwinkel von denen der übrigen Metalle zuzu-
schreiben ist. Bei der Ähnlichkeit des von Breithaupt beschriebenen Arse-
nikglanzes mit dem Tetradymit in der Spaltbarkeit und im Ansehen über-
haupt möchte es daher auch wohl wahrscheinlich sein, dafs derselbe nur
durch eine Zusammenkrystallisation des Arseniks mit dem rhomboöädrischen
Schwefel gebildet sei; doch ist um darüber etwas mit Gewifsheit sagen zu
können noch nöthig, dafs man die Krystallform selbst kennte, die doch bis
jetzt noch gänzlich unbekannt ist.
namentlich des Wismuths. 95
6) Zink. »
Das Zink in reinem Zustande ist in der Natur bis jetzt noch gar nicht
vorgekommen; künstlich ist es dagegen mehrfach krystallisirt erhalten wor-
den, jedoch stets auf trocknem Wege. Laurent und Holms (1) beobachte-
ten kleine Krystalle von Zink, die sich in den Rissen der irdenen Röhren,
worin dasselbe destillirt worden war, gebildet hatten. Nöggerath (2) erhielt
von der Zinkhütte vom Altenberge bei Henry Chapelle (zwischen Achen und
Lüttich) einen Kuchen von Zink, über einen halben Zoll stark, der zum
Theil ganz porös, und an den Wänden der Höhlungen mit Krystallen be-
setzt war. Nickles (*) beschrieb Krystalle, die Hr. Favre nach dem Verfah-
ren von Jacquelin durch Destillation von Zink in einer Atmosphäre von
Wasserstoff dargestellt hatte. Nach Laurent sind die Krystalle rhombische
Prismen, nach Nöggerath reguläre sechsseitige, an den Enden mit der ge-
raden Endfläche besetzte Prismen, nach Nickles Pentagonal-Dodekaöder,
die in Allem an die Form des Eisenkieses und des Kobaltglanzes erinnern.
Da Nöggerath erwähnte, dafs sich bei den von ihm beobachteten
Krystallen zuweilen auch Abstumpfungsflächen der Endkanten fänden, so
bat ich ihn, in der Hoffnung, dafs sich daran noch die Winkel jener Ab-
stumpfungsflächen würden bestimmen lassen, mir die von ihm beschriebenen
Krystalle zur Ansicht zu schicken. Hr. Nöggerath hatte auch die Güte mir
Alles zu schicken, was er noch besafs, und wenngleich er mir schrieb, dafs
die besten Stücke, namentlich die mit Krystallen mit Rhomboäderflächen
ziemlich ausgesucht wären, so war ich doch so glücklich, noch einige zu
finden. Die Krystalle, welche an den Wänden der Höhlungen der über-
sandten Stücke safsen, waren 2 bis 3 Linien lang und im allgemeinen dünn.
Sie waren in manchen Höhlungen mit Zinkoxyd bedeckt, in andern aber
davon frei und glänzend; die Endflächen waren glatt, die Seitenflächen zart
in die Quere gestreift, dessen ungeachtet aber mit dem Reflexionsgoniome-
ter zu messen, wodurch bestätigt werden konnte, was schon der Augen-
schein vermuthen liefs und durch die Messungen von Nöggerath bewiesen
(') Ann. de Chim. et d. Phys. t. 60 p. 333 und L. Gmelins Handbuch der Chemie B. II.
S. 3.
(*) Poggendorffs Ann. von 1836, B. 39, S. 323.
(°) Poggendorffs Ann, von 1848, B. 74, S. Al2,
96 G. Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
war, dafs die Seitenkantenwinkel sämtlich von 120° wären. Die Endkanten
fand ich wohl öfter abgestumpft, aber theils waren die Abstumpfungsflächen
nur sehr klein, theils nur wenig glänzend, daher ihre Winkel mit grofser
Genauigkeit nicht zu bestimmen waren. An einem Krystalle konnte ich in-
dessen die Neigung der Basis zu 3 benachbarten Abstumpfungsflächen mes-
sen und fand hier die 3 Winkel von 110° 35-50’, 110° 31-42, 111° 45-50.
Wenngleich hierbei der letzte um einen ganzen Grad von den andern ab-
weicht, so ist bei der Unvollkommenheit der Messung und der grofsen
Wahrscheinlichkeit der Annahme, dafs die Seitenflächen die eines regulären
sechsseitigen Prisma sind, auch hier anzunehmen, dafs diese Winkel eigent-
lich gleich sind. Auf dem Bruche der Masse, worauf die Krystalle sitzen,
sieht man häufig recht vollkommene Spaltungsflächen, die der Basis der
sechsseitigen Prismen parallel gehen; andere Spaltungsrichtungen existiren
noch, konnten jedoch hier ihrer Lage nach nicht bestimmt werden, was
überhaupt bei dem Zink recht schwer ist, da man bei ihm nur auf die Be-
trachtung der an dem Stücke gerade vorhandenen Bruchflächen beschränkt
ist, und neue Spaltungsflächen durch Absprengung von Kanten und Ecken
mit dem Messer bei der Dehnbarkeit des Zinks nicht hervorbringen kann.
Auf welche Weise die Zinkkrystalle auf der Zinkhütte am Altenberge
erhalten waren, hatte Nöggerath nicht erfahren können; offenbar hatten sie
sich wohl durch langsame Abkühlung der geschmolzenen Masse gebildet,
wenngleich hierzu immer noch günstige Umstände gebören müssen, da das
geschmolzene und erstarrte Zink wohl körnig ist, und Höhlungen aber ge-
wöhnlich mit ganz glatten und glanzlosen Wänden hat; ebenso ist auch die
Oberfläche der geschlossenen und erstarrten Massen gewöhnlich glatt und
matt, und nicht gestrickt, wie beim Antimon oder Tellur. Die Krystallisation
des Innern geht dabei immer von der Oberfläche aus; gegossenes Zink von
cylindrischer Form besteht aus stängligen Zusammensetzungsstücken, die
von der Oberfläche rechtwinklig nach der Axe zulaufen, an deren Stelle
sich mehr oder weniger symmetrisch eine Höhlung befindet; plattenförmige
Stücke haben in der Mitte eine Nath. Unter den Spaltungsflächen, die man
bei den körnigen oder stängligen Zusammensetzungsstücken sieht, ist immer
eine die deutlichste, die der geraden Endfläche entspricht. Diese Spaltungs-
fläche ist theils ganz glatt, theils parallel den Flächen eines gleichseitigen
Dreiecks etwas gestreift. Die Streifung wird durch die Spaltbarkeit parallel
namentlich des Wismuths. 97
den Flächen eines Rhomboeders hervorgebracht, die aber doch nur sehr
unvollkommen zu sein scheint, da ich die Winkel dieser Spaltungsflächen
nicht habe messen können. Deutlicher, aber auch stets stark horizontal
gestreift, sind andere Spaltungsflächen, die wie beim Tellur parallel den
Flächen des ersten sechsseitigen Prisma gehen, aber doch viel unvollkomme-
ner als bei diesem Metalle sind. Es fragt sich nun aber, wofür die sechs-
flächige Zuspitzung bei dem Zinke zu halten sei. Die Neigung der Flächen
derselben gegen die Hauptaxe ist wie die der Flächen s beim Tellur, aber
theils kommen diese letzteren nurrhomboädrisch vor, theils würden sie nicht
auf dem ersten, sondern auf dem zweiten sechsseitigen Prisma gerade aufge-
setzt sein. Es mufs also noch dahingestellt bleiben, was es für eine Be-
wandnifs mit dieser Zuspitzung hat. Auf jeden Fall sind die von Nögge-
rath beschriebenen Krystalle reguläre sechsseitige Prismen, und es ist dem-
nach wohl wahrscheinlich, dafs die Angabe von Laurent, als krystallisire
das Zink in rhombischen Prismen, auf einem Irrthum beruhe. Dagegen ist
die Angabe von Nickles, dafs das Zink auch in Krystallen des regulären Sy-
stems krystallisiren könne, nicht unwahrscheinlich, da das Zink in seinen
übrigen Eigenschaften sich viel mehr den regulären Metallen anschliefst, und
es im Gegentheil auffallend ist, dafs es in sechsseitigen Prismen vorkommt.
Das Zink wäre nach dieser Beobachtung dimorph; auffallend wäre dann nur
die Form des Pentagonaldodeca@ders, da dieselbe bisher noch bei keinem
der regulären Metalle beobachtet ist.
7) u. 8) Iridium und Osmium.-
Iridium kommt mit Osmium in der Natur in mehreren und, wie es
scheint stets bestimmten Verhältnissen mit einander verbunden vor. Man
kennt durch die Analysen von Berzelius Verbindungen von 1 Atom Iridium
mit 1, 3 und 4 Atomen Osmium. Alle diese Verbindungen haben aber, wie
ich bei einer früheren Gelegenheit gezeigt habe (!), ein und dieselbe Kry-
stallform, woraus sich ergiebt, dafs auch das reine Iridium und das reine
Osmium dieselbe Form, wie die in der Natur vorkommenden Verbindungen
von Iridium und Osmium haben müssen. Künstlich hat man weder Iridium
(') Poggendorffs Annalen B. 29, S. 232.
Phys. Kl. 1849. N
98 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
noch Osmium noch ihre Verbindungen untereinander in deutlich krystalli-
sirtem Zustande darzustellen vermocht.
Das Osmium-Iridium findet sich in der Natur in regulären sechssei-
tigen Tafeln, zuweilen mit den Flächen eines Hexagondodecaeders als Ab-
stumpfungsflächen der Endkanten (Fig. 4). Die Winkel des Hexagondode-
ca@ders betragen nach meinen Messungen
127° 36 in den Endkanten
124 0 in den Seitenkanten.
Hiernach würden die Endkanten dieser Form gegen die Axe unter einem
Winkel von 31° 33’ geneigt sein, und die abwechselnden Endkanten wür-
den von einem ebenso geneigten Rhomboöder abgestumpft werden, das von
dem Rhomboeder des Arseniks, dessen Flächen unter einem Winkel von
31° 42 gegen die Axe geneigt sind, nur wenig verschieden ist. Man kann
daher ein Rhomboöder, ähnlich wie es bei den rhomboedrischen Metallen
vorkommt, als Grundform des Osmiums und Iridiums betrachten, von wel-
chem das vorkommende Hexagondodecaöder nun eine abgeleitete Form ist.
Die Winkel der Endkanten dieses Rhomboeders betragen nach den bei dem
Hexagondodecaöder gefundenen Winkeln 84° 52, die Hauptaxe erhält hier-
nach den Werth 1,4105, und der Ausdruck des Hexagondodecaeders wird
(Za:Za:Zza:c).
Die Krystalle sind nach der geraden Endfläche sehr vollkommen spalt-
bar, aber die Spaltungsflächen bei der grofsen Härte des Osmium - Iridiums
immer nur schwer zu erhalten. Andere als diese Spaltungsflächen sind nicht
beobachtet.
9) Palladium.
Das Palladium ist von Zinken in kleinen, fast mikroscopischen, silber-
weifsen, sechsseitigen Tafeln, auf Gold aufsitzend, zu Tilkerode am Harz
gefunden worden. Bei der Kleinheit der Krystalle haben die Winkel der-
selben nicht gemessen werden können, wahrscheinlich jedoch sind die Ta-
feln regulär und auch aus einem Rhomboeder, ähnlich denen der übrigen
rhomboedrischen Metalle, abzuleiten, was indessen erst mit Gewifsheit aus-
gemacht werden kann, wenn gröfsere Krystalle mit gegen die Axe geneigten
Flächen gefunden werden.
namentlich des Wismuths. 99
Aus dem Angeführten geht hervor, dafs es 8 untereinander isomorphe
rhomboedrische Metalle giebt, die nach dem Zunehmen der Endkanten-
winkel geordnet, folgende sind:
Osmium mit einem Rhomboäder von 84° 52’
Enidiumenn > „ 84 52
Arseniki) „und es ISSN X
Tellur a: + Klon Vor
Antimon „ » = „ 87 35
Wismuth „ ” ” „ 87 40
Zink „ noch unbestimmtem Rhomb.
Palladium „ ” ”
Osmium und Iridium haben demnach den spitzesten, Wismuth den
stumpfesten Winkel. Der Unterschied beträgt 2° 48), derselbe wird aber
noch bedeutend vergröfsert, wenn man zu diesen Metallen noch den Tetra-
dymit mit einem Winkel von 81° 2/ hinzurechnet; er steigt hierdurch bis
auf 64°, und wird allerdings dadurch gröfser, als er sonst bei isomorphen
Körpern vorkommt. Indessen ist auch der Winkel des Tetradymits noch
nicht mit grofser Genauigkeit bestimmt. Dasselbe gilt auch von dem des
Osmium -Iridiums, ungeachtet sein Winkel dem des Arseniks sehr nahe
kommt. Arsenik und nächstdem Tellur sind am genauesten bestimmt.
Iridium und wahrscheinlich auch Palladium sind, wie ich schon frü-
her gezeigt habe, dimorph, indem sie auch in Hexaödern vorkommen; von
dem Zink ist diefs nach dem Vorhergehenden ebenfalls sehr wahrscheinlich,
und so möchten auch wohl alle übrigen rhomboedrischen und octa@drischen
Metalle isodimorph sein.
Sehr merkwürdig ist aber die Übereinstimmung dieser rhomboedri-
schen Metalle in Rücksicht der Form mit gewissen Oxyden, die 3 Atome
Sauerstoff auf 2 Atome Basis enthalten, wie namentlich mit dem Eisenoxyd
(Eisenglanz), dem Chromoxyd, der Thonerde (Corund) und dem Titan-
eisenerz (Eisenoxyd und Titanoxyd), und diese Übereinstimmung wird noch
gröfser, als es auch unter diesen Oxyden solche giebt, deren Formen zum
regulären Krystallisationssystem gehören, wie das Antimonoxyd, Tellur-
oxyd und die arsenichte Säure. Man hat also auch bei diesen Oxyden die-
selben zwei Reihen mit octaödrischen und mit rhombo&edrischen Formen wie
bei den Metallen, aber sonderbarer Weise gehören die Oxyde zur octaädri-
N2
100 G.Rosz über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,
schen Reihe, deren Metalle zur rhomboedrischen Reihe gehören und um-
gekehrt.
Was nun noch das Wismuth betrifft, das hier zuerst zu den rhom-
boedrischen Metallen gestellt wird, so war es früher mit den octaödrischen
Metallen auch nicht ganz in Übereinstimmung, als es so deutlich spaltbar
nach Richtungen ist, die parallel den Flächen des Octaöders angenommen
wurden, was bei den übrigen octaedrischen Metallen nicht der Fallist. Durch
die richtige Bestimmung der Krystallform des Wismuths wird dieses Metall
nun auch rücksichtlich der Form zu den Metallen gestellt, mit denen es in
chemischer Hinsicht verwandt ist, d. h. zu dem Antimon und Arsenik.
Berzelius nahm deshalb schon in seinem Oxyde 3 Atome Sauerstoff auf 2
Atome Basis an, wie in dem Antimonoxyd und der arsenichten Säure, und
ebenso in dem Wismuthglanz 3 Atome Schwefel auf 2 Atome Basis, wie im
Antimonglanz und im Auripigment. Diese Annahme wird nicht allein durch
die Form des reinen Wismuths, sondern auch des Schwefel-Wismuths und
des Wismuthoxydes unterstützt. Es ist schwer, deutliche Krystalle des
Wismuthglanzes zu finden, doch besitzt die hiesige Königliche Sammlung
prismatische Krystalle von Gillebek bei Drammen in Norwegen, wo sie auf
einem Lager von körnigem Kalkstein vorkommen, die zwar wie überall an
den Enden nicht auskrystallisirt, doch in Hinsicht der Seitenflächen deutlich
mefsbar sind, so dafs ich mich hinreichend von ihrer Übereinstimmung in
den Winkeln mit denen des Antimonglanzes überzeugen konnte. Diese
Übereinstimmung geht übrigens auch schon aus den Phillipsschen Messun-
gen des natürlichen und künstlichen Schwefelwismuths hervor (1). Ebenso
ist auch die Spaltbarkeit in Rücksicht der Lage und der Vollkommenheit
der Spaltungsflächen in Übereinstimmung mit dem Antimonglanz.
Die Krystalle des Wismuthsoxydes sind mir zwar in Octa@dern nicht
bekannt, wie die Krystalle des Antimon- und Telluroxydes und der arse-
nichten Säure vorkommen, sie finden sich aber in Hexaädern, gehören also
ebenfalls zum regulären System, und sind also insofern auch mit ihnen in
Übereinstimmung.
') Poggendorffs Annalen B. 11, S. 476. 1827.
( 88
ZUR 3.
. Natürliches Osmium - Irid. S. 98.
. Zwillingskrystalle mit durcheinander gewachsenen Individuen bei dem durch Sublima-
12.
13.
14.
15-17.
namentlich des /Wismuths. 101
Erklärung der Figuren.
. Hauptrhomboeder der rhomboädrischen Metalle, wie es bei den durch Schmelzung dar-
gestellten Krystallen des Antimons, Tellurs und Wismuths vorkommt. Seite 77,87 u. 91.
Durch Sublimation dargestellte Krystalle des Arseniks. S. 82.
tion dargestellten Arsenik. S. 83.
. Zwillingskrystalle mit aneinander gewachsenen Individuen bei dem durch Schmelzung
dargestellten Wismuth. S. 91.
. Gediegenes Tellur von Facebay. S. 86.
. Gestalt der Fläche, in welche bei der Verwachsung von 6 oder 4 Individuen (Fig. 10
u. 13) die Hauptrhomboäderflächen von 4 Individuen zusammenfallen, in horizontaler
Projection, also mit unverkürzter Länge der Seiten. S. 30.
. Tellur aus dem Tellurkalium. S. 38.
. Gruppe von 6 Individuen beim gediegenen Antimon, bestehend aus 2 mittleren Indivi-
duen, an deren je 2 freien Endkanten 2 andere Individuen angewachsen sind. S. 0.
11. Gruppe von 4 Individuen beim gediegenen Antimon, bestehend aus einem mittleren
Individuum, an deren 3 Endkanten 3 andere Individuen angewachsen sind. S. 81.
Gruppe von 4 Individuen beim gediegenen Antimon. Die Gruppirung ist ringförmig,
so dals sämmtliche 4 Individuen eine Hauptrhombo&derfläche in gleicher Richtung ha-
ben. S. s1.
Dieselbe Gruppirung von 4 Individuen wie in 12, nur sind die Individuen näher anein-
ander gerückt, und die allen gemeinschaftliche Fläche ist dadurch kleiner geworden.
S. 81.
Gruppe von 4 Individuen beim Tetradymit; die Gruppirung wie in 11. Die Fig. ist
der Abhandlung von Haidinger über den Tetradymit entlehnt. S. 93.
Gewöhnliche Gruppirung der durch Schmelzung von Antimon dargestellten Krystalle.
S.78.
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Bemerkungen uber den Bau der Orchideen.
Erste Abhandlung.
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 3. Mai 1849.]
D. Pflanzen, besonders die Phanerogamen, laden durch die Ähnlichkeit
ihrer Gestaltung bald dazu ein, für die Erkennung derselben, eine gleich-
sam idealische Normalform zu entwerfen, welche dann die Grundlage zu
allen Beschreibungen, und selbst zu den systematischen Eintheilungen macht.
In den meisten natürlichen Ordnungen ist dieses leicht; die Theile der Blüte
lassen sich ohne Schwierigkeiten übereinstimmend angeben, und noch leich-
ter geschieht dieses mit Stamm und Blättern, aber einige natürliche Ord-
nungen weicher so sehr von der gewöhnlichen Form ab, dafs die Bestim-
mung schwieriger wird und zu manchen Verschiedenheiten die Veranlassung
gegeben hat. Zu diesen natürlichen Ordnungen gehört besonders die Ord-
nung der Orchideen, welche schon früh die Aufmerksamkeit der Botaniker
auf sich gezogen und sogar ihre Phantasie beschäftigt hat. Es kommt hier
nun darauf an, zuerst ihren äufsern Bau auf jene Normalform zu bringen,
dann mag von dem Innern die Rede sein, und da die Blüte der am meisten
zusammengesetzte Theil ist, so mögen wir damit anfangen zu bestimmen,
was an ihnen Kelch, Blume, Staubfaden, Fruchtknoten, Staubweg zu
nennen sei.
Dafs man vor Linne keinen richtigen Begriff von den Blüten der Or-
chideen hatte ist wohl zu erwarten, da man vor ihm die Geschlechtstheile
übersah. Wir können also die Botaniker vor Linn ganz übergehen. Doch
will ich die Charakteristik der Gattung Orchis von Tournefort hier anfüh-
ren, weil sie zeigt, wie sehr die Phantasie der Botaniker dabei gespielt hat.
So sagt er: Orchis est plantae genus, flore polypetalo, anomalo, sex-petalis
104 Lıne:
scilicet dissimilibus constante, quorum quinque superiora ita disponuntur,
ut galeam quodammodo aemulentur, inferiori multiformi capitato ut pluri-
mum et caudato, nunc Hominem nudam, modo Papilionem, Fucum, Co-
lumbam, Simiam, Lacertam, Psittacum, Muscam caeterave repraesentante.
Von dieser Ähnlichkeit haben manche Ophrys-Arten den Namen bekommen
wie O. anthropophora, anihropomorpha, myodes, arachnites u. dgl. m.,
auch ist er für einige z.B. O. myodes sehr passend.
Linn stellt die Orchideen unter die Gynandria Diandria, wo näm-
lich Staubgefäfse und Staubwege mit einander verwachsen sind. Seine Be-
schreibungen sind gröfstentheils sehr treffend und vielen seiner Nachfol-
ger vorzuziehen. Er läugnet den Kelch oder das perianthium, er nennt die
fünf äufsern Blätter eine corolla und hat überdies ein neciarium, dem er
z.B. bei Orchis (Gener. plant.) eine sehr kurze Oberlippe und eine Unter-
lippe zuschreibt, das Zabellum nämlich, wie es jetzt genannt wird. Zu ne-
etarium rechnet er bekanntlich alle Theile der Blüte, welche nicht zu den
fünf Haupttheilen derselben gehören, und Goethe giebt diesen Namen be-
stimmter allen Theilen, welche den Übergang von der Blume (corolla) zu
den Staubgefäfsen machen, oder, wollen wir setzen, zwischen Blume und
Staubgefäfsen sich befinden. Die übertreibenden Lobredner des grofsen
Dichters haben dieses nicht einmal anerkannt. Da jedoch viele Botaniker,
besonders die neuern, das Wort nectarium wegen der ersten so zu sagen
handgreiflichen Bedeutung verwerfen, so habe ich dafür das Wort paraco-
rolla vorgeschlngen. Was hier vorzüglich zu bemerken ist, besteht darin,
dafs Linne das labellum mit seinem nectarium verband, und diesem eine
Oberlippe zuschrieb, da er doch nur die Europäischen Orchideen kannte.
Er zählte zwei Staubgefäfse, er sah die nackten Pollenmassen für Antheren
an, ein Fehler, den auch Haller beging.
Adanson hat zuerst (Famill. d. plantes T.2 p. 69 Par. 1763) eine
Beschreibung der Orchideen-Blüte gegeben, wie sie sich noch bei den mei-
sten Botanikern findet. Statt der Blume schreibt er den Orchideen einen
Kelch zu und zwar von 6 Blättern, indem er das labellum mit dazu rechnet.
Sehr richtig sah er ein, dafs man die Pollenmassen nicht Antheren nennen
dürfe, und in seiner Beschreibung zählt er nur eine, aber zweifächerige An-
ihere, worin diese Massen, jede in einem besondern Fache liegen. Die
Anthere kommt nun an die Stelle der obern Lippe des neetarium. Adanson
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 105
kannte nur die Europäischen Orchideen genau; die ausländischen waren
damals noch ganz unbekannt.
Das Richtige und Genaue, was sich in Adansons Familles des plantes
fand, hatte keinen Einflufs auf die Botanik, und erst in den neuesten Zeiten
ist der Werth seiner Beobachtungen anerkannt worden. Adanson war ein
Gegner Linne’s, der ihn verdunkelte. Dafs er in seinem Werke nicht bis
zu den Arten ging, sondern nur die Gattungen (genera) aufführte, diesen
statt der Linneischen gutgebildeten, neue, schlechte Namen gab, oft die
Linneischen nicht einmal anführte, machten sein Werk vergessen. Dazu
kommt noch eine lächerliche Orthographie und eine Menge willkürlicher
Urtheile und anderer Fehler, die besonders in dem ersten kritischen Bande
auffielen, und die Ursachen waren, dafs man das Richtige aus seinen weit-
läufigen Reden nicht aufsuchte.
Jussieu trägt in dem hochberühmten Buche: Genera et species plan-
tarum etc. Par. 1789 dieselben Lehren vor, welche schon Adanson gelehrt
hatte. Die Orchideen haben nach ihm einen Kelch von 6 Blättern, indem
das Zabellum dazu gehört, einen Griffel, ein ausgebreitetes Stigma, welches
sich nicht immer am Ende des Griffels befindet, und nur eine zweifächerige
Anthere, deren Fächer zuweilen von einander getrennt sind, wie an Cypri-
pedium. Die Orchideen sind also nicht diandrae, wie Linne meinte, son-
dern monandrae. Er führt Adanson hier nicht an, setzt aber hinzu, dafs
sein Oheim Bernard de Jussieu dieses gelehrt habe, und so bleibt es zwei-
felhaft, ob diese Ansicht von Bernard de Jussieu oder von Adanson herrührt.
Nun erschien nach langer Zeit der Prodromus Florae novae Hollan-
diae von Rob. Brown (1810). Der berühmte Verfasser nimmt ebenfalls
sechs Kelch- oder Perianthienblätter an, welche in zwei Reihen stehen und
wovon das innerste, sechste, eine Lippe (labellum) darstellt. Er sagt ferner,
drei Staubfäden, die unter sich und mit dem Griffel verwachsen sind, von
denen aber in der Regel nur der mittlere Staubfaden eine Anthere trägt,
ausgenommen Cypripedium, wo der mittlere Staubfaden ohne Anthere ist,
die beiden Staubfäden an jeder Seite hingegen Antheren tragen. Übrigens
stimmt er im Allgemeinen mit Jussieu überein.
In der Abhandlung über die Organe und die Art der Befruchtung in
den Orchideen und Asklepiadeen handelt derselbe Verfasser zuerst von der
Angabe, dafs drei Staubfäden mit dem Griffel zu einer Säule (columna) ver-
Phys. Kl. 1849. Ö
106 Lıne:
wachsen sind. Die Anhängsel dieser Säule, welche an den Orchideen von
Neu-Holland sehr ausgezeichnet erscheinen, und die kleinern an den mei-
sten einheimischen Ophrydeen hatten ihn auf den Gedanken gebracht, dafs
diese Anhängsel verkümmerte Staubfäden sein möchten. Doch würde die-
ses nicht hingereicht haben, sagt R. Brown, diese Hypothese zu gründen,
nun sei aber die Beobachtung einer Monstrosität an Habenaria bifolia hin-
zugekommen, woran drei Staubfäden sich entwickelt hatten. Allerdings
waren auch die Anhängsel an der Säule zugleich vorhanden und überdies
wurden in jenen Anhängseln keine Gefäfsbündel gefunden. Doch setzt er
hinzu: „Ich sehe jedoch die Abwesenheit von Gefäfsen nicht als einen völ-
ligen Beweis an, dafs diese Anhängsel nicht unentwickelte (rudimentary)
Staubfäden sein sollten. Auch mufs ich bemerken, dafs in andern Abthei-
lungen der Orchideen, in den Gattungen nämlich, wo analoge Anhängsel
gefunden werden, und wo allein Fälle von ihrer völligen Entwickelung be-
merkt worden sind, Gefäfse nicht nur überhaupt in diesen Anhängseln er-
scheinen, sondern auch oft zu ihrem vermutheten Ursprunge können zurück-
geführt werden, zu den Strängen nämlich, welche die innern Seiten-Ab-
theilungen des perianthium mit Gefäfsen versehen.”
Nun führt R. Brown eine Beobachtung von einem Herrn His an, der
die drei innern Abtheilungen des perianthium in Staubfäden verwandelt sah,
und setzt hinzu: diese Beobachtung und der sonderbare Bau der Gattung
Epistephium von Kunth habe Achill. Richard auf den Gedanken ge-
bracht, es fehle den meisten Orchideen der Kelch, die äufsere Reihe des
sogenannten perianthium stelle die Blume vor, die innere aber bestehe aus
veränderten Staubfäden. R. Brown meint aber, diese Meinung sei unhalt-
bar, der äufsere scheinbare Kelch sei nur dem (zufälligen) calyculus einiger
Santalaceae, weniger Proteaceae und vielleicht der ZLoranthaceae ähnlich.
Ich habe den calyculus von Epistephium an den vier Arten dieser
Gattung im Königl. Herbarium untersucht. Er stellt einen Rand des ova-
rium vor, mit dessen drei Theilen auch die drei Theile desselben zusam-
menhängen, und in dieselbe geradezu übergehen. Der Rand ist sehr unre-
gelmäfsig, und an den Blüten derselben Pflanze ungleich ausgeschnitten; er
kann also nicht in die Reihe der regelmäfsig gebildeten Theile treten. Er
sieht aus wie die abgelöste äufsere Schicht des untern Theiles des perigo-
nium, welche sich von der innern Schicht getrennt hat. Eine solche ver-
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 107
dickte Schicht sieht man an den Perigonien mancher Orchideen, besonders
wenn das orarium angeschwollen und die Blüte getrocknet ist. Rob. Brown
hat also hier völlig Recht, auch ist Herr Kunth damit einverstanden, wie
ich aus dessen mündlicher Äufserung weifs.
Nach der Untersuchung über die Zahl der Staubfäden geht Rob.
Brown zum stigma über, und sucht darzuthun, dafs auch hier eine drei-
fache Theilung desselben stattfindet. Die Sache war vorher kein Gegen-
stand der Untersuchung für die Botaniker gewesen, und Rob. Brown führt
den Gegenstand zuerst aus, indem er nur auf die äufsern Verhältnisse der
Gestalt Rücksicht nimmt.
Lindley, der mehr als irgend ein andrer Botaniker sich um Beschrei-
bung neuer Arten von Orchideen und ihre Zusammenstellung in ein System
verdient gemacht hat, dem wir die Bestimmung von mehr als zwei Dritthei-
len aller jetzt bekannten Arten zu verdanken haben, folgt in seinem Vege-
table Kingdom (Lond. 1846, 174) im Ganzen R. Brown. Er nennt aber
die drei äufsern Blätter oder Abtheilungen des Perigonium allein calyx und
dessen Blätter sepala, die drei innern aber petala mit dem labellum; an
diesem unterscheidet er mehrere Lagen, die oft deutlich zu sehen sind, eine
obere epichilium, eine untere hypochilium, und eine mittlere mesochilium,
er schreibt diesen Pflanzen mit R. Brown 3 Staubfäden und 3 Abtheilungen
des stigma zu. In Rücksicht des letztern macht er auf eine Anomalie auf-
merksam, welche darin besteht, dafs die samentragenden Theile des Ova-
riums den Abtheilungen des szigma nicht gegenüber stehen, sondern damit
wechseln, indem die samenlosen Abtheilungen in einer Linie mit szigma sich
befinden und dafs man daher sagen könne, das ovarium bestehe aus sechs
Abtheilungen oder Carpellarblättern.
Dies sind die wichtigsten Angaben über die Morphologie der Blüte
dieser natürlichen Ordnung. Es sei mir erlaubt, zuerst einige Bemerkungen
über das Verfahren zu machen, welches man anwendet oder anwenden
mufs, wenn man besondere Formen auf eine allgemeine bringen will. Es
scheint mir durchaus nothwendig, dafs man auf die Gefäfsbündel sehen
müsse, um die Spuren eines Theils in seiner Verwachsung oder Verschmel-
zung mit andern Theilen nachweisen zu können. Denn überall, wo sie in
einem Theile sich finden, bilden sie die Grundlage desselben, so dafs man
das Zellgewebe nur als eine Umhüllung derselben ansehen kann. Die Ge-
02
108 Lıne:
fäfsbündel stellen gleichsam das Skelet eines Theiles vor. Namentlich ist
in der Mitte eines jeden Staubfadens ein Gefäfsbündel vorhanden, welches
gerade in der Axe desselben liegt, so wie mehr excentrische Gefäfsbündel
im Griffel um den Stigmakanal oder Griffelkanal stehen. Auch die Blumen-
krone und der Kelch werden immer von Gefäfsbündeln durchzogen. Sind
also die Gefäfsbündel für solche Theile vorhanden, auch wo sie nicht deut-
lich ausgebildet oder verwachsen sind, so kann man doch ihre Gegenwart
annehmen, fehlen sie hingegen, so müssen wir den Theil ebenfalls für feh-
lend erklären. Flügelförmige Ansätze ohne Gefäfsbündel können nicht als
Andeutung eines Theils angesehen werden.
Das Zabellum in der Blüte der Orchideen machen alle Botaniker aufser
Linne zu einer Abtheilung des Perigoniums. Linne rechnete es zum necta-
rium, und ob er gleich irrthümlich für den obern Theil dieses nectarium
die Anthere ansah, so traf doch sein Scharfblick darin richtig, dafs er es
nicht mit den übrigen fünf Blättchen des perigonium zusammenstellte. Denn
das Zabellum steht nie in einem Kreise mit den beiden innern Blättern des
perigonium, mit welchen Lindley es zur corolla zählt, so dafs er den Or-
chideen eine corolla tripetala zuschreibt, welche aus jenen beiden Blättchen
und dem labellum besteht. Es ist sogar nicht selten mit der columna ver-
wachsen, wie man an vielen Arten der Gattung Epidendrum und Andern
sehen kann; Lindley selbst führt dieses schon an und setzt hinzu, dafs an
einigen Arten der Gattung Pierygodium das labellum von der Spitze der
columna ausgehe. In den meisten Fällen ist es mit der Basis der columna
verwachsen und zuweilen so, dafs die Oberhaut der columna in die Ober-
haut des Zabellum ohne Unterbrechung übergeht, wie Maxillaria cruenta
und manche andre Orchideen zeigen. In den Fällen, wo das labellum ge-
trennt von der Säule erscheint, wie es besonders an unsern einheimischen
Arten der Gattung Orchis der Fall ist, steht es nicht in einem Kreise mit
den beiden innern Blättern des perigonium oder den beiden Blättern der
corolla und sogar, wo es unterhalb der Blumenblätter angewachsen ist, wie
an Stenorhynchus, schiebt sich doch der dicke untere Rand innerhalb, also
über die Blumenblätter hinauf.
Man wird allerdings einwenden, dafs eine innere Reihe des perigonium
oder eine Blumenkrone aus zwei Blumen- oder Perigonienblättern in der
Klasse der Monokotylen etwas Anomales sei, wo die dreifache Zahl herrscht,
Bemerknngen über den Bau der Orchideen. 109
und dafs man folglich das Zabellum zur Blumenkrone rechnen müsse, um
die Zahl drei herzustellen. Aber eine theoretische Forderung darf sich nicht
an die Stelle der Wirklichkeit setzen; das Zabellum steht nun einmal nicht
im Kreise der Blumenkrone und kann nicht dazu gezählt werden. Will man
eine morphologische Erklärung, so mag man sagen, das in der Regel über-
grofse Zabellum habe das dritte unter ihm befindliche Blatt der corolla absorbirt.
Da nun das labellum deutlich zur Säule gehört, so müssen wir den
innern Bau der Säule untersuchen, ob darin sich vielleicht die Spuren eines
dem Zabellum entsprechenden Theiles, einer Oberlippe, finden, wobei zu-
gleich erforscht werden kann, ob darin die Spuren von drei Staubfäden zu
sehen sind. Wir wollen die Untersuchung mit der Säule der Orchis sam-
bucina, einer einheimischen Pflanze, anfangen. Einen Querschnitt durch
die Säule, und zwar durch den obern Theil derselben, wo die Aushöhlung
des Stigma noch sehr flach ist, stellt T.I, F.1 vor. Hier sieht man ein
grolses Gefäfsbündel nach oben und aufsen, und weiter nach unten und
innen ein anderes kleineres; auf beiden Seiten aber keine Spur von einem
Gefäfsbündel; alles ist lockeres Parenchym. Weiter nach unten, wo die
Stigmahöhlung sehr gebogen ist, sieht man, Fig. 2, drei Gefäfsbündel, aber
in gerader Linie von der obern Fläche bis zur Höhlung. Es können also die
drei Gefäfsbündel nicht drei Staubfäden angehören, da diese eine ganz an-
dere Stellung haben würden, als jene Gefäfsbündel wirklich haben. Nur
eines derselben liefse sich auf einen Staubfaden deuten, das andere auf den
Griffel, das dritte würde dann für einen Theil gelten, welcher oben an die
Säule angewachsen, aber nur kurz wäre, weil weiter nach oben das Gefäfs-
bündel nicht gefunden wird. Zwar sieht man in den Seitenflügeln der Stig-
mahöhlung
d
Richtung, können also ebenfalls verwachsenen Staubfäden nicht angehören.
zarte Spiralgefäfse, aber diese verlaufen sich in horizontaler
Unsere einheimischen Orchideen haben meistens eine sehr kurze
Säule, aber dieses ist keinesweges der Fall, wenn man viele Vandeen oder
Epidendreen betrachtet. Man findet hier die Säule oft sehr lang und dick,
mit mancherlei Anhängseln und Flügeln versehen, welche zwar mit ihr innig
verwachsen sind, aber doch nur eine Fortsetzung des äufsern Theils der
Säule scheinen. Es ist also nöthig, den innern Bau der Säule an solchen
Orchideen zu untersuchen, wo sie mehr hervorsteht und mit mehr oder we-
niger Anhängseln versehen ist.
110 Lıne:
Ich habe schon in den anatom.-botanischen Abbildungen T. 19 und
20 Quer- und Längsschnitte der Säule von Epidendrum elongatum darge-
stellt ('). Aufser dem Stigmakanal ohne Papillen ist auch der andre Kanal
abgebildet, welcher dadurch entsteht, dafs an Epidendrum das labellum
mit der Griffelsäule unten verwachsen ist, worin sich nun die Papillen fin-
den, welche das Zabellum und die Blütentheile überhaupt zu bedecken pfle-
gen. Hier sieht man nun Taf. 19, Fig. 1 u. 2 eine Menge Gefäfsbündel um
die beiden Höhlungen in einem Kreise, jedoch unregelmäfsig stehen, wovon
man allerdings drei zu den Staubfäden rechnen könnte, und noch mehr
wird dies bestätigt durch Fig. 8, Taf. 20, welche einen Querschnitt vom
obern Theile der Säule vorstellt, wo drei grofse Gefäfsbündel sich um die
Höhlung befinden und aufserdem vier kleine. Aber dann haben wir kein
Bündel für den Griffel selbst, und die vier kleinen Bündel sind nicht zu
deuten. Auf derselben Tafel ist Fig. 6 ein Querschnitt der Griffelsäule von
Gongora maculata vorgestellt, mit einer Menge Gefäfsbündel umher und
nur einem Kanal, weil hier das Zabellum mit der Griffelsäule, da wo der
Schnitt geschah, nicht verwachsen ist.
Doch schien es mir zweckmäfsig, die Griffelsäule, columna, ihrem
innern Bau nach, von einer andern Orchidee darzustellen, und ich habe
dazu Maxillaria cruenta gewählt, wo sich die Säule unten in einem Bogen in
das Zabellum, wenigstens äufserlich, fortsetzt. Ein Querschnitt durch den
untern Theil der Säule zeigt da, wo sich die Griffelsäule dem Fruchtknoten
nähert, in der Mitte einen in vier Flügel ausgehöhlten Kanal, T. 2, F.3 und
zuerst nach oben, ein grofses halbmondförmiges Gefäfsbündel, welches sich
in vielen Orchideenblüten findet über oder unter den äufsersten Gefäfsbün-
deln. Um den Stigmakanal liegen nun in ziemlich unregelmäfsigen Kreisen
viele — ich zähle 37 — Gefäfsbündel, unter denen sich keine so auszeich-
nen, dafs man sie auf drei Staubfäden deuten könnte. Wohl aber deuten
sie auf eine Umhüllung oder Umgebung, die sich mit den Staubfäden und
dem Griffel in einen Theil innig verbunden hat, und den Durchschnitt
(‘) Durch einen Schreibfehler ist in den Erklärungen der Stigmakanal mit einem andern
Kanal verwechselt worden. Dals dieses ein Schreibfehler ist, zeigt die dort gegebene Verwei-
sung auf die Grundl. d. Kräuterkunde Th. 2, S. 228, wo deutlich gesagt ist, dals der Stigmakanal
keine Papillen habe, wohl aber der andere Kanal.
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 111
durch die Mitte der Säule stellt T.2, F.2 dar. Hier stehen die Gefäfsbün-
del nur in einem Kreise um den Stigmakanal, der an dieser Stelle viel we-
niger ausgeschnitten ist, als unten, und zwar stehen sie ziemlich regelmäfsig,
nämlich nach aufsen, nach dem Rücken der Säule, fünf grofse, nach innen
drei ebenfalls grofse, dann folgt auf jeder Seite neben den fünf grofsen, ein
kleiner, und endlich stehen auf jeder Seite wiederum zwei grofse. Auch
hier ist es schwer, eine Deutung auf Staubfäden zu finden. T.2, Fig. 1
stellt endlich einen Querschnitt durch den obern Theil der Säule vor, wo
sich bei allen Orchideen der Stigmakanal seitwärts nach innen öffnet und
die Stigmahöhlung bildet. Von den eilf Gefäfsbündeln, welche den Stig-
makanal an der äufsern oder Rückenseite umgaben, sind nur neun übrig
geblieben, deren Deutung auf drei Staubfäden eben so schwierig bleibt als
sie vorher war. Auch möchte sich die Zahl der Gefäfsbündel nicht leicht
auf 6 oder 9 oder 12 Staubfäden deuten lassen, wobei man, wie oben schon
angegeben, erwägen mufs, dafs sich bei allen Phanerogamen Gefäfsbündel
im Griffel um den Stigmakanal befinden.
In dem Baue der Griffelsäule an den Orchideen mit einer Deckel-
Anthere (anthera opercularis) ist nun ein dreifacher Bau der Griffelsäule
bemerkbar. Der eine Taf. 2, Fig. 1-3 vorgestellte von Maxillaria eruenta
hat oben oder nach aufsen ein Gefäfsbündel allein und viele andere weiter
nach innen, welche den Griffelkanal umgeben. Hieher gehört auch der
Bau der Säule von Gongora maculata s. Anat.-bot. Abbild. T. 20, F. 6.
und nach meinen Untersuchungen von mehr Maxillarien, Stanhopeen und
andern Vandeen. Der andere ist der T.1, F. 3 abgebildete, nach einem
Querschnitt der Griffelsäule von Zygopetalum intermedium, wo drei Gefäfs-
bündel in regelmäfsiger Stellung um den Stigmakanal sich befinden, den nach
aufsen fünf Gefäfsbündel und zwei Doppelbündel, eins auf jeder Seite, um-
geben. Hieher gehört die Abbildung von Epidendrum elongatum Anat.-bot.
Abb. T. 19, wo ebenfalls viele Gefäfsbündel nach aufsen und einige zur Seite
der drei Bündel am Stigmakanal zu sehen sind. Ferner daselbst T. 20, F. 8
von Epidendrum sinense mit nur zwei Gefäfsbündeln auf jeder Seite des obern
der drei Bündel um den Stigmakanal. Am einfachsten ist der Bau der Säule
von Calanthe veratrifolia. Hier befinden sich über den drei Gefäfsbündeln
um den Stigmakanal noch drei andere in regelmäfsiger Stellung nach oben
1193 Line:
und aufsen. Die dritte Stellung ist die an den einheimischen Arten von Or-
chis, T. 1, F.1 u. 2 vorgestellt.
Die Menge von Gefäfsbündeln, welche den Stigmakanal in gar vielen
Fällen umgeben, deuten, wie schon erwähnt, auf einen Theil, welcher mit
den Staubfäden den Stigmakanal umgiebt und mit ihnen sowohl als mit dem
Griffel innig verwachsen ist. Er fällt mit dem Griffel zusammen in einen
Kreis bei der ersten oben angegebenen Stellung der Gefäfsbündel, er ist
von ihm getrennt in der zweiten Stellung; er ist nur in einer kleinen An-
deutung vorhanden in der dritten Stellung. Da er innerhalb des perigonium
oder der corolla sich befindet, so würde ihn Linne ein neciarium genannt
haben; mir scheint der Name paracorolla, Nebenkrone, zweckmäfsiger.
Wie in die corolla oder in das perigonium gehen in einen solchen Theil
mehr oder weniger Gefäfsbündel über, welche sich auch mehr oder weniger
nach oben verbreiten und sich früher oder später endigen. Dieser Theil
tritt an den meisten Orchideen mit einer Deckel-Anthere (anthera opercu-
laris) am Rande hervor und umfafst in der Regel mit drei Lappen die An-
there. Er hat auch nicht selten oben hervorstehende Spitzen, Anhängsel
an den Seiten und andere Auswüchse, welche aber aus blofsem Parenchym
bestehen, ohne Spuren von Gefäfsbündeln. Besonders sind die Arten der
Gattung Oncidium mit solchen Verzierungen reichlich versehen. Zuweilen,
wie an vielen Epidendreen, namentlich Bletia, schiebt sich auch eine vor-
springende Leiste unter der Anthere hin und unterstützt sie ganz. Dann ist
diese Leiste mit der Leiste verbunden, welche den Stigmarand umgiebt.
An den Vandeen unterstützt jene Leiste nur von beiden Seiten die Anthere,
wenigstens an den von mir untersuchten. Doch die Verschiedenheiten der
Säule überhaupt sind so grofs und so ausgezeichnet, dafs sie Lindley oft
mit Glück zur Charakteristik der Gattungen angewendet, und Francis
Bauer gezeichnet hat. Aus allem diesem geht hervor, dafs in sehr vielen
Orchideen noch ein Theil mit der Säule verwachsen ist, welcher mit dem
labellum zusammenhängt, und mit demselben zugleich eine Nebenkrone
(paracorolla) darstellt. Diese Nebenkrone hat meistens zwei Lippen, eine
mit der Säule verwachsene Oberlippe, und eine freistehende Unterlippe,
das Zabellum. Die Oberlippe scheint zuweilen zu fehlen, wie an der Gat-
tung Orchis, und diese würde nach der Anthere ein vortreffliches Kennzei-
chen darbieten, um Abtheilungen der Orchideen zu unterscheiden, wenn
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 113
es nur leicht zu erkennen wäre. Eine solche Nebenkrone findet sich noch
an andern Pflanzen, namentlich den Alpiniaceen, den Asklepiadeen u. a.
Anf dem Zabellum mancher Vandeen findet sich gleichsam noch eine
andere Lippe aufgewachsen, welche Lindley sehr treffend epichilium genannt
hat. Es ist bei einigen z.B. bei Amdlygottis u. a.m. von dem labellum ge-
sondert und nur mit der untern Fläche aufgewachsen. Er steht deutlich mit
der Nebenkrone iu Verbindung.
Die Antheren der Neottiaeen haben den innern Bau der Antheren
überhaupt, der sich durch die Spiralzellen in ihrem Umfange sehr auszeich-
net. Ich habe sie an Stenorhynchus besonders sehr deutlich gesehen. Ver-
schieden davon ist die Deckel- Anthere. Der äufsere Theil derselben, der
die beiden Fächer äufserlich umgiebt, T. 2, F. 4, enthält einen Bündel Spi-
ralgefäfse, welcher den Deckel der Länge nach durchzieht; er ist also nicht
der Anthere selbst, sondern dem coanecticulum der Antherenfächer, einem
Theile des Staubfadens selbst, analog. Wenn man aber von den beiden
Fächern, welche die Pollinarien einschliefsen, und sich auf der innern Seite
des Deckels befinden, T. 2, Fig. 5 u. 6, ein Stück ablöst und es betrachtet,
so findet man Spiralzellen auf der Oberfläche, worin sich aber die Spiral-
fäden auf eine mannigfaltige Weise durcheinander winden. Dieses bestätigt
die gegebene Deutung, dafs nämlich der Deckel selbst das connecticulum
des Staubgefäfses sei, also das obere nicht mit der Säule verwachsene Stück
des Staubfadens, hingegen die beiden Fächer, welche die Pollinarien ein-
schliefsen, die Antheren selbst darstellen.
Die Pollenmassen selbst sind sehr verschieden und bilden ein zweck-
mäfsiges Kennzeichen zur Unterscheidung der Gattungen, wozu es auch
Lindley benutzt hat. Die länglichen, keulenförmigen Pollinarien bestehen
aus einem innern oft sehr zarten Körper, der sich aus dem Stiele durch die
Masse durchzieht, und aus einem sehr elastischen Zellgewebe besteht. Die
Pollenkörner liegen darauf entweder lose, nämlich wenig angeklebt, oder
sie sind besonders nach unten fest angeklebt und nach oben loser. An eini-
gen Vandeen, z. B. an der Huntleya violacea, sind die Pollinarien mit einer
zarten Haut aus vieleckigen Parenchymzellen überzogen, T. 2, F. 7; inner-
halb welcher sich, wie bei andern Phanerogamen, die Pollenkörner im An-
fange zu vier, in einer zarten Zelle befinden.
Phys. Kl. 1849. P
114 Line:
Die Stigmadrüse habe ich an einigen Vandeen, wo sie zuweilen sehr
grofs ist, untersucht und darin Parenchymzellen gefunden, mit einer kle-
brigen Flüssigkeit angefüllt.
Sehr abweichend von den bisher angeführten Orchideen, erscheint
die Gattung Cypripedium, welche noch immer zur Gynandria Diandria ge-
rechnet wird, indem alle andern zur Monandria gehören. Denn zur An-
there gehören zwei Fächer, und diese sind gar deutlich an ihnen zu sehen,
wie schon oben im Anfange dieser Abhandlung gesagt worden. An Cypri-
pedium hingegen soll der mittlere Staubfaden fehlen, indem die beiden an-
dern mit ihrer Anthere entwickelt sind. Aber die beiden sogenannten An-
theren kommen aus derselben Basis hervor, und stellen ein zweigetheiltes
connecticulum dar, von denen jeder Theil sein Antherenfach trägt, worin
sich das kugelförmige pollinarium befindet. Dafs man diesen Körper für
eine Anthere, nicht für ein pollinarium gehalten hat, rührt daher, weil der
Blütenstaub in eine deutliche, sogar dicke Haut eingeschlossen ist, welche
den Pollinarien der meisten Orchideen fehlt, oder doch nur sehr dünn und
zart ist. Unter dieser dicken Haut liegen sogleich die Pollenkörner, welche
aus einer zarten Haut bestehen, worin ein oder zwei grofse und viele kleine
Körner liegen, T.2,F.7. Nähert man die beiden Antherenfächer, so stel-
len sie eine Anthere dar. Es giebt hin und wieder Beispiele im Pflanzen-
reiche, wo ein conneeticulum die Antherenfächer trennt, ich will nur die
Alpiniaceen anführen. — Ein Querschnitt durch die Säule von Cypripedium
(spectabile), T. 1, F. 3, zeigt in der Mitte einen dreitheiligen Stigmakanal,
in den Buchten drei Gefäfsbündel, in jeder Bucht nämlich einen und nach
aufsen wiederum drei in einem Dreieck gestellte Bündel, von denen das
oberste auf jeder Seite zwei etwas kleinere hat.
Es ist der Ähnlichkeit der Orchideen mit den Alpiniaceen einigemal
erwähnt worden, und da die Vergleichung beider mit einander, die oben
gegebene Darstellung der Orchideenblüte, wenn auch nicht beweist, doch
erläutert, so will ich sie genauer angeben. Die Blüten der Alpiniaceen ha-
ben einen Kelch, einen scheidenartigen, dreitheiligen oder dreiblättrigen,
welcher mit den drei äufsern Perigonienblättern, Lindley’s calyx, überein-
kommt. Dann folgt die Blume (corolla), deren Abtheilungen immer zwei
Kreise bilden, wovon der äufsere, bei allen, noch so verschiedenen Gat-
tungen, gleichgestaltet ist, nämlich dreitheilig, mit drei schmalen Abthei-
m
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 115
lungen. Dieser äufsere Kreis der Blume würde sich mit dem innern Kreise
des Perigoniums der Orchideen, Lindley’s corolla, vergleichen lassen, wenn
dieser nicht das dritte Blatt fehlte, indem das /abellum, wie oben gezeigt,
damit nicht in einem Kreise sich befindet. Doch es ist schon oben von die-
sem Mangel geredet worden, und ihn abgerechnet bleibt die Analogie zwi-
schen beiden Kreisen der Blüte (os). Nun finden wir noch eine dritte,
innere Reihe in der Blüte der Alpiniaceen, der äufsern ganz unähnlich, und
immer durch ein Zabellum ausgezeichnet, so dafs hierin die Alpiniaceen den
Orchideen völlig gleichen. In der Regel findet sich auch eine Oberlippe
für diese Unterlippe, allerdings nicht mit dem Griffel und den Staubge-
fäfsen verwachsen, wie bei den Orchideen, aber immer viel weniger ausge-
bildet, als die Unterlippe. Die Oberlippe fehlt sogar einigen Gattungen der
Alpiniaceen, wie der Gattung Alpinia selbst. Auch hier finden wir eine Ana-
logie bei den Orchideen, indem der Gattung Orchis und einigen verwandten
Gattungen die Oberlippe der paracorolla ganz fehlt, oder nur sehr klein
ist. Die Alpiniaceen haben nur einen Staubfaden, wie die Orchideen, aber
dieser ist gar oft oben in ein Blumenblattartiges connecticulum ausgebreitet,
welches die Fächer der Anthere trennt. Auch hier ist eine Analogie in der
Blüte der Orchideen; denn was man anthera an Orchis nennt, ist ein con-
necticulum, welches zwar die Fächer nicht sondert, jedoch umfafst, und
alle Deckel- Antheren sind, wie oben gezeigt worden, connecticula, an de-
ren innerer Fläche sich die wahre Anthere in ihren zwei Fächern befindet.
Was nun das Stigma betrifft, so ist kein Zweifel, dafs man es mit
Rob. Brown dreilappig nennen mufs. Überall, wo ein Querschnitt durch
die Säule gehörig gemacht wurde, sieht man dieses. Sehr oft sind die drei
Lappen wiederum in zwei getheilt, wie an Gongora maculata, Zygopeta-
lum intermedium, wie die oben angeführten Figuren zeigen. So ist es auch
in Stanhopea eburnea, Maxillaria macrochila u.a.m. Lindley’s Meinung,
dafs die Kapsel aus 6 Carpellarblättern besteht, wird auch vollkommen be-
stätigt, wenn man Querschnitte durch die Spitze des Fruchtknotens macht,
wie besonders deutlieh an der eben angeführten Sitanhopea eburnea zu
sehen ist.
In den Ausgewählt. botan.-anatom. Abbildungen, F.2, T.7, sind
keimende Samen von Orchideen nach ihrem innern Bau abgebildet, woraus
hervorging, dafs der ganze Same in einen knollenartigen Körper verwandelt
P2
116 Lımwx: Bemerkungen über den Bau der Orchideen.
war. Die damals untersuchten Orchideen waren solche, welche keine knol-
lige Glieder haben. Ich habe nun jung gekeimte Orchideen und zwar von
solchen erhalten, welche knollige Glieder haben. Sie stellten Pflänzchen
mit zwei grünen Knollen dar, eine über der andern. Die untere fast kugel-
förmige Knolle von einer Linie im Durchmesser war unten abgestumpft, mit
feinen Zasern besetzt, und zeigte auf der Oberfläche die braunen Spuren
von nicht entwickelten Blattscheiden, eine unten und eine in der Mitte.
Etwas zur Seite kamen zwei ziemlich dicke Wurzeln, eine auf jeder Seite,
hervor. Die obere Knolle war fast von derselben Gröfse, als die untere,
aber etwas länglich, und an der Basis von mehreren kurzen Blattscheiden
umgeben. Ein Längsschnitt durch die untere Knolle, der aber nur durch
eine Wurzel gehen konnte, da beide nicht in einer Ebene lagen, hatte grofse
Ähnlichkeit mit der oben angeführten Abbildung. Das Ganze bestand aus
Parenchym, mit Kernen (sogenannten Cytoblasten), wie dort, und in der
Mitte befand sich ein Gefäfsbündel, welches einen Zweig auf beiden Seiten
nach oben aussandte, und nach unten sich in die Wurzel verlängerte. An
der Spitze gingen die Gefäfsbündel in die obere Knolle über, und theilten
sich dort in mehrere, und zwar in vier Aste. Da die Pflanze hier schon
weiter ausgewachsen war, als in der schon früher abgebildeten, so liefsen
sich die Unterschiede leicht von dem jüngern Zustande ableiten. Es waren
nämlich dort die Gefäfsbündel noch dünner, die Seitenäste gingen weiter nach
oben von dem mittleren Bündel ab, und es verlängerte sich das mittlere
Bündel nicht in eine Wurzel, weil keine vorhanden war, übrigens fand sich
eine völlige Ähnlichkeit. Noch mehr zeigte der innere Bau der obern Knolle,
dafs die untere aus der Samenknolle entstanden war, indem die obere sich
als ein junges, ausgetriebenes, knolliges Glied darstellte. Die Gefäfsbündel
hatten sich in der letzten schon sehr zertheilt; es befanden sich im Quer-
schnitt 17, in zwei Kreisen, und überall waren zerstreute runde Lücken, wie
sie in den knolligen Gliedern der Orchideen gewöhnlich sind. Die obere
Knolle gehört also zum Stamm, die untere war eine Wurzelknolle. Wir
finden hier also eine Bestätigung der sonderbaren Erscheinung, dafs sich,
wenigstens in vielen Orchideen, der Kern des Samens mit dem Embryo in
eine Knolle verwandelt.
Bemerkungen über den Bau der Orchideen.
Zweite Abhandlung.
n
Hr. oE#L'NK:
mnnn anna
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. Februar 1850.]
V. den Blütentheilen der Orchideen ist in der ersten Abhandlung geredet
worden; es folgen nun die übrigen Theile dieser sonderbaren Gewächse,
Wurzeln, Stamm und Blätter, welche ebenfalls ungewöhnliche Formen
darbieten.
Die Monokotylen Pflanzen, zu denen bekanntlich die Orchideen ge-
hören, haben ein besonderes Bestreben, Zwiebeln, Rhizome und Knollen
zu bilden, indem Zwiebeln bei den Dikotylen fast gar nicht, Rhizome sehr
selten und Knollen nicht häufig vorkommen. Es ist offenbar der weniger
entwickelte Bau dieser Gewächse, der sich auch in diesen Theilen zeigt,
die gleichsam einen ganzen Stamm in sich schliefsen, welcher nicht zur Aus-
breitung seiner Theile gelangte. Dieser Mangel an Entwickelung zeigt sich
auch an den Orchideen, und zwar hier an Theilen, woran er sonst nicht
angetroffen wird; in der Blüte sahen wir Staubgefäfse und Griffel in eine
Säule verwachsen, und die Wurzelfasern sind nicht allein zu Knollen ge-
worden, sondern auch die Glieder des Stammes selbst.
Die Arten der Gattung Orchis haben bekanntlich zwei Knollen, welche
sogar der Gattung den Namen gegeben haben. Sie sind entweder unzer-
theilt, oder sie theilen sich an der Spitze in eine unbestimmte Anzahl von
Theilen, die kürzere oder längere Wurzelfasern darstellen; die eine dieser
Knollen ist frischer als die andere, welche nicht gar selten eingeschrumpft
und saftlos erscheini. Wenn man genau nachsieht, so findet man an der
letztern die Narbe, welche zeigt, dafs dort früher ein Stamm gewesen ist,
welcher abgefallen, oder es zeigen sich noch Spuren von dem verwelkten
118 Lın«k:
Stamm selbst. Es ist hier also der Fall wie mit den Tulpen; so wie bei
diesen die eine Zwiebel wächst, schwindet die andere, und ebenso wird bei
Orchis eine Knolle ausgesogen, indem die andre in voller Vegetation sich
befindet. Nur ist hier der Unterschied, dafs aus der Zwiebel einer Tulpe
der Stamm im künftigen Jahre hervortreibt, dafs hingegen aus der Knolle
der Orchis im künftigen Jahre nichts hervorkommt, indem die Knospe für
den Stamm des künftigen Jahres am alten Stamm über der Knolle erscheint.
Der Unterschied liegt allerdings nur darin, dafs an der Tulpe der Stamm in
der Zwiebel steckt, an Orchis hingegen über der Knolle hervortritt.
Die Knolle der Orchis-Arten gehört zu den Wurzeltheilen; sie kommt
an derselben Stelle des Stammes hervor, wo die Wurzelfasern sich befinden,
sogar in der Regel unter derselben; sie treibt nie, gesondert vom Mutter-
stamme, eine Knospe und daraus einen jungen Stamm, wie die wahren
Knollen und die Rhizome zu thun pflegen; sie wächst, wie alle Wurzeltheile,
nach unten. Herr Irmisch hat dieses sehr gut in einer so eben erschienenen
Schrift gezeigt (!).
Jedoch, es ist eine Betrachtung des innern Baues dieses Knollen noth-
wendig, um das Verhältnifs derselben zu den Wurzel- oder Stammtheilen
genauer darzustellen. Wenn man die Knospe an der Basis des Stammes
einer Orchis, z. B. an der Orchis latifolia, 'T. 3, F. 1, untersucht, ehe sie
sich entwickelt hat, so sieht man, T. 3, F. 2, dafs sie oben mit ihrem spitzen
Theil an dem Stamm dicht anliegt, nach unten aber einen etwas von ihm
abstehenden Höcker bildet. Schneidet man die Knospe der Länge nach
durch, so zeigt sich oben die Blattknospe, aus zusammengewickelten Blät-
tern bestehend, s. T. 3, F.2 a, in der Mitte ein kleiner, fast kugelförmiger
Theil 5, und weiter nach unten ein kegelförmiger Theil c, die Andeutung
der künftigen Knollen; alles in die gemeinschaftliche Haut eingeschlossen,
die den Stamm überzieht. Der mittlere, kleinere Theil ist die Grundlage
der ganzen Pflanze. Er steht mit dem Mutterstamme in Verbindung und
zeigt bei gehöriger Vergröfserung, T. 3, F. 3, dafs er aus Parenchym be-
steht, mit vielen kleinen Amylumkörnern in den Zellen, und einem Gefäfs-
bündel in der Mitte, begleitet, wie gewöhnlich, von langen, gestreckten Zel-
€) Zur Morphologie der monokotylischen Knollen- und Zwiebelgewächse von Thilo Ir-
misch Berl. 1850. S. 129.
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 119
len, worin sich keine Amylumkörner befinden. Das Gefäfsbündel kommt
aus dem Mutterstamm hervor, und ist ein Zweig eines dort aufsteigenden
Gefäfsbündels. Das Ganze der Knospe ist mit einer Zwiebel zu vergleichen,
der obere Theil, die Blattknospe, ist in beiden gleich; der mittlere Theil
ist dem Zwiebelstock ähnlich, welcher sich in jeder Zwiebel befindet, aus
welchem nach oben die Blattknospe hervortritt, nach unten aber die Wur-
zelfasern entspringen, statt deren hier nur eine einzige, sehr verdickte sich
in ihren Anfängen zeigt.
Vergleichen wir nun den innern Bau der Orchisknolle mit dem innern
Baue der Wurzelfaser von derselben Pflanze, so zeigt sich hier allerdings
eine Verschiedenheit. Der innere Bau der Wurzelfaser ist der gewöhnliche
Bau der Monokotylen. S. den Querschnitt einer Wurzelfaser von Orchis
palustris, Taf. 3, Fig. 4. Die äufsere Rinde besteht aus einer Schicht
oder zwei Schichten von kleinen Parenchymzellen, dann folgt eine verhält-
nifsmäfsig sehr dieke mittlere Rinde aus grofsen Parenchymzellen, und gegen
die Mitte wiederum Schichten von kleinen Zellen, welche einen Kreis von
Gefäfsbündeln umgeben, in deren Mitte sich ein kleinzelliges Parenchym,
gleichsam Mark befindet. Die Gefäfsbündel bestehen aus wenigen Spiral-
Gefäfsen und liegen in geringen Entfernungen von einander, zu 6 — 12 in
einem Kreise. Ein Stück von dem Querschnitt einer Knolle derselben
Pflanze ist T. 3, F. 5 vorgestellt. Eine dünne Rinde aus kleinen Parenchym-
zellen umgiebt das Ganze, welches aus ziemlich grofsen Parenchymzellen
mit vielen runden Lücken besteht. In diesem Parenchym finden sich nun
drei bis vier Kreise von einfachen oder doppelten Gefäfsbündeln, meistens
aus Spiralgefälsen, welche von einander ziemlich entfernt stehen, und von
einem gelblich gefärbten Zellgewebe begleitet werden. Die Zahl der Kreise
von Gefäfsbündeln ist in verschiedenen Knollen verschieden und scheint
sich nach der Dicke zu richten, auch stehen die Bündel oft sehr unregel-
mäfsig in den Kreisen. Also überhaupt genommen ein sehr einfacher Bau.
Die Knollen scheinen also aus vielen verwachsenen Wurzelfasern von unent-
wickeltem Bau zu bestehen, auch wachsen sie an den Orchisarten, mit ge-
theilten Knollen, oft in wahre Wurzelfasern aus, wie an Orchis latifolia
T.3, F.1. Die Lücken habe ich in allen Orchisknollen gefunden, die ich
untersucht habe, auch sind sie wegen ihrer regelmäfsig runden Gestalt auf-
fallend. Immer enthalten die Zellen der Knollen Amylumkörner, aber in
120 Lıne:
den Wurzelfasern habe ich nie dergleichen gefunden: immer wurden die in
den Zellen befindlichen Körner durch Jod gelb, nie blau. Ein doppeltes
Gefäfsbündel bei a T. 3, F. 5 ist mit den anliegenden kleinern, gelblichen
Zellen, den grofsen mit Amylum gefüllten Parenchymzellen und den Lücken
vergröfsert T. 3, F. 6 vorgestellt.
Bekanntlich werden die Knollen der Orchis- Arten unter dem Namen
Salepknollen zur Arznei angewendet. Es ist ein orientalisches Azzneimittel,
und vormals kamen auch die Salepknollen aus dem Orient, wie man meinte
von Orchis Morio, und wohl nicht mit Unrecht. Die Knollen von Orchis
Morio sind zwar ungetheilt, haben aber zuweilen kleine, hervorstehende
Spitzen, Anfänge von Theilung, und dieses bemerkt man auch zuweilen an
den käuflichen orientalischen Salepknollen. Auch ist Orchis Morio weit-
verbreitet; häufig bei uns in Deutschland, ich fand sie in Portugal, und
Sibthorp giebt sie bei Constantinopel und auch in Cypern an. Jetzt sam-
melt man Salepknollen in Deutschland, besonders von Orchis mascula. Da
die orientalischen Salepknollen fest und hornartig durchscheinend sind, die
einheimischen aber geradezu getrocknet welk und runzlicht werden, so wirft
man diese, nachdem sie gesammelt und gereinigt worden, in heifses Wasser,
worin sie aufschwellen, reibt die äufsere Haut mit einem groben Tuch oder
einer Bürste ab, und trocknet sie sehr schnell auf einer erwärmten Platte.
Dadurch erhalten sie nun die Dichtigkeit und die hornartige Durchsichtig-
keit der orientalischen Salepknollen. Heifses Wasser löst bekanntlich die
Stärkekörner auf und verwandelt sie in einen Kleister, der beim Trocknen
fest und durchscheinend wird. Da dieser Kleister von den Zellen umschlos-
sen wird, auf deren Membran das heifse Wasser keine andre Wirkung hat,
als dafs es sie durchdringt, so bleibt der entstandene Kleister in den Zellen
eingeschlossen, wie in der gekochten Kartoffel. Ich habe Salepknollen von
vielen Orten her, unter diesen auch orientalische untersucht, und in allen
die Stärkekörner in eine gleichförniige Masse verwandelt gefunden, ein Zei-
chen, dafs man auch im Orient die Salepknoilen mit heifsem Wasser ebenso
behandelt, wie oben angeführt wurde ('). Übrigens ist nicht allein die
(') Das Verfahren, die Knollen von einheimischen Arten der Gattung Orchis durch Be-
handlung mit heilsem Wasser den orientalischen Salepknollen ähnlich zu macheu, ist, soviel ich
weils, zuerst von A. J. Retzius angewendet. Er nahm die Knollen von Orckis Morio. 8. Ab-
handl. d. Schwedisch. Akadem. d. Wissenschaften f. 1764, S. 251 d. Übersetzung.
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 121
Menge der Stärkekörner, sondern auch ihre Gröfse in vorhandenen Arten
von Orchis verschieden; die Knollen von unsern häufigsten Orchis Arten,
Orchis latifolia und argustifolia enthalten wenige und sehr kleine Stärke-
körner. In den welken Knollen von dem vorhergehenden Jahre sind die
meisten Zellen ganz leer, und andere enthalten wenige Körner von Stärk-
mehl. Die Körner sind also vor dem Verwelken aufgelöst und dann absor-
birt worden, unstreitig zur Ernährung der daneben stehenden Knolle und
Pflanze.
Von den Knollen der Spiranthes autumnalis hat Irmisch gezeigt, dafs
sie von den Knollen der Orchis Arten in mancher Rücksicht sich auszeich-
nen; sie gehören dem Stamme desselben Jahres an; sie sind von unbe-
stimmter Anzahl, ein bis drei; sie verwelken auch mit demselben Stamme.
Sie scheinen sich also von den Wurzelfasern nur durch die Dicke zu unter-
scheiden, die doch auch nur gering ist. Wohl aber ist der innere Bau ver-
schieden, den Irmisch nicht untersucht hat, denn es ist nicht ein Gefäfsbün-
del allein darin, sondern mehre durchziehen die Knollen, wie in den Orchis
Knollen.
Indessen giebt es viele Orchideen, welche wahre Wurzeln dem in-
nern Bau nach haben, wenn sie auch zuweilen äufserlich von einer besondern
Gestalt sind. Zu diesen gehören viele unserer einheimischen Orchideen aus
den Gattungen Epipactis, Listera, Neottia, Corallorhiza, von den letztern
Neottia Nidus avis und Corallorhiza innata. Die Wurzeln der Epipactis
Arten gleichen den Wurzeln der Monokotylen überhaupt, doch mit dem
Unterschiede, dafs sie in der Mitte kein Zellgewebe oder Mark haben, wie
es den kleinern Wurzeln der Aloinen u. a. Monokotylen ebenfalls mangelt.
Auch die Zweige der zierlich verästelten Wurzeln von Corallorhiza hatten
kein Mark. Es ist allerdings affallend, dafs diese Wurzeln, welche selb-
ständig ohne Knollen erscheinen, kein Mark haben, da es doch in den Wur-
zelfasern der Orchis Arten mit Knollen deutlich vorhanden ist, wie oben
beschrieben worden.
Was nun die Wurzeln der ausländischen, meistens tropischen Orchi-
deen betrifft, welche sich auch durch ihre knolligen Stammglieder auszeich-
nen, so ist es nothwendig zugleich auf die ganze Pflanze namentlich der über-
irdischen Theile derselben Rücksicht zu nehmen. Sie kommen fast alle
aus niederliegenden oberflächlichen, oder unterirdischen Stämmen hervor,
Phys. Kl. 1849. Q
1223 Lınk:
welche den Ausläufern völlig gleichen, nur sich sehr verästeln, und holzig
werden. Sie treiben nach oben Stämme und nach unten Wurzeln, wie alle
Ausläufer. Der erste, ursprüngliche Stamm, welcher aus dem Samen her-
vorgeht, scheint keine bedeutende Höhe zu erreichen, sondern sogleich
Ausläufer zu treiben und dann zu welken. In dieser Rücksicht scheinen
diese Orchideen Ähnlichkeit mit den Farn, namentlich den Polypodium
Arten zu haben. Noch niemand hat diese Orchideen von dem Keime an,
bis zu einer beträchtlichen Höhe beobachtet. Die Wurzeln, welche nun
aus diesen niederliegenden Stämmen hervorkommen, sind ihrem innern Baue
nach einander ganz gleich, aber man möchte sagen, wie es sich trifft, unter-
irdisch, parasitisch, oder Luftwurzeln, und gar nicht selten kommen diese
drei Arten von Wurzeln an einer und derselben Pflanze hervor. Sehr oft
sieht man, dafs die Luftwurzeln, wenn sie feuchtes Holz erreichen, darauf
anwachsen, auch scheint es, dafs sie unterirdische Wurzeln werden können
wenn sie Erde genug haben, oder vielmehr, dafs die Pflanze unterirdische
Wurzeln dort treibt, wo sie die Erde berührt, Luftwurzeln hingegen, wo
der Stamm über der Erde sich befindet. Doch es ist nöthig die Anatomie
einer Luftwurzel, die zugleich eine parasitische ist, nämlich der Stanhopea
ebornea zu geben, als Muster für alle Wurzeln dieser Orchideen. Eine
solche Wurzel ist oft einige Fufs lang, mit einer Wurzelspitze von gewöhn-
licher Form versehen, ganz glatt, aufser da, wo sie feuchtes Holz berührt,
an welches sie durch einen Filz gleichsam befestigt ist. Macht man einen
Querschnitt durch eine etwa anderthalb Linien dicke Wurzel so findet man
(s. T.4, F. 2) zuerst eine verhältnifsmäfsig dicke äufsere Rinde aus Spiral-
zellen, worauf die mittlere Rinde folgt, aus grofsen Parenchymzellen, welche
nach innen ebenfalls Spiralzellen werden. Der innere Mittel- oder Gefäfs-
körper ist von einem Kreise kleiner Parenchymzellen umgeben, innerhalb
dessen, die Öffnungen grofser Gefälse in einem Kreise liegen, welcher ein
Mark von kleinen Parenchymzellen einschliefst. So erscheint der Bau im
Ganzen dem Baue aller Monokotylenwurzeln sehr ähnlich, wie er schon
oben beschrieben wurde. Aber die Spiralzellen im Umfange (s. T.4, F. 1)
machen schon einen beträchtlichen Unterschied, da sie sich an den Wurzeln
anderer Monokotylen nicht finden. Die Spiralfäden in ihnen sind schmaler
als sie gewöhnlich zu sein pflegen, locker gewunden, und scheinen den
Wänden locker anzuliegen, auch leicht zu zerreifsen, wie man an den Rand-
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 123
zellen sieht, wenn nicht dieser Schein daher rührt, dafs die Spiralfäden
stellenweise aufhören oder schwinden. In der Nähe des Mittelkörpers findet
man ebenfalls Spiralzellen, (s. T.4, F. 3) welche sich aber von jenen im
Umfange unterscheiden, dadurch, dafs die Spiralfäden viel breiter, noch
lockerer gewunden, und oft getheilt sind. Der Mittel- oder Gefäfskörper
ist in einem Längsschnitt T. 4, F. 4 vorgestellt. Der erstere Ring besteht
aus langen, engen mit falschen Poren versehenen Parenchymzellen, worauf
viele, noch engere, ebenfalls mit falschen Poren dicht besetzte Prosenchym-
zellen folgen, innerhalb welcher die Gefäfse liegen. Diese sind nun soge-
nannte Spaltgefäfse, mit hellen mehr durchsichtigen Stellen, scheinbare
Spalten; die ziemlich grofsen Spiralgefäfse haben breite, oft getheilte Spiral-
fäden, welche hie und da zu schwinden scheinen. Das vorhin angegebene
Mark in der Mitte besteht aus langen, engen Prosenchymzellen, mit einzelnen
falschen Poren, auch Andeutungen von Spiralfäden. Zuweilen fehlen die
schiefen Querwände und dann sieht man in ihnen Luftblasen aufsteigen,
nachdem sie mit Wasser getränkt worden. Endlich sind noch die feinen
Haare zu betrachten, womit sich die Wurzeln an das feuchte Holz anlegen
(s. T.4, F.5). Sie öffnen sich gerade in die Zellen der Oberhaut, wie die
Wurzelhaare gewöhnlich zu thun pflegen, aber dann schwinden dort in ihnen
die Spiralzellen, so dafs sie leer scheinen. In dem Haare selbst, welches
keine Querwände wie gewöhnlich hat, windet sich ein zarter Spiralfaden
herum. Diese Haare dringen entweder in die zarten Spalten des Holzes ein,
und befestigen dadurch die Wurzel oder sie breiten sich auf der Oberfläche
der Rinde aus, und leisten dadurch dasselbe. — Die Wurzeln, welche sich
an diesen Pflanzen in der Erde befinden, haben durchaus denselben Bau,
nur sind sie viel kürzer, dünner und überall mit kleinen Haaren besetzt,
welche sich an die Erdtheilchen ansetzen.
Die Function der Spiralfäden in den Gefäfsen sowohl, als in den Zel-
len ist uns, wie so manche Gegenstände der Physiologie der Pflanzen, ganz
unbekannt. Gewöhnlich sind die Spiralzellen auf der Oberfläche der Pflan-
zen, auf den Luftwurzeln der Orchideen, wo sie Meyen zuerst beobachtete,
auf den Antheren wo sie Purkinje zuerst beschrieb, und im Epithelium der
Samen von Casuarina wo sie Rob. Brown und den Samen von Collomia
wo sie Lindley zuerst sah. Im Innern, wie hier an den Wurzeln der Örchi-
deen sind sie wenig beobachtet. Dienen sie vielleicht dazu, die jungen Gefäfse
Q2
124 Lıne:
und Zellen offen zu erhalten, und sind sie darum auf der Oberfläche der Or-
chideenwurzeln, weil die Zellen hier die Feuchtigkeit aus der Luft einsaugen
müssen, um die Pflanze zu nähren? Auch auf der Oberfläche der Antheren
möchten sie dieselbe Verrichtung haben, nämlich Feuchtigkeit aus der Luft
anzuziehen, weil dahin keine Gefäfse führen. — Wozu die Spiralfäden im
Epithelium einiger Samen dienen, ist schwerer zu sagen. Die Spiralgefäfse
haben bekanntlich grofse Ähnlichkeit mit den Luftröhren der Insekten;
Malpighi der Entdecker nannte sie daher tracheae und die Franzosen nen-
nen sie noch so. In den Luftröhren der Insekten scheinen sie die Verrich-
tung zu haben, diese zarten Röhren offen zu halten, analog den Ringen in
der Luftröhre höherer Thiere, und etwas Ähnliches möchte man auch von
den Spiralfäden in den Gefäfsen und Zellen der Pflanzen vermuthen, nicht
damit sie äufsern Druck widerstehen, sondern damit sie nicht in sich zusam-
manfallen. Aber, wird man sagen, warum haben die Luftwurzeln anderer
Pflanzen, namentlich der Aroideen, keine Spiralzellen in der äufsern Um-
hüllung? Die Antwort ist leicht. Diese Luftwurzeln dienen erst dann zur
Ernährung der Pflanzen, wenn sie in die Erde kommen, welches immer ge-
schieht, wenn sie nicht in ihrem Wuchs gestört werden, aber die Luftwurzel
der Orchideen geht nie in die Erde, wenn man sie ihr auch darbietet. Man
wird ferner fragen, warum haben die Wurzeln dieser Orchideen in der Erde
auch Spiralzellen, da sie doch den Wurzeln anderer Pflanzen fehlen? Darauf
läfst sich antworten, dafs überall in der Natur das Bildungsgesetz vorherrscht,
und alle andere Bestimmungen nachstehen. Die Bildung der Spiralfasern
in der Umhüllung der Luftwurzeln, welche diesen Pflanzen am nöthigsten
sind, ist herrschend geworden, und hat sich auch den Wurzeln mitgetheilt,
welche dieser Zellen nicht bedürfen. Die festen Schuppen bedecken die
Haut der Fische, und verleihen ihr Schutz, aber in der Haut des Aales sind
die feinen Schuppen, wie es scheint, ganz überflüssig.
Man hat die Bemerkung in den Gärten gemacht, deren Hauptzierde
die tropischen Orchideen in neuern Zeiten geworden sind, dafs sie nicht
leicht blühen, wenn man ihnen viel Erde giebt. Man hängt sie in Körben
auf, wo sie wenig oder gar keine Erde bekommen, man bindet sie an Holz-
stücken fest, ohne alle Erde, oder wenn man sie in Töpfen ziehen will, be-
packt man die Töpfe mıt Stücken gebrannter Ziegel, oder mit Steinen. Nur
Wärme und feuchte Luft verlangen sie um schön zu blühen. Die Orchideen-
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 125
gattung Aerides hat den Namen davon, dafs man in China eine Art dieser
Gattung in den Häusern frei aufzuhängen pflegt, wo sie blüht, und mit ihrem
Wohlgeruch die Wohnung erfüllt. Das Treiben des Krautes ist immer der
Gegensatz des Treibens zur Blüte; befördert man jenes, so vermindert man
dieses, und umgekehrt.
Aus den niederliegenden, oft sehr verzweigten Stämmen der tropischen
Orchideen gehen nur Stämmchen, eigentlich Aste, in die Höhe und Wurzeln
nach unten. Der innere Bau dieser niederliegenden Stämme ist der gewöhn-
liche der Monokotylen und zwar der Orchideen. Die Rinde, wenn auch
doppelt, ist in Rücksicht auf die Gröfse der Parenchymzellen doch dünn;
den ganzen innern Raum nimmt Parenchym ein mit einer Menge von Gefäls-
bündeln oder Holzbündeln, welche in vielen Kreisen dicht zusammen stehen,
und den Stamm oft sehr fest und holzig machen. Die ovalen Gefäfsbündel
bestehen auf einer Seite aus Spiralgefäfsen und pseudo-porösen Gefäfsen,
auf der andern aus langen und engen Zellen des begleitenden Zellgewebes,
wie dieses nicht selten unter den Monokotylen der Fall ist, wo nämlich die
beiden grofsen Gefäfse im Holzbündel fehlen. Die Stämmchen, welche aus
ihm hervorgehen, bestehen, wie in der Familie der Gräser, aus Gliedern, die
mit Scheiden an ihrer Basis umgeben sind, sich aber durch hervorstehende
Knoten nicht auszeichnen. Merkwürdig sind nun hier die knolligen Glieder,
welche die tropischen Orchideen auszeichnen, und welche sonst in keiner
Pflanzenfamilie auf diese Weise vorkommen. Sie entspringen aus den nie-
derliegenden Stämmen, meistens mit einem kurzen Stiel, der aber aus meh-
rern abgekürzten Gliedern besteht, die nicht gar selten durch Scheiden ge-
stützt sind, welche als vertrocknete Hüllen oft mit blofsen Blattnerven die
Glieder noch lange nach Zerstörung der Blattsubstanz einhüllen. Aus diesem
Stiel treibt dann das knollige Glied hervor, von länglicher Form oben und
unten stark zusammengezogen, vorn und hinten etwas zusammengedrückt,
glatt oder mit einigen tiefen Furchen von der Basis zur Spitze. Das Ver-
hältnifs der Breite zur Länge ist verschieden; sie sind überhaupt 3— 6 Zoll
lang, 1—3 Zoll breit, an einigen Epidendren und Leptotes sind sie lang
sehr dünn. Aus ihrer Spitze treiben nun Blätter hervor, sehr oft allein,
indem die Blütenstiele unten neben dem knolligen Gliede hervorbrechen,
doch sieht man auch zuweilen Blütenstiele zwischen den Blättern, wie an
einigen Schomburgkien, Epidendren, Oncidien und andere. Die jungen,
126 Lıne:
knolligen Glieder kommen an der Seite der ältern hervor oft zugleich mit
den davon getrennten Blütenstielen. So stehen diese knolligen Glieder oft
sehr dicht und in grofser Menge zusammen, auch bleiben sie noch lange
nachdem die Blätter an ihrer Spitze abgefallen sind; endlich aber werden
sie ausgesogen und schrumpfen ein. Diese lange Dauer, nachdem die Blät-
ter abgefallen sind, ist charakteristisch, und in dieser Rücksicht verdienen
sie den Namen pseudo-bulbi, den ihnen Lindley beigelegt hat. An einigen
Arten von Cyrtochilum und andern ziehen sich die Scheiden, welche die
Blätter an der Basis umgaben, zusammen und werden Stacheln. Es ist sehr
merkwürdig, dafs die Amerikanischen tropischen Orchideen gar oft solche
knollige Glieder haben, indem sie unter den Asiatischen viel seltener sind.
Es giebt auch Übergänge zur gewöhnlichen Form. So haben viele Arten
von Catasetum, einige Arten von Cycnoches und andere, unten an den Stämm-
chen verdeckte Glieder, mehrere über einander, die einen Cylinder ohne
Absätze darstellen, und dadurch mit den knolligen Gliedern übereinstimmen,
dafs sie noch lange stehen bleiben, nachdem die Blätter und Blütenstiele an
ihrer Spitze verwelkt sind.
Der innere Bau der knolligen Glieder kommt im Ganzen mit dem
Baue des niederliegenden Stammes überein. Innerhalb der dünnen Rinde
ist der ganze Raum mit Parenchym erfüllt mit vielen Lücken, und grofse
und kleine Holzbündel stehen im Kreise umher, auch bestehen die Holz-
bündel auf einer Seite aus Gefäfsen auf der andern aus engen Zellen. Wie
in den Wurzeln giebt es auch Spiralzellen im Innern. Die äufsere Oberfläche
dieser Glieder besteht aus Zellen mit äufserst verdickten Wänden — daher
die Festigkeit der äufsern Haut — die zugleich wellenförmig gebogen sind.
Recht auffallend ist dieses an Acropera Loddigesü, Maxillaria cruenta
auch andern. Statt der Spaltöffnungen finde ich grofse Öffnungen zwischen
den wellenförmigen Zellwänden. Am sonderbarsten sind die Röhren mit
warzenartigen Hervorragungen, welche sich im Holzbündel, den Gefäfsen —
meistens Gefäfsen mit scheinbaren Spalten — gegenüber befinden, so dafs
sie von diesen durch lange und enge Zellen gesondert werden s. T. 4, F. 6.
In der Nähe der Gefälse sind diese Zellen am engsten, und ohne falsche
Poren, dann werden sie weiter und haben solche Poren. Jene warzenarti-
gen Hervorragungen haben eine regelmäfsige ellipsoidische Gestalt, mit einem
innern ebenfalls ellipsoidischen Kern, und stehen auch in regelmäfsigen
Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 4197
Entfernungen von einander an den Wänden dieser Röhren, wie es scheint
nur an einer Wand und zwar an der von den Gefäfsen und von der Axe ab-
gekehrten Wand. Ich will hiebei nur daran erinnern, dafs in den Monoko-
tylen, die Gefäfse im Holzbündel immer auf der Seite stehen, welche der
Axe zugekehrt ist. Aufser den knolligen Gliedern habe ich diese Hervor-
ragungen auch in den Nerven der Blätter an Zygophyllum Mackayi gefunden.
Dort liegen sie ebenfalls im Gefäfsbündel, den Gefäfsen gegenüber, von
ihnen durch langzelliges pseudo-poröses Gewebe getrennt. Sie sind in allen
diesen Fällen ihrer Lage nach Baströhren analog. — Übrigens habe ich in
den Blättern der Orchideen, die äufserlich sehr wenige Unterschiede zeigen,
auch nichts im innern Baue gefunden, was sie von andern Monokotylen mit
ähnlichen Blättern unterschiede. Eben dieses gilt auch von den Blüten-
stengeln der Orchideen; die Gefäfsbündel oder Holzbündel stehen in Krei-
sen, wie gewöhnlich, und sind in Stellung und Bildung den Holzbündeln im
niederliegenden Stamme ganz ähnlich, wie sie sich auch in vielen Monoko-
tylen finden.
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Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
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> Be ee Yaıtı
w an REN a ar 2
Über
die Bestimmung der elliptischen Elemente
bei Planetenbahnen.
“Von
H" ENCKE.
mn wunnnwwnmw
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 7. Juni 1849.]
D: Untersuchung über den paradoxen Fall bei Planetenbahnen, dafs näm-
lich in einzelnen Fällen zwei ganz verschiedene Bahnen denselben drei voll-
ständigen Beobachtungen genug thun können, so dafs erst eine vierte Beob-
achtung die Entscheidung über die wahre Bahn möglich macht, habe ich im
vorigen Jahre der Akademie vorgelegt, und nehme daraus die Veranlassung,
das Problem der Bahnbestimmung überhaupt noch näher zu betrachten.
Fafst man das Problem der Bahnbestimmung so auf, dafs man nicht
mehr Data benutzt, als zur Lösung desselben unumgänglich erforderlich sind,
dafs man folglich nur 3 vollständige Beobachtungen zum Grunde legt, diese
dann aber auch ganz vollkommen darstellt, so dafs in theoretischer Strenge,
den obigen Ausnahmefall ausgenommen, eine andere Bahnbestimmung nicht
möglich ist, so ist das Problem allein von Gaufs aufgelöst worden und es er-
klärt sich aus diesem Umstande das Mifsglücken der Versuche anderer Ma-
thematiker bei der Entdeckung der Ceres, aus den nur wenige Tage umfas-
senden Beobachtungen eine elliptische Bahn abzuleiten. Es haben nämlich
allerdings Lagrange (Mec. anal. Sect. VII. Chap. I. $.II. III.) und Laplace
(Mee. cel. Liv. II. 31. sqq.) Methoden angegeben, wodurch die Elemente
gefunden werden können, und beide die Gleichung aufgestellt, die in der
ersten Näherung den Punkt im Raume finden lassen, wo der Planet sich be-
findet, aber sie haben beide sie nur auf die Parabel angewandt, theils weil
noch keine Veranlassung vorhanden war, das Problem für den Kegelschnitt
im Allgemeinen zu lösen (Uranus bot keine solche Veranlassung dar), theils
weil die Ableitung der ersten Näherungsgleichung aus den Differentialglei-
Math. Kl. 1849. A
3 Encke
chungen zweiter Ordnung der Bewegung auf der Ermittelung der Werthe
der ersten und zweiten Differentiale der beobachteten Gröfsen beruhte. In
der ersten Näherung lassen sich diese aus 3 Beobachtungen allerdings finden,
allein die genauere Bestimmung der Differentialquotienten, wenn sie auch
theoretisch möglich ist, führt auf so verwickelte Rechnungen, dafs Laplace
ausdrücklich bemerkt (Liv. II. 32), es sei rathsam, zu dieser Verbesserung
mehr als 3 Beobachtungen zu gebrauchen. Bei Cometen, besonders bei der
geringeren Genauigkeit, mit der diese damals beobachtet wurden, konnte
man die erste Näherung als hinlänglich gelten lassen. Bei Planeten, nament-
lich bei der Ceres, verlangten die Umstände, dafs man möglichst scharf das
Resultat suchen solle, ohne dafs doch die vorhandenen Data eine wesentliche
Verbesserung der numerischen Werthe der Differentialquotienten aus der
Benutzung Aller hoffen liefsen. So wie überhaupt dieser Weg eine abschrek-
kende Weitläuftigkeit hat. Darum begnügte man sich bei der Ceres mit der
Kreisbahn, bis Gaufs den Weg angab, nicht blofs annähernd, sondern völlig
strenge das Problem zu lösen. Sein ursprüngliches Verfahren ist zuverläfsig
ganz verschieden von dem in der T’heoria motus entwickelten. Aber wenn
er auch nicht in dem sehr belehrenden Aufsatze M. C. Bd. XX. pag. 197 ff.
der viel früher als die T’heoria motus herauskam niedergeschrieben war,
sehr übersichtlich angegeben hätte, von welchem Gesichtspunkte er gleich
anfangs ausging, die blofsen Rechnungs-Resultate, deren Vergleichung mit
den Beobachtungen er von Anfang an mittheilte, müfsten jeden überzeugen,
dafs er im Besitze einer strengen Lösung war. So genau anschliefsend kann
kein zufälliges Probiren werden, so wie ebenfalls die sehr nahe Darstellung
einer ganzen Reihe von Beobachtungen evident dafür spricht, dafs er schon
damals die Methode der kleinsten Quadrate angewandt habe. Nur eine feste
Methode kann diese vollständige Erreichung eines vorgesteckten Zieles ver-
bürgen.
Die Auflösung, die Gaufs in der T’heoria motus gegeben hat, ist hier-
nach in dem strengen Sinne genommen die einzige, welche existirt. Sie ist
höchst elegant, namentlich dadurch, dafs sie keine unnützen Gröfsen be-
stimmt, jede ermittelte wird auch sicher in Anwendung gebracht, sie stützt
sich überall fast auf symmetrische Formeln, wonach aus 3 nebeneinander-
liegenden Stücken eines sphärischen Dreiecks immer zugleich die drei übri-
gen gefunden werden, sie ist völlig strenge durchaus nicht auf kleine Zwi-
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 3
schenzeiten beschränkt, sondern auf die gröfstmöglichsten auszudehnen. Die
geometrische Form der Ableitung und der Verbindung der Formeln ist, wenn
man sich damit vertraut gemacht hat, ungemein geschmackvoll und übersicht-
lich. Die Rechnung ist verhältnifsmäfsig zu dem Problem unerwartet kurz,
so dafs eine Abkürzung auf anderem Wege schwerlich zu hoffen sein dürfte.
Endlich ist sie auch so eingerichtet, dafs sie möglichst scharf in jedem ein-
zelnen Theile ausgeführt werden kann. Wo es möglich war, ist immer der
Mangel vermieden, eine kleine Grölse aus der Differenz zweier beträchtlich
gröfseren zu bestimmen.
Diese zahlreichen Vollkommenheiten haben deshalb auch jeden Ver-
such einer Änderung, so viel mir wenigstens bekannt geworden, gehindert.
Bei der Bestimmung elliptischer Cometenelemente sowohl, als bei der in der
neuesten Zeit so häufig nöthig gewordenen Bestimmung neuer Planetenbah-
nen, haben alle Berechner sich mit völliger Treue an jede einzelne Vorschrift
gehalten. Ja, mir ist selbst kein einziges Lehrbuch bekannt, welches dieses
Problem behandelt, in welchem, ich will nicht sagen, eine andere Lösung
gegeben wäre, das wäre zu viel verlangt nach der Natur des Problems, aber
auch nur der Versuch gemacht wäre, die Form des geometrischen Beweises
in die neuerdings so überwiegend vorherrschende des analytischen zu über-
setzen. Genau dieselben Figuren, dieselben Buchstaben der Winkel-Schei-
tel, wie in der T’heoria motus, finden sich überall wiederholt, als ob die
Mehrzahl sich begnügt hätte, von der Richtigkeit des Ganges sich ganz nach
den Schritten von Gaufs zu versichern, ohne zu wagen einen andern Weg
einzuschlagen, der nothwendig doch eine kleine Variation in die Darstellung
hineingebracht haben würde.
Dennoch liegt eine Veranlassung sehr nahe, einen solchen Versuch,
den vorgeschriebenen Weg zu verlassen, zu machen. Wir haben ein ganz
nahe verwandtes Problem, die Bestimmung der parabolischen Elemente, und
dieses Problem ist von Olbers auf eine so vollkommne Art aufgelöst worden,
dafs selbst Gaufs wesentlich nichts daran verändert hat, obgleich er in einer
besonderen Abhandlung der Göttinger Commentationen sich damit beschäf-
tigt hat. Aber dem ersten Anblicke nach ist die Lösung bei der Parabel von
der bei der Ellipse ganz und gar verschieden. Betrachtungen, die bei der
ersten die Grundlagen sind, scheinen bei der letzten ganz wegzufallen, selbst
wenn sie auf keine Eigenschaft sich stützen, die speciell der Parabel angehört.
A2
4 Encke
Andere Combinationen führen bei der Ellipse zum Ziele, von denen man
keinen Grund sieht, warum sie nicht auch bei der Parabel mit Nutzen ange-
wandt werden könnten. Ich glaube dieses um so mehr aussprechen zu kön-
nen, als gerade das Bestreben, die Verwandtschaft beider Probleme mir deut-
lich zu machen, zu den folgenden Betrachtungen geführt hat. Ich ging von
dem Gesichtspunkte aus, der, wie sich am Ende gezeigt hat, auch der völlig
richtige war. Die einfache Verfolgung desselben würde sofort mich zum
Ziele geführt haben. Aber der Wunsch, von jeder Form, welche Gaufs ge-
wählt hat, mir speciell Rechenschaft zu geben, führte mich so häufig von
dem einfachen Wege ab, dafs bei keinem Problem ich mich erinnere, längere
Zeit gebraucht zu haben, um den natürlichen Faden zu finden. Wenn des-
halb auch ein wesentlich ganz neues Resultat durchaus nicht erreicht ist, ja
wie ich wohl behaupten möchte, nach der Natur des Problems nicht erreicht
werden konnte, so glaube ich doch, dafs gerade des erwähnten Umstandes
halber die Betrachtungen für Viele Interesse haben werden. Dafs meine
Formeln durchaus verschieden sind von den Gaufsischen, wird dazu beitra-
gen, das Wesen des Problems klarer dargelegt zu sehen. Dafs übrigens den-
noch meine Formeln sich fast sämmtlich auf die in der T’heoria motus in den
einzelnen Sectionen entwickelten stützen, brauche ich bei dem Reichthum
der Entwickelungen in diesem Werke gewifs nicht zu erwähnen. Wer mit
der theorischen Astronomie sich beschäftigt hat, wird selbst gefunden haben,
wie schwer es hält, etwas erhebliche Zusätze zu der T’heoria motus zu machen.
Das Problem der Bahnbestimmung mufs für alle Kegelschnitte noth-
wendig zum grofsen Theile in seiner Lösung etwas Gemeinschaftliches dar-
bieten. Es kommt zuerst darauf an, die Punkte im Raume zu bestimmen,
wo der Planet sich zu den Beobachtungszeiten aufhielt. Die erste genäherte
Bestimmung ist fast unabhängig von der Natur des Kegelschnittes, erst bei
der späteren Verbesserung tritt ein Unterschied ein. Folglich wird dieser
Theil allen Kegelschnitten so gut wie gemeinschaftlich sein. Die Bestim-
mung der Elemente, welche die Ebene der Bahn festlegen, die Lage der
Absidenlinie und der Parameter, so wie die Eccentricität beruht, oder kann
wenigstens beruhen auf der allen Kegelschnitten gemeinschaftlichen Polar-
gleichung, bei der folglich nur Abkürzungen eintreten können für specielle
Fälle und wobei die Natur des Kegelschnittes sich in dem Resultate zu er-
kennen giebt. Das einzige Element der Epoche oder die transcendente Glei-
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 5
chung zwischen Zeit und Ort ist für Ellipse und Hyperbel verschieden und
ändert sich bei der Parabel in eine algebraische. Da nun eine sehr voll-
kommne Auflösung bei der Parabel, die Olbersche, schon vorliegt, so ist es
der Mühe werth, den Gang, der bei ihr befolgt wird, zu entkleiden von dem
was der Parabel allein angehört und das allen Kegelschnitten Gemeinschaft-
liche beizubehalten. Ich werde mich dabei auf die Ellipse beschränken, da
theils die Hyperbel so viel seltener vorkommt, theils durch Einführung der
hyperbolischen Sinus und Cosinus nebst den dazu gehörigen Tafeln der Aus-
druck der Formeln bei der Hyperbel noch geschmeidiger gemacht werden
dürfte, wenn sie häufiger in Anwendung käme.
Bei der Parabel geht man von der Bedingung der Ebene aus. Man
wendet sie in dreifacher Form in Bezug auf die drei coordinirten Ebenen an,
um durch Einführung der Dreiecksflächen den Vortheil einer bequemen An-
näherung zu erhalten, indem man statt ihres Verhältnisses das Verhältnifs der
Zeiten einführt und dadurch die drei an sich identischen Gleichungen zu drei
unter sich verschiedenen zu machen, welche die Möglichkeit darbieten, die
drei Abstände näherungsweise zu bestimmen. Das Verhältnifs zweier Ab-
stände zu einander läfst sich daraus bis auf Gröfsen zweiter Ordnung bestim-
men. Man bedarf bei der Parabel nur eines solchen, weil die Lambertsche
Gleichung eine zweite Relation zweier Abstände unter einander darbietet,
aus deren Combination mit der ersten Gleichung sich die zwei Abstände bis
auf Grölsen zweiter Ordnung genau (bei gleichen Zwischenzeiten auch noch
diese letzteren eingeschlossen) ergeben. Bei der Ellipse fällt diese Glei-
chung weg Man mufs folglich die Abstände allein aus den Gleichungen für
die Bedingung der Ebene bestimmen. Am bequemsten so, dafs man einen,
also den mittleren Abstand, durch Versuche ermittelt und das Verhältnifs
desselben zu den beiden andern in besondern Gleichungen bestimmt. Dafs
man hiebei die Gröfsen zweiter Ordnung in der Reihen -Entwickelung des
Ausdrucks der Dreiecksflächen durch die Zeiten gleich mitnehmen mufs,
liegt in der Natur der Aufgabe und giebt der Lösung eine verschiedene Form
gegen die Parabel, so wie auch eine um eine Ordnung verminderte Genauig-
keit. Dagegen werden die Versuche leichter, weil man nur eine Unbekannte
aus einer Gleichung herzuleiten hat, während man bei der Parabel zwei Un-
bekannte aus zwei Gleichungen durch Versuche bestimmt. Wenigstens
6 EnckE
kommt es bei der Parabel darauf hinaus, da die Bestimmung der Sehne eine
solche Combination verlangt.
Sind so die ersten genäherten Werthe der Abstände erlangt, bei der
Parabel bedarf es nur zweier, bei der Ellipse dreier, so ist der nächste Schritt
die Verbesserung der angenäherten Voraussetzung über das Verhältnifs der
Zeiten zu den Dreiecksflächen einzuführen. Gewöhnlich wird bei der Para-
bel diese Verbesserung unterlassen, weil theils die Fehler erst von der zwei-
ten Ordnung sind, in der Regel zwischen der zweiten und dritten, wegen der
niemals grofsen Ungleichheit der Zwischenzeiten, theils die Beobachtungen
der Cometen, besonders früher, zu ungenau waren, um von einem ganz ge-
nauen Anschlufs an die Data der Beobachtung erheblichen Vortheil erwarten
zu können. Immer können auch nur 5 Data von den sechs benutzten voll-
ständig in der Parabel wiedergefunden werden. Aber in der theoretischen
Form hat man diesen Weg theils durch Reihen-Entwickelung, theils wie
Bessel, in Schumacher’s astronomischen Abhandlungen, durch strenge Auf-
lösung einer cubischen Gleichung angegeben. Bei der Ellipse pflegt man
wenigstens eine Verbesserung für nöthig zu halten, um die hier genaueren
Beobachtungen scharf wiederzugeben. Für diese erste Verbesserung würde
man nur der Radien-Vectoren bedürfen und könnte diese ohne weitere Er-
mittelung anderer Gröfsen sogleich aus den Abständen erhalten. Aber da
man für etwanige folgende auch der Winkel zwischen den Radien-Vectoren
bedarf, überdem nach der Angabe von Gaufs einer strengen Gleichung zwi-
schen den 3 Radienvectoren nebst den Zwischenwinkeln und dem halben
Parameter sich mit Vortheil bedient, so ist es der natürlichste Weg, aus den
Abständen der ersten Näherung den heliocentrischen Ort und die Ebene der
Bahn herzuleiten. Man thut dasselbe in der Parabel, sobald die Versuche
beendigt sind, hier freilich gleich zum Zwecke der Bahnbestimmung, wäh-
rend man in der Ellipse, wenn man die erste Näherung verbessern will, die
Rechnung zu diesem letzteren Zwecke wiederholen mufs. Immer indessen
sind die ganz gewöhnlichen Formeln und der Gang vollständig der nämliche
und die Analogie bei beiden Kegelschnitten vollkommen.
Übrigens ist in gewöhnlichen Fällen die Verbesserung wirklich unnö-
tbig. Denn meistentheils wird auch ohne dieselbe der Anschlufs an die mitt-
lere Beobachtung, wenn man die Bahn aus den äufsersten beiden bestimmt,
bis auf wenige Secunden stattfinden. Gaufs wendet bei seiner bequemen,
über die Bestimmung der ellipiischen Elemente bei Planetenbahnen. 7
aber durch Tafeln nur ermöglichten Auflösung immer gleich den Werth der
ganz vollständigen Reihe bei jeder Näherung an. Dieses ist aber eigentlich
überflüssig. Da man bei der ersten Näherung Fehler der ersten Ordnung be-
fürchten muls, so kann man bei der ersten Verbesserung nur das erste Glied
der Reihen-Entwickelung, die Gröfsen zweiter Ordnung, verbürgen. Bei
der zweiten Verbesserung, wenn man sie anwenden will, wird man nur die
zwei ersten Glieder, die Gröfsen vierter Ordnung, erhalten, und so fort nach
den geraden Potenzen der Zwischenzeiten die verschiednen Glieder, da die
Reihe nach den geraden Potenzen fortgeht.
Sind die Verbesserungen vollständig beendigt, so bleibt noch die
Bahnbestimmung übrig, die mit Hülfe der Zwischenzeiten aus zwei Radien-
vectoren und dem eingeschlossenen Winkel hergeleitet werden kann. Bei
vollständig berichtigten Werthen würde es gleichgültig sein, welches Paar
man wählte. Immer wird man am besten thun, der Schärfe der Bestimmung
wegen die äufsersten beiden Beobachtungen zu nehmen. Sind zum Behufe
der Verbesserungen die heliocentrischen Örter bereits entwickelt, so ist die-
ser Theil der Arbeit der allerunbeträchtlichste und wird ganz nach der Ana-
logie der Parabel durchgeführt.
Nach diesem einfachen Gange, der eigentlich ganz der Gaufsische ist,
aber nur durch die Art der Ableitung etwas versteckt, sind die folgenden
Betrachtungen eingerichtet. Am Schlusse habe ich noch den rein analyti-
schen Beweis der Gaufsischen Formeln gegeben, aus welchem die völlige
Identität beider Wege hervorgeht und die in so ferne einiges Interesse ha-
ben kann.
Die Wahl der Unbekannten, auf welche das Problem der Bahnbe-
stimmung zurückzuführen ist, kann gar nicht zweifelhaft sein. Da es hier
auf die Ermittelung dreier Punkte im Raume und ihr Verhalten zu dem Cen-
trum der Sonne ankommt, die Beobachtung aber zwei Polarcoordinaten für
jeden Punkt von der Erde aus schon unmittelbar giebt, so sind die einzigen
Unbekannten, die man wählen kann, die dritten Polarcoordinaten von der
Erde aus, oder doch Gröfsen, welche unmittelbar sich daraus ableiten lassen.
Als Grundebene werde ich der Einfachheit wegen die Ekliptik nehmen, die
Polarcoordinaten des Himmelskörpers von der Erde mögen mit pee',aad”,
RB ER” bezeichnet werden, die ersten drei sind die unbekannten Abstände, die
8 Encke
folgenden die Längen, die letzten die Breiten, welche beide letztern durch
die Beobachtung gegeben sind. Die Abstände der Erde von der Sonne und
die Längen der Erde, von der Sonne aus gesehen, mögen R R’ Rh’, 11 1"
heifsen. Die heliocentrischen Coordinaten des Himmelskörpers, unter sich
rechtwinklich und auf die Ekliptik bezogen, seien za’ x", yyy",z22'z".
Man hat folglich in den neun Gleichungen
2 =_cosa cos@+R cos], y=esin«a cos@-+R sin], z=esinß
(Ay g cos « cos + R’cos/, = g sin «cos @’ + R'sin/!, 2 — g’sin [6%
a g"cos «cos ß’+R”cos!, HZ g’sin «cos "+ R’sin !’, 2’— g’sin @"
drei unbekannte Gröfsen 9 9'9” zu ermitteln, wenn die x y z als gegeben be-
trachtet werden sollen.
Die erste und einfachste Bedingung, welche zu der Kenninifs der un-
bekannten führen kann, ist die der durch die Sonne, dem Anfangspunkte
der Coordinaten x, y, s gehende Ebene, in der die drei Punkte liegen. Be-
kanntlich erhält man diese Bedingungsgleichung aus der Elimination der zwei
Verhältnisse 2, z in der allgemeinen Gleichung der Ebene angewandt auf
die drei Punkte, oder aus der Elimination derselben aus den drei Gleichungen:
Ax +By+(Cz=
Ax+Bby+C7!=0
Ax+ By’ + Cz=V0
Multiplieirt man die erste mit 2’y'— y"z', die zweite mit y'z—z”y, die
dritte mit 2y— y'’z, wozu noch ein willkührlicher Faktor, bei allen drei
derselbe, hinzukommen kann, so wird diese Bedingungsgleichung
(1) ayz! —ay' 2 +y a2 —a'yz+ayz2 — ayz =
welche, wenn zwei g gegeben wären, nach der Substitution der obigen Wer-
the von x, y, z das dritte kennen lehren würden. So wie diese Faktoren
sich auf die Ebene der (x) beziehen, so kann man sie auch auf die Ebene
der (xy), oder der (xz) beziehen, und wenn man den willkührlichen Multi-
plikator mit WW bezeichnet, so wird die Bedingungsgleichung geschrieben
werden können:
Way) ya) ae)
W az — z)y" — ("3 — x2’)y + ("2 —az’)y}=0
Wir) — (ge Ye) +(yz—zy) 0
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 9
In dieser Gestalt treten in jeder Gleichung die doppelten Dreiecksflächen in
der Ebene der (xy), (x2) und (2) zwischen dem Anfangspunkte der Coor-
dinaten und den Coordinaten je zweier Punkte auf. Diese aber sind nichts
anderes, als die Projektionen der doppelten Dreiecksflächen, zwischen dem
Anfangspunkte der Coordinaten und je zwei Punkten in der Ebene der Bahn,
auf die drei coordinirten Ebenen. Nimmt man also in jeder Gleichung für
den willkührlichen Faktor / die Secante der Neigung der Ebene der Bahn
gegen jede der coordinirten Ebenen, so kann man die Dreiecke der Ebene
der Bahn in alle drei Gleichungen einführen. Sei deshalb das Argument der
Breite, oder der Winkel des Radiusvectors mit der Knotenlinie, w, w, w” re-
spective, und werden die Radienvectoren mit r, 7’, r” bezeichnet, setzt man
auch der Kürze wegen
[rr] = rr' sin (W — u), [rr”]=rr” sin (u — u), [r’r"] sin (u’— u‘),
so werden die drei Formen, unter denen sich die Bedingungsgleichung darstellt:
[(77]&" — [rr’]x' + [r'r"]e = 0
[7]y" — Lr’]y + [rr]y>=0 (2)
[77] 2’ — [rr"] 2 + [r'r"]z = 0
Dafs diese Formen alle vollkommen identisch sind, sobald man die Werthe
der Coordinaten, ausgedrückt durch die Abstände, hineinsubstituirt, erkennt
man sogleich, wenn man bedenkt, dafs bei der willkührlichen Lage der Ab-
scissenlinie man für x, y, z auch die Form wählen kann:
z2=reösu,y=rsmüeost, z=rsanusn?
”
und analog für x’ y' 2’, x’ y" 2’. Die Gleichungen drücken folglich nichts
anderes aus, als dafs, wenn man
sin(W—u), —sin(u’—u), sin (u — u‘)
resp. mit cos u”, cosu', cosu, oder mit sin w”, sin w/, sin u multiplizirt, die
Summe sich vernichtet. So lange man deshalb die Abstände überall ein-
führt, sind sie vollkommen identisch mit (1).
Anders aber wird der Fall, wenn man aus Betrachtungen, die von den
Abständen verschieden sind, die Werthe einiger der hier vorkommenden
Gröfsen, also namentlich die Dreiecksflächen bestimmt. Sobald auf diese
Weise die Abstände nicht überall mehr unmittelbar eingeführt werden, hört
Math. Kl. 1849. B
10 Encks
die Identität der drei Gleichungen auf, und die verschiedene Form macht
sie zu wirklich verschiedenen Ausdrücken. Man hat dann in der dreifachen
Gestalt das hinreichende Mittel, um die drei unbekannten 9 bestimmen zu
können.
Hiezu bieten sich von selbst die Dreiecksflächen dar. Nach den Kep-
lerschen Gesetzen ist nämlich, wenn £ f f” die Beobachtungszeiten bezeich-
net und man, um die Zeit-Einheit, welche eigentlich in der theoretischen
Astronomie gelten sollte, einzuführen, setzt
(3) kin kin en
wo k die bekannte Constante 0,017 etc. (der log derselben ist 8,2355814,),
die Quadratwurzel aus der Sonnenmasse ist, oder die Zeit-Einheit in 7 die-
jenige ist, in der ein Körper, auf den die Kraft-Einheit in der Entfernung 1
während der Zeit-Einheit eingewirkt hat, die Raum-Einheit durchlaufen
würde, wenn man ferner der Kürze wegen setzt
(4) N, "N, "—r=8,
und den halben Parometer p nennt, der doppelte Flächeninhalt des Aus-
schnittes zwischen der ersten und zweiten, zweiten und dritten und ersten
und dritten Beobachtung resp. g"Yp, dYp und d'Vp. Die doppelten Dreiecks-
flächen, welche denselben Radien-Vectoren entsprechen, werden sämmtlich
kleiner sein als diese Ausschnitte, aber um so weniger davon verschieden,
je kleiner die Zwischenzeiten sind, so dafs wenn man das Verhältnifs zwi-
schen der Dreiecksfläche und dem Ausschnitt mit y bezeichnet, oder setzt
(5) [r)y"=$'Vn, [r)y =®Vp Dr)y=Wp,
die Gröfsen y immer gröfser als 1 sein werden, aber mit kleiner werdenden
$ sich der Einheit mehr und mehr nähern und daher bei kleinen # in schnell
convergirende, nach Potenzen von # geordnete, Reihen ausgedrückt werden
können.
Führt man folglich in (2) statt der Dreiecksflächen die Werthe 2
Fyp, Iyp ein, so wird die Identität der drei Gleichungen aufgehoben, und
man hat in ihnen die erforderliche Anzahl von Gleichungen, um alle drei 9
zu bestimmen. Der Gang wegen der jetzt eingeführten y wird dabei der
8
sein, dafs man von einem Näherungswerthe ausgeht, vermittelst desselben
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 14
die g zuerst genähert bestimmt, darauf diese gefundenen Werthe benutzt,
um genauere weiter entwickelte Werthe von y zu erhalten, durch deren An-
wendung neue genäherte 9 erhält, und diese wechselseitige Correktion so
lange fortsetzt, bis eine wiederholte Rechnung keine merkliche Änderung
der früher angenommenen y nöthig macht, womit die Versuche geschlossen
sind. Aus den definitiven 0 hat man dann die Elemente zu bestimmen. Die-
ses ist die Methode von Gaufs, die sich sonach als die allein anwendbare
zeigt, und die nur darin allenfalls Abänderungen gestattet, dafs man die Ver-
besserungen der Werthe von y, auf dem einen oder dem andern Wege, kür-
zer erhält. Dafs der gemeinschaftliche Faktor Yp von selbst herausgeht, sieht
man auf den ersten Blick. Man bedarf folglich, wenn die Verbesserungen
der y sich erhalten lassen, ohne die Elemente zu bestimmen, keines einzigen
Elementes bei den Versuchen.
Als die erste Näherung für die Werthe der y könnte man versucht
sein, den Werth derselben für#=0, also y=1 zu setzen. Allein eine ein-
fache Bemerkung wird die Unstatthaftigkeit der gleichzeitigen Annahme von
y=y=y'=1 auch nur als Näherung zeigen. Es ist nämlich # = 9 + 9"
folglich würde jeder Werth vony=y'=y” nach den Gleichungen (5) be-
dingen, dafs [rr"] = [rr] + [r'r"
raden Linie bewegte. Diese Voraussetzung kann nicht gestattet werden,
]; oder der Himmelskörper sich in einer ge-
weil sie höchstens bei sehr entfernten Himmelskörpern zugelassen werden
könnte und etwas annimmt, was der Natur des Problems widerspricht, wel-
che die Bewegung in einem Kegelschnitte verlangt. Derselbe Widerspruch
mufs sich auch bei der analytischen Behandlung zeigen, und es wird der
Mühe werth sein, zu diesem Zweck die analytische Elimination zweier P
durchzuführen, um daraus sowohl die Unstatthaftigkeit dieses Näherungs-
werthes zu erkennen, als auch zu bestimmen, wie viele Glieder der Entwik-
kelung von y nach Potenzen von 9 gleich anfangs mitgenommen werden
müssen.
Substituirt man deshalb in (2) die Werthe von xyz aus (4), jedoch
mit Beibehaltung von [77], [rr"], [’7’], und führt man der Kürze wegen, da
doch nur das Verhältnifs von zwei solchen Dreiecksflächen zu der dritten in
allen Gleichungen vorkommt, die Zeichen ein:
BT kasil —n" (6)
len [rr”]
[rr"] in
42 Encke
so werden die drei Gleichungen (5) folgende Gestalt erhalten:
ng cos« cos®+R cost — {2'cosa’cos ß'-+ R'cos!}
+n"$g" cosa”cosß”+R”cos!} —=0
(6)" ng sin « cos ß+R sin % — $7'sin «cos @+R sin!‘
+n"fo” sin a’ cos@” + R” sin!’ — 0
ng sin | sin &'
+-n}g"sin ß" =0
Um hier og und p” zu eliminiren, multiplizire man
die erste mit sin 8 cos E’sin«’— sin@”’cos® sine,
die zweite mit sin @’cos@ cos«e — sin cos"cose”,
die dritte mit cosß cos” sin (a — «)
und addire die Produkte. Man erhält dann
0=nR$sinß cosß”sin (d’— I) — sinß”cosß sin («—L)}
— 0 $sin ß cos’ cosß” sin (@«’— «') — cosß sin cos 9” sin («’ — a)
+.cosßcosß' sin®” sin («’ — «)
(7) — R'$sinß cos®"sin (a — 7) — sin” cosß sin («—T')}
+ n" R'$sinß cos” sin («’ — !”) — sin ®” cos@sin (a —!”)}
eine Form, die sich der Kürze wegen so schreiben läfst:
da’=—bR+cnR+dn'K.
Man kann hier schreiben für
b' = sinß cos” sin («”— !') — sin®” cosß sin («—!))
— sin (O’+ £) sin + (@’—a«) cos (+ (a +«)—!')
— sin (@’”—B) cos 4 (@’—«) sin (4 (@’+«)— 7)
c' = sinß cosf” sin («’— I) — sin” cosß sin («—I)
sin (@’+R) sin +(a” —«) cos (+ («’+«)—1)
— sin (8’—P) cos (a’—a) sin (L(a’+«)—1)
d = sin® cosß” sin (a — 1”) — sin ®” cos® sin («—!”)
= sin (O’+ ß) sin 4 («’—«) cos (+ (@’+«) — !”)
— sin (0’—ß) cos4 (@”—«) sin (4 (@’+«)— 1)
woraus hervorgeht, da «”— «a und @’—£ von derselben Ordnung wie #' sind,
dafs die Coäfficienten d’, c’, d’ von der ersten Ordnung in Bezug auf die Zwi-
schenzeiten sind. Für a’, welches so geschrieben werden kann
ad=.cosß cosß'cosß”ftgß sin («’— a’) —tgR' sin («’— a) +tg” sin (a —a)}
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 13
folgt wegen
sin («’— «') — sin (@’— e)+sin (@— e)=4sin 4(@— a) sin 4 (@’— a) sin ed)
a —=cosßcos@ cosß” $(tgß wr sin SUR «)+(tgß’—tgß)) sin («—«)}
+4cosß sin’ cos "sin - 4 («— a) sint 1 (a _ B)sinla Karla:
da aber /
tw ß=tg0— DL ae age dit a? is"
..o
n dt d?teß’
twß’—=igß' +9 A +49 Mr Is
k v ne na 2d’«
sin (@ —e)=9., +59 ze
„de 4 nz d’«'
sin («’ — a) =9 753 FrzBeR
so folgt, dafs sowohl der erste als der zweite Theil des Ausdrucks von «@
mit einem Gliede von der dritten Ordnung, worin der Faktor 9 9 #” enthal-
ten ist, beginnt, und dafs folglich a’ von der dritten Ordnung in Bezug auf
die Zwischenzeiten mindestens ist. In speziellen Fällen kann es noch klei-
ner werden, und es wird völlig = 0, wenn die durch « ß, « @', «’ 8” be-
stimmten Punkte in einem gröfsten Kreise liegen, weil in diesem Falle für
den Knoten X und die Neigung I eines gröfsten Kreises, der durch («£)
und durch («” 8”) gelegt wird, oder für welchen die Gleichungen
igß = sin (a — K)tgI
ig @’= sin («’— K)tgI
tg@' = sin (@— K)tgI
Multiplizirt man aber die erste Gleichung mit sin («”— «'), die zweite mit
sin (« — «), die dritte mit sin («a — «”), so erhält man a’ secßsec’ sec®’— 0,
wenn alle drei Gleichungen zusammen stattfinden.
Vermöge der Form der Gleichung (7) hängt aber die Genauigkeit der
Bestimmung von g’ aus
ada’=—bR+cnR+dn’R'
gelten, auch sein wird
wesentlich von der Gröfse oder Kleinheit von a’, oder von der gröfsern oder
kleineren Abweichung des mittleren geocentrischen Ortes, von dem gröfsten
Kreise durch die äufseren beiden ab. Wird a’ zu klein, so nähert sich auch
bei streng theoretischem Werthe der Ausdruck für die Praxis dem 2 allzu-
sehr, um noch angewandt werden zu können.
14 EnsckeE
Da nun a’ von der dritten Ordnung ist, 5’ c’ d’ von der ersten, so folgt,
dafs man in n und n” nothwendig mindestens die Glieder zweiter Ordnung
mitnehmen mufs, damit die Gleichung auch nur näherungsweise in dem er-
sten Anfangsgliede der Entwickelung richtig bleibe. Es ist deshalb nicht ge-
stattet, bei dem ersten Gliede der Entwickelung von r und X stehenzublei-
ben, man mufs die Glieder zweiter Ordnung mitnehmen und hat, wenn man
nicht weiter geht, immer einen Fehler in dem so bestimmten Näherungs-
werthe von og’ zu fürchten, der sich nach der Reihefolge der Potenzen von
$ richtet, nach welchen n entwickelt werden kann; im Allgemeinen also-einen
Fehler der ersten Ordnung. Zugleich erhellt hieraus, dafs die Beobachtun-
gen einen ungewöhnlichen Grad von Genauigkeit bei kleinen Zwischenzeiten
haben müssen, weil die eigentliche Grundlage nur in der Abweichung des
mittleren Punktes von einem gröfsten Kreise, der durch die äufseren gelegt
werden kann, besteht.
Es ist der Mühe werth, diesen letzten gröfsten Kreis wirklich zu be-
stimmen, da sich durch ihn die sämmtlichen Coefficienten leichter ausdrük-
ken lassen. Man bestimme also X, den aufsteigenden Knoten, und J, die
- Neigung dieses grölsten Kreises, aus den beiden Gleichungen:
8 tgß —=sin (e —_ K)tisI
6) tg PB’— sin (a — K)tgI
wozu man entweder die indirekte Methode anwenden kann, oder die Glei-
chungen: Az
> . } 2 e.
sin (1(@’+«) — K)tgI= ae u) sec+ («” — «)
(8) 2 ° 2cos@cos® 2
eu —_ sin(0"—£) 4 (a"
cos(+(«’ + a) — K)tgI= Zros eos g» COSEC («’— «)
Es wird dann:
b' = cosß cos®” sin(«’—«) sin (!—K)tgI
cd = cosß cos®” sin («”—a) sin(—K)tgI
d = cosß cos®” sin («’— «) sin(!’— K)igI
a’ = cosß cos cos®” sin(a«”—«) tg Isin (@— K)—tg®}
setzt man also
(9) tw @°= sin (@— K)tgI,
so wird sin (eo P,
er 2 Mine 10ER El),
ad= cosß cos” sin(«”— «) Inte
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 45
und damit die Gleichung (7), mit Weglassung des gemeinschaftlichen Faktors
cosß cos” sin («”— «), heifsen:
MEZ e=+KRsin(—K)—nRsin(—K)—n’R’sin(’—K) (10)
Ähnliche Gleichungen würden sich für oe und p” finden lassen. Da indessen
diese Gleichung durch Versuche aufgelöst werden mufs, in welchen nach und
nach für n und n” verbesserte Werthe genommen werden, so ist es beque-
mer, die Werthe von g und g” aus dem gefundenen von 2’ herzuleiten. Eli-
minirt man deshalb aus (6)" zuerst 7” und 9”, und nachher auch n und 9, was
am leichtesten geschieht, wenn man die beiden ersten Gleichungen von (6)*
auf zweifache Weise verbindet, nämlich zu:
0 =nfgsin (a—!”) cos RB—R sin (!’— D)} — (2 sin (@— 1”) cos ß—R sin (!’—1))
und dann zu: + ng" sin (@’— 1’) cos®”
0 =nesin («—I) cos® — $g' sin («—I)cos@’+Rsin(!— 1}
+-n}$g" sin («’—I)cosß”+R” sin (’— 1}
und verbindet beide mit der dritten Gleichung, so erhält man:
Bra ’cosß' „is Blsin (a 1) — tg 8” sin (@’— 2”)
n.cos® "152 sin (@’— 1”) — tg” sin (« — 2”)
tg” R’ sin (I" M)—rRsn(!—D) _
ncosß tg A sin (@’— 1”) —tg 0” sin (@«— 1”)
ar e’cosl’ „ts sin (@’ —)—tg£'sin («—)
Fr n”" cos” Sr («’—1) -tg@”sin (e—1)
tg "sin (?— I) —n”R” sin (’— 7)
Eros B"* =: sin (@”— 1) — tg@” sin (@—2)
Führt man hier statt tg ß& den Werth we +wR'— ig@° ein, so wird in dem
Ausdrucke für o:
tg’ sin («”—1”) — tgP” sin (@—!") = tg Isin (a”—«') sin (—-K)
+(tgß’— tg£°) sin («’— 7")
tgß sin (d’— 1”) — tg@” sin («—1”) = tg 1sin (@’— a) sin (I’— K)
und man kann schreiben für:
R sin (’—T!) — nRsin (!’ = (Meer n) R sin (!’—))
Ebenso wird in dem Werthe von g":
tgß sin («— I) — tg’ sin («—1) = tg 1sin(«— «)sin(I—K)
— (tgß’— 19°) sin («—])
16 EnckE
RER sin (/—)) „ mi: ’
RR”sin d’—) wi ) R’sin (e 25 I)
igß sin («”— I) — tgß” sin («—1) = tg Isin (d’— a)sin(—K),
ER sin (’—I) — n”R’” sin ("—I) =
so dafs, wenn man analog für die Erdbahn mit N und N” bezeichnet:
RR” sin (’— 7) „__ RR'sin (’—)
kn) N= RR” sin (’—D) N RR”sin (’—))
die Auflösung der drei Gleichungen (6)*, um die drei g daraus zu finden, fol-
gende Form erhält:
Man berechne folgende Reihe von Hülfsgröfsen, die von den unmit-
telbaren Daten der Beobachtung allein abhängen :
Baer (@’— £°)
[ a= cos@?tg7
M’ Beco® er, sin (@”’— «') a sin (@”—!”)
0 0sß" sinl@—a) " cosßsin(@”—a) sin(’—K)
= R sin (!’—/) „sin («”— K)
z cosßsin(@’—«) sin(!’”—K)
, cos’ „sin (« —.a) a sin (@<—J)
N 7= AYZIRT VIEIEBEN Te =
cos@” sin(@’—c) cos@”sin(a”—«) sin(I—K)
(12) \n n R” sin (7 sin(«—K)
2 c0sQ”sin (@’—a) sin! —K)
so wird:
ag=FRsin(— K)— nRsin(l— K) — n’R’sin(’—
MN #
e="f+(2-:)M;
= 745);
Es bleibt jetzt nur noch übrig, in diese Gleichungen die nach und nach zu
verbessernden Werthe von 2 und n" zu substituiren.
Der jetzt eingeführte Coöffieient von g’ wird von der 2ten Ordnung
der Zwischenzeiten sein, da er hervorgegangen ist aus der Division von
sin («’— a) in die Gröfse dritter Ordnung a’. Die Formeln für g und 9” sind
die der Olberschen Form in der parabolischen Bahn analogen. Ihre
Form ist hier nur deshalb so genommen worden, weil die Berechnung nach
derselben am schärfsten ist. Der erste Theil von M/ und M/ ist nämlich
von der Oten Ordnung, der zweite von der ersten, folglich beträchtlich klei-
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 17
ner, und die Gröfsen, welche wegen ihrer Kleinheit hauptsächlich die Ge-
nauigkeit beeinträchtigen könnten, werden unmittelbar aus den Beobach-
tungsdaten gefolgert. Die Grölsen M) und MM} sind von der Oten Ordnung.
Die Faktoren aber, mit welchen sie in p und e" multiplizirt sind, werden von
der zweiten Ordnung. Wären die curtirten Abstände eingeführt, so würde
der Ausdruck aller Formeln noch etwas einfacher.
Es bedarf jetzt noch der Bestimmung von n und n” oder der Entwik-
kelung von y, y', y', in Reihen nach Potenzen der Zwischenzeiten. Der
Weg, welcher sich hierzu darbietet, ist das Zurückgehen auf die Differen-
tialgleichungen zweiter Ordnung, aus denen die elliptische Bewegung abge-
leitet werden kann. Man hat:
ddx x ddy g% ddz
ee a
Legt man die Ebene der Bahn zum Grunde, wodurch z= 0 wird, so kommt
es darauf an, die doppelten Dreiecksflächen::
miese -ay Drleyemay Drei any
zu bestimmen. Da die zweiten Differentiale von den ursprünglichen Coor-
dinaten abhängen, so wird man alle höhern Differentiale durch die Coordi-
naten und die ersten Differentiale bestimmen können. Die bequemste Form
für die Anwendung wird die sein, dafs man x, y, &”, y” auf die Form bringt:
= wa — w = a = wa rw" 1,
= / ag „ dr Zruger, + Pe
dy' ’ dy'
„ [ U
y=wy— We ur Ewz
wo w, w, w w” die ersten und höheren Differentiale von 7’ enthalten werden.
Es wird dann: [7’r"]=w’Vp [rr’])= (ww,+ww")Vp [rr']= w,Vp
da x’ ar Ey —=Ypist. Wegen
d’x =D B
zen wird:
d’x Surdr: 2 dx
zu . X — .
3,5 Ar:
d*x (er Yu we Mrdr dx
— nl, —g a — e —
dr® r® dr? Bacdz
d’x 12 60. (dr\> 36- dr der au Kar, R
— — — “. . .
dr? r! + NG: 72 Kar ze + ra a7>
36
—
Math. Kl. 1849. C
18 Enck®e
und dann wegen der analogen Werthe von —. etc.:
rd du TaLaa Zu N 12 [ar' > 3 der) gr*
2 — 0 —o— — e .—— — -e — u oo
2. 2 rer Re r? =) al 7%
124 dr! 60 dr'\° 35 dr d’r' 3.2.:d2rn 0
Aa ee ee ge an
R dr r dr r 7 r dr 120
N LE ar 0% a7)
I ar ae Zr ee) SIE ne 7 je7 ee, ...
‚ 6? RB Raız 1 12 — { 2
a A oe ee ee
r r isvez:
aka, 60 =) +7 36 d’r 3
— C} — . —
rl dr r'6 — Ta dr
r 03 a ee
> SE
Na
AN 8
L Er
[>7
95
— se®#
>| 120
r T 120
woraus endlich:
AL ME 1 36 (Ar!\° "5
„
BTRıT ee za 1%.
ab
207 9° VEN ars 1 BufarıN 9
un IRRE" Ha ale)e Es in
>, ed) ar De ı
N Je ’ a 1
Ba] Vr ie — be er re
93 (30”®— 400” 4-36°) EN ER
TE 0 5 Net ee
Man erhält daraus den Werth:
9 d?r’) 9”*
Te el Te
62 g”3 dr’ 7 dr’
Yyaııtl GH Hits 7
‚2 4 62 4 DaB air. Mm dr' 9 d’r') #*
yaırl, 4. Hits 5 ..
r'’ \dr
dr dr” | 120
ea ED
DET A er
2? (39”"2— 469’ +39?) [4 SR
+ I SP . (5 2 I ah
Man kann hieraus a wie es später gebraucht wird, N Rn... Lo-
garithmen ableiten
Igh une +5 ( ae
'— a Ze . — — —
° yPyY Or ia 5 = 22 ne “arf ım mw
le h zuM 0? 1 Be 2 36 9 gE 44
BP N a m 65 rl a
g2 g’2 (—#”) rt gr
Me 2
Ihe ya rn
2% 92 (39”2 — 499” +39?) 4 : te ar
nn 0 7 = u — .— ...
40 Tu NZE we
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 19
Diese Glieder enthalten solche Gröfsen, welche man wenigstens nä-
herungsweise aus den unmittelbar auf einander folgenden Annäherungen ab-
leiten kann. Nimmt man nämlich zuerst die Glieder zweiter Ordnung mit,
welche blofs ’ enthalten, so erhält man genäherte Werthe von og 0”, und
damit von rr'r”. Für die nächste Entwickelung kann man aus den ersten
Gliedern des Taylorschen Lehrsatzes nehmen:
2 2,7
| a EAN 0
a N, dr’ 1 d2 d’r'
v”"z=]7 +9 a ee
oder:
Bra 02 (r’—r) + 0”? (r"—r')
de TE 9.9.9”
d’r' __ 2(#”’(r"—r') — 9 (r'’—r))
drin 9.9.9”
und auf diese Art die Glieder der höheren Ordnungen berechnen. Dieser
Weg, wenn er auch in den meisten Fällen bei der ersten Bahnbestimmung
ausreicht, würde indessen mühsam sein und auch auf höhere Glieder, wo
n etc. vorkommt, nicht mehr anwendbar.
Aufserdem ist es aber vortheilhaft, mit der Gleichung, aus welcher
eg’ abgeleitet wird, eine kleine Änderung vorzunehmen. Statt die beiden
Gröfsen n und n” beizuhalten, deren Verbesserungen nahe gleich sein wer-
den, da:
gr ın-n ,Me6-M_-® ar
Tr 6 I+ 6 ray 16: Ma
Ne mo | MO-M)+9”° ar
nat EN!
ist es vortheilhafter, zwei Verbindungen aus ihnen zu wählen, von denen die
eine schneller der Wahrheit nahe gebracht werden kann, ohne dafs deshalb
die andere dem Grade der Ordnung nach sich mehr davon entfernt. Die
Bemerkung, dafs in der Regel die drei Beobachtungen so gewählt werden
können, dafs die mittlere nahe in der Mitte der beiden andern liegt, oder 9
nahe gleich 9", läfst sogleich die Wahl auf -— U] undn +2’ ]#L]
r'r” [rr”
fallen, von denen die erstere in dem Falle der Gleichheit der Zwischenzei-
ten der Einheit sich mehr nähern muls, als n oder n” allein, und die zweite
C2
20 Encke
den charakteristischen Unterschied zwischsn dem Kegelschnitte und der ge-
raden Linie A da sie für die letzte =1 ist. Sei deshalb:
u Ka P ee
DZ n n\ rer? 17
mer 2 GrT
so wird:
we; —9")6 6°45"° ar
rent
0-99 AE— EEE 5 79 a. 2;
a er 2 2 re
Pe ara 05 ar
BEN Ah m
dr
I UN dr
re
oder wenn man, um die Glieder zweiter Ordnung EN anfangs zu berück-
sichtigen, ausgeht von:
9’ Pr AH” Q
P,=7 nn 1-5 =5;5
so wird nn h
(00 ') ’ 63-502 dr' „4 2 9 d r'
AR u a a ar a + ae I)
ae Den e ir ae 2
Alghyp Q,= — IP-E+4 (2) —4 ren
für 9 = #’ wird folglich
049” ar
AlshypP, er a
566” 6° a ur d?r'
Alebpl, a al
enes von der dritten, dieses von der zweiten Ordnung, und wenngleich
j 5 ö
strenge 9 wohl nie gleich 9” sein wird, so wird doch die Annäherung an die
Gleichheit die Glieder der zweiten Ordnung bei Alg P,, und der ersten bei
AlgQ,, ungemein verringern.
Es mögen deshalb an die Stelle von n und n” die neuen durch succes-
sive Verbesserungen zu corrigirenden Werthe sein:
pa [rr’ ] » n” E: 0" y
[rr”] ine =
Q=ır" [7 1+l[r lee = er’ (n+n'"—ı)
[rr”]
so wird die Gleichung zur Bestimmung von g sich schreiben lassen:
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 2
a en ern fi -
wie man unmittelbar erhält, wenn man den Werth n-+.n” als Divisor und
Multiplicator der letzten beiden Gröfsen einführt. Die Näherungswerthe,
welche für P und Q zuerst angenommen werden können, sind P= nr
Q=#%"; womit die Glieder zweiter Ordnung vollständig berücksichtigt sind
in der Gleichung. Die Vernachläfsigungen, sowohl bei P als bei Q, bewir-
ken im Allgemeinen bei op’ einen Fehler der ersten Ordnung, bei Gleichheit
der Zwischenzeiten aber erst einen der zweiten Ordnung. In jedem Falle
wird folglich, bei nicht zu ungünstig gelegenen Beobachtungen, der Fehler
der ersten Ordnung numerisch beträchtlich verringert.
Zur leichteren Übersicht der Auflösung der Gleichung führe man fol-
gende Bezeichnungen ein:
ß R'sin(—K
Es sei: b= En ae)
a
ar + $R”sin (”— K) + Rsin (— Kt
a
a ee I
a
N
6°—_ ee:
K=b— b°
Pr=+5°0
so wird: age £,
Da auf diese Weise die unumgänglich nothwendige Einführung der
Glieder zweiter Ordnung auf eine Gleichung zwischen g’ und 7’ führt, so be-
darf es noch einer zweiten, um diese beiden unbekannten Gröfsen zu be-
stimmen. Diese ergiebt sich aber unmittelbar aus dem Dreiecke Sonne,
Erde und Himmelskörper. Sei in diesem Dreiecke der äufsere Winkel an
der Erde ..d’... so hat man:
cos d’ = cos (d — !') cos,
oder wenn man in jedem Falle ö’ scharf haben will:
1% tg («’ — 7)
(ZW ya
BI nen; 0 = cos y’
232 EnckE
wobei ö’ immer < 180° zu nehmen ist. Die Gleichung zwischen g und 7’
wird damit:
Ti
= eg” + R” — 2gR’cosd'
oder ed = — KR cosd’ + Y(r” — R’ sin ö’?)
Hiernach ist die Gleichung, welche zuerst 7’ finden lehrt:
g' — I? — u = — R'cosd’ + Y(r'” — R sin 8°”)
eine Gleichung, welche entwickelt vom Sten Grade ist. Sie hat immer zwei
reelle Wurzeln, eine positive und eine negative, kann aber überhaupt nur 4
reelle Wurzeln haben, von denen 3 positive und 1 negativ, wenn Z°(k°+-R’cosö')
positiv ist. Um sie leichter aufzulösen, sei
R sind’ = using
%k° + R’ cosö’ = ucos q
m = 3
TI ERERMDE
so wird für ; R sin % r R' sin e= —2)
rz SER, 1) = ne
sın z sin z z
der Winkel z', und damit 7’ und 2’, gefunden aus:
m sinz* = sin (2 — 9).
Wenn man, was in der Wahl des Quadranten von g steht, m immer positiv
nimmt, also 4 immer mit demselben Zeichen behaftet wie 2°, so werden 3
reelle Wurzeln positiv sein, wenn q zwischen — 36° 52}2 und + 36° 5252,
und m zwischen bestimmten Grenzen liegt, welche von g abhängen. Nur in
diesem Falle findet eine wirkliche Planetenkahn stati. Denn da immer eine
positive Wurzel dem ! = 0 oder R=j', d.h. dem # = ö’ entspricht, so
hat man unter den andern beiden positiven Wurzeln, wenn 3 positive vor-
handen sind, zu wählen. In der Regel entscheidet sich die Wahl dadurch,
dafs z’ kleiner als d’ sein mufs, wodurch meistens eine der beiden übrigen po-
sitiven Wurzeln ausgeschlossen ist. In einzelnen Fällen sind aber beide #<d',
und es finden dann zwei verschiedene Bahnen statt. Eine vierte Beobach-
tung wird dann erst entscheiden müssen, welches die wahre Bahn ist.
Sobald auf diesem Wege z' gefunden ist und damit 7’ und g’ bestimmt,
so erhält man aus at 0
P=-, +; =n+n
n 2r
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 23
die Werthe von 2 und n” durch:
n= (145 SE: Ba or
und kann folglich aus (12) die Gröfsen 9 und p” bestimmen. Wären die an-
genommenen Werthe für P und @ die richtigen, so würde man bei vollkom-
men gegebener Lage der drei Punkte im Raum, bei welchen die Bedingung
einer und derselben Ebene und einer constanten Flächengeschwindigkeit er-
füllt ist, zu der Bestimmung der Elemente schreiten können. Da indessen
bei z’ und 2’ ein Fehler der ersten Ordnung zu befürchten ist, so ist eine Ver-
besserung der Werthe von P und ©, oder eine Ermittelung der genaueren
Werthe von yy'y” erforderlich.
Man würde nach dem Obigen diese erhalten können, wenn man aus 0
und 0” die Werthe von r und 7” bestimmte, etwa durch die Formeln:
cosd= cos (e — ]) cos® cos d’= cos (a — !”) cos”
r=(g— Reosö)’ + R’sinö? 7’’=(g"— R”cos d”)’ + R’* sin d”°
IRZ EL EER i :
und damit 7, —, so wie die höheren Glieder der Entwickelung von y
dr’ dr ° 2
y,y" berechnete. Diese Berechnung kann indessen beträchtlich abgekürzt
2
und genauer et Menlen-
Wenn % _— " und 7 doch nur aus "— r und r”— 7’ her geleitet wird,
so wird der die es werden, wenn man diese Werthe sogleich
einführt, und z. B, bei lg y’ die Entwickelung nicht mehr nach den Ben
von r', sondern nach den Potenzen von +(r”+-r) machi. Substituirt man
demzufolge
"2
= ++ 0-MI-ıE
so erhält man für die entwickelten Glieder vollständig:
92 6
EAN, „ 14
lshypy=3 Fr +2+ era, +(r +) = +-—-(r'+r)’ (5 )t-
Es kann bei y’ gleichgültig sein, welches 7’ man wählt, da y’ nur von vr” $
und dem zwischenliegenden Winkel abhängt. Nimmt man also für r’ das
arithmetische Mittel aus und z”, oder setzt man
Nn=z@rr)
so wird der eingeklammerte Faktor:
a rider,
dr +9r, er
1497,
24 Encke
Es folgt aber aus:
—=a+y
rdr xdx ydy
dr dr r dr
dr = >) + a „Er d’y
dr? Es dr® a:
n d’x 3 By:
VEIEDDE ar® ar
und der bekannten Gleichung
GD+)=-:-:
Ik zZ" a
=) 2 :) = 1 1
ce gr er
woraus der Faktor wird
Be
a
Man kann deshalb die Ausdrücke für die verschiedenen y bis zur 4ten Po-
tenz der Zwischenzeiten incl. so schreiben: Man bestimme den allerdings
x .ı dr! d?r' # B
nur genäherten Werth von a, weil I und = blofs näherungsweise aus
r — r und 7’ — r' hergeleitet werden, aus:
"dr"
3 ee
so wird om
N Eh gr r+r
lshypy =oz* Gaerp a 7 al (e) ...
x RN Ba) en
Ichypy = sy + ah (@) h--
N n ‚2 9% 9 r-+r"
ebypy=,- Ge en af Tara
Um die Gröfse dieser Correctionen besser schätzen zu können, mö-
gen die $ auf Z und der hyperbolische Logarithmus auf die Einheiten der
7ten Stelle des briggischen Logarithmen bezogen werden. Man erhält dann
>
wo die Logarithmen der Coöfficienten sind 3,2338859 und 0,1310176. Die
Ausdrücke für yund y’sind analog.
f
ap:
a5 = on
4 (+ n°
(+ n)?
lg br. y” + 1,352
In gewöhnlichen Fällen wird man hier-
mit namentlich bei Planeten in der Gegend der Asteroiden ausreichen, weil
über die Bestimmung der elliptischen Elemenie bei Planetenbahnen. 25
bei ihnen +7’ schon beträchtlich gröfser als 1 ist. Bei Cometen könnte
auch bei der ersten Bahnbestimmung und kurzen Zwischenzeiten noch das
folgende Glied der 6ten Ordnung merklich werden. So z. B. ist in dem
zweiten Beispiele von Gaufs T’heor. mot. pag. 182
t—= Nvb. 5,564905 = Nvb. 36,466293 ” = 76,340208
lg r = 0,3630960 lg 7’ = 0,3507191 lg r" = 0,3369536
Man findet nach den hier gegebenen Formeln für 7’ — t = 70,775303,
br), 0095476 + 0,0001155 = 0,0096631, wobei lg (a) = 0,4441635.
Die strengen Werthe sind lg y’ = 0,0096642..5 ns lg a = 0,4422438. Eine
Zwischenzeit von 71 Tagen wird bei einer ersten a ennaung gewils
nicht vorkommen, und doch ist der Unterschied von dem strengen Werthe
nur 11 Einheiten der 7ten Decimale.
Übrigens geht aus dieser Reihenentwickelung hervor, dafs bei der
ersten Verbesserung man in allen Fällen nicht nöthig hat mehr als das erste
Glied mitzunehmen, oder zu setzen:
lg brigg y’= 1713,5 see
lg brigg y’ = 1713,5 en
lg brigg y = 1713,35 Be
in Einheiten der siebenten Decimale. Denn da bei den r ein Fehler der
ersten Ordnung stattfinden wird, der höchstens bis zur zweiten sich verklei-
nern kann, so kann man das zweite Glied der vierten Ordnung doch nicht
richtig erhalten. So findet sich in dem angeführten Beispiele bei Gaufs,
dafs er die den genäherten r, 7’, r” der ersten Hypothese genau entsprechen-
den Igy = 0,0031921, 1g,y” = 0,0017300 findet. Nach den obigen Formeln
werden sie die ganz strengen Endwerthe
lg y = 0,0031659 + 0, 0000132 —= 0,0031791
lg y'’= 0,0017374 + 0,0000037 = 0,0017411
welche bis auf 2 Einheiten der letzten Decimale genau sind. Die Glieder
der vierten Ordnung sind hier den stattfindenden Unterschieden zwischen
den ersten Bendhenten und den wahren Werthen der Gröfse nach ganz analog.
Überhaupt wird man bei jeder Verbesserung nur immer hoffen können, das
Math. Kl. 1849. D
236 Encke
nächste Glied der Reihenentwickelung von lg y zu erhalten, bei der ersten
Verbesserung die Glieder zweiter Ordnung, bei der folgenden die der vier-
ten, bei der nächsten die der sechsten u. s. w.
Sollten indessen die höheren Glieder merklich werden, so kann man
durch eine etwas vermehrte Rechnung die Annäherung beträchtlich erhöhen.
Zur Verbesserung vnP =" = n . 7, bedarf man nur der Gröfse y und y",
n 2
welche sich nur auf die kleineren Zwischenzeiten beziehen und bei welchen
eben deshalb in den höheren Gliedern die Verbesserung nur etwa 4; bei den
Gliedern der vierten Ordnung und 4, bei den Gliedern der sechsten Ordnung
von der Verbesserung von y’ beträgt. Giebt man sich aber die Mühe, nicht
blofs die r, sondern auch die zu ihnen gehörigen Zwischenwinkel in der
Ebene der Bahn, oder die Gröfsen x ww’ zu bestimmen, so läfst sich aus 3
Radienvectoren nebst den Zwischenwinkeln durch eine geschlossene Formel
der Werth von Q, bei dem sonst die Kenntnifs von y’ erforderlich wäre,
ebenfalls nur mit Hülfe von y und y” ableiten. Es wird dadurch die Ermit-
telung von y', des gröfsten Faktors, völlig entbehrlich, und man wird eine be-
trächtlich gröfsere Schnelligkeit der Annäherung bewirken. Denn wenn w
der Winkel zwischen Perihel und aufsteigendem Knoten ist, so hat man die
drei Gleichungen:
—ı1=ecos (W —u)
„—1=ecos (uU’—w)
Multiplizirt man sie respective mit sin (u — uw‘), sin (u— u”) und sin (wW— u),
so wird die Summe auf der rechten Seite Null, und daher:
p men alu ze) N =sin (u’— uW‘)+ sin (u—u”) + sin (w—u)
r r LE
Die linke Seite dieser Gleichung wird folglich geschrieben werden können:
ler are or;
und die rechte durch eine leichte Transformation, wenn man für w’ — u
schreibt "— W + wW— u:
4 sin + (W — u) sin — (u’— u) sin — (u — u).
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 27
Dann: [root
273 2r'?
so erhält man 2 4r'* sin+(u” — u') sin. (uw _ u) 1
cos 4 (u — u) p
Setzt man folglich wegen
y Br Ba rr' sin (uw —_ u) „ Yp= Beer in r I sin (u — 79)
Pan erT on aaa
1 1 89” 1
m a (N a —
also p yy’ TREE (w u Pr) Br (a u)
so erhält man den strengen Werth von ®:
”
69 du
Q= Fr
rr" c0s4 (uw — u) cos+-(w”— u) cos+(u”— u‘)
aus welchem sich die verbesserten Werthe mit grofser Genauigkeit und Be-
quemlichkeit berechnen lassen. Obgleich die Kenntnifs der Winkel für die
ersten Verbesserungen, die in der Regel ausreichen werden, nicht nöthig
thut nach der obigen ee ekchung so ist der dadurch erlangte Vor-
theil doch zu grofs, um nicht die etwas vermehrte Mühe der Berechnung
zu ersetzen.
Wenn deshalb die g gg” ermittelt sind, so berechnet man aus ihnen
den heliocentrischen Ort nach den bekannten Formeln:
ocosß sin(@e— I) =[rcosv sin (A — ])
R+2c0sßcos(a—l) =rcosv cos(A — ])
e sin ß sing
g’cosf’ sin (@— 7) = r cosv sin (X — 7)
R’ +9 cosß'cos(@—!) = r' cosv cos (X — !)
e' sin ß' =r'sinv
g"cos?” sin («”—!”) = r” cosv” sin (A”—!”)
R'+0'cosß”eos (@’—!’)= r"cosv”cos(A’—!”)
eg” sin DB — 77 Sins.
wo vv'v” die heliocentrischen Breiten, A A?” die heliocentrischen Längen sind.
Man kann aus ihnen auf verschiedene Weise die nöthigen Werthe be-
kommen. Entweder aus
sin z (uw — u)’ = cos+(V + v)* sin 1(X — A)? + sin 1(" — v)’ cost (A — 2)?
sin z (u’— u)’ = cos + ("+ v)? sin + (X”— 2)” + sin 4 („"— v)* cos4 (X’— 2)?
sin z (W'— uw)” = cos+(v’+v')? sin4 (A’— X)” + sin 4 ("—v')* cos+ (A’— 2’)?
D2
28 Encks
oder durch ähnliche Formeln das bis jetzt allein nothwendige
cos+(w — u)’ =sin+(v’ + v)’ sin4r) — A)’ + cos; (v’ — v)’ cost(X — A)”
cos+ (u — u)’ =sin# (v"+ v)* sin—(A’— A)” + cos (v’— v)’ cos4 (A’— A)’
cos+ (u —u)’=sin + (v’+V)’ sinz (A’—A)? + c0s4 (v"— v')’ cos (A’— A)”
Man kann auch die Neigung und den Knoten aus den äufsersten bei-
den Örtern bestimmen, denen der mittlere dann ebenfalls entsprechen mufs,
durch Auflösung der beiden Gleichungen:
tg v =tgisin(A — R)
tgvV’=tzisin (A— 8)
und daraus u, w, w” ableiten durch
1 u = Ed D tgul= tg (X — ad ig u =
cosi cosi cosi °
wobei sich eine Anzahl Controllen findet, dafs z. B. der jetzt gefundene
Werth von r’ mit dem aus z abgeleiteten übereinstimmen mufs, dafs tg’ =
igisin (X — 8), dafs der zum Grunde gelegte Werth von
rr' sin (wW —u ’r"
p_ Tino
r'r"
4 _ rr' sin (u SOPETL sin (u’— u)
r" sin (w en) oder ı > rr" sin (u — u)
so dafs, wenn man diesen Weg wählt, die Bestimmung von r und 7” durch ö
und ö” unnöthig ist.
Hat man aber einmal u u’ uw” gesucht, so wird die Reihenentwickelung
der y oder Ig y bei weitem einfacher und leichter fortzusetzen sein. Schon
gr2 g”&
die Form, dafs lg y” = ee een, und
folglich für die Parabel bei a ©
Du
lgy” =; TEENS:
führt darauf, die Analogie der Ellipse und Parabel zu benutzen. Bekannt-
lich hängt in der letzteren der Werth von y von einer cubischen Gleichung
ab, die sich mit Hülfe der in dem Lambertschen Theorem enthaltenen Grö-
{sen am leichtesten herleiten läfst. Wenn e die Sehne zwischen den End-
punkten von r und z’ ist, und man
TFT Ec=m? r+r—c=n?
über die Bestimmung der elliplischen Elemente bei Planetenbahnen. 29
setzt, so wird wegen ce =r’-+r” — 2rr' cos(w — u)
2cos+(W—u)Vrr=mn r+r=-+(m’+n?)
und da Fire = 9"yp
so wie [7] = 2c0s+ (w' — u) Vrr' x sin (uw — u) Vrr'
. ‚ By
so wird sin — (uw — u) Vrr = a le
mn y mn
oder ee
Vp y" mn
Diese Gleichungen gelten für alle Kegelschnitte. In dem speciellen Falle
der Parabel wird
Tp=zppigzvtstgzv}
TYp=zppigzVtztgrv”}
wenn v und v’ die wahren Anomalien bedeuten, und folglich wird wegen
2 ‚ p
2c0s4v? =
2c0os4v’
"yp=+zpfigtzV—tigtv. fir ZtigzvU + ZtgziiggVUrZztigzUt}
wobei, wenn man statt ı den Werth setzt, der aus der folgenden Gleichung
2cos+(W— r’
entnommen werden kann: ıHtgZvtg;-vV= un me, man erhält:
Wyp=tpptig td) EETITT ig}
und damit wegen:
_ 2sinZ-(w’— u).Yrr’
2 p
wird die Gleichung geschrieben werden können:
„ sin-(w’— u)?.(rr')2
9"Yp=2c0s+ (u — u).Vrr'.sin+ (u — u) .Vrr' ++ F
Ä 2 gr3
[Ei er Vr
(mn)?
welche übergeht in
Gr M. gr ® = g”3
(mn)? i y?
aus welcher cubischen Gleichung sich y ergiebt, sobald
mn = 2cos— (W — u).Vrr'
bekannt ist.
30 Ecke
Eine analoge Gleichung wird auch bei der Ellipse stattfinden. In der
That, wenn E und E’ die excentrischen Anomalien und e die Excentricität,
ot 1“ —E'— E—2esin4(E'— E)cost(E’+E)
a”
undda ecos+(E’+E)= c0s+(E'— EB, — zT
so wird
9"—= 2c0s+(W— u) .Yrr‘.sin(E'— E) .Va+$E'— E— sin (E’— E)} a®
Nun aber ist auch
sin+(E'—E).Va= nn. —
folglich wird
gr _ 9” E'— E— sin (E'— -E) 9”3
=7t ge | a 7°
welches die der obigen parabolischen analoge elliptische Gleichung ist. Es
wird nämlich bei der Entwickelung
E'— E— sin (E’— E)
sin4(E’— E)’
oder für E'— E=0 in der Parabel der Faktor +.
Zur Auflösung dieser transcendenten Gleichung, wenn blofs w — u,
und nicht zugleich E’— E gegeben ist, bedarf man noch einer Relation
zwischen E'— E und den übrigen in der Gleichung vorkommenden Grö-
fsen, welche sich aus der Gleichung:
RER !
=;+2sin —(E'—-E)’ + - sin 4 (E'—
r+r = 2asin+(E’— E)’ + 2cos— (W — u) cos4 (E'— E).Vrr'
oder
r+r — 2c0s+(W—u)Vrr =2asin—(E’— E)’
— 1c0s+ (W—u) sin- (E’— E)’Vrr'
ergiebt. Substituirt man hier m und n, so wird
gr2
m—n) =2—4 :—— —2 = (EA):
Am-n)'=2!%. In —tmnsin4(E—E)
Hiernach, wenn man der Kürze wegen setzt
x —=sin-(E'—
wird die cubische Gleichung in der Parabel we in der Ellipse durch
die beiden Gleichungen:
über die Bestimmung der ellipiischen Elemente bei Planetenbahnen. 31
u2 1 (m—n)?
Me a —
y (mn) 4mn
gu a 9” 3
== . ae
Setzt man
2mn 2c0os + (W— u)Yrr’
a 2. 7 IV =(C0SY
mn r+tr
so wird mn=(r-+r') cosy
PR N. An le}
mn cosy _c0sy
und man erhält:
ö gr? un 10,2
z=sin- (E— E)’—= Sr ne
(r+r)’y””cosy cos y
4 ar 6 Fa 8 2 Er
eZ—afn
wen 308.5 315.7 3 "3 Pi
9 cos y° (r +r')? y'?
Man kann diese letztere Gleichung auch schreiben:
a 1 +! ee ee iz 1
u. 3 3.5 3.5.7 ra (r+r')? cosy? "yr
welche, wenn man den Werth von x Aug wird
1 sin4y? sin, (= gu= 42
er in (I y Er). Tale
Y cos y cosy "G+r) cosy? "yrs
|_ 18 „Sinzy®, ia ey 3 1
+! — — = + ——e» a ee
z 33 cosy 21 cosy (r+r')°cosy® y”’
+14 _18, sing y® 1 +12 lapevnaf? » ii] BEN
35 21 cosy "(r+r')? cosy? en (r+r')'?cosy"® y” s
Um hieraus die Reihe für lg hyp y” herzuleiten, dient die Bemerkung,
dafs wenn:
y y
2 4 y® y®
ie, Fk? Zee ee, an
RN er P 5 u.
sein wird:
NE ‚2 5,2 [71 28 „3
Bhpy'=c."’—- Gi —-e)"+&c—1ee,+c,)n°
8 Asche, + 40; +9,06, — c,M°....
32 EnckE
Geht man also bis zu #”° fort, welches die äufserste Grenze ist, bis zu wel-
cher eine Reiken-Entwickelung noch rathsam sein möchte, so wird:
DYZ sin- LE 002
ls hyn st SER NAT NEN u don
So ° (r+r')’cosy? B cosy a (r-+Hr')? cosy’ "(Fr +r)? cos cos y>
—%, ve 'y re A Tara 2 TOO IRBERENN SALE — = NE —e..
35 cos y 6 cosy (r+r)’cosy’ 162 (r+r')°cosy°f (r+r')’cosy?
Diese Reihe, bei der die Glieder abwechselnde Zeichen haben, con-
vergirt indessen ungemein langsam, wenn die Gröfse, nach der sie eigentlich
g”’2 2
r-+-r')’ co
aus der Formel für Ei: y eich: es noch besser aus der Betrachtung, dafs
geordnet ist, nämlich _ ——, bedeutend wird. Es ist nämlich, wie man
die Sehne zwischen den Endpunkten von r und 7’
= (r+r)siny,
einleuchtend, dafs sin 1 y eine Gröfse der ersten Ordnung, von derselben
Ordnung wie 8” ist, EN dafs die Reihe folglich nach den geraden Potenzen
der Zwischenzeiten fortschreitet. Vermindert man die Gröfse, deren Po-
tenzen in den einzelnen Gliedern auftreten, oder ordnet man die Reihe nach
2
(r+r')’’
1
cos y°
Potenzen von indem man für sec y’ substituirt
=1+6sinty” + 24sin Iylı.
so wird sie bei weitem convergirender, und man erhält:
WE sin = De BR
Mn er 32, Eh . en
ley er Fre 5 H cos y ’ at (r+r')?
+23, =) 9 Sugy®, el it
35 ei cosy (r+r')’ 29 (r+r')® (r+r')?
Die Convergenz wird aber noch gröfser, wenn man auch hier noch
für sec y seinen Ausdruck durch sin 4 y” substituirt, nach
seey=1+2sinty’+4isinzY'...
Man erhält dann
g”2 g’2 9”?
Ne en 32, ea
ey 3 (r+r')? + 5 (sin 2 Y 9 "GFrr) (r-+r')?
igein,. 0 ES. A
35 IT Teint nt rl ee
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 33
Es wird nämlich dann das zweite Glied entweder positiv, oder erhält doch
nur einen kleinen negativen Werth, und das dritte wird seiner Natur nach
immer positiv sein, da es
gr? 2 92 g”6
4736 BU een! 4189, eh une 8 Immo, a
= fein - y 138 Fr! Gr tr 6
Um diese Reihenentwickelung mit der früheren direkt vergleichen zu
können, kann man vermittelst des für die Ellipse modificirten Lambertschen
Theorems statt des Winkels y die halbe grofse Axe a hineinbringen. Be-
kanntlich gilt für die Ellipse das Lambertsche Theorem mit der Modifica-
tion, dafs in ihr
"= + (m’—n?) + -- «(m ’—n’) +; 2 (m’—n}!)....
Substituirt man hier
m=(cos;y+sin—y)V(r +r')
n= (cos y— sin y)/(r+r')
so wird bis zu dem Gliede - erhalten:
9"? ı r+r 3 fr+r
—— Ne er I ( a sin —
Hr)”
2 3 r+r' sn gas 1 Be 3 (r+r 2
-R ul = ) pin +v'- e> Pig.nk rl iger sin —y’
2
3 EST 4 Me
+77 (=) SNZYe..
und wenn man umkehrt, so wird:
Se ER Ace r+r'\°
sın — = 4 -4( 1% .——
(ehr)?
ae):
3 zn
a)
und damit
nakin, 2y: r+r ER
et =(: er: ee ) )- (r-++r')?
a 2 che, 2 4 Er )- E%
se Di 16 ("+6
„ n4&
sinty'= Beer, zen 6
a +28 "+ r)®
Math. Kl. 1849. E
34 Encke
Substituirt man diese Werthe in die letzte Reihen -Entwickelung, so wird:
gr ur gr
By'=3 ats li) Game
(r+r') a (r+r)
Itansif, en Per er ii
si Bu. 1624 "Gary
welche in den ersten beiden Gliedern völlig mit der oben aus den unmittel-
baren Differentialgleichungen der elliptischen Bewegung abgeleiteten über-
einstimmt, und damit zu erkennen giebt, dafs die Gröfse, nach der diese
Reihe geordnet ist, sich auf verschiedenen Wegen von selbst als die zweck-
mälsigste darbietet.
Da r immer zwischen a (1—e) und a (1+ e) liegen mufs, so wird der
Coäfficient des zweiten Gliedes, abgesehen von den mit = und den höheren
Potenzen multiplieirten Gliedern, immer liegen zwischen:
16 (1+9e) und # (1 — 9e)
Bei Planeten ist die IM bis jetzt bekannte Eccentricität +, so dafs der
gröfste negative Werth — >, der gröfste positive +22. Man kann deshalb
aus der Gröfse von. = „3 unmittelbar schliefsen, ob das zweite Glied noch
merklich ist, da man u Coöfficienten bei diesem Überschlage = — 1 setzen
kann. Bei den Gliedern vierter Ordnung entspricht hiernach eine Einheit
der siebenten Decimale des briggischen Logarithmen etwa - (r+r Ge Tagen,
wonach sich die Nothwendigkeit der Berücksichtigung derällben schätzen
lassen wird.
Der Coäfficient der Glieder sechster Ordnung liegt auf gleiche Weise
behandelt immer zwischen:
D 6 2 2
BatrerTe ma -merTe
also füre=-+ zwischen + 46 und — 42, wofür man zum flüchtigen Über-
schlage Chbnfalle die Bisiheit, a kann. Es entspricht dann bei nn eine
Einheit der siebenten Decimale des briggischen Logarithmen etwa — > (r+r')®
Tagen. Nimmt man für die Gel Sa kleinen Planeten als beiksEr
Werthe (r-kr')® in runder Zahl = 10 an, so kann man sicher sein, dafs die
Glieder 4ter Ordnung bei einem Intervalle von 10 Tagen erst eine Einheit
der siebenten Deeimale des briggischen Logarithmen bewirken werden, bei
20 Tagen 16 Einheiten. Die Glieder sechster Ordnung können bei einem
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 35
Intervall von 40 Tagen noch nicht eine solche Einheit betragen, bei 80 Ta-
gen noch nicht 64 Einheiten. Bei Cometen, für welche r +7’ selbst bis zu
14 herabsinken kann, wird man viel zeitiger die höheren Glieder berücksich-
tigen müssen und dann jedenfalls die strenge Auflösung von Gaufs vorziehen.
Stellt man folglich die nöthigen Formeln zusammen, so bestehen sie
in folgenden:
Wenn r'r", u u’ u” gefunden ist, so verbessert man successive P und
Q. Es wird das verbesserte
YR gr Y
P ze T ‘y
IR AH” r'r’
yy" i rr” cos + (u — u) cos4 (u — u) cos+ (u’— u)
wozu es der Kenntnifs von lg y und Ig y” bedarf. Das erstemal reicht
man aus mit
"2
’ 4 0? ’ „ 4
A lehypy=s 7a: Alghypy mnalım
welches man auch in Einheiten der siebenten Decimale des briggischen Lo-
garithmus schreiben kann:
lg br y= 17135 ei lg br "= 17135 Er
wo der 1g 1713,5 — 3,2338859.
Bei der zweiten Verbesserung berechnet man mit den neuen Wer-
then von z, r', r” diese Glieder ebenfalls und fügt hinzu:
2 cos + (u”— u’) Y(r'r” 2cos+ (wW—u)Yrr'
a ee NET IK . a a
r +r r-+tr
I . 1 6? [E
I le hypy = 3 fein 4 y 4
2): ne 9”? g”2
Ar hp = in 4a" dp er
Man kann die ganze Verbesserung, das erste und zweite Glied in Einheiten
der 7ten Decimale des Henn Logarithmus, vereinigen in
1 ’— 1)? U" —t)*
lgbry = 4112 an eh HB cosy} — 1,0817 cr
lg br y’— 4112,4 en . $1T _ cos y”} — 1,0817 u
wo 1g4112,4 = 3,6140972, 1g 1,0817 = 0,0341076.
E2
36 EnckE
Bei der dritten Verbesserung berechnet man mit den neuen Werthen
von rr'r"yy" die obigen beiden Glieder von neuem und fügt hinzu
9° : Ä 6? 9*
Alshpy=% FE Asinay' —% sinZ y? Gary EREEN ” er
ve gr2 gr&
3 REN 136 ua. . a ERS . SAN „2 ER
a an er er}
Man kann alle drei Glieder in eine Form vereinigen in Einheiten der
7ten Decimale des briggischen Logarithmus durch
lg br y = 48,957 © a . 1257 — 360 cosy + 138 cos y’}
(Fr
— 0,019316 sc 5323 — 267 cos yt + 0,0010149 e .
lg br y’—= 48,957 nn . {257 — 360 cos y’+ 138 cosy’*}
= EN a3 = 2 I
0,019316 Ep {323 67 cos y”t + 0,0010149
1g 48,957 = 1,6898179
1g 0,019316 = 8,2859195
1g 0,0010149 = 7,0064167.
wo die lg sind
Es läfst sich auch der Werth von dem hyperbolischen logar. in fol-
gende Form bringen:
2 cos + (u”— u’) Yr'r”
r+r"
Man berechne
=Ccosy
92 e
Gr a
Zsin4y 2 —=A
5
23
. 1. 2 2
sin,” —-$""=B
so wird
lshpy= Zn’ fi +A+4AB} + 32°
Es sind hier + hate, 8 MB nA A” en
-„ AB+= 32 y—=4A?’ lghypy
und die analogen hin für y”.
Um eine Anwendung dieser Formeln zu machen und zu zeigen, wie
weit sie in gewöhnlichen Fällen ausreichen werden, habe ich das zweite und
dritte Beispiel in der T’heoria motus danach berechnet, zugleich auch die
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 37
Rechnung nach den drei Reihen - Entwickelungen ausgeführt, damit man den
beträchtlichen Unterschied der Convergenz derselben bei grofsen Zeitinter-
vallen übersehen könne.
In dem dritten Beispiele T’h. m. pag. 187 sind die Werthe
! —t—= 259,88477
lgr = 0,4282792
lg 7’= 0,4062033
u' — u = 62° 55’ 16) 64.
Die erste Reihenentwickelung giebt für die Glieder der zweiten, vierten und
sechsten Ordnung:
lg br y” = 0,1305534 — 0,0763221 + 0,0595854 = 0,1138167
Die zweite giebt eben so
lg br y’ = 0,0809493 + 0,0094130 — 0,054538 — 0,0849085
Die dritte oder die eben gegebenen Formeln
lg br y” = 0,0809493 + 0,0044712 + 0,0006714 = 0,0860919
Der strenge Werth nach Gaufs wird 0,0861151.5, dem sich bei einer Zwi-
schenzeit von 260 Tagen der letzte Werth bis auf 233 Einheiten der sieben-
ten Decimale nähert, während sich die beiden ersten sehr beträchtlich da-
von entfernen.
In dem zweiten Beispiele T’}. m. pag. 183 sind die Werthe:
! —t=70,775303
lg r = 0,3630960
lg r'= 0,3369536
uU — u= 22° 32% 7)67.
Hier giebt die erste Reihenentwickelung
lg y’ = 0,0101355 — 0,0005008 + 0,0000318 = 0,0096665
Die zweite
lg y’ = 0,0095476 + 0,0001251 — 0,0000087 = 0,0096640
Die dritte
lg y’ = 0,0095476.2 + 0,000 1160. + 0,0000006.2 = 0,0096642.5.
Der strenge Werth nach Gaufs ist 0,0096642.5, so dafs bei einer Zwischen-
zeit von 70 Tagen und für Werthe von r und 7’ die in der Gegend der klei-
38 Encke
neren Planeten zu den kleineren gehören, die dritte letzte Form den stren-
gen Werth ganz genau wiedergiebt, die erste und zweite sich ihm beträcht-
lich nähern.
Bei weiteren Verbesserungen, wenn sie nöthig sein sollten, wird man
zu der strengen Gaufsischen Form nebst den dazugehörigen Tafeln sich wen-
den müssen, vielleicht ist es schon bei der dritten Verbesserung rathsam.
Diese kommt darauf hinaus, dafs Gaufs die transcendente cubische Gleichung,
wenn man es so ausdrücken darf, in die Form bringt
1 4 4 u
(—(&—8)) (r+r)’cosy’ y"
wo £ eine sehr kleine Gröfse 4ter Ordnung, nämlich
1384 25
= TE x Be PT
Setzt man hier für x seinen Werth
9”? 1 sinty?
I
(r+r')’cosy? y”? cos y
so wird die strenge Form
1 10 g2
MSc Do GE 77 2733 3 ,n3
y s , singy" 1 £ "G+r) cosy’y
6
cosy F+r)’" cosy’y"-
sich umwandeln, wenn man
2
6 snZYy P
en.
I
BaN)
cosy
g2 au DIE
(r+r')’ cosy? =,
setzt in
0", 2
9 n3
1=7 5 =
N 1
77m
oder in
9. ZN
RE:
Bei der Auflösung vernachläfsigt man zuerst E und nimmt
über die Bestimmung der ellipischen Elemente bei Planetenbahnen. 39
Eine Tafel giebt mit A° den zugehörigen Werth von 1g.y”, und eine zweite
giebt den Werth von Z, der £° bezeichnet werden möge, welcher vermöge
zu diesem ersten genäherten Werthe von x gehört. Damit hat man als zweite
Näherung
BED N)
5, sin 4y? Zr
6
5
cosy
und sonach ein neues y”, x und £, welches Verfahren so lange fortgesetzt
wird, bis keine weitere Verbesserung von £ nöthig thut. Gaufs bezeichnet
die Gröfse — mit Z und giebt für die Berechnung desselben eine Formel,
die vielleicht, obgleich sie den Werth von Z am schärfsten geben mag, doch
der lästigste Theil der Rechnung ist. Es scheint, dafs man ohne wesentliche
Verminderung der Genauigkeit hier die Abkürzung eintreten lassen kann,
dafs man bestimmt
2c0s+ (u’— u)Yrr’
cosy= A
r-+r
und damit das Gaufsische
g”2
mm= een
= (Hr) cosy”
_ singy?
005 y
mm
wodurch ı=-—,—I
AA
und die übrigen Rechnungen den angegebenen Gang befolgen.
Hiermit sind die drei Gleichungen, welche die Bedingung einer und
derselben Ebene für alle drei Beobachtungen und die der gleichmäfsigen
Flächengeschwindigkeit bilden, für das ganze Intervall und seine Theile
vollständig und scharf aufgelöst, und es bedarf jetzt nur noch der Bestim-
mung der sämmtlichen Elemente. Von diesen kennt man, wenn man u u w"
auf die zuletzt angegebene Weise gefunden hat, schon Knoten und Neigung,
und unmittelbar hat man
= a Wu) = (ee "sin (w” —
40 EnckE
aus deren Logarithmen man das arithmetische Mittel der Sicherheit wegen
wählen kann. Die Eccentricität e und den Winkel zwischen & und Perihel
..W... erhält man durch
.- —1=ecos (u—w)
P—ı1=ecos (u"—u)
wozu allenfalls noch, wenn man durch indirekte Versuche sie auflösen will,
die Gleichung
— —1=ecos (U— uw)
genommen werden kann. Eine direkte Auflösung würde sein
(4 -:) cosu— (2 -:) cosu”
r
sın (u — u)
EI Eine
sin (u” — u)
esnw=
ecosw =
Wenn also & der Eccentrieitäts-Winkel und = die Länge des Perihels ver-
langt wird, so hat man
sinp=e v+R)=r
Die wahren Anomalien v, v’, v” sind der Reihe nach u—u, W— uw, uU"— u.
Die excentrischen E E’ E” werden gefunden durch
gr Ener (u— u)
tg + E= tg (15 —— P)tgz (W— u)
gg; Et (5 7 Pig (uW— u)
und die mittleren M, M’, M” durch
M=E-esnE
M=E-esinE’
M'—= E'—esin E"
woraus sich wegen der mittleren täglichen siderischen Bewegung ..4.. welche
— k * ” ui ” -
= 7 ist, wobei lg k = 3,5500066 ist, wenn a in Bogensekunden gefunden
werden soll, die Epoche der mittleren Anomalie für die Zeit T’ so berech-
nen lassen wird, dafs man ableitet
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 41
az 2 Z
cos d
k
kR=
er
zB
M=M—(—T)u
M—(!—T)yu
= M’— (“—T) u
In der Übereinstimmung dieser letzten drei Werthe liegt die letzte
Prüfung für die Richtigkeit der ganzen Rechnung.
In den bisherigen Formeln habe ich mich bemüht, den Gang der in
der Parabel befolgten Methode so ähnlich als möglich zu machen. In der
That ist er auch im wesentlichen derselbe. Aus denselben 3 Gleichungen
werden mit Hülfe der zuerst angenäherten, nachher verbesserten, Werthe der
doppelten Dreiecksflächen die Abstände abgeleitet. Nur kann man in der
Parabel noch die Lambertsche Gleichung zwischen zwei Abständen und der
Zwischenzeit zu Hülfe nehmen, wodurch man nur ein Verhältnifs von Ab-
ständen aus den drei Gleichungen zu entnehmen braucht. Eigentlich sollten
nach den ersten Versuchen auch in der Parabel die annähernden Voraus-
setzungen, deren man sich bei der Combination der ursprünglichen drei
Gleichungen bedient hat, verbessert werden, wozu man entweder die Reihen-
Entwickelungen oder die von Bessel gegebene strenge Auflösung durch zwei
cubische Gleichungen benutzen kann, sobald die Werthe von den beiden
Abständen gefunden sind und wobei man keine Elemente zu bestimmen
braucht. Ganz so wie bei der Ellipse, aber hier freilich nur durch Reihen-
Entwickelung, sei es unmittelbar oder durch Tafeln abgekürzt, man die Ver-
besserungen einführt. Man thut es gewöhnlich in der Parabel aber nicht,
theils weil man kürzere Intervalle benutzen kann, weil eben aus der Mög-
lichkeit, aus den drei ursprünglichen Gleichungen nur ein Verhältnifs zu be-
nutzen zu haben, die sehr kleine Gröfse a nicht unmittelbar ermittelt werden
mufs, was bei der Ellipse unumgänglich nothwendig ist, theils weil eben des-
halb die Ordnungen der Fehler um eine Einheit bei der Parabel höher sind,
als in der Ellipse. Die Olbers’sche Methode giebt bei ungleichen Zwischen-
zeiten in der ersten Annäherung einen Fehler der zweiten Ordnung, bei der
zweiten Annäherung einen Fehler der 4ten, dann der 6ten Ordnung. Bei
8
der Ellipse ist in demselben Falle der erste Fehler von der ersten Ordnung,
Math. Kl. 1849. F
43 Encke
bei der zweiten Annäherung wieder von der dritten, bei der dritten von der
fünften etc. Sind die Zwischenzeiten gleich, so ist das Steigen der Ordnun-
gen der Fehler in der Parabel nach einander die Ste, bte, Yte Ordnung, bei
der Ellipse die 2te, 4te, 6te u.s. w. Bei den kleinen Intervallen der Pa-
rabel wird selten ein Fehler, der auch bei ungleichen Zwischenzeiten, da sie
doch nahe gleich in der Regel genommen werden, der dritten Ordnung nahe
kommt, noch erheblich genug sein, um die Verbesserung hervorzurufen,
während bei den gröfseren Intervallen der Ellipse, wo der ursprüngliche
Fehler nur der zweiten Ordnung sich nähert, eine Verhesserung in der Regel
wünschenswerih ist. Nothwendig wird sie indessen auch hier nicht sein,
wenn es blofs auf eine beiläufige Kenntnifs des Laufes in den nächsten Wo-
chen abgesehen ist. Bei der ersten Bahnbestimmung der Astraea, bei der
die Intervalle freilich nur 7 und 6 Tage waren, habe ich gar keine Verbesse-
rung angebracht und erhielt doch so übereinstimmende Resultate unter sich,
dafs die abgeleitete Bahn fast für die mehrmonatliche Sichtbarkeit des Pla-
neten ausgereicht haben würde, da die Unterschiede nur 3 Minuten betrugen.
Sind die Abstände ermittelt, so werden die Elemente in beiden Kegelschnit-
ten bestimmt, und auch hier habe ich die einfachsten Formeln aus der T’heo-
ria molus gewählt, um mich bei dem Gange in der Ellipse dem in der Pa-
rabel möglichst nahe anzuschliefsen.
Zur Vergleichung der Anwendbarkeit der hier gegebenen Formeln,
verglichen mit den Gaufsischen, gehört auch noch die Untersuchung, ob die
sehr kleine Gröfse 3ter Ordnung, welche in der Gleichung, aus welcher p’
gefunden wird, vorkommt, mit eben der Genauigkeit wie bei Gaufs aus den
gegebenen Beobachtungsdaten abgeleitet werden kann. Es kommt hier haupt-
sächlich auf den kleinen Winkel 8° — 8°, verglichen mit dem Gaufsischen o,
an. Diese letztere Gröfse ist der Abstand der mittleren geocentrischen Beob-
achtung von demjenigen Punkte des durch die beiden äufseren Beobachtun-
gen gelegten gröfsten Kreises, in welchem die Ebene der mittleren Beobach-
tung (d. h. die Ebene durch Sonne, mittleren Erdort und mittleren Plane-
tenort gelegt) diesen letzteren schneidet. Nennt man den Winkel, den
diese beiden Ebenen, die mittlere Beobachtungsebene und der grölste Kreis
durch die beiden äufseren geocentrischen Beobachtungen gelegt, mit einan-
der machen, ...U, so finden die Gleichungen statt:
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 43
sin a sin U— 27 sin (@' — £°)
#11C0s)0%
sin ($° — o) sin U = sin (’— K) sin J
cos (0° — v) sin U=sin y' cos J — sin J cos y' cos (!’— K)
Aus der ersten sieht man, dafs « gröfser und kleiner werden kann als & — £°.
In der Regel wird es indessen beträchtlich grölser sein als @ — 8°, weil in
2 BLRENS sJ .
der Regel die @ und auch J klein sind, so dafs pe nur wenig von 1 ver-
schieden ist. Aber da Gaufs den Winkel r aus d’— (6 — r), also nicht un-
mittelbar ableitet, sondern aus Gleichungen, die mit den beiden letzten
gleichbedeutend sind, so wird sich strenge zeigen lassen, dafs die Genauig-
keit hier für « und 8 — &° völlig gleich ist. Es ist nämlich
d( —o)=-+sin2(d’—o)dlgtg (d’— ev)
dß° = -+ sin 2@°dlg tg Q°
da beide Gröfsen durch die Tangente bestimmt werden, und aus den beiden
ersten Gleichungen wird
Sic! sin (@’— £°) __ sin (®’— BP) sin (“—K)
sin(ö’— eo) cosß?sin(!—K) Tem STanS "sin e=R)
sin (d’— os) __ sine sin (”—K)
oder sin O 7° sin(8’=8°) "sin («—K)
Daher hat man
a(ö’—r) __ sine cos (’—o)sin(”—K) dlgtg (d’—o)
aaa sin (822) EcOR R® sin («—K) 2 alg tg g@°
Es ist nach den gegebenen Formeln leichter den lg tg £° bis auf die unaus-
bleiblichen Fehler der letzten Decimale genau zu bestimmen, als den
lgtg (° — c). Indessen setze man die Fehler bei beiden gleich. Der Fehler
von co entsteht aus der Combination
= (0 0)
folglich wird, da ö’ ebenfalls durch die Tangente berechnet werden mufs,
ds=d($ —v).V.2.
Dagegen ist ©’ unmittelbar aus den Beobachtungen gegeben und folglich
d(@ — ) = aß.
F2
44 Ewcke
Man hat also
dan sine cos (0° — 5) sin (’— K)
a(@—£°) — sin(P’—£°) Teos@?sin(@«—K)
.V2
Man kann auch schreiben
sin tg J sin ’—K)
=nB-P' ing — cos (—0).Y2
so dafs im Allgemeinen der Fehler von r in einem noch gröfseren Verhält-
nisse gröfser sein wird, als « gröfser als @’— £°. Denn der Faktor auf der
rechten Seite aufser diesem letzten Verhältnisse wird in der Regel > 1 sein.
Man hat deshalb nur sich die Mühe zu geben, bei £° nicht blofs bei den
Hunderttheilen stehen zu bleiben, sondern den ächten Bruch eines Hundert-
theils, den die Interpolation ergiebt, beizubehalten, um die Genauigkeit
vielleicht noch etwas gröfser auf dem hier angezeigten Wege zu erhalten als
bei Gaufs.
Es mögen jetzt hier die Formeln, welche zur Berechnung einer Pla-
netenbahn erforderlich sind, zusammengestellt werden:
Als gegeben werden betrachtet
die’Zeiten TE. ala EL
die geocentrischen Längen « «' a”
die geocentrischen Breiten BSH”
die Längen deriErder naar
die Abstände der &von® ARRR
Die Correctionen wegen Aberration und Parallaxe werden natürlich bei ganz
unbekannter Entfernung eben so berücksichtigt, wie bei Gaufs.
A) Vorbereitungs-Rechnungen, Gröfsen die unabhängig von den Ver-
besserungen sind.
"—k (E — £)
Perl)
ek)
der log k = 8,2355814.
wi R’R"sin @—7)
T RR” sin (1)
I FRsine’—D
TU RR’ sin (’—))
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen.
K) zb: sin (0”-+B)
o
® L
sin (4 (@’ +0) — TEN af)
cos(+(@”+«) — K)tg J= =. cosec— (a — a
J wird immer < 90° genommen.
tg @° = sin («— K) tgJ
__ sin (@’— £?)
m tg J cos 2?
e R'sn(!—K)
- jr R” sin (”— K)+ Rsin (—K)t
er nl) Hin (iM),
a
t ’
tg y" at 7
si («—!)
tg y gi. tg Ge
cos y
wobei cos ö’ immer einerlei Zeichen haben mufs mit cos (« — ?’)
M, = [cos ß' sin («’—«') + a So N E
sin(’—K)f cos£sin(@’—«)
we . 22 sin («”—K) 1
a ee en)
zer Re n sin (@e—7) 1
M,;= [cos ß' sin We sin at " cosP” sin («”—e)
sin («—K) 1
sin (—K) " c0s®”sin (e"—«)
0) M!=R'sin("’—))
45
(*) Anmerkung. Wenn die curlirten Ahstände g, 25 25 eingeführt werden, so dafs:
ecoß=n, dcsf'=n, d"csf"=H,
so kann man die einfacheren Formeln anwenden:
ww sin (@”— «') asec®’ sin(e@”—7”)
sin (e”’—«) sin(@’—«) sin (@”—K)
sin (’—/) sin(@’—K)
M'=R- RL
= sin(@’—c) sin(”—K)
a sin(e—«) _ _asec B — sin(@«—!)
sine era sin(@<’—«) sin(—K)
Re sin (’—2) „sin(@—K)
sin («” eo) sin/—K)
wenn man nämlich bei der späteren Anwendung auch dort die nöthige Modifikation setzt.
46 Evwcxe
B) Gröfsen für die Auflösung der Gleichungen durch Versuche und
Verbesserungen der Werthe
9” 7
bei dem ersten Anfange, nachher werden für P und Q die successiv verbes-
serten Werthe gesetzt. Be:
Fr 1+-P
K—=b—b°
D=z=ERO
rsing—=R'sin ö'
Rcosg—=k°+R’ cos’
der Quadrant von g wird so bestimmt, dafs u einerlei Zeichen erhält mit 2.
= a R'’sinö’?
Die Gleichung m sin 2’ = sin (2 — 9)
wird durch Versuche aufgelöst. Man nimmt eine von den zwei möglichen
reellen Wurzeln, für welche sin z’ positiv ist und 0’ >z'.
Pe R'sin ö’
sin 2’
6) wie R'sin (0’—z’)
8 sin z’
Q 1
ei! =
\ z 2r’Jı+-P
n"—=nP
en
n
x% 7 M; r N v
2 dere+la-)
R’ cos &’ sin (d’— 2’)
sin z’
(*) Anmerkung. Für o, wird 5 =
(**) Für go e0 e5 und die Anwendung der modifizirten Werthe von M, My; M; M;% wird
der Ausdruck 6 =M, re (- _ )) Ms;
n n
’ N”
e/=M} + (5 & ı) Mm;
In den Formeln für den heliocentrischen Ort ist dann statt g cos @....g, und statt p sin @
....g0 tg Q zu setzen, und analog bei dem zweiten und dritten Orte.
» #
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 47
g cos ß sin (@— 1) =r cosv sin (A — ])
R+o cosß cos («—l) = r cosv cos(A — |)
e sin ß =rsinv
0’ cos sin (7) = r cosv sin (X —7)
R' +2 cosP'cos(d—!) = r' cosv’ cos (X —7)
ge’ sin ß@' = r'sinv'
0”cos@” sin (@’— 1”) = r” cosv” sin(A’—!”)
R"+9"cosß"cos (@’—!")= r”’cosv”cos (A’—!")
g”sin & — ira“
Erste Prüfung. Der hier gefundene Werth von 7’ mufs mit dem
früher berechneten genau übereinstimmen.
sin (Z(A+R) — B)igi= + (tgv’+tgv) see +(A"— A)
cos (ZAHN) — R)tgi=- (tgv"+tgv) cosec Z(A’—A)
Zweite Prüfung. Es mufs innerhalb der möglichen Grenzen der
Genauigkeit sein:
tgvV’ = sin (X — S) tzi
Es folgt dann gu— BORD)
cos:
au ER
8 FF eos?
_ EAN)
8 dee cos’
Dritte Prüfung. Es mufs sein nach den bei der jedesmaligen Ver-
besserung zum Grunde gelegten Werthen von P und Q
rr'sin (u — u)
—rr”sin.(wW’— uw‘)
0 _rrsin(W—u) + r'r" sin (w’— u’)
1+ —- — Sa
* 2r!? rr" sin (u”— u)
r'r” sin (u” — w)
oder jean jo nr
° Orr” sin (u’— u)
Bra; rr' sin (uw — u)
a —
O rr”sin (u’— u)
C) Verbesserungen der Werthe von P und Qmit den jedesmal in der
vorigen Verbesserung erhaltenen Werthen.
0" y 69” Zur
P TEnBN . Q ==,
y" yy” re" c0s4+(wW— u) cos+(w”— u) c0s4(w’— w')
48
EnckE
a) Bei der ersten Verbesserung nimmt man:
lshpy=+- rer) ty
„ 4 gr= [2
kbpy—s ee
oder in Einheiten der siebenten Decimale der briggischen Logarithmen
3 ("—t')?
lgbriggy = 1713,5 (RR
fe2 [ode] rt
lg brigg y’ —17185 Fern)
wo der lg 1713,5 = 3,2338859.
b) Bei der zweiten Verbesserung berechnet man
2cos+(u”— u’) Yr’r”
cosy= ae, ( IV
r +r"
2c0s+ uw — u) Vrr’
cos V— (u! ) Vrr’
r+r'
24 sin ui 2y—
5 2 as! N A
24 5 iniy? __ 32 „12 "
zsingy—gı =A
lshypy=+’(1+A)
lg hyp u ES Y (1 u A")
Oder in Einheiten der siebenten Decimale der briggischen Logarithmen
lg br y = 119,4 CN gr _
(r +r")
cosy} — 1,0817 —— ai
(+r")®
lg br y'’= 4112, Bee: — cos y’} — 1,0817 —— era!
(+ r)°
wo der Ig 4112,4 = 3,6140972
lg 1,0817 = 0,0341076
c) Bei der dritten Verbesserung berechnet man
17 ee
sin ty? — 54" B'
lhpy=z fi +4+AB +3
lg hpy'=s dA DH
2y
352 5 6
+ 3752
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 49
oder in Einheiten der 7ten Decimale des briggischen Logarithmen
lg br y = 48,957 = 5257 — 360 cosy + 138 cosy*}
(Hr (r’+r”)?
— 0,019316 rt = - {323 — 267 cosy} + 0,0010149 rar Bu
lg br y’— 48,957 E = 5257 — 360 cosy + 138 cosy*}
— 0,019316 = Br 1323 — 267 cosy} + 0,0010140 (=
wobei lg 48,957 = 1,6898179
1g 0,019316 = 8,2859195
1g 0,0010149 = 7,0064167.
Bei weiteren Verbesserungen und schon bei der dritten wird die Gau-
fsische Tafel bequemer sein, so wie sie auch vollkommen strenge ist. Man
wird in diesem Falle für das Gaufsische setzen können
d°
mm= —
(r’-+r”)’ cosy?
D) Bestimmungen der Elemente vermittelst der Werthe der letzten
„= (nt sin (w’ er) = (ee ar
Man nimmt für den logar. das Mittel. Die Übereinstimmung zeigt,
dafs die Versuche zu Ende geführt sind.
Zur Bestimmung von e und w dienen am bequemsten, da die Zahlen
Verbesserung
von r und 7” schon früher berechnet sind, die Formeln:
ar ge SO ir
e sin (3 (W+u) — u) = 2rr” sint(w”—u)
an (r’+r)p ) 1
c En: — =— — —1)}- 4
REF U) ) PIAFH cos4 (u”— u)
oder durch indirekte Auflösung die Gleichungen
[E er
— —1=ecos (u— w)
5 —ı1=ecos (uW'— u)
Math. Kl. 1849. G
50 Enwcks
womit man auch verbinden kann
p
7—1=ecos (W— w)
Es wird dann
die Excentricität e = sin ®
die Länge des Perihes = 8 -+w
gzE=tg(s—zH)igr(u—u)
wg; E=tg(s 4 9)tgr (W— u)
wz; E=i(s —-FPp)tgr (W—u)
M=E-esnE
M=E-esnE'
M'"= E'— esin E"
die halbe gr. Axe a=
cos &*
die mittl. tägl. sid. Bew. a = =
a:
wo 1g k in Bogensecunden ist 3,5900066;
womit dann endlich übereinstimmend für die Epoche der mittleren Anomalie
M, zur Zeit T gefunden werden muls
M,=M—(t—T)u
= M—(!— T)u
— Mi ("— 1) m
welches die letzte Prüfung ist.
Um die Anwendbarkeit dieser Formeln zu zeigen, habe ich das erste
Beispiel der Theor. mot. berechnet und setze hier die einzelnen Resultate her:
Die ursprünglichen Data, von denen Gaufs ausgeht, sind
t a ß I
Oct. 5,458644 354° 44' 31760 — 4°59' 3106 12°28’ 277576
» 47.421885 352 34 22,12 — 6,21 55,07 24:19) 49,05
» 27,393077 351 34 30,01 — 7 17 50,95 34 16 9,65
Hieraus findet sich
lg 9 — 9,2343285 lg N = 9,6657486
lg 9 — 9,5767078
lg 0"— 9,3134303 1g N’= 9,7441299
lg A
9,9996826
9,9930979
9,9969678
über die Bestimmung der elliplischen Elemente bei Planetenbahnen. 51
K = 1998’ 49”40
lg tg J = 9,8718247
ß° = — 6° 34’ 31,373
lg a = 7,6953112
db = + 77,978464
c = + 73,450702
lg d = 1,5442531
6’ — 32° 1% 24”93
lg M} = 9,6306753
lg A717 = 0,3306706
lg M; = 9,7339797
lg M} = 0,6169501
Man kann noch hinzufügen
lg R’ sin &’ = 9,7262084
R' cosö’— + 0,84134865
womit die Vorbereitungs-Rechnungen geschlossen sind.
In der ersten Hypothese ist
lg P = 0,0791017 lg Q = 8,5477588
(=? 8.958179
i#P
6° = ++ 76,630694
k© — + 1,347770
18 2 = 0,1311316
g= + 13° 40 5,61
lg m = 0,5997 604
lg
woraus durch wenige Versuche die einzige hier anwendbare Wurzel gefun-
den wird:
z' = 14° 35 5,72
und damit lg r' = 0,3251273
lg 2’ = 0,0508550
lg n = 9,6584312
lg n’ = 9,7375329
52 EnckE
lg = 0,0668615
lg — 0,0997 421
Damit erhält man
A lg tg v lgr
2°56' 701 8,6769396r 0,3300109
6 57 13,23 8,8013984n 0,3251273
10 22 34,94 8,8836090r 0,3212757
Die erste Prüfung stimmt vollkommen. Man hat dann aus den äufsersten
beiden Beobachtungen
2 = 171°5 48,53
i= 13 2 36,10
Die zweite Prüfung giebt 1g tg v’ = 8,8013977n oder einen Unterschied von
7 Einheiten der 7ten Decimale, entsprechend einer Differenz von 0,02 in v',
welche innerhalb der Grenze der Ungenauigkeit der Logarithmentafeln lie-
gen wird. Man hat ferner
u =4192° 8 34510
u"=196 15 17,64
u"—=199 45 3,97
Bei der dritten Prüfung ist log P = 0,0790982, und lgn” = 9,7375313,
lg n = 9,6594331. Die Unterschiede, welche 35, 16 und 19 Einheiten be-
tragen, deuten auf einen Rechnungsfehler, der aber nicht grofs sein wird,
da die Unterschiede durch eine Anderung von 0,055 in w’ weggeschafft werden.
Geht man nun zur zweiten Verbesserung über und bringt die Cor-
rection wegen Aberration an die Zeiten an, so wird
t
Oct. 5,451998 199 = 9,2343152
» 17,415011 189 = 9,5766974
» 27,385898 I1g 9"— 9,3134223
Es wird ferner blofs aus der ersten Formel, nur mit Berücksichtigung der
Glieder ?ter Ordnung,
lg y = 0,0002284 1g,y” = 0,0003190
und damit in der zweiten Hypothese
lg P'= 0,0790165 18 Q'= 8,5475980
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 53
1—P' =
lg = 8,9577075n
6° = + 76,627288
% —= + 1,351176
1g 1° = 0,1309514
q = 13° 38 5275,03
lg m = 0,5989427
die Wurzel der Gleichung wird
z = 14° 33’ 207,067
ferner lg r' = 0,3259832
lg g = 0,0824056
lg n = 9,6584726
lgn’ = 9,7374891
lg 2 = 0,0682466
1g 9" = 0,1014022
damit erhält man > lg tg v lg r
2°55 16,00 8,6775782n 0,3307588
6 55 29,47 8,3020959r 0,3259831
10 20 3,19 8,8843295r 0,3222195
Die erste Prüfung stimmt bis auf eine Einheit der 7ten Decimale. Die
äufsersten Beobachtungen geben
2 = 1710748748
i= 13 6 43,09
Die zweite Prüfung giebt 1g tg v’ = 8,8020955r oder einen Unterschied von
4 Einh. der 7ten Dec., entsprechend einer Differenz von 07012 in v’. Fer-
a u = 192° 5' 50776
u = 196 11 44,29
u"—= 199 40 44,88
Bei der dritten Prüfung wird lg P'’= 0,07%145, 1g n = 9,6584737, lg n’
—= 9,7374882. Die Differenzen von 20, 11 und 9 Einheiten werden ver-
schwinden, wenn u’ um 0/03 gröfser wird").
*) Wenn AP', An, An” die Differenzen der Ig 2’ Ign Ign” so genommen sind, dals der jetzt
berechnete Werth von dem früher gefundenen abgezogen wird und 3 g’2” die logarithmischen
54 Encke
Eine weitere dritte Verbesserung zeigt sich ganz unnöthig, da lg y
— 2270, lg y’= 3172, also P’nur um 2 Einh. der 7ten Dec. geändert wird
und Ig @’= 8,5476111 nur um 131 Einh. verschieden. Bestimmt man folg-
lich jetzt aus den äufsersten beiden Beobachtungen die Elemente, so erhält
man mit Rücksicht auf die Glieder 4ter Ordnung
le y— 410817
lg » = 0,3954768
w—=241 10 13,39
lg e = 9,3896955
$ = 14°11' 58719
Man erhält hieraus Ig ’ bis auf eine Einheit übereinstimmend mit dem obi-
gen und
lg a = 0,4224282
u = 824" 9298
”—=52% 184,87
v E M DM, d. mittl. Beob.
310°55’ 37737 320°5% 19558 329°44’ 28569 332028’ 56,15
315 1 30,90 324 16 33,78 332 28 56,10 56,10
318 30 31,49 327 8 28,22 334 46 0,40 56,14
Hiernach werden die Elemente
Mittl. Länge 1805 . . 41°52' 17792 bei Gaufs 18740
Berihel', 0... 92.181 1,87 » 6,66
EI EEE 171 7 48,48 » 49,15
Meigung s. ziejsafteg: 13 6 43,09 » 49,12
I 14 11 98,19 » 99,94
el. are 0,4224282 » 4392
a N 82478298 » 7983
Differenzen für sin (u’— uw) sin (w— u) sin (u’— u) für 1” sind, so wie Au, Aw, Au” die
Correctionen, um die AP, An, An” wegzuschaffen, so ist
(&’+ 8) Au’ — 2"Au — ZAu”—= AP
rau (2 ©) Au — E’Au’= An”
— ZAu’ + @’Au + (8 — 2’) Au”’= An.
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 55
welche mit den von Gaufs abgeleiteten völlig übereinstimmen bis auf Grö-
fsen, die nicht verbürgt werden können.
Gaufs hat auch die erste Hypothese ganz bis zur Endbestimmung der
Elemente durchgeführt. Geschieht dieses hier ebenfalls, so wird mit p e w
aus den äufsersten beiden Beobachtungen Ig 7’ bis auf 3 Einheiten der sie-
benten Decimale dargestellt, und für M,, gültig für die Zeit der mittleren
Beobachtung, erhält man
332° 27’ 19,73
20,62
19,73
oder eine Übereinstimmung bis auf 0'89, welche, wenn es blofs auf Dar-
stellung der Beobachtungen ankommt, gewils ausreicht. Die Elemente selbst
weichen indessen stärker von den eben bestimmten ab. Sie sind nämlich:
Mittl. Länge 1805 . . 42°12’ 35526 bei Gaufs 37783
Peribel' , „0... % . . 0902 41 31,05 » 9,81
Ge ei: & 171 9 48,53 » 48,86
Neigung . „Ver. re 2275) » 37,90
Br in elle en 4A DA 14,28 » 27,49
DENKBAR! ihn 0,4228510 » 8944
a a 823,62604 »° 5095
Endlich habe ich noch den Versuch gemacht, die ganze Rechnung mit 5 De-
cimalen durchzuführen, wie man es gewöhnlich bei Cometen thut, selbst £°
ist nur mit 5 Decimalen berechnet, wenngleich gerade bei dieser Anfangs-
bestimmung eine gröfsere Zahl von Deeimalen immer rathsam ist. Die Prü-
fungen stimmen auch hier innerhalb der Grenzen der erreichbaren Genauig-
keit, der lg tg v’ und 1g 7’ bis auf eine Einheit der fünften Decimale, und bei
lgn und Ig n’ werden die Differenzen weggeschafft durch Änderung von w
um 25. Endlich wird das M, der mittleren Beobachtung 332298/147 20%
16” also auch nahe genug übereinstimmend. Die Elemente werden
Mittl. Länge 1805 . . 42°19' 13”
Penikseh kun; elle 92 48 49
Re arte
Neigung susleiir „as: 41426
56 Enceke
BE. IT!
later... 1042326
EN HENBZDTACT
Man sieht, dafs in vielen Fällen 5 Decimalen ausreichen werden. Die Durch-
führung der Rechnungen bis zur Endbestimmung der Elemente bei der ersten
Hypothese füllt zwei Octavseiten. Jede neue Hypothese erfordert dann noch
etwas weniger als 1 Octavseiten.
Es möge jetzt noch der analytische Beweis für die Gaufsische Form
hier folgen, da Gaufs den eleganteren und kürzeren geometrischen Weg ein-
geschlagen hat und dieser, wie es scheint, in allen Lehrbüchern unverändert
beibehalten ist. Die analytische Ableitung hat in sofern einiges Interesse,
als sie die Unterscheidung einzelner Fälle überflüssig macht.
Den heliocentrischen Coordinaten x, y, z, die in den ursprünglichen
drei Gleichungen für die Bedingung der Ebene vorkommen, nämlich in
[7] x — [7"] x + [77] "= 0
[77’)y—[r’)y+br])y=0
[77] z — [rr”] 2 + [77] 2 —=0
kann man mehrere verschiedene Formen geben. Die oben angenommene
x—=gcosPßcosa + Rocosl
y=2gcosß sin«-+ ARsin/
z=psin ß
verwandelt sich, wenn man einführt
cos(«e— I) cos® = cosd
sin («— I) cos® = sin dcosy
sin — sin d sin y
in
x = 2 (cos dcosl— sin dcosysinl)+R cos!
y=e (cos ö sinZ + sin dcosycosl) + A sin!
2 =esin dsiny.
Es sind hier ö und y bekannte Gröfsen, die sich im Voraus berechnen lassen.
Wenn man später den Winkel am Planeten in dem Dreiecke © & Planet ge-
funden hat, er möge mit z bezeichnet werden, so wird
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 57
sind _sin(ö—z) _sinz
a I aa "EL, R
und daraus auch gcosdö+R=rcos(d— z)
Man kann deshalb auch schreiben
x=r (cos (0 — 2) cos! — sin (0 — z) sin Z cos y)
y=r (cos (° — z) sin + sin (d°— 2)cos/cosy)
z =rsin (d — 2) siny.
Endlich kann man auch, da die Coordinaten in der Ebene der Bahn und be-
zogen auf die Knotenlinie 7 cosu und rsinu, oder bei der Fundamental-
Ebene der Ekliptik bezogen auf dieselbe Knotenlinie sind r cosu, rsinucosi,
r sin usini, schreiben
z=r(cosucos®ß — sinucosisin 2)
y=r(cosusin ® + sinucosicos )
z=rsinusinä
woraus sich ergiebt
cos u = cos (d— 2) cos (l— 8) — sin (d — 2) sin (I — 8) cos y
sin u cosi = cos (d — 2) sin (l— 8) + sin (d — 2) cos(l— R) cos y
sin u sin? = sin (0 — 2) sin y.
Die analogen Gröfsen für die zweite und dritte Beobachtung mögen
durch die Accente ’ und ” unterschieden werden. Die erste und zweite Form
enthält in jedem Systeme nur eine unbekannte, nämlich ep. Sie werden bei
der ersten Elimination beibehalten werden müssen. Die dritte Form, wel-
che in jedem Systeme zwei zusammengehörige Unbekannte r und z enthält,
wird darauf in Anwendung kommen, wenn nämlich in einem Systeme diese
beiden bestimmt sind, so wird man die analogen der andern Systeme durch
Verbindung derselben erhalten, und die letzte Form wird die Ebene der
Bahn und die Lage des Radius-Vectors in derselben geben.
Um zuerst og und 9” zu eliminiren, multiplicire man die drei Gleichungen
[7’r"] (gcosa cos ß-+Rocos ) — [rr") (0 cos«’ cos @' + BR cos )
+ [vr] (g” cosa’ cosß’+ R’cos!”) = 0
[77] (e sin«cos@ + R sin I) — [rr"] (g' sin « cos@’ + R’ sin ?')
+ [7] (g" sin «’cos@” ++ R” sin N)=0
[r’r"] g sin ß — [rr”] eg’ sin @’
+ [77] 0” sin 8” =(0
Math. Kl. 1849. H
58 EnckE
respective mit
C = sin ß cos ß” sin «”— sin B”cosß sin «
C = sin ß’cosß cosa — sin ß cosß"cose”
C’=cosß cos P” sin (a — «")
Es wird dann der Coöfficient von [r'r"] A
— sin ß cos Q" sin («” — I) — sin ©’ cosß sin («a — |)
oder wenn man für @” — 2 schreibt " — "+ !"—1
— — sin 8 sin d” {sin y’ cos y — cos y” sin y cos (’— 2}
+ sin d cos ö” siny sin (2”"— ])
Setzt man also
sin y sin (!”— 1) =sin € sin (A"D')
sin y’ cosy — cos y’ siny cos (2"— I) = sin € cos (A”D')
cosy’ cosy + sin y’siny cos(!"— 1) = cose
was gestattet ist, weil die Summe der Quadrate auf beiden Seiten = ı wird,
so hat man für den Coäfficienten von [r'r"] % den Ausdruck
sin ö sin €’ sin (A’D’— Ö')
Ebenso wird der Coöffhicient von [rr"] R”
— sin ß cos B” sin («” — 1") — sin B” cosß sin (@« — !”)
oder wenn man statt @« — 2” schreibt «— 2 — (l!"—])
= sin dsin d” $sin y cos y’— sin y’ cos y cos (27 — D)}
+ cos ö sin ©” sin y” sin (2” —])
Setzt man also
sin y’ sin (2” — I) = sin € sin (AD)
— sin ycosy’ + cosy sin y’ cos (!" — I) = sin € cos (AD')
cosy cos y’ + sin y sin y’cos (!" — I) = cose
wobei wegen des Ausdrucks von cos € der Winkel ' derselbe ist wie vorher,
so wird der Coefficient von [rr'] AR”
sin ö” sin €’ sin (A.D’ — 6)
Nach den angeführten Gleichungen bilden die Gröfsen 2” —1, 4’D',
AD', €, y, 180 —y” ein sphärisches Dreieck, dessen Seiten !”— I, A”D',
über die Bestimmung der ellipiischen Elemente bei Planetenbahnen. 59
AD!’ und gegenüberstehende Winkel €, y, 180 — y’ sind. Man kann des-
halb auch durch die sogenannten Gaufsischen Gleichungen die beiden Sy-
steme ersetzen, wie Gauls es vorschreibt. Es möge dieses Dreieck das Drei-
eck (II) heifsen.
Der Coöffhicient von [rr”] wird
— (0 cosö’+R').(C cos!’+C’sin!’)
+ g’sind’ $(Csin 2’ — C’ cos!') cosy— C” sin y}
Gaufs setzt
— C"=cosß cos” sin («”— a) —= T’ cost’
C sin !’ — C’cos!’= sin®ß cosß”cos (@’”— 1’) — sin®”’cosß cos (a—!') = T’ sin?
C’cosl!’+ C’ sin !’= sin cos®” sin («’—!') — sin ®’cosß sin (a—!') = S’
wodurch die Gleichung wird, wenn g und 9” eliminirt werden:
0=[r'r"] R sin d sin €’ sin (A’D’— 0”)
— [rr"] fg cosd’+ R’) S’— g' sind. T’ sin !+Yy)}
+ [rr'] R’ sin ö” sine sin (AD’— 8).
Eliminirt man zwei andere p, etwa o’ und p”, so wird man auf eine ganz ähn-
liche Form kommen. Setzt man
sin y’ sin (!”— 7’) = sine sin (A”’D)
sin y’ cosy — cosy’ siny’cos(2"—!') = sinecos (4’D)
cosy”cosy’ + sin y” sin y' cos ({"— 1") = cose
siny” sin 2” — 7) = sine sin (A’D)
— sin y cosy’+cosy'siny’cos (!’— !') = sinecos (AD)
cosy’ cosy + siny”sin y cos (2"— !) = coss
Formeln, die zu einem sphärischen Dreiecke (I) gehören,
dessen Seiten "—l! A’D AD
und gegenüberstehende Winkel € Y 4180 —y”
und welche sich durch die Gaufsischen Gleichungen ersetzten lassen; nimmt
man ferner
+ cos® cos” sin(@«’”— «')= T cost
sin ®' cos B” cos(«” — I) — sin B’cos@'cos(@« — I) = T sin z
sin ' cos 8” sin (@«’ — I) — sin B’ cos’ sin(@—) = S
so wird die Gleichung, in der blofs noch g vorkommt,
H2
60 Encke
0=[rr"] f(e cosd+R)S— ge sind. Tsin (E+y)}
— [rr”] R' sin ö’ sin e sin (A’D — 2”)
+ [rr'] R” sin 8” sin e sin (A’D — 0')
und setzt man endlich
siny sin (2’— ]) = sin €” sin (A’D”)
sin ycosy — cosy siny cos (!’ — I!) = sin €’ cos (A’D”)
cosy cosy + siny siny cos (!’— I) = cose”
siny’ sin (’ — I) = sin €” sin (A.D”)
— sin y cos y + sin ycosy cos (2’— I) = sin €” cos(AD”)
cosy cos y + sin y sin y’cos (l!’— I) = cose”
Formeln, die zu einem Dreiecke (III) gehören,
dessen Seiten !—Z! AD AD"
U
und gegenüberstehende Winkel € y 14180—y, und nimmt
cosß cos sin (“— «) = T” cost”
sin @ cos P’ cos (« — I”) — sin R’ cos ß cos (a — 1”) = T” sin !”
sin 8 cos E sin (a’ — !”) — sin ®' cosß sin (. — !”) = S”
so wird die Gleichung, in der blofs g” vorkommt,
0=[rr"] R sin d sin €’ sin (A’D’ — ')
— [rr"] R' sin ö’sin €’ sin (AD" — 8)
+ [rr/] $(e" cos 8” + R’) S”’ — g" sin 8”. T” sin ("+ yY”)}.
Der vollständige Coäfficient von p’ in der ersten Gleichung, in welcher
g’ allein vorkommt, würde verschwinden, wenn die Linie, deren Richtung
durch 0’ y’ angegeben ist, in einer Ebene läge mit den beiden Linien, deren
Richtung durch d, y und ö” y” bezeichnet ist. Dieses wird indessen in der
Regel nicht der Fall sein, vielmehr wird der allerdings immer nur kleine
Unterschied der Richtung der mittleren Distanz von einer mit der Ebene
durch d, y und 8”, y’ zusammenfallenden geraden Linie ein wesentliches
Mittel zur Bahnbestimmung darbieten. Liege deshalb eine Linie, deren
Richtung durch &° — r und y’ gegeben ist, in dieser Ebene, so wird man die
auf sie Bezug habende Bedingungsgleichung in den drei Formen erhalten,
wenn man den vollständigen Coöffhicienten des g, welches in der Gleichung
noch geblieben ist, = 0 und überall statt 8’ substituirt ©’ —r. In 5’ kommt d°
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 61
nicht vor, es bleibt deshalb unverändert, die Werthe von S und $” aber,
welche aus dieser Vertauschung von ö’ mit &° — hervorgehen, mögen mit
S, und ‚S/ bezeichnet werden. Man hat dann die drei Formen:
0=[rr"] R sin ösin € sin (A"D’ — 8”) — [rr"] R’ S'
+ [rr'] AR” sin 8” sin €’ sin (AD’ — d)
0=[rr"] RS, — [rr"] R sin (8° — o) sin e sin (A’D — 8”)
+ [vr] R” sin 6” sinesin(AD— 8’ +)
0=[rr"] R sin d sin €” sin (A’D"— ö’+v)
— [rr"] R’ sin (& — ©) sine” sin (AD' — 8) + [rr'] R”S/
Man kann sie auch schreiben:
[r'r 2% Rsinösine’sin (4”D’—8”) a R'S'
e— [rr’] " R” sin Ö”sine’sin (AD’— 8) PT " R”sin d” sine’sin (AD) * [r]
_ [rr”] RS; [rr”] &’sin (0° — 5) sin esin (4”D—8”)
— fr] "R”sind”sinesin(AD—d +5) [rr] AR”sinö”sinesin AD-F +0) [r]
und wenn man ähnlich die erste und dritte Gleichung combinirt
m _ [r”] R'S’ [rr] AR” sinö”sine’sin (4D’— 8)
ei] [rr”] Rsindsine sin(4’D- 5”) nr [r’r”] Rsindsine’sin(4”D’— 5”)
Dh 5 Al „ R'sin(8°—o) sin e”sin (4D”’—8) [7] FL SIEH
0= a [7] Rsin ösine” sin (4’D’— ö’+) [rr Zi Rsinösine”sin (AD’—-$’+ >)
woraus sich aus der Vergleichung der Coöfficienten ergiebt, dafs
RS— R’ sin (’— o) sin (4”D— 8”) . R” sin ö”sine’sin (A.D’— 8)
= R”sinö” sin (dA’D—8’+ r)
_ R’sin (’— ) sin (AD’— 8). R sind sin e’sin (4”D’— 8”)
Far! Rsinösin (d’D’—0’+->)
sin (4’”D — 8”) sin (AD’— 8) sin (A’D"— 8’ +7)
= sin (4D"— 8) sin (A’D’— 8") sin (AD— +7)
oder
Vermittelst dieses Werthes läfst sich folglich $S’ eliminiren. Aufser-
dem aber werden, wenn man den vollständigen Coöfficienten von eg’ wie oben
mit a’ bezeichnet, die beiden Gleichungen stattfinden
ag = cos Ss — eg’ sin dT sin (! +)
0=2'cos (6' — v) S’ — g' sin (8° — o) T’ sin (’+Y)
so dafs man hat
— ad sin (’ — c)= 2 S’ sin
62 Encke
und daher der Coefficient von [r7”]
u 6] pı 2 Vpeme
=—-S [n sin (d’— o)
oder wenn man die obenerwähnte Form
sinz‘ _ sin(ö’— z')
R' e’
rs: _ sine sin (0 — z’)
sin z’sin (0° — r)
benutzt:
_RS' sin (z’ SEM sin (0° — c)
sin z’ sin ’
Die Gleichung heifst also
0=[rr'] ER sin d sin € sin (A’D’— 8”) — [rr"] R’S’ — — en
+ [rr'] R” sin 8” sin €’ sin (AD’ — ö)
Be
T’ sin (+) 2
wo co bestimmt wird durch ... tg (0 — o)= und wenn man
den einen der Werthe von $’ substituirt,
Conan R sin ö sin (4”D’— 8”) jr R’sinö’sin(4’D—8”) sin(2’—c)
BT as” sind R” sin Ö” sin (4D’—8) ewilen ] 28” (AD-8+o) sinz +[].
Schreibt man sie in den Zeichen von Gaufs
— a [#7] — B [vr] DEZ + [er]
sın z
oder
er Tr a
und setzt man
[r’r”] ua
so wird
Q P-+a sin (z’— r)
1 . = ee ee
( A 2r’) P+i sin 2’
Q sin z’ =b5
ar
sin (2 — re) — sin z’
== (25* —— — c08$ r) sin (2— 7) —sine cos (!—r)
wenn also wegen
sinz’ _ sin d
R' 7
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 63
der Werth von r’ vermittelst 2’ eliminirt wird und man nimmt
Fee since mE 1
5,0, P+1 — 2R’ sind’ sine
db —— —cosr
P-+ra
so hat man die Endgleichung
cQsinusinz' =sin(!—w-— ev)
in welcher Form Gaufs sie aufstellt.
Sobald aus dieser Gleichung z’ gefunden ist und damit
Sjsin 8
7 sin z’
so hat man wegen
Q Br [r’r”] + [rr’] —_P+1
7 [rr”] Fr [rr” ]
ziel R’'sind’(P-+a)
[r’r”] ins b sin (’— ce)
und wegen des Werthes von P
[777%, Kal ]
[rr] rip, rer" ]
oder das Verhältnifs der Dreiecksflächen. Um hieraus die Werthe von r,
r" und die Zwischenwinkel zu finden, benutze man die zweite Form der
Coordinaten. Nach ihr werden die drei Grundgleichungen
0 = [r'r"]r $cos (d —z) cos2— sin (d— z) sin Z cos y}
— [rr"]r' $cos (8° — z') cos ! — sin (d’ — 2’) sin I’ cos y’}
+ [rr/]r” $cos (8”— 2’) cos !’ — sin (d”— z”) sin 2” cos y”}
0 =[rr"]r fcos (d— z) sin 2+ sin (d — z) cos l cos y}
— [rr"]r' cos (8° — z') sin ! + sin (8° — z') cos ! cos y’}
+ [rr']r” $cos (8° — 2”) sin 2" + sin (8” — 2”) cos !’ cos y”}
0 =[rr"]r sin(d&—z) siny —[rr"]r'sin (0° —z') siny’ + [r']r” sin (&”— 2”) siny”
Man erhält aus ihnen die Elimination von [rr’]r” und von z” zugleich,
wenn man die erste mit sin 2” sin y’, die zweite mit — cos !” sin y”, die dritte
mit + cos y” multiplieirt, woraus hervorgeht
0 =[r'r"]r $eos(8— 2) sin y” sin (!”— 2) — sin (d— 2) $siny” cosy cos (2’—D)— sin ycosy”??
— [rr”]r’ eos (9°— 2’) sin y” sin (2”— 7) — sin (d°— 2’) $sin y” cos y’ cos (!’—?) — sin y’ cosy”}}
64 Encke
Benutzt man hier die Relationen des Dreiecks (II) und des Dreiecks
(I), so wird
0 = [r'r"]r sine sin (AD’—8+ 2) — [rr"]r' sine sin (A’D—'+37')
welches in Verbindung mit zsnz=Rsind
r und z ergeben mufs. Setzt man
& =4D—d+z odrz=d, — AD +6
Il „eige
= 77] in
r sin &, cos (4D'— 8) a sin(4D’—0)=R sind
so wird
rsind,—=
‚sin(4D—d +7)
oder endlich wird r und £, gefunden aus
rsng, = et „SE sin (4D—-! +2)
(777)
rsing, ß R sin ö
rcosQ, = man °08 (AD 9) aD
Ganz auf die nämliche Weise wird [r’r"]r und z eliminirt, wenn man die drei
Gleichungen multiplizirt mit sinZ siny, — cos/siny, +4cosy und wenn
man die Relationen der Dreiecke (II) und (III) benutzt, ferner setzt
&’=(4’D’—-8"+2z') oder =£’— 4’"D’ +0”
so hat man
r' sine — = ri BES (4D'— 8 +7)
m ) r”’ sin " EN, "sind"
ZU eOB., — sin (4’D’— 8”) cos (4’D’— De er Dur
Die hier bestimmten Gröfsen 2, und £/ führen fast unmittelbar zur Kennt-
nifs von u’— u, oder der Gröfse, welcher man zur Verbesserung von den
genäherten Werthen von P und Q bedarf, obne irgend welche Elemente zu
bestimmen. Denn die sechs Gleichungen, die schon oben aus der dritten
Form der Coordinaten abgeleitet wurden:
cos (d — z) cos (I — SR) — sin (d — z) sin (— R) cosy = cosu
cos (°— 2) sin (I — 8) + sin (d— 2) cos ((— R) cosy = sin u cosi
sin (Ö — z) sin y = sin u sinä
cos (d’— 2”) cos (!"—8) — sin ($”— 2) sin (1’— SR) cosy’— cos u”
cos (d”— 2”) sin (”—8) + sin (d’— 2") cos(!"— KR) cosy’—= sin u” cosi
sin (d”— 2”) siny” = sin u” sin
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 65
repräsentiren 4 verschiedene Gleichungen, aus denen sich die vier Gröfsen
u, u", &,i ableiten lassen müssen, folglich auch v”— u. In der That ist
cos (u’— u) = cos u cos u" + sin u sin u” (cos i’ + sin i?)
= cos (d—z) cos (&”— 2”) cos (!"— 1) — cos (d — 2) sin (d”— 2") sin (!’—I)cosy”
— sin (d°— 2) cos (0 — 2”) sin (I’—) cos y
+ sin (d— z) sin (6” — z”) {sin y sin y’+cosy cosy” cos (2” — DJ}
wie sich aus der paarweisen Multiplikation der 1 sten, 2ten und 3ten Glei-
chung in jedem Systeme und ihrer Summirung ergiebt. Aus den Formeln
des Dreiecks (II) findet man aber
cos(2!"— 1) = cos(AD') cos (#”D') + sin (A.D') sin (A”’D') cos €’
sin (!”— 1) cosy’= — cos (AD') sin (4"D') + sin (4D') cos (A"D') cose'
sin (!”— I) cosy = sin (AD!) cos (A’D') — cos(AD') sin (A’D') cose'
sinysiny’+cosycosy’cos(!"—l)—=sin AD’ sin A'D’+cos AD’'cos A’"D' cose
und wenn man diese Werthe substituirt, so wird sogleich
cos (u — u) = cos(AD’— 8 +2) cos(A"D’— 8" +2")
+ sin (AD’—8-+2) sin (A’D’— 8” +2) cose'
= cos £, cos? + sind, sin) cose'
Aus der Betrachtung der andern beiden Dreiecke würde man auf die-
selbe Weise gefunden haben durch Combinirung der analogen Formeln
cos (U — u) = cos(AD"— 8 +3) cos (AD"’— 8 +2)
+ sin (AD"— 8+ 2) sin(AD"’— 8’ +2’) cos ®
cos(W’— u) =cos(4D— 8’ +z)cos(A’D— 8" +2)
+ sin(AD— 8 +2) sin(A’D— 8’ +2") cose
Hätte man also bezeichnet
# — AD" — d-E Z oder Zu — &, _— AD" + £\
&—=4AD—-!+2z ode Z2=&,—- AD’ +
'=AD-!+z odrz=d!'—- AD+
= A"D-8 +7 oder !=2"— A’D+°"
so würde man erhalten haben
cos(wW — u) = cos2, cos, + sin Z,sind, cos €”
cos (u"— u) = cos@'cosd” + sind’ sin" cose
Math. Kl. 1849. I
66 EnckE
und damit aus z, z', z’ oder aus Ö,, z', £/ die Winkelunterschiede, deren man
zur genauen Bestimmung der wahren Werthe von P und Q bedarf, mit Be-
nutzung des Werthes von p vermittelst r 7’ r" und der Winkel, die sie ein-
schliefsen. Die Formeln werden wegen der Kleinheit von W— u, u’ —u,
u" — uw genauer geschrieben:
sin + (U — u)? = sin # (&,+8,)” sin4e’ +sin+ (8, — ,)’ cos+ €"?
sin + (W'— u)? = sin + (&/+2£,)’ sin+e” +sin+(2/—£,)’cos+e*
sin + (W"— u)’ =sin+(@— 2)’ sinze? +sin+(&’— ')’ cos+e”
Gaufs benutzt indessen nur die mittelste dieser Gleichungen und verbindet
sie mit der Grundgleichung für die Bedingung der Ebene:
[7r"]r sin u — [rr”}r' sin W + [rr]r" sin u’ = 0
in der doppelten Form
[r’r"]r sin (u’— u) — [rr]r' sin (u'—u‘) = 0
[7r']r" sin (u’—u) — [rr"]r' sin (W— u)=0
die sich aus einer blofsen Änderung der Lage der Abseissenaxe in der Ebene
ergiebt, um aus u” — u und den bekannten Verhältnissen der Dreiecksflächen
und den ebenfalls bekannten r, r', r" die Winkel W— u und W"— u zu er-
halten. Die Prüfung, ob!" — U +uW—u= u — u, findet hier ebenfalls statt.
Sind dann mit Hülfe der Tafeln die Werthe von P und Q@ vollständig
berichtigt, so lassen sich die Gröfsen, welche die Gestalt der Ellipse in ihrer
Ebene bestimmen, nämlich e, a, so wie die dem u” — u entsprechenden p und
pP’ aus rr' und w— u auf eine der beiden in der T’A. motus angegebenen Me-
thode bestimmen, und es bleiben noch die Elemente übrig, welche die Lage
der Ellipse im Raume festlegen, nämlich # 8 i. Hiezu führen die obigen
sechs Gleichungen, die jetzt so geschrieben werden können:
cos (AD' —2,) cos (l— 8) — sin (AD’—3,) sin (— 8) cosy = cosu
cos (AD'—8,) sin (I — 2) + sin (AD’— 2) cos (l— 8) cosy = sin u cosi
sin (AD’— £,) sin y —= sin u sini
cos( A’D’—2!) cos(!’— R) — sin (A’D’—£/) sin ("— 8) cos y’'— cos u”
cos(A’D’—£!) sin ((’— 8) + sin (d"D’—£/) cos(l"— 8) cos y’= sin u” cosi
sin (A’D’—£/) sin y’ = sin u” sini
aus denen sich, da wu — u schon ermittelt ist, eine Prüfung für die Werthe
der drei noch unbekannten w+u, 2 und iergeben mufs, da sie vier unab-
über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 67
hängige Gleichungen bilden, wenn man den berechneten Werth von — u
als bekannt einführt. Indessen ist hier die geometrische Betrachtung so viel
einfacher als die rein analytische, dafs es nicht rathsam sein wird, diese zu
verfolgen. Die Gleichung
cos (u — u) = cos d, cos 2) + sin £, sin 2’ cos €’
bezieht sich auf ein sphärisches Dreieck, dessen Seiten £, &/ und u’ — u sind,
so wie der dem u” — uw gegenüberstehende Winkel €. Man nenne die den
andern Seiten gegenüberstehenden Winkel und zwar den dem £/ gegenüber-
stehenden U, und den dem d, gegenüberstehenden 180° — U”, so werden die
Gleichungen stattfinden
sin (w— u) sin U = sin £! sin €’
sin (u’— u) cos U = sin d,cosl) — cos d, sin” cose
sin (u — u) sin U"= sin £, sin €’
sin (u’ — u) cos U’= — sin &’ cosQ,-F cos£ sin £, cos €’
welche in Verbindung mit der obigen Gleichung für cos W"— u durch die
Gaufsischen Gleichungen die drei Gröfsen u" — u, U und U” auf einmal zu-
sammen bestimmen lassen. Da ® der Winkel der beiden Beobachtungs-
Ebenen, nämlich der durch Sonne, Erde und Planet gelegten, in der ersten
und dritten Beohachtung unter sich ist, so wie AD’ und 4”D’ die Winkel,
welche die Durchschnittslinie beider Ebenen mit den Radienvectoren der
Erde machen, & — z und d°— z’ aber die Winkel, welche die Radienvecto-
ren des Planeten mit denen der Erde in derselben Beobachtung machen und
die Gleichungen stattfinden
6-z=AD-2L, “2 —=4D_-
so sieht man, dafs £, und 2) die Winkel sind, welche die Durchschnittslinie
beider Ebenen mit den Radien-Vectoren des Planeten macht, und folglich
U und U” die Winkel, welche die Beobachtungsebene der ersten und drit-
ten Beobachtung mit der Planetenbahn macht. Man hat deshalb zwei Drei-
ecke, das eine mit
den Seiten u HD =L = Rund
den gegenüberstehenden Winkeln 180 — y i U
das andere mit den Seiten (734 ARDI>L 1 Rund
den gegenüberstehenden Winkeln 180 — y” i u"
12
68 Excke, über die Bestimmung der ellipt. Elemente bei Planetenbahnen.
aus deren jedem einzelnen sich u (oder w”) {und & vermöge der andern be-
kannten Stücke ergeben müssen. Man kann auch hier wieder die Gaufsi-
schen Gleichungen benutzen. Der analytische Beweis, dafs U und U” in
diesen verschiedenen Dreiecken dieselben Winkel sind, oder überhaupt die
Einführung derselben, würde nicht ohne Weitläuftigkeiten geführt werden
können, wenngleich die Elimination und Bestimmung der Gröfsen u u Di
aus den 6 Gleichungen keine Schwierigkeit hat, nachdem uw” — u gefunden
ist. Man hat nämlich aus der Verbindung der dritten Gleichungen in jedem
Systeme
sinu” __ sin (4”’D’— £/) sin y”
sinu sin(4D’'—{)siny
oder da
2 sin u” in u”
TELz DIE —1 = Wu int +}
sowohl u als w’, mit deren Hülfe dann iund & ohne Mühe gefunden wer-
den aus
sin (4D' — 3,) sin y
sin u
cos(AD’ — £,) cos (I— 2) — sin (AD’ — 3) sin (I — 2) cosy= cosu
sini=
und den analogen Gleichungen des andern Systemes oder aus andern Com-
binationen der sechs Gleichungen.
Der Zweck dieser Abhandlung kann nur sein, ein Problem, was ge-
rade jetzt an Interesse gewonnen hat und bei dem fast ausschliefslich ein
ganz bestimmter Gang der Auflösung und des Beweises derselben eingehal-
ten worden ist, von einer andern Seite zu beleuchten und mit dem einfach-
sten Falle der Parabel in nähere Verbindung zu bringen. Die Eleganz und
Consequenz der Gaufsischen Auflösung und Formeln wird diesen wahr-
scheinlich auch in Zukunft den Vorrang sichern.
Über
die Bestimmung der mittleren Werthe in der
Zahlentheorie.
Von Ph
H”- LEJEUNE DIRICHLET.
nmnnnnnmn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 9. August 1849.]
Ossteich die Funktionen, welche in der Theorie der Zahlen betrachtet
werden, fast nie durch analytische Ausdrücke darstellbar sind und scheinbar
ganz regellos fortschreiten, so tritt doch in den mittleren Werthen derselben
eine um so gröfsere Gesetzmäfsigkeit hervor, je weiter man die Reihe der-
selben verfolgt, d. h. es giebt bestimmte einfache Ausdrücke, welche den
Fortgang der mittleren Werthe mit unaufhörlich wachsender Genauigkeit
und gerade so darstellen, wie eine Curve sich dem Laufe einer andern immer
näher anschliefst, deren Asymptote sie ist. Man findet namentlich gegen das
Ende der öten Sektion der Disquisitiones arithmeticae mehrere höchst merk-
würdige Ausdrücke dieser Art, welche sich auf die Theorie der quadrati-
schen Formen beziehen. Da weder diese interessanten Resultate, welche
dort nur beiläufig und ohne Begründung mitgetheilt werden, bisher bewie-
g ähnlicher Fra-
o°
gen bekannt sind, so habe ich mich schon vor mehreren Jahren mit der Auf-
sen worden sind, noch überhaupt Methoden zur Behandlun
suchung dazu geeigneter Mittel beschäftigt. Ich habe jedoch von meiner
damaligen Arbeit aufser einigen neuen Resultaten nichts der Öffentlichkeit
übergeben, da sich mir die Aussicht darbot, durch fortgesetzte Bemühungen
die Behandlung solcher Probleme noch wesentlich zu vereinfachen und na-
mentlich von der Integralrechnung unabhängig zu machen. Andere Unter-
suchungen haben mich dann längere Zeit von diesem Gegenstande abgezogen.
Nachdem ich denselben später wieder aufgenommen, habe ich mich über-
zeugt, dafs man in vielen Fällen durch ganz elementare, auf eine höchst ein-
fache Reihenumformung gegründete Betrachtungen zum asymptotischen Aus-
70 L£sEUnE DiricHLET
druck des mittleren Werthes gelangt. Ich beschränke mich für jetzt auf eine
Reihe von Aufgaben, für welche das angeführte Mittel allein ausreicht. In
einer folgenden Abhandlung werde ich mich mit schwierigern Problemen
beschäftigen, deren Lösung die Verbindung der eben erwähnten Transfor-
mation mit andern Hülfsmitteln erfordert.
1:
Um die Transformation, auf welcher die Lösung der in dieser Ab-
handlung behandelten Aufgaben hauptsächlich beruht, in das rechte Licht
zu setzen, scheint es zweckmälsig, sogleich mit einer der einfachsten Fragen
zu beginnen, die Lösung derselben so weit zu führen, als es ohne jene Um-
formung geschehen kann und sie dann mit Hülfe derselben zu vervollständi-
gen. Es bezeichne /(n) die Anzahl der Divisoren der ganzen Zahl n, und
man stelle sich die Aufgabe, das sogenannte summatorische Glied dieser
Funktion, d. h. die Summe
SO)+f@)+-.. +/(m)=F(n)
zu bestimmen. Ist s eine ganze Zahl < n, so wird sich in so vielen Glie-
dern unserer Summe eine dem Divisor s entsprechende Einheit befinden,
als es unter den Zahlen 1, 2,...n Vielfache von s giebt. Nun ist aber die
. . p n . . er .
Anzahl dieser Vielfachen [?]: wenn wir uns, wie überall in der Folge, der
Ss
eckigen Klammern zur Bezeichnung der gröfsten ganzen Zahl bedienen, wel-
che in dem eingeklammerten Werthe enthalten ist. Es folgt daraus
Fn==,[?]
wo sich das Summenzeichen auf s erstreckt. Aus dieser Gleichung ergiebt
sich sogleich eine genäherte Bestimmung, d.h. ein asymptotischer Ausdruck
für F(n). Da nämlich = die ganze Zahl & um weniger als eine Einheit
Ss
übertrifft, so hat man bis auf einen Fehler, der die Grenze z nicht über-
steigen kann,
Sup
F(n) —. 1% == .
Nun ist aber
Ss" —-logn+C+-— + etc.
2n
Ss
wo C = 0,5772156...
über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 71
Da jedoch der letzte Ausdruck für F’(n) schon mit einem Fehler der
Ordnung n behaftet ist, so ist von der unendlichen Reihe nur das erste Glied
beizubehalten und man sieht, dafs die Gleichung
F(n)=nlogn
nur bis auf einen Fehler erster Ordnung genau ist, für welchen Fehler sich
übrigens leicht eine Grenze angeben lafst, die er nicht überschreiten kann.
Ob die Funktion, die von der Ordnung n log n ist, in ihrem asymptotischen
Ausdruck ein Glied der Ordnung 2 mit constantem Coöffieienten enthält oder
mit andern Worten, ob — F(n) — logn sich für wachsende Werthe von n
einer festen Grenze nähert, läfst sich auf diesem Wege nicht entscheiden.
92
Die schon erwähnte Umformung, mit welcher wir uns jetzt beschäfti-
gen wollen, beruht auf der einfachen Bemerkung, dafs, während die Glieder
der Reihe =) 1--- [2]
1 2 2ER
welche mit dem nten Gliede abbricht, anfangs sehr rasch abnehmen, von
einer gewissen Stelle ab jedes Glied dem folgenden entweder gleich ist, oder
dasselbe um eine Einheit übertrifft. Es wird dies offenbar der Fall sein,
sobald der Unterschied : = =: wer: = )
Bruche gleich geworden ist. Bestimmt man also die kleinste ganze Zahl u,
der Einheit oder einem ächten
welche der Bedingung u (u + 1)2n entspricht, so wird die erwähnte Eigen-
schaft spätestens vom unten Gliede incl. ab statt finden. Da es jedoch zu
unserem Zwecke ganz unwesentlich ist, ob in die beabsichtigte Umformung
ein Glied mehr oder weniger hineingezogen wird, so werden wir der grö-
fseren Einfachheit wegen für u die ganze Zahl wählen, welche entweder der
Wurzel Yn gleich, oder im Falle der Irrationalität derselben unmittelbar da-
rüber liegt. Man hat also a3 n und folglich u(u-+1)>n. Setzt man nun
n
[1 =,
wo, wie leicht zu sehen ist, v höchstens um 2 Einheiten von u verschieden
sein kann und bezeichnet mit 2 irgend eine der Zahlen v, v—1,....2, 1, so
läfst sich leicht der Zeiger s des vom Anfange entferntesten Gliedes =] be-
stimmen, welchem der Werth z zukommt und auf welches daher ein Glied
72 Leseune DirıcHhLET
mit dem Werthe ?— ı folgt. Der gesuchie Zeiger wird durch die doppelte
Bedingung
n n
>
Ri z si —.—
gegeben, woraus sogleich
s<-, st1>-, d.h. s=[*] folgt.
Betrachten wir jetzt die Summe
:o+E]P®+-- +[2]e®
wo p, wie sich von selbst versteht, Zn und zugleich > u angenommen wird,
oder vielmehr nur den Theil der Summe
1: ]|e®+--- +[2]#9+--- +2] ®
welcher sich vom uten Glied ab erstreckt, so können wir diesen dadurch
umformen, dafs wir diejenigen Glieder in Partialsummen vereinigen, für wel-
che E | denselben Werth hat, und dann alle Partialsummen addiren.
Lassen wir der gröfsern Gleichförmigkeit wegen aus der ersten Par-
tialsumme das s= u entsprechende Glied weg, ziehen dasselbe zu den schon
abgesonderten u — ı ersten Gliedern und setzen
1; ]=
Re
so erstrecken sich die Partialsummen nach Obigem respective von
s—= u excl. bis s = [-] incl., und der entsprechende Werth von 4 =v
n n n
se [*] » $ zii » » » » » [*]=-:
v vi
n
la > og > (lag
pe Er: ae 3 ß Me
Bezeichnet nun ı/(s) das summatorische Glied der Funktion # (s), d.h. 3$(s)
von s= ı bis s=s genommen, so sind die Werthe der Partialsummen
über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 73
‚WE]-7%) eH@[lS]-:ED.
ns ne Fe Er)
deren Vereinigung den Ausdruck
n
+1
ergiebt. Wir erhalten so die allgemeine Transformationsgleichung
x [eo =stW-"tW +38 [?]eo Hz]
Der bei der Anwendung dieser Gleichung am häufigsten vorkommende
Fall ist der, wop=n und folglich g= 1. Man erhält in dieser Voraussetzung
)o=-wo@+=&:[2bo+zn2]2] ©
Wie man sieht, besteht der Vortheil dieser Umformung darin, dafs durch
dieselbe eine Reihe, deren Gliederzahl n ist und die in jedem Gliede einen
Ausdruck der Form E enthält, auf zwei andere zurückgeführt wird, in de-
nen die Anzahl der ebenfalls [*] enthaltenden Glieder sich auf die Ordnung
Vn erniedrigt. Eine ähnliche Umformung bleibt noch ausführbar, wenn an
die Stelle des Nenners s in dem Ausdruck [*] eine mit s wachsende Funk-
tion von s tritt. Da jedoch eine solche Allgemeinheit zu unserem gegen-
wärtigen Zweck überflüssig ist, so beschränken wir uns auf die eben betrach-
tete speciellere Reihenform.
Ri
Nehmen wir jetzt die in No. 1. behandelte Aufgabe wieder auf, so
erhalten wir, wenn in Gleichung (5), $ (s) = ı und folglich Us) =s gesetzt
" Fw=:B]--w+z[]l+8[l
Setzt man in den beiden Summen = statt [?] ‚ so ist der Fehler nur von
der Ordnung Yn, und da eben so n2\——n2, - =-nlogn+Cn, uı=n,
so folgt bis auf einen Fehler.der Ordnung Yn genau,
F(n)=nlogn+(2C—)n.
Math. Kl. 1349. K
74 Leseune DikicHLer
Aus dem eben gefundenen asymptotischen Ausdruck für die Funktion
F (n) läfst sich nun leicht ein Ausdruck für den mittleren Werth der Divi-
sorenanzahl ableiten. Schreibt man die Gleichung zur gröfsern Deutlichkeit
in d
Balz F(n)=nlogn+(2C—ı)n+£Yn,
wo 2 zwar unbekannt ist, aber für ein noch so grofses n numerisch unter
einer bestimmten Grenze, die leicht anzugeben wäre, bleiben wird, verwan-
delt n inn-+-s, wobei £in £’ übergehe, und dividirt die Differenz beider
Gleichungen durch s, so erhält man für das arithmetische Mittel der den s
Zahlen n+1,n-+2,...n-+s entsprechenden Faktorenanzahlen
log (a+) +2 C—ı+ 2 log (1 +) + He.
Denkt man sich nun 7 über jede Grenze hinaus wachsend, so nähert sich
das letzte Glied der Null, d.h. der Unterschied zwischen dem erwähnten
arithmetischen Mittel und dem aus den übrigen Gliedern gebildeten Aus-
druck wird kleiner als jede angebbare Gröfse. Verbindet man mit der schon
gemachten Annahme noch die, dafs auch = jede Grenze überschreite, so er-
hält man für das dieser doppelten Voraussetzung entsprechende Mittel den
höchst einfachen asymptotischen Werth
logn + 2C
der, wie leicht zu sehen, auch dann noch gilt, wenn n, statt die der Reihe
von s Zahlen, in Bezug auf welche das Mittel genommen wird, unmittelbar
vorhergehende Zahl zu bezeichnen, mit einer dieser Zahlen selbst zusammen-
fällt. Ist nämlich m eine derselben, so hatmann +i/=m, wot <s, und
der Unterschied logm — log n nähert sich in Folge obiger Voraussetzung
der Null.
4.
Die oben erhaltene Gleichung
= 4 —nlogn+(eC—ı)n,
in welcher der Fehler von der Ordnung Vn ist, giebt zu einer Bemerkung
Veranlassung, bei welcher wir einen Augenblick verweilen wollen. Da an-
. Ben
drerseits > __—n log n - (m
Ss
über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 75
wo der Fehler für jedes n eine feste Grenze nicht überschreitet, so hat man
mit einem Fehler der Ordnung Yn,
3; (= _ I) =(1—- C)n.
Da hiernach das arithmetische Mittel aus den Werthen der ar nn E -|
welches= 1, 2,..., nm entsprechen, =ı — Cd.h.<-+ist, so läfst sich
vermuthen, dafs, wenn man n der Reihe nach durch die genannten Zahlen
”
dividirt, der Fall öfter vorkommen wird, wo der Rest unter dem halben Di-
visor liegt, als der entgegengesetzte, wo er demselben gleich ist oder ihn
übertrifft. Wir wollen die Richtigkeit dieser Vermuthung zu prüfen und
das Verhältnifs, nach welchem die Zahlen ı, 2,... n sich in dieser Beziehung
in zwei Gruppen vertheilen, zu bestimmen suchen. Die Zahl s wird den
ersten oder den zweiten Fall darbieten, je nachdem
=-[* |<+ oder 3
Da hiernach respective
[-] Be) 4 —=0, oder E — [-] —4ist,
Ss Ss Ss Ss
so wird die Anzahl der in der zweiten Gruppe enthaltenen Zahlen durch den
Ausdruck
gegeben, dessen zweites Glied oben schon bestimmt worden ist. Zur Be-
stimmung des ersten dient die Gleichung (a), in welcher n in 2n zu verwan-
deln, undp=n, g=2, $(s)=1, Y(s)=s zu setzen ist. Man erhält so
„1 2n 2n 2n
= [7 ]= »-#»+=]7]+=&][2]-
Da % die unmittelbar über Y(2n) liegende ganze Zahl und v= = ist, so ist
Av von 2n nur um eine Gröfse der Ordnung Vn verschieden und die beiden
ersten Glieder heben sich auf. Für die erste Summe erhält man immer mit
Vernachläfsigung der Ordnung Yn,
= l*] —ı, ala - =:ın (log +C)=n log en-+2Cn.
Derselbe Werth würde auch für die zweite gelten, wenn nicht die beiden
s= ı und 2 entsprechenden Glieder fehlten. Um $' = zu erhalten, hat
K2
76 Leseune DiricHLer
man also den eben gefundenen Ausdruck zu verdoppeln und [7] + = =3n
abzuziehen. Man findet so für die zweite Gruppe die Gliederzahl (log4— ı)n
und also für die erste (2— log4)n. Für ein grofses n verhält sich daher die
Anzahl der Divisoren, denen die erste Eigenschaft entspricht, zu der Anzahl
derjenigen, welchen die zweite zukommt, wie 2 — log zu logı — ı.
d.
Betrachten wir jetzt die Funktion /(n), welche die Summe der Divi-
soren von n ausdrückt, oder vielmehr zunächst wieder, wie in No.1., die
daraus gebildete Summe F(n)=/(1)-+ f(2)-++...+ /(n). Durch Betrach-
tungen, welche denen ganz ähnlich sind, die wir dort angestellt haben, er-
hält man n
Fo)=>:s[*].
Durch Anwendung von Gleichung (B) ergiebt sich hieraus
Fo)=—-+@+»»+3s|?]++=:([2]+[2)
Um zu übersehen, von welcher Ordnung die Gröfsen sind, welche
man als nicht vollständig bestimmbar vernachläfsigen mufs, betrachte man
zunächst den ersten Theil der letzten Summe. Setzt man #4 = _5,wo
Ss Ss
e ein von n und s abhängiger ächter Bruch ist, so erhält man
wo das zweite und dritte Glied, welche resp. die Ordnung nlogrn und Yn
nicht überschreiten können, wegen des darin vorkommenden, analytisch
nicht ausdrückbaren Bruchs e wegzulassen sind. Es ist daher auch der zweite
Theil der Summe, nämlich 8; = ‚ den wir schon oben bestimmt haben
und welcher von der Ordnung n log n ist, nicht zu berücksichtigen, obgleich
dieser Theil bis auf die erste Ordnung incl. genau angebbar ist. Da ferner
mit Vernachläfsigung der ersten Ordnung
. ia 4 3
(„+e)v=n’, 3:s[*]=»°,
so ergiebt sich
über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 77
bis auf einen Fehler der Ordnung nlogrn genau. Da nun andrerseits nach
einer bekannten Formel
ARE 1 1
zv
uam. —- —- + —elc.
Tilge 6 Bari
1 =: -
d h.4n'3,z3=,n’—zn
Ey
bis auf die erste Ordnung exclusive, so erhält man schliefslich
o .)
Hin) = n?
a:
in welcher Gleichung der Fehler die Ordnung n log n nicht überschreitet.
Bestimmt man mit Hülfe des eben gefundenen Ausdrucks den mittle-
ren Werth von /(n), so findet man für diesen mittleren Werth
—(Ya+)+...+f(n+9)
den asymptotischen Ausdruck n* N
I6. ’
vorausgesetzt dafs man sich das gleichzeitige Wachsen von s und n so denke,
dafs dabei
n
— und
Ry
Ss
log nn
jede endliche Grenze überschreiten. Dieses Resultat hat jedoch, wie leicht
zu sehen, eine wesentlich andere Bedeutung, als das am Ende von No. 3.
gefundene. Während dort der Unterschied zwischen dem wahren mittleren
Werth und seinem asymptotischen Ausdruck kleiner als jede gegebene Gröfse
wurde, gilt dies hier nur von dem Verhältnifs dieses Unterschiedes zum wah-
ren oder genäherten mittleren Werthe.
6.
In den bisher behandelten Aufgaben, zu denen andere auf ganz ähn-
liche Weise zu lösende hinzuzufügen überflüssig scheint, hatte die näherungs-
weise zu bestimmende Funktion unmittelbar die Form der Reihe (a). In
andern Fällen wird diese Funktion durch eine Gleichung gegeben, welche
eine solche Reihe enthält, in deren allgemeinem Gliede die zu bestimmende
Funktion vorkommt, so dafs man also nur eine rekurirende Beziehung zwi-
schen auf einander folgenden Werthen der Funktion kennt. Das einfachste
78 Leseuse DiricHLET
Beispiel dieser Art bietet die Funktion $ (n) dar, welche die Anzahl der in der
Reihe ı, 2,...n enthaltenen relativen Primzahlen zu n ausdrückt und welche
in der Theorie der Zahlen eine so grofse Rolle spielt. Bekanntlich ist der
Ausdruck für diese Funktion
9 n)=n(1--):(1-;)--
wo.a, b, c,.... die verschiedenen in n aufgehenden Primzahlen bezeichnen.
Diese Formel ist jedoch für unsere Untersuchung nicht geeignet, und wir
müssen für dieselbe einen andern Ausgangspunkt wählen. Wir gehen von
der bekannten Gleichung
od (& sn
aus, worin sich das Summenzeichen auf sämmtliche Divisoren ö von n bezieht.
Addirt man diese Gleichung und die ähnlichen für n— ı,n — 2,....1 gel-
tenden, so wird auf der ersten Seite das Glied $ (s), worin s < n so oft vor-
kommen, als es in der Reihe ı, 2,...r Vielfache von s giebt, d.h. [-] mal.
Man erhält also = [>] 16) ange + 1
} Ir = 7 zn.
Ehe wir weiter gehen, wollen wir einen Augenblick auf die Formel
(6) zurückkommen und die Bemerkung machen, dafs es für manche Aufga-
ben, zu denen auch die in der vorigen No. behandelte gehört, eine Ab-
kürzung gewährt, wenn die Umformung die ganze Reihe umfafst, obgleich
dadurch der in andern Fällen unentbehrliche Vortheil verloren geht, die
Anzahl der Glieder auf eine niedrigere Ordnung zu bringen. Um die so mo-
difieirte Formel zu erhalten, erwäge man, dafs wenn ganz allgemein eine
der Zahlen ı, 2, 3,...r bedeutet, der Werth 2 sich zwar nicht immer unter
den Gliedern & ® N A
EBEN Sjem
finden wird, da diese Glieder im Anfange der Reihe sehr rasch abnehmen,
dafs es aber immer ein und nur ein Glied geben wird, welches 5 t ist und
auf welches ein anderes folgt, dessen Werth < 1 ist. ig Zeiger s dieses
Gliedes mufs, wie oben, die Ungleichheiten " >21: und - — <t erfüllen,
woraus s—= = ] folgt. Hiernach ist en [: | dp von se ® = =
excl. bis s = E incl., und die Summe aller Glieder, in denen E& den
über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 79
Werth that, = (7 #4 —y [=-]) t, welcher Ausdruck verschwindet
und richtig bleibt, wenn keine solche Glieder existiren, d.h. 11-1]
wird. Vereinigt man die Werthe des Ausdrucks für = ı, 2,.. .n, und be-
merkt, dafs für2=n das Glied ı[--] oftenbar auf Null zu reduciren ist,
so erhält man
:[|eo==v[?] (e)
von welcher Umformung wir nun in unserer Aufgabe Gebrauch machen wol-
len. Unsere obige Gleichung wird mit Hülfe derselben
zy][®]=+r°++n
Man übersieht bald, dafs der asymptotische Ausdruck für Y(n) die Form
an” haben wird, wo « eine Constante ist. Man könnte diese Constante in
dem folgenden Beweise zunächst unbestimmt lassen, wo sich dann im Laufe
der Entwicklung der Werth «= e herausstellen würde. Da jedoch dieser
Werth ebenfalls leicht vorherzusehen ist, so werden wir der Kürze wegen
sogleich den Ausdruck -, n? betrachten. Wie auch die noch unbekannte
Funktion / (n) beschaffen sein möge, so können wir allgemein setzen
3
Ym)= — n° +°%,(n)
wo auch £ von n abhängt und die Funktion x, (n) beliebig und nur mit der Be-
schränkung gewählt werden soll, dafs sie immer positiv bleibe, mit dem Argu-
mente wachse und für den Werth n = ı desselben nicht verschwinde. Denkt
man sich %, (n) auf die angegebene Weise gewählt, und dann in unsere Glei-
chung für n alle Werthe von n= ı bis n—= N eingesetzt, so werden die ent-
sprechenden Werthe von Ö alle endlich sein. Es sei nun A der gröfste der
so für d erhaltenen numerischen Werthe. Dies vorausgesetzt, bringen wir
unsere Gleichung in die Form
Ym)=-=Y]”]|+3”" +4
und betrachten nun die Werthe von n, welche zwischen n=N +1 und
n
n=2N liegen. Da in der Summe | — | die Grenze N nicht überschreitet, so
Ss
sieht man, dafs der Theil unserer Summe, welcher aus dem Einsetzen des
30 Leseune DiricHLET
zweiten Gliedes des oben Mr U (n) angenommenen Ausdrucks entsteht, nu-
merisch kleiner “ AZ, x, ist. Der vom ersten Gliede herrührende
Theil, nämlich — =: a if Bi wenn man wieder el — = — € setzt, in
3n 1 6n €
yn san Er nes
Del Br taz:
über. Da nun
a m
be ee
abe u .
wo r von der Ordnung — ist, und die beiden andern Summen resp. die Or-
dnung logn und n nicht überschreiten können, so erhält man
Yn)=zn’+E£
in welcher Gleichung £ numerisch kleiner ist als
Pnlogn+ 42,%(-)
wo P eine hinlänglich grofse von IV unabhängige Constante ist. Ver-
gleicht man dieses vonn= N +1ıbisn=2N geltende Resultat mit
dem oben für Y(n) angenommenen Ausdruck Zn’ +Lx(n), so ergiebt
sich, dafs für dieses neue Intervall der gröfste Zahlenwerth von 2 das Maxi-
mum der in dem genannten Intervall stattfindenden Werthe des Ausdrucks
Pnlogn A n
+4 5x()
TO BEE TO u
nicht überschreitet. Giebt man jetzt der bisher unbestimmt gelassenen Funk-
tion ,(n) die Form einer positiven Potenz n°, so erhält man für den in A
multiplieirten Ausdruck
n3< 3=9
und ö läfst sich so zwischen ı und 2 wählen, dafs die Constante q ein ächter
Bruch wird. Andrerseits kann man N so grofs wählen, dafs fürn 3 N,
RE En “= <k wird, wo die Constante k beliebig klein ist. Bezeichnet man
mit R den gröfsten zwischen „= N -+ı undn=2N vorkommenden Zah-
lenwerth von £, so hat man
A<Ag+k.
über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 81
Da nun % für ein wachsendes N beliebig klein werden kann, A nicht ab-
nimmt, q aber constant bleibt, so ist für ein hinlänglich grofses N, A <A,
d.h. das ursprünglich bis n= N geltende Maximum A gilt auch bis 2V, aus
demselben Grunde aber auch bis 4IV, sV,..., oder ganz allgemein.
Es ist also / (n) = er n* mit einem Fehler, der die Ordnung n° nicht
überschreiten kann, wo die Constante ö den durch die Gleichung =7 5 —_
gegebenen Werth, wenn auch noch so wenig, übersteigt. Für den mittleren
Werth von $(n) ergiebt sich hiernach der Ausdruck
n
Yo
dessen Bedeutung aus Obigem klar ist.
iM.
Als letztes Beispiel wählen wir die Funktion # (n), welche die Anzahl
aller möglichen Zerfällungen von r in zwei Faktoren ohne gemeinschaftlichen
Theiler bezeichnet und bekanntlich die Potenz 2° zum Ausdruck hat, wenn
man unter o die Anzahl der verschiedenen in 2 aufgehenden Primzahlen ver-
steht. Setzt man wieder 8!#(s) = \/(n), so wird / (n) in einem einfachen
Zusammenhang mit der in Art 1. und 3. behandelten Funktion F(n) stehen.
F(n) drückt nämlich offenbar die Anzahl der Zahlenpaare x, y aus, welche
der Bedingung xy <n genügen, während \ (n) die Anzahl der Paare der zu
einander relativen Primzahlen £, y bezeichnet, für welche ebenfalls Ey < n.
Theilt man nun die Paare x, y in Gruppen, deren ste diejenigen Paare x, y
enthält, für welche s der gröfste gemeinschaftliche Theiler ist, so dafs also,
wenn 2=£s, y=1s gesetzt wird, £ und y relative Primzahlen sind, und
dividirt die Ungleichheit durch s’, so kommt Eu < = oder En< [| j:Da
nun auch umgekehrt je zwei relative Primzahlen &£, y, welche dieser Bedin-
gung entsprechen, durch Multiplikation mit s zwei Zahlen x, y mit dem
gröfsten gemeinschaftlichen Theiler s ergeben, für welche vy <n, so folgt,
dafs die Anzahl der in der sten Gruppe enthaltenen Paare durch N [:] aus-
gedrückt wird. Man erhält so die Gleichung
z+[3] =F(n)=nlogn+(2C—ı)n
Math. Kl. 1849. L
32 Leseunge DikicahLer
wo sich die Summe von s=1ı bis s=[Vn] erstreckt, und nach Obigem das
vernachläfsigte Glied die Ordnung Vn nicht überschreitet. Es ist hiernach
leicht zu übersehen, dafs der asymptotische Ausdruck für Y(n) die Form
anlogn+Bn haben wird, wo « und ß zwei noch zu bestimmende Constan-
ten bezeichnen. Setzt man nämlich, wie im vorigen Art., in unserer Gleichung
ı (n) =anlogn+Bn+L£n’,
wählt a und & so, dafs sich die Glieder der Ordnung n log und n aufhe-
ben, was die Werthe
6 72C
—I(—+r:20-1ı
6
e=—,undß =
m 3 ß m? m?
ergiebt, wo € die frühere Bedeutung hat und C’’=37 ng: ist, so findet
2
man durch Schlüsse, welche den im vorigen Art. entwickelten ganz analog
sind, dafs 2 für ein beliebig grofses n unter einer festen Grenze bleibt, wenn
nur d&>-Y, y in der obigen Bedeutung genommen. Aus dem so gefun-
denen Ausdruck für X (n),
anlogn-+Pn
folgt dann in einem durch das eben Gesagte bestimmten Sinne für ® (n) der
mittlere Werth
= (logn + +20).
m
Mit der eben behandelten Frage hängt der in den Disg. arith. Art. 301
gegebene mittlere Werth für die Anzahl der genera zusammen, welche einer
negativen Determinante — n entsprechen. Der Ausdruck für die Anzahl der
genera ist nämlich nach bekannten Sätzen, den 5 Linearformen
n=sh, n=sh-+ä, n=ıh-+2, n=4h-+1i, n=4ih+3
entsprechend,
ya), Fem) zen) en), = pn).
Andrerseits läfst sich durch nahe liegende, an die vorher angestellten
Betrachtungen anzubringende Modifikationen, deren Ausführung wir dem
Leser überlassen, der genäherte Werth von /(n) bestimmen, wenn n eine
vorgeschriebene Linearform hat und die Summe 3 $(s) = \ (n) nicht mehr
über alle Zahlen 1, 2,... rn, sondern nur über die in dieser Reihe enthal-
tenen Zahlen dieser Form erstreckt wird, und dann daraus der mittlere
über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 83
Werth von $(n) ableiten. Man findet so nach den oben angegebenen
Linearformen für diesen mittleren Werth, wenn man zur Abkürzung
logn + < +2C=A setzt,
8 8 3
=(&—zlog2), #(A—log2), = (A + log>),
4 4
„= (&+>log>), = (A+zlog2).
Nach Obigem ergeben diese Ausdrücke, resp. mit ı, 4, +, 1, 4 mul-
tiplieirt, die mittleren Anzahlen der genera der Determinante — n für die
vorher aufgezählten Linearformen, und da von je 8 aufeinander folgenden
Zahlen resp. 1, 1, 2, 2, 2 in diesen Formen enthalten sind, so ist die Summe
unserer der Reihe nach mit 1.4, 4-5, #-5> 1:5, 5 multiplicirten
Ausdrücke d.h. F
„= (4—-+log:)
die gesuchte mittlere Anzahl der genera, welche der Determinante — n ent-
sprechen, wenn diese allgemein d.h. nicht mehr auf eine besondere Linear-
form beschränkt gedacht wird, was mit dem am angeführten Orte gegebenen
Resultat übereinstimmt. Dafs übrigens derselbe Ausdruck auch für die po-
sitive Determinante n gilt, folgt leicht daraus, dafs die den Linearformen
aAh-+1, Ah-+-3 entsprechenden mittleren Werthe von $ (n) zusammenfallen,
und dafs andrerseits die bei den quadratischen Determinanten eintretenden
Ausnahmen offenbar ohne Einflufs auf das Endresultat sind.
———_—
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Abhandlungen
der
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der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Aus dem Jahre
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Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
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RITTER über räumliche Anordnungen auf der Aulsenseite des Erdballs, und ihre
Funktionen im Entwicklungsgange der Geschichten... ....
PANoFKA: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ im Zusammenhang mit dem
Bilderschmuck auf bemalten Gefälsen .. 2... 22222 22..
Dirksen: Von den Pflichten der Pietät gegen die Person des regierenden römi-
SCHEN RAISELSE N N N ee.
Dezselbe über das verbrennen der leichen ....... 2...» eos. 000200.
TRENDELENBURG über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg... .....
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Bin Hellbrer N deutsches tzesprachemeer nee eat ee ee
DiETERICI über den Begriff der Übervölkerung EEE ee a
GERHARD über das Metroon zu Athen und über die Göttermutter der griechischen
WieholDEr@do 56,8. 0,8 0,0 8 Sucnae.c.a.0 0,0 © a along
Derselbe über eine Cista mystica des brittischen Museums ...........
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Wienselbies Das Reich Karachataı oder St-Liao . u. un» eu san len
BOANSKE: Zur Kritik Preulsischer Memoiren ... 2.2... 22.2.0020 len une
JAcoB GrimM: Einige berichtigungen zu der abhandlung über das verbrennen
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räumliche Anordnungen auf der Aulsenseite des
Erdballs, und ihre Functionen im Entwicklungs-
gange der Geschichten.
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[Vorgetragen in der Akademie der Wissenschaften am 1. April und in der öffentlichen
Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahrestages. ]
Werten wir den Blick auf einen Erdglobus, der, wenn auch im noch so
grofsen Maasstabe uns doch nur als winziger und also höchst unvollkomm-
ner Repräsentant für die äufserlichste Gestaltung unsers planetarischen Erd-
körpers erscheinen kann, aber doch in seiner, eine unendliche Mannichfal-
tigkeit als Einheit zusammenfassenden Kugelform, einen sinnlich überwie-
genden Eindruck auf die Imagination, und unzählige mit ihr in Verbindung
stehende Ideen ausübt, so tritt uns zunächst die in gröfster Zerrissenheit
erscheinende Verwirrung seiner in einander und durch einander greifenden
Vertheilung der Länder- und Wasserflächen vor das Auge, in denen nicht
die geringste Spur von einer scheinbaren Ordnung ihrer Gegensätze wahr-
zunehmen. Keine mathematische, von gradlinichten Figuren oder geome-
trisch gestalteten Räumen, keine graden Linien in Reihen, keine Puncte, nur
das mathematisch darüber hingezogene Netz, das von dem Himmel erst auf
die Erde übertragen ward, giebt uns für das, sonst in sich maafslose, ein
künstlich zum ersten Anhalt bestimmtes Maafs, und selbst ihre beiden Pole
sind nur mathematische, aus ihrer Rotation heraus construirte Puncte, die
uns in ihrer Realität noch gänzlich unbekannt geblieben. Keine architecto-
nische Symmetrie, an die unser Auge bei menschlichen Kunstwerken so ge-
wöhnt ist, nicht einmal die Symmetrie, wie sie in den Organismen der Pflan-
zen und Thierwelt, in den individuellen Gestaltungen eines unten und oben,
zwischen Basis und Krone der Gewächse, oder einer linken und rechten
Philos.- histor. Kl. 1849. A
2 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs
Seite, in der Gesichts- und Körperbildung der Thiere und Menschen her-
vortritt, ist hier wahrzunehmen. Ja dieses völlig unsymmetrische, schein-
bar ganz regellose, schwierig mit einem und auch wohl mit vielen wieder-
holten Blicken aufzufassende Ganze, hat darin etwas sinneverwirrendes un-
heimliches, dem nur die Namengebung und Anderes zu Hülfe kommen
mufs, um sich nicht sehr bald von einer blos gedankenlosen chaotisch wid-
rig erscheinenden Ansicht abzuwenden. Man hat sich daher auch mehr zu
den Einzelnheiten ihres Inhaltes, als an die Betrachtung ihres ganzen zu-
sammengehörigen Aufsern gehalten, und die Compendiarische Geographie
hat daher ihren Hauptreichthum in der Beschreibung der Theile gesucht.
Sie ist daher auch nur elementarisch bei der Benennung und Beschreibung
der Einzelnheiten geblieben, sie hat sich nicht zu den Verhältnissen und
allgemeinen höhern Gesetzen erhoben, durch welche erst die Wissenschaft
zu einer Einheit, zu einem Ganzen gelangen kann.
Obwohl der Planet der Erde in seiner mafslosen Übersichtlichkeit
ein ganz Anderes ist, als sein verjüngter Maafsstab im künstlichen Globus,
der nur schwache Lineamente von jenem auf seiner Oberfläche und nur
symbolisch andeuten kann, so sind wir doch genöthigt gewesen die Sprache,
in der vom Erdball als von einem planetarischen Ganzen die Rede ist, erst
von seinem schwachen Repräsentanten dieselbe zu abstrahiren. Denn auf
diese Weise ist auf dem Abbilde der gröfste Theil jener Terminologie für
die räumlichen Verhältnisse der Erde gewonnen, die doch eigentlich aus der
Natur des Gegenstandes selbst, und nicht aus dem schwachen Abbild hätte
hervorgehen sollen. Da hier jedoch nur gröfstentheils das von aufsen her
überhin gesponnene mathematische Netz mafsgebend war, so ist die Sprach-
bestimmung sehr einseitig und unvollkommen geblieben, und noch heute
in keinerlei Hinsicht ausreichend und erschöpfend für die wissenschaftliche
Betrachtung eines organisirten Ganzen, weder für dessen horizontale Aus-
breitung, noch für dessen Dimension nach Höhe und Tiefe, und noch we-
niger nach seinen Functionen.
Die Werke der Natur zeigen jedoch im Gegensatze der menschlichen
Kunst den characteristischen Unterschied, dafs, wenn diese auch den höch-
sten Stempel der Vollendung in sich zu tragen scheinen, symmetrisch, schön,
anpassend, bis in das kleinste geregelt sich zeigen, doch bei genauerer Un-
tersuchung der innere organische Zusammenhang fehlt, und microscopisch
und ihre Functionen im Enwicklungsgange der Geschichten. 3
untersucht, die gröfste Roheit ihrer Composition sich immer mehr und mehr
herausstellt, sei es das feinste Gewebe, das eleganteste Uhrwerk, das in
schönster Harmonie sich zeigende Gemälde, die glätteste Politur der Mar-
mor- oder Metallfläche. Dagegen löfst sich die scheinbare Unsymmetrie,
Ordnungslosigkeit, chaotisch auftretende Aufsenseite der Werke der Natur,
je tiefer die Betrachtung, die Forschung, selbst die microscopische Unter-
suchung eindringt, in immer feinere Elemente und Organisationen auf; sei
es im feinsten Faden des Spinnennetzes, dem bewundernswürdigen Baue der
Pflanzenzellen, dem Geäder der thierischen Organismen, oder in den cri-
stallinischen Formen oder Blätterdurchgängen der unorganischen, fast un-
sichtbar für das unbewaffnete Auge gewordenen Cristallisationen und Mole-
culen. Aber nicht blos nach der materiellen Feinheit, auch nach der gei-
stigen Gröfse der Construction und ihrer Functionen findet dieser Gegen-
satz statt, wie die physiologische Forschung lehrt, die überall auf zusammen-
hängende Wirkungen der Naturkräfte, auf Systeme und ihre Naturgesetze
geführt hat, denen die Wissenschaften der Chemie, Physik, Optik, Mecha-
nik und viele andere erst ihr Dasein verdanken.
Sollte dieser Gegensatz bei dem gröfsten der uns näher bekannt ge-
wordenen Naturkörper unserm Planeten, und wären wir auch nur mit sei-
ner äufserlichsten Oberfläche, und auch mit dieser fürs erste nur noch ganz
oberflächlich bekannt, nicht statt finden? und diese, wie durch blinde Na-
turgewalt wild zerrissen erscheinende Aufsenseite blos einer zufälligen system -
und zwecklosen chaotisch wirkenden neptunischen und plutonischen Dictatur,
und gegenseitig sich nur zufällig bedingenden Gewalt, ihre gegenwärtige, bei ei-
nem Gesammtüberblick, die Sinne verwirrende Erscheinung angenommen ha-
ben. Wie wäre diefsmit dem Geschick ihrer Belebungen, ihrer Bevölkerungen,
mit den Schicksalen des Menschengeschlechts seinen Geschichten und Ent-
wicklungen zu vereinen, wenn wir auch nur bei dem einen Gedanken stehen
bleiben, dafs der Planet, nur als das Erziehungshaus, und mit allen seinen
Einrichtungen, als die grofse Erziehungsanstalt des Menschengeschlechts
in ihrem irdischen Vorübergange erscheinen kann.
Jede Pflanze will ihren gedeihlichen Boden haben, um von der Wur-
zel bis zur Krone blühen und zur Frucht sich entfalten zu können, jedes Ge-
schöpf in dem Elemente für das es geboren ist leben und weben, da es sonst
untergeht; und der Mensch, die Entfaltung des Menschengeschlechts, so
A2
4 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs
viele Jahrtausende hindurch, in so vielen Millionen seiner Individuen, sollte
an einen, blos durch feindliche Antipathien der Naturgewalten, sei es durch
Neptun oder Vulkan, in den Erden und ÖOceanen, oder durch Hitze und
Kälte in den Lüften gestalteten Wohnort, an ein durch sinnlose Willkühr
verzaubertes Wohnhaus gefesselt sein. An eine Heimath, die in keiner Har-
monie mit den Bedürfnissen der fortschreitenden Entwicklung seines Ge-
schlechtes stände, weil wir in ihr nur erst, wenn schon in einem noch un-
erschöpften Reichthum von Mannichfaltigkeiten an ihren Oberflächen, doch
nur die geballte Masse eines noch ungeregelten, in seinen elementaren Thei-
len festgerannten, erstarrten, sogenannten unorganischen Körpers zu erblicken
wähnen, der in sich abgerundet, schon fertig von der Drehbank der Welten,
in das Universum geschleudert, durch die grofse rotirende Wurfbewegung
nun seinem eignen Schicksale für alle Zukunft überlassen geblieben. —
Sollte ihm allein die fortbildende Kraft einer innern Organisation versagt
worden sein, welche doch für alle seine Geschöpfe auf ihm eine so charac-
teristische Mitgift geworden. — Wir haben Fingerzeige genug, die uns hin-
reichend warnen in dem Moment der Gegenwart nicht den Maafsstab für
eine Ewigkeit zu suchen, den auf unsre Sinne wirkenden Eindruck nicht für
den Gegenstand der ihn hervorbringt zu halten, das aufgestellte Naturge-
setz nicht für das Werk unsers Scharfsinns unserer Systematik anzusehen,
sondern für einen glücklichen Fund dessen, was schon längst und immer
vorhanden gewesen, nur für uns, wie so Vieles noch verschleiert geblieben
und noch nicht von uns erfasst war. Die Genesis der sich bildenden Ne-
belflecken zu Welten, der Wind der uns trifft und am andern Ende entsteht
als da wo er herzukommen scheint, sind uns, wie unzähliges Andre, leh-
rende Beispiele geworden nicht aus der uns scheinbaren Verwirrung und
Gesetzlosigkeit auf den Mangel von Zusammenhang und Ordnung zurück-
zuschliefsen.
Bei der Anordnung der Aufsenseite unsers Planeten, und dem innern
Zusammenhange seiner scheinbar willkührlich zerstreuten Theile, werden
wir, je tiefer wir in die Erkenntnifs ihrer Natur eindringen, mehr und mehr
eine höhere Symmetrie und Harmonie, wie eine progressive Entwicklung
auch ihrer blofs räumlichen Verhältnisse wahrnehmen, je mehr und mehr
die Naturwissenschaft und Geschichte uns in ihrer Entschleierung derselben
unterstützen. Was hat die astronomische Ortsbestimmung, die Geodäsie,
und ihre Functionen im Entwicklungsgange der Geschichten. 5
die Hypsometrie, die Geognosie, die Meteorologie, die Physik, in dieser
Hinsicht nicht schon gethan, und welche Aussicht bietet sich für die Ge-
setzmäfsigkeit in der räumlichplanetarischen Anordnung nicht dar, wenn wir
auch den Entwicklungsgang der Menschen und der Völkergeschichten, wie
die Productionen der Naturreiche nach ihren heimathlichen Erscheinungen
mit in die Frage der Verhältnisse der räumlich -planetarischen Formen her-
einziehen, wozu hier einige Andeutungen folgen mögen.
Die Anordnung der dreierlei Hüllen, unter deren Formen der Erd-
ball sich zeigt: Luft, Wasser und Land, die auf verschiedene Art über dessen
Umfang vertheilt wurden, übergehen wir, da sie bekannt genug sind, und
bemerken nur, wie die räumliche und die physikalische von beiden harmonirt,
da in beiden, das Wasser die mittlere Stellung in jeder Hinsicht einnimmt, in
Beziehung auf Genesis, wie auf Metamorphose und Raumverhältnifs.
Wir übergehen eben so das bekannte Verhältnifs der continentalen
Massenanhäufung in der nördlichen Hemisphäre, wodurch der maritime Ge-
gensatz in der südlichen hervorgerufen wurde, und das Übergewicht der
Wärmeverhältnisse, wie der menschlichen Bevölkerungen, nach Zahl und
gegenseitiger Berührung, nach Austausch der Productionen, wie der Er-
fahrungen und der Ideen, sich in der nördlichen Hemisphäre gegen die arc-
tische Seite der Erde anhäufen mufste. Wir haben erst kürzlich die grofsen-
theils hierdurch gesetzmäfsige Verschiebung aller allgemeinen Temperatur-
verhältnisse, und der speciellen Climatik in ihren Einzelnheiten durch alle
Monate und Jahreszeiten um das ganze Erdenrund hindurch, in bestimmten
Thatsache kennen lernen.
Auch das Verhälnifs der pyramidalen südlichen Zuspitzung der keil-
förmig gestalteten Südenden in der antarctischen Hemisphäre können wir als
allgemein bekannt voraussetzen, nach seinen Einwirkungen auf die Anordnung
im Ganzen, da, auf diese A. v. Humboldt aufmerksam gemacht hat. Wir
erinnern nur daran, dafs alle Südenden der Continente, auch in der nörd-
lichen Hemisphäre gegliederter sind (wie in Europa, Asien, America, Au-
stralien) als die Nordenden, und daher auch zugänglicher werden sollten für
alle Arten der Lebensthätigkeiten.
Weniger beachtet in seinen allgemeinsten wie speciellsten Einwirkungen
ist der gröfste Gegensatz auf dem Erdball, den wir die nordöstliche Landhalbku-
gelund die südwestliche Wasserhalbkugel genannt haben, oder vorherrschend
6 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
die Land - Welt und 'die Wasser- Welt, die tellurische und die maritime Seite
der Erde. In dieser die offenen grofsen Oceane, in denen nur die Insel-
gruppen zerstreut liegen und die Enden der Continente hineinragen; in je-
ner, wo die überwiegende Masse der rigiden Continentalform die Gewässer
nur gleich Binnenmeeren einschliefst. In der einen, Neu-Seeland, der
Mittelpunkt des äufsern Wasserkreises; in der andern die Umgebungen der
Nordsee, zumal Südengland, die Antipode von Neu-Seeland im Mittel-
punkt des Landkreises; durch seine insulare Stellung zu allen Meeresbewe-
gungen und dem Binnen -Gestade, der diese Insel umgebenden Landwelt
ınaritim am meisten bevorzugt, schon durch die Natur im Mittelpunkt des
durchbrochnen mit Meeresgassen nach aufsen verbundnen Landkreises für
diesen, zunächst, vom Anfang an, auf die Herrschaft der Meere angewiesen.
In der einen Erdhalbe liegen alle Ländermassen vorherrschend ver-
eint, in der andern Wasserhalbe zerstreut, in der einen das Übermaafs des
trocknen, in der andern des feuchten Elements. Auf dem grofsen Gür-
tel des Gestadelandes zwischen beiden, der den ganzen Erdball, als gröfster
Kreis, in diagonaler Richtung zwischen Meridianen und Parallelen gegen NO
und SO umgibt, befindet sich dadurch die schmale aber mannichfaltig ge-
ränderte und gegliederte Zone des Übergangs, von der einen zur andern
Erdhalbe, und eben darum in ihr die Ausgleichung ihrer Gegensätze, die
sich überall in diesem Gestadegürtel unmittelbar schon in dem tagtäglichen
Wechsel der Land - und See- Winde, wie noch in vielen andern Wechselver-
hältnissen ausspricht. Denn in diesen Ring des grofsen Gestadelandes derErde,
der die Nord- wie die Süd-Hemisphäre durchschneidet, und gegen den äu-
fsern Wasserkreis sich hinneigt, fällt die ganze Ostküste Afrika’s, die ganze
Süd und Ostküste Asiens, die ganze Westküste Amerika’s, welche den Ring
vollendet, der jedoch gegen den antarctischen Süden ungeschlossen bleibt,
denn eben diesem Süden fehlen die Continentalbildungen, und also kann
daselbst auch kein Übergang zwischen Land-und Seeflächen statt finden, dem
so viele Wechselverhältnisse der Meteore, der Feuchtigkeitsniederschläge, der
Windrichtungen, der Küstenströmungen und Fluthendirectionen ihr gere-
geltes Dasein verdanken.
Es läfst sich nicht verkennen, dafs schon in diesen für die Physik des
Erdganzen, wenn schon nur linearen, jedoch sehr vielseitig sich durchkreu-
zenden grandiosen Anordnungen ein höheres Gesetz vorwaltet, für das Le-
und ihre Functionen im Entwicklungsgange der Geschichten. 7
ben der Erde als eine blofs äufserlich für das menschliche Auge symmetri-
sche Regulirung darbieten würde, dafs also der scheinbar anfänglich fast
sinneverwirrende Anblick der willkührlichen Zerstücklung und Zerrissenheit
der Oberfläche der Planetenrinde seiner tiefern organischen Bedingungen
nicht entbehren wird, wenn auch zum Beispiel unsre noch zu unvollkommnen
Tiefenmessungen der Meere, und unsre nur erst theilweise geognostische
Kenntnifs der Bestandtheile und Construction der Continente auch keinen
hinreichenden Grund, über die jetzige so ungleiche Vertheilung der Länder -
und Wasserflächen auf der ganzen Aufsenseite der Erdrinde ein Urtheil zu
fällen gestatten mag.
Eine vorherrschend tellurische und maritime Seite des Erdballs in
ihrer diagonalen Ausdehnung über alle Längen - und Breiten- Zonen, mufste
auch dieselben Gegensätze in Atmosphäre, Vegetation, Thierwelt, als überall
verschiedenartige Modification bedingen; ja das Leben und Weben der Men-
schen und Völker mufste in beiderseitig ganz verschiedenartigen Formen auf-
treten, in sofern der Mensch abhängig sein sollte von seinem Wohnorte und
dessen Natur. Die Erscheinungen in den Menschen- und Völker -Geschich-
ten mufsten in beiden ganz verschiedenartige sein, und die Culturgeschich-
ten einen ganz entgegengesetzten Gang der Entwicklung nehmen. Die Land-
welt mufste sich im Gedränge der Populationen und der übergreifenden Rei-
bungen wie des dadurch bedingten Austausches zuerst ceultiviren, die Was-
serwelt mufste einen Haufen roher bleibender Völkergruppen beherbergen,
bis die Schiffahrt entdeckt und zur Weltschiffahrt vervollkommnet war, und
auch für sie aus einem stationairen Zustande, der Tag einer progressiven
Entwicklung herannahen sollte. Die Völkerschaften, welche den grofsen
Gestadegürtel auf der Grenzzone zweier Gegensätze des Erdballs bewohnten,
wurden dagegen durch weit mannichfaltigere Naturimpulse auch schon in ihren
elementaren Entwicklungen begünstigt, wie die erythräischen Aethiopier,
selbst noch die Aegypter, Araber, die Inder, Chinesen und West- Ameri-
kaner, wie sich dies auch in den Azteken-Ruinen Californiens, Mexico’s und
Peru’s im Gegensatz der Rückseiten aller dieser Völker kund giebt.
Indem wir in dem Bisherigen von Mittelpuncten, gröfsten Kreisen,
Gürteln, Zonen, Erdhalben, Hemisphären, pyramidalen Gliederungen u. s. w.
sprechen mufsten, ist es nicht unbeachtet zu lassen, dafs, da in der Physik
schon alle diese mathematischen Begriffe von Hälften, Puncten, geraden Li-
8 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
nien, Parallelen blofse Analogien bezeichnen können, diefs bei ihrer Anwen-
dung auf Raumerfüllungen der Erdoberfläche, wobei noch das Oseillatorische
dieser Verhältnisse im Gegensatz des Stationairen hinzutritt, mehr der Fall
sein mufs, und wir uns hier auch für das folgende Sprachverständnifs in
geographischen Dingen, der Ausdrücke von geometrischen Figuren, Rhom-
boedren, Triangeln, Ovalen u. dergl. in gleichem annäherndem Sinne wohl
bedienen dürfen, ohne dadurch Veranlassung zu Begriffsverwirrungen zu
geben.
Eine andre Anordnung der äufsern planetaren Oberfläche als die,
welche das Neptunische Übergewicht jenes Wasserkreises bedingt, gewinnt
dieselbe durch das Übergewicht eines vorherrschend fortwährend wirksamen
Feuerkreises, nämlich durch das vulcanische Übergewicht auf der einen Seite
des Erdballs, von dem die andre gröfsere Seite desselben, wenn auch nicht
ganz, doch gröfstentheils befreit bleibt; und wenn auch bei ihren jetzt fried-
lichstillern Hebungen voll von Spuren solcher frühern analogen Thätigkei-
ten, doch nur einzelne, sporadisch zerstreute Gruppen derselben auch heute,
aber nur in periodisch unterbrochner Wirksamkeit sich zeigen.
Dieser Feuerkreis ununterbrochen thätiger Vulcanreihen, ist von einem
der ersten Geognosten unsers Jahrhundertsum das grofse Becken des so mäch-
tigen Ost-Oceans, oder der Stillen Südsee nachgewiesen, wo dieser nur zum
Theil mit dem so eben genannten gröfsten Kreise des Gestadegürtels zusam-
menfällt. Mit einem Theile desselben an den westamerikanischen und
den nordostasiatischen Gestade - Curven deckt er sich: in einem andern
Theile, dem südostasiatischen zieht er in verschiedenen Parallelen an ihm
auf den Reihen der Gestadeinseln vorüber, bis er endlich ganz von jenen
divergirend, gegen SO, in die Mitte der Südsee zurückweicht. Hierdurch
wird er zu einem, nicht dem gröfsten Kreise wie jener, sondern nur einem
kleinern Kreise des Erdenrundes angehörenden Kranze, der nur zum Theil
mit dem Gestadegürtel sich deckt aber in seiner Mitte, im Schoofse des Ost-
oceans, die Tausende von isolirten, emporgehobnen, kleinern basaltischen
Inselchen und Inselgruppen herbergt, die alle gleichartig, nach plutonischen
Gebirgsarten und Gebirgsformen, aber längst abgeschwächt in ihrer submarinen
Thätigkeit aus den Wassern hervorstiegen. Dieser fortwährend thätige Kranz
selbst, fällt im Osten der Südsee mit dem an 1000 Meilen langen Längen-
zuge der Cordilleren am Westrande des amerikanischen Continents zusam-
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 8
men, auf dessen Rücken Al. v. Humboldt einige 50 bis 60 noch feuer-
speiende Berge und’ Crater zählte, zwischen deren Intervallen noch viele
ungezählte sich anreihen. Auf der Westseite des Grofsen Ostoceans fällt
aber im Parallellismus mit den Küstenconturen des Australischen und Ost-
asiatischen Festlandes die Linie der Reihen -Vulcane die L. v. Buch nachwies,
auf den langen Normalzug der langgestreckten Gebirgsinseln. Mit gleich-
laufenden, gegen NW. gerichteten, oder unter sich parallellen Längenaxen,
ziehen diese, im Innern und Aufsern gleichförmig, ebenfalls an 1000 Meilen
weit von der Doppelinsel Neu-Seeland bis zu dem Nordende der Philippi-
nen mit einer Gabelung ihrer Direction in den Molukken, von 80 wüthen-
den Feuerschlünden, die nur an ihrer Ostspalte hervortreten, fortwährend
bewegt. Von da an schliefst sich in grofser convexer Curve der Kranz gegen
Nord über die Gruppen von Japan, den Kurilen, Kamtschatka, den Aleuten,
Unalaschka mit ihren noch bis zu einem halben Hundert thätiggebliebenen
Vulcanen, die, theils wie die australische Reihe, maritim, auf Inseln, theils
wie die amerikanische, continental, auf Festland, sich hinzieht. Derselbe
Kranz schliefst sich wieder andasNordende des Cordilleren-Zuges mit dem St.
Elias Vulcan und dem neben ihm sich erhebenden Cerro de Buen - Tiempo
an, so dafs der ungeheure Feuerkreis von mehr als 200 thätigen Vulcanen,
fortwährend in Wirksamkeit versetzt, wohl diesen Namen verdienen ma
8.
Nur im Süden bleibt der Ring dieses vulkanisch thätigen Feuer-
kranzes ungeschlossen, obwohl er im polaren Norden durch die Trennung
der Continente der Alten und der Neuen Welt, welche dort beinahe ver-
schwindet, nicht gehindert wurde in seinem tieferwurzelnden Zusammen-
hange von dem einen zum andern der grofsen Oontinente fortzuschreiten
und subterrestrisch zu verbinden, was maritim geschieden erscheint. Dort
convergiren allerdings auch diese Continente NO. Asiens und NW. Ameri-
ka's bis auf wenige Stunden Unterbrechung in der Cook-Behrings-Strafse,
und dies schon möchte auf die Gleichzeitigkeit der Genesis des Vulcankran-
zes, aus der mächtigen Erdspalte mit der Hebung und Aufschwellung ihres
im Rücken liegenden ganz flachen Continentes hindeuten. Bestätigung scheint
in der Südhemisphäre die entgegengesetzte, negative Erscheinung in der
grofsen Lücke des nichtgeschlossenen Ringes, zwischen den auf 1000 Mei-
len von einander abstehenden Südhörnern Amerika’s am Cap Horn und Süd-
Australiens in Tasmanien darzubieten, wo mit den Continentalbildungen auch
Philos.- histor. Kl. 1849. B
10 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
der sie begleitende Vulcankranz gänzlich verschwindet, wo nun, im Gegen-
satz des inselreichen Ost-Oceans im Innern des Feuerkranzes, der inselarme,
fast inselleere Ocean aufserhalb desselben Kranzes seinen Anfang nimmt,
und über den übrigen noch gröfsern Theil der Erde sich ausbreitet. Denn
erstaunen mufs man bei Durchmusterung der aufserhalb desselben liegenden
maritimen Seite der Erde so wenig Inselbildungen aus ihrem unendlich wei-
tern Schoofse hervortreten zu sehen. Während die Bande der grofsen äqua-
torialen Inselzone, die in der diagonalen Richtung der Ecliptik von den Phi-
lippinen gegen SO. bis zur einsamen Osterinsel mit ihren noch ungezählten,
dichtgedrängten Inselpunkten, die blaue Südsee durchzieht und belebt, wes-
halb man sie wohl mit einer sternenreichen Milchstrafse am Himmel vergli-
chen hat (deren Inselstrafse auch noch von einer zweiten, obwohl schwächern
Inselparallelle in weiterem, nördlichen Abstande, von der Japanischen Gruppe
an in gleicher Richtung gegen SO. bis zum colossalen Vulcan der Sandwich-
Gruppe begleitet erscheint), findet der Forscher nach Inselbildung dort,
aufserhalb des Feuerkranzes, ihre gröfste Armuth. Dem Seecapitän ist diese,
im Gegensatz jenes Inselreichthums, wohl bekannt. Der antarctische Welt-
umsegler konnte in der ganzen Südhemisphäre, südwärts der genannten
Lücke des Vulcankranzes, bis auf die jüngste Entdeckung des Victoria-Lan-
des mit seinen Vulkanen durch James Rofs, nur einzelne, vereinsamte Klip-
pen und Felsen, nur Splitter, die kaum Inseln zu nemnen sind, bis zu den
Klippen Alexander I. und Peter I. auffinden, und in dem grofsen Raume
des Südeismeeres den James Weddel (1822) durchschiffte, war keine ein-
zige hervorgehoben. Auch in den nördlichern Breiten des grofsen Indischen
Weltmeeres, zwischen West-Neuholland und SO. Afrika, sind die oceani-
schen Klippen Kerguelens, St. Paul und Amsterdam, als solche kaum des
Nennens werth. Das Inselpaar Bourbon und Mauritius ist von allen andern
verlassen. In dem atlantischen Weltmeere, aufser den antarctischen Klippen
von Sandwichland bis zur Neu Süd-Shettland Gruppe, zeigen sich nur in
dessen äthiopischer Breite, zwischen West-Afrika und Ost-Amerika, im
Süden des Äquators, die von einander weitabstehenden oceanischen Insel-
punkte: Trinidad, St. Helena, Ascension, die aus den gröfsten Tiefen des
Oceans die jemals gemessen worden, 14,550 F. Engl., also Montblanchöhe gleich
nach James Rofs erster, und nach dessen zweiter Messung sogar aus 27,600F.
I)
Tiefe emporsteigen mufsten, um an die Oberfläche des Meeres zu gelangen.
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 11
Erst im Norden des Äquators, als Antipoden der Südsee-Inseln,
treten wieder einige zahlreichere, aber immer engbeschränkte, centrale,
vulcanische Inselgruppen über der Meeresfläche hervor, wie in den Canarien,
Azoren, Faröer, bis nach Island hinauf, das jedoch nicht mehr den offenen
oceanischen, sondern den polaren Gestadeinseln zuzuzählen sein wird, wo
in der Nähe beider Pole, nordwärts mit John Mayen Insel und südwärts
mit Mt. Erebus, 12000 Fufs, wie James Rofs, der Entdecker von Victoria-
Land sagt, die Feuerbildungen in verjüngter Kraft und Thätigkeit wieder
ihr Territorium gewinnen, das eine lange räumliche Unterbrechung er-
litten hat.
Die hebende, sichtbar gewordene Feuer-Gewalt, die also aufserhalb
des grofsen Vulcankranzes aus der ungeheuersten Tiefe des Oceans nur auf
sparsame Eruptionsstellen concentrirt blieb, die aber um so gröfsere Insel-
gruppen hervortrieb, mufste sich einst in unendlich gröfserer Wirksamkeit
über den ganzen Boden des Südseebeckens verbreiten, weil aus demselben
aufser den sichtbaren Inseln auch eine Unzahl unsichtbar gebliebener aus
dem seichteren, mitemporgeschwollenem Seegrunde, als Untiefen, Bänke,
Klippen, Tafelinseln, sich nur so eben bis in die Nähe der Seeoberfläche
erheben konnten, wo die Tausende von Korallenbänken und Koralleneilan-
den, soweit die Undulationen der Fluthen reichten, sich auf ihnen ansie-
delten. Aber die hebende, unsichtbar bleibende Dampf- Gewalt auf diese
Tausende von einzelnen Punkten vertheilt, scheint doch zu ohnmächtig ge-
blieben zu sein, um das Ganze zu einem über der Meeresfläche sichtbar
werdenden Continente zu gestalten, dessen submarine Verbreitung nur der-
einst durch zusammenhängende Sundirungsreihen zu ermitteln sein wird.
Diese Wirksamkeit auf grofse Strecken, nicht blos auf einzelne Punkte
gerichtet, zeigte sich dagegen überall nach der Aufsenseite des Vulcankran-
zes, in der Hebung der sichtbar gewordenen Alten wie der Neuen Welt,
deren zusammenhängender, höchster Plateaubau seine gewaltigsten Stirnen
überall gegen den Vulcankranz emporthürmte; nach der entgegengesetzten,
von ihm abgewendeten Seite aber, nämlich gegen das Innere der Landwelt,
ihre Hauptsenkungen gewann, die alle gegen Norden, Nordwesten, Westen
und Nordosten in der Alten wie in der Neuen Welt, gegen den ihnen Nord-
Atlantischen Ocean und die arctische, polare Länderbreite des Planeten in
die gröfsten Depressionen übergingen. Unstreitig, weil dahinwärts die he-
B2
12 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
bende Gewalt nach oben in bestimmten Progressionen gegen die Mitte der
gemeinsamen Depression abnahm, desto mehr aber in derselben Richtung,
in horizontaler Dimension, über die polare Seite des Erdballs sich als seine
trockne, aber flache Erdrinde verbreiten konnte. So trat die grofse Conti-
nentalbildung im Gegensatz mit der grofsen Inselbildung des Planeten her-
vor, durch welche der Entwicklungsgang der Menschengeschichte, für Ver-
gangenheit und Zukunft, seine Grundanlage als Mitgift erhielt.
Auf der Westseite der Australischen Reihenvulcane, deren kein ein-
ziger auf dem westlich gegenüber liegenden, doch so nahen Boden des Fest-
landes bekannt ist, breitet sich das Flachland eines ganzen Erdtheils, die
grofse Niederung von Neuholland aus, zu deren massigen, grölsern Empor-
hebung die unter dem Südseebecken so thätige plutonische Gewalt schon
bei ihrem Entstehen viel zu abgeschwächt war, um sie höher zu heben. So-
gar das zwischen ihr und dem vorüberstreichenden Inselzuge von Neu-
Guinea beschlossene, so sehr seichte Korallenmeer (the Great Barrier),
konnte aus dem Seegrunde nicht mehr als trocken gelegter Landgrund em-
porgehoben werden oder sank wieder unter die Wellen zurück.
Dieses grofse Gebiet der australischen Depressionen eines ganzen
Erdtheils setzt auch weiter nordwärts des insularischen, sundischen Isth-
mus mit seinen vielfachen Durchbrüchen, zwischen Carpentaria und SO.
Malacca, auf asiatischen Boden, in den flachen Küstenländern von Hinter-
indien, Tunkin und Ost-China’s Seegestade fort, bis die hohe Anschwel-
lung des Centralplateaus von Asien in seinem Ostrande, an den Steilküsten
von Leaotong und Korea, der isolirten grofsen Vulcangruppe von Japan
gegenüber, und weiterhin ihnen die Grenze setzt.
Dieser Erscheinung ganz analog liegen auch in Süd- und Nord - Ame-
rika alle grofsen Depressionen des Erdtheils unmittelbar aufserhalb des Vul-
cankranzes des continentalen Cordillerenzuges, wie der durch ihn auf seinen
Schultern mitemporgetragenen, sehr hohen aber nur schmalen und langge-
zogenen Plateaubildungen. Innerhalb der Depressionen zeigt sich in ganz
Ost- Amerika, in seinem weiten Areal, kein Vulcan mehr, so wenig wie in
Australiens Flachland, eine merkwürdige Analogie; und die Senkungen der
grofsen Depressionen, wie ihre Stromsysteme zeigen, gehen hier nur nach
der Aufsenseite des Feuerkranzes, der in diesem Erdtheil ganz mit dem
grofsen Gestadegürtel zusammenfällt, dessen innere Seite steil zum Tief-
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 13
meere der Grofsen Südsee abstürzt, während die Aufsenseite der continen-
talen Depressionen überall in terrassirten Stufenländern sich gegen den
Äthiopischen und Atlantischen Ocean mit nur niedrigbleibenden Berggrup-
pen hier und da, verflacht.
Gehen wir nun von dieser beachtungswerthen Analogie der Stellun-
gen, der anliegenden Depressionen und ihrer Senkungen in beiden Seiten,
der Neuen Welt, der amerikanischen wie der australischen, gegen den stets
aus den tiefen Spalten seines Hitzheerdes, sich selbst wie seine Nachbar-
schaften neugestaltenden und hebenden, continentalen wie insularen Feuer-
kranz über, zu dem Gesammtbau des Alten Continentes.
Hier wiederholt sich dasselbe Gesetz der Anordnung des Ganzen in
der analogen Construction gemeinsamer Hebungen, Senkungen und De-
pressionen, nur mit den Modificationen, die aus seiner südwärts geglieder-
ten Form und aus der Entfernung seiner Südgestade von dem gegen Südost
in die Südsee zurückkehrenden Feuerkranze der insularen Reihenvulcane
hervorgehen mufsten, da der Normalzug seiner Gestadelinie von dieser Ab-
wendung vom Feuerkranze an nun gegen Südwest, der Richtung des Gro-
fsen Gestadegürtels, von Süd-China, Hinter- und Vorder-Indien, über
das Südende Arabiens, der Östspitze Äthiopiens und der ganzen weiten Süd-
‚ostküste Afrika’s, die Madagaskar-Seite entlang, bis zum Cap der Guten
Hoffnung folgt.
Hier ist es nun lehrreich für das Ganze, was Al. v. Humboldt für das
centrale, rhomboedrisch gestaltete Plateau Ostasiens zuerst nachgewiesen
hat, da dessen particulaires Verhalten sich in der Gesammterscheinung als
gesetzmälsig wiedererkennen läfst. Nämlich, dafs die Diagonale, welche
dieses Centralplateau von SW. gegen NO. durchsetzt und in seine nord-
westliche und südöstliche triangulairen Halben (die tibetische und die mon-
golische) theilt, zugleich die Axe der gröfsten Anschwellung des ganzen
Plateau's bezeichnet, der die gröfste Massenerhebung gegen SO. liegt, ihr
gegen NW. aber die gemeinsame Absenkung beginnt. Die gröfste Anschwel-
lung gegen SO. ist in der Hochfläche Tibets bis zu 14,000 Fufs, und in den
Gipfelerhebungen der Himalaya-Kette über 20,000 und 25,000 Fufs abso-
luter Höhe gemessen. Die steil gegen das südchinesische, hinterindische
und bengalische vorgelagerte Tiefland abstürzende Stirnwand dieser massi-
gen Erhebung scheint sich zu noch gröfseren Höhen, wahrscheinlich den
14 Rırren über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
colossalsten des Planeten, emporzuthürmen. Obwohl noch keine directen
Messungen dies darthun, so scheint aufser andern Gründen auch die gegen
Ost zunehmende Gipfelerhöhung darauf hinzudeuten, wie dies die jüngste
Höhenmessung des Kintschindschinga in Sikim, durch Colonel Waugh und
Hooker, zu 26,438 F. par. beweiset, der noch höher als Jawahir, Dhawa-
lagiri und Tschamalari in der südöstlichsten Steilwand des Himalaya - Zuges
emporsteigt, dem aber noch viele andere ebenbürtige an Riesenhöhe gegen
Ost zur Seite stehen.
Jenseit der diagonalen Axe der gröfsten Anschwellung des Central-
plateau’s, mit dessen mongolischer, nördlicher Halbe, beginnt aber dessen
gegen NW. terrassenförmig, in breiten und langgedehnten Stufen immer
niedriger werdende Senkung durch die ganze Alte Welt hindurch bis zum
Eismeer am nordsibirischen und nordeuropäischen Gestade.
Diese Senkung vom Südrande der hohen Kobi über Peking, 8000
F. über dem Meer, geht nach dem Nivellement der russischen Akademiker
in der Richtung gegen NW. durch die Mitte der Kobi in 5000, 4000, 3400,
2400 Fufs abfallenden Stufenhöhen, bis zur Tiefe des Baikalspiegels 1200,
und zu der noch tiefern des Dsaisang-Sees, an den Quellen des Irtysch, zu
nur 1000 F. Meereshöhe über. Diese Senkung, die ganze Ausdehnung des
alten Continentes verfolgend, schreitet gleichmäfsig gegen West in die grofse
und nun schon bekanntere Tiefe des Aral- und Caspischen Sees (— 72%; F.par.)
fort; sie erreicht um Tobolsk nur noch 100 F. Meereshöhe und ist längst
in die Grofse Depression der Alten Welt, und in der Mitte der ganzen tel-
lurischen Erdhalbe, nämlich in die Caspische und Pontisch-baltische Öst-
Europa’s übergegangen, wo sie dann noch weiterhin als flache Erdscheibe
des Polarlandes, in gleichförmiger Gestaltung und Einheit, in allen drei
Welttheilen (Asien, Europa und Amerika) den Nordpol umlagert.
Dasselbe Gesetz der Massenerhebung zu den gröfsten Höhen an den
Südoststirnen der Steilabstürze gegen den grofsen Gestadegürtel, sowie ih-
rer Senkungen nach den entgegengesetzten Richtungen, gegen das Innere
der tellurischen Seite der Erdhalbe zu, wiederholt sich nun auch in allen
gröfsern nnd kleinern zusammenhängenden oder abgerückten Plateaubildun-
gen in der Richtung des Grofsen Gestadegürtels, und läfst aus den analogen
Erscheinungen auf analoge Kräfte und Wirkungen bei der Entstehung zu-
rückschliefsen. Die Normaldirection der Axenanschwellung der Massener-
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 15
hebung Central-Asiens fällt aber mit der Allgemeinen Massenerhebung des
ganzen Erdballs in dieselbe diagonale Richtung für den ganzen Länderkreis
der grofsen Oontinente zusammen; so dafs in dieser particulairen Erhebungs-
Diagonale nur das Gesetz der Anschwellung der ganzen Erdrinde in der
Richtung einer allgemeinern Erhebungsdiagonale, der gröfsten und höchsten
Massen für den ganzen Erdball ausgesprochen erscheint, welche characte-
ristisch verschieden ist von der nicht selten diametral entgegengesetzten Rich-
tung der Partieularerhebungen der Gebirgszüge, die aus der Direction der
Spalten ihren Verlauf angewiesen erhielten, wie diese durch Elie de Beau-
mont systematisch und in chronologisch -geologischer Aufeinanderfolge zu
gruppiren versucht wurden.
Im Persischen Plateau steigt die Südoststirn in Belludschistan bis zu
der bedeutenden Höhe des Tafellandes von Kelat zu 8000 Fufs Meereshöhe
empor, während ihre nordwestliche Senkung schon in Ispahan auf die Hälfte,
in Teheran auf 3700, in Kom auf 2000 Fufs hinabgesunken ist, und nord-
wärts gegen die Bucharei und den Aral-See noch schneller abfällt, zum
Südende des Caspischen Sees plötzlich abstürzt unter den Spiegel des Oceans.
Das Plateau von Dekan erreicht gegen Süd in den Nilgherri, nahe dem Cap
Comorin, seine gröfsten Hebungen, im Plateau von Utacamund 9000 Fufs;
es senkt sich mehr und mehr gegen die Hochebene von Mysore, Malwa, Me-
war, nordwärts nach dem Vindhyan hinab bis zum Tieflande Sind, dessen
Nordende die Himalaya-Mauer entgegentritt. Ebenso hat das Plateau Ara-
biens, in Nedsched (d.h. Hochland), im Südostwinkel Hadramaut, Oman
und Jemen seine gröfste Höhe erreicht (die Weirauchberge von Makalla
5000, Dschebel Achdar in Oman 6000, Dschebel Taäs über Taäs 7000 F.
nach Botta); gegen Sanaa nordwärts schon zu 4000 Fufs, in der Nähe von
Mekka zu Taif auf 3000 Fufs in den gröfsten Höhen abgesunken, ist nach
der Bahrainküste des persischen Golfs und gegen Syrien das Tiefland gegen
den Schat el Arab und die mesopotamischen Flächen die ganze Erdfläche nur
noch in weiten Niederungen ausgebreitet. Selbst die Sinai-Gruppe, obwohl
in innerster Spaltung des Rothen Meeres, und nur eine particulaire Erhe-
bung mit geringer, nördlich angelagerter Plateaubildung, folgt dennoch die-
sem allgemeinen Gesetze. Auch sie hat ihre Steilseite zur gröfsten Höhe
gegen dieses Rothe Meer emporgerichtet, so wie, im weit colossaleren Maafs-
stabe, die ganze Massenanschwellung des südlichen und östlichen Erdtheiles
16 Rırren über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
Afrika’s in seinem Hochlande gegen die Seite des indischen Oceans das Ma-
ximum seiner Anschwellungen erhielt: (in den Schneebergen 10000 F.), am
Quellgebiet des Orangerivier wenigstens 6000 F. im Süd des Äquators, un-
ter diesen westwärts Mombaza bis zur Höhe der Schneeberge nach Reb-
mann’s jüngster Entdeckung, im Obern Habesch, auf Shoa’s Plateau um
Angololla 9-10000 Fufs nach Harris, und im nördlichen Habesch im Gon-
dar 7000 F. nach Rüppel (im Shamen 13000 F.). Die gröfste Senkung
Afrika’s geht bekanntlich nordwärts zur Depression der weiten Sahara und
der langen Tiefspalte des Nillaufes, also gegen das Innere der grofsen Ge-
sammt-Depression der ganzen tellurischen Erdhalbe (zum Theil durch das
Mittelmeer bedeckt), zu der ebenso die grofse Vertiefung des flachen Ost-
Europa, die Pontische, sich hinabsenkt, sowie die particulaire des Gebirgs-
landes von Mittel- Europa gegen die Ostsee und Nordsee.
Nur das System der Meridian -Gebirge ist es, welches diese Gesammt-
niederung der Nordwestseite des Erdballs unterbricht, da dieses bekanntlich
in den 3 grofsen Gebirgs-Parallelen, des Ural, der Scandinavischen Alpen
und der Alleghennys, diese Gesammtsenkung der Nordhemisphäre in ihre
untergeordneten Quartiere theilt, die bald mit Land-, bald mit Wasserflä-
chen bedeckt sind, und allen drei nördlichen Erdtheilen angehören. Die
für sich fortstreichenden Linien der freistehenden Gebirgsketten von O.n.
W., wie Kaukasus, Karpaten, Alpen, Pyrenäen, sind unabhängiger hervor-
getreten von diesem compacten Gesammtbau, dem nur die Randgebirge der
Plateau - Anschwellungen unterworfen waren; sie bilden für sich, zumal
gegen den nach Westen hin gegliederten Continent der Alten Welt, selbst-
ständiger hervorgetretene Systeme, welche den europäischen Erdtheil cha-
rakterisiren.
Wir haben bisher nur 5 bis 6 der auffallendsten äufseren, allgemein-
sten Anordnungen in der Physik des Erdballs angedeutet, insofern sich diese
in den Raumverhältnissen nachweisen und weiter verfolgen lassen, nur als
Thatsachen in den Gesammt-Erscheinungen der Erdrinde, ohne auf ihre
möglichen Ursachen oder auf die aus ihnen hervorgehenden Wirkungen im
Einzelnen überzugehen, denn diese sind leicht einzusehen. Aus dem letzte-
ren grolsen Gesetze der allgemeinen Depression ergiebt es sich zum Beispiel
zunächst für unsre Erdseite sogleich von selbst, wie dadurch die grofse zu-
sammengehörige Völkerfamilie der alten Cultur-Welt, nur mit geringerer
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 17
Zerstreuung nach den äufsern Gliederungen, nach ihren grofsen Zuglinien
im Maximum der räumlichen Annäherung der 3 Erdtheile auch zusammen-
geführt wurde auf den Einen grofsen zugänglichern und förderlichern Schau-
platz ihrer Thätigkeiten, der eben dadurch der classische Boden der Welt-
geschichte werden sollte, zu dem alle Bahnen des Völkerverkehrs, wie Flüsse
zu einem gemeinsamen Becken hinleiteten; weil die grofsen Depressionen
nach ihren gröfsten Ausdehnungen durch die Mitte der Alten Welt, von
Erdtheil zu Erdtheil, innerhalb gleichartiger Temperaturen von O. nach
W. (nicht wie in Amerika durch verschiedene von N. nach S. getrennte),
die Völkerbindungen und ihre Überlieferungen aller Art ermöglichten. Denn
nur nach der Aufsenseite blieb die Stirnwand der undurchbrechbaren Pla-
teauerhebungen, die zu schwer überwindliche, völkerhemmende, ja schei-
dende Naturform, wie sie selbst das schroffste Gegitter der innerhalb der
Senkungen erhobnen Gebirgsketten-Bildungen, die überall mehr oder we-
niger durchbrochen sind, dem Gange der Völkerentwickelung nicht ent-
gegenstellte.
Es lag hier nur daran, in der scheinbaren Regellosigkeit die Spuren
einer höhern Symmetrie und Harmonie hervorzubeben, von welcher die ele-
mentare, ungeübte Ansicht bei dem ersten Überblick keine Ahnung haben
kann, weil die Naturmannigfaltigkeiten, die schon aus diesem durch- und
übereinandergreifenden Netze von Normalen zu grofs ist an Besonderheiten
und daraus hervorgehenden Eigenthümlichkeiten (localen Individualitäten),
um ohne tiefer eingreifendes Studium auch begreiflich zu sein.
Und doch sind hier nur die grellsten Lineamente und Contouren be-
rührt, die von unzähligen feineren modifieirt werden; wir blieben jedoch
für's erste bei diesen stehen, weil ihr Netz den ganzen Erdball umspannt.
Gehen wir nun, im zweiten Theil unserer Bemerkungen, zu den Ge-
staltungen der Erdtheile über, welche für sich abgeschlossene Individuali-
täten der Planetenrinde bilden, die unter dem allgemeinsten Einflufs jener
Normalen stehen, aber deren jeder durch die ihm eigenthümlich gewordene
Plastik seinen besondern Character in sich trägt: so wird das, was wir Har-
monie in den tellurischen Bildungen in Beziehung auf den Gang. der Men-
schengeschichte und den progressiven Fortschritt in der Entwickelung des
Planetenlebens genannt haben, vielleicht noch klarer als aus früherem her-
vorgehen.
Philos.-histor. Kl. 1849. (6
148 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
Dafs schon in der ganzen Gruppirung der Massen des Erdsystems die
für alle Zeiten feststehende Gegeneinanderstellung der Erdtheile, die nicht
wie die rollenden Planeten-Glieder im Sonnensysteme, veränderte, wech-
selnde Stellungen einnehmen sollten, einen mit den Rotationen der Erde
harmonirenden Einflufs ausüben mufste, ergiebt sich schon aus den auch
historisch gewordenen Gegensätzen von Orient und Occident, die in fort-
schreitenden Übergängen sich über den ganzen Erdkreis verbreiten. Denn
dieser ist in dem Bewustsein der Völker gegen den Aufgang und den Unter-
gang, wie gegen den kalten Norden (Land der Hyperboräer) und den hei-
fsen Süden (der Äthiopen), längst vorhanden gewesen und geblieben vor der
namentlichen Absonderung von Erdtheilen. Wie die Zeit vom Morgen zum
Abend, von Hoffnungen zu Erfüllungen, den heifsen Mittag durchschreitet,
bis die alles beschwichtigende Nacht (gleich der polaren Erdseite) aufser-
halb jenes Verlaufs, als Gegensatz auftritt, ebenso liegen auch im Raume:
Orient in Asien, zum heifsen Libyen und dem Oceident in Europa, und
ebenso wieder die ganze Alte Welt gegen die Neue im Westen, als Orient
und Occident cosmisch vertheilt. Das hohe Alterthum und die Neuzeit, die
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, die Wiege der Völker, ihrer Geschich-
ten und Culturen, in dem Orient; der Fortschritt des entwickeltern Völker-
und Staaten-Lebens, wie des ganzen Ideenkreises und seiner Einwirkungen,
im Occident — Alles dies tritt nur im Causalzusammenhange und gesetz-
mäfsig mit der Gruppirung der cosmischen Weltstellung der Gesammtmasse
des Planeten hervor; selbst der Völkerstillstand im hellen, heifsen, geistig
trägen, materiell übervölkertem Sudan, wie die noch nicht geschehene Völ-
kererweckung im sparsam bewohnten, dunkeln und kalten Norden, stehen
damit in Einklang und werden auch fortbestehen, so lange nicht Kunstmit-
tel im Fortschritt der Menschengesellschaft erfunden sind, Naturhemmun-
gen und Naturimpulse völlig zu besiegen, und das Menschengeschlecht mehr
und mehr von den Fesseln der Natur, wie der heimatlichen Scholle zu be-
freien; wie schon durch die Nautik die Meereseinsamkeiten und Meeres-
scheiden überwunden, durch die Lenkung des Dampfes die Raumunter-
schiede völlig verändert, und durch die Colonisation und das Plantagewesen
die Gaben und Populationen der einen Seite des Erdballs in die andere
übertragen sind.
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 19
Jene Gegensätze gehen schon dem Chinesen in seinem Si-yu (Occi-
dens), der Sanskritwelt in ihrem Para (Prasier) und Apara, dem wahren
Morgenlande der alten Welt, auf, dessen Götter nur noch weiter im Osten,
wie Oannes der Chaldäer, Brahma der Hindu, gleich der Sonne dem Meere
entsteigen. Weiter im westlichen Fortschritt wiederholten sich dieselben
Gegensätze, wo der Grieche sein Anatolien (dvarorızn sc. Y&g«) in Asia mi-
nor, sein Hesperien in Italien, der Römer sein Morgenland in der Levante,
sein Hesperien am Westrande der Erde in Spanien und den Insulae fortu-
natae erkannte, wie der Araber seinen Occident, den el Magreb, ebenfalls
dort einzeichnete. Der Europäer rückt ihn über den Ocean nach der Neuen
Welt hinaus, so wie die mit ihm wandernden Begriffe, Anschauungen, Völ-
kerverhältnisse, deren räumliche Bedeutung aber mit dem Fortschritt der
historischen Ausgleichung dieser Gegensätze mehr und mehr schwinden mufs.
Das Land der sonnverbrannten Äthiopen wie der Hyperboräer der Home-
rischen Zeiten, im Süden und Norden des griechischen Archipels, ist längst
zurückgewichen, wenn auch dem Hindu sein Hyperboräerboden oder Nord-
land, Uttara-Kuru, bis heute geblieben und das äthiopische Libyen sich
zu einem ganzen Afrikanischen Erdtheil erweitert hat.
Diese an sich reellen Gegensätze mit ihren Naturverhälinissen, konn-
ten mit dem Fortgang der Geschichten, die in sie eingreifen, für die Völker
zu blos relativen Beziehungen werden, wo die Natureinflüsse der Erdräume
durch die Culturverhältnisse ganz andre geworden sind; daher hieraus auch
ein wesentlicher Unterschied der Methodik in der Behandlung alter und
neuer Geographie hervorgehen müfste.
Die cosmische Gruppirung und Weltstellung der Erdtheile wird im-
mer von Einflufs bleiben, wenn dieser auch in seiner einstigen, absoluten
Schroffheit durch den Fortschritt der Zeiten, wie z.B. der maritimen Welt-
verbindungen, grofsen Modificationen unterworfen war. Der classische,
räumliche Boden der Weltgeschichte in dem Maximum der centralen An-
näherung der drei Erdtheile der Alten Welt, vom Indus zum Tiberstrome,
und vom Nil zum Oxus und Tanais, wird jedoch für alle Hauptbegeben-
heiten des sich erst aus der Wiege der Völker entwickelnden Menschenge-
schlechts, denen er als gestaltende Folie unterliegt, in den Zeiten früherer
Jahrtausende auch der classische Boden bleiben, weil er eben der gestal-
tende war; aber die Civilisation hat den für gewisse Perioden bevorzugten
02
20 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
Räumen der einen Seite des Erdballs allerdings den allein herrschenden Ein-
flufs genommen und auf andre Räume übertragen.
Die verschiedenen Planetenstellen haben für die verschiedenen Pe-
rioden der Geschichte verschiedenartige Mitgift, Begabungen, Empfänglich-
keiten, aber auch eigenthümliche Entwickelungsfähigkeiten erhalten, die
erst mit dem Fortgang der Geschichten zur Anerkennung kommen können;
nur ein geringer Theil derselben hat sich erst in seinen Functionen für das
Weltganze offenbart; der Kreislauf ihrer Entwickelungen hat erst begonnen
durch die Vergangenheit einiger Jahrtausende sichtbar zu werden: der bei
weitem grölsere Theil liegt unsern Augen noch verschleiert. Die gröfsten
Tiefen der geistigen Natur des Menschen konnten sich in vielfachen Gestal-
tungen uns frühzeitiger offenbaren, weil wir ihr um vieles näher standen;
dagegen mufsten die göttlichen Geheimnisse des Planeten dem flüchtigen
Erdenbürger weit längere Zeiten verborgen bleiben.
Wenn in der Vergangenheit, zumal die Natur der Meere sammt ihren
Functionen, durch die Kunst der Nautik, — durch das Segelschiff, erst die
Systematik der Winde und der Meeresströmung, durch das Studium der Ha-
fenzeiten, die Erscheinung der Fluthen und Ebben, für das Ganze des Erd-
balls, und wie viele Productionen desselben erst spät in ihren Heilkräften
kund geworden; so haben auch gewisse bevorzugtere Striche der Länder-
theile durch die Begünstigung der Civilisation uns erst zu ihrer eigenen ge-
naueren Kunde geführt; der bei weitem gröfsere Theil der Planetenober-
fläche liegt in dieser Hinsicht aber noch brache, weil nicht blos die Wissen-
schaft, sondern auch erst der Geschichtsgang der Culturwelt selbst das
Räthsel der Naturgeheimnisse der planetarischen Localitäten zu lösen ver-
mag. Wir sind erst noch in der Erkenntnifs der Elemente der Entwicke-
lungen der äufsersten Oberfläche unseres Planeten befangen; in der Gegen-
wart treten uns so erst ihre geognostischen Verhältnisse aus den Tiefen
hervor; welchen Einflufs werden die noch nicht erschöpften Metalllager und
Steinkohlenfelder an so vielen Enden der Erde ausüben, welchen, die
Übersiedelungen, Colonisationen, Missionen der verschiedensten Art, auch
in solchen von der Geschichte noch unberührten Localitäten, oder, wo die
Aussaat der Cultur erst spärliche Ernten gab, wo ihre geistige Natur noch
keine belebende, das Ganze erwärmende Funken aus dem Boden geschla-
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. PA
gen, wie dies auf dem classischen Gebiet der Weltgeschichte doch an so
vielen Stellen schon geschehen war.
In welches neue Stadium der Bedeutung für die ganze planetarische
Oberfläche in ihrem Verhältnifs zum Menschengeschlecht sind nicht die Tief-
länder, die Ebenen, die Niederungen z. B. erst seit ganz kurzem getreten
durch die Eisenbahnlinien wie durch die Canalisation, die im colossalsten
Maafsstabe durch die Mitte der Erdtheile ausgeführt, nach einem Durchstich
des Isthmus von Suez die indische Welt an die südeuropäische heranrücken
würde, wie der Durchschnitt von Panama den Umfang des Erdballs um ein
Viertheil verkürzen und die chinesische Welt der westeuropäischen um an-
derthalbtausend Längenmeilen in näheren Oontact bringen.
Durch Dampfschifffahrt sind die Stromsysteme in unserer Nähe, wie
die colossalsten in jweitester Ferne, vom Ganges bis zum Missisippi, dop-
pelseitig rückläufig geworden; auf dem letztern schwärmt täglich eine Flotte
von mehr als 350 dieser Fahrzeuge in dessen wasserreichem Flufsnetze gleich
Weberschiffen umher, die überall neuen Ansatz bedingen, und durch einige
50 derselben ist schon die früherhin öde, vereinsamte, grölste Seegruppe
Nordamerika’s vom Obern- bis zum Erie-See in ein Culturgewässer ver-
wandelt, der halben Gröfse des europäischen mittelländischen Culturmeeres
gleich. Was die Zukunft hierin bieten kann, ist noch nicht vorauszuschen.
Eine Anlage zur Perfectibilität der verschiedenen Naturformen der
Planetenrinde, ein Fortschritt ihrer Organisation für das ganze Planetenrund,
wenn die Cultur sich in Harmonie mit der Natur zu setzen versteht, wäre
nun wohl nicht abzuweisen; sehen wir noch auf das, was in der besondern
Anordnung der Gestaltung der Erdtheile, im Einzelnen, in dieser Hinsicht
durch dieselbe fördernd oder hemmend, als Bedingung jener Entwickelun-
gen, characteristisch für sie sich hervorthut, wenn wir dies hier auch nur
flüchtig anzudeuten im Stande sind.
Frühere Erörterungen über die horizontalen Dimensionen der Erd-
theile überheben uns der Nothwendigkeit in das Specielle ihrer Verhältnisse
einzugehen. Es genüge hier daran zu erinnern, dafs bei den 3 Erdtheilen
der Alten Welt die vorherrschend ovale Ausbreitung Afrika’s, die rhombo-
@drische Asiens und die trianguläre Europa’s auch dreierlei Dimensionsver-
hältnisse derselben bedingen, deren gröfste Gleichförmigkeit in Afrika (gleiche
Länge und Breite in den Richtungen der Meridiane wie der Parallele) der
22 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs
gröfsten Differenz in Europa gegenübersteht, das mit doppelter, fast drei-
facher Länge von Ost gegen West mit stufenweis abnehmender Breite die
Spitze seines Triangels dem atlantischen Ocean zukehrt, ‚seine gröfste Breite
im Osten, im Zusammenhang mit Asien zeigt. Afrika, ein in sich geschlos-
sener, compacter Körperstamm, ohne alle Gliederung; Asien ein gleichfalls
compacter, aber minder geschlossener, mächtiger Körperstamm, mit reicher
und grofsartiger Gliederung gegen Osten und Süden; Europa, ein nach al-
len Seiten aufgeschlossener und nicht nur im Süden und Westen, sondern
auch im Norden wie im Innern gegliederter Körperstamm, dessen Verzwei-
gung gleiche Bedeutung, wie der Stamm, für den Gang seiner Qulturent-
8
wickelung gewinnen konnte, die, bei dem minder colossalen Areal und dem
85
stets überwiegenden Naturreichthum der gesonderten Glieder gegen den
Stamm, dessen Massen auch alle Vortheile der Gliederung zuführen konnte.
Asiens noch compacter Stamm, nicht wie der Europa’s nach allen Richtun-
gen gegen die maritime Seite aufgeschlossen, blieb in der Mitte des Conti-
nents noch unberührt von den Meereseinschnitten, wenn diese auch tief in
ihn eindrangen, aber doch keine harmonische Ausgleichung zwischen den
Gegensätzen von Meer zu Meer, und den ineinandergreifenden Thalformen
aller Art, wie dies in Europa der Fall war, herbeiführen konnten. Daher
blieb im centralen Asien noch ein mächtiger, langer und breiter Stamm die-
ses Erdindividuums (der compacten Masse von ganz Afrika nicht ungleich),
ausgeschlossen von dem Seegen seiner reichen Gliederung, die mit ihren
Ergebnissen diesen asiatischen Körperstamm noch nicht zu berühren und zu
durchdringen vermochte. Die reichste Gliederung des peripherischen Asiens
zeigt seine Südseite, die geringere die Nordseite, nicht ohne den dadurch
gewonnenen Vorzug oder Nachtheil in beiderlei Richtungen. Die Gesammt-
gliederung, obwohl die Einzelheiten derselben zum Theil selbst die Gröfse
von halb Europa haben, bleibt jedoch, dem Areal nach, weit gegen das
Areal des compacten Stammes zurück, daher diesem doch das entscheidend
hemmende Übergewicht in der geringeren Civilisation des ganzen Erdtheils
verblieb trotz seiner peripherischen aber unter sich auf den Peninsularsyste-
men gesondert gebliebenen, höhern Völkerentwickelungen.
Die gemeinsame, compacte Mitte des asiatischen Stammes blieb daher
die gleichförmige Heimath des Nomadenlebens der Völker, während auf den
durch die Natur reich begabten und mannigfach ausgestatteten Gliederungen
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 33
seiner Vorländer und Halbinseln, wie in China, Hinterindien, Vorderindien,
Arabien, Asia minor, und selbstin den untergeordneteren derselben sich über-
all Individualitäten in Land und Bewohner entwickelten, die aber mit ihren
gewonnenen Culturen noch nicht im Stande waren die Mitte des Stammes
zu durchdringen.
Die ganze Peripherie von Afrika blieb im Küstencontour ungegliedert,
daher die absolut-kürzeste Entwickelung seiner Gestadelinie gegen alle an-
dern Erdtheile, ein Verhältnifs, dem der geringste Contact seines Binnen-
landes mit dem Meere folgen mufste, so wie die gröfste Unzugänglichkeit
seiner Mitte. Da alle Individualisirung von Natur- und Völkerverhältnissen
seinem ungegliederten Stamme versagt war, dessen Enden nach allen Seiten,
wegen Dimensionsgleichheit seiner Gestaltung, der Mitte gleich nahe oder
gleich fern lagen, und die astronomisch ebenso gleichförmige Lage zu bei-
den Seiten des Aquators nirgends über die tropische und subtropische Kli-
matik in andere Gegensätze hinausragt, so sind alle Erscheinungen in diesem
Erdindividuum, dem wahren continentalen Süden der Erde, in dem alle
Culminationen der Tropenwelt ihr Maximum der Höhe erreichen, doch die
einförmigsten, gleichartigsten, wenn schon in sich eigenthümlichsten, doch
ohne Mannigfaltigkeit der Gegensätze geblieben. Daher in der Völkerwelt
dieses Erdtheils die patriarchalischen Urzustände in der menschlichen Ge-
sellschaft gänzlich aufser Berührung mit den Fortschritten der Zeit geblie-
ben, und ihr Asyl auch noch Jahrtausende hindurch für den Entwickelungs-
gang einer unentschleierten Zukunft aufbewahrt zu sein scheint. — Denn
nur generelle, keine individuellen Entwickelungen, weder in Pflanzen, Thie-
ren noch Völkerschaften oder einzelnen Menschen, zeigen sich auf diesem
stationären Boden; die Palme, das Kameel und ihre Gefährten, gleichmäfsig
an allen Nord- und Süd-, Ost- und West-Enden, und der vorherrschende
Negerstamm, die fast ausschliefslich einheimische Bevölkerung mit dem Ne-
gercharacter in allen Richtungen, in compacten Massen, wie der Erdtheil
selbst, in geringer, nur genereller, gemeinsamer Entwickelung zurückge-
blieben, ohne hervorragende Individualitäten von Culturen, Staatenbildun-
gen, Völkerschaften oder Individuen zeichnet ihn aus, selbst mit der gröfs-
ten Übereinstimmung ihres gemeinsamen Sprachstammes, der nur dialecto-
logisch verschiedenen Negersprachen. Nur sporadische Küstenentwicklung
macht an einzelnen begünstigtern Stellen des Erdtheils in schmalen Säumen
24 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
hiervon eine geringe Ausnahme, und auch diese ist meist nur durch Ansatz
und Anflug von Aufsen hervorgerufen.
Eine ganz andere Welt von Ercheinungen ist durch die reiche, wenn
auch nur theilweise peripherische Küstenentwicklung von Asien hervorge-
zaubert, die in ihren Gliederungen überall individualisirt hervortritt, da jede
derselben durch ihre continentalen gegenseitigen Absonderungen aber wie-
derum unter sich maritimen Vermittelungen eine andere, von der Natur in
Lüften, Bergen und Thälern, Strömungen, Meeresanspülungen, Windsy-
stemen, Productionen Ausgestattete sein mufste, und so auch in ihren Bevöl-
kerungen und Culturen eine immer andere werden sollte, so dafs hier die
Individualitäten der Chinesischen, Malaiischen, Indischen, Persischen, Ara-
bischen, Kleinasiatischen Welten characteristisch hervortreten konnten.
Aber in schroffem, gemeinsamem Gegensatz, gegen den noch geschlossenen
Körperstamm der centralen Mitte konnte ihr Culturfortschritt noch nicht das
seit Jahrtausenden gleichartig bewegliche Leben, von dessen Nomadischer
Bevölkerung, deren Vorfahren sich in weite westliche Räume zu verbreiten
hatten und deren Stellvertreter wir heutzutag Mongolen, Turkestanen, Kir-
ghisen, Bucharen, Kalmücken u.s.w. nennen, durchdringen, noch weniger
den Norden desselben Erdtheils erreichen, dem daher bei allem Glanz der
grandiosen, orientalischen Erscheinungen seiner ungeheuren Ausbreitung,
die harmonische Einheit einer gemeinsam gewonnenen Civilisation fehlt.
Hiezu trugen auch noch die historisch unüberschaulichen und um so schwe-
rer durch Civilisation überwindlichen, colossalen Naturformen, die orien-
talen, das Ihrige bei, sowie der überwuchernde Reichthum der mannigfal-
tigsten Naturgaben, die aus den climatischen Contrasten der Naturproduk-
tionen dieses Erdtheils in grellen Gegensätzen hervorgehen. Denn vom
Äquator bis in die hohe Polarzone hin ausgebreitet hat dieser die verschie-
denartigsten Pflanzen und Thiere erzeugt, jedoch nicht blos in der Richtung
der Breiten-Parallele, sondern auch, wegen seiner mächtigen Ausdehnung
von Westen nach Osten, in den Abständen der Meridiane, die in eine nicht
weniger grell contrastirende Ost- und Westwelt zerfallen, in der wir nur als
Repräsentanten characteristischen Gegensatzes die Chinesische gegen die
Vorderasiatische QCulturwelt hervorzuheben brauchen. Als deren Repräsen-
tanten in den Naturproductionen haben wir nur die Kokos- oder Sago-Palme
und den Tiger für den Osten, wie die Dattelpalme und den Löwen für den
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 25
Westen anzuführen, für die Nord- und die Südwelt Asiens aber die Con-
traste der Moosvegetation mit den Nadelholzwäldern und dem Rennthier,
gegen den Brotfruchtbaum, das Zuckerrohr, den breitblättrigen Pisang
mit den Elephanten, Rhinoceroten, Tapirgestalten und Affenschaaren im
Süden des Erdtheils.
Solchem unerschöpflichen Reichthum der Naturverhältnisse dieser
Seite des Planeten ist auch die Mannigfaltigkeit der Völkerverhältnisse dieses
Erdtheils in gleicher Art gefolgt, der trotz seiner Aussendung von Völker-
schaaren, vom Anfang der Völkerzüge an und in verschiedenen Weltperio-
den, zu seinen verschiedenen Nachbarerdtheilen hin, sich doch keineswegs
erschöpfen konnte, ja immer noch unendlich reich an einheimischen Völ-
kerindividualitäten geblieben ist, sei es in Racen, Gestalten, Farbe, Le-
bensweise, Nationalitäten, religiösen, politischen, geselligen Corporationen,
Staatensystemen, Culturen, Sprachstämmen, Völkerstämmen u.a.m. Woge-
gen kein anderer Erdtheil, rückwärts bis zu den Uranfängen der Menschenge-
schichte, auch nur Analogien aufzuweisen im Stande wäre, weshalb er auch
zum Vorgang und Ausgang für alle andern vom Anfange an ausgerüstet und
organisirt sein mufste.
Europa ist die breite Fortsetzung von Mittelasien, die aber in west-
lich fortschreitender Progression zu immer selbstständigerer, räumlicher
Entwicklung, und durch den relativ überwiegendsten Reichthum seiner Glie-
der selbst darin seinen orientalen Nachbarerdtheil überbietet, dafs keine
hemmende, centrale Form weder an Breite noch Höhe diese, absolut, gegen-
seitig von einander scheidet. Hierdurch ist eine alles ausgleichende, har-
monische Entwicklung des vielgespaltenen Erdindividuums möglich gewor-
den, die dessen Culturcharacter schon von der ersten Schöpfungsanlage an
bedingte, und der Harmonie der Form das Übergewicht über die Macht der
Materie verlieh, wodurch Europa, der kleinste der Erdtheile, doch die
Herrschaft über das Gröfste davon zu tragen bestimmt war. Wie Asien,
durch alle drei Zonen gelagert, an Massen und Naturgaben überwiegend,
durch seine plastischen Gestaltungen so ausgestattet war, dafs es mit seiner
Naturfülle und mit allen Schätzen die Nachbarerdtheile überschütten konnte
vom Anfang des Werdens an, ohne selbst zu verarmen; so war Europa in
den für seine Bevölkerung überschaulichern, auf die temperirte Zone be-
schränkten, reich gegliederteu, in allen maritimen und plastischen Formen
Philos.- histor. Kl. 1849. D
26 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. dufsenseite d. Erdballs
in einander wirkenden Gestaltungen, ohne die Extreme und jene Überfül-
lung, doch eben dadurch mit gröfster Empfänglichkeit für die Aufnahme
o?
des Fremden ausgestattet, und durch die Natur seiner Werkstätten, wie die
Energie seiner Völkergeschlechter, zur Verarbeitung des Einheimischen dazu
begabt, die planetarische Mitgift in dem Culturcharacter seiner Heimat zu
einer humanen Civilisation zu steigern, die durch ihre innerlich gewonnene
Harmonie, als Durchgangspunkt, eben die Gewähr trüge der möglichsten
Empfänglichkeit und Aufnahme auch für alle andern Völkergeschlechter der
weiten Erde. Dafs diese Bestimmung des unendlichen Reichthums der For-
men in den individuellen Entwickelungen und ihren harmonischen Ausglei-
chungen dieser Gesichtsseite, der europäischen, des Planeten, sich in dem
Fortgange der Weltgeschichte auch bewährte, ist bekannt; dafs sie aber
schon aus der ganzen planetarischen Anordnung seit der ersten Schöpfungs-
anlage auf allen Puncten hervorleuchtet, ist, da man in der Historie gewöhn-
lich dem Menschen, und bei dieser Erscheinung dem Europäer die Ehre
allein giebt, die ihm jedoch nur zum Theil gebührt, weniger beachtet. Wir
heben aus der grofsen Summe solcher leuchtenden Puncte hier, um der
Kürze willen, nur drei characteristische Verhältnisse in der Anordnung der
Grundgestaltung Europa’s hervor, nämlich dessen Küstenentwicklung, seine
nördliche Gliederung, seine Inselbildung.
I)
Die Küstenentwicklung Europa’s ist verhältnifsmäfsig zum Areal die
absolut gröfste aller Erdtheile; während Asien zwar 7000, da es fünfmal
gröfser als Europa, Afrika, obschon 3mal gröfser, doch nur 3800 Längen-
meilen erhalten hat, so würde dagegen Europa’s Gestade von 5400 Längen-
meilen, um den ganzen gröfsten Äquatorialkreis der Erde reichen, woraus
hervorgeht, dafs es, obwohl in der Mitte der grolsen Landwelt gelegen, doch
wegen seiner allseitigen Gliederung gegen die Seiten der durchbrechenden
Meeresgassen hin unter allen Erdtheilen der alten Welt dennoch in den re-
lativ reichsten Contact mit der Wasserwelt überhaupt getreten ist. Zu die-
sem Verhältnifs tritt seine begünstigte, maritime Stellung zu den Bewegungs-
verhältnissen der Meere und der Windsysteme, wie der vorwaltende Reich-
thum seiner Buchten- und Hafenbildungen, deren Aufgeschlossenheiten,
eine natürliche Folge seiner Gliederungen, ihm zu der Alles überflügelnden
Kunst der Nautik und der allgemeinen Beherrschung der Oceane verhalf;
in der, für die neue Zeit, die hafenreichste und gegliedertste Inselgruppe,
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 27
Grofsbritanien und Irland, voransteht, wie für die alte Zeit dem in sich
reichgegliedertsten Peninsularsysteme der alten Welt, Griechenland, in der
Blüthezeit, die Seeherrschaft des beschlossenen Mittelmeers zu Theil wer-
den konnte. Die subpolare Gliederung Nord-Europa’s durch die Binnen-
meere der Ostsee und Nordsee, wie des tiefeinschneidenden Weifsen Meeres,
zu den verschiedenen scandinavischen Vorländern, Halbinseln und Inseln,
hat dieser Nordseite des Erdtheils eine ebenso reiche Entwicklung gesichert,
wie seiner Südseite in den drei schön gestalteten und begabten Halbinseln
Griechenland, Ttalien, Spanien. Dem Norden Europa’s ist durch jene Scan-
dinavische Welt ein grofses Übergewicht über seinen asiatischen Nachbar zu
Theil geworden, dessen flache, sibirische Nordwelt durch die völlige Ver-
sagung einer analogen Gliederung, mit ihrer hemmenden Abscheidung von
der höher entwickelten asiatischen Südwelt, und der doppelt ungünstigen
polaren Unterstellung unter das hohe, nomadisch gebliebene Centralasien,
bei den unzureichenden Mitteln und Naturimpulsen einheimischer Begabung,
in seinem Fortschritt der Entwicklung und Civilisation auf den Nord-Osten
Europa’s angewiesen war.
Endlich so ist die Inselbildung Europa’s vor allen andern Erdtheilen
sehr ausgezeichnet zu nennen, insofern sie, als Gestadeinseln im Bereiche
des Gontinents, die trabantenartig umgebenden, oceanischen Erweiterungen
(als seine Seestationen), das Ganze auf gesteigerte Weise bereichern, da sie
in relativ bedeutendem Gröfsenverhältnifs zum Stamm und den Gliedern,
ein weites Areal mit sehr günstiger Oberflächenbildung für zahlreiche Bevöl-
kerungen und Culturverhältnisse darboten, die denen ihrer Gegengestade
analog, nicht blos zu räumlicher Verdoppelung, sondern noch weit mehr,
zu intensiv unendlich gesteigerter Entwicklung ein Vielfaches beitragen mufs-
ten. Denn nicht einzelne Inselfragmente oder langgereihete, oceanische
Felsenketten, oder schwerzugängliche, öde Pikgestaltungen sind es; denn
Südengland ist eine natürliche, analog gebildete Fortsetzung Nordfrankreichs,
ebenso Sicilien von Calabrien, Candia von Morea u.a.m. Um uns kurz zu
fassen sagen wir nur, man denke sich die Grofsbritannische Inselgruppe von
der Karte Nordwest-Europa’s weggelöscht, welche Verarmung in dessen
einheimischen wie transmarinen Entwicklungsgeschichten; ohne Seeland und
Fünen würde die Halbinsel Jütland’s zu einer blofsen Sandzunge; in der
alten Zeit wäre Roms und Italiens Geschichte ohne Siciliens Kornkammer
D2
38 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
eine ganz andere geworden, und mit Creta schlugen die Ägäischen wie die
Jonischen Inselgruppen die Brücken der Civilisation von Jonien und Vor-
der-Asien nach Griechenland und Hesperien.
Es würde uns hier zu weit führen, in die Folgen des völligen Insel-
mangels der Afrikanischen Gestade, denen selbst die grofse Madagascar, als
eine durch Meeresströmungen zu weit abgerückte, schon oceanische Insel,
nicht einmal angehört, sowie in die Specialitäten der übergrofsen Inselfülle
der südöstlichen malayischen, maritimen Erweiterungen Asiens, nämlich
der hinterindischen Sundisch- australischen Gruppe einzugehen, welche die
reichbegabteste an Individualitäten und die absolut gröfste des Planeten ist,
die in ihrer triangulären Ausbreitung an Umfang das Areal von Europa ein-
nimmt, und in ihrer langen Inselreihe der kleinen Sundakette jenen unter-
brochenen Isthmus nach Nord-Neuholland und Neu-Guinea hinüberschlägt,
der in seiner Stellung, zwischen 2 Continenten im Norden und Süden, eine
gewisse Analogie mit dem noch zusammenhängenden, dem amerikanischen
Isthmus von Panama zeigt. Wir bemerken nur, dafs die zu dicht gedrängte
und übergrofse Zahl dieser so reichbegabtesten, colossalen Inselbildungen
sie eben deshalb zu einem mehr für sich bestehenden insularischen Welttheil,
mit der einheimischen Bevölkerung, nämlich der der Malayen (in dem Sun-
dischen Polynesien), ganz selbständig zu sein auch befähigte, als dafs sie nur
als abgesprengte, abhängige Glieder des benachbarten Continents und seiner
Gestadewelt betrachtet werden könnte, die dieser Selbständigkeit wegen,
ihrer Nachbarschaft ungeachtet, eben darum auch von ihr weniger bereichert
ward, als dies bei andern vom Continente abhängigeren Gestadeinseln der
Fall sein mufste.
Die Bemerkung, die schon Strabo bei Gelegenheit von Sicilien ge-
macht hat, dafs die Gliederungen gegen die Oontinente, insbesondere die
Inseln, die am reichsten ausgestatteten Theile der Erde seien, bestätigt sich
bei dieser Inselgruppe von Ceylon an bis Neu-Guinea, so vollständig, dafs
jeder der einzelnen von diesen gleichsam ein individueller, characteristischer
Naturschatz zur Function für den grofsen Entwieklungsgang des planetari-
schen Weltverkehrs in der Äquatorialzone mitgegeben erscheint: so die wei-
fsen Elephanten, Perlen, Zimmtwälder und Rubine auf Ceylon, die colos-
salsten Thierformen der Rhinocerote, Tapire, Orangutangs, und die edel-
sten Farbestoffe und Holzarten auf Sumatra, in Banka, das reichste
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 29
Zinnland der Erde; Borneo, das Land des Goldes, der Diamanten und
hundert andrer Kostbarkeiten; Java, schon bei Ptolemaeus die Gersteninsel
mit den reichsten Nahrungsstoffen in Kornarten, Brotfruchtbaum, Zucker-
rohr; die folgenden Inseln, jede mit ihrer eigenthümlichen Gewürzart, bis
zu den bekannten Molucken und Neu-Guinea, wo der ächte Kampherbaum,
die Sagopalmen, die Kohlpalmen, mit den reichsten Nahrungsstoffen, die
Paradiesvögel und so viele andre der edelsten Productionen aller drei Na-
turreiche, ihre einheimisch, ursprünglich localbeschränkte, nicht auf das
continentale Asien übergehende, ganz individuelle Heimat erhalten haben.
Hätte da, wo das physikalische Leben des Erdballs in seiner höchsten Po-
tenz erscheint (im innigsten Verein der Wasser-, Land- und Tropenwelt mit
den reichsten Productionen aller 3 Naturreiche), auch die höchste Steige-
rung einer Culturentwicklung der Völker mit einer Planetenstelle zusammen-
fallen sollen, so würde hier das Locale dazu gewesen sein. Das Gesetz,
das die Geister lenkt, war aber ein andres als das der Physik der Körperwelt.
g, ohne allen continentalen Zusam-
menhang, das allgemeine Princip der Erdanordnung geworden, wie wir es
Wäre ähnliche insulare Zerspaltun
hier in der höchsten Steigerung erblicken (wo dann z.B. Europa’s Continent
von 150,000 Quadratmeilen etwa in 15 grofse Inseln, wie Borneo, Suma-
tra, Celebes, oder wie Anadoli oder Spaniens Areal sich zerspalten haben
könnte), so würde allerdings gänzliche Unverbundenheit für die Völker der
Erde daraus hervorgegangen sein. In Europa’s Gestaltung finden wir dage-
gen die günstigste Berührung und Durchdringung, wie die vollkommenste
Ausgleichung der Gegensätze der flüssigen und festen Formen auf dem gan-
zen Planetenrund realisirt, ohne die Nachtheile jener zu starken Gliederung
oder Zerreilsung der Sundischen Welt, welche den vollkommensten Gegen-
satz zu dem Mangel aller Gliederung in der gröfsten Concentration der Mas-
sen zeigt. Zwei Extreme von Länderbildungen, in der Zerreifsung der
Planetenrinde jenes Polynesiens, wie in der compactesten Massenanhäufung
Afrika’s, die beide ungleichartig und entgegengesetzt auf Natur- und Völker-
verhältnisse, aber beide hemmende, nachtheilige Einflüsse auf die Entwik-
kelung der ursprünglichen Bewohner ihrer Räume ausüben mufsten. Dort,
im Maximum der Zerspaltung, die Malayenvölker der Sundagruppe, der am
meisten in sich feindlich zerrissene Völkerstamm der Erde; hier, im Maxi-
mum der compactesten Massen, auch die dichtgedrängtesten, schwarzen
s
30 Rırren über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
Völkergruppen in den einartigsten Naturumgebungen und am einförmigsten
wie am wenigsten entwickelt.
Beides relativ ungünstigere tellurische Formen für primitive Völker-
entwicklung aus dem Zustande der Rohheit heraus — zwischen beiderlei
Extreme, hinsichtlich dieser Formen nicht hemmend, sondern fördernd,
wurde Europa gestellt, das auch durch diese Mitgift, wie die seines gerin-
gern, überschaulichern und daher historisch frühzeitiger zu beherrschenden
Areals, durch Küstenentwicklung, Gliederung, Insulirung, zu jenen oben
bezeichneten Stellnngen die Vervollständigung aller räumlichen Naturbedin-
gungen erhielt zur frühzeitigsten Realisirung seiner schon in der Uranlage
bedingten planetarischen Function. Nämlich als Erdindividuum, wenn schon
das scheinbar ärmere an frappanten Naturschätzen, doch eine verarbeitende
Werkstätte aller Gaben und Überlieferungen der Alten Welt, aber zugleich
auch der geistig gesteigerten, das gesammte Menschengeschlecht umfassen-
den und organisirenden Völkerthätigkeit zu werden, in der zweiten Hälfte
der Zeiten für das ganze, weite Erziehungshaus der Alten wie der Neuen
Welt, weil sie, da die Werkstätte für Alles am empfänglichsten war, auch
am freiesten von den Naturgewalten und Naturfesseln der besondern Loca-
litäten des Erdballs sich bewegen lehrte, und ihre Bevölkerungen am hu-
mansten sich entfalten konnten.
In dem Causalzusammenhange der Erscheinungen, welche uns Natur
und Geschichte zeigen, wird bei einer höhern Bestimmung des Planeten,
die sich eben in jenem historischen Zusammenhange offenbart, auch eine
höhere planetarische, nicht blos physicalische Organisation desselben vor-
auszusetzen sein; eine specifisch andere, als die bei den von ihm getragenen
und auf ihm sich bewegenden Organismen, die nur für eine kurze Dauer
ihr Dasein auf ihm erhielten, welche die seinige für alles irdische Dasein,
für alle Zeiten überbietet. Wenn daher die in den übrigen Anschauungen
gewonnene Begriffswelt des Menschen in der Anschauungsweise seiner un-
symmetrisch-chaotisch scheinenden Aufsenseite übersichtlich keine Befrie-
digung finden kann, sondern nur unmittelbar sinnverwirrend berührt wird,
so liegt dies nicht in dem Mangel einer systematischen Anordnung seiner
räumlichen Verhältnisse, die nur in einem tieferen Grunde erforscht wer-
den kann.
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 31
Eben in der Ungleichheit der Areale wie der Formen, in dem schein-
baren Durcheinander und Gewirre für den ungeübten Blick, liegt das Ge-
heimnifs der systematischen, innern, höhern, planetarischen Anordnung
einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Kräften und ihrer unsichtbaren, in-
einandergreifenden Wirkungen, durch welche Natur und Geschichte ihren
gestaltenden Einflufs gewinnen, gewissermafsen analog der physiologischen
Thätigkeit, an welche das Leben der Organismen bei Pflanzen und Thieren
gebunden erscheint.
Eben in der ungleichartigen Vertheilung und ungleichen Verbreitung
der Länder- und Wasserflächen liegt, wie in den wechselnden, nothwendig
sie begleitenden Temperaturen und scheinbar regellosen Windbewegungen,
so auch in jenen ein systematischer Grund ihres allseitigen, Alles durchdrin-
genden, gegenseitigen Einflusses; in den abweichenden Arealgröfsen der
Erdtheile liegt ein Hauptgrund zu der Macht der Bevölkerungen und der
Beherrschbarkeit ihrer Einflüsse; in dem scheinbar zufälligen Nebeneinan-
derliegen der Massen ein höheres cosmisches Gesetz der Weltstellung, das
den ganzen Entwicklungsgang des Menschengeschlechts bedingen sollte; in
der scheinbar blos physischen Abtrennung der Alten von der Neuen Welt
und der Continente von den Inseln, eben das Motiv einer allseitigen Ver-
bindung; in der ungleichen Begabung der Localitäten der mannigfaltigste
Impuls zur Entwicklung und des Weltverkehrs; in der Beschränktheit des
europäischen Areals und der Harmonie seiner unscheinbaren Formen die
Bedingung seiner Herrschergröfse wie seiner Freiheit.
In Zahlen ausgedrückt können nur direct materielle Verhältnisse be-
zeichnet werden, wenn wir sagen: Europa mache von Asien nur £, von
Afrika etwas über !;, aus; Amerika stehe an Gröfse zwischen beiden, Austra-
lien unter Europa, das von den grofsen Continenten etwa ‚}; von allen Län-
derflächen, mit den Inselräumen nur etwa }; ausmacht. Aber diese abso-
luten Raumverhältnisse sind es nicht, die in der Geschichte der Erdtheile
den Ausschlag gaben; hiezu gehören auch die relativen und ihre Anordnun-
gen, denn das eine ;{, Theil wurde zur vorherrschenden Gröfse der übrigen
2% Theile in der zweiten Hälfte der Zeiten.
Zu den verschiedenen Bedingungen dieser Erscheinung kam, als eine
der wichtigsten in Beziehung auf räumliche Gestaltung, auch die Form, und
zumal der verschieden überwiegende Werth der Erdtheile nach ihren rela-
32 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs
tiven Verhältnissen von Stamm, Gliederung, Insulirung, welche etwa fol-
genden Zahlenverhältnissen entsprechen:
Stamm Gliederung Insulirung
bei Afrika wie 1 0) En
bei Asien 4 1 L
bei Europa 2 1 en
Doch dies sind nur Formeln, kürzeste Ausdrücke, welche die physischen
Functionen der verschiedenen Räume unsers Planeten nach der horizontalen
Gestaltung seiner Oberfläche bezeichnen können, für deren Verhältnisse wir
leider noch keinen bestimmten Kanon besitzen.
Ganz andere Verhältnisse in den räumlichen Entfaltungen bietet Ame-
rika, die Neue Welt, als Erdindividuum, indem es die Gegensätze und die
Verdoppelungen der Formen der Alten Welt wiederholend, doch in andern
Normalrichtungen, nicht von O. nach W., sondern von Nord nach Süd,
in sich vereinigte. Da wir dies schon anderwärts in der Characteristik des
Ganzen nachgewiesen und gezeigt haben, wie der Norden Amerika’s durch
seine reichste polare und nordöstliche Gliederung ein grofses Übergewicht
über das Sibirische Nordasien davon trug; durch seine innere orographische
und hydrographische Entwicklung und allseitige Radiation seiner Stromsy-
steme aus gemeinsamen (uellgebieten ohne hemmende Plateauformen, durch
seine doppelten Binnenmeere im Süden und Norden, na Analogie
mit Europa’s Gestaltung als Mitgift erhalten, dessen reichste Gestadewelt
mit Hafen und insularer Fülle gegen die atlantische, also europäische Oul-
turseite der Alten Welt gerichiet ist, mit der auch das maritime Gängelband
der Völker, die Meeresströmung, in doppelten Hin- und Herwegen beide
Nord - Atlantische Gestadeseiten in natürliche gegenseitige Verbindung setzte;
so können wir, für diesmal, hier durch einige allgemeine Resultate schon
zum Schlufs unsrer jetzigen Betrachtung gelangen.
Nord-Amerika war durch seine maritime Lage zur nothwendigen,
wiederholten Schiffer-Entdeckung von Europa (nicht von Asien) aus, be-
stimmt, von wo aber, durch Handreichung polarer Vorländer, wohl eine
Bevölkerung kommen konnte. Durch die günstigste Hafenbildung, Insuli-
rung und Küstenstellung gegen die nordostatlantische Westseite Europa’s
mit analogen Temperaturverhältnissen, wurde das so hafenreiche Ostgestade
Nordamerika’s, von Anfang an, ganz vorzüglich am empfänglichsten ausge-
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 33
rüstet für die Aufnahme einer europäischen Civilisation. Die flache, im
verjüngteren Maafsstabe realisirte, plastische Modellirung des Nordameri-
kanischen Stammes, seines Binnenlandes, analog dem europäischen, mit nach
allen Seiten aus der gemeinsamen Mitte sich sanft senkenden Stufenländern,
konnte diese Civilisation auch allseitig, ohne Hemmungen, ihren Fortschritt
von Ost gegen West sichern.
Mit den nordwärts sanft sich senkenden Stufenländern schiffbarer
Stromsysteme nach der polaren Seite, zu der reichsten Inselgruppirung und
Gliederung im Polar-Meere, ist zugleich die Hinweisung gegeben, dafs diese
Planetenseite noch mehr als Europa, dazu berufen ward die Cultur des Men-
schengeschlechts am frühzeitigsten und meisten gegen den Norden der Erde
zu verbreiten. Schon heute, nach so kurzem Verlauf der Zeiten, ist die
Civilisation der Westküste der Grönlandsgruppe bis zu 70°NBr. vorgedrun-
gen; die dortigen Eismeere durchschwärmen schon alljährlich Fischer und
Schifferflotten, die noch vorhandenen Hemmungen der Natur werden nach
Jahrhunderten der hinzugetretenen Kunst der Civilisation nicht unüberwind-
bar bleiben.
So war das früherhin Terra incognita gebliebene Südende Australiens
der Centralverein des gröfsten Hafenreichthums im kleinsten Umkreis der
ganzen Erde, die Tasmania-Gruppe, als Mittelpunkt, mit ihrer nächsten
Hafen- und Buchtenumgebung, dazu längst vorbereitet und organisirt, im
kürzesten Verlauf weniger Jahrzehende, die Südhemisphäre in ihren weitesten
Umkreisen neu zu beleben. Beides jedoch nur in Folge der Rückwirkungen
von Europa.
Der Norden Asiens war durch die Natur ursprünglich auf das Quell-
land seiner Stromsysteme, auf Centralasien in seinen Civilisationsanfängen
angewiesen, von woher er auch seine Bevölkerungen erhielt, bis ihn der
Fortschritt der Culturverhältnisse seines Nachbarerdtheils von Osteuropa her
zu Theil werden mufste, da das Meridiangebirge des Uralsystems hier keine
Hemmung, sondern, durch Metallschätze, eine Vermittlung ward. Raum-
verhältnisse und Weltstellung waren die Grundlage, die einst, vom Westen
Asiens, durch ein gleichartig das Innere der 3 Erdtheile bespülende Mittel-
ländische Meer auch der Entwicklung Süd-Europa’s zu Gute kamen; doch
nur ein temporäres Verhältnifs, das in neueren Zeiten zu einem rückwirken-
den werden mufste.
Philos.-hist. Kl. 1849. E
34 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs
Jedem der Erdtheile war schon durch seine Gestaltung und Stellung
vom Anfang des Werdens an, als Organ des planetarischen Organismus, eine
eigenthümliche Function in dem Gange der Weltentwicklung zugetheilt.
Asien wurde in seinem Süden und Osten auf seine eigenen Gestade
angewiesen zur höhern Entwicklung, wo seine reichsten Gliederungen, wo
demnach Jahrtausende hindurch die Indische Welt den belebendsten An-
ziehungspunkt darbot.
Die Form der begabtesten Gliederung der 3 Culturhalbinseln Süd-
Asiens, die beiden Indischen und die Arabische, wiederholt sich, wenn
schon in kleinerem Maafsstabe, an der Südseite Europa’s, an dessen 3 an-
ders gestalteten, aber doch auch peninsularen Bildungen: Italien in der
Mitte, Griechenland und Spanien zu beiden Seiten. Nur sind diese nicht
mehr in der tropischen Nähe des Äquators, sondern um 20 Breitengrade
weiter in die gemäfsigte Zone hinaufgerückt, wodurch ihre Functionen für
einen andern Länder-, Völker- und Ideenkreis schon ganz andere werden
mufsten.
Beide Gruppen, die in SO. Asien und die westlichere in Süd-Europa,
jede von 3 Culturhalbinseln mit individueller und doch gemeinsamer ana-
loger Ausstattung physischer und geistiger Kräfte, gehören zu den gröfsten
Bereicherungen der Südenden der Erde. Durch sie hatten Asien in der
heifsen Zone, Europa in der gemäfsigten, für die Culturanfänge der Men-
schengeschichte die reichste planetarische Mitgift in der Gliederung und Ent-
wicklung erhalten, wie sie in dem Norden Amerika’s und dem Süden Van-
diemensland’s oder Tasmaniens gegen die polare, arctische wie antaretische
Zone hin, für die Forisetzung der Zeiten im Schoofse des Planeten noch
verschleiert, doch nicht mehr verborgen liegt und schon ihre Keime treibt.
So läfst sich schon gegenwärtig das dereinstige Übergewicht des noch
jugendlichen Amerikanischen Doppelcontinents in seiner wahrhaft colossalen
meridianen Entfaliung zumal Nord-Amerika’s, zunächst in der Weltstellung
seiner südlichen Gliederungen, über die Halbinselbildungen Südasiens und
Südeuropas leicht voraussehen, da sich dies schon gegenwärtig in elemen-
taren Zügen bemerklich macht, wie es aber dereinst noch weit glänzender
hervortreten mufs, wenn sein südlicher Nachbar, gleich dem nördlichen,
in dem Fortschritt der Civilisation und der Cultur das Gleichgewicht errin-
gen lernt. Denn wenn die südlichen Halbinseln Asiens sich, zum Theil we-
und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 35
nigstens, nur in einen insel- und menschen-leeren Indischen Ocean aus-
dehnen, die südlichen Halbinseln Europa’s aber nur meist einem unwirth-
baren und schwer besiegbaren Libyen, Algerien, Mauritanien sich entgegen-
strecken; so breitet sich dagegen vor den südlichen Gliederungen Nordame-
rika’s (Carolina, Georgia, Florida, Louisiana, Texas, Mexico, Californien)
ein von der Natur ebenso reichlich ausgestattetes benachbartes Gegengestade,
ja das ganze dahinterliegende tropische und subtropische Süd-Amerika aus,
das, wie in der Vorzeit Europa für das früher herangereifte Asien als des-
sen aufsteigender Occident im Westen vorlag, so, dort dem vorangeschritte-
nen Norden Amerika’s die Aussicht auf eine neue, strahlende Welt der Zu-
kunft im Süden gestellt ist. Für beide wird die vermittelnde Gruppe der
Antillen mit dem Fortschritt der Zeiten gegenseitig noch mehr die Hände
reichen, als dies heute der Fall ist.
Wenn die Bevorzugung der Alten Welt vergangener Jahrtausende in
ihrem immer neu sich gestaltenden, historischen Fortschritt von OÖ. nach W.
durch analoge Länderräume und Temperaturen hindurch, aus einem Orient
zum Occident, wie in Bevölkerungen, Verhältnissen und Culturen aller Art,
dem Amerikanischen Erdtheile versagt war durch die äufsere Anordnung
des Planeten: so wurde dieser dagegen entschädigt durch die in der Grund-
anlage bedingte Möglichkeit eines frischern Entwicklungsprocesses in der
entgegengesetzten Hauptrichtung des Planeten, nämlich gegen einen Norden
und Süden.
Die historische Ausgleichung dieser Gegensätze durch den ganzen gro-
fsen Wechsel der Climatik von Pol zu Pol, durch alle temperirte und tro-
pische Länderräume hindurch, wurde ihm, für die Entwicklung des ganzen
Menschengeschlechts, zur völligen Bemeisterung seiner irdischen Heimat,
als eine neu zu lösende, allerdings schwierigere Aufgabe für künftige Jahr-
tausende gestellt, wozu ihm aber die durch vorangegangene Jahrtausende
geschaffenen Kunstmittel zum Siege über die Natur aus der Alten Welt, als
Mitgift für die Neue Welt, bei ihrem Werden, schon in der Wiege ihrer
Geschichte mit überliefert wurden.
Die reichere Ausstattung so mancher Stellen des Planeten durch die
formalen Verhältnisse, kann erst mit dem Verlauf der Zeiten auch auf die
minderbegabten oder auf die historisch noch brach liegenden übertragen
werden.
E2
36 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite u. s. w.
In welchem Maafse dies durch den Fortschritt planetarischer Entwick-
lung geschehen kann, ist uns einerseits schon durch den Gegensatz der Alten
und Neuen Geschichte offenbart: auf die schlagendste und grandioseste
Weise in der Belebung und Befruchtung, welche wir durch die Kunst der
Weltschiffahrt auf die ganze Gestadeseite der Continente und auf alle ocea-
nische Inselgruppen der Wasserwelt übertragen sehen, erzeugt durch ein
Element der europäischen Culturwelt.
Andrerseits läfst die gröfsere Empfänglichkeit und mit jener wettei-
fernde Perfectibilität der Landwelt,. nämlich der trocknen Seite der Pla-
netenrinde, der continentalen im engern Sinne, kaum einen Zweifel mehr
übrig, dafs auch auf ihr die Möglichkeit gleichgrofsartiger Umwandlungen
durch Kunstmittel gegeben ist für neue Functionen derselben in dem Ent-
wicklungsgange der Menschengeschichten.
— > —
“
Die griechischen Eigennamen mit KALOz im Zusammen-
hang mit dem Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen.
“Von
H" PANOFKA.
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 20. December 1849.]
\ , J \ \ FE, 2) 7 Qr
IaAaıa magole, OrL AaAETE TE ARE EITiV omn Eye Mae *
\ on 4 \ " N Er E U > e q A, ’ A Ey .S
za On AR megL FUv Ovomaruv OU olımgov TUYYaVvEr oV [Anja
Plat. Cratyl. 2. p. 384b.
As in der ersten Periode der Ausgrabungen bemalter Thongefäfse hie
und da über oder neben den Malereien derselben die Inschriften KALOZ
und KANE, so wie die vollständigeren KALOZ HO MIAIZ und KALE HE
MAIZ, oder dasselbe KALOZ und KALE mit vor- oder nachgesetztem männ-
lichen oder weiblichen Eigennamen zum Vorschein kamen: machte sich
unter den Archäologen (!) die Ansicht geltend, dafs die Beiwörter z«Aos und
»aAe wörtlich als schön mit Bezug auf vollendete Körperbildung(?) aufzu-
fassen seien, und auf Empfänger oder Empfängerin des Gefäfses sich bezie-
hen. Eingedenk der unzweideutigen literarischen Zeugnisse (?) zu Gunsten
(') Keine Beachtung verdient des Hrn. Vivenzio (Lett. all’ abb. Guattani Memor.
Enciclop. 1805, 13) von Hrn. v. Italinsky getheilte Meinung, der Töpfer habe z«Aos
über die Figur gemalt, welche während der Ausstellung seines Werkes den öffentlichen
Beifall fand. Denn dieser Ansicht widersprechen sowohl die Vasen mit z«Ae neben ge-
malter männlicher Figur, als die Trinkschalen mit weiblichem Bildnifs und drunter stehen-
dem männlichen Eigennamen mit z«ros (siehe unsere Taf. IV, 13).
(?) Mazocchi Tab. Heracl. 138: vom Künstler oder Vasenbesitzer ist dieser galante
Zuruf auf den Gegenstand seiner Liebe aufzufassen. Böttiger Vasengemälde III, 20 pflichtet
dieser Ansicht bei. Millingen Peint d. Vas. Grecs (Rome 1813) Introd. p. II. und p. XI.
bezieht den Eigennamen auf den, welcher die Vase geschenkt erhielt, und das z«Aos auf
Körperschönheit.
(°) Schol. zu Aristoph. Vesp. 97. Xanthias:
\ \ nn x El y ’
za vn Ar vv on YE moU YErygaljaevov
38 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
hellenischer Sitte den Namen der Geliebten mit beigefügtem »aAes in die
Rinden der Bäume, Mauern und Thüren der Häuser, und wo es sonst an-
ging, einzukratzen, trugen diese Alterthumsforscher um so weniger Bedenken
die genannte Gattung epigraphischer Vasen als Pfänder der Liebe zu
betrachten, je unleugbarer die Ausbreitung der Männerfreundschaft in Hellas
neben den Liebesverhältnissen zum schönen Geschlecht, sie mochten dem
ehelichen, oder freieren Bunde vorangehn, oder zur Seite stehen, Anlafs
zu dergleichen Geschenken darbot.
So oft die Bilder der Vasen mit diesen paederotischen, hetärischen
oder gamelischen Beziehungen, welche die Anwesenheit eines z«Aos oder
»aAe vorauszusetzen geneigt machte, in Einklang stehen: dürfte diese An-
sicht von der Bestimmung solcher Gefäfse keinem erheblichen Widerspruch
ausgesetzt sein. Allein es bleibt eine viel gröfsere Zahl anderer mit gleichen
Inschriften versehener Vasenbilder übrig, welche den Gedanken ähnlicher
Liebesverhältnisse kaum zulassen. Dieser lezteren kömmt die früher un-
beachtete Erwägung zu statten, dafs die Hellenen, so hoch sie auch die Aus-
bildung des Körpers anschlugen, dennoch gleichzeitig der harmonischen
Entwicklung des Geistes die gröfste Sorgfalt schenkten: weshalb das Bei-
wort zaros schön, bei den Griechen gleichbedeutend mit ausgezeichnet
und vollendet, wie das italienische bravo, zugleich einen Lobesruf für
geistige Virtuosität der verschiedensten Art Kerucken vermag, und dem
Sieger in musischen, wie in gymnischen Wettkämpfen, dem Redner wie dem
Philosophen mit gleichem Rechte zukam, wie dem Eromenos es sein Erast
entgegenrief. Solche Auffassung des zaAdos als anerkennender Ruf der Aus-
zeichnung gewährt den sralken Vortheil, dafs sie die Anspielung auf die
viov Ivoırdurovus ev Suoe Afhov zarov,
iov a ale wiuFIoV" 2YMOS zaR0s.
Emeygaadpov d2 0 "Adyvaloı vd rov zardv Övonarae oyrws“ 6 dev zeAdc. Eygeecbov de zur Ev rol-
yaıs zur Ev Sügems zei &mov rüyn. Cf. Schol. ad Aristoph. Acharn. v. 142. Theoros:
za Öyre PıraSyvaos yv Umsopvns
Unav Zauoris Yv AySus, were za:
Ev Tosı Tayoıs Erygecch” ’ASyvaloı zaroı.
Suid. ö deiv@ zurds. ed. Küster. Eustath. ad Il. B, p. 633. Plutarch Gryll. 7. T. V. p. 2310.
Lucian Diat. Meretric. IV, p. 287 und Lucian. Amor. 16. T. II. p. 416 R. z&s narazoo
dzvögov dAoos "Abgodiryv zaAnv Ernguss ev. Böttiger Vasengem. III, S. 64-74. Bekker
Charikles. II, S. 405-7.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 39
verschiedensten Lebensbeziehungen und Beschäftigungen, immer freilich
unter der Voraussetzung wirklicher Virtuosität in sich aufnimmt und bei der
grofsen Mannigfaltigkeit griechischer Vasenmalereien einen Z usammenhang
zwischen Inschrift und Bild nicht ausschliefst.
Demnach irren wir wohl nicht, wenn wir die Vasen mit zaAos und
zare sämmtlich als Geschenke betrachten, so dafs dies Beiwort in den
meisten Fällen aus dem Munde des Gebers zu Ehren des Empfängers fliefst (*).
Den Anlafs zu solchen Geschenken bietet aber das Leben in seinen buntesten
Äufserungen von der Wiege bis ans Grab, wofür ein zaAos 5 raıs beim klei-
nen Herakles (°) im Arm des Kinderwärter Hermes (Taf. IV, 11), ein HO-
nOz MIEZ ZOE(vw) KALE über einem laufenden bekränzten Epheben mit
Weinamphora(°), und ein FAYKQ KALA auf dem Grabsteine der seeligen
Glyko der eine Verwandte Todtenopfer darbringt(?), hinlängliche Bürg-
schaft leisten. Zwischen diese äufsersten Grenzen menschlichen Lebens
fällt die mannigfaltige Entwicklung und Ausbildung beider Geschlechter und
die Verschiedenheit der Lebensverhältnisse in denen sie sich bewegen, welche
die Vasenbilder genügender als andre Denkmälergattungen antiker Kunst
uns veranschaulichen.
Eine bedeutende Stelle nehmen die Preisgefäfse(®) ein, an die
Siege in Gymnastik und Musik sich anschliefsend, sie mochten im Gymna-
(*) Lanzi Sopra i Vasi dipinti 1806 p. 199 modifizirt die Mazocchische Ansicht, indem
z@%os nicht blos auf Liebe, sondern auch auf Freundschaft, Achtung und Dankbar-
keit sich bezieht.
(°) Micali Monum. LXXI, 2. Das XAIPE ZY aufser dem zar0s 6 reıs zeugt als Glück-
wunsch noch entschiedner für die Bestimmung dieses Gefälses.
(°) Catal. di scelte antichitä del pr. di Canino No. 575. p. 85.
(”) Im Musee Blacas No. 204. Panofka Griechinnen No. 18. Ch. Newton Manners and
ceustoms of the Greks p. 18. not. 4. widerspricht meiner sepulkralen Deutung und meint der
Name mit z«Aos stehe wie gewöhnlich nicht in Beziehung mit dem Gegenstand der
Vase, sich berufend auf Thiersch über die hellen. bemalt. Vas. Abh. d. Bayer. Akad. d.
Wiss. 1844. IV, ı, S. 68.
(°) Eine Zusammenstellung dieser Gattung Gefäfse beabsichtigte ich vor 24 Jahren her-
auszugeben, nachweisend, dafs die den panathenäischen Preisgefälsen zum Grunde liegende
Theorie der Bemalung auch bei den cerealischen, dionysischen und apollinischen sich wahr-
nehmen lasse, indem die Vorderseite gewöhnlich das Bild der Gottheit kennen lehrt, deren
Fest gefeiert ward, und die Rückseite die Gattung der Spiele verräth in denen die Sterb-
lichen den Siegerpreis davontrugen. Der erste fascicolo dieser meiner Vasi di Premio
erschien Firenze 1826.
40 Panworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
sium oder in den berühmten heiligen Spielen errungen, von Verwandten
und Freunden als Privatgeschenke, oder als öffentlich zuerkannte Auszeich-
nung nur um so werth- und ehrenvoller, ihnen zu Theil geworden sein.
Dieser Abtheilung steht eine andre auf Liebesverhältnisse und Hoch-
zeit bezügliche, an Zahl und Bedeutung nur wenignach, und verdiente schon
längst um so mehr eine selbständige Prüfung und Behandlung, je deutlicher
Sinn und Bestimmung dieser Vasen inBild und Form derselben hervortritt(?),
und je belehrender die Wahl bestimmter Mythen für diese Anlässe (!°) ver-
möge der Analogie auch auf das richtigere Verständnifs andrer Abtheilungen
von Vasen einzuwirken vermöchte. Nachdem wir somit für die Vasen mit
zarcos und zars, insofern dieser Ausruf zu Ehren des Vasenempfängers aus
dem Munde eines Freundes fliefst, — der meistens unter dem Bilde einer der
mythischen Figuren des Vasengemäldes sich verbirgt, — ein Verhältnifs der
Innigkeit, Schenkung und Belobung festgestellt: gehen wir nun zu
der wichtigeren Untersuchung über, welche die mit z«Acs verbundnen
Eigennamen auf Vasen betrifft.
Eine genauere Prüfung des gröfsten Theils der bisher ausgegrabnen
Vasen mit Eigennamen und zaAos — nicht blos der in umfassenderen Wer-
ken und Abhandlungen durch Stich, oder in Zeitschriften und Verzeichnissen
durch Beschreibung veröffentlichten, sondern auch der meisten in den öf-
fentlichen und Privatsammlungen Europa’s zerstreut aufgestellten und unbe-
kannten — hat uns zu der wichtigen Entdeckung geführt
a) dafs zwischen Bild und Eigennamen derselben Vase eine
Wahlverwandtschaft Statt zu finden pflegt (!!), in gleicher
Weise wie wir dieselbe in Betreff der Vasenbilder und Vasenbildner-
(°) Panofka Recherches sur les noms des vas. p. 39.
(%) Panofka Mus. Blacas pag. 5.
(') Wie wir es schon vor 25 Jahren ahndeten und in Neapels Antiken S. 385 aus-
sprachen (siehe die Beilage zur gegenwärtigen Abhandlung). Ein schlagendes Beispiel für
diese Ansicht liefert eine panathenäische Hydria aus Bomarzo, worauf Peleus gemalt ist
Thetis raubend, zu deren Fülsen eine Schlange; Chiron ist zugegen. Die Rückseite zeigt
Thetis spendend. Laut Hrn. Fossati (Bull. d. Instit. arch. 1831. p. 6. 90. Gerhard Rapp. Volc.
p- 189, not. 795) trug die Grotte, in der diese Vase sich befand, auf dem Architray die
Inschrift 3N3”7] Pele, wodurch der Name des Todten mit dem des Gatten der
Thetis sich identificirt.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 41
namen in unsrer vorjährigen akademischen Abhandlung (!?) nachzu-
weisen Gelegenheit fanden;
b) dafs aber diese Sitte hellenischer Vasenmalerei für be-
stimmte Zwecke, zugleich einen unerwarteten und über-
aus folgenreichen Vortheil für die gesammte Vasenerklä-
rung gewährt, insofern nicht selten bei dunklem, schwer
zu enträthselnden Vasenbild das Licht der Erkenntnifs
erst von der Bedeutung des Eigennamens entgegenstrahlt.
Die Methode, welche ich dieser Untersuchung zum Grunde legte, besteht
darin, dafs eine möglichst vollständige Zahl Vasenbilder mit Eigennamen
und xaAcs
4) hinsicht des Sinnes ihrer Vorstellung,
2) hinsicht der Bedeutung des mit zaAos verbundnen ange-
malten Eigennamens scharf ins Auge gefafst ward; woraus
3) die Erkenntnifs des Bündnisses zwischen Bild und Eigen-
namen sich von selbst ergab.
In Betreff der Folge, in welcher diese Vasenbilderprüfung vorzunehmen
sei, erschien das Gesetz „vom Bekannten zum Unbekannten vorzuschreiten”
als maafsgebend; daher wir in das Vordertreffen eine Abtheilung solcher
Vasen stellen, bei denen selbst die geborensten Skeptiker den Zusammen-
hang zwischen Bild und Eigennamen zu leugnen nicht vermöchten.
Eine nolanische rothfigurige Diota (Taf. I, 1) ist mit der Morgengöttin
geschmückt, die den Jäger des Tagesanbruchs zu erfassen strebt. Während
vor Kephalos die Inschrift KEBALOZ KALOZ steht, liest man über ihr nicht
HRZ KALE, sondern nur HNZ(!?). So unverkennbar der hier dargestellte
Kephalosmythos ist, so sicher die Worte KebaAos zaAos zunächst aus dem
Munde der Eos fliefsend, zu Gunsten des verfolgten Geliebten sich sehr wohl
eignen: so dürfen wir doch hiebei den Umstand nicht übersehen, dafs die
Worte zaros und zare in der Regel sich an Eigennamen lebender
Personen anschliefsen, während die zur Charakterisirung der
Götter- und Heroenfiguren beigeschriebnen Namen fastimmer
(7) Panofka Von den Namen der Vasenbildner in Beziehung zu ihren bildlichen Dar-
stellnngen (Abhandl. der Königl. Akad. d. Wiss. 1848).
(”) Tischbein Vas. d’Hamilton IV, 12; Millin Gal. myth. XXIV, 94. Paus. I, u, 1.
Philos.-histor. Kl. 1849. F
49 Pınworka: Die griechisch en Eigennamen mit KALOZ
des z«aAos entbehren(!*). Areas folgt, dafs die Inschrift Kesarcs zadcs
einen in Nola lebenden Griechen dieses Namens verräth, der von seiner
Geliebten diese mit dem beziehungsreichen Mythos des homonymen Heros
und Schutzpatrons geschmückte Vase zum Geschenk erhielt.
Fast noch deutlicher tritt dieselbe Erscheinung auf einer nolanischen
rothfarbigen Hydriske (Taf. I, 3) des Blacas’schen Museums('?) hervor.
Während auf der Hauptseite Perseus, dessen fast knabenhafte Gestalt noth-
wendig überrascht, durch Flügelhut, Harpe (1%) und Kibisis, worin das Me-
dusenhaupt steckt, unverkennbar, im Laufe begriffen ist, vor sich NEPZEZ
KALO=: sinkt hinter ihm (auf der Rückseite) die enthauptete Meduse, der
reiche Blutströme aus dem Hals fliefsen, zu Boden, weder durch Namen,
noch durch zare ausgezeichnet. Erwägt man, dafs die Inschrift Ifegres, nicht
Heorevs lautet, so drängt sich in Verbindung mit der eben erwähnten Bemer-
kung hinsicht der Karcslosigkeit der Götter- und Heroennamen unwillkürlich
die Vermuthung uns auf, die Vase sei für einen Nolaner mit Namen Perses
zum Geschenk bestimmt, höchst sinnig mit der Grofsthat seines Schutzpatron
Perseus geschmückt worden.
EMIAPOMAZ KALOZ schön ist Epidromas lautet die Umschrift
auf dem Innenbild einer rothfigurigen volcenter Kylix (17), wo eine jugend-
liche Mantelfigur einen Hasen bei den Ohren hält, während ein Jagdhund
zu dessen Füfsen steht (!°).
Auf dem Innenbild einer andren volcenter Kylix (Taf. I, 7) treffen
wir dieselbe Inschrift hinter einer bekränzten bärtigen Mantelfigur, welche
Knotenstab, und oberhalb aufgehängter Strigil, Schwamm und Salbfläsch-
chen als Paedotriben bezeichnen; ein Jagdhund läuft daneben (!?). Da emı-
() S.den Anhang zu dieser Abhandl.: Ka?os und Kare über den Bildern von Gottheiten.
(”) Panofka Mus. Blacas Pl. XT, 1. pag. 36, not. 13.
('%) Perses Sohn des Titanen Krios und der Eurybia, Gemal der Asteria, Vater der
Hekate (Hes. Theog. 577. 409. Apollod. I, 2). — Ein anderer ist Sohn des Perseus und
der Andromeda, Stammvater der Perser (Herod. VII, 61. Apollod. II, 4.). Vergl. Hesiod.
Opp- ” 299: Eoyagev, Ilzosr, Alov yevos, ocbge TE Ars "EySaien, dıren de eüsrebevog Ar-
uneng: Perses, der Bruder des Hesiod, an den das Gedicht gerichtet ist.
('”) Mus. Etr. du Pr. de Canino 1425. Le chasseur.
(%) Vergl. das Gemälde des Branchos und Apoll bei Lucian de Domo (Vol. VII,
p. 110 ed. Bip.) 24.
('?) Nach einer durch Gerhard mir gefälligst mitgetheilten Zeichnung. Mus. Etr. du
Pr. de Canino 1473.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 43
down der Zulauf, Anlauf, Anfall heifst und Eriögeues anlaufend, so
leuchtet ein wie passend der Jagdhund einmal als Begleiter des Epidromas,
das anderemal als dessen Sinnbild hier gemalt ist. Allein auch zu Gunsten
des erjagten Hasen ist des Hesychius Glosse: dpcuarss- Aaywos 5 &v Öacmors
arısaöuevos nicht zu verschmähen. Auf der lezteren Kylix beziehen sich die
vom Erasten ausgesprochenen Worte offenbar auf den Eromenos: beide
Trinkschalen bekam nämlich Epidromas zugleich geschenkt, die eine mit
seinem Bilde geschmückt, die andere mit dem seines Liebhabers; bei
lezterer vertritt der Hund symbolisch die Stelle des Epidromas.
Zur Begründung dieser Namensanspielung in den Einzelheiten des Bil-
des lege ich eine dritte (?°) Trinkschale (Taf. I, 4) vor mit gleicher Inschrift
Eriögonas zaros vor einem bekränzten Epheben mit vorgestreckten Händen
wie auf einen Angriff beim Ringekampf gefafst. Die hinter seinem Rücken
sichtbare Stele bezeichnet wohl die Palästra. Den Ring am Knöchel des
rechten Fulfses reAAyrns habe ich erst neulich (?!) als charakteristisches Attri-
but der ögoueis nachgewiesen: ich darf daher ohne Furcht vor Widerspruch
dieselbe Deutung auch für Epidromas geltend machen theils wegen seiner
Fertigkeit im Lauf, theils als Anspielung auf seinen Eigennamen.
Auf einer nolanischen rothfigurigen Diota (Taf. I, 9) im Cabinet Luynes
bringt eine Nike eine Taenia einem Jüngling der das langgelockte Haar mit einer
Binde geschmückt, vom Peplos bis auf rechte Brust und Arm bedeckt, mit der
erhobenen Rechten einen gesenkten Speer aufstützt. Zwischen beiden Figuren
erhebt sich ein Altar mit einem Kranz darauf. VorNike liest man NIKON, unten
KALOE. Die Rückseite zeigt einen Epheben miteinerWachtelimVogelbauer(??)
(°) Aus gleicher Quelle wie die vorige Zeichnung mir vergönnt.
() In Gerhards Arch. Anzeiger No. 6. 7. zur Arch. Zeit. Jahrg. VII. Juni. Juli
1849. S. 70.
() Duc de Luynes Choix. d. Vas. Pl. XXXVII. In dem Antikenmagazin der HH.
Decrescenzi zu Neapel sah ich im Sommer 1847 eine rothfigurige in Capua ausgegrabene
Scaphe: auf der Vorderseite steht eine Mantelfigur mit einem Stab vor gleicher auf einem
Cubus sitzender Figur ohne Stab, oberhalb zwischen beiden das kreuzähnliche Symbol mit
kleinem Kreis in der Mitte: HAMIO=Z. Die Rückseite zeigt dieselben Figuren, mitten
KALOzZ
einen schwarzen Vogel im Käfig. — Cf. Cratini @ggrr«ı IV. (Meincke fragm. poet. com. II, 1,
pag- 63: "Es rov zarlov Hy ruyn, #«eSeroyvureu. Poll. X, 160. oizirzos ögv>sios maoc “Hgo-
dorw zur "ApyıRoy,os. — Vergl. Tischbein Vas. d’Hamilton IV, 17. Nike mit Oenocho&
und Patera vor einer Mantelfrau; zwischen beiden steht ein Kalathus; hinter Nike liest
F2
44 Pıvworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
herannahend. Der berühmte Besitzer und Herausgeber (??) der Vase be-
zeichnet mit Recht den Altar als den der Siegesgöttin und erkennt treffend
in der Wachtel ein Geschenk für den Sieger, vermuthlich von Seiten eines
Freundes(?*), hebt aber nicht hinlänglich hervor, dafs weil der Sieger und
Empfänger der Vase Nikon hiefs, das Bild der Namenverleihenden Göttin
Nike in einem Moment wo ihr Schutz ihn beglückt, um so passender gewählt
wurde. Hierdurch gewinnt diese Vase an Bedeutung, insofern sie einen
werthvollen Eckstein für den Bau der KaAos-theorie liefert. Auf einer pa-
nathenäischen Amphora aus Vulei (?°) begegnen wir derselben Inschrift ohne
Zweifel mit Bezug auf den Sieger der nach dem Bilde zu urtheilen als Sieger
im Wagenwettrennen diesen ölgefüllten Preis an den Panathenäen erwor-
ben hatte.
Den Hals einer volcenter Hydria (?°) schmücken zwei Wagenlenker
auf Quadrigen im raschen Lauf; unter den Pferden der ersten liest man
NIKIAZ KALOZ, unter den Pferden der zweiten Hippion. Es unterliegt wohl
keinem Zweifel dafs der vorderste Nikias auch den Sieg im Wagenrennen
davon trug, wefshalb der zweite Hippion des ehrenden Beiwortes Kados
entbehrt.
Dieselbe Anspielung liegt einer merkwürdigen mit dem Argonauten-
opfer des Herakles (Taf. III, 5) bemalten Vase (?”) zum Grunde, welche diesen
Heros und Argonautenführer als Priester am Altar opfernd mit dem Namen
APXENAYTES, Nike heranschwebend, dahinter zwei Epheben mit Fett am
Spiefs, über beide NIKOAHMOE KALOEZ, und hinter ihnen den Flötenbläser
Z(Y)EIBOXZ uns vorführt. Dafs der Eigenname Nikodemos mit Absicht an
man IKAZ KALO=S: offenbar stand ursprünglich NIKAZ KALOX wie auf einer Münze
von Kos (Mionnet Descr. III, p. 406, No. 56.) derselbe Name Nikas vorkömmt (Gerhards
Denkm. u. Forsch. Archäol. Zeit. Jahrg. VII. No. 12, Dec. 1849. Arch. Anzeiger S. 128).
(@°) Duc de Luynes Choix d. Vas. XXX VI p. 21.
(**) Aristophan. Aves 707. ö uzv Opruye dous.
(®) Pr. de Canino Mus. Etr. No. 11. pag. 35. Tav. II. Gerhard Rapporto Volcente
not. 834* Ann. d. Institut. arch. IH, p. 192. Dubois Notice d’une Collect. d. Vas. du
Pr. de Canino 27. Athene mit Vordertheil des Pegasus als Schildzeichen. Auf der Rück-
seite steht eine bärtige Figur auf sprengender Quadriga E (Aa e) LA NIKON KALOS.
() Braun Bull. dell’ Institut. arch. 1843. p. 76. Am Bauch ist der nächtliche Besuch
des Priamos im Lager der Griechen um die Leiche des Hektor zu lösen abgebildet.
() Gerhard auserlesene Vasenbild. II, cLv. Archäol. Zeit. 1845. Taf. XXXV, 4.
S.177 u. ff. Vergl. Böttiger Vasengemälde I, 2tes Heft S. 48.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 45
der Stelle gemalt ist wo Nike und die den dy1os vertretenden beiden Epheben
gleichzeitig zur bildlichen Inschrift dienen können, ja dafs selbst das Fett
am Spiefs dieser Epheben, auf griechisch öyucs, als Element zur Hierogly-
phik des Namens benutzt werden konnte, dessen wurden die gelehrten Her-
ausgeber (?°) dieser Vase sich ebensowenig bewufst, als dafs der Name Zuridos,
dem lateinischen zitubans entsprechend, den Flötner bezeichnet.
Eine volcenter archaische Hydria (?°) zeigt am Hals einen Wagenlenker
mit Viergespann; am Bauch schauen dem Ringekampf des Herakles und
Nereus als Zeugen Ampbhitrite und ein weifshaariger Gott mit Scepter zu;
der einzige ohne Inschrift, offenbar Poseidon in seiner Eigenschaft als“Irrıes
und ‘IrrorSevrs, als Schutzpatron und Namengeber des im Feld der Scene
angeschriebenen Vasenbesitzers NIKEZINOZ KALOZ ausgezeichnet ist
Nikesippos.
Wenn eine archaische volcenter Amphora (°°) neben der von Jolaos
geführten Quadriga des Herakles die Inschrift HINOKPATEZ KALOX an-
giebt, so erhellt dafs der Besitzer der Vase Hippokrates Rofsmächtig in
einem Verwandtschaftsverhältnifs zu dem berühmten Wagenlenker Jolaos zu
denken ist.
Dasselbe Verhältnifs nehmen wir auf einer archaischen, mit Giganten-
kämpfen geschmückten Kylix des kgl. Museum (°!) wahr, unter deren einem
Henkel HINOKPITO&Z KALLIETOX steht. Auch hier übersah der Erklärer
dafs im Zusammenhang mit dem Eigennamen des Siegers und Vasenempfäng-
gers Hippokritos das Innenbild eine Quadriga vorstellt, und dafs selbst auf
den Aufsenseiten sowohl Ares, als Athene in eigenem Viergespann streiten.
Umsomehr Anerkennung verdient daher Herr Roulez (3?) der bei Ver-
öffentlichung einer rothfigurigen Kylix des Epiktet wegen der beigefügten
(*) Das gleiche Wortspiel von Fett, als Sohn des Feuerglanzes macht Aristoph.
Vesp. v. 97: viöv Ivgrdurous Ev Fuge Ayuov zarov. (wahrscheinlich Arudv zu lesen): Örues
das Fett worin alles Opferfleisch gewickelt wurde.
(°) Dubois Notice d. Vas. Etr. du Pr. de Canino 11.
(°°) Mereur voran. Rv. Dionysos auf der Kline; Eumelpes Krotalen schlagend rechts,
Hiachos tanzend links, rothe Figuren im Gegensatz der schwarzen der Vorderseite. Bull.
d. Instit. arch. 1829. p. 76.
() No. 746. Gerhard Auserles. Vasenbilder I, LXI, LXH. wo fälschlich NIKOKPITO=
gelesen ward.
(”) Roulez Melanges archeol. IV, 4.
46 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Inschrift HINOKPITOZ KALOZ einen Epheben der zwei widerspenstige
Pferde anspannen will, im Zusammenhang mit diesem Eigennamen deutete:
und mit offenbarem Unrecht protestirt Hr. O. Jahn (°?) dagegen, statt seine
Mifsbilligung auf die von Roulez vorgeschlagene mythische Beziehung auf
den von seinen Pferden zerrissenen Abderos, insofern sie aus dem Vasenbilde
keineswegs hervorleuchtet, zu beschränken.
Auf einer gelbfigurigen Kylix verfolgt ein Jüngling, das Haupt mit
Blättern und weifsen Blumen bekränzt, einen laufenden Stier und hält in der
Rechten einen Strick um das Thier zu binden. In Bezug auf die Widmungs-
inschrift AIOXZIMOZ KALOX über seinem Haupt bemerkte schon Dr. Hor-
kel(3*), dieser Name deute die Handlung an, mit welcher dieser unser Dioxip-
pos sich abgiebt, indem die Verfolgung (diw&ıs) des genannten Thieres ihn
ganz in Anspruch nimmt, übersah aber dafs sowohl die Bekränzung des
Epheben, als die Schlinge womit er den Stier zu fangen sucht, deutlich auf
das Fest der TavgozaSabıe hinweist, von dem andere Bildwerke (°°) uns ein
vollständigeres Bild geben.
Eine rothfigurige volcenter Kylix deren Innenbild im Einklang mit
der Inschrift AYZIZ KALOZ HO MAIZ KALOZ den schönen Lysis als
Empfänger dieses Erastengeschenkes bezeichnet (°°), ist auf den Aufsenseiten
mit der Rückführung des Hephaistos in den Olymp durch Dionysos und
(@°) ©. Jahn Archäol. Aufs. S. 139.
(°*) Braun Bullet di Corrisp. archeol. 1844. p. 101. Rv. Zwei Hetären auf Kissen an
der Erde, die eine doppelflötend, die andere eine Kylix reichend worauf MINEKAIZY steht.
(°) S. das Arundellische Marmorrelief (Marmor Oxon. p. 266 mit Prideaux Anmerk.
Millin Peint. d. Vas. II, ıxxvuu, 7.) Böttiger griechische Vasengemälde I, ım, S. 95 Note.
(°°%) Dubois Notice d. Vas. Etr. du Pr. de Canino. 99. Im Innern bärtiger Mann auf
einer Kline, neben ihm Flötenspielerin; auf kleinem Postament steht AYZIZ KAAOSE
HO MAIE KALO=E. Aufserhalb Vulcan mit Beil und Kantharus zu Maulthier, geführt
von einem Satyr mit Krotalen, gefolgt von einem mit Trinkhorn und einem andern. Rückseite:
Bacchus mit Weinstamm und Kantharus; voran flötender Satyr und Maenade mit Krotalen,
eine zweite mit Thyrsus und Krotalen hinter ihm. — Vgl. Gerhard Berlins Ant. Bildw. 879:
Ruhebett Kylix. In der Mitte dieser Schale von vorzüglich feiner Zeichnung zeigt sich
ein bärtiger und bekränzter Mann unterhalb bekleidet, auf einem gepolsterten Ruhebett.
Er hält eine zierliche Schale in seiner Linken, über ihm steht das Lob eines Lysis
AYZIEZ KALOZ geschrieben. Vor dem Lager steht ein einfacher auf Fülsen mit Löwen-
klauen ruhender Tisch, von welchem drei Zweige berabhängen. Eine sehr zierliche Stele
bemerkt man überdies am Ende des Ruhebetts; ungewils ob als eine zu demselben gehörige
Stütze oder als ein anderes Gestell für einen Leuchter.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 47
seinen Thiasos geschmückt: ich zweifle nicht, dafs der Gegenstand der
Erlösung Avsıs in welcher Dionysos als Befreier Avrıcs erscheint, ab-
sichtlich für diese Kylix des Lysis in Anspruch genommen ward. Zur Stütze
dieser Erklärung erinnere ich an den Cultus des Dionysos Lysios in
Korinth mit Bezug auf den zerrissenen Pentheus eingeführt (37), an den
gleichen Cultus in Sieyon (°*), an den Naos des Dionysos Lysios in Theben
wegen Befreiung der Gefangenen aus den Händen der Thraker (°) ;
daselbst sah Pausanias auch das Standbild der Semele, offenbar mit Rück-
sicht aufihre Heraufholung aus der Unterwelt, und demnach voll-
kommen gleichbedeutend mit dem Mythos unsrer Lysisschale. Das Innenbild
einer andern rothfigurigen für denselben Lysis bestimmten Kylix (*°) stellt
den Centauren Pholus mit einem Baumstamm dar, im Begriff von dem grofsen
Weinfafs den Deckel aufzuheben. Diese Öffnung Avrıs steht offenbar im
Zusammenhang mit der begleitenden Inschrift AYzZI£ KALOz HO NAIE
KALO=.
Des Theseus Lanzenkampf gegen die asiatisch gekleidete Amazone
Hippolyte zu Pferd ist auf einem rothfigurigen Stamnos (Taf. IV, 5) von der
Inschrift ENIMEAEZ KALOZ begleitet (*'). Den Eigennamen Epimedes,
’Erıundys, übersetze ich Mederfeind: als solcher erscheint Theseus auf
diesem Bilde.
Zu gleicher Bemerkung giebt eine rothfigurige nolanische (Taf. I, 2)
Diota Anlafs den Kampf des Theseus mit dem die Reisenden ins Folterbett
einspannenden Prokrustes darstellend (*?), nebst der Inschrift AAKIMAXO&
KALOZ, insofern der Eigenname dessen, für den das Gefäfs zum Geschenk
bestimmt war, Tapferkampf bedeutend, sich zum Epitheton des attischen
Heros vorzüglich eignete, zumal seine Schutzgöttin Athene unter dem Namen
"Arrınayn (*) angerufen ward.
BeiPaus. II, 11, 9.6.
(°) Paus. II, vo, 6.
(Baus. IX, xvı, 4.
(*) De Witte Deser. d. Vas. de P’Etrur. 77. Cyl. f. r. AYZIZ KALOZ.
(*) De Witte Cab. Durand 346. Stamnos de Vulci. Rv. EINIE zwischen zwei ver-
hüllten Frauen, die die Hand ausstrecken. Epimedes einer der Kureten, Paus. V, vır, 4;
V,xıv,5. Abweichende, wohl genauere Abbildung bei Gerhard Auserl. Vasenbild. II, cıxın.
(“) Millingen Peint. d. Vas. gr. Pl. IX.
(*) Suid. s. v.
48 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Eine nolanische Hydria (Taf. I, 6) im Musee Blacas(“*) zeigt den
jugendlichen Herakles mit dem geraubten Dreifufs fliehend und die Keule
schwingend gegen den mit Bogen in der Rechten ihn verfolgenden und den
Raub zurückfordernden Apoll. AAKIMAXNEZ KALNZ zunächst auf den Be-
sitzer der Vase, der einen Dreifufs als Siegespreis aus den Spielen heim-
brachte, bezüglich, verbirgt zugleich eine Anspielung auf Herakles, sowie
der Name EMIXAPOZ mit vergessenem M, Erıyapuos, wohl den Geber an-
deutet nicht ohne geheime Beziehung zum Charitenführer Apoll. Demselben
Eigennamen Alkimachos in gleicher Inschrift begegnen wir auf einer andern
Vase (Taf. I, 5) die durch Feinheit der Zeichnung Epoche macht(”°). Ein
bekränzter bärtiger Silen mit Thyrsus und Kantharus blickt im Weggehen
zurück auf eine vor einem Fels stehende Jungfrau mit Haube und zierlich
gesticktem Himation über dem langen Chiton: sie hält mit beiden vorge-
streckten Händen das Fell eines Rehkalbs. Zwischen beiden Figuren zieht
sich AAKIMAXNZ. Nur wenn man sich vergegenwärtigt, dafs zur Zeit des
KALQDZ
Deukalioniden Amphiktyon Dionysos nach Attika kam und von Semachos
gastlich aufgenommen, zum Dank dessen Tochter mit einem Rehfell be-
schenkte(“), wird man den Sinn dieses Vasenbildes wo der Silen Akratos
der Semachostochter das Rehfell von Dionysos überbracht hat, richtig auf-
fassen; zugleich aber fühlen wir uns berechtigt den Namen Alkimachos für
den Silen Akratos insofern in Anspruch zu nehmen als der leztere Name
ebenfalls den Übermächtigen, Unbesiegbaren, Starken (°7) ausdrückt,
und damit in Übereinstimmung die Bildwerke diesen Silen öfter in voll-
ständiger Rüstung zum Kriegszug des Dionysos bereit (**) uns kennen lehren.
(°*) Monum. de l’Institut. arch. Tom. 1, Pl. IX, 3, im Musee Blacas.
(*) Tischbein Vas. d’Hamilton I, 37. Millin Peint. gr. I, 9.
(*) Euseb. Chronic. I, p. 30. Steph. Byz. Yruexiöcr. Hesych. und Phot. Arnob. adv.
gentes V,39. Nebridarum familiam pellicula cohonestavit hinnulae. Panofka der Vasen-
bildner Panphaios 'Taf. III.
(”) Vergl. den Giganten Akratos (auf einem etruskischen Spiegel) dem Athene den
Arm als Sitz der Kraft und Stärke 290706 ausreilst (Gerhard Etrusk. Spiegel T. LX VIII.)
und den Agathodaemon Akratos in seiner Eigenschaft als starker, ungemischter Wein
(Panofka Terracotten d. kgl. Mus. S. 135).
(*) Panofka Cabinet Pourtales Pl. IX, 2. Nonni Dionys. ed. Gräve Vignette auf dem
Titel des zweiten Theiles.
im Zusammenhang mit ie Bilderschmuck auf bemallten Gefäfsen. 49
An diese Vase reiht sich wegen desselben Namens und entsprechender
Bemalung eine Önochoä (“) von feiner schwarzer Umrifszeichnung auf
gelbem Eh im neapler Museum. Eine in schwarzes Gewand gehüllte
Frau sitzt auf einem Lehnstuhl, in der Linken einen Spiegel haltend ; rechts
bringt ihr eine langbekleidete Frau eine Schale mit einem Granatapfel und
Ba: oberhalb hängt ein Salbfläschen und eine Önochoö; beide Ge-
fäfse sind schwarz. Sowohl .das schwarze Trauerkleid, als die re
und die beiden aufgehängten kleinen schwarzen Vasen weisen zu bestimmt
auf Todtendienst hin der hier wahrscheinlich bevorsteht, als dafs wir nicht
die Inschrift Arzıuaxos zaros seelig ist Alkimachos übersetzen sollten,
für dessen Grab diese Vase nebst anderen Gaben bestimmt war.
Die grofse Verschiedenheit des Styls zwischen den beiden lezten Vasen
des Alkimachos und den zwei ersterwähnten könnte leicht zu dem Glauben
verleiten, es gelte hier Geschenke für zwei verschiedne Alkimachos. Indefs
die bisher völlig übersehne Gestalt des Bettes des Prokrustes, insofern sie
das Bild eines Hirschkalbs in Gestalt, Gurt und Füfsen versinnlicht, dient
zwar zunächst da die Hirschkuh bei den Griechen mit dem Worte dauazrız,
bei den Römern als dama bezeichnet wurde, und der Verfertiger und Be-
nutzer dieses Bettes nicht blofs Prokrustes, sondern auch Damastes(°°)
hiefs, zur bildlichen Inschrift für Damastes; allein sie weist gleichzeitig
wegen identischer Widmungsinschrift, auf das Vasenbild des Rehfells als
Geschenk für Semachos zurück, und bestimmt uns auch diese Vase ein und
demselben Alkimachos als Geschenk zuzuerkennen. Ebenso lehrt die
Schreibart Adzınay,ws Karws auf der Vase des Dreifufsraubs, wie auf der des
Hirschfellgeschenkes, dafs die Verschiedenheit des Styls der Malerei keines-
wegs berechtigt zwei von einander verschiedne Alkimachos als Eigenthümer
dieser Vasen vorauszusetzen.
Das berühmte rothfigurige Blumengefäfs aus Agrigent (Taf. I, 11) im
münchener Museum (°!) den N Wettstreit des Alkaios und der
Sappho verherrlichend, verdient wegen der den Alkaios umgebenden Inschrift
AAMA KALOE siegreich ist Damas, auf den Empfänger bezüglich, um so
(°) Panofka Neapels Antiken S. 385. Zimm. VIII, Schr. 7, F. 2, No. 1925.
(°%) Plutarch Thes. XI.
(°‘) Millingen anc. unedit. monum. Pl. XXXII. Panofka Bilder antik. Lebens Taf. BV7.
Griechinnen No. 10.
Philos.-histor. Kl. 1849. G
50 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
gröfsere Beachtung, als einerseits der Rehkalbfufs zum Plektron für
Alkaios dienend, auf danarıs, dama die Hirschkuh hinweist (°?), somit eine
Anspielung auf Damas verbirgt, und andrerseits die bisher übersehene Syno-
nymie von’ARzaıs Starke und Aauas Bändiger genau dieselbe ist, welche
wir bereits an Alkimachos und Damastes nachzuweisen Gelegenheit fan-
den(°°). Die Erwähnung des Alkaios führt uns zur Betrachtung einer nola-
nischen Diota des kgl. Museums (°*), wo man die Inschrift AAKAIOZ KALOZ
bei einem Hopliten liest mit einem Stern auf dem Schild; ihm gegenüber
zeigt die Rückseite eine bärtige Mantelfigur. Dafs die Vase einen in den
Krieg ziehenden Nolaner Alkaios veranschaulicht ist höchst wahrscheinlich:
allein diese individuelle Deutung des Bildes überhebt noch keineswegs der
Frage, ob nicht zugleich auch an jenen berühmteren mythischen Alkaios hier
zu denken sei, welcher ein Sohn des Androgeos und Enkel des Minos, hier
dem Rhadamantys gegenüber stände (°°), der ihn mit der Insel Paros be-
schenkte? Dieser Auffassung käme das Schildemblem des Alkaios wesent-
lich zu statten, sei es dafs der Lichtcharakter des Inselnamens Paros es zu
rechtfertigen vermag, oder des Alkaios nahe Verwandtschaft mit des Minos
Sohn(°°) Asterios. Es nähme uns aber auch nicht Wunder wenn in Zu-
kunft mit gleicher Inschrift eine mit Herkulesthat bemalte Vase ans Licht
träte, da ’AAxalss auch als ursprünglicher Name für Herakles bezeugt wird.
Zur Begründung dieser mit der individuellen parallell gehenden my-
thischen Erklärung dient eine andere rothfigurige nolanische Diota (Taf. I,
13 u. 13a) mit der Inschrift APFOZ KALOZ neben einem lanzewerfenden
(°) Vergl. de Witte le geant Ascus (Revue Numismat. 1844. p.13) Pl.I, 3. und
Pl. II, 8. 10 Münzen von Damascus. Vaillant Numism. aer. Imperat. in colon. Tom. I,
p: 232, 233.
(°) Die aus dem Munde des Alkaios ausgehenden Punkte blieben bis jetzt unberück-
sichtigt und unerklärt: sie bezeichnen meines Erachtens den Alcaeus als Sieger, sei es,
dals sie den wollnen Siegerbinden (cf. Combe Mus. Hunt. T.22, V. die gleiche Perlschnur am
Dreifufs der Silbermünzen von Kroton und T. 35, IX in der Hand des Apoll am Dreifuls
auf Münzen von Magnesia.) sich assimiliren, oder dafs sie durch Horaz Epistol. II, 2, 99:
Discedo Alcaeus puncto illius: Üle ımeo quis? und Ep. ad Pison. v. 343 Omne zulit punctum
qui miscuit utile dulei, einiges Licht erhalten.
(°*) No. 799 „Ausrüstung. Rv. sein vormaliger Aufseher.” Gerhard Berlins ant.
Bildw. S. 237.
(°) Apollod. I, 5, 9. Diod. Sie. V, 79.
(°°%) Der auch Minotauros hiefs (Apollod. III, 1, 4).
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemallen Gefäfsen. 51
Krieger, der Augen nicht blos wie viele andere an der Schildfahne, sondern
auch am Panzer und Schildgriff uns zeigt. Auf der Rückseite (Taf, I, 13 a)
steht ein Schleuderer (s$evdovyrys) mit einem Fellhelm das Haupt und mit
einem Fell über dem linken Arm bedeckt (57). Ihm zur Seite liest man KYAKO=S
EN (KvAxos Eygabe). Dafs der hier dargestellte Argos eine Anspielung auf
seinen Ahnherrn ArgosPanoptes den Alläugigen(°°) in der Augenverzierung
der verschiedenen Theile seiner Rüstung ausspricht, läfst sich kaum bestrei-
ten. Die Erwägung, dafs die Trinkschale zur:£ von der Töpferscheibe zuxAss,
TOOX,os neganızcs, an der sie gearbeitet wird, ihren Namen erhielt, und dafs
das Spiel der @yzUAy am Ende des Gastmals in einem Weinnegen zielen und
schleudern bestand, berechtigt aber auch in der Figur des Schleuderers neben
dem KvAxos &y steht, eine geheime Beziehung zu dem Maler Kylkos (5°) zu
vermuthen. Thucydides (°) führt die Akarnaner als die besten Schleuderer
auf. Ein Fragment des Pindar (°!) nennt die Doloper unter Phoenix Anfüh-
rung alsSchleuderer, für welche auch dieFellbekleidung die auch den Dolon
charakterisirt, sich sehr wohl eignet. Als ähnlicher Kampf aus mythischer
Zeit bietet sich der des Hermes mit Argos Panoptes dar, insofern lezterer
durch einen Steinwurf des Hermes seinen Tod fand (°2).
Im Innern einer rothfigurigen volcenter Kylix mit einem jungen myr-
tenbekränzten Lyraspieler bemalt, der sich auf eine Art Keule stützt(6),
lesen wir beigeschrieben APIETAPXOZ KALOX und vermuthen in der be-
schriebenen Figur den Aristarchos selbst, indem auf diesen seinen Namen,
wohl in Verbindung mit seinem Stand eines Musiklehrers oder Komarchos ($*)
(°) Gargiulo Raccolta Vol. II, Tav. 40.
(°°) Panofka Argos Panoptes (Abh. d. kgl. Akad. d. Wiss. 1837.)
(°) Vergl. Kvzrevs Vater des Dichter Arion (Suid. s. v.), einen Argiver KuzAwv bei
Xenoph. Hellen. IH, 5, 1; und den Achäer Kvzrıades bei Pollux XVII, ı, 2. XVII,
xyu, 4. — Hesych. v. Kyzaroı: FeOyoL, chIaAmoı.
(°) Thucyd. I, 81; Pollux I, x, 149.
(©) Ap. Strab. IX, 659 A. Heyne ad Apollod. p. 317. Cavedoni im Bull. d. Institut.
1850 Genn. p. 13. zur Erklärung des Schleuderers auf den Münzen der Aenianer. —
Vergl. auch Plin. H. N. II, v. Balcares funda bellicosas, Graeci Gymnasias dicere.
(°) Apollod. II, 1. 3.
(°°) Dubois Notice d. Vas. du Pr. de Canino 97. Aufserhalb tragen drei myrten-
bekränzte Männer verschiedene Gegenstände, der eine bläst die Doppelflöte; Rv. ein Flö-
tenspieler und zwei Epheben, einer mit einer Kylix, der andere mit einer Önochoe.
(°°) Panofka Namen der Vasenbildner (Abh. d. Akad. d. Wiss. 1840) Taf. IV, 2.
G2
52 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
die Keule, welche den ägxes andeutet und daher auf einer nolanischen
Diota (°°) und einer nolanischen Hydria(°°) in der Hand einer Tanzlehrerin
sich findet, offenbar zu beziehen ist. Hiermit stimmt eine Erzmünze von
Patrae(°7) genau überein, insofern sie unter der Umschrift APICTAPXOC
AAMQNOC MATPERN nächst der Hauptfigur des Poseidon im Felde eine
Keule mit Heroldstab darüber uns zeigt.
Dies Vasenbild wirft vielleicht einiges Licht auf das Aristarcheion
in Elis worunter man das Hieron der Artemis Episkopos in Olympia ver-
stand (6°). Insofern nemlich der Beiname ’Erirzores Aufseher dem dersel-
ben Göttin beigelegten ’Agirra«gx;es entspricht, läfst sich vermuthen dafs diese
Artemis daselbst, wie in einigen Culten Athene, mit einem Keulenstab (°°)
versehen dargestellt wurde.
IKETAZ KALO®& edelist Hiketas lesen wir im Innenbild einer roth-
figurigen Kylix (Taf. I, 10) des königl. Museums neben einer auf ihren Kno-
tenstab gestützten jugendlichen Mantelfigur, offenbar Hiketas selbst, den
eine Frau im Zimmer bei seiner unerwarteten Ankunft umarmt; links steht
eine Kline, oben hängt ein Lekythos, rechts ist eine Thür(’°). Der Ver-
gleich dieses Hiketas mit dem vom archäologischen Institut (?!) veröffentlich-
ten Vasenbild wo Orest als Schutzflehender ixerys auf einen Stab gestützt auf
dem Altar sitzt, Iphigenia rechts, Pylades links, oben Apoll, Artemis und
Tempel, läfst keinen Zweifel zu, dafs auch in unserem Bilde derselbe Orest
gemeint sei. Die Scene ist indefs eine verschiedene: die Abwesenheit des
Pylades und des Altars verbietet uns Iphigenia in Tauri hier zu vermuthen.
Dagegen glauben wir nicht zu irren wenn wir Electra in der Erkennungsscene
(°) Gerhard Antike Bildw. Taf. LXVI. Panofka Griechinnen No. 11.
(°) Im Blacasschen Museum No. 233, unedirt.
(°”) Sestini Deser. num. vet. p. 192. No. 2. Mionn. S. IV, p. 133, No. 900.
(°) Plutarch Qu. Gr. XLVI. Vielleicht dieselbe, welche Pausanias VI, xx, 6
pirousioe& Knabenfreundin nennt, weil ihr Hieron nah beim Gymnasion stand. Vergl.
den Naos der Aphrodite Kareszori« in Troezen beim Stadion des Hippolyt. Paus. II, xxxıı, 3.
— Statue des Eleer Aristarchos in Olympia Paus. VI, xvI, 5. Aristarchos Exeget zu Olympia
PausnVL 33002
(69) Vergl. die auf Knotenstab gestützte Artemis von ’Iz2«g0s (Dumersan Catal. des
Med. du Cab. Allier de Haute Roche Pl. XVI, 8).
(°°%) Nach einer unedirten Zeichung im Besitze Gerhards verkleinert.
(”') Monum. d. Instit. arch. T. II, Pl. xuıu.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 53
und Umarmung ihres Bruders hier ("?) nachweisen. Diese Vase bisher namen-
los und unbeachtet giebt ein glänzendes Zeugnifs für die Wichtigkeit unsrer
Entdeckung des geheimen Bundes zwischen den Eigennamen mit Karcs und
den sie begleitenden Bildern, indem sie zeigt welche neue Quelle für die
Erklärung schwieriger und dunkler Vasenbilder dadurch eröffnet wird.
‘Ich gehe auf ein Thonbild unsres Museums (Taf. I, 12 u. 12 a) über,
das vor mehr als zwanzig Jahren veröffentlicht ward (7°), ohne dafs weder
der Herausgeber, noch irgend ein andrer Wissenschaftsgenosse bis jetzt die
charakteristische Belehrung dieses merkwürdigen Bildwerks erkannt hätte.
So gewöhnlich auch im Allgemeinen Bilder palästrischen Lebens auf griechi-
schen Vasen uns begegnen, so unterscheidet sich doch diese Malerei von
andern schon durch den naiven Zug, dafs der ältere Ephebe, wahrscheinlich
der Erast, in dem Haar des Knaben (und Eromenos) sich die vom Öleinrei-
ben noch fettige Hand abzuwischen und abzutrocken versucht. Der Haupt-
werth der Gefäfses liegt aber in dem ungeahndeten Einklang zwischen dem
Namen des Empfängers dieser Terrakotte, ANTIDON KALOZ, der eigen-
thümlichen Form derselben und ihren Bildern. Dem ersten Herausgeber
war es nicht entgangen, dafs die Malereien hier nicht einer Vase, sondern
einem Leuchter oder einer Lampenträgerform (Taf. I, 12a) zum
Schmuck dienen. Die Frage aber nach der Bedeutung des Namens Anti-
phon kam nicht in Anregung, wiewohl der Name AvSmAuos für Yeryın (7),
der Sonnenstelle, Gegensonne für Mond schon hinreicht, unsern
Eigennamen Antiphon als Lichtstelle aufzufassen, wodurch nicht blos die
besondre Form des Geschenks sich erklärt, sondern auch die in beiden
Gruppen angebrachten Ölfläschchen, sowie der Akt des Ölabtrocknens
72) Sophocl. Electra v. 1224—1226: HA. 3 dirrarov dus.
pP p p
Im -
OP. dir rarov, Evpegrugn.
cu a! > ’
HA. u doeyu, abizov ;
’ nn, ’
OP. Wyzer aA TEev RU.
HA. Ey,w ve Yeociv;
OP. us va Acım Ex,ors dei.
Vergl. die Marmorgruppe Orest und Electra in Villa Ludovisi (Clarac Stat. ant. de l’Europe
Pl. 336, No. 2094.).
(”) Gerhard Ant. Bildw. Taf. LVII. Berlins Ant. Bildw. 797. Palaestriten. Panofka
Bilder antik. Lebens Taf. I, 8.
(°°) BHesych. =. v.
54 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
motivirt werden, insofern sie auf das zur Beleuchtung so nöthige ÖL auf-
merksam machen sollen. Denselben Gedanken, den wir hier angedeutet
finden, spricht auch die mythische Genealogie des Lychnos (Leuchter,
Lampe) aus, insofern sie als dessen Eltern den Feuergott Hephaistos und
die Schöpferin des Ölbaumes Athene angiebt (5).
Einen kleinen Kantharus lukanischen Styls, gegenwärtig im brittischen
Museum, beschreibt Hr. S. Birch (’°), einerseits mit einer Art netzförmi-
gem Zeug, andrerseits mit einer Wellenverzierung geschmückt: auf
demselben liest man die Inschrift EYNOAIZ KALes trefflich ist Eupolis.
Erwägt man, dafs dem Worte ers das m&reıw zum Grunde liegt und dafs
das netzförmige Zeug den auf Vasenbildern so häufig veranschaulichten Tep-
pich auf Stühlen der rerxce hiels, bezeichnet; und erinnert man sich zu-
gleich, dafs die Athene Polias von Erythrae (7) mit einer Spindel in jeder
Hand dargestellt wurde: so leuchtet der Zusammenhang dieses Bilder-
schmucks mit dem Namen Eupolis von selbst ein; die Wellen der Rückseite
mit dem Beinamen ira und ygalaı die Weifsen, die Grauen charakte-
risirt, spielen vielleicht auf gleiche Weise auf den Namen Eupolis an, falls
sie nicht etwa wollne Franzen vorstellen und dann der erst angegebenen
Deutung des Eigennamen Eupolis anheim fallen.
Auf die acht und zwanzig Beispiele einleuchtenden Zusam-
menhangs zwischen Bild und Eigennamen lassen wir fünf und
vierzig zum Theil versteckteren Zusammenhangs folgen, die sich
fast sämmtlich an Götternamen anschliefsen.
Auf einer nolanischen Diota (Taf. II, 7) schwebt Eros mit entfalteten
Fittigen, das myrtenbekränzte Haupt links zurückgewandt; er hält in der
Rechten einen kleinen Stab, um den vor ihm befindlichen Reifen (r90%s)
in Bewegung zu setzen; seine Linke hält eine Taube SONAN >33NN01A
Diokles ist schön liest man daneben. Auf der Rückseite streckt eine
myrtenbekränzte jugendliche Mantelfigur den Arm nach vorn. Die Inschrift
() Die Erläuterung dieser Vase wirft zugleich ein unerwartetes Licht auf folgende
Verse des Komiker Platon (von Galen ad Hippocrat. Aphorism. Vol. V, p. 322 ed. Bas.
eitirt) der den Kinesias erwähnt iryagas zezaunsvos IMeioras im Eiguhavros Ev
Tu Furt.
(°%) In Gerhard’s Archäol. Zeit. N. F. N. 10. Oct. 1844, S. 135.
(a) ErBaus= VII, 0,242
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 55
KALOZ neben ihm(?°). Dieser schöne ist offenbar Diokles, des Zeus
Herrlichkeit, Ganymed, an welchen Eros Reifenspiel und Taube als
Liebesgeschenke (”?) des Zeus überbringt. In Megara wurden die Heroen
Alkathoos und Diokles mit Festspielen A:ozrsia gefeiert (°), deren auf Lie-
besverhältnifs hinweisenden Charakter folgende Verse des Theocrit Idyll.
XI, 27—31 unwiderleglich ans Licht stellen:
Niratcı, Meyagnss agınreuovres Egerueis,
orßıcı oinsioıre, Tov Arrırov ws megianna
Eeivov ErıunsarIe AuoxAta rov pırRormarda.
alsı ol mepl ruußov doAAees elagı mourw
woüpoı Egidmaivounı bıAnuaros eng pegerSaı.
Zum besseren Verständnifs des Namens A:ox295 trägt wohl auch der Hellenen
Bezeichnung Ars @yyeros Frühlingsbote für Schwalbe und Nachtigall bei,
indem hier des heitern Himmels Herrlichkeit (Aus xr&os) für Som-
meranfang mit der für Diokles bestimmten, Wärme symbolisirenden (°!)
Taube wohl übereinstimmt.
Auf einer nolanischen Diota (Taf. I, 12) erblicken wir Poseidon mit
Dreizack, in ausgestreckter Linken einen Delphin reichend, über dem Arm
KALOZ;, mitten geht ein MEAHTOEZ herab, Schön ist Meletos, offen-
(°°) Raoul Rochette Monum. indd. Pl. XLIX, 1.
() Petron. Cap. XLV: Domina, inquam, Venus, si ego hunc puerum basiavero ita ut
ille non sentiat, ceras illi par columbarum donabo. Cap. XLVI. Proxima nocte cum idem
liceret, mutavi optionem: et, si hunc, inquam, tractavero improba manu, et ille non senserit,
gallos gallinaceos pugnacissimos duos donabo patienti. Aristoph. Av. 705—707. Chor:
Ilorrcis d2 Karoüs AmOuWMOZOTES eds maos Teguaeıv uns
die Fyv iryuv FyV Aneregav dsurgısav audgss Zoasrei,
6 nv ogruya dous, ö ö: moppugiav, ö de Yav, ö 8 megTıR0V ogvır.
() Schol. Pind. Olymp. XII, 155. Arist. Acharn. 774. Welcker ad Theogn. p. LXX VIN.
C. Fr. Hermann Gottesdienstl. Alterth. $. 52. Unbewufst liefert Welcker (Rhein. Mus. HI
Jahrg. 1834. S. 226.) den Commentar zu unserem Vasenbild: „Auch an den Diokleen in
Megara, dem Wettkampf der schönen Jünglinge im reizenden Kuls, wobei der Kampfrichter
den Ganymedes anrief, war die Legende wie in Chalkis, dafs der als Heros gefeierte Lieb-
haber seinen Liebling rettend in einer Schlacht gefallen sei (Sch. Theocrit. XII, 28), und
mit solchen Sagen steht auch der Gebrauch der Sparter vor den Schlachten dem Eros zu
opfern in Verbindung (Athen. XII, p. 561 e.).”— Vergl. den Morgenstern als Siegel
des Dioklees EMI AIOKAEYC AFTAOEINOY KNIAIOY auf irdnem Vasenhenkel bei
Thiersch Abh. d. Münchn. Akad. Bd. XV, 1838.
(*) Panofka in Gerhard’s Archaeol. Zeit. 1843. Taf. IV. Mon. d. Instit. Tom IV, IH.
56 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
bar Name des Empfängers der Vase, auf den sich auf der Rückseite das Bild
eines den Poseidon anschauenden Epheben bezieht, der mit der Tänia der
Eingeweihten dasHaar umbunden und ganz in den Mantel gehüllt auftritt ($?).
Wenn der Herausgeber der Vase die feindliche Stellung des Poseidon her-
vorhebt und daran die Vermuthung knüpft ‚‚die Vase sei für das Grab eines
jungen Schiffbrüchigen bestimmt gewesen,” so bedauern wir in beiden Punk-
ten die Ansicht unsres genialen Collegen nicht theilen zu können, da das
Hinreichen eines Delphin von Seiten des Poseidon, vergleichbar dem eines
Hahnes von Seiten des Zeus an Ganymedes, oder einer Taube oder eines
Hasen von Seiten des Eros, entschieden Liebesbeziehungen andeutet, für
welche sich auch dasBild des Epheben auf der Rückseite in seiner Verhüllung
als männliche vuupn d. i. als vuubes, sehr wohl eignet. Des Meletos Busen
hiefs der Busen von Smyrna vom Flusse Meletos, wie Hekatäus in seinen
aeolischen Geschichten berichtet (°°). Den Namen Melite MEAITE führt auf
einer volcenter Vase (°*) eine bei der Hochzeit des Peleus und Thetis gegen-
wärtige Nereide. Demnach vergegenwärtigt das Vasenbild vielmehr ein in-
niges Verhältnifs zwischen Poseidon und Meletos, ähnlich dem zu Pelops.
Die Namengemeinschaft des Lieblings des Meergottes, Meletos mit dem
Empfänger dieses Liebesgeschenkes motivirte die Wahl des Bildes. Oder
sollte hier dem Poseidon der mit Ino ins Meer gestürzte, von einem Del-
phin aufgenommene, und nachher zum rettenden Meergott Palaemon, bei
den Römern Portumnus, erhobne Melikertes(°°) gegenübertreten, für
welchen der Name Meletos sich fast als Synonym auffassen liefse?
MYOOKLEZ KALOZ schön ist Pythokles lautet die Inschrift, welche
auf einer archaistischen Hydria (Taf. II, 1) längs der Rosse einer Quadriga
sich hinzieht auf der Aphrodite und Poseidon durch Inschrift gesichert ein-
herfahren. (°°) Pythokles also empfing die Vase zum Geschenk, vielleicht
(#) Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXIII.
(®) St. Byz. v. Meryrou z0rr0s. Meletos mit Schilf und Urne liegend auf Münzen
von Smyrna (Mionn. D. III, p. 210, No. 1158). Der Fluls Meles die Rechte auf die Lyra
gestützt, als Sänger, den linken Arm auf eine wasserausströmende Hydria, auf Münzen
von Amastris in Paphlagonien (Mionn. D. II, p. 391, No. 20. 21.).
(@*) Gerhard Auserlesene Vasenbild. III, cLxXx1.
(@) Apollod. III, 4, 3. Ovid. Metam. IV, 520 u. ff. Hyg. f. 2. Paus. II, ı, 3. Plut.
Sympos. V, 3. Schol. Pind. p. 515. Böckh.
(°°) Lenormant et de Witte Elite Ceramogr. III, Pl. XV.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 57
in Folge eines Wagensieges in isthmischen oder sonstigen Spielen desPoseidon
Hippios. Allein der Name Pythokles, Pythoschlüssel, den dieser Hellene
führte, gehörte vermuthlich anfangs dem Poseidon selbst, insofern dieser
Gott mit Ge der älteste Inhaber von Delphi und seinem Orakel war, das er
erst nachher gegen Kalauria dem Apoll überliefs(°”). Durch diese Erwägung
erschliefst sich uns die geheime Verwandtschaft zwischen Pythokles und dem
Poseidonbild unsrer Vase.
KALE NENAIZ Schön ist Nelais zieht sich auf einem gelbfigurigen
lukanischen Lekythos(°®) des kgl. Museums (Taf. III, 9) vor einer langbe-
kleideten Flügelfrau, welche in der ausgestreckten Rechten einen Schiffs-
schnabel hält, die Linke auf das Steuer stützt und vor einem niedrigen Altar
steht, auf dessen Mitte ein Apfel zu liegen scheint. Von dem ersten Heraus-
geber, Millingen (°°), wie von andern Archäologen ward diese Figur als See-
siegsgöttin gedeutet, bis Welcker(®°) das früher als Scepter aufgefafste
Steuer hervorhebend und den (nach dem Ufer) zurückgewandten Kopf der
Frau berücksichtigend und auf Abschied beziehend, derselben den Namen
EörAcie die gute Schiffahrt beilegte. Auffallender Weise haben bis zur
gegenwärtigen Stunde die ausgezeichnetsten Archäologen den auf der Vase
deutlich geschriebnen Eigennamen übersehen und sämmtlich KALE HEMAIE
gelesen. Allein die Lesart NEAAIZ (wie sie die HH. Lenormant und de
Witte in der Elite ceramographique (?') richtig publizirt haben) unterliegt
keinem Zweifel und kann als weiblicher Eigenname um so weniger befrem-
den, als sie in der Form NyAris, der Neleustochter Pero (°?), und in der
männlichen Form Neraidus, Name eines olympischen Siegers aus Elis (°3), ihren
Stützpunkt besitzt, andrerseits aber in Folge unsrer Entdeckung des Zusam-
menhangs zwischen Bild und Eigennamen ihre befriedigende Bestätigung
findet. Denn der Name Nerais läfst sich nur von veös, vews und Aaw das
Schiff treiben erklären, sowie verAarns der Steuermann heifst, und im
(©) Pausan. X, v, 3. Panofka Ann. de l’Instit. arch. XVII, p. 65. Gerhard Etrusk.
Spiegel Taf. LXXVI. Mus. Etr. Gregor. I, Tab. XXIV.
(°) No. 835. Gerhard Berlins ant. Bildw. S. 242. Panofka Mus. Bartold. p. 104—108.
(#) Millingen anc. unedit. Monum. pl. XXIX.
(°) Annal. dell’ Instit. arch. Vol. III, p. 420.
(°') Elite Ceramogr. I, xcım. daselbst wird dennoch z«r= 5 «ıs vermuthet.
() Apoll. Rh. I, 120. Vgl. auch Ny2« Stadt in Magnesia in Thessalien Strab. IX, 436.
(®) Paus. VI, 16, 8.
Philos.-hist. Kl. 1849. H
58 PınorkaA . Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Einklang mit diesem Namen Nelais stehen sowohl das Steuer, als das mit
einem Auge geschmückte, nicht Vorder- sondern Hintertheil des Schiffes,
sowie die auf den Wind sich beziehenden Flügel. Demnach hat der Vasen-
maler hier nicht EörAci« bei der ein Peplos als Seegel unerläfslich wäre,
sondern eine dieser nahverwandte göttliche Personifikation NrAais die
Schiffslenkerin dargestellt, von welcher Nelais für die das Salbgefäfs
bestimmt war, ihren Namen ableitete.
Eine schwarzfigurige Amphora (Taf. II, 5) zeigt auf der einen Seite
nach der Ansicht der Herausgeber (?*) sieben Nereiden spinnend, die
am Ende sitzend und die Inschrift NEAIEYZ KALOZ, auf der andern Seite
Poseidon und Amphitrite, Hermes und Hestia als stehende Umgebung der
sitzenden Athene(°). Die Worte Iledievs Kadcs, die man links bei der am
äufsersten Ende sitzenden sogenannten Nereide liest, beziehen sich als Aus-
ruf der Vasenschenkerin zunächst auf den Empfänger der Vase, welcher
Pedieus hiefs. Dafs die beiden geistreichen Herausgeber dieser Vase über
den Sinn der Vorstellungen sich so täuschen konnten nimmt mich Wunder.
Denn sowohl der Mangel jeglichen Wassersymbols in der Nähe der mit einer
Spindel versehenen Frau, als die Dreizahl derselben verbietet Nereiden hier
zu erkennen, sondern weiset am natürlichsten auf dieMoeren, deren mittlere
einen zu Wolle bestimmten Korb x«ar«Scs bringend den NamenKlotho verdient,
während die eine der Spindelhalterinnen Lachesis, die andre Atropos heifsen
mufs. Die beiden am Ende der Scene sitzenden Frauen vor welchen je eine
Moira mit Spindel hintritt, lassen wegen der Nähe dieser Göttinnen und
wegen ihres Dualismus die Benennung der beiden Fortunen Tuyaı zu; die
eine, rechts sitzend, mit einer Blume in der Hand, assimilirt sich der Kora
oder Aphrodite; die andre ihr gegenüber, wohl eher ein Steuerruder hal-
tend, der Themis(°°), als mit einem Zaum der Nemesis. Die im Centrum
auf einem mit Pantherfüfsen ausgezeichneten Klappstuhl sitzende Göttin
(°*) Lenormant et de Witte Elite c&ram. III, Pl. XXXVIB. Das bisher unerkannte
Seitenstück zu dieser Vase bildet eine gleichförmige mit Hesperiden oder Oschophoren
bemalt Elite III, xtır. Dieselbe Verwechslung von Nereiden und Moeren findet in
Bezug auf einen Altar in Corcyra, zum Andenken an die Hochzeit von Jason und Medea
gestiftet, statt (Timaeus ap. Schol. Apoll. Rh. Argon. IV, 1217. Apoll. Argon. IV, 1215—17.).
() Ibid. Pl. XXXVIA. De Witte Deser. d. Vas. de l’Etrurie 66.
(°%) Paus. X, xxIv, 4. Vergl. Mon. de l’Instit. I, ıvır, 12 das Ruder auf der Münze
von Neapolis.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 59
halte ich für Demeter, ohne zu bestimmen, in Ermanglung der Autopsie der
Vase, ob sie Ähren, oder Wolle, oder was sonst mit beiden Händen hält,
Neben ihr steht vielleicht ihre Tochter Despoina, im Gespräch mit Klotho.
Sollte dies Vasenbild uns nicht die schwarze Demeter im Zorn
über die Gewaltthat des Poseidon vergegenwärtigen und zwar in dem Mo-
ment wo die von Zeus abgeschickten Moeren ihren Zorn besänftigen, so dafs
sie ihre Trauer ablegte (°”)? Erwägt man hierbei, dafs dieser Mythos auf dem
Ölberg "Eraicv in Arkadien spielt, so dürfte auch der über die ganze Scene
sich ausbreitende Olzweig diese Lokalität zu versinnlichen sich eignen. Zur
Erklärung des Namens Pedieus(°°), der mit redev Boden, Erde, und dessen
Diminutiv r&diev Ebne zusammenhängt, trägt der Verein ausschliefsend
chthonischer Gottheiten auf unsrer Vase wesentlich bei. Sollte man aber
vorziehen den Namen Iledisvs mit wedıev dem Diminutiv von redy, Band,
Strick, Zaum, Fufsfessel, in Verbindung zu setzen, so dürfen wir zu
Gunsten dieser Ableitung des Namens Pedieus, den vermutheten Zaum in
der Hand der auf Nemesis gedeuteten Göttin links um so wahrscheinlicher
beziehen, als gerade über dem Haupte dieser Figur die erste Sylbe des Na-
mens FIEA zu lesen ist, und andrerseits für die Verbindung des so aufgefafs-
ten Eigennamens Pedeus mit den Moeren sowohl Pindar Pyth. V, 49 Helga
aörcv emednce, als Homer Il. IV, 517 Meig ereöncev und I. XXIL, 5 "Exroga
Ö° aurcl uelvaı, öAcn Meig Ereönrev zu zeugen vermögen.
Eine volcenter rothfigurige Kylix (*) des kgl. Museums (Taf. II, 11)
zeigt im Innenbild auf Flügelwagen sitzend, gleich Triptolem, einen myrten-
bekränzten bärtigen Dionysos in langeın Armelchiton und Peplos; in der
Rechten ('°°) hält er horizontal einen geleerten schwarzen Kantharus, in der
Linken einen Hammer. Ringsum zieht sich KEDITOX KALO&('''!). Dafs
7) Paus. VII, xumm, 3.
() Pedias Tochter des Menys aus Lacedämon, Gemalin des Königs Kranaos in Attika
(Apollod. III, 14, 5). Pedieus athenischer Archont Ol. 82, 4, (Diod. S. XII, 4.). — Ieöics,
Phyle von Attica, (St. Byz.) und ein Demos (Plat. Themist. 14.).
() No. 1757. Gerhard Auserlesne Vasenb. I, Lvur, 1. 2. Lenormant et de Witte Elite
c@ramogr. I, xXxVIn.
('”) Voreilig äufsert Böttiger griech. Vasengem. I, ı1, S. 194, Note: „Die Hephästi-
schen Wagen der höheren Olympier sind alles Automaten, oder durch die inwohnende
Kraft zu Luftwagen geeignet. Hier ist also an gar keine Beflüglung zu denken.”
('”) Bei Gerhard falsch publizirt Kvsdıros Karcs, bei Lenormant falsch gelesen
HEYalsTOZ KALO&,
H2
60 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
die auf Münzen von Lipara (!%*) sich wiederholende Vorstellung der Gott-
heit feuerspeiender Berge an deren Fufs der Weinbau beson-
ders gedeiht, hier uns vor Augen tritt, unterliegt wohl keinem Zweifel.
Der Eigenname des Vasenempfängers Kephitos war ursprünglich wohl ein
Epitheton des Gottes selbst, wie aus Hesychius Glossen Kybuwdeis: rerubw-
nevor, zararerıyarneva, insofern Typhos den Repräsentanten der Vulkane
bildet, und Kypırıeis- yevos 'ISayevav scil. aöroy,Sovwv für Erdgeboren, und
KarVTrcwv &amvenvy mit Wahrscheinlichkeit sich schliefsen läfst, und unab-
hängig davon bei der dorischen Form dieses Namens Kagıros der Gedanke an
Dampf und Rauch xa@vcs sich darbietet.
Auf der berühmten rothfigurigen Kylix der Erzgiefserei (1°) im königl.
Mu3eum liest man AIOTENEZ KALOZ NAIXI über einem Epheben dessen
Linke an die Seite gestützt ist, während die Rechte auf dem am Boden an-
gestemmten Hammer ruht: er blickt nach den glühenden Kohlen, die ein
bärtiger sitzender Mann mit Vulcansmütze mit einer Hakenstange anschürt:
neben ihm arbeitet ein bärtiger Künstler mit dem Hammer. Bedenkt man
dafs das Innenbild dieser Kylix Hephaistos die Rüstung des Achill für die
vor ihm stehende Thetis beschaffend darstellt, so liegt es nahe mit Rücksicht
auf das an der Wand hängende Bild eines Kabiren, in dem schönen Diogenes
selbsteinenErzbildner und Schützling des Hephaistoszu vermuthen, dem nie-
mand den Namen Zeussprof[s Auoyeves streitig machen konnte, da Homer(?*)
ihn nicht blofs als Sohn der Hera, sondern des Zeus und der Hera anführt.
Auf dem Innenbild einer andern volcenter Kylix palästrischen In-
halts (!%°) schreitet eine unbärtige Mantelfigur mit Krückenstab und Gerte
('%) Combe Mus. Hunt. T. 33, XIX. Panofka Einfluls d. Gotth. auf d. Ortsnamen
Mars, 1o:
('®) No. 1608. Gerhard Trinkschal. d. Kgl. Mus. Taf. XII. XIII. Panofka Bilder ant.
Leb. VIII, 5.
(‘%) Hom. I. I, 578; XIV, 338. Odyss. VIII, 312. Vergl. Hesiod. Opp. 299 Ilzosr,
Atou yevos.
('®) Roulez Mm. de l’Acad. Belg. d. Sciences T. XV, pl. IH. Aufsenseiten Pl. I.
Ringekampf zweier Epheben, rechts bärtiger Paedotribe mit Stab und Gerte, über dem
Ringer HO MAIZ. Diesem im Rücken Ephebe mit Schurz und Hammer, Binde, KALOg,
im Gespräch mit einem, der eine lange Schnur mit beiden Händen hält. Sollte vielleicht
diese Schnur nächst ihrer Bestimmung als Cestus, hier wie im Innenbild auf die Mels-
schnur desKünstlers eine Anspielung verbergen? Pl.II. Die Rückseite zeigt Cestuskäm-
pfer, einen Paedotriben, links einen Jüngling mit einer Schnur, rechts einen mit Halteren,
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 61
vorwärts, sich umblickend nach einem Epheben mit Binde um den Kopf,
der in der Linken einen Wurfspiefs, in der Rechten eine Schnur wie für
Cestushält. Hinter ihm liest man AIOAENES, vor ihm KALOZ. Der Cestus
erinnert an den berühmtesten Cestuskämpfer der griechischen Mythologie,
an Polydeukes, und da dieser als einer der Auosxegoı auf den Namen Auc-
yevys gerechte Ansprüche hat, so erkenne ich zwar zunächst in diesem Bilde
des Diogenes Virtuosität im Cestuskampf, gleichzeitig aber das Verhältnifs
des Schutzheros in welchem Polydeukes zu Diogenes stand.
Für die oben aufgestellte Vermuthung, dafs Diogenes ein Bildhauer
gewesen, spricht auch auf dieser Kylix auf einer der Aufsenseiten seine mit
Karos überschriebne Persönlichkeit mit Binde ums Haupt, durch Künst-
lerschurz und Beil angedeutet, und an den bärtigen Künstler der ersten
Kylix mit Hammer und gleichem Schurz lebhaft erinnernd.
Eine rothfigurige volcenter Kylix des Maler Peithinos (!°°), auf den
Aufsenseiten mit Scenen von Männerliebe geschmückt, zeigt im Innenbild
den Ringekampf von Peleus und Thetis, nah bei diesem und der für Thetis
kämpfenden Schlange zieht sich AOENOAOTOZ KALOZ herab. Der Athe-
negegebne ist hier kein andrer als ihr Sohn von Hephaistos, das Erdkind
Erichthonios (''7), welches unter dem Bilde der Schlange dargestellt
wurde (!°°). Dies darf uns aber nicht hindern uns zu vergegenwärtigen, dafs
einerseits Peleus von Erichthonios der Bedeutung nach nicht verschieden
ist, insofern r7Aos Lehm und %S&v Erde dasselbe bezeichnen: dafs aber
andrerseits Peleus als raraiwv Ringer in dieser Kampfscene mit Thetis auf-
tritt, und insofern Pallas als Göttin der gymnastischen Spiele gilt, zugleich
das ’ASevoderos des Schützlings dieser Göttin auf ihn seine Anwendung findet.
Auf einer andern rothfigurigen volcenter Kylix erscheint im Innen-
bild (1%) ein bekränzter Ephebe in der Höhlung der Linken ein Trinkgefäfs,
in der Rechten einen Stab als Gleichgewicht haltend; dabei liest man
ABOENOAOTOZ KALOZ. Auf den Aufsenseiten umgeben vier Epheben
(‘°) No.1005. Gerhard Trinkschalen d. Königl. Mus. Taf. XIH, XIV, XV. Panofka
Namen d. Vasenbildner Taf. I, 1. 2.
(‘°) Hygin. Poet. astron. II, 13. Fab. 166. Apollod. II, 14, 6. Euripid. Jon 260.
Paus. I, u, 5.
(23) Hygm-2PFA. II, 13:
('°) Mus. Etrusq. du Pr. de Canino 144.
62 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
mit Körben, Amphoren und Krotalen je zwei eine Auletria und eine Aequi-
libristin mit gleichem Stab in der Rechten, und derselben Inschrift ASevo-
deros Karos. Die Wiederholung des Balancirens im Innenbild, welches
den Athenodotos als r«AAwv uns darstellt, und auf der einen Aufsenseite wo
eine Frau in gleicher Aktion uns entgegentritt, finden beide ihre Erledigung,
sobald wir uns klar machen, dafs Athene den Namen Nearr«s als Schwin-
gerin und Tänzerin(!!') führt.
Einem sicilischen Töpfer gehörig, mit eingedrücktem AOANO und
AOTOY
Füllhorn daneben, traf ich denselben Eigennamen auf einem Vasenhenkel
aus gebrannter Erde bei dem ausgezeichneten Numismaten Principe San
Giorgio in Neapel: zu dieses Athanodotos Erklärung genügt es daran zu er-
innern, dafs zu Thespiae Plutos mit Athena Ergane(!!!) im engsten Zu-
sammenhang aufgestellt ward, und dafs auf der Akropolis zu Rhodos ein
geflügelter Plutos gemalt war wegen des Goldregens bei der Geburt
der Athene(!!2).
Dieselbe Erscheinung des Zusammenhangs zwischen Eigennamen und
Bild überrascht uns auf einer einhenkligen gelbfigurigen Vase (!!?) mit der
Inschrift NYOOANPOZ KALOZ und einem Thieropfer bemalt, welches drei
lorbeerbekränzte Jünglinge (zwei davon mit dem Peplos bekleidet, der klei-
nere nackt), der eine mit einer Fackel (!!%), der andre als Priester mit einer
Schale vor dem lodernden Altar verrichten. Indem die Lorbeerbekrän-
zung Apollinisches Opfer bezeugt, liegt es nahe hiemit in Verbindung den
Eigennamen Pythodoros, Pythobeschenkter, auf Apoll zurückzu-
führen, welcher von Poseidon Pytho zum Geschenk für Kalauria er-
halten hatte.
Auf gleiche Weise treffen wir auf einer archaischen Amphora (Taf.II, 4)
die Inschrift schön ist Pasikles NAZIKAE£ KALO& hinter dem Kitha-
(*'%) Plato Cratyl. 51. p. 406. To yaa mou m aurev 4 vı @ARo0 Merewoigem n dmo rus
yns 9 Ev reis YEorı marAEıV ve za maAdssIaı zur ots Dar zaKoÜlLEV. —
(U) Baus 2losel:
(‘') Philostrat. Imagg. II, 27.
('') Mus. Etr. du Pr. de Canino No. 537. Le sacrifice. Gerhard Rapp. volcente Ann. III,
pag. 191, not. 815 liest IvSoözAos Kareos.
(+) Oder etwa Spiels mit Fettstücken ’?
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 63
roden Apoll zwischen Artemis und Leto('!5). Man mag nun diesen
Eigennamen Allberühmt, richtiger Schlüssel für Alle, oder Pasiphae
zu Hülfe rufend, rarıs für parıs, wie vavcs identisch mit $avös auffassend,
Lichtschlüssel übersetzen: so bleibt im einen wie im andren Fall der
Name für Apollo vorzugsweise geeignet, den der Empfänger der Vase wohl
als Schutzgott verehrte.
So ruft auf einer rothfigurigen volcenter Diota (Taf. II, 10) der be-
kränzte Apoll mit Pfeil in der Rechten und Bogen in der Linken, den Köcher
auf dem Rücken, durch die Worte KALOZ KALLIKLEE seinen schönen Lieb-
ling Kallikles an, der mit Binde ums Haupt, im Mantel gehüllt, auf einen
Stab gestützt, auf der Rückseite der Vase dem Gotte gegenübersteht (!!6).
Ob dem Apoll hier als schöner Eromenos Hyakinthos, Linos oder Branchos
entgegenkommt, oder ob vielmehr der einzige von den Todespfeilen des
Apoll verschonte Niobesohn Amphion, oder Amyklas (!!7), läfst sich nicht
bestimmen. Dagegen dürfte der Name Kallikles als Schönheitsschlüssel
oder als Schönheitsruf, ursprünglich einem Liebling des für Knaben-
schönheit besonders empfänglichen Apoll, vor dessen Schenkel dieser Name
steht, angehört haben, und erst später als Eigenname in das wirkliche Leben
übergegangen sein.
EYOINETOZ Wohlgeliebt heifst der Besitzer einer archaischen (13)
Önocho& (Taf. II, 6) gewils in enger Beziehung zum jugendlichen Kitharoden
den diesmal nicht wie sonst die zwei andren delphischen Gottheiten Artemis
und Leto, sondern entweder die drei Grazien als die Göttinnen der
Liebe und Freundschaft, oder die drei Horen in ihre Mitte neh-
men(1!?). Die Inschrift KALE vor Apoll, sowie die Eögireros hinter der mit
('®) Gerhard Auserl. Vasenb. I, xxv. Lenormant et de Witte Elite c&ramogr. II, xxıu.
Man mag Ilesızays oder Hasızras lesen, beide Namen eignen sich für Apoll. Vgl. Am-
phikleia, früher Amphikaeia benannt, Stadt in Phocis wo Dionysos im Traum Krank-
heiten heilte Paus. X, xxxıı, 5.
(‘'%) Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXIV.
(*'”) Paus. V, xv1, 3. Apollod. III, 5, 6.
(‘'%) Lenormant et de Witte Elite Cram. II, xxxIr.
(“'?) Vergl. den Apoll mit den drei Grazien auf der Hand (Paus. IX, xxxv, 1. Plut. de
Mus. T. X, p. 664 ed. Reiske); sowie den athenischen Flottenführer Sohn des Euphile-
tos, Xagotörs bei Thucyd. III, 86; Xagicörs bei Justin. IV, 3. Für die Horen von denen
Apoll auch wohlgeliebt wird, sprechen die Namen Kare Frühling und Sommer,
Niperis identisch mit Chione Winter, und OivavSy Herbst.
64 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
einer Blume dem Sänger entgegentretenden Charis sind als aus dem Munde
beider kommend zu denken, und verrathen das Liebesverhältnifs der Vasen-
schenkerin zu dem Empfänger.
Die geheime Beziehung zwischen Euphiletos und Apoll leuchtet nicht
minder deutlich auf einer archaischen Hydria hervor um deren Halsrand
ZONAN ZOT3NIOY3 schön ist Euphiletos zu lesen ist. Die Malerei zeigt
Apoll in Begleitung der Artemis, bemüht den von Herakles geraubten Drei-
fufs wiederzunehmen; hinter Herakles stehen Minerva und Mercur(!?°). Den
Streit des Herakles und Apoll sucht eine zwischen beide iretende bärtige
Figur, Hephaistos (?2) zu schlichten. Der schöne Wohlgeliebte zunächst
den Vasenempfänger angehend, trifft aber zugleich auch hier den Apoll und
seinen Dreifufs als seinen wohlgeliebten Sitz.
Wenn drittens unser Euphiletos sich auf einer panathenaischen Preis-
amphora als Sieger im Wettlauf der Panathenäen bekundet, und sein Name
mit Karcs sich rings um ein Rad als Emblem des Schildes der Athene herum-
zieht(!?!), so lehrt schon der männliche Name mit Karos, dafs Inschrift und
Schildwappen nicht der Athene sich anschliefsen, sondern dem Sieger als
sein Privatsiegel zufallen, wobei mit Vergleich der lezterklärten Vase das
Rad als xUxAres wevrızes, ein Haupttheil des Dreifufses, als Sitz des orakel-
gebenden Gottes oder seiner Priesterin, auf den Orakelgott Apoll zurückfüh-
rend uns sehr zu statten kömmt.
Auf einer nolanischen Diota (Taf. II, 9) erscheint Artemis mit einem
Bogen in der Linken, mit der Rechten einen Pfeil aus dem Köcher am
Rücken nehmend, mit Haube, Ohrringen und einem Peplos über dem langen
Chiton vorschreitend: vor ihrem Munde liest man KALOZ, vor ihrem Un-
terkörper FTAAYKON „‚Glaukon ist schön.” Ihr entgegen kömmt auf der
Rückseite eine Frau mit Haube, einem Peplos über dem langen Chiton, in
der Rechten eine lodernde Fackel(!??), vermuthlich die mit der Nacht in
('?°) De Witte Cabin Durand Vas. p. 314.
('*') Braun Bull. 1841. p. 135. Gerhard Etr. und Kampan. Vas. d. Kgl. Mus. A. 5.
Vgl. B. 15. wo im Rad drei Schwäne die Stelle der Speichen vertreten. Vgl. Aeschyl.
Sept. c. Theb. v. 113. 414:
’Q Yeusomyane Öalaov, Erid Emıde
Tav meorw, dv Mor södıryrav &Iov.
(') Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXV. Lenormant et de Witte Elite cera-
mogr. II, xvıu.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 65
einen Begriff zusammenfallende Göttin der Verborgenheit, Leto. Der Mei-
nung des gelehrten Herausgebers ‚,‚ein junges Mädchen von den Pfeilen der
Artemis getödtet und auf der Rückseite dargestellt, sei die Veranlassung
dieses Vasenbildes,” kann ich schon deshalb nicht beiflichten, weil die grie-
chischen Jungfrauen wie die unsrigen sich grade durch eine eigenthümliche
Haaranordnung und Hauben- wie Schleierlosigkeit von den verheiratheten
Frauen unterschieden. Warum aber grade dieser Gegenstand für eine Vase
zum Geschenk an Glaukon gewählt ward, erläutern vielmehr folgende Worte
des Cicero de Nat. Deor. II, 28: ‚‚der dritten Diana wird Upis als Vater
und Glauke als Mutter beigegeben:: die die Griechen oft nach dem Vater-
namen selbst Upis nennen.” Demnach dürfte die auf der Rückseite befind-
liche fackeltragende Frau, mit Leto und der Nacht gleichbedeutend, als
Mutter der Artemis auf den Namen Glauke gerechte Ansprüche haben und
die Fackel in der Bedeutung des Lichts der Nacht die Stelle der Eule, yaav£,
vertreten.
Ein einhenkliges rothfiguriges volcenter Gefäfs (!??) mit derselben
Inschrift TAauxov Kadss zeigt einen mantelbekleideten jungen Mann, das Haupt
mit einer Binde geschmückt: insofern er in der Rechten einen Pfeil hält,
erinnert er unwillkührlich an die einen Pfeil aus dem Köcher holende Arte-
mis der eben erläuterten Vase und giebt zu der Vermuthung Anlafs, der
Bruder jener Artemis, Apoll als Schutzgott des Glaukon, für den diese Vase
bestimmt war, sei hier abgebildet ('!**).
Eine rothfigurige volcenter Kylix auf den Aussenseiten mit Kämpfen
der Griechen und Barbaren geschmückt, ist im Innern mit einem auf seine
Lanze gestützten Krieger bemalt, der an der Linken einen Schild mit Stier-
emblem trägt, auf dem Kopf einen Helm mit doppeltem Federbusch: nah
dabei ist ein Knabe dessen Obertheil nicht mehr vorhanden. Wenn Herr
Dubois(!?5) die Inschrift FAAYKOZ KANOZ schön ist Glaukos richtig
('?) Mus. Etr. du Pr. de Canino No. 553.
(*) Vergl. die nolanische Diota eines Glaukon der aus der Akamantischen Phyle als
Choregos und Sieger durch eine dem Dreifuls sich mit Taenia nähernde Nike bezeichnet
wird und in der Mantelfigur der Rückseite sich selbst offenbart. Panofka Mus. Blacas Pl. I.
— Abweichend äufsert sich Welcker Rhein. Mus. Bd. II, 1834. (Anzeige des Ibyei Fragm.
ed. Schneidewin) $. 253: So ist auch der Name Glaukos (ausgenommen bei dem Seegott
Glaukias) an einer volcenter Vase KALOZ TAAYKQNN nur von den Augen zu verstehen.
('?) Dubois Notice de Vas. du Pr. de Canino. 76.
Philos.-histor. Kl. 1849, I
66 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
gelesen, so dürfte das Bild den Trojaner Glaukos veranschaulichen, der mit
Diomedes durch Gastrecht von Oeneus her befreundet, die Rüstung mit
diesem tauschte ('?%), und beim Kampf um die Leiche des Achill dieselbe
auf die Seite der Trojaner zu ziehen versuchte, nachdem die Lanze des Ajas
ihm bereits eine tödtliche Wunde beigebracht hatte (177).
Auf einer archaistischen Hydria im brittischen Museum (!??) lesen wir
AYZIMNMIAEZ KALOZ POAON KALE bei dem vierspännigen Hochzeitswagen
auf welchem Braut und Bräutigam dieses Namens vom Kitharoden Apoll und
zwei andren bekleideten Figuren, etwa Grazien, begleitet, einherfahren ;
der Hals der Hydria ist mit dem Kampf um den Leichnam des Antilochos
zwischen Achill und Memnon unter den Augen ihrer Mütter Thetis und Eos
bemalt. Um den Zusammenhang zwischen dem Brautnamen 'Podev (Rose)
und der Göttin des Morgenroths zu begründen und zu Gunsten des einen
Vasenbildes wo Eos dem Memnonskampf zuschaut geltend zu machen, reicht
es hin, an die rosenfingrige und rosenarmige Eos bei Homer (!??) zu erin-
nern, sowie an Rhode, des Poseidon und der Amphitrite Tochter, die Ge-
malin des Helios, welche Apollodor ('?°) als Mutter des Phaöthon bezeichnet,
während Pausanius('?‘) dieselbe Hemera nennt. Auf gleiche Weise führt
der Eigenname Lysippides auf den mit gelöstem Zügel des Viergespannes
einherfahrenden Sonnengott (!°?), der ursprünglich wohl unter diesem Namen
angerufen ward. Insofern aber der Name Rhodon uns zugleich nach der
Insel Rhodos hinweist wo des Helios sprengendes Viergespann, der Kolofs
des Lysippos, eins der sieben Wunderwerke der alten Welt, aufgestellt
war: gewinnen wir hinlängliche Beweise dafür, dafs die Bilder der Braut-
leute Lysippides und Rhodon nicht blos als Anspielung auf den Namen Ly-
sippides auf der Quadriga erscheinen, sondern zugleich als Schützlinge der
(=) Hom&IlSVT,, 232.
('”) Monum. de l’Instit. arch. I, L1. Ann. Vol. V, p. 227 sqq. Qu. Smyrn. III, v. 277.
('®) Mus. Etr. 1547. Bei Gerhard Rapporto Volc. Ann. d. Instit. 1831, p. 83
AYZIAAEE.
(') Hom. Od. X, 187. H. in Sol. 6.
(3°) Apollodor. I, 4, 4.
@3 Pause
(2) Hom. h. in Sol. v. 7—9: "Harıv Fo azamavr, erısizerov aSIavaroısı,
ö5 baiveı Suyrası za aIavarosı Tedırıy,
7) Kran ’
Immo EuLEehaws.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 67
Tagesgottheiten Helios und Eos, wie sie auf ein und demselben Wagen
aus den Fluthen des Meeres aufsteigend schon apulische Vasenbilder seit
längerer Zeit uns veranschaulicht haben. Zum belehrenden Vergleich mit
dem Brautpaar Lysippides und Rhodon unsrer Vase bietet sich endlich noch
ein Ehepaar aus der Danaidenmythologie, Hippolytus (Rofszerrissen wie
Phaethon) und Rhode('#°) uns dar, das der Synonymie wegen Beachtung
verdient. E
Auf einer andern nolanischen Diota des Wiener Antikenkabinets
(Taf. III, 1) bringt eine herabschwebende Flügelfrau eine Kithara mit breiter
gestickter Siegerbinde einer auf der Rückseite gemalten sie erwartenden ju-
gendlichen Mantelfigur mit einem Stab in der Rechten ('’*). Ein Karcs
Tırovidss schön ist Tisonides auf der Seite der Flügelfrau und von ihr
ausgesprochen zu denken, verkündet den Namen dieser Mantelfigur, welcher
als Sieger in der Kitharodie an apollinischen Festspielen Nike den Preis
zu übergeben scheint. Indefs der Name Tisonides vor der Flügelfrau lenkt
unsre Aufmerksamkeit auf jene berühmte rothfigurige volcenter Diota wo
den mit einer Lyra versehenen Manteljüngling Tithonos die Göttin Eos ver-
folgt aus deren Munde die Worte ou zavres earı zara KogwSes „‚„das schöne
Korinth gehört nicht jedermann” um so treffender fliefsen, als die Morgen-
göttin zu den gefeiertesten Gottheiten Korinths sich zählen durfte (133). Da-
her wird es wahrscheinlich, dafs Tisonides mit Rücksicht auf Tithonos, den
Sohn der Eos und des Kephalos('‘°), das Bild der Eos mit dem Saiteninstru-
ment des Tithonos auf der für ihn bestimmten Vase bemalt bekam.
Auf einer rothfigurigen volcenter Kylix (Taf. IV, 1) kämpft einerseits
Herakles mit dem nemeischen Löwen unter den Augen der Athene; drüber
zieht sich ein KAL(os) NAIXI. Andrerseits verfolgt der jugendliche Dionysos
mit einem Thyrsus eine Bacchantin mit Schlange und Krotalen, für Ariadne
erklärt (177); oberhalb liest man KALOZ XAPODE. Dafs der Löwe bei
(°) Apollod. II, ı, 4.
(°) Laborde Vas. Lamberg T. II. Pl. XXXVII. Lenormant et de Witte Elite cera-
mogr. I, xcvıut.
(*”°) Panofka Ann. de /’Instit. arch. Tom. XIX, p. 231—233. Braun. Bull. d. Instit.
arch. 1848. p. 41, der ravroFeve z0).« KogwSco: liest.
(°°) Apollod. III, 14, 3. Welcker Rhein. Mus. II. Jahrg. 1834. S. 188.
(*”) Monum. d. Instit. archeol. I, xxvır, 41. Gerhard, Annali Vol. IH, p. 83. De Witte
Cabin. Magnoncourt 33.
I2
68 Pıvorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Dichtern ('?®) mit dem Namen xapwv bezeichnet ward «rd 776 Yagemwerires,
verdiente bei dieser Gelegenheit wohl ebenso ernste Beachtung, als die auf
dem Berg Laphystion in Böotien aufgestellte Statue des Herakles (1°?), welche
den Beinamen Kap führte, weil nach Böoter Sage Herakles hier mit dem
Hund des Hades heraufgestiegen sei. Denn so würde der Name Charops
als ursprünglicher Beiname des Herakles sowohl, als des aus der Unterwelt
Semele heraufholenden Dionysos sich rechtfertigen, im Zusammenhang mit
Charon, dem Fährmann der Gestorbenen, und die Verbindung zwischen
Herrn Charops dem Besitzer der Vase und den Bildern der beiden Aussen-
seiten zur Genüge einleuchten.
Auf einer rothfigurigen volcenter Kylix (1%) deren Aussenbilder einer-
seits der Angriff des Peleus auf Thetis in der Umgebung von vier Nereiden,
andrerseits drei Erasten mit drei Eromenen gruppirt zeigen, unter denen ein
Ephebe mit der Überschrift EMEAIOZ KALOZ einen Skyphos aus dem
Weinkrater füllt und trinkt, erblicken wir im Innenbild einen efeubekränz-
ten, ithyphallischen Silen hingekauert mit einem Schlauch, den er zu öffnen
beabsichtigt um einen efeubekränzten Krater damit zu füllen. Die Um-
schrift dieser Figur lautet ZIAANOZ TEPMON HAYZ HOINOZ KALOZ
ENEAEIOZ. Den frohen Silen mit Namen Komos sowohl, als mit Namen
Oinos oder Hedyoinos, und dem Symbol des vollen Weinschlauches, haben
als Repräsentanten des Lustweckenden Weinelementes schon längst entdeckte
(Gö)rBlesissiv:
(1?) Paus. IX, xxxıv, 4.
(*) De Witte Descript. d. Vas. &tr. 135. MEAEYZ, OETIZ, KAAYKA mit Del-
phin, neben ihr angezündeter Altar, falsch von Hrn. Raoul Rochette auf das 'Thetidion be-
zogen, oder die Verwandlung der Thetis in Feuer. Vielmehr bezeichnet Karvyzy caligo die
Finsternils und bedarf als solche des leuchtenden Feuerheerdes, wie die Nacht
einer brennenden Fackel zu ihrer Charakteristik; noch vier andre Nereiden tragen Na-
mensinschriften, XOPO die Tänzerin, mit Helixpflanze, EPATO die Liebenswür-
dige, IPIZIA mit einem Delphin, die Binde um den Kopf mit Wogen geschmückt,
(vermuthlich wellenförmig liegende Wolle mit Bezug auf ihren Namen und 2: Wolle,
etow ich winde, wickle): endlich KYMATOOAI die ihre Tunika aufhebt: die schon ge-
rügte Phischeu (Panofka der Vasenbildner Panphaios S. 1.) verleitete auch hier KunaroSa:
statt Kunerobern die Wogenzeigerin zu lesen. Die Rückseite schmücken drei Erasten
und drei Eromenen. ON..OEOZ (schwerlich Hoplotheos, eher OrsıSeos) KALOZE
NAIXI,IEMAXO= KALOZ,EMENOZKALOS bei einem Jüngling, der einen Skyphos
aus dem Krater füllt und trinkt. OEOAOPOXZ KALOZ HO MAIZ KALOZ NAIXI.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 69
Vasenbilder uns kennen gelehrt. Dagegen tritt die bisher unbeachtet ge-
bliebne Beziehung dieses Silen zu dem Eigennamen EreAıs und Erecıs hier
zum erstenmal hervor und giebt diesem Vasenbild einen höheren Reiz. Der
Name Epelios oder Epeleios ruft nemlich die Stadt Elis ins Gedächtnifs,
wo dem Silenos besonders und nicht zugleich mit Dionysos
ein Naos geweiht war: mit der Statue dieses vermuthlich auf einem
Fels sitzenden Silen sah man Methe gruppirt dieihm Wein in einem
Trinkbecher reichte('*!).
KALOzZ DEIAON schön ist Pheidon lesen wir auf dem Innenbild
einer rothfigurigen Kylix (Taf. III, 7) neben einem bärtigen ithyphallischen
Mann, der sich an die Erde bückt und in der Rechten sein Rhyton hält.
Die Aussenseiten zeigen Nereidenumgeben einerseits Peleus und Thetis,
andrerseits Nereus und Hermes (!*?). Da Hesychius geira: durch güran, Cucaı
erklärt, so berechtigt er wohl das Rhyton in der Hand des Pheidon zu-
gleich als Symbol seines Namens zu betrachten, unbeschadet des unbezwei-
felten Gebrauchs beim Trinkgelage, für welches das Wort »edirıov womit
die Lacedämonier ihre gemeinsamen öffentlichen Male bezeichneten, sich an-
führen läfst.
OINANOE KALE schön ist Oinanthe lesen wir auf einer rothfigu-
rigen volcenter Hydria (Taf. II, 8) über einer Frau, die sich auf Zeus’ Schul-
ter lehnt zuschauend wie Ge den kleinen Dionysos der Athene heraufgiebt:
rechts eilt die geflügelte Ilithyia mit einer Tänia herbei: den Hals der Vase
schmückt ein Efeukranz ('*?). Dafs die Vase zum Wochengeschenk der Frau
Oenanthe diente macht die Wahl des Bildes in Verbindung mit dem Namen
sehr wahrscheinlich: allein ebenso berechtigt ist die Vermuthung, der Name
Oinanthe Weinblüthe, den die Empfängerin führte, habe den Anlafs zu
der auf Zeus’ Schulter sich auflehnenden Frau gegeben, in der wir der
Oenanthe Schutzgöttin, nemlich die in Phlius und Sieyon mit dem Fest der
(On) Baus. VI, xxıv, 6.
(‘*) Gerhard Auserl. Vasenb. II, CLXXVII, CLXXIX. De Witte Cab. Durand 378.
Vgl. Pheidon König der 'Thesproten bei Homer Odyss. XIV, 316, und das Füllhorn als Siegel
des Pheidon QAZIO DEIAO auf irdenem Vasenhenkel bei Thiersch Abhandl. d. Münchn.
Akad. d. Wiss. XV Bd. 1838.
(*) Lenormant et de Witte Elite Ceramogr. I, Lxxxv. Gerhard Auserl. Vasenb. II, cıı.
70 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Efeuschnitter verehrte Zeusgeliebte Weinschenkin Dia, Hebe, auch Gany-
meda angerufen, erkennen (!’*).
KALOZ KAPYZZTOZ schön ist Karystos lautet die Inschrift auf
einer archaischen Oenochoö (Taf. I, 3), worauf Hermes mit ungewöhnlich
langem Heroldstab xguzeiov und Phiale, der Maja die einen Kranz hält, ge-
genüber gemalt ist (1#5). Der Eigennamen Karystos hängt mit zagussw ver-
künden zusammen; die Länge des Kerykeion steht damit in derselben
Verbindung, die ich an dem Speer dogu von auffallender Länge und dem
Vasenbildnernamen Asgıs auf einer Kylix des kgl. Museums zu beobachten
schon früher Gelegenheit (!*%) fand. Die Münzen der Stadt Karystos (!’7)
tragen aus diesem Grunde den Typus des Hahnes, als des dem Hermes ge-
weihten Thieres und Tagverkünders; auf ähnliche Weise schmückt ein Her-
mes als Botengott die Erzmünzen von Korykion ('*?).
EPINO=Z KALO& schön ist Erilos lesen wir um das Innenbild einer
vothfigurigen Kylix (Taf. II, 2) neben einem bärtigen Mercur mit einer Ky-
nee, Chlamys und Flügelstiefeln; im Vorwärtsschreiten begriffen trägt er
einen Widder über dem Rücken und hält in der Linken einen Heroldstab (!*°).
Dafs der Name Egıros mit egıov Wolle zusammenhängt und dadurch die Wid-
deranwesenheit motivirt, habe ich schon früher ('5°) bemerkt. Allein auch
der Begriff des £geiv reden, zumal mit Rücksicht auf den mit Sprache be-
gabten Widder des Hermes und Phrixus ('5') verdient nicht mindere Be-
achtung.
Der Inschrift KALOZ TIMAXZENOZ begegnen wir auf einer nolani-
schen Diota (Taf. III, 2) des Blacas’schen Museums vor einem schreitenden
(‘*) Paus. II, xıu, 3. V,xxıı, 4.5. Panofka Zeus und Aegina (Abh. d. K. Akad. d.
Wiss. 1835) cf. Pindar. Nem. V, 11. Thbeophrast. Char. pl. III, 19. Aristot. h. anim. V, 18.
Aristoph. Ran. 1320. Eurip. Phoeniss. 238. Aristoph. Av. 588.
('*) Gerhard Auserl. Vasenb. I, xıx, 1. Panofka antik. Weibgeschenke S. 15. Mionn.
D. II, p- 302.
('*) Panofka Namen der Vasenbildner Taf. I, 4. S. 164.
('”) Panofka Einfluss d. Gottheiten auf d. Ortsnamen 2ter Theil Taf. I, 8. S. 2.
(‘*) Einf. d. Gottb. 2ter "Th. Taf. I, 2.
(*) Mus. Chiusino Tav. XXXV.
('°°) Die Heilgötter der Griechen (Abh. d. kgl. Akad. d. Wiss. 1845) Taf. I, 7.
('’') Gerhard Winckelmann’s Programm Phrixus.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 74
bärtigen Hermes mit Petasus, Chlamys und Caduceus, während die Haupt-
seite das Urtheil des Paris vorstellt. XAAMIAE= KALOX liest man unter
dem auf der Hand der Aphrodite sitzenden Eros: vor dieser Göttin schrei-
tet Athene mit einem Helm in der Hand und Hera mit Apfelhälfte zu dem
auf einem Fels thierumgeben sitzenden Paris mit einer Lyra, welcher sich
wie vor Schaam den Peplos vor die Augen hält ('%?). Hier erscheinen die
drei Göttinnen als die Zevaı die Fremden; in Memphis hatte Aphrodite mit
dem Beinamen Zeivn, gleichbedeutend mit Helena ('°°), ein Heiligthum im
Hain des Proteus der Helena gastlich aufgenommen hatte (!°%). Hermes, der
sie zu Paris führt, hat auf den Namen Tiuafevos Fremdenehrer gerechte
Ansprüche. Der andere Name Xagpıdes unter Eros verbirgt um so sicherer
eine Anspielung auf den Liebesgott selbst, als y«gu« Freude, Reiz, charme
der Franzosen, Aapıres die Begleiterinnen der Aphrodite, und endlich das
Standbild des Eros von Charmos ('?5) dafür sprechen.
Auf einer andern nolanischen Diota stehen dieselben Worte Xaguıdes
xaAcs neben einem fliegenden Eros, der mit der Rechten die Lanze schwingt,
und an der Linken den Schild mit dem öxavov am Arm befestigt hat. Herr
Dr. Schulz ('5°), dem wir die Beschreibung dieser Vase verdanken, fügt
hinzu, es scheine zweifelhaft ob dieser Eros mit der jugendlichen Mantelfi-
gur der Rückseite in Verbindung stehe. Ich trage kein Bedenken in der
Figur der Rückseite den Charmides selbst zu erkennen, welchem Eros Lanze
und Schild überbringt als Tropäum, zumal des Hesychius Glosse xaguns'
Mayns ihrerseits uns lehrt, dafs in dem Namen Charmides der Begriff des
Scharmützels sich nicht ausschliefsen läfst. Nächst dieser individuellen
Beziehung lassen aber die Waffen in der Hand des Eros noch in demselben
einen Eros Uranios (57) oder ’Avızyrcs, den Gefährten der Aphrodite Urania,
Nien, ürdıruevn, erkennen, und da bei dem Göttinnenstreit der vorherbe-
schriebenen Diota Aphrodite ebenfalls den Sieg davonträgt, so leuchtet ein,
(”?) Gerhard Ant. Bildw. XXX.
(*”) Bulletino Archeol. Napolet. 1847. Agosto.
('”*) Herod. II, 112. Strab. XVII, p. 807. Hor. Od. III, xxvı, 9.
('”) Paus. I, xxx, 1. Plut. Solon. 1.
(*”°) Bull. dell’ Instituto arch. 1842. p. 13.
(””) Panofka Terracotten d. Kgl. Mus. Taf. XXX. S. 96.
7 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
dafs auf beiden Vasen der dem Eros zum Grunde liegende Charakter, im
Einklang mit der ihn begleitenden Namensinschrift Xaguiöys, auf einen Eros
Aniketos hinweist.
Denselben Ausruf Xaguides zaros treffen wir auf einer andern nolani-
schen Diota, offenbar aus dem Munde kommend einer vor einem Korb sitzen-
den Frau ('°®), welche einen Myrten- oder Oelkranz eben gebunden hat
und für den Charmides der Rückseite bestimmt. Von der Natur des Kran-
zes hängt die Entscheidung ab, ob hier ein blofses Liebesverhältnifs oder
der Ruhm eines Siegers das Vasenbild hervorgerufen; im einen wie im an-
dern Fall bleibt aber unsere frühere Deutung des Eigennamens Xagyudes und
dessen Beziehung zu dieser Vorstellung in voller Kraft.
KALO=Z XAPMIAES schön ist Charmides ruft auf einer nolanischen
Diota des Cabinet Luynes (Taf. IV, 12) eine Flügelfrau, die nach einem
Epheben mit Lyra hascht, während auf der Rückseite ein zweiter Ephebe
mit vor Schreck ausgestreckten Händen flieht ('°%). Offenbar verfolgt hier
Eos den Tithonos, dem sowohl wegen des Reizes seiner Schönheit als we-
gen des Zaubers seines Saitenspiels der Name Xaguıdys vermuthlich beigelegt
wurde. Merkwürdiger Weise kehrt dieselbe Inschrift auf dem Bilde einer
andern Vase (!°0%) wieder hinter einem Herscher, der mit offnen erhobnen
Händen vor einem Tisch mit Opfergaben in Früchten, Kuchen und Binden
bestehend sein Gebet verrichtet, vor ihm OEOI, hinter ihm Scepter mit
Blume. Auf der Rückseite streckt eine langbekleidete Frau mit sterngestick-
ter Mütze die Rechte nach dem Tische hin. In dieser lezteren Figur ver-
muthe ich wiederum Eos und in dem bisher als Priester gedeuteten Fürsten
ihren Gemal Laomedon: die Inschrift Xaguıdes zarcs bezieht sich alsdann
wie auf der vorigen Vase, auf ihren Sohn Tithonos, und der Anruf OEOI
gilt der Eos selbst, sei es dafs man ihn für EOI mit der Aspiration des &
auslegt, oder mit dem etruskischen Namen Thesan für Eos vergleichend,
Sew gleich Seavw, die Schauende übersetzt ('%').
('°®) Ihre Haube ist mit Sternen gestickt; hinter ihr bringt eine Dienerin ein Eimer-
ähnliches Gefäfs (Tischbein Vas. Hamilton IV, 31. Inghirami Vas. fittili I, Tav. XIX).
(°) Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXXIX.
('°) De Witte Cab. Durand 628, jetzt im Muse Blacas.
('*) Braun Bull. d. Instit. arch. 1837 p. 80. Mus. Gregor. I, xxxı, 1.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 73
TIMAXZENO& KALOZ schön ist Timaxenos steht auf einer no-
lanischen (Taf. III, 8) Diota über einem horizontal schwebenden Eros, des-
sen Hände nach unten ausgestreckt sind, um einen unter ihm laufenden
Hasen zu erhaschen. Auf der Rückseite hält ein andrer fliegender Eros eine
Binde mit beiden Händen (!°): KALOX steht neben ihm. In dem Gemälde
die Eroten (L.I, 6) lehrt der ältere Philostratos dafs „die Liebesgötter
nach dem Hasen nicht mit ihren Pfeilen zielen, sondern ihn vielmehr mit den
Händen zu fangen sich bemühen, als das der Göttin werthe Thier.” Des-
halb sucht Eros den Hasen hier mit den Händen zu fassen. Vermuthlich
stellen die beiden Eroten Eros und Anteros oder Pothos und Himeros dar:
der Eigenname des Vasenempfängers Timaxenos gehörte ursprünglich dem
Eros, welcher hier den flüchtigen Hasen aufzunehmen bemüht ist, und als
solcher sinnbildlich andeutet, dafs er die Zeva, zu denen die izeraı auch ge-
hören, durch Hirsch (1°) und laufenden Hasen in Sprache und Kunst sinnig
vertreten, zu ehren weils. In dem Eros mit Binde auf der Rückseite ver-
muthen wir als Geber der Vase den Charmides versteckt, den wir schon
auf mehreren andren Vasen sowohl als Eros Aniketos, als in Verbindung
mit Siegeszeichen, nachgewiesen haben.
Das enge Verhältnifs zwischen Timaxenos und Charmides, auf wel-
ches die Diota mit dem Parisurtheil zu schliefsen berechtigte, verräth noch
eine andre nolanische unedirte (!%) Diota im Blacas’schen Museum. Zwei
bärtige Satyrn, die linke Hand erhoben, die Rechte rückwärts gehalten,
suchen eine thyrsushaltende Bacchantin zu ergreifen, die auf der Rückseite,
mit fliegendem Haar, mit der Rechten das Ende ihres Chiton haltend, ent-
flieht, den Kopf nach ihren beiden Verfolgern zurückgewandt. Vor dem
Kopf des Satyr links steht XAPMIAEZ KALOZ, vor dem rechts TIMAXZE-
NOzZ KALOE.
Die Inschrift NIKOZTPATOZ KALOX& befindet sich auf einer archai-
schen Amphora, deren Hauptseite Athene mit Herakles, zu Viergespann
gegen einen Giganten kämpfend, darstellt, während auf der Rückseite Athene
(‘°) Gerhard Ant. Bildw. LVI. R. Rochette Monum. Inedits Pl. XLIV. De Witte Cab.
Durand 46. Vgl. die Münze von Kyzikos Mon. d. Instit. I, ıvır. B. n.5.
(‘*) Plut. Qu. Gr. XXXIX: Kat yao &rados 5 Eulas zarsiran.
(‘) Diota Nolana im Musde Blacas No. 74.
Philos.- histor. Kl. 1849. K
74 Paınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
bei dem Zweikampf zweier Panopliten dazwischen tritt (1%) So gewifs we-
nig Beinamen für Athene besser passen als der Nixorrgaroes Heeressieg, so
nehmen wir doch wegen der männlichen Form Anstand ihn vollständig der
Göttin zuzuweisen, sondern können ihr nur die erste Hälfte desselben
zuerkennen, insofern sie unter dem Namen Nike in Athen und anderwärts
Anbetung genofs, und besonders wenn Herakles neben ihr auf der Quadriga
fährt, den Charakter der Nike auch ohne ein Emporsteigen nach dem Olymp
für sich in Anspruch zu nehmen vermag. Den Namen Nikostratos aber
weisen wir dem Herakles zu und stützen uns hiebei auf die Verse des Ko-
mikers Ephippos in den Peltasten ('°°):
Oü Mevergarns ev Ebannev eivar Zeus Seos;
Ninoorgaros Ö° "Apyelos Eregos Hoandrs;
Derselben Inschrift NIKOZTPATOZ KALOZ begegnen wir auf einem
rothfigurigen Stamnos von Chiusi, geschmückt mit dem Bilde des Braut-
paars MEAEYZ und OETIE, die ersterer dem Centaur XIPON als Yano-
eroros zuführt. Die hinter Peleus lesbare Inschrift „trefflich ist Niko-
stratos” lehrt den Namen des Vasenempfängers kennen, der als Ringer
und Streiter mit IIeAeös wahrscheinlich in ähnlicher Sinnverwandtschaft
stand, wie Nikostratos mit Herakles und Athene ('7).
Zur Erläuterung dieses Namens füge ich die bei Plutarch Arat. 18
erwähnte Erzählung bei, dafs auf Befehl des Aratus der Maler Nealkes den
Aristratos aus seinem Gemälde wegzulöschen genöthigt, an dessen Stelle
nur eine Palme malte, nichts andres hinzuzusetzen wagte. Offenbar diente
die Palme hier zur bildlichen Inschrift des Aristratos Heertapfersten oder
Heervernichters.
Auf dem Innenbild einer rothfigurigen Kylix (1%) des Malers Doris
liest man XAIPEZTPATOX KALOZ auf einen Epheben bezüglich, der Bin-
den (reiauüves) hält und seine Hand nach einem Altar richtet. Die Binden
('®) Mus. Gregor. P. II, Tav. XLI, 1.
('%°) Apud Athen. VII, p. 289b.
(‘°) Mus. Chiusino XLVI, XL. Gerhard Bull. archeol. 1831 p. 143. Panofka Mus.
Blacas p. 38. Vgl. Hes. Ilarainwv" 6 “HoazAds.
(‘%) Dubois notice d’une Coll. d. Vas. du Pr. de Canino 214. Die Aussenseite stellt
einen Paedotriben dar, der zwei Ringergruppen beaufsichtigt, AOPIZ EFPAYZEN, Ky-
lix im Besitz des Hrn. R. Rochette.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 75
offenbaren den Sieg des Chairestratos, ausgestreckte Hand und Altar seinen
Dank an die Gottheit. .
Derselbe Maler Doris schmückte einen rothfigurigen Kantharus (169)
einerseits mit dem Kampf des Herakles gegen vier Amazonen, andrerseits
mit dem des Telamon in voller Rüstung gegen eine gleiche Zahl Kriege-
rinnen und XAIPEZTPATOZ KALOZ. Bei der Belagerung von Ilios durch
Herakles brach Telamon zuerst in die Stadt; dann Herakles, der über Te-
lamon’s Zuvorkommen so erbittert war, dafs er ihn tödten wollte. Telamon
‚aber sammelte schnell die umherliegenden Steine und antwortete auf Hera-
kles Frage was er beginne: er baue dem Herakles Kallinikos einen Altar (17°).
Da lobte ihn Herakles und gab ihm die Hesione zum Siegespreis. Irre ich
nicht, so steht der Name Nager rgaros Heeresgrufs gleichbedeutend mit
Nirosrgaros Heeressieg, in einem geheimen Zusammenhang mit Telamon,
auf dieselbe Weise wie in dem angeführten Mythos dieser leztere zu Kal-
linikos.
Neben dem Ringekampf des Herakles und Nereus steht auf einer ar-
chaischen tyrrhenischen Amphora (!7!) LSQETPATOZ KALOZ KAPTA „So-
stratos ist sehr schön”, offenbar der Name des Empfängers dieser Vase.
Obwohl der Name Heereshort zunächst an Ares erinnert, den hier aller-
dings Nereus (!7”) zu vertreten vermöchte, wie Neriene als Kriegsgöttin der
Athene gleich angerufen ward: so erscheint es doch angemessener ihn mit
Herakles in Verbindung zu setzen, zumal auch einer seiner Lieblinge, dem
bei Dymae in Achaja Todtenopfer dargebracht wurden, denselben Namen
Sostratos führte (!73).
(‘°) Gerhard’s Archäol. Zeitung 1846 No. 42. S. 287. AORIZEFRAGBZEN KAl
ENIDIESEN. — Vgl. Dubois Notice d. Vas. du Pr. de Canino 43. Amphora. Ein jun-
ger Krieger besteigt eine Quadriga und scheint auf die Rede eines andern vor dem Wa-
gen stehenden zu hören. Vor den Pferden hält sich ein Stallknabe beim Gezäum beschäf-
tigt A. MAZ (etwa Acuas?) KAIPEZTPATOE KALOE. Rv. Eine in einen Peplos
gehüllte Frau reicht einen Kranz einem Jüngling, dessen Haupt mit Smilaxblättern umwun-
den ist. Zwischen beiden Figuren liest man XAIPETE. Hinter der Frau stützt sich eine
mit Smilax bekränzte bärtige Mantelfigur auf einen Stab. Vor ihm steht zOPEMOZ?
(‘”°) S. Birch in Gerhard’s Arch. Zeit. N. F. Beilage No. 7. Sept. 1848. S. 107 *.
("') De Witte Descr. d. Vas. etr. 83. Rv. Bacchus zwischen zwei Satyrn.
(‘””) In Geronthrae in Laconien Paus. III, xxı, 8.
(2) Baus syn 4,
K2
76 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Eine archaische Prachtvase des Kgl. Museums (!7*) ist mit der Be-
wältigung des Triton Nereus durch Herakles nebst den Inschriften HEPA-
KAEZ TPITONNOE und (K?)TEZINEOZ KALOZ bemalt. Obwohl $r4-
cırews mit gleichem Recht wie Krarirsws sich ergänzen liefse, da Herodot(!7°)
einen Sohn des Thrasylus als Heerführer der Athener bei Marathon, mit
Namen Stesileos erwähnt: so neigen wir doch mehr zu der bereits vom Her-
ausgeber aufgestellten Lesart KreriRsos hin. Denn wenn Hesychius urndwv
wie »reıs für Kamm und Dreizack (!’°), xrevwry durch üpavry gewebt
erklärt: und Sophocles ('7) die Wolle xrnricv Bored Aay,ıyv nennt; so erse-
hen wir daraus, dafs zr&w den Stamm von zreivw nicht nur, sondern auch
von xrevw bildet und dürfen wohl KrysiRews durch Weberumschlinger
übersetzen und von Herakles verstehen, der den Weber (vrnrıss) Nereus
umschlingt (iv). Von dieses Heros Beinamen leitete der Empfänger der
Vase seinen gleichlautenden Eigennamen her.
AEATPOZ KALOZ und OAYMNIOAOPOZ KALOZ lesen wir auf
einer volcenter Amphora neben zwei bärtigen Reitern zu Pferd, deren eines
den Namen APETE Tapferkeit, das andre den Namen OPAZOZ Kühn-
heit führt (17%). Da Olympiodoros nur den vom Olympier Zeus
gegebenen, das ist Polydeukes (!’?), zu bezeichnen vermag, so folgt
hieraus, dafs Leagros auf Kastor zu beziehen ist und zwar mit Rücksicht
auf dessen kriegerischen Charakter, der im Worte xzagew rüsten sich aus-
spricht, läfst der Name Asayges wohl am schicklichsten sich Beutesamm-
ler übersetzen. :
Auf einer berühmten Kylix des Kachrylion und Euphronios, wo einer-
seits Herakles den Geryones bekämpft, andrerseits Jolaos dessen Rinder
schon als Beute fortführt, lesen wir auf jeder Seite die gleiche Inschrift
(”*) No. 697. Gerhard Etr. und Kamp. Vas. d. K. Mus. Taf. XV, xvı, 5.
('”) Herod. L. VII, 114.
('”%) Monum. d. Instit. arch. Tom. II, Pl. XXX.
('”) Trachin. v. 690.
('”) Mus. Gregor. P.II, Tav. VIII, 2b.
(‘”) Pindar. Nem. X, 80 (150), Sch. Theocr. XXIV, 130. Apollod. III, 10, 7. Hygin.
F. 77. Tzetz. Lycophr. 511.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 77
„Leagros ist schön”, einmal als Synonym von Herakles, das andremal
bei Jolaos (!?°).
Eine andre Kylix des Kachrylion (!°!) zeigt „einerseits Aegisth von
dem wüthenden Orest zu Boden geworfen, der mit der einen Hand ihn bei
den Haaren hält, mit der andren das Schwert erhebt um ihn zu durchboh-
ren: eine schwerbekleidete Matrone, Klytämnestra, hält den Degen zurück:
Elektra läuft mit einer Art Keule in der Rechten herbei. In der Nähe des
gesunknen Aegisth ermuthigt ein Jüngling, Pylades, durch Geberden, die
Rache zu vollziehen. Auf der Rückseite kämpfen zwei Krieger mit der
Lanze, der eine hat einen Raben als Schildemblem; zwei jugendliche
Augurn(?) halten das Schwert erhoben über einem Hasen und kleinen Eber,
den Ausgang des Kampfes abwartend, um die Opferthiere zu schlachten;;
drei andre Krieger sehen aufmerksam der Scene zu. AEAAPOZ KALOE
steht über jeder der beiden Vasenmalereien (!??).” Deuten wir dies leztere
Bild richtig auf den Zweikampf des Eteokles und Polyneikes, den der Rabe
als Schildemblem zu charakterisiren vermag, so läfst sich der Name Acaypos
Beutesammler auf ihn, der, Vielstreit heifsend, ein Synonym des
Kriegsgottes darstellt, als namengebenden Schutzheros zurückführen.
Auf dem Vorderbild dagegen halte ich Leagros für ein Synonym des Ore-
stes, insofern dieser Eigenname auch den Hasenfänger bedeutet, da Asws
lepus mit Aaus, Aayws übereinkömmt und andrerseits "Ogerrys den Berg-
und Waidmann und deshalb insbesondere den Kentauros, den Hasen-
spicker bezeichnet ('°°).
(°) Monum. d. Instit. arch. II, xxıı. Panofka Namen d. Vasenbildner Taf. IV, 9 u. 10.
(°) Mus. Etr. du Pr. de Canino 1186.
('%) Im Innern liest man um einen Silen mit Schlauch und Trinkhorn KAXPYAION
EMOIEZEN. — Vgl. Mus. Etr. du Pr. de Canino 584. rothfigurige Kylix, innen halb-
nackte Frau mit Krotalen in den Händen; AEAAPOZ;, und Dubois Notice de Vas. etr.
du Pr. de Canino 36. nolanische Amphora: einerseits rebenbekränzte halbliegende Frau, die
zehnsaitige Lyra spielend: neben ihrem Munde liest man MAME KAIMOTEO. Im Feld
NEAMPOZ KALOE. Rv. ein Ephebe, den efeubekränzten Kopf umwendend, nur un-
terhalb bekleidet, liegt auf einem grolsen Kissen, den Ellenbogen aufgestützt, die Kylix zum
Kottabos bereit haltend; AEAAPO=Z KALO=E MAIS. —
('®) Vgl. die Münzen der Orestae mit Centaurentypus Mionn. Suppl. III, Pl.VIH, 1u. 3
pag. 85, No. 520. Vgl. S. Birch Deser. of a fict. Vase (Archaeologia Vol. XXXH, p. 165),
der den Namen ATPIOXZ über dem Kopf des Orestes auf einer apulischen Vase des Sir
78 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Zur Beleuchtung künftig zu entdeckender Vasenbilder mit As@yges
»aAos erinnere ich, dafs Ergaios, ein Nachkomme des Diomedes, von Te-
menos überredet, das Palladium aus Argos unter Mitwissen des Lea-
gros stahl. Dieser erzürnt, bringt es später nach Lacedämon ('°*) und
stellt es neben dem Heiligthum der Leucippidinnen (1%), Gemalinnen der
Dioscuren, auf. Zum Wächter wird einer der früheren Diebe, Odysseus,
nicht ohne Rücksicht auf Penelope, die auch daneben ein Heroum hat,
gewählt.
Eine volcenter archaische Hydria (!°%) zeigt am Bauch zwei Wagen-
lenker auf Biga und zwei Heroen mit Helm, ohne Lanze, die noch nicht
aufgestiegen sind. Die Inschrift KALOZ AEOKPATEE lehrt Leokrates
als Empfänger der Vase kennen. Am Hals derselben sehen wir Achill und
Memnon im Zweikampf in Gegenwart ihrer Mütter. Die Namenähnlichkeit
zwischen AyxAews und Asoxgarys motivirte wahrscheinlich die Wahl die-
ses Bildes.
An die Prüfung dieser dreiundsiebenzig Vasenbilder im Zusam-
menhang mit ihren Eigennamen mit »«aAos schlielse ich zur Begründung unse-
rer Entdeckung und zur Vervollständigung dieser Vasenepigraphie Betrach-
tungen gleichen Inhalts über siebenundzwanzig andere Vasenbilder, die
theils dem Heroenkreise, theils dem wirklichen Leben anheimfallen,
aber an Belehrung die bisher geprüften wo möglich noch übertreffen.
Auf einer volcenter Amphora (Taf. III, 4) sitzt Thamyras in Odry-
sentracht auf einer Anhöhe die Lyra spielend: links stehen zwei Jungfrauen
auf einander gelehnt und hören aufmerksam seinem Gesange zu; nach der
Überschrift XOPONIKE zu urtheilen, vielleicht als Chor einfallend und be-
gleitend. Rechts tanzt ihm entgegen mit einem Zweig in der erhobenen
Rechten eine weifshaarige Frau, deren dorische Kleidung sie von der atti-
William Hamilton (d’Hancarville II, 68); durch die Scholien des Proclus (p. 47, 48. s. 86.
ed. Boissonade) zu Plato Cratylus s. 26 gelehrt erläutert.
(‘*) Plut. Qu. gr. XLVII.
('®) Dieser Mythos liegt wahrscheinlich dem von Gerbard Archaeol. Zeitung N. F. 1848.
Taf. XVI, ı publizirten, aber nicht glücklich erklärten Vasenbild zum Grunde: die Identität
der Frau auf der Quadriga mit der Leucippidin auf der Midiasvase im brittischen Museum
(Gerhard die Vase des Midias Abh. d. Akad. d. Wiss. 1839) springt in die Augen.
('°) Bull. d. Instit. arch. 1829, p. 82.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 79
schen der vorgenannten Jungfrauen unterscheidet (1%), Hinter ihr liest man
die Inschrift EYAION KAAOZ, aus ihrem Munde kommend zu denken; auf
den Eigenthümer der Vase zunächst bezüglich, verbirgt dieser Ausruf zu-
gleich eine Anspielung auf Thamyras, die einzige männliche Gestalt und
Hauptfigur des Vasenbildes. Der Wettstreit des Thamyras mit den Musen
zu Dorion oder Dotion berechtigt in dem Schwesterpaar zwei Musen zu er-
kennen; die Alte ('°°) dagegen dürfte am passendsten auf Argiope, eine
am Parnafs wohnende Nymphe und Mutter des Thamyras (!3°), zu be-
ziehen sein, da einerseits ihr Charakter als Lokalnymphe und als Mutter
den Zweig in ihrer Hand doppelt rechtfertigt und andrerseits ihre Weifs-
haarigkeit als Übersetzung des Namens "Apyıoarn die weifsaussehende gel-
ten kann. Der Eigenname Euaion (!°) Eiaiwv endlich enthält sicher den
Wunsch eines guten Lebenslaufs und birgt den Gedanken „möge es
dir gut gehen!” In diesem Sinne verbindet Aeschylus (!°!) edaiwva mit Rio-
rev und Callimachus (1%?) setzt edawva neben öAßırrev „sehr glücklich”, in-
dem er singt „Autono& wird in Vergleich zu ihrem Loos dich (Chariklo,
Mutter des Tiresias) überglücklich und wohllebend preisen, da du
aus den Bergen den blinden Sohn wieder zurückbekamst.” In Übereinstim-
mung hiemit erklärt Hesychius euaswv durch eüyngus, eüneigws gutes Alter,
gutes Loos erlangend. Über dem Haupt des Thamyras breitet sich lie-
gend wie ein Ast aus, etwa mit Anspielung auf den Namen Oanupas, ein San-
vos, den Hesychius durch ruSunv Öevögou 7 62a moNous nAQdous EnmeuToUT«
erläutert.
(*) Monum. d. Instit. arch. II, xxıv. Annal. Tom. VII, p. 231-38. Mus. Gregor. P. II,
Tav. XIII, 2.
(**®) Nach genauer Prüfung des Originals im Frühling 1847 zu Rom habe ich mich
überzeugt, dals die von den Herren Braun und Welcker aufgestellte Ansicht „‚die Alte sei
ein Mann, weil sie keine Brüste habe und weil Evarov zaAos bei ihr stände”, unhaltbar sei
und schon im Costüm, das dem der rzobo gleichkömmt (Millingen Peint. des Vas. Gr.
Pl. XXXIX), ihre entschiedenste Widerlegung findet.
(‘) Apollod. I, ım, 3. Paus. IV, xxxıı, 4.
(a) er Callimach. H. in Delum v. 292: Ovris re AoEw re zar edalav ‘Exezoyn* Schol.
ad h. I. eiawv* % Mzgiee.
('?') Aeschyl. Pers. v. 711.
('?) Callimach. Lavacr. Pallad. v. 117.
s0 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Wir hatten die Vermuthung aufgestellt ('??), dafs Euaion die Vase
von Seiten eines Verwandten oder Freundes geschenkt empfing auf Anlafs
seines Choregensiegs, als er die Kosten der scenischen Aufführung des so-
phocleischen Drama’s Thamyras bestritten. Welcker ('%*) behauptet, dafs
unser Vasenbild nicht den mythischen Sänger Thamyras, sondern einen
jungen Citharöden dieses Namens angehe, ohne zu erwägen, dafs in diesem
Falle der Name von einem xa%os begleitet sein mufste.
Demselben Euaion begegnen wir auf einer andern volcenter Amphora
(Taf. III, 6) im Bilde eines glücklich heimkehrenden Kriegers mit der Über-
schrift AYKAON Lykaon. Die Siegesgöttin NIKE spendet ihm aus ihrer
Oenocho& Wein in seine Phiale und richtet an ihn die vor Lykaon sich hin-
ziehenden Worte Evamwv »aros. Rechts steht wohl des Lykaon bärtiger Va-
ter mit einem Krückenstab und der Überschrift ANTANAPOZ (19°). Dieser
leztere Name Antandros Mannesstatt in so naher Verbindung mit Ly-
kaon Verwolfer mufste den Griechen jenen Lykaon Arkadiens, den Sohn
des Pelasgos, ins Gedächtnifs rufen, welcher, seinen eignen Sohn dem Zeus
Lykaios opfernd, aus einem Menschen in einen Wolf am Altar verwandelt
ward ('%%), zumal Pausanias bald darauf (!?7) von einem noch gröfseren Wun-
der berichtet, später sei einer bei gleichem Menschenopfer in einen Wolf
verwandelt worden, aber es nicht zeitlebens geblieben, sondern sobald er
sich als Wolf zehn Jahre des Menschenfleisches enthalten hatte, sei er wieder
aus einem Wolf zu einem Menschen geworden: "Ev de ru ravrı alavı moAA«
nlv maraı vunßavra * Ö8 zul erı yıwonsva, amırra Eva meromnarı & ToÜs MoA-
Aous ol reis aAyIerw Emoinodoueuvres eVeusueva. Acycurı Yap M, ws Auxaovos
Ünregov On rıs EE dvIgwweu Aunos Yevamro Emi TH Yuoie Tov Aunalou Aus, Yıy-
vorro Ö oüx Es aravra rov Blov etc.
Übersehen ward auch bisher der innere Schmuck des Schildes des
Lykaon, Zweigund Sterne. Der Zweig oder Kranz, wohl von Waiden-
blättern, Auyos, kann wie die beiden Sterne, auf die beiden mit der Auzn,
(9) Annal. de l’Instit. arch. Tom. VII, pag. 237.
(”*) D. epische Cyklus S. 150. Not. 185.
('”) Gerhard Auserlesene Vasenb. II, cr.
(26) "Baus VI, ımelr
2) Paus: NIE, 27,8:
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 81
Asury, alba, im engsten Zusammenhang stehenden Morgen- und Abendsterne,
Castor und Polluces, hinweisend als Sinnbild für Lykaon gelten, so gut wie
der Pegasos auf dem Helm, das Rofs der Eos, wobei das Pegasossiegel des
Vasenbildners Panphaios uns als Analogie zu Statten kömmt (19%). Beachtung
verdiente ferner noch, dafs die beiden bisher entdeckten Vasen des Euaion
dessen Siege zu Leier und Schwert, wie die Inschriften Xopovine und Nire
unwiderleglich beweisen, zu verherrlichen bestimmt sind.
Als Letronne ('??) die Eigennamen Evnuegos, Evpmvos und Everns her-
vorhob als die verschiednen Zeitsbschnitte von Tag, Monat und Jahr in
sich schliefsend, vergafs er auffallender Weise unsern Evamwv als Schlufs-
stein hinzuzufügen. Seine Übersetzung „in einem guten Tag, Monat, Jahr
geboren” scheint mir weniger gerechtfertigt als die von uns oben für Edawwv
geltend gemachte eines Glückwunsches mit Rücksicht auf gutes, langes Le-
ben; sodafs wir die vier griechischen Eigennamen lieber durch Gutentag,
Gutmond, Gutjahr, Gutalter verdeutschen möchten. In diesem Sinne
vermag das graue Haar zugleich auf den Namen „Gutalter” anzuspielen.
Auf einer rothfigurigen nolanischen Diota (Taf. IV, 10) im Blacas’-
schen Museum erblicken wir einen bärtigen, hauptbekränzten Mann, mit
hinten am Hals angebundenen Petasos; die Chlamys hängt über der ausge-
streckten Linken, die Scheide am Gürtel an der Seite; das Schwert hält er
gezückt in der Rechten, weit ausschreitend und bedrohend eine vor ihm
fliehende Frau im Peplos über dem langen Chiton, das Haupt mit einer
Stephane, die Arme mit Armbändern geschmückt. Während sie mit der
Linken das Kleid wohl für leichtere Flucht in die Höhe hebt, richtet sie
Blick und Rechte Mitleid erflehend nach dem Verfolger, vor dem man die
Inschrift OIONOKAEZ liest. Auf der Rückseite des Gefäfses eilt ein kahl-
KALOZ
köpfiger mit Binde geschmückter Alter im Peplos über dem langen Chiton,
mit ausgestreckter Rechten, einen Krückenstab in der Linken haltend hinzu,
KALOZ KALMAZ ruft er aus (2°). Irren wir nicht, so stellt dies Vasenge-
(‘*) Panofka der Vasenbildner Panphaios Taf. II, II.
(‘”) In der Rey. Archeol. 5 Anne, 2. Livr. 15. Mai 1848. p. 119: nd dans un jour,
mois, an heureux.
(°°) Unedirt No.118. Vgl. das Vasenbild mit gleichem Namen bei Tischbein Vas. d’Ha-
milton IV, 50. wo der Angreifende im kurzen, gefalteten, umgürteten Ärmelchiton unter
Philos. -histor. Kl. 1849. L
32 Paworza: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
mälde Alkmaeon dar, Rache nehmend an seiner Mutter Eriphyle für seinen
Vater Amphiaraos (?°!), dessen Geist aufregend auf der Rückseite aus dem
Grabe aufsteigend zu denken ist (2°). Die Worte OssvorAes zaros in dem
Munde des Alkmaeon beziehen sich auf den edlen Amphiaraos, indem Ossvo-
»Ass den Vogelrufer bedeutet und mit oiwvorcrc zu vergleichen ist, das
Hesychius durch navreıs, ögveosaoror, öpviSouavreis erläutert, wie er denn
eiwves nicht minder treffend durch eis, die Orakel versinnbildende Schlange
erklärt. Das »arcg aus dem Munde des Amphiaraos gilt dem Alkmäon als
Beifallruf für die Rache. Die Vase selbst scheint von dem Ritter Kallias (20)
für seinen Schwiegervater Oionokles zum Geschenk bestimmt.
Eine andre nolanische Diota mit rothen Figuren im Cabinet Luynes
(Taf. IV, 8) zeigt Eos schwebend, die Arme ausstreckend nach einem flie-
henden zurückschauenden Jüngling mit bekränztem Haar, einer Lyra in der
Rechten, über der Linken die Chläna, KALOZ OIONOKAEZ£. Auf der
Rückseite sieht man einen kahlköpfigen Alten mit einem Peplos über dem
Chiton, auf einen Stab gestützt (2%) OIONOKAEZ KANOE.
dem Peplos erscheint, die Scheide mit Gürtel in der Linken, mit einfacher Binde um’s
Haupt, O:rovoxAss zaros fast an gleicher Stelle. Die Frau trägt ein einfaches Haarband,
gleiche Kleidung, die Linke auch vorgestreckt um Gnade flehend. Vor ihrem Kopf
NONTAMA. Unter ihrer linken Hand schlängelt sich KALLIAE.
(@°*) Apollod. III, vır, 2. Paus. I, xxıv, 2.
(@) Vgl. das Eidolon des Aietes bei Millin Tombeaux de Canosa Pl. VII.
(®) Eine nolanische Diota, wo Theseus die Amazone Antiope als Gattin heimführt,
trägt die Inschrift KAL KALLIAZ und diente wahrscheinlich als Hochzeitsgeschenk für
Kallias, der vielleicht wie Theseus durch das Schwert zu seiner Braut gekommen war. Dafs
aber Kallias dem Kriegerstande angehörte dafür spricht auch ein ihm geschenktes Gefäls
mit dem Zweikampf des Achill und sinkenden Memnon (?) und gleicher Inschrift KALLIAE
KALOZ bei Dubois Maisonneuve Introduct. Pl. XXIII. — Gerhard Berlins Ant. Bildw.
No. 847. Ausrüstung. nol. Amphora. Eine mit Stirnkrone geschmückte Frau bringt Speer
und Helm einem Jüngling. Schild mit Schlange steht an ihrem Körper, KALOSE KALLIAE.
Rv. ein andrer Palästrit in Mantel gehüllt und auf einen Stab gestützt. Stele vor ihm und auf
derselben ein Bravoruf für Charmides, XAPMIAE=E KALOE. — Schulz im Bull. Archeol.
4842. auf einem Krater von Sorrent KALLIAZ KALO=S. Gerhard’s Archaeolog. Zeitung
N. F. No. 4. Febr. 1848. S. 224.
(*) Monum. d. Instit. arch. I, v, 3. Duc de Luynes Choix de Vas. XXXVIIL Mil-
lingen nennt die Flügelfrau Harpyie. Annal. de P’Instit. Tom. I, p. 272.
e
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 83
Die Entdeckung der ausgezeichneten bei Gelegenheit des Tisonides 5)
angeführten volcenter Diota berechtigt hier wegen der Gleichheit der Vor-
stellung den von Eos verfolgten Epheben mit der Lyra Tithonos zu nen-
nen, wodurch zugleich für den Alten auf der Rückseite der Name Laome-
don als Vater des Tithonos (?°°) gewonnen wird. Wie nahe aber Tithonos,
der Geliebte der Morgenröthe, in seiner äufseren Erscheinung dem Apoll
selbst kömmt, für den der Name Oionokles sich vorzugsweise eignet, leuch-
tet auf den ersten Blick dieses Vasengemäldes ein und findet seine Parallele
in Oionos, dem Sohn des Likymnios (Süfssang), den der Mythos uns
als Gefährten und Liebling des Herakles schildert (2).
Durch schöne, bis ins Kleinste sorgfältig ausgeführte Zeichnung, nicht
minder als durch Eigenthümlichkeit der Darstellung, empfiehlt sich eine
gelbfigurige nolanische unedirte Diota (Taf. IV, 9). gegenwärtig im Bla-
cas’schen Museum (°°®). Ein Ephebe mit einem um Rücken und linken Arm
geschlungenen Peplos leicht bekleidet, das lockige Haar mit einer Tänia
umbunden, verläfst flüchtigen Fufses, in seinem Blick wie in den beiden
ausgestreckten Händen Schreck und Gnadeflehn verrathend, einen Altar,
den die jonischen Voluten sowohl, als die herabhängenden Binden als Grab-
mal (uvnue) bezeichnen: ein auf demselben wohl zum Gedächtnifs der Ma-
nen des Verstorbenen niedergelegter Blätterzweig erheischt besonders unsre
Aufmerksamkeit, insofern ihn der fliehende Jüngling, wie es scheint, zu
rauben die Absicht hatte, als bei dieser That die Erscheinung eines Epheben
ihn störte, der links mit grofsen ausgespannten Flügeln zu dem Altar herab-
schwebt, und nach dem Ausdruck seines Gesichts und der Haltung der
erhobnen flachen Hand zu schliefsen, abwehrend Stillstehn gebietet: seine
mit mehreren kleinen Knoten an den drei Riemen versehene Peitsche hält
der Flügeljüngling horizontal in der gesenkten Rechten und scheint damit
nicht sowohl dem Flüchtling Züchtigung zu drohen, als vielmehr Altar und
Zweig zu schützen, zugleich aber durch das ungewöhnliche Attribut seinen
eignen Charakter deutlicher zu offenbaren.
(9) Siehe S. 67 dieser Abhandlung.
(°°) Hom. Il. XX, 236 ff. VI, 23. Tzetz. Lycophr. 18. Pind. Ol. XI, 69.
(©) Apollod. II, VII, 3. Paus. II, xv, 4 u. 5.
(°) Kunstblatt 1825. No. 39. Hyperbor. röm. Stud. S. 160.
52
®
54 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Eine Tänia schmückt ebenfalls das Apolloähnlich langgelockte Haar
dieses Flügeljünglings. Auf der Rückseite drückt ein kahlköpfiger, mit Tä-
nia geschmückter Greis durch die erhobne Rechte sein Entsetzen über den
Vorgang der Hauptseite aus. Während sein übriger Körper ganz vom Pe-
plos über dem langen Chiton bedeckt wird, hält die freie, linke Hand einen
Krückenstab, @axrngie, erhoben in der Mitte (2%). Die gleich sorgfältige
Zeichnung dieser Figur und der ohne Absatz unterhalb der drei Figuren
fortlaufende Mäander zeugen für den engen Zusammenhang von Vorder- und
Rückseite. Ein x«As mitten vor dem schwebenden Epheben scheint am na-
türlichsten auf diesen sich zu beziehen; dagegen ein zweites »zaAos in ent-
gegengesetzter Richtung aus dem Munde des fliehenden, wohl zu Gunsten
des mit dem Blätterzweig beehrten Todten, dem dies Grabmal gehört, auf-
zufassen sein möchte (?!?). Die verschiedne Schreibart der beiden Worte
(°) Der Vergleich dieser kahlköpfigen, mit Krückenstab versehenen Mantelfiguren auf
der Rückseite nolanischer Dioten beweist, dals die Alten sich bei der Vasenmalerei nicht
desselben Patron auf verschiedenen Gefälsen bedienten, sondern aus freier Hand zeichneten,
daher trotz grolser Ähnlichkeit im Ganzen, die augenfälligen Abweichungen in den Einzel-
heiten bei jedem Gefäls entspringen. Dafs dieselbe Figur in verschiedenen Zusammenhang
mit mythischen Scenen der Hauptseite gebracht, auch verschiedene Individualitäten darzu-
stellen bestimmt war, läfst sich wohl ohne Furcht vor Widerspruch behaupten.
('°) Vgl. Dr. Schulz im Bull. d. Instit. archeol. 1842, p. 13. Anfora nolana.. Amore
di forma adulta che insegue colla frusta un efebo fuggitivo innanzi a lui, presso
il quale trovası l’iscrizione KALO=Z. Cotal rappresentanza potrebbe riferirsi con egual
diritto a rapporti palestrici come ad erotici. Accettando quest’ ultima spiegazione ci of-
frirebbe il seguito della scena una Kylix ancora ultimamente scavata a Nola, comprata dal
Prof. Gerhard, nell’ interno della quale scorgesi l’Amore che ha raggiunto l’efebo ed al-
zasi con lui a volo, stringendolo fralle braccia. — Dall’ altro lato della lancella vedesi un
vecchio mantato, forse il pedagogo appoggiato sul bastone, coll’ iscrizione KALO=E
KALLIAZ relativa senza dubbio all’ efebo, pel quale era quel vaso assegnato. Die Ähn-
lichkeit dieser Vase mit der von Akestorides überrascht so sehr, dafs ich doppelt bedauere
Autopsie und Zeichnung dieser letzteren zu entbehren. — Noch eine andere Vase verdient
hier Berücksichtigung, ebenfalls leider nur durch Beschreibung des Cav. Gargallo sopra di
un antico bassorilievo di argilla Lettera al Duca di Serradifalco 1849, p. 8. zu unsrer Kennt-
nifs gelangt: In questo vaso (ampolla nolana nella raccolta de’ signori Descrescenzo in Na-
poli) di fatti mentre si osserva l’identica composizione di un efebo che vola verso una
donna fuggente, leggesi accanto alla virile figura la scritta OANATOS che la di-
chiara effigie della morte. Ed oltraccio vien dessa caralterizzata dal proprio atteg-
giamento, minacciando percuotere lasua vittima con la ferza di cui ha armata la destra;
giacche siffatto gesto &, a dir cosi, la grafica versione dell’ epiteto «cv, invece di mamv
percuotitore che fu dato dai tragici al demone ferale, Müller Dorer II, 6, 4.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 85
KaAcos Anerrogides, von denen das Erste von der Rechten zur Linken, das
Leztere von der Linken zur Rechten geschrieben ist, scheint darauf hinzu-
weisen, dafs dies #«@Acs mit dem hinter dem Fliehenden sichtbaren Eigen-
namen nicht in Verbindung steht.
Bei der grofsen Schwierigkeit für die wie wir glauben richtig ver-
standene Scene nun auch die richtigen mythischen oder individuellen Na-
men zu entdecken, kömmt uns die an einer Reihe von bemalten Gefäfsen
wahrgenommene Beziehung zwischen dem dargestellten Gegenstand und dem
mit #aAos angegebenen Eigennamen des Besitzers der Vase zu Statten und
läfst sich vielleicht auch zur Aufhellung dieses Vasenbildes mit Nutzen in
Erwägung ziehen, indem der Name Akestorides zu Nachforschungen über
ihn selbst sowie über seinen Vater Akestor uns einladet. Ehe wir aber die-
ser Spur folgen, richten wir zu Gunsten dieser Erklärungsmethode noch
einmal einen Blick auf die Nikonvase im Cabinet Luynes, die wir schon
S. 43, 44 Taf. I, 9 kurz erläutert haben, um auf die Übereinstimmung der
Handlung der Nike, die eine Siegerbinde darbringt, mit dem Eigennamen des
Besitzers Nikon, der im Epheben am Altar uns entgegentritt, aufmerksam
zu machen, und den Platz dieser Inschrift hervorzuheben, insofern NIKQN
vor der Nike statt bei dem Epheben geschrieben steht.
Schreiten wir nun zur Aufhellung unseres schwierigen Vasenbildes und
suchen über Akestor und seine Familie in mythischer Zeit etwas näheres zu
erfahren, so dürfte vielleicht folgende Erzählung Plutarch’s (?!!) auf unser
Vasenbild ein unerwartetes Licht werfen:
’ ’ I x m ß ’ , ’
GI Blut; Qu: gr. XXXVU. „Ar ri Taveypaicıs mo ns moAews estw "AyırAsıov, To-
u 7 Ei Q x ee m a. A ’ ’ , \ x ’
MOS OUTW MEOSaYogevoWEvos; EX,IgE Yap aurw MaAAov 9 dire Asyeraı Yeyovevar mgos Tyv mOo-
PN € ’ x ER $ „ l S, F zu MI oe x ” J, Se er id,
iv, Egmacavrı ev zyv Wrrege (lege Suyersge) voÜ Tomevögov, Srparovizyv, dmozreivavrı
q [3 > ’ 7 e} I ” - . -
de viov "Ebirmov (lege Epımmov) "Azesroge.” (Vgl. die Vasenbilder, wo Achill die Was-
serholende Hemithea und Polyxena mit dem Schwert verfolgt und den kleinen zu Pferd
.. ” Fi ’ > ’ \ „7 m m x d
flüchtenden Troilos). Hoisavögos Favuv 6 Edirrzov Maryp, Er 775 Tavaygızns ARTE AWIARS
> 1 £} m u —_! ’ SR 93 m Ne \ \ DLEH Ss
DIHOUMEDyS Ev FW zaAounzvu Drecbovre MoAropzounsvos Uno zuv Aycııv, dıa 70 um BovrsrIa
, , x B m ‚ \ \ IN} x \r ’
SUTTERTEUEIW, EEeAıme TO Ywglov Exelvo vuzrwg, #01 zyv Homevogav Ereiyire. Ileasuv de Iloruzgı-
Ios 6 dayırzz Ö vÄg : Eoye zu yerAav, UmsorAaro ri ebaov. 6 Seis 6
EXTEeRrWv OtabavAıguv ra Eoye za zarayeAov, UmeoyAaro nv Tabgov. OgyısıSeis Ö
’ R) 2 9m, > m >= , A 2 > Im Y > m En
Homevdgos wonnse Artov zußarsiv wUrw Meyer, 05 yv auroSı ZErgUMMEVOS Er maAaIoÜ, vurreAloıs
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tegors AMOREIMEVOG" ToUFov Avasmasas Um ayvoms 6 Hloisavögos Elars, zur zo0 Ev IloAuzgeSov
N Pen ’ x x eo‘ > B un \ 5 x x ” > m ’
Ömmagre, Asuxımmov de ToV Vıov amtzrewev. Eds mv olv zard rov vouov dx vNs Borwries sre-
m DE NE & ’ E} 8. RN Su oa. ’ > \
ornva, ecbesriov zu ineryv Eevov yevonevov‘ our 7u de dadıov eußel@Anzorwv eis syv Taveygaı-
\ m» m „ = E} \ \ E} ı ’ € N‘ x m >
zyv suv Ayamv. Ersuev oUv Eobımmov rov vv "Ayındews Ösnrolevov’ 6 de zu FoUrov eig-
6 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
„Weshalb ist bei den Tanagräern vor der Stadt ein Ort der Achil-
leion genannt wird? da Achill vielmehr in Feindschaft als Freundschaft mit
der Stadt gestanden, insofern er des Poimandros Tochter Stratonike ge-
raubt und den Sohn des Ephippos Akestor (?!?) getödtet hatte. Poiman-
dros nemlich, der Vater des Ephippos, ward, als das tanagräische Gebiet
noch nach Flecken bewohnt ward, in dem Orte der Stephon hiefs, von den
Achäern belagert, weil er nicht mit ihnen zu Felde ziehen wollte, verliefs
des Nachts diesen Ort und befestigte einen andern, Poimandrion. Da kam
der Baumeister Polykrithos, machte die Befestigungswerke schlecht und
verspotiete sie und sprang über den Graben. Poimandros, darüber aufge-
bracht, suchte einen grofsen Stein auf ihn zu werfen, der daselbst von alter
Zeit her verborgen war, zu nächtlichen Weihen bei Seite gelegt: diesen rifs
Poimandros aus Unkunde heraus, warf damit, verfehlte aber den Polykri-
thos, und tödtete vielmehr seinen eignen Sohn Leukippos. Zufolge des
Gesetzes mufste nun Poimandros Böotien verlassen und in der Fremde
Schutz und Zuflucht suchen. Da dies aber während des Einfalls der Achäer
ins tanagräische Gebiet nicht leicht war, so schickte er seinen Sohn Ephip-
pos, Achill um Beistand zu bitten. Dieser bewegt auch den Achill dazu,
den Tlepolemos, Sohn des Herakles, und den Peneleos, Sohn des Hip-
palkmos, die sämtlich seine Verwandte waren. Von diesen wird Poiman-
dros nach Chalkis geschickt, wo Elephenor ihn vom Morde sühnt, und er
die Männer ehrte, indem er ihnen Haine weihte, unter denen der des Achill
noch seinen Namen erhalten hat.”
Sollte unser Vasenmaler in dem Grabaltar das Achilleion, in dem
einen Zweig darbringenden Jüngling Ephippos, in dem erschreckten Al-
ten des Ephippos Vater Poimandros haben darstellen wollen? während
andrerseits der Flügeljüngling, heranschwebend, um dies tvayırua abzuweh-
aysı MEITaG, za Trymorsuov FoV “HoazAous, ze Irvirewv F0v Irmarzuov (Irmeiypou?), cuy-
yeveis dravras aurw ovras. Up wv 6 Ileiscvögos sis Karzida suvermepbIeis zur za IagSeis
mag "Erscyvogt Fov cbovov, Erinyse ToUg audgus za rau mar 2Eeire, wv 70 ’AyındEws zaL
Touvome ÖLareryonzer. — Poimandros hat mit Tanagra eine Tochter Stratonike und zwei
Söhne, Ephippos und Leukippos. Sohn des Ephippos ist der von Achill getödtete Akestor.
(°') Wenn der Namengeber der sizilischen Stadt Segesta bald ’Azerrys, bald Aiyersng
genannt wurde: so dürfte hier der Name Akestor mit dem seines Grolsvaters Poiman-
dros soviel wie ray Hirt, sich identifiziren.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 87
ren und warnend den Dämon des von Achill ermordeten Akestor
bezeichnet, dessen Erscheinung Schrecken erregt dem Ephippos sowohl als
dem Poimandros?
Für die Deutung des Altars als Grabmal des Achill liefse sich noch
folgende Stelle des Pausanias (*!°) anführen: „Im Gymnasium IReSgiov in
Elis hat Achill keinen Altar, sondern ein Cenotaph zufolge eines Orakels.
Wenn die Festfeier beginnt am angegebenen Tage bei Sonnenuntergang,
thun die Eleerinnen andres zur Ehre des Achill und pflegen auch sich für
ihn an die Brust zu schlagen.”
Zu Gunsten der Auffassung des Flügeljünglings als "Anerrup lassen
sich die Worte des Orest aus Euripides Andromache v. 900:
u iQ’ GnEOTUp, mynarwv doms Aucıv
anführen, insofern wir dabei nicht übersehen, dafs dem Phoibos als Lenker
des Sonnenwagens die Peitsche vorzugsweise zukönmt, die, eins der sel-
tensten Attribute griechischer Kunst und Religion, wir hier in der Hand
unsres Dämons antreffen und um so geeigneter für einen Dämon dieses Na-
mens erachten (?!*), als der Begriff des Heilens, der diesem Worte un-
streitig zum Grunde liegt, in der ältesten Zeit in die Person des Schlä-
gers, Paeon, sich hüllte, ehe er in Gestalt des Apollo Akesios und Askle-
pios den Gott der Heilkunde versinnlichte (?'°). Eine Peitsche dieser Art
mit Knoten oder Knöcheln an den Schnüren hiefs drrgayaluwros und zegxvu-
gaia narrıe (*!%). In den Händen des Dämons Akestor richtet sie zugleich
unsre Aufmerksamkeit auf die kerkyräische Halle in Elis, nach deren Er-
wähnung Pausanias (217) unmittelbar als das berühmteste auf freiem Markt
den Naos und die Statue des Apollo Akesios beschreibt, dessen Name
nichts andres bedeutet als der sogenannte ’Arsäizaxos in Athen. Sollte nicht
dieser Apollo Akesios mit einer kerkyräischen Peitsche zu denken sein?
Co Bas! VL xx, 2,
(*) Apud Schol. Aristophan. Av. 31. Cratini Cleobulinae I (Meineke Fragm. com.
poet. II, ı, p. 69) "Aztoroga Yag Olus eins Anßeiv HAyyas, Eav Fuaraecn 7
Ton yunre.
(*°) Panofka Asklepios S.18. Letronne Journ. des Savans Mars 1846. p. 163.
(*°) Schol. Aristoph. Av. 1463. et intpp. Hesych. v. zegzugeie.
Er PausaV Ray AN9.
88 Paıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
demnach wird der Nachkomme des Akestor, Akestorides (*!°), diese Vase
mit dem Mythos seines Vorfahren geschmückt, vielleicht zu sepulkraler Be-
stimmung geschenkt erhalten haben.
Denselben Dienst der Erklärung leistet unsre Entdeckung dem bisher
unerklärten Innenbild einer rothfigurigen (Taf. III, 10) volcenter Kylix des
Hieron. Während dessen Aufsenseiten das Urtheil des Paris und die Ent-
führung der Helena veranschaulichen, erblicken wir im Innern ein „palä-
strisch” gedeutetes und also beschriebenes (?!?) Gemälde: „Ein bärtiger,
bekränzter Mann mit knotigem Stab bückt sich vertraulich nach einem in
ihren Mantel gehüllten Mädchen mit Ohrringen. Mangel an Beschuhung,
der Name HıM(s2)JAAMAZ und ein am Bande gehaltenes Häschen machen es
wahrscheinlich, dafs es ein Knabe sei.”
Wenn die Mädchenbekleidung des Epheben uns unwillkürlich an
Achills Versteck auf Skyros (°?°) erinnert, wo die von ihm geliebte Königs-
tochter, bisweilen Hippodamia statt Deidamia genannt (??!), zu Gunsten der
männlichen Namensform Hippodamas für Achill zu zeugen vermag: so
kömmt davon unabhängig die Bedeutung Rossebändiger für Achill als
Thessalerfürst (?°?), so gut wie anderwärts ein sprengendes Rofs als sein
Schildemblem (22?) und ein geflügeltes Rofs als Helmverzierung, unsrer Deu-
tung nicht minder zu Statten. Der am Bande geführte Hase verräth das Lie-
(@'°) "Azerrogidcı bielsen die Nachkommen des Akestor, eine vornehme Familie in Ar-
gos, aus der die Priesterinnen der Pallas gewählt wurden (Callim. Lavacr. Pallad. 34): etwa
der Athene Akria, in deren Tempel das Grab des Akrisios sich befand (Clem. Alex. Pro-
trept. p. 29 ed. Sylb.). Vgl. "Azer@s, einen Cyprier, der den ersten Peplos für die Athene
webte (Athen. II, 18b.): «zerrg« die Nadel, @zesrogis die Heilende (Hippocrat. p. 295, 48)
davon kontrahirt @zerraiöss p. 309 die Hebammen.
('?) No. 1766 Gerhard Zuwachs d. Vasensammlung d. Kgl. Museums. Vasen und Trink-
schalen d. Kgl. Mus. Taf. XI. XII.
(@°) Cyclici ap. Schol. Hom. Il. T. 388. Apollod. III, 13,8. Hygin f. 96. Lucian de
Saltat. 46.
(@') Des Peirithoos Gemalin, gewöhnlich Hippodamia genannt, nennt Plut. Thes. 30
Aridausıev. Vgl. Hesych. Irroöausıe" 4 Barryıs (Achills Geliebte) za "Agodiry.
(2) Auf einer Silbermünze von Larissa (Dumersan Cab. d. Med. d’Allier de Haute-
roche Pl. V, 17.) sieht man mit der Überschrift AXIAAEYE den Kopf der berühmten
Marmorstatue im Louvre, sein Helm ist mit einem Flügelrofs geschmückt. Die Rückseite
zeigt ein sprengendes Rols und NIKOMAXOY.
(@°) Gerhard Auserlene Vasenb. III, ccxxvı.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäf/sen. 89
besverhältnifs (?2*) zwischen dem mädchenhaften Epheben und dem älteren
Manne gegenüber, für den sich der Name Lykomedes um so zuversichtlicher
vorschlagen läfst als die vom Herausgeber nicht in Erwägung gezogene Zot-
tigkeit seiner Brust dazu beiträgt, Lykomedes zu charakterisiren. Denn
diese beim Silen Akratos vorzugsweise sichtbare, sonst aber höchst selten
wiederkehrende Eigenthümlichkeit spielt auf das Wolfsfell an, mit dem Do-
lon (??°) sowohl, als der schlaue Ulyss (*°°) sich mit Rücksicht auf die das
Dunkel liebende List ihres Wesens, bekleideten. Daher erklärt Hesychius
Aarıos durch darls 76 or1Ios N Tuveros, Öurunandcs, moAurgiyos- und Aa-
Floıcı“ danesı ornIeri, AaTicıs. Endeyevramıves dmo TuV eEwSev Eribaveias av-
dawderuv, aa TUXVoIls zal nuverois.
Das Innenbild einer rothfigurigen (Taf. IV, 4) Trinkschale des Kgl.
Museums, wofür der Herausgeber (°”’) den Namen Kapaneus vorschlug,
liefert für die von uns entwickelte Theorie einen der merkwürdigsten Belege.
In der Regel trägt der Mangel einer richtigen Methode die Hauptschuld ver-
unglückter Erklärungen; daher müssen wir zuvörderst, abgesehen von der
begleitenden Inschrift, die Figur selbst scharf in’s Auge fassen, über ihre
Lage und ihren Gemüthszustand in’s Klare kommen, und alsdann auf die
charakteristischen Einzelheiten ihrer Erscheinung näher eingehen, um mit
ihrer Hülfe den rechten Namen nebst dem damit zusammenhängenden My-
thos zu enträthseln. Gelingt es uns auf diese Weise das Vasenbild zu er-
klären, so beginnt alsdann der zweite Theil der Untersuchung, indem wir
uns zunächst von der Bedeutung des das Bild begleitenden Eigennamens
Rechenschaft geben, alsdann vergleichen, in wie weit dieselbe mit der Si-
tuation der bereits erkannten und benannten mythischen Figur überein-
stimmt, und endlich ob in einzelnen Theilen dieser gemalten Figur Anspie-
lungen auf den Eigennamen sich wahrnehmen lassen.
Dals dieser Krieger nicht in der Begeisterung kühnen Angriffs uns
entgegentritt, sondern bereits ohne Waffe, in äufserster Gefahr, fliehend
und mit dem Blick nach oben und der ausgestreckten Rechten Gnade erfle-
(”*) Siehe S. 93 unsrer Abhandlung.
(”) Monum. de l’Institut II, x. Avellino Bull. archeol. Napol. T. I, Tav. VI.
(°”°) Leprevöt Vas. d’argent de Bernay Pl. X.
(°) Gerhard Vasen und Trinkschalen d. Kgl. Mus. Taf. VI, VII, 5.
Philos. - histor. Kl. 1849. M
90 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
hend, wird man ohne Schwierigkeit uns einräumen. Die Unsichtbarkeit der
Feinde in Verbindung mit den von oben herabschwirrenden Pfeilen und des
flüchtigen Kriegers Blick in die Höhe schliefst die Idee des sonst gewöhnli-
chen nahen Zweikampfes aus und giebt vielmehr der Vermuthung eines
Kampfes zwischen Belagerten, die von den Zinnen herabschiefsen auf an-
greifende Feinde, eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit. Gehen wir nun
auf die Einzelnheiten der Tracht näher ein, so bietet die völlig übersehene
Schürzung des Peplos den Schlüssel zur Erkenntnifs des Vasenbildes
uns dar. Dieselbe ist so eigenthümlich, dafs wir dreist viele Hunderte von
Kriegern auf Vasenbildern betrachten können, ohne sie auch nur an einem
von ihnen wiederzufinden. Dagegen bildet sie das unzweideutige Abzeichen
der Künstler und Handwerker; daher wir sie sowohl bei dem Gott-
Künstler, bei Hephästos, wenn er für Achill Waffen anfertigt (??°), als auch
namentlich bei dem Verfertiger des Kastens für Dana& auf einer rothfiguri-
gen volcenter Prachtvase im Museo Campana zu Rom, und bei einem ähn-
lichen bekränzten Kastenanfertiger mit Beil in der Rechten im Innern einer
volcenter Kylix (°”°) antreffen.
Steht es aber einmal fest, dafs der fliehende und flehende Krieger
dem Künstlerstande angehört, so liegt der Gedanke an Epeios am näch-
sten. Für diesen spricht auch das Schildemblem des Pferdes, theils als
Anspielung auf das hölzerne Pferd vor Troja, das er gearbeitet (?°°), theils
aber auch als Hieroglyphe seines Namens Epeios, worauf die bei den Rö-
mern verehrte Schutzgöttin der Pferde Epona (*°!) schon hindeutet. Nicht
unpassend dürfte bei diesem Anlafs an das gleiche Emblem eines Pferde-
hintertheils (2°) auf dem Schild des gegen Poseidon kämpfenden Epbhi-
altes zu erinnern sein, da im ersten Theil dieses Eigennamens der gleiche
Name des Pferdes enthalten zu sein scheint. Wenn in der Lesche zu Delphi
(2) Gerhard Trinksch. d. Kgl. Mus. Taf. XII. XII. Panofka Bilder ant. Lebens Taf.
VIII, 5.
(2°) Lenormant et de Witte Elite C&ramogr. I, xxxvır. Vgl. Roulez Memoires de l’Acad.
d. Sciences de Bruxelles Tom. XV, pl. 1.
(2°) Paus. X, xxvı, 1. Justin. XX, 2. Dictys I, 17.
(@°') Apulej. III, xxvıI, et intpp.
(?) Lenormant et de Witte Elite c@ramogr. I, pl. V.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 9
Polygnot (233) den Epeios gemalt hatte wie er die troische Mauer niederwirft,
über welcher das hölzerne Pferd mit dem Kopf hervorragt: so führt unser
Vasenmaler den Epeios zwar auch als Belagerer uns vor, aber statt ihn von
einer so tapferen Seite zu zeigen, hält er sich vielmehr an die Sage, nach
welcher Hesychius versichert, Epeios bedeute Feigmachun
g,
Fragen wir nun nach der Bedeutung des ech namens Anrien, so leuch-
tet zunächst ein, dafs er mit dvrıcw zusammenhängend, den flehenden
ausdrückt. Allein die besondere Haltung des Halses sowohl, als die lang
herabwallenden Hinterlocken verdienen eine gleiche Beachtung. Denn der
Grieche bezeichnete mit 7 @vries die Mandeln am Halse, vorzüglich die in
Krankheit geschwollenen, und mit avrıcı die von den Ohren herabhängen-
den Locken (?°*). Demnach unterliegt es wohl keinem Zweifel, dafs die
Wahl des feigen Epeios mit Rücksicht auf den Eigenthümer der Vase, An-
tias (Fleher) erfolgte, sowie dafs die Einzelheiten des Bildes selbst mit An-
spielung auf den Eigennamen Antias ausgeführt wurden.
Eine ähnliche Belehrung schöpfen wir aus dem Innenbild einer an-
dern rothfigurigen volcenter Kylix (Taf. I, 8) des Kgl. Museums, in wel-
chem ein nackter Palästrit nicht wie der Herausgeber (2°) wähnt, mit einem
Cestus die rechte Hand umwunden hat, und ebensowenig einen Schwamm
gegen die andre Hand auszupressen scheint, sondern den Ring, an welchem
Strigel, Salbfläschchen und Schwamm beim Weg nach Palästra oder Bad
zusammen aufgehängt wurden, in der Hand selbst aber das kleine zwiebel-
förmige und mit kleinen Troddeln ringsum versehene Salbfläschchen (235)
von Erz hält, während dessen am Hals befestigte und zum Tragen nöthige
Bindfäden herabhängen und mit der andern Hand gehalten werden. Der
vor ihm schräg stehende Krückenstab vertritt offenbar die Stelle der wegen
(*°) Pausan. X, xxvI, 1. Fr. Hermann Epikrit. Betrachtungen über d. Polygnot. Ge-
mälde S. 7, 8, 29.
(°*) Apulej. Fiorid. I, n. III. Jam primum, inquit, erines eius (sc. Apollinis) praemul-
sis antiıs et promulsis caproneis anteventuli et propenduli. Isidor. Origg. XIX, 31. Antiae
sunt cineinni dependentes prope auriculas graeco vocabulo ab auribus. — Antias deductas
ab antibus sive oris et extremitatibus. — Caproneae sunt crines in frontem proni.
(°”) Gerhard Vasen und Trinkschalen d. Kgl. Museums Taf. XII, 6.
(*°) Ein ähnliches hält Apoll auf der Amymonevase bei Avellino Bull. Archeol. Nap.
Tom. II, Tav. II. Gargiulo Racc. dei Monum. Tom. II, Tav. 68.
M2
93 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Mangel an Raum fehlenden Mantelfigur des Paedotriben selbst, der als
Erast (7) die Kylix seinem Geliebten schenkte, und sowohl durch die eben-
falls bisher übersehene dicke Siegerbinde, @vaöyua, über dem Kapitäl der
Säule hinter ihm hängend, als durch die Inschrift ö raıs varyı zaA(os) „der
Knabe ist wirklich vortrefflich” seine Gefühle uns nicht verschweigt. Den
Namen des Lieblings entdecken wir, gewifs mit Absicht, auf dessen rechtem
Schenkel (2°), wo sich AAXEZ KALOZ „schön ist Laches” herabzieht.
Die eigenthümliche Haarbeschaffenheit und Anordnung sowie die Bewegung
des scheinbaren Wollfädenherabziehens wird erst als Anspielung auf den
Eigennamen Aaxss verständlich, indem Aayrs im Zusammenhang mit Aayın
Wolle, wolliges Haar, und mit Auxyaics wollig, haarig, zottig, rauh steht,
und andrerseits an Lachesis, die den Lebensfaden spinnende Moira erinnert.
Mit dieser durch den Namen Laches motivirten Aufziehung der Salb-
fläschehenbänder oder Riemen verdient das ganz ähnliche Aufziehen der
Stockbänder von Seiten des Palästralehrers Xanthias auf einer Komödien-
vase des Cabinet Pourtales Pl. IX. verglichen zu werden, insofern es eben-
falls durch den Namen ZavSıas hervorgerufen wird, der von £aivew Wolle
krempeln, spinnen, weben herrührt. Ein drittes bisher ebenfalls unbeach-
tetes Beispiel gewährt ein Vasenbild des wiener Antikenkabinets (*°°), in
welchem ich den kahlköpfigen Nestor sitzend erkenne, wie er dem in den
Krieg ziehenden Antilochos beim Scheiden die Hand drückt. Vor Nestor
hängt oben ein durch die allseits herabhängenden Fäden Spinnen ähnliches
Salbfläschchen, dessen Bild als Spinne offenbar auf den der Bedeutung
nach mit Nereus (Spinner) zusammenfallenden yegyviss Nerrug anspielt.
(®”) Das Innenbild einer andern volcenter Kylix (Mus. Gregor. P. II, Lxxxv) macht
uns mit diesem Erasten bekannt, einer bärtigen Mantelfigur mit einem Stab; oben hängen
Strigel, Schwamm und Lekythos: die Umschrift ist KAXEZ KALOZ publieirt, offenbar
falsch gelesen statt AAXEZ KALOZ. Die Aufsenbilder zeigen einerseits einen Lapithen
mit dem Schildemblem eines Stieres, im Kampf gegen zwei felswerfende Centauren, an-
drerseits drei Centauren.
(2°) Aristoph. Aves v. 705-707 Chor:
x \ \ > 2 m \ ’ u
IlodroUs de zaAoUs aronwmozores maidas mgOS FEpAaTıV woRs
dd zyv irylv Thv Änerionv Öısmroesev avdass korerar
v IFN, TyV NAETEg teypt avöges EILROTTEL,
€ h ” N 6 « S: ’ > £3 x De) € \ \ be
0 EV 0ETUYE ous, 0 0E mogıbvawv , ° de Anv a [e) de TEOTIROV ogviv.
(2°) Laborde Vas. Lamberg. I, xxıı.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 983
Auf einer rothfigurigen volcenter Kylix des brittischen Museums (24°)
erblickt man Anakreon durch Namensinschrift ANAKPEON gesichert, ' mit
kahler Platte, bärtig und efeubekränzt, das Saiteninstrument Ragßıres spie-
lend : vor ihm stehen zwei Epheben, der eine myrten-, der andre lorbeer-
bekränzt, die rechte Hand nach Anakreon ausstreckend; der eine trägt die
Chlamys auf dem Arm, der andre ist in den Tribon gehüllt: zwischen ih-
nen liest man NY®EZ, hinter Anakreon KALOZ, Nyphes ist schön. Dies
Innenbild stellt eine nackte Frau mit Mütze, im Begriff sich die Sandalen
zu binden vor, begleitet von der Umschrift MEMNON KALOS. Dafs in den
beiden Epheben die Eromenen des Anakreon und zwar in dem lorbeerbe-
kränzten der von Anakreon selbst (**') dem Apoll gleichgestellte Bathyllos
gemeint sei, war nicht zu verkennen. Allein ebenso entschieden deutet der
Eigenname Nyugys in Verbindung mit der Manteleinhüllung (**?) den Cha-
rakter der männlichen vun an, den der myrtenbekränzte Eromenos bei
Anakreon bekleidete (°*°), und wahrscheinlich auch das Verhältnifs des Em-
pfängers dieser Vase zu dem Geber derselben. Der Ruf MEMNON KALOzZ
bei dem Bilde einer Frau läfst zunächst an Eos denken, zumal sowohl
Nachthaube als Akt des Ankleidens sich vorzugsweise für diese schicken:
den Memnon selbst dürfen wir aber mit Sicherheit in dem lorbeerbekränz-
ten auf Bathyllos gedeuteten Epheben, dem Gefährten des Nymphes,
erkennen.
Auf den Zusammenhang zwischen Anakreon und den beiden Epheben
Bathyllos und Nyphes für Nymphes wirft eine unter dem Hügel des Tem-
pels der Hera Teleia in Megalopolis gelegne Quelle Bathyllos genannt (**%)
(°) De Witte Cabin. Durand. Vas. No. 392. p.428. 428, p. 162. S. Birch Archaeo-
logia p. 196. 222. 236.
(°*') Anacreon Od. XXIX. v. 43: Tev "Arcrruve de roürov
KaSerdv, voisı BaSvArov.
"Hu 8° © Nanov wor &r9ye.
Toape Sorßov Ex BaSvVrRov.
(*”) Vgl. die Kylix des Peithinos bei Gerhard Trinkschalen d. Kgl. Mus. Taf. XIII,
XIV, XV. (Panofka Namen der Vasenbildner Taf. I, 2. S. 6).
(*°) Das ist der wahre Sinn jener Nyuei auf Lapidarinschriften z. B. von Acrae in
Sieilien (siehe meine Lett. al. Duca di Serradifalco sopra le iscriz. del teatro di Siracusa
Fiesole 1825).
(©) Paus. VIII, xxxr, 6.
94 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
ein unerwartetes Licht, indem der Name Nymphes auf diese Quelle hinzuwei-
sen vermag, wie andrerseits die Hera Teleia auf die Hauptgöttin von Samos,
in deren Tempel Polykrates eine Bildsäule des Bathyllos (*“5) geweiht hatte.
Den Memnon selbst als Schützling des Sohns der Eos veranschau-
licht das Innenbild einer andern rothfigurigen Kylix (°*) in einem efeube-
kränzten, unterhalb bedeckten Epheben, der mit einem Myrten- oder Lor-
beerzweig in der Linken auf einem Klappstuhl sitzt und die Umschrift
MEMNON KALOE hat. Auf einer der Aufsenseiten erblicken wir einen jun-
gen Griechen mit einem Pferd, eine Kanephore KALIZ, ferner NY®bEZ mit
phrygischer Mütze und Anaxyrides, ein Pferd führend, endlich einen Griechen
KALIZOENEE, ebenfalls ein Pferd führend. Danach der blofsen Beschreibung
ohne Anschauung des Originals oder einer Zeichnung der Sinn dieser Scene
sich kaum mit Wahrscheinlichkeit ermitteln läfst, indem die Rosse wie andre
Male zur Anspannung vor einem Wagen herbeigeführt, aber ebenso gut je-
dem der Führer zu Reitpferden dienen können: so darf man dem Gedan-
ken, Paris trete in dieser Scene mit auf und zwar in der NY®EE überschrie-
benen Figur, keine weitere Folge geben, sondern sich begnügen darauf auf-
merksam zu machen, dafs auf dieser Vase, wie auf der des Anakreon, Ny-
phes und Memnon zusammen, jeder als z«Aos genannt vorkommen. Auf
der Vorderseite dieser Kylix fordert Priamos den Leichnam des Hektor von
Achill zurück; EPOAOPOZ (nicht $egcöwgos zu emendiren) bringt Vasen als
Preis für Hektor. Ob dieser Name mit Recht auf Todtengeschenke zu
beziehen sei, wie bisher allgemein (?*’) angenommen wird, trage ich Beden-
ken zu glauben, seitdem der Vergleich des Bathyllos der samischen Hera auf
der erstgenannten Vase zu der Vermuthung leitet, EPOAOPOZ stehe für
HEPOAOPOZ ‘Hgodwges, soviel wie “Hgodoros der Heragegebne.
In gleichem Sinne erklären wir das Innenbild einer rothfigurigen vol-
center Schale (°**), einen kniebeugenden Krieger in voller Bewaffnung dar-
(@) Appulej. Florid. II, p. 15 apud deae aram.
(*) Inghirami Gall. Omer. Tay. CCXXXVII, CCXXXIX. De Witte Catal. de la coll.
Magnoncourt No. 144. p. 92.
(@”) De Witte I. c. vermuthet Pegcöwgos Geschenkebringer.
(@*) Mus. Etr. du Pr. de Canino No. 1434. p. 127. Linus. S. Birch in Gerhards Ar-
chäol. Anzeiger No. 4. 5. 1849. S. 54. Aulsenseiten einerseits QALINOX leierspielend,
zwischen zwei zuhörenden MOLNOZ und XZANOOZ: andrerseits drei nackte Ephe-
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 95
stellend, mit Köcher an der Seite und kurzem argolischem Schild, worauf
das Emblem eines Adlers, der eine Schlange ergriffen hat, aus Rücksicht
für die begleitende Inschrift MEMNON KALOS, nicht für Teukros oder Ido-
meneus, sondern für Memnon. — Denselben Memnon veranschaulicht wohl
auch das Innenbild einer andern volcenter Kylix mit gleicher Inschrift um
einen jungen behelmten Krieger, der eine Schleuder zu werfen im Begriff
steht (?*). Aufserhalb umschliefsen zwei Augen einerseits ein Blatt, an-
drerseits einen Esel. Wie der Esel mit Memnon zusammenhängt fiel kei-
nem meiner Collegen anzugeben ein, obschon des Hesychius Glosse M&uvuv
6 övos- Meuvovia" Ta ovsıa »gea* zur Lösung dieses Räthsels ausreichte, zu-
mal die gelehrten Philologen den Namen Memnon als Bleiber richtig deu-
teten, insofern dieses Thier jeden Augenblick stille steht.
Denselben Zusammenhang zwischen Bild und Eigennamen verräth
eine Kylix (?°°) im Innern mit einem Jüngling geschmückt, „der ein Gefäfs
oder Feuerbecken mit drei Füfsen trägt.” Der Vergleich des ähnlichen Ge-
fäfses als Siegel des Münzbeamten Mnaseas Freier auf einer Tetradrachme
von Athen (?') und die für dasselbe festgestellte Hochzeitsbezeichnung (*°?)
berechtigt diesen Jüngling auf gleiche Weise aufzufassen und den Eigenna-
men Meuvwv diesmal als Meuv@v identisch mit Mnaseas, Freier zu erklären.
Eine unedirte volcenter Kylix archaischen Styls (Taf. IV, 3) zeigt auf
jeder Seite dasselbe weibliche Brustbild in gefaltetem Chiton, das Haupt-
haar oben mit einem breitem Strophion befestigt und hinten mit einer dicken
Haarflechte, die spitz ausläuft, mehrfach umbunden: ein Perlhalsband und
Ohrringe in Form eines Kreises mit an drei Seiten hervortretenden Stäbchen
bilden den weiblichen Schmuck. Die Unterschrift der einen Seite lautet
ben ZOLON KALO=E XILON NIKON KALOSE. — Das Seitenstück dazu bildet Mus.
Etr. du Pr. de Canino No. 1617, p. 148. eine Kylix innen mit einem Amphora tragenden
nackten Epheben und MEMNAN KALOZ geschmückt: Aufsen erblickt man einerseits
drei Krieger und eine Amazone; der eine derselben hat einen Adler (?) auf dem Schild,
der andre eine Schlange: andrerseits vier junge Krieger im Kampf, einer darunter mit
Schlange auf dem Schild KALO=E MEMNON.
(*) Dubois Notice d’une coll. d. Vas. peints du Pr. de Canino (1845) No. 125.
(°°) Gerhard Rapporto Volc. not. 825. Ann. d. Instit. III, p. 191. Mus. Etr. 790.
(*‘) Combe Mus. Hunt. T. 9,xvır. Panofka Antikenschau. Erläuterungstafel No. 13.
(2?) Antikenschau S. 22, 23.
96 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
ZTPOIBOZ KALOZ, die der andern XAlPE KAI MIEI. Es kann wohl kei-
nem Zweifel unterliegen, dafs hier der schöne Stroibos (°°°) von seiner Ge-
liebten diese Trinkschale mit ihrem Portrait und dem bekannten Wunsch:
„Sei gegrüfst und trinke” empfing. Allein die Erwägung dafs orgcılts, roo-
Res Wirbel, Kreisel, gleichbedeutend mit eargewss ist, bestimmt uns,
gestützt auf Aeschyl. Supplie. v. 473 orgeßeus Zuvasre, sowohl in der brei-
ten wollenen Kopfbinde rrg&pıev eine Anspielung auf den Namen Stroibos
wahrzunehmen, als in dem höchst eigenthümlichen, mehrfach umbundenen
Haarwulst am Hinterkopf, der als orosıldes durch ürgemmviov erläutert wird (?°*),
und bei seinem spitzen Auslaufen, vermuthlich im Vergleich zu dem Tann-
zapfen, den Namen orgößırcs führte. Drittens endlich halte ich die Wahl
des Ohrenschmucks nicht für gleichgültig (°°°), sondern erkenne in diesen
Ohrringen den von Pollux (°°°) als weiblicher Goldschmuck angeführten roo-
Rıros, vermuthlich ein Synonym von orgeßavisuos, das Hesychius durch Tel-
reus Dreifufs erörtert.
Auf einer volcenter Kyathis (Taf. III, 11) liest man MANAITIOE über
einem sitzenden, aus einer Rolle lesenden Lehrer, dem zwei auf Stäbe ge-
stützte jugendliche Mantelfiguren eifrig zuhören (°°7), jeder von einem KA-
LO& begleitet; sie erscheinen als seine Zuhörer, und wie dies so häufig in
Hellas der Fall war, zugleich als seine Lieblinge. Dafs sein Vortrag sich auf
Heilkunde bezieht, darf man aus der Inschrift XIPONEIA Chirons Lehre,
auf dem vor ihm stehenden Heilmittelkasten (°°°) mit Wahrscheinlichkeit
schliessen und zugleich in Panaitios selbst einen Heilkünstler vermuthen.
(°) Vgl. Gerhard Auserl. Vasenb. III, cxc. cxc1. archaische Kylix. Kampf um die Leiche
des Patroklos, der wohl auf der Seite des Hektor liegt, zwischen Ajas, Menelaos, Idome-
neus und Ajas dem Locrer, gegen Hektor, Glaukos, Aeneas und Paris, jederseits drei
junge Männer mit Lanzen zu Pferd. Rv. Drei Quadrigen, umstanden von bärtigen Männern
und verschleierten Frauen: zwei Reiter sprengen hier den Quadrigen entgegen; unter einem
Henkel ETPOIBOZ KALOZ. Vgl. Hesych. V. argo@gv° dvrirrgeew.
(@°) Schol. Gregor. Naz. Steliteut. 2. p. 80.
(5) Vgl. die Ohrringe mit Oenocho&@, welche Ariadne auf einer Silbermünze von
Histiaea (Panofka Antikenschau, Erläuterungstaf. No. 7) trägt, und die mit Weinblatt in
den Ohren der Lesbierinn Sappho (ebendas. No. 2).
(2°) Pollux. V, Segm. 97.
(”) Micali Monum. Tav. CIII. Panofka Bild. ant. Leb. Taf. I, 11.
(°°®) Braun Bull. d. Instit. 1849 Adun. d. 19. Genn. in Gerhards Archaeol. Anz. 1849 S.35.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 97
Doch zwingt uns das auf demselben Kasten unter Xıpevei« lesbare zare, un-
beschadet der bisherigen Deutung, zugleich eine schöne Chironeia hier
zu erkennen (*°), welcher Panaitios dies Trinkgefäfs zum Geschenk be-
stimmte.
In der Ansicht, dafs Panaitios die Heilkunde ausübte, vermag uns
vielleicht auf einer das Seitenstück der erklärten bildenden Kyathis (Taf. IV,
42) die Wiederkehr der Inschrift NMANAITIOZ zu bestärken über einem
von einer grolsen Schlange als Verbündeten des Dionysos umwundenen
Giganten in voller Rüstung, der gegen den mit Lanze und Panther zur Seite
sich vertheidigenden Weingott kämpft, wahrscheinlich Eurytos (26%), wäh-
rend andrerseits ein zweiter Gigant gegen Dionysos die Lanze ausstreckt (261).
Ich glaube nicht zu irren, wenn ich in Erwägung, dafs die Schlange als Sym-
bol der Heilkunde dem Asklepios vorzugsweise zukommt, deren ungewöhn-
liche Erscheinung bei einem Giganten in voller Rüstung der die Überschrift
Panaitios hat, als geheime Anspielung auf den ärztlichen Beruf des Panaitios
erkläre. Dessen unbeschadet kann dieselbe ein Wächter der Quellen und
Ausdruck für Flüssigkeit, zugleich als hieroglyphische Inschrift für Eurytos
Wohlstrom, dienen. Zum richtigen Verständnifs des Eigennamens II«-
vairıos tragen wesentlich zwei Stellen des Aeschylus bei, die eine Eumenid.
v.198: avaf "ArcAAov, dvraxousov &v JAEQEL®
auros CU Touruv co) Merairos werd,
GN eis Tb mav Empakas us mavalrıos.
die andre Agamemn. v.1507. Chor.
id, im dıar Ass
Favamriou mavepyera.
Ti yap Rgoreis üvev Aus reAdiraı;
Ti Tavd ou Jeongavröv er;
Diese unsere Vermuthung, dafs die Schlange im Zusammenhang mit
Panaitios eine Anspielung auf dessen Stand als Heilkünstler verberge, ge-
(°®) Wie Hr. Ch. Newton in Manners and customs of the Greks from the german of
Th. Panofka p. 24, not. 3 schon sehr richtig bemerkte, mit Unrecht die andre Erklärungs-
weise verwerfend.
(°°) Apollod. TI, 6, 2.
(°) Gerhard Auserl. Vasenb. I, rı.
Philos. - histor. Kl. 1849. N
98 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
winnt an Wahrscheinlichkeit, sobald wir noch das Innenbild einer Kylix
(Taf. IV, 7) damit vergleichen, welches den Liebesangriff eines bärtigen mit
Pardelfell bekleideten Silen auf eine Bacchantin darstellt, die in der Linken
einen Thyrsus, in der Rechten aber eine Schlange hält, welche sich längs
seines Oberkörpers bis nach der kahlen Platte des Kopfes hinzieht, von der
daneben sich ausbreitenden Inschrift MANAITIOX begleitet, woran rechts
ein KALOZ unter ihrem Arm sich anschliefst (2°). Da die schlangenhal-
tende Bacchantin an Hygia erinnert, so läfst sich wohl in ihrem Bild eine
Anspielung auf Chironeia, des Panaitios Geliebte, voraussetzen.
Das Innenbild einer rothfigurigen in Chiusi ausgegrabenen Trink-
schale (2°) zeigt den Silen Akratos, Daimon Agathos, mit der Umschrift
MANAITIOZ; er kniet auf einem vollen Weinschlauch worauf KALOZ
zu lesen.
Wegen ringsumlaufenden NANAITIOZ KALOZ vermuthe ich densel-
ben Heilkünstler auch in dem Innenbild einer rothfigurigen Kylix des
Euphronios, das Hr. de Witte (?°*) folgendermafsen beschreibt: Innen sitzt
ein bärtiger Mann, Kaufmann oder Reisender, auf einem niedrigen Stuhl,
myrtenbekränzt, beschuht, einen Knotenstab in der Rechten haltend. Er
scheint mit einer Hetäre vor ihm zu sprechen, sie trägt einen sehr feinen,
gefalteten und durchsichtigen coischen (°%) Chiton und nimmt den Gürtel;
eine gestickte Mütze hat sie auf dem Kopf: neben ihr ist eine Leier. Da
Cos einer der Hauptsitze des Asklepioskultus und der Asklepiaden war, so
begünstigt die Tracht dieser mit Panaitios hier in Beziehung tretenden, wohl
mit Unrecht als Hetäre gedeuteten Frau, welche weit eher die schöne Chi-
roneia der berliner Kyathis veranschaulicht, unsre Vermuthung, dafs .Pa-
naitios dem Stande der Ärzte angehörte. Wahrscheinlich hatte er diese Kylix
von derselben als Gegengeschenk für jene Kyathis erhalten.
Diese unsre Entdeckung verleitet uns auch auf der volcenter Oino-
8
cho€ mit kleinem Dialog (?°°) in der bisher für Vogel oder Schiff (27) ge-
(°2) Nach einer durch Gerhard’s Güte mir mitgetheilten Zeichnung.
(®) Inghirami Museo Chiusino Tav. XLVII.
(°*) De Witte Catal. Durand. 61. Panofka d. Vasenmaler Euthymides u. Euphronios S. 17.
(®) Kylix des Peithinos bei Panofka Namen der Vasenbildner Taf. I, 2. S. 6.
(<°) Monum. de l’Institut arch£ol. I, xxxıx. Ann. V, p. 357 sqgq.
(*°) Lepsius Ann. V, p. 358.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 99
deuteten Figur eine kleine Nike zu vermuthen und sie in Verbindung mit
der Palmetten verzierung rings um den Hals der Vase als Symbol des Sie-
ges aufzufassen, der in dem kleinen Dialog offenkundig sich ausspricht,
und vielleicht enthält diese Nike dicht bei NIKOAA Nikolas, an den die
Rede zuerst gerichtet wird, noch eine besondere Anspielung auf diesen
Eigennamen.
Auf einer archaischen Amphora des Vasenbildners Exekias (268), einer-
seits mit Ajas und Achill beim Würfelspiel geschmückt, steht ONETOPIAE=Z
KALOZ hinter Ajas: auf der Rückseite zieht sich dieselbe Inschrift längs
des Unterkörpers des mit seinem Pferd heimkehrenden Kastor.
Eine andre Amphora desselben Exekias (°%) offenbart dieselbe In-
schrift ONETOPIAEZ KALOZ hinter der Amazone Penthesilea, die im
Zweikampf von der Lanze des Achill verwundet hinsinkt.
Eine dritte Amphora des Künstlers Exekias im kgl. Museum (27°) of-
fenbart dieselbe Widmungsinschrift vor Demophon, der hinter seinem Bru-
der Akamas, jeder Dioscurenähnlich sein Rofs führend, uns entgegentritt.
Da es uns bis jetzt nicht gelungen ist die Geistesverwandtschaft zwi-
schen dem Namen Önetorides und den mythischen Namen Kastor, Akamas,
Ajas und Penthesilea zu entdecken, so müssen wir uns vorläufig damit be-
gnügen die merkwürdige Thatsache hervorzuheben, dafs Exekias drei für
Onetorides bestimmte Vasen anfertigte, und nächstdem daran erinnern, dafs
der Theseide Akamas sich in symbolischer Auffassung mit dem Tyndari-
den Kastor assimilirt, so wie andrerseits die Namen IlevSerwAsia (271) und
Aıas den Begriff der Trauer mit einander gemein haben.
Die Verbindung des Onetorides mit Ajas leitet unsre Aufmerksamkeit
auf eine archaische volcenter Amphora des kgl. Museums (272), auf deren
(*®) Monum. de I’Instit. arch&ol. Tom. II, Pl. XXI. Mus. Gregor. P. II, Tav. LI,
1.2. Gerhard Kampan. Vas. d. Kgl. Mus. Taf. E, 2.3. Panofka Bilder ant. Leb. Taf. x?
10. Namen der Vasenbildner Taf. II, 1.
(*°®) Gerhard Auserl. Vasenb. II, ccvı. Panofka Namen der Vasenbildner Taf. II, 8.
(”°) No. 651. Gerhard Kampan. Vas. d. Kgl. Mus. Taf. XI. Panofka Nam. d. Vasen-
bildner Taf. II, 4.
(*') Monum. dell’ Institut. II, ıx, 8.
(*”) Gerhard Berlins Ant. Bildw. No. 688. Rückseite Theseus den Minotaur bekim-
plend, von zwei Frauen umgeben.
N2
100 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Hauptseite Herakles im siegreichen Kampf mit Andromache und einer an-
dern Amazone erscheint, indem die dabei befindliche Widmungsinschrift
ONETOP KALOZ dem Bilde einen höheren Werth giebt. Denn sobald wir
uns des Herakles Freundschaft mit Telamon (?’?) ins Gedächtnifs rufen,
der nicht blos auf dem Zuge gegen Troja (°*), sondern auch auf dem gegen
die Amazonen (7°) den thebanischen Heros siegreich begleitete, so drängt
sich unwillkührlich die Vermuthung auf, es möchte ein ähnlicher Parallelis-
mus wie der oben zwischen Onetorides und Ajas wahrgenommene, hier
zwischen ihren Vätern Onetor (?”°) und Telamon zum Grunde liegen.
Dieselbe Inschrift treffen wir auf einer vorzüglichen archaischen Am-
phora (?'7) des brittischen Museums, auf welcher die beiden Dioskuren
KAZTOP MOAYAEYKEXZ mit Lanzen zu Pferde erscheinen; davor sitzt
TYNAAPEOZ; hinter ihnen schreitet ihre Schwester EAANA mit sternge-
sticktem Chiton und ein andrer Ephebe, wohl Echedemos (?’°) oder Mara-
thos (27°), welche die Dioskuren auf ihrem Zuge nach Attika zur Befreiung
der Helena begleitet hatten. Bei diesem Epheben liest man O()ETOP
KALOE.
Eine gelbfigurige Kylix der Münchner Vasensammlung (°®°) stellt die
Trunkenheit in ihren lascivsten Folgen dar, einerseits Dionysos zwischen
zwei Silenen, und Kora desgleichen, nebst der Inschrift OLI ®PAZZMON
KALOZ, andrerseits eine Thyade zwischen zwei Silenen und einen Silen
(@®) Sch. Apollon. A. I, 1289. Theocrit Id. XIII, 38. Pindar Isthm. VI, 65.
(@”*) Apollod. II, 6,4. Tzetz. ad Lycoph. Cass. 34.
(@®) Pind. Nem. III, 65. c. Schol. Vgl. den rothfigurigen Kantharus des Vasenbildners
Doris im Museo Campana (Gerhards Arch. Zeit. 1846 No. 42. S. 287), wo einerseits He-
rakles vier Amazonen bekämpft, andrerseits Telamon als Panoplit gegen eine gleiche Zahl
ficht.
(7°) Hesych. övyrwg* Ovrsw eguw. — users bedeutet einen Käufer, Pächter. — ’Ovy-
rogiöns, Vater des Diemporos, und da der Enkel gewöhnlich den Namen des Grolsvaters
führt, so folgt hieraus, dafs Diemporos = Onetor, was mit der sprachlichen Bedeutung
beider Worte, Handelsmann, sich wohl verträgt. — Onetor ist auch der Name eines
Priesters des ldaeischen Zeus zu Troja (Hom. Il. XVI, 604).
(@) Archaeol. Zeit. N. F. Juni 1847. Beilage No. 2. S. 24*.
(@®) Steph. Byz. v. Ezaödrusıe. Plut. Thes. 32.
CR) WRlut-AlRe:
(°°°) Durch eine von Gerhard mir mitgetheilte Zeichnung zu meiner Kenntnils gelangt.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 101
zwischen zwei Thyiaden, dabei MOLY®PAZ; innen einen bärtigen Mann
mit einer Haube, Krückenstab und Flötenfutteral, in der erhobenen Rech-
ten eine Trinkschale haltend; zu ihm kommt ein bärtiger mit Weinamphora
in der Linken und gefüllter Schale in der Rechten ®P N KALOZ, wahr-
scheinlich HoAupgasuwv zaros. Erwägt man, dafs der Wein die Zunge löst
und gesprächig macht, und dafs Euphrades bei Hesychius als Pataeke und
Vorstand des Tisches, offenbar in der Eigenschaft des Silen Agathodaemon
auftritt: so wird man uns den Zusammenhang zwischen Vasenvorstellung
und Name des Empfängers (°°!) ohne Schwierigkeit einräumen.
Bei Besichtigung der Feoli’schen Vasensammlung in Rom, im Früh-
jahr 1847, zog mich auf einer archaischen Amphora die Inschrift OPOA-
FOPA KALOZ an nebst vier Epheben, von denen zwei mit weilsem Petasos
in Chiton bekleidet, einer mit schwarzem und einer mit rothem zu Pferde
sitzen: die Rückseite zeigt die zwei Dioskuren. Ohne Zweifel vergegen-
wärtigt einer der Epheben mit weifsem Petasos den Empfänger der Vase
Orthagoras Morgenansager, weshalb auch auf der Rückseite sein Schutz-
patron Kastor neben seinem Bruder Polydeukes erscheint. Derselbe Ge-
danke rief auf den Silber- und Erzmünzen (2?) der macedonischen Stadt
Orthagoria als Rückseite eines Dianenkopfes mit Köcher bald den Pileus
mit Stern, bald den Helm, beides Attribute zur Bezeichnung des Morgen-
sterns Kastor hervor.
KAAOZ und KAAE über den Bildern von Gottheiten.
Zur Begründung des S. 41,42 aufgestellten Satzes, dafs die Namen der
Gottheiten fast nie von dem Beiwort xaros sich begleiten lassen, schien es
mir nöthig einige Vasenbilder zu veröffentlichen, die für den oberflächlichen
Beschauer mit dieser Behauptung im Widerspruch zu stehen scheinen, bei
gründlicherer Prüfung aber vielmehr ein höchst belehrendes Zeugnifs für
unsre Ansicht ablegen.
(32), OiHes: poager derzuVen, — Paaduis* Poworızus, bavepws. — V= Eiboaöys TÜrFaI-
, . . . .
#05 Emrrgemeg:os: der auf Kline ruhende Agathodaemon mit orientalischem Turban.
(@®) Mionn. Suppl. III, p. 87, n. 526-29.
102 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Das eine Gefäfs (Taf. II, 3), ein Krater aus Agrigent (?°3), zeigt die
Rückführung des Hephaistos in den Olymp durch Dionysos und den Barbi-
tosspielenden Silen Marsyas £YA(s). Während neben dem Kopf des bärti-
gen, langbekleideten Weingottes mit Thyrsus und Kantharus der Name
AIONYZOE steht, liest man eine Linie tiefer vor dem Haupt des auf ithy-
phallischem Esel reitenden Hephaistos das Wort KALOZ im Einklang mit
der schönen schlanken Jünglingsgestalt, in der Niemand die Person des
Vulcan zu vermuthen berechtigt wäre, wenn nicht ein Panzer, die Zange in
seiner Linken und das Maulthier, das er reitet, zu seinen Gunsten zu zeu-
gen (2°*) vermöchten. Je weniger sich annehmen läfst, dafs der griechische
Vasenmaler von der schon bei Homer (°°) scharf gezeichneten Individualität
des durch gedrungene, unedle Gestalt characterisirten hinkenden Handwer-
kergottes keine Kenntnifs besafs, desto mehr müssen wir vermuthen, dafs
derselbe, indem er hiermit im Widerspruch einen schönen, schlanken Jüng-
ling malte, und ihm das ehrende, aber hier wohlverdiente Beiwort xaAcs
beifügte, eine bestimmte Absicht uns offenbart. Einmal nemlich spielt er
auf das Liebesverhältnifs zwischen Dionysos und Hephaistos an, in welchem
lezterer den Eromenos abgab; für's andre aber zog er die Wahl dieses Ge-
genstandes jeder andren deshalb vor, weil der Empfänger der Vase hier mit
den Attributen des Hephaistos dargestellt, vermuthlich Hephaistion hiefs,
oder weil dessen Liebhaber und Vasenschenker, wohl auch ein Agrigentiner,
den Namen Dionysios (*°°) führte und hier unter dem Bilde des Gottes Di-
onysos, der seinen Geliebten in den Olymp zurückführt, uns entgegentritt.
Derselbe Gedanke spricht sich wohl auch auf einer agrigentiner (*37)
mit demselben Mythos geschmückten Kylix aus, wo Hephaistos, als zeis in
(®) R. Politi Quattro Vasi fittili Palermo 1829. Lenormant et de Witte Elite Cera-
mogr. I, XLVvIa.
(25%) Tischbein Vas. d’Hamilton III, 9; IV, 38. Lenormant et de Witte EI. Cer. I,
XLI, XLVII, XLIX.
(5) Homer. Il. XVIII, 410. Odyss. VIII, 311, 330. Il. XVII, 415. XX, 36.
(°) Vgl. Dionysios Tyrann in Syrakus, der Ältere, Sohn des Hermokrates (405-368)
und den Jüngeren, dessen Sohn; hinsichts vieler andern gleichen Namens s. Pape Wörterb.
d. gr. Eigennamen S. 122.
(”) R. Politi Sulla tazza dell’ amicizia Palermo 1834. Lenormant et de Witte Elite
Ceram. ]J, xLvI1a.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 103
kurzem Chiton und durch einen Blasebalg charakterisirt, zu Maulthier
sitzend, die dionysische Procession beschliefst.
Eine andre durch Schönheit der Zeichnung sich besonders empfeh-
lende (Taf. IV, 2) Vase aus Cumae vergegenwärtigt uns die Dreizahl der
Erdgottheiten, Demeter, Triptolemos und Kora, und zwar die erstere mit
Ähren in der Hand und spendend dem auf Flügelwagen sitzenden Triptole-
mos. Hinter diesem steht die Demetertochter Kora, die Deichsel eines
Pfluges (°°°) haltend. Über ihrem Kopf steht KALE, über seinem KALOE.
Erwägt man, dafs das Bild pflügender Stiere der Bezeichnung der Ehe
zum Grunde liegt, die mit dem Worte Lüyos, conjugium, Zusa mmenJo-
chung, ausgedrückt wird, und erinnert sich zugleich der Worte des Kreon
v. 569 der Sophocleischen Antigone:
„Auch Andrer Fluren lassen sich bepflügen noch”,
so wird man ohne Schwierigkeit uns einräumen, dafs der junge Ehemann
hier ebenso passend unter dem Bilde des Säemanns erscheint, als seine
Frau hinter ihm mit einem Pflugschaar, den sie zur Ackerlockerung
herbeibringt. Die Vase selbst ist ein Hochzeitsgeschenk mit dem Bilde der
jungen Eheleute (?°) und ihrer Mutter.
Dieselbe Beziehung auf Hochzeit setze ich bei einer Vase (?°°) voraus,
bemalt mit des Tityos Angriff auf Leto, den des Apoll und der Artemis
Pfeile zur rechten Zeit abzuwehren bemüht sind. Denn ein KALE über Ar-
temis und ein KALOE vor Apollon dürften unzweideutig auf ein junges Ehe-
paar hinweisen, sowie andrerseits ein KALOZ über Tityos mit Bezug auf
die Leidenschaft des Verliebten nicht ungehörig erscheint.
(°®) Beschrieben von Dr. Schulz im Bull. d. Instit. arch. Genn. 1842; und von Mi-
nervini in Avellino’s Bull. arch. napolet. 1843 p. 6. publizirt Tav. II; auch von Lenormant
und de Witte Elite Ceramogr. III, Lxıv. Ovid. Metam. V, 645 -47:
„Wo Triptolemos, ihn (den Drachenwagen) besteigend,
Ausstreut, und in den Schoos der unbebaueten Erde
Wie der früher bebauten, wirft, die lange geruht hat.”
Virgil ruft zu Anfang seiner Georgica den Triptolem als den Jüngling des hakigen
Pflugs Erfinder an.
(°°°) Vgl. Panofka Antikenschau Erläuterungstafel No. 10.
(°) Annal. de Institut arch&ol. Vol. II, Tav. d’agg. H. Lenormant et de Witte Elite
cer. T. II, Pl. LVII.
104 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
In die gleiche Kategorie setze ich auch den berühmten, von Abb.
Denti zuerst publizirten Hochzeitskrater im Kloster S. Martino bei Pa-
lermo (?°!), indem ich für die darauf befindlichen Inschriften eine von den
bisher angenommenen abweichende Beziehung und Deutung vorschlage. Der
Name PAO&Z KALOE gilt nemlich nicht dem im obern durch eine Bergrük-
kenlinie gesonderten Raum als Brustbild hervorschauenden Pan, sondern
seinem unter ihm gemalten Schützling, dem Protagonisten des ganzen Bil-
des, dem schönen Phaon als Bräutigam. Auf gleiche Weise verstehe
ich die Inschrift EPOE KALOZ nicht von dem im oberen Felde auf zwei
Maulthieren reitenden Eros, dessen Charakter als “Ineges, Cupido, Begier,
in der Natur dieser Thiere ebenso bestimmt sich ausspricht, als durch sein
Verhältnifs zu Pan, sondern von dem Eros in Ephebengestalt zur Seite des
Bräutigams, für den in seiner Eigenschaft als Hymenaeus (°”?) der Name
schöner Eros sich vorzugsweise eignet. Analog dieser Auffassung finden
wir die Inschrift XPYZH ®IAOMHAH neben der Braut, deren Name gol-
dene Äpfelfreundin zunächt an Aphrodite zu denken gebietet, zumal
diese Göttin aus Liebe zu Phaon, ihm, dem gealterten, Jugend und Schön-
heit zurückgab (2°). Allein, wenn wir erwägen, dafs mit Rücksicht auf die
drei Grazien, welche je eine dem Brautpaar und Hymenaeus zur Seite ste-
hen, die durch hohe Stephane sich auszeichnende vierte Frau mitten zwi-
schen Braut und Bräutigam, wohl nur Aphrodite vorstellen kann: so bleibt
uns nichts übrig, als in der goldnen Philomele die Lesbierin (°°%)
Sappho zu vermuthen, die bekanntlich gleich Aphrodite für den schönen
(2°!) Gerhard Antike Bildw. Taf. LIX.
(°°) Zoega Bassir. Tav. XCH.
(@®) Aelian V.H. XII, 18. Palaephat. 49. Lucian D. M. 9. Vgl. Aphrodite- Ambolo-
geras in Sparta (Paus III, xvırı, 1; Plut. Qu. Conviv. III, 6).
(@*) Vgl. Philomeleides, Sohn der Philomela, König auf Lesbos, der seine Gäste
zum Wettkampf mit ihm im Ringen zwang und von Odysseus besiegt ward (Hom. Od.
IV, 343. XVII, 134. Eustath. ad h. 1.). — Letronne in den Ann. de l’Instit. arch. Vol. XVII,
p. 307, not. 4: BircuyAos ou PrAoasıros (beotiquement) ne fait pas exception. Car selon la
remarque de M. Welcker (D. ep. Cycl. p. 274. not. 443) dans PirourAos et TinourAos (ou
121%05) la finale #72.05 n’est que #:%os, dont la premiere syllabe est rendue longue, comme
dans ElurAos, KrsourRos.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 105
Phaon schwärmte (29%), und deren Namen, gleichbedeutend mit &ydwv (296),
die Sängerin versteckt zu bezeichnen im Stande ist: weshalb ihr auch,
wie sonst dem Apoll (9), Orpheus (?°°) und Paris (*°%) das musikliebende
Hirschkalb gehört, das hier zu Aphrodite aufblickt.
Allein nicht blos Götterbilder wählten die griechischen Künstler
um persönliche Liebesbeziehungen der Sterblichen auf geheime Weise zu
versinnlichen: auch Thiere gebrauchten sie zu gleichem Zweck.
Ein einhenkliges agrigentiner (°°°) Salbgefäfs (Taf. IV, 6), am Hals
mit Hahn und Henne nebst den Braut und Bräutigam (°!) bezeich-
nenden Überschriften KALO& und KALE geschmückt, dient zur Begründung
unsrer Ansicht, wobei uns Aelians (0°) Bericht zu Statten kömmt, wonach
die Hennen im Tempel der Hebe sich aufhalten, während die Hähne im
Naos des Herakles wohnen (°°). Mit dem Bilderschmuck dieses sicilischen
Gefäfses verdienen die Silbermünztypen der sicilischen Stadt Himera vergli-
chen zu werden, auf der Vorderseite einen Hahn, auf der Rückseite eine
Henne zeigend, insofern die Natur dieser Thiere sie vorzugsweise zum
Symbol einer Stadt eignete, die von Himeros, dem Genius der Begier und
Wollust, ihren Namen entlehnte.
Als Zeugnifs für die zaroslosigkeit der Götter und Heroennamen führe
ich noch zum Schlufs die volcenter Amphora (Taf. IV, 11) mit dem Her-
mes, der den kleinen Herakles in den Armen trägt (°°*) und den Inschriften
HEPMEZ und HEPAKAEXZ an, indem unabhängig hiervon ein längs des
Hereculeskindes sich hinziehendes KALOZ HO MAIX die individuelle Bestim-
mung der Vase zum Wochengeschenk, im Einklang mit der Wahl des Va-
senbildes andeutet.
(°”) Palaephat. 49. Aelian V.H. XII, 18.
(°) Hom. Od. XIX, 518. Aeschyl. Agam. 1159.
(°””) Gerhard Auserl. Vasenb. I, xxVI. xXVIL. XXIX. XXXII. XXXV. XXXIX. LXXII. LXXVIIL.
(°”®) Panofka Cabin. Pourtales Pi. XXIX, 1.
(°”) Gerhard Ant. Bild. XXXIH. S. unsre Taf. II, 2.
(°°) R. Politi Due parole su tre Vasi fittili Palermo 1833.
(°') Antikenschau Erläuterungstaf. No. 10.
(2) Aelian H. A. XVIIT, 46.
(°°®) Panofka in der Archaeol. Zeit. N. F. No. 12. Dec. 1847. S. 191.
(°°’) Micali Monum. ant. LXXVII, 2.
Philos.- histor. Kl. 1849. Ö
106 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Zu bequemerer Übersicht fassen wir die Hauptresultate unserer Ent-
deckung und Untersuchung in folgende Sätze kurz zusammen:
1) Die Beiwörter KALOZ, KALE, sie mögen von einem gewöhnlich vor-
anstehenden Eigennamen begleitet sein oder nicht, bezeichnen die
Person für welche die Vase bestimmt ist.
2) Sie offenbaren zugleich die Bestimmung der Vasen zu Geschenken.
3) Hiebei sind zu unterscheiden:
a) Preisgefäfse für Siege in öffentlichen Spielen sowohl, als im
Gymnasion;
b) Privatgeschenke bei gleichem doppeltem Anlafs;
c) Liebesgaben, theils von Männerverhältnifs, theils von Frauen-
freundschaft hervorgerufen ;
d) Hochzeitsgeschenke;
e) Entbindungsgeschenke;
J/) Grabgeschenke.
4) Die Wahl der Bilder steht in Beziehung zu dem jedesmaligen Anlafs
des Geschenkes.
5) Zwischen dem Vasenbild und dem Eigennamen für den es bestimmt
ist, herrscht ein geheimer Bund, ein Zusammenhang, auch wenn des-
sen Aufspürung diesem oder jenem Erklärungsversuch mifsglücken
sollte.
6) Die Bedeutung des Eigennamens erklärt in den meisten Fällen die Be-
vorzugung dieses oder jenes mythischen Stoffes vor vielen andern bei
Bemalung des Gefäfses.
7) Daher bei schwer zu enträthselndem Vasenbild die bisher gänzlich ver-
nachlässigte Eigennamenetymologie eine neue und höchst er-
spriesliche Quelle für das Verständnifs der Bildwerke er-
öffnet.
Auffallend gering ist die Zahl der Frauennamen (°°) mit KALE im
Verhältnifs zu der der Männer; ansehnlich aber die Zahl der Vasen
mit KALE ohne hinzugefügten Frauennamen. Diese bisher unbeach-
tet gebliebene Erscheinung beruht wohl auf dem Zartgefühl der Hel-
je
—
(”) Die Frauennamen mit z«@%e auf mehreren volc. Hydrien, Hydrophorien darstellend,
kommen hiebei weniger in Anschlag. Vgl. Gerhard Rapporto Volcente pag. 190, not. 797.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 107
lenen gegen die anständigen Frauen, und stimmt mit der Lezteren
stillen, zurückgezogenen, jedweder Publieität entrückten Lebensweise
sehr wohl überein.
9) Die Namen der Gottheiten entbehren mit Ausnahme von EPNSZ und
NIKH in der Regel des Beiworts KALO& und KALE.
10) Dagegen stehen diese Beiwörter allein über den Häuptern von Göttern
und Göttinnen, sobald dieselben als Schutzgottheiten gewisser Sterb-
lichen erscheinen, die unter ihrem Bilde versteckt auftreten: z. B.
ein Hephaistion in der Gestalt des Hephaistos, mit Überschrift eines
blofsen KALOZ, ein Dionysios in dem Bilde des Dionysos mit glei-
chem Beiwort, eine Korinna unter den Zügen der Göttin Kora mit
blofsem KALA.
11) Selbst Thiere verschiedenen Geschlechts, namentlich Hahn und
Henne, dienen mit den Überschriften KALOZ und KALE zur Ver-
sinnbildung eines Ehepaares und schmücken Hochzeitsvasen verschie-
dener Form.
Die geeignetsten Schlufsworte für unsre Abhandlung entlehnen wir
dem für die gesammte Alterthumswissenschaft unersetzlichen Pariser Ar-
chäologen Letronne, der seine treffliche Etude des noms propres grecs An-
nal. de I’Institut archeol. Vol. XVII, p. 346 mit folgenden Bemerkungen
endete:
„Je les invite a ne pas craindre, plus que je ne Vai fait, de s’ecarter
de l’opinion commune et de proposer les conjectures, qui leur sembleraient
probables, dussent-elles ne pas se verifier plus tard. Dans une matiere
presque neuve, quand on a l’analogie pour soi, il ne faut pas se laisser ar-
reter par la crainte de ne pas rencontrer juste. C’est un petit malheur dont
on devra meme s’applaudir, si, d’un autre cote, on a pu suggerer des vues
ou des recherches nouvelles. Ceux que vous aurez mis sur une voie heu-
reuse et feconde auraient mauvaise gräce A ne pas vous en savoir gre, etä
ne pas dire avec vous felix culpa.”
108 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Beilage.
Ansichten von sieben Archäologen über die Bedeutung von
KALO=E mit Eigennamen.
1. €. 4. Bötiiger. Griechische Vasengemälde. Ersten Bandes
drittes Heft. Magdeburg 1800. S. 54 ff.
Weit wichtiger ist die Frage, wem dies: Schön! auf dieser Vase
eigentlich gelte. Hr. v. Italinsky glaubt, dafs der Künstler, der diese
reizende Zeichnung verfertigte, im Wohlgefallen an seiner eignen Schöpfung
hinzugeschrieben habe: schön! Allein dies widerspricht allem, was wir von
ähnlichen Inschriften aus dem Alterthum wissen, und kein Künstler würde
es je gewagt haben, die Nemesis durch eine solche Äufserung der Selbstzu-
friedenheit zum Zorne zu reizen. Auch auf die Frau die hier sitzt, kann es
nicht gehen, dann müfste es ja zn die schöne! heifsen. Es kann also
nur einem schönen Jüngling oder Mann gelten, dessen hier nicht ausge-
drückten (vielleicht auch nur durch die Zeit verbleichten) Eigennamen man
freilich hinzudenken mülste. Dies bezieht sich auf eine bei den Griechen
sehr häufig vorkommende Sitte, den Namen geliebter Knaben überall an-
zuschreiben, und ihnen durch solche Inschriften öffentlich den Preis der
Schönheit zuzutheilen. Zuerst also noch einige Worte über diese. Die zu-
erst aus edlen Waffenverbrüderungen entsprossene, und dann in den Gym-
nasien und Ringschulen ernährte Knaben- und Männerliebe der Griechen
hatte in den Augen des griechischen Publikums so wenig anstöfsiges, dafs
man nicht das geringste Bedenken trug sie auch öffentlich zur Schau zu
stellen. Die Art wie man es that, war eben so einfach, als vielbedeutend.
Schön (zaAss) wurde das auszeichnende Beiwort des geliebten Kna-
ben oder Jünglings, und bedeutete bald allgemein einen Ganymed im Ver-
hältnifs zu seinem Jupiter (!). Und mit diesem Beiworte schmückte man
(*) Beispiele dieses Sprachgebrauchs giebt schon der einzige "Eaurızos des Plutarch in
Menge. So braucht es Aelian von den Spartanischen Lieblingen o& rag’ aurcts zero V.H.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 109
nun seinen Liebling, wo und wie man nur konnte. Nichts war z.B. an sich
unschuldiger als die fröhliche Schäfersitte, den Namen des geliebten Jüng-
lings oder Mädchens den zarten Baumrinden einzuschneiden (?). Vom Land-
leben und aus der Schäferwelt entlehnten diese Sitte städtische Liebhaber,
die nun besonders an solchen Orten, wo sich die meisten Spaziergänger ver-
sammelten, wie z. B. zu Athen im Ceramicus, jede Wand mit der Inschrift
der oder dieist schön, bemalten (°). Man kennt den schönen Demos
des Pyrilampos aus den Wortspielen der alten Comödie (*) und die
witzige Anwendung, die Aristophanes von dieser Sitte macht, wenn er den
thrazischen Sitalkas als einen recht eingefleischten Athenerfreund schildern
will (Acharn. 143 ff. mit Bergler’s Anmerk.):
Er ist Athenerfreund im Übermaafs
Und liebt auch so, dafs er schon oft: die schönen
Athenienser! an die Wände schrieb.
Natürlich vervielfältigte sich diese Huldigungsformel der Schönheit
bei den erfinderischen Griechen ins Unendliche. In den Symposien wurde
bei dem Cottabismus und der damit verbundenen Ausbringung der Gesund-
heit nur der schöne Liebling genannt (°). Auch die schönen Frauen beka-
III, 10 und beim Suidas s. v. M&Aıros T. II, p. 526 „der Liebhaber hiefs Melitos, der z«cs
aber Timagoras.” So e&pn@os z«20s Maxim. Tyr. T. II, p. 28. Reiske. — In der Folge
blieb freilich z«ros herrschend, und man nannte auch Dichter, Redner u. s. w. ö zu2cs.
Siehe z.B. d’Orville zu Chariton p. 212 Lips. denn für die Lieblinge wurde der Ausdruck
r& meıdıze gewöhnlicher.
(?) Die reichsten Collectaneen bei Cerda zu Virg. Eclog. X, 54. Passerat zu Propert.
I, 18, 21.
(°) S. Suidas s. v. ö öslve zurds, eigentlich aus den Schol. des Aristophanes Acharn. 143
mit Zusätzen bei Eustathius Iliad. B. p. 633. Vom Ceramicus, dem volkreichsten Platz in
der Stadt und der Sitte, dort die Namen der Schönen anzuschreiben, giebt Lucian Dial.
Meretric. X. T. III, p. 308, und Meursius in Ceramico gemino ce. 18. T. IV, c. 999. Thes.
Gronoy. Nachricht. Von der Sitte überhaupt haben sehr viele gehandelt, die Valckenaer ad
Callimachi Elegiarum Fragm. p. 211 anführt.
(*) Die Hauptstellen dieses lustigen Wortspiels sind beim Aristoph. Vesp. 97. 98 und
in Platons Gorgias. Alles hieher gehörige findet man bei Küster zum Suidas T. II, p. 235
und Alberti zu Hesych. T.I. c. 932, 18 gesammelt.
(°) Man kennt ja das bekannte Wort des Theramenes, der den Rest des Schierlings
ausspritzt: Karri@ 7S zur Xenoph. Hellen. II, 3. p. 103. Schneid. Cie. Tuscul. I, 40 und
die Erläuterungen bei Valckenaer zu Callimachus Elegieen p. 214.
110 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
nen, wie billig, ihren Antheil daran (°). In Theophrast’s Charakteren zeigt
sich die kleinliche Ruhmsucht sogar darin, dafs ein mit dieser Schwäche
behafteter Thor selbst auf den Grabstein eines melitäischen Schoofshünd-
chens die Inschrift setzt: der schöne Melitäer (7).
Natürlich ging nun dieser Schönheitspreis auch auf die Künstler über,
die ihn ihren Kunstwerken auf mancherlei Weise aufzudrücken wufsten.
Wir haben noch geschnittene Steine mit Schrift (gemmae literatae), wo blos
eine solche Huldigungsformel eingegraben ist (°). Aber das merkwürdigste
Beispiel ist das des groflsen Phidias, der nach einer oft wiederholten und
von den eifrigen Kirchenvätern besonders benutzten Sage, auf einen Finger
der rechten Hand des allgepriesenen olympischen Jupiters die Inschrift ein-
grub: der schöne Pantarkes (?). Denn so hiefs der schöne Knabe aus
(°) Wer erinnert sich nicht der Kuörrrn zary des Acontius beim Aristaenet. I, 10.
p- 25. Abresch nebst Mercers Anmerk. So der wahnsinnige Liebhaber des Marmorbildes
der Cnidischen Venus beim Lucian. Amor. c. 16. T. II, p. 416. rayos arcs EY,RGETTETO
zur müs amanoo devögov brcıs ABPOAITHN KAAHN ExngUscero. So die Stimme der
allgemeinen Bewundrung, als die schöne Anthia bei der Procession des Dianenfestes zu
Epbesus erscheint, 'AvSi« 5 z«r% Xenoph. Ephes. I, 2. p. 5. Loccell.
(”) Ich halte nemlich die witzige Verbesserung Toups Em. in Suid. T. II, p. 129 (ed.
Oxon. 1790), welcher statt der gewöhnlichen Lesart #.«ö0s Merurcios, zu lesen vorschlägt
zu.0g Merıretos für die einzig richtige. —
(°) Einen sehr merkwürdigen Carneol mit der Inschrift: Asvzas KAAH Age giebt
Caylus Recueil d’Antig. T. II, pl. LII, 2. mit Caylus Bemerk. p. 158.
(°) Diese Anekdote führen die Kirchenväter mit strafendem Unwillen gegen den Künst-
ler, der das heilige Jupiterbild mit seiner unreinen Knabenliebe zu beflecken wagte, häufig
an. S. Clem. Alex. Protept. p. 35. C. Sylb. Arnob. adv. gent. VI, p. 199. Gregor. Na-
zianz. Carm. Jamb. XVIIT. vgl. Junius Catal. p. 155. Valois zu Harpocration p. 328 Gronov.
Einer älteren Quelle folgte vielleicht Suidas s. v. “Pewvovsıe T. II, p. 250 nach Canters
Verbesserung. ’Oryumesı Öurrirm Tod Ars Emeygabev‘ Tavragens z0)0s. Ich habe oben
gesetzt auf einen Finger der rechten Hand welche eine Siegesgöttin hielt die eine krän-
zende Siegesbinde in der Hand trug. — Derselbe Pantarkes siegte als Knabe in den Ring-
kämpfen zu Olympia, und wurde auch später ein Wohlthäter seines Vaterlandes. Pausanias
erwähnt ausdrücklich V, 11, p. 45 eines am Thron des Jupiter befindlichen Bildes eines
siegreichen Knaben, der sich selbst die Siegerbinde um das Haupt windet, und von wel-
chem man sage, es sei der Pantarkes aus Elis radıza 700 Beöiov. Aufser diesem befanden
sich noch andre Bilder des siegenden Pantarkes zu Olympia. S. Paus. VI, 10. p. 162. 15.
p- 182. Wie nun, wenn Phidias aufser der allgemeinen Bedeutung die diese Nike natürlich
auf der Hand des Jupiters haben mulste, noch eine heimliche Beziehung auf den geliebten
und siegreichen Pantarkes, dessen Namen er auf den Finger dieser Hand eingrub, gedacht hätte?
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 411
Elis, den sich der Künstler, während er das grofse Werk vollendete, zu
seinem Liebling gewählt hatte. Sollten nicht auf ähnliche Weise die alten
griechischen Vasenmaler, ihre oder auch nur ihrer Kunden und Käufer
Lieblinge auf die Vasen geschrieben haben? Die Sache leidet keinen Zweifel,
da sich mehrere Vasen und Paterae vorfinden, wo dem (KAAO&) schön,
der Name eines Jünglings ausdrücklich beigeschrieben steht (1°).
Und sind wir nun nicht eben dadurch zu dem Schlufs berechtigt, dafs
auch auf solchen Vasen, wo der Eigenname des Lieblings fehlt, dieser ent-
weder nur verblichen, oder absichtlich ausgelassen sei, damit ihn jeder nach
Belieben selbst hinzudenken könne? Visconti, der sich ganz für diese
Deutung erklärt, glaubt, man habe die Namen da, wo sie anfangs fehlten,
später noch auf den Vasen nachgetragen (!'), ohngefähr wie man die Ge-
sichtszüge der Figuren auf den Reliefs marmorner Sarkophage absichtlich
unvollendet liefs, um ihnen dann eine selbstbeliebige Ahnlichkeit für den
Käufer zu geben (!?). So wenig ich nun darin mit Visconti übereinstim-
men kann, dafs man diese Namen erst später noch hinzugesetzt habe —
denn wie hätte man dies füglich thun können, ohne die Vase einem neuen
(%) Schon Mazocchi ad tabb. Heracleens. p. 138. gab aus der schönen Mastrillischen
Vasensammlung, die später mit der ersten Hamilton’schen vereinigt ins brittische Museum
kam, 3 Vasen, wo die Inschriften z&ros Nızwv, zar0os Yorwv, zaros KarrızAes durchaus nicht
auf die Abbildungen der Vasen selbst, opfernde Priesterinnen und Priester, bezogen wer-
den können, sondern als Huldigung an schöne Knaben, die der Künstler hinzudachte, ange-
sehen werden müssen. — So finden wir in der Tischbein’schen Sammlung T. IV, 17 z«res
Iz«s der schöne Hikkas. T.IV, 31 z«ros Xaguöes der schöne Charmides, wo doch bei-
demal der schöne Knabe selbst auf den nur weibliche Figuren enthaltenden Vasen nicht
erscheint. Vgl. T. I, 37. Dagegen ist der Raub des schönen Cephalus durch die geflügelte
Eos T. IV, 12 auch mit der Inschrift übereinstimmend Kebe«Aos #«r.0s.. Nun kömmt aber
auch der z«?%os allein mehrmals vor, wo, wie auf unsrer Vase, der Name des schönen
Jünglings weder im Bilde noch im Buchstaben steht, als T. IV, 50 u. T. IV, 30, wo an
dem Badekessel, in welchem 3 schöne nackte Frauen sich waschen, angeschrieben steht
#705 &ı: aber du bist doch schön, wo der Anschreibende gewils, wie dort in Lucian’s
Amoribus Callicratides dachte. Zweifelhafter sind die Vorstellungen T.I, 50. T. II, 44,
wo das »«?0s doch auch auf den schönen in Geniusgestalt flötenden Knaben gehen kann.
Aus allem angeführten erhellt, dafs die Künstler, welche dies z«?cs anschrieben, nicht im-
mer dasseibe dabei dachten, und bald den gegenwärtigen schönen Knaben, bald einen ab-
wesenden damit bezeichneten.
(‘‘) Mus. Pio Clem. T. V, Tav. XII, p. 25. u. not. f.
(') Visconti Mus. Pio Clem. T. IV, t. 14. p. 19. not. b.
4112 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Brand im Glühofen auszustellen? — so gewifs scheint mir doch im übrigen
die allgemeine Deutung auf einen schönen Liebling auch auf unsrer Vase.
2) Panofka in Neapels Antike Biidwerke (Stuttgard 1828)
S. 385. Vase 1925:
„Daneben der Name des Besitzers Alkimachos. Derselbe Name fin-
der sich auf zwei andern Vasen, deren eine (Tischbein Vol. I, Pl. 37) einen
bärtigen Satyr mit Thyrsus und Cantharus, gegenüber einer Bacchantin mit
Hirschfell in den Händen darstellt: die zweite (Millin Coll. d. peint. gr.
T.I, pl. 9) zeigt den myrtenbekränzten Theseus, mit einem Beil in der Lin-
ken, und mit der Rechten den um Gnade flehenden Räuber Procrustes hal-
tend, hinter welchem das Menschen aus- und einspannende Bett steht. Alle
drei Vasen verrathen denselben zierlichen Stiel der Zeichnung und mögen
wohl von demselben nolanischen Künstler herrühren; die Verschiedenheit
der Vorstellungen macht es wahrscheinlich, dafs Alkimachos dieselben als
Geschenke bei verschiedenen Gelegenheiten erhielt: die Bacchische etwa
bei Einweihung in dionysische Mysterien, die Thebeische als Preis in Spie-
len, und die mit den beiden Frauen etwa am Feste seiner Vermälung. Auf-
fallend bleibt es, dafs die Herausgeber und Erklärer von Vasen nicht auf
die oft mehrfache Wiederholung der Eigennamen geachtet haben. Statt
der neuen Namen die man erwartet, sieht man bei neu ausgegrabnen nola-
nischen Vasen, immer die schon vor Jahrzehenden bekannt gemachten wie-
derkehren, bald einzeln, bald in Gesellschaft eines zweiten wohl auch drit-
ten Eigennamens. Im letzten Fall deuten sie, zumal in Übereinstimmung
mit den auf ihnen befindlichen gymnastischen Vorstellungen, auf Preise in
Spielen, so dafs der Name des einen, oder der zwei Sieger nebst dem Flö-
tenspieler, dessen es zu den gymnastischen Spielen als Begleitung be-
durfte, auf solche Weise verewigt ward. Daher können Vasen mit drei glei-
chen Namen an drei verschiedenen Orten ausgegraben sein, indem man auf
der Vase eines jeden der drei Individuen zugleich die Namen der beiden
übrigen zu setzen nicht unterliefs. Wer durch diese oft wiederkehrenden
Namen geleitet, die Vasen mit ihren Darstellungen genauer ins Auge falste,
den würden diese Monumente leicht zu Biographieen von Timaxenos, Char-
mides, Oionocles, dem Flötenspieler Kallias und andern Bewohnern Cam-
paniens veranlassen, da die verschiednen Darstellungen auf die wichtigsten
Lebensmomente der Personen bezüglich, als sichere Quellen dazu sich be-
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 113
nutzen liefsen. Hieran schlösse sich als zweite Untersuchung die artistische,
ob nemlich die Vasen mit demselben Eigennamen auch dieselbe Künstler-
hand verrathen, was nicht gradezu nothwendig ist, da sie ja in verschiede-
nen Jahren bei verschiedenen Künstlern bestellt sein konnten; auf solchem
Wege könnten wir, wenn gleich der Name des Meisters uns verschwiegen
bleibt, doch zu einer klaren Anschauung der Schule uns erheben.
3) E. Gerhard Rapporto Volcente, Annali dell’ Instituto archeol.
III, p. 81:
„Während die gefirnifsten Töpfe griechischer und italo-griechischer
Herkunft bis jetzt verschiedne Exemplare geliefert haben mit dem unleug-
baren Namen der Besitzer (792), bieten die volcenter Geschirre, wenn gleich
weit reicher an Inschriften, keine Anzeige von ähnlichem Inhalt oder ähn-
licher Klarheit, ausgenommen einige etruskische Inschriften, die sich auf
die Eigenthümer zu beziehen scheinen (679,ss.) und in einem sehr seltenen
Falle auch unter dem Fufs einer schönen Malerei (793). Indefs diesen Man-
gel an einfachen und offenen Erklärungen ersetzt hinreichend bei unserm
Geschirr die sehr häufige Erwähnung von Eigennamen mit z«aAss: ein Wort
das, wenn es nicht aufser Beziehung stehen kann zu der gemalten Person
neben welcher es steht, dazu dient, mit gröfserer Gewifsheit auf den Namen
des ehemaligen Besitzers der Vase zu schliefsen.
Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit des KALOZ in der Vasenarchäolo-
gie und auf das Mifstrauen, das hinsichts seines Sinnes die verschiedenar-
tigsten Erklärungen veranlafst hat, will ich zwei Schwierigkeiten beseitigen,
die unsrer Auffassungsweise entgegenzustehn scheinen könnten. Die eine
8
ist, dafs in einigen Beispielen z«ros sich neben einer mythischen Person ge-
funden hat: diese Beispiele, bekannt von einigen nolanischen Gefäfsen, de-
nen bis jetzt keine volcenter entsprochen haben, sind so selten, dafs die
geistreiche Art, sie einer Anspielung auf den identischen Namen des Be-
sitzers zuzuschreiben, so dafs ein Mlegres zaros und KedaAcs zaAcs sowohl von
den dargestellten Heroen, als von einem Perseus und Cephalus, dem das
bemalte Gefäfs gehörte (794) zu verstehen, mir mehr annehmbar als will-
kührlich erscheint, indem ich die Seltenheit solcher Beispiele beherzige,
wo heroische Personen das zaAss bei sich haben und zugleich die Unzahl von
individuellen Namen, welche gerade dies xaAcs begleitet: bei welcher Ge-
legenheit man sich erinnern mufs, dafs ein Grab mit der etruskischen In-
Philos.- histor. Kl. 1849. B
114 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
schrift eines Peleus bezeichnet, eine Vase mit der Malerei des Vaters des
Achill in sich schlofs (795). Die andre Schwierigkeit, wenn man beständig
das xaAss auf den Namen des Besitzers beziehn will, liegt darin, dafs man
es bisweilen mit Namen verschiedner Personen verbunden antrifft: aber ein
solcher Verein mannigfacher Belobungen, wahrnehmbar auf den Bildern
sowohl gymnastischer als nuptialer Beziehung, weit entfernt Zweifel zu er-
regen, ob der Besitzer unter einem der angeschriebenen Namen sich auch
wirklich findet, zeigt vielmehr nur das Zartgefühl des Gebers, der zugleich
mit dem Namen dessen, der den Preis erhielt, auch den des Conkurrenten,
bisweilen auch den des Meisters nicht verschweigen wollte. Dieselbe Ver-
bindung mehrerer Eigennamen mit zares lehrt auch, dafs die Hochzeitsbil-
der nicht blos wechselseitige Geschenke zwischen Braut und Bräutigam
waren, sondern meistens von Eltern oder Freunden kamen, denen es gefiel
mit zaAos und »aAy Bräutigam und Braut zu preisen, wenn auch gleich nur
für den einen oder die andre das Gefäfs zum Geschenk bestimmt war.”
Gerhard Berlins Antike Bildwerke 1836. S. 163: „die Vasen-
inschriften als rühmende Hindeutungen auf Individuen mit dem be-
kannten Beifallsruf #«Ass. — Die Zahl der Namen, welche auf Vasen mit
diesem Beiwort verbunden erscheinen, ist ziemlich beträchtlich; es liegt am
nächsten, in den erwähnten Personen diejenigen zu erkennen, denen das
so bezeichnete Gefäls als Besitz zugeeignet wurde. Da jedoch andrerseits
grade für die an solchen Inschriften vorzüglich reichen Vasen Etruriens und
Nola’s die Überzeugung am festesten steht, dafs oft auch die individuellsten
bildlichen Darstellungen derselben, statt dem dargestellten und benannten
Individuum anzugehören, nur für einen ähnlichen Anlafs von dem Fabri-
kanten erborgt waren, so kann jene Beziehung der Formeln »«uAss und
ö
zarn auf Besitzer und Besitzerinnen, der Gesammtanwendung ähnlicher Ge-
fäfse gemäls, nur insofern ihre Gültigkeit haben, als von ihrem ursprüngli-
chen Gebrauch die Rede ist. In diesem Zusammenhange, der uns gebietet
bei den durch Vaseninschrift gefeierten Schönheiten eher an Athens als an
Italiens Jünglinge und Jungfrauen zu denken, erklärt sich denn auch der
Umstand, dafs gewisse beliebte, durch die Beiwörter zarss und zary aus-
gezeichnete Namen auf Gefäfsen des verschiedensten Fundorts sich wieder-
holt haben.”
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 415
Gerhard Berlin’s antike Bildwerke. Vase 847: „Beide Namen
»«@ros KALLIAZ und XAPMIAEX KALOZ gehören zu den bekanntesten unter
denjenigen, welche sich auf Vasenbildern sehr verschiedener Provinzen vor-
finden, und somit die an und für sich natürliche Voraussetzung beschränken,
als sei der mit zaA6s bezeichnete Name allezeit der Name des jedesmaligen
Besitzers.”
4) C. Ottf. Müller Göttinger gelehrte Anzeigen 134. 135 St.
d. 25. Aug. 1831. S. 1331-34. Vorlesung de origine pictorum vasorum, quae
per hos annos in Etruriae agris, quos olim Voleientes tenuere, effossa sunt.
„Wie auf zahllosen andern Vasen in allen Gegenden, wohin die Hel-
lenen sich ausgebreitet: so tritt auch auf sehr vielen von diesen die Sitte
hervor, durch Schönheit ausgezeichneten Personen beider Geschlechter,
besonders aber des männlichen, durch das Epitheton x«aros zu huldigen.
Bei weitem am gewöhnlichsten ist zuAos 5 rais oder ö rals zarcs ohne Nen-
nung des Namens, wobei bemerkt zu werden verdient, dafs das Wort r«is
niemals wie so häufig auf den unteritalischen Vasen in raus, reve, roas, cor-
rumpirt erscheint. Öfter kommt zu diesem Satz auf diesen Vasen ein be-
theuerndes very; hinzu, grade wie in einem bekannten Epigramm des Kal-
limachos; auch liest man die Begrüfsungsformel xaAss 7,«ige; mehrmals steht
auch z«Acs zarn (KALE) zusammen, welches eine hochzeitliche Beziehung
zu haben scheint. Häufig sind nun aber auch die z«aAei namentlich genannt,
welche die Vase ehren will, und wir finden auf diesen Gefäfsen in dieser
Beziehung angegeben die Namen Megakles, Hipparchos, Diogenes, Leagros,
Akephitos (?), Epidromos, Nikon, Solon, Memnon, Athenodotos, Labotos,
Simiades, Pantätios, Phlebippos, Euphiletos, Hippokrates, Leokrates, Kte-
sileos, Onetor, von welchen Namen einige, wie besonders Leagros, meh-
reremal wiederkehren. Auch sieht man auf einer Vase ein Brautpaar, wel-
ches auf dem hochzeitlichen Wagen einherfährt, durch die Beischriften
Avsırridns (AYZITNAHE) zaros und Podeov zar ausgezeichnet; mit dieser ist
aber eine andre zusammengefunden worden, welche vier Frauen oder Jung-
frauen aus einer architektonisch verzierten Fontäne Wasser schöpfend zeigt
mit beigeschriebenen Namen, von denen drei deutlich Mnesilla, Anthyle
und Rhodon gelesen werden, der letzte bezeichnet offenbar die Braut des
Lysippides selbst. Wer gedenkt hier nicht des athenischen Gebrauchs, aus
der Fontäne Kallirrhoe oder Enneakrunos, welche in der Zeit der Pisistra-
P2
116 Paıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
tiden architektonisch ausgeschmückt worden war, das Wasser für das bräut-
liche Bad zu holen, wie noch in Thukydides Zeit geschah. Auch jene Na-
men von Jünglingen erinnern wieder auffallend an Athen; und wenn mit
Hipparchos nicht grade der Peisistratide gemeint sein soll: so dürfte es doch
natürlich sein, bei Megakles an einen Alkmäoniden des Namens zu denken,
da in diesem glänzenden Geschlecht der Name sich gewissermafsen erblich
fortpflanzte, bei dem öfter gepriesenen Leagros aber an den Sohn des Glau-
kon, der in dem Lajos des Komikers Platon als Weichling, wie es scheint,
verspottet wurde. Leokrates endlich könnte der schöne Sohn des Stroibos
sein, auf den wir ein dem Simonides zugeschriebnes Epigramm haben und
dessen Jugend in die Zeit gleich nach den Perserkriegen fällt. Nun mufs es
freilich Wunder nehmen, dafs wir diese Schmeicheleien, welche athenischen
Jünglingen bestimmt sind, auf Vasen finden, die in den Grabmälern der
Vuleienter Ranusa, Fipi u. s.w. aufgestellt sind, indem man sich gewöhn-
‚lich vorstellt, dafs solche Gefäfse speciell dazu verfertigt und benutzt wur-
den, um den Jünglingen bei wichtigen Lebensmomenten, einer gymnasti-
schen Auszeichnung oder dem Eintritt in das Alter der Mellepheben und
Epheben, als Angebinde dargebracht zu werden, worauf allerdings auch
die Anreden xalge zuros, Yaige rü, zaros ei führen, auch auf den Caninova-
sen vorkommen. Allein ebenso sicher bestand in Athen zu den Zeiten des
Aristophanes und später die Sitte, die Namen schöner Personen überall,
wo sich Raum zur Schrift bot, mit einem ehrenden x«Ass anzumalen oder
einzuschneiden; HupıAaumev Aruos xaros las man damals in Athen an allen
Thürpfosten; später findet man besonders die Mauern des Kerameikos mit
solchen erotischen Inschriften beschrieben; der wahnsinnige Liebhaber der
knidischen Aphrodite bei Lukian kratzt sein »aAn "Abgedirn in jede Wand
und jede glatte Baumrinde; und Phidias wagte, nach bekannter Erzählung,
ein zaAos Havraguns am Finger des Olympischen Jupiters verstohlen anzu-
bringen. So darf es uns denn auch nicht wundern, dafs auch die Topfma-
ler, es sei nun in Athen oder in einer andern griechischen Stadt, die Namen
schöner Knaben, von denen die ganze Stadt sprach, auf Gefälse setzten,
die hernach in ganz fremde Gegenden gerathen konnten, obgleich bei man-
chen solchen Gefäfsen die eigentliche Bestimmung doch ohne Zweifel die
war, als Angebinde zu dienen, wie eben jene Anreden beweisen. Und so
konnte auch jene Hochzeit der schönen Rhodon und des Lysippides, wenn
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 117
sie ein allgemeines Interesse erregt hatte, auf Gefäfse gemalt werden, die
zum Kauf ausstanden und sich am Ende in das Grab eines Vulcienters ver-
loren, der sich wohl sehr wenig um jene Personen kümmern mochte.
Auch gymnastische Kampfscenen sind auf diesen Vasen mit
Inschriften versehen, wo also an wirkliche Scenen aus den gymnastischen
Kämpfen eines Festes zu denken sein wird; auf einer grofsen Schale von
der vortrefflichsten Zeichnung sind diese Inschriften in die hellfarbigen Fi-
guren selbst hineingeschrieben — kein ausschliefslich etruskischer Gebrauch
— und geben, soviel wir erkennen, die Namen: Asopokles, Antimachos,
Olympiodoros, Batrachos zar5s, Dorotheos »aros, Ambrosios, Kephisophon
»a2os, Antias, Phormos, Eratosthenes, Kleisophos, Epichares, Timon, Kleon,
Euagoras, Kleibulos. Wer fühlt sich nicht wieder durch die Mehrzahl die-
ser Namen mitten nach Attika versetzt, wo es z.B. der Kephisophon’s so
viele gab; möglich auch, dafs der Epichares, der hier als Faustkämpfer er-
scheint, derselbe junge Athener ist, der gegen die Zeit des peloponnesischen
Krieges zu Olympia unter den Knaben im Stadion siegte.”
5) F.G. Welcker im Bullet. d. Instit. archeol. 1833. p. 151.
„Auch in der Inschrift KALOZ KAAANIOEZ, welche Hr. Millingen
(Anc. Monum. I, tav. 91) auf den Besitzer der Vase bezieht, glaube ich ist
Theseus gemeint. Panofka im Mus. Bartoldiano p. 108 giebt KAANIAZ statt
KAANIOEZ, wahrscheinlich weil diese leztere Form weniger den Gesetzen
der griechischen Sprache angemessen erscheint. Die gewöhnliche Genauig-
keit des Hrn. Millingen erlaubt uns jedoch nicht einen solchen Irrthum vor-
auszusetzen, und so bilde ich mir ein, dafs die Endsilbe weggelassen ist,
wie wir es nicht selten auf Vasen und Münzen sehen, und dafs KAANIOE-
ZEYZ zu verstehen sei (? dann doch wohl eher nach der Analogie von Eury-
stheus KAANIZOEYZ oder KAANIZOENEZ wie NIKOZOENEXZ T%. P.).
Es ist bekannt, dafs die Vasen bisweilen poetische Zunamen der Personen
statt ihrer Eigennamen geben; so z. B. findet sich auf einer Eriphile als
Karura und als KaAriboga, auf einer schönen volcenter Hydria der Campa-
narischen Sammlung zu London Argos als MANONZ (Navw\, Havorrns) ;
und gut eignet sich für Theseus ein Zuname von der Schönheit herrührend,
der er eine so wunderbare Gunst (nemlich die Liebe der Amazone Antiope)
zu verdanken hatte. — So glaube ich auf einer andern Vase in der ersten
Sammlung von Millingen Tav. 9, wo Theseus den Prokrustes züchtigt, be-
118 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
zeichnet die Inschrift AAKIMAXOZ KAAOZ, welche wohl zur Handlung
selbst pafst, den Theseus selbst und nicht denjenigen, welchem das Gefäfs
geschenkt ward.” Vgl. Rhein. Mus. I, S.333 und Hyperboreisch röm. Stud.
S. 306 £.
6) Otto Jahn Archäologische Aufsätze, Greifsw. 1845. S.80,81.
„Vielleicht bezweifelt man aber das Recht, die Inschrift OINANOE
KANE auf die Person zu beziehen, welcher sie beigeschrieben ist, wie
man denn früher entschieden geläugnet hat, dafs ein KANOZ, KANE je
auf die dargestellten Personen gehe (?”). Allein die Beispiele welche dies
beweisen, sind zu zahlreich geworden, als dafs sich jetzt daran zweifeln
liefse, wenn sie gleich immer noch im Verbältnifs zu dem so häufigen KA-
AO zu den Ausnahmen gehören (%). So findet sich neben Hephaistos
auf dem Flügelwagen beigeschrieben HEBAITTOZ KAAOX (Gerhard Aus-
erl. Vasenb. T. 57, 1,2. Elite Ceramogr. I, T. 38), neben Hermes HEPMEZ
KANOZ (de Witte Catal. etr. n. 71, vgl. n. 98), bei Dionysos, der den
Hephaistos in den Olymp zurück führt, liest man AIONYZOZ KAAOZ (Po-
liti Ullustr. sul dipinto Agrig. 1829 Tav.4. Elite ceram. I, T.46A), auch
sein Gefährte Gelos führt diesen Beinamen (de Witte Cab. Dur. n. 85),
sowie auch die Liebesgötter EPOZ KAAOZ (Gerhard Ant. Bild. T. 57. In-
ghirami Vasi fitt. III, T. 256) ("*), MO®OX KANOX (Tischb. I, T.44.[50]
vgl. Hermann, de trag. com. lyr. p. 25), KANO& IMEPO& (M. J. d. J.
1, T.8). Ferner ist beim Raube der Thetis diese durch die Beischrift
BETIZ KAAE bezeichnet (de Witte Cat. etr. n. 133), sowie Kephalos,
den Eos entführt, als KEBANAOZ KAAOXZ (Tischbein IV, T.41, Par. A.
Inghirami Vas. fitt. I, T. 18), nicht minder findet sich MEPZEX (*°) KAAOZ
(”) Gerhard Bull. 1830 p. 70. vgl. Arch. Intell. Bl. 1834 p. 8. Auserl. Vasenb. I,
p- 187.
(®) Schon Welcker hat mehrere Beispiele zusammengestellt Rhein. Mus. I, S. 330.
Vgl. Elite c&ram. I, p. 105.
(°) Die Inschrift BANN KAAOEZ (denn so ist statt DANZ KAAOZ zu lesen (s.
Gerhard Arch. Intell. Bl. 1834 p. 60), welche sich auf demselben Vasenbild neben einem
Satyriskos befindet, übergehe ich, da es mir nicht ganz sicher scheint, dals sie sich auf den-
selben beziehe (vgl. Panofka Terrac. p. 67. 126).
(°°%) Diese Form ist auf Vasen nicht selten, vgl. de Witte Cat. tr. p.64. Welcker
N. Ann. II, p. 380.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 119
(Mus. Blacas T. 11, 1), KAAOZ EKTNP (Bull. 1834, p. 60. Arch. Intellig.
Bl. 1834, S. 8. 1837, S. 73. Mus. Gregor. II, T. 60,2. Gerhard Auserl.
Vasenb. T. 189), IOAEOZ KANAOZ (Mus. tr. n. 1003 bis) und bei mehre-
ren Amazonen ANAPOMAXE KAAE, KANE INMOAYTE KANE (Mus. Borb.
X, T. 63. Panofka Neap. ant. Bildw. S. 350). In allen diesen Fällen ist
kein Zweifel, dafs wirklich die vorgestellte Person gemeint sei (°') und
wollte man auch annehmen, es sei eine Beziehung auf den wirklichen Na-
men des Besitzers im Spiel (°?), so ist das an und für sich mifslich, keines-
wegs auf alle Fälle anwendbar, da schwerlich alle diese Namen im gewöhn-
lichen Verkehr üblich waren (*?), um jedenfalls die Doppelbeziehung zuzu-
geben.” Vgl. O. Jahn Arch. Aufs. S. 140.
7) Th. Bergk in der Allgemeinen Literatur- Zeitung n. 132.
Juni 1846. S. 1049-1052. Recension der Bilder antiken Lebens von Th.
Panofka.
„Dafs man bei dem Namen Panaetios nicht an den Philosophen den-
ken dürfe, bemerkt O. Jahn a.a. O. mit Recht; Hr. P. meint, es sei dies
der Name des Epheben; allein bei solchen Scenen, welche, wie die vor-
liegende, Situationen und Handlungen des täglichen Lebens vorführen, darf
man nicht an bestimmte Individuen denken; eben deshalb kann IIavarrıcs
auch nicht auf den Epheben sich beziehen. Entschieden widerstreben sol-
cher Deutung Vasenbilder, wie das auf T. I, n.8, wo zwei verschiednen
Epheben derselbe Name ANTI®ON, das eine mal mit dem Zusatze KALO&Z
beigefügt ist. Noch mehr solche Fälle, wo dieselben Namen bei den aller-
verschiedenartigsten Vorstellungen sich finden: so sind die Namen Tiuaf£evos
und Kapındys auf einer nolanischen Vase bei Millin Vas. inedits Tom. Il,
pl. XIV neben zwei Kriegern geschrieben, auf einer andern nolanischen
Vase, beschrieben in den Hyperboreisch-Römischen Studien S. 157, ist
neben einer Pallas Xaguidrs zarcs, neben einem Hermes xarss Tiuafevos zu
(°') Ich habe absichtlich die Fälle übergangen, wo KAAOZ neben einer durch einen
charakteristischen Beinamen bezeichneten mythischen Person steht, siehe n. IX.
(°) Panofka Mus. Blacas p. 36; über eine Anzahl Weihgeschenke p.16. Gerhard
Ann. IH, p. 81 £.
(®) Oinanthe ist allerdings ein gebräuchlicher Name (Dem. c. Macart. 36, p. 1061);
so hiefs die Mutter der Agathokleia, der Geliebten des Ptolemaios Tryphon, s.
Schömann zu Plut. Cleom. 33,1.
120 Panworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
lesen, wobei noch eine dritte Vase erwähnt wird, wo ganz dieselben Namen
zwei tanzenden Satyren beigeschrieben sind. Auch bei Tischbein IV, 31
findet sich Xaguiöns zarcs. Im ähnlicher Weise ist auf einem Vasenbilde, was
den Wettstreit des Thamyras darstellt (Mus. Gregor. II, t. 13. 2), Evaiwv
zu lesen, was mit den handelnden Personen nichts zu schaffen hat, und auf
einem andern Vasenbilde (bei Gerhard Auserl. Vasenb. Taf. 150), wo eine
Libation dargestellt ist und alle handelnden Personen namentlich bezeichnet
sind, findet sich die Beischrift EYAION KALOZ. Ebensowenig kann ich
einer Erklärungsweise beipflichten, welche Hr. P. nach dem Vorgange An-
derer wiederholt angewendet hat, dafs nämlich solche Namen den Besitzer
des Gefäfses bezeichnen, oder auch, wo zwei sich finden, den Geber und
Empfänger. Diese Erklärung wendet Hr. P. besonders da an, wo die dar-
gestellten Personen schon durch anderweitige Namen hinlänglich bezeichnet
sind, wie z. B. auf Taf. IV, n.7, wo nicht nur die beiden handelnden Per-
sonen, Sappho und Alkaios benannt sind, sondern aufserdem AAMA KALOZ
zu lesen ist, oder Taf. X, n. 10, wo neben den würfelspielenden Heroen
Ajas und Achilles auch ein Ovnrogiöns KaAos beigeschrieben ist. Ganz abge-
sehen von dem Mifslichen, was es hat, so in jedem einzelnen Falle zwischen
zwei verschiedenen Deutungen wählen zu müssen, kann ich mich durchaus
nicht überzeugen, dafs man den Namen des Besitzers, und am wenigsten,
dafs man ihn in dieser Weise beigefügt habe; denn alle diese Vasen sind
ja nicht sowohl umfangreiche und grofsartige Kunstwerke, welche im Auf-
trage für ein bestimmtes Individuum verfertigt werden, sondern Fabrikar-
beiten, für den Verkauf, zum Theil für die Ausfuhr in die entferntesten
Gegenden bestimmt. Wenn solche Namen, wie Hr. P. will, den Besitzer
bezeichneten, wie will man es ferner erklären, dafs derselbe Name wieder-
holt auf Vasen vorkommt, die noch dazu zum Theil an den verschiedensten
Orten gefunden sind? Wo aber einmal wirklich der Name des Besitzers er-
scheint, da geschieht dessen Nennung in ganz andrer Weise, wie die be-
kannten Beispiele Auvuriou & Aayu9os und Kypırop@vros 1 zurı& darthun. Ich
glaube vielmehr, dafs alle Fälle, wo solche Inschriften sich finden,
nur aus der verliebten Stimmung des Vasenmalers zu erklären
sind. Wie man in Griechenland, vor allen in Athen, an öffentlichen Orten,
namentlich an den Wänden durch solche Inschriften seine Neigung kund
gab, gerade so haben auch die Vasenmaler auf diese Art den Namen
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 121
ihrer Lieblinge verherrlicht. Zum Verständnifs der Vasenbilder selbst
sind daher solche Inschriften völlig unnütz, allein sie sind insofern von In-
teresse, als wir annehmen können, dafs, wo auf mehreren Vasen dieselben
Namen wiederkehren, diese Gemälde von einem und demselben Künstler
herrühren; wie z. B. die obenerwähnten drei Nolanischen Gefäfse mit den
Namen des Tıuafevos und Xagnidye: so ersetzen sie also gewissermafsen den
Namen des Künstlers selbst. Ubrigens ging man bald einen Schritt weiter
und fügte ein Karos oder KaAy bei mythischen Darstellungen den Namen der
Heroen bei; ich verweise auf die Zusammenstellung bei ©. Jahn Archäol.
Aufs. S. 80. ff.”
Philos. - histor. Kl. 1849. Q
12
6.
I
[0 0)
9:
10
19»
3 Paıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Inhalt der Erläuterungstafeln.
ee
. Eos (Hsoc) und Kephalos (Keparos 22.05); nolanische Diota (Tischbein Vas. d’ Hamilton
ıv, 12.)
. Theseus und Damastes mit Arziueyos zeros; Rückseite: Frau mit Trinkschale. Nola-
nische Diota (Millingen Peint. d. Vas. gr. Pl. ıx.)
. Enthauptete Meduse; Rückseite: Perseus mit Isores z«ros; nolanische Hydriske (Panofka
Musee Blacas pl. x1, 1.).
. Myrtenbekränzter Ephebe wie zum Ringen bereit Emigones; unedirtes Innenbild einer
volcenter Kylix (nach einer von Gerbard gefälligst mitgetheilten Zeichnung).
. Epheubekränzter Silen mit Kantharos und Thyrsus, Akratos, der der Semachostochter
ein Rehfell gebracht hat. Arzınayws zar.us. (Tischbein Vas. d’Hamilton I, 37).
Herkules der Dreifulsräuber mit geschwungener Keule und Apoll mit Bogen ihn zurück-
fordernd. Arzınayws zarws Erıy,egos (Mon. de l’Instit. arch. ı, Pl. ıx, 3).
. Bekränzter Gymnasiarch auf Knotenstab gestützt, einen Hund neben sich, Schwamm,
Salbfläschchen und Strigel oberhalb. Ertögoues «rs; unedirtes Innenbild einer volcen-
ter Kylix (nach einer von Gerbard gefälligst mitgetheilten Zeichnung).
. Ephebe mit Ring an dem Strigel, Schwamm und Salbfläschen angehängt zu werden pfle-
gen, am rechten Arm, die Bindfäden an denen das Salbfläschen hängt, mit beiden Händen
aufziehend: längs seines rechten Schenkels zieht sich Aayss z«ros; hinter ihm ist eine
Säule am Kapitell mit einer Tänia umbunden: an ihrem Schaft liest man 6 as varyı
z«2(05). Der queer stehende Krückenstab vertritt die Stelle des Gymnasiarch. Innen-
bild einer volcenter Trinkschale im Kgl. Mus. (Gerhard Vas. u. Trinksch. d. Kgl. Mus.
Taf. xIIT, 6.).
Nike bringt eine Taenia einem langgelockten Manteljüngling mit Wurfspiels; zwischen
beiden steht ein Altar mit Kranz. Darauf: Nızov z«ros. Auf der Rückseite bringt ein
Manteljüngling einen Vogel im Vogelbauer. Nolanische Diota (Duc de Luynes Choix de
Vas. Pl. xxXvIl.).
Wiedererkennungsscene von Orest und Elektra “Izer(@s) z«ros. Unedirtes Innenbild
einer volcenter Trinkschale (nach einer von Gerhard mir gefälligst mitgetheilten Zeich-
nung).
Musikalischer Wettstreit zwischen Alcaeus (AAz«ıos) und Sapho (Zapo). Auue zwAos:
agrigentinisches Blumengefäls (Millingen anc. unedit. monum. Pl.xxxıır. Panofka Bild.
ant. Leb. Taf. ıv, 7.) im Münchner Museum.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalien Gefäfsen. 123
12. Ephebe mit Springgeräth, vor ihm Avrıpev und Strigel, Lekythion und Schwamm, ge-
genüber einem anderen mit Wurfspiels; Ephebe mit Strigel die ölige Hand sich im
Haar seines «is abtrocknend der seinen Mantel auf der Schulter, Krückenstab in der
einen, und Lekythion in der anderen Hand hält, Avrıyov zeros. Gerhard Ant. Bildw.
Taf. vu. Panofka Bild. ant. Leb. Taf. 1, 8.).
12a. Leuchter dem das Bild no. 12. zum Schmucke dient, im kgl. Mus. zu Berlin.
13. Panoplite mit Augen an der Schildfahne und am Panzer, lanzenwerfend Agyos z«.(0)s
binter ihm.
13a. Rückseite: Mit Helm, Fell und Chiton bekleideter Schleuderer, hinter ihm Kurzos =
(e«be) auf nolanischer Diota (Gargiulo Raccolta Vol. ıı, Tay. 40.).
Taf. IT.
1. Aphrodite (Abgoö:res) mit gestirnter Aegis neben Poseidon (Hoss:dovos) ein sprengendes
Viergespann lenkend IlvSozres zaros. Archaische volcenter Hydria (Lenormant et de
Witte Elite Ceram. ııı, Pl. xv.).
2. Hermes der Widderträger mit sehr langem Caduceus, Egıros #0%05 (Inghirami Mus.
Chiusino Tav. xXXV.).
3. Maja (Maı«) einen Kranz reichend dem Hermes (...7s5) mit Caduceus der eine Schale
hinhält z&ros Kagussros. Archaische volcenter Oenocho& (Gerhard Auserl. Vas. I, xıx, 1.).
4. Leto (Asros) und Apollo (Aroro) Citharoedus, gegenüber Artemis (Agrenıdos); hinter
Apoll HasızAes zaros; archaische volcenter Amphora (Gerhard Auserl. Vasenb. I, xxv.).
9. Tyche mit Ruder sitzend, vor ihr steht 'Atropos mit Spindel, ihr im Rücken tritt
Lachesis mit Kalathos vor der auf einem Stuhl sitzenden Demeter, welcher Kora zur
Seite steht. Dieser Mittelgruppe kehrt Klotho mit Spindel den Rücken, der sitzenden
Aphrodite mit Blumen zugewandt; oberhalb Ölzweig, darunter Ilsdıeus 2aros. Archai-
sche tyrrhenische Amphora (Lenormant. et de Witte Elite Ceramograph ııı, pl. xxxvı B.).
6. Apollo Citharoedus zwischen den drei Grazien Kadz, Niper(is) OwaSve für OwavSe,
drei Horennamen Kare Frühling und Sommer, Niwer:s identisch mit Chione, W in-
ter, und OwavSy, identisch mit 'Orwg« Herbst. Archaische Amphora (Lenormant et de
Witte Elite Ceramog. I1, XXXIL.).
7. Myrtenbekränzter Ganymed die Rechte ausstreckend nach dem (auf der Vorderseite )
mit Taube, Stäbehen und Reifen in Zeus Namen heranschwebenden Eros; ArozAsss zuAos.
Nolanische Diota (R. Rochette Mon. ined. Pl. xLıx, 1.).
8. Ge giebt den kleinen Dionysos seiner Erzieherin Athene die ihn in ihren Peplos auf-
nimmt: links eilt die geflügelte INithyia statt Ino Leukothea mit dem Kredemnon
herbei; rechts schaut theilnehmend Zeus und auf seine Schulter gestützt Dia auf
das Kind: über ihrem Kopf OwevSe zars. Volcenter Hydria. (Lenormant et de Witte
Elite Ceeram. 1, LXXXvV. Gerhard Auserl. Vasenb. 1IL, CL1.).
9. Artemis mit Bogen in der Linken, einen Pfeil mit der Rechten aus dem Köcher zie-
hend, z«r05 ITAeuzov. Rückseite: ihre Mutter Glauke oder Leto, ganz verhüllt, mit
angezündeter Fackel: nolanische Diota (D. de Luynes Choix d. Vas. Pl. xxv. Lenormant
et de Witte Elite Ceramogr. ı1, Xvıu.).
Q2
194 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
10.
11.
12
10.
a4.
Lorberbekränzter Apoll, wegen schwererer Kleidung und scythischen Bogen als Hyper-
boräer, in der Rechten den Pfeil; Karrızres zaros. Rückseite: jugendliche Mantelfigur
mit Stab. Nolanische Diota (D. de Luynes Choix d. Vas. Pl. xxv.).
Hephaistos- Dionysos mit Hammer und Kantharos auf Flügelwagen; Kegıros 27.05. In-
nenbild einer volcenter Kylix im kgl. Museum (Gerhard Auserl. Vas. I, Lvır, 1. 2.).
Poseidon mit Dreizack einen Delphin reichend, z«%os Meryros, seinem auf der Rück-
seite sichtbaren ganz verhüllten (vunddc) Liebling; nolanische Diota (D. d. Luynes Choix
d. Vas. Pl. xxıır.).
Taf. II.
. Eos mit Kithara und breiter gestickter Binde heranschwebend, z«7.0s Tırovidss. Rück-
seite: Mantelfigur sie erwartend. Nolanische Diota (Laborde vas. Lamberg II, XxXVIl.).
. Paris auf einem Hügel, Hera mit Apfel und Scepter, Atbene mit Helm und Speer, Aphro-
dite mit Eros auf der Hand und Schleier treten vor ihn. Vor Hera steht z@?e, vor Aphro-
dite desgleichen, unter dem Eros Xagu(ıö)es z@r(o)s.. Auf der Rückseite eilt Hermes
zu Paris hin z&ros Tiueyre(vo)s. Nolanische Diota im Blacasschen Museum (Gerhard
Ant. Bildw. xXXIl.).
. Hephaistos zu Maulthier, in den Olymp zurückgeführt von Dionysos und dem Barbitos-
spielenden Marsyas. z«?ros vor Hephaistos. Nolanischer Stamnos aus Cumae (R. Politi
Quattro Vasi Fittili Palermo 1829.).
. Der Sänger Thamyras (Oxvo«s), zwei den Chor bildende Sängerinnen (Xogovize), die
Nymphe Argiope, Evamv zaros. Volcenter Hydria im Gregorianischen Museum (Mon.
d. Instit. arch. II, xxıv.).
. Hercules als Argonautenanführer (Agysvavrrs) und Priester, zwei Opferdiener, über ihnen
Nızoöywos zeros; der Flötner Sysiphos, (3.rıpos); über dem Opferaltar schwebt Nike
dem Herakles zu. (Gerhard Auserl. Vasenb. ııı, cLv. Arch. Zeit. 1845. Taf. xxxv, 4.).
. Nike (Nize) mit Caduceus spendet aus der Oenocho& in die Schale des Krieger Lykaon
(Avzeov) neben dem sein Vater Antandros (Avr«vösos) sich befindet: Nach Lykaon zu
liest man Evaıov z«r0s (Gerhard Auserl. Vasenb. II, CL.).
. Bärtiger ithyphallischer Mann mit vollem Trinkhorn zaros bsıdov. Innenbild einer vol-
center Trinkschale (Gerhard Auserl. Vasenb. III, CLXXVII, CLXXIX.).
’ e)
. Eros einen Hasen haschend, Tısayrevos zeres. Rückseite: Eros eine Tänia bringend.
Nolanische Diota (R. Rochette Mon. ined. Pl. xL1Vv.).
. Nelais mit Steuer und Schiffsnabel, z«As Ner«ıs. Lekythos im kgl. Mus. zu Berlin. (Mil-
lingen unedit. Monum. Pl. xxıx.).
Achill im Frauenpeplos mit Häschen an einer Schnur gegenüber dem Lykomedes mit
zottiger Brust; Irzoöcpes hinter Achill. Innenbild einer volcenter Kylix des kgl.
Mus. (Gerhard Vas. u. Trinksch. d. kgl. Mus. Taf. xt, xır.).
Ein Mediziner hält Vorlesungen; vor ihm steht sein Kasten mit Heilmitteln, am Deckel
XIPONEIA, drunter am Kasten selbst KANE; über ihm Ilevarrıos. Zu beiden Seiten be-
findet sich auf Knotenstab gestützt, ein Zuhörer, hinter dessen Rücken ein za%os sich
hinzieht. Volcenter Kyathis im kgl. Mus. zu Berlin (Micali |’ Italia avanti il dominio
dei Romanı Atlas Tay. cım. Panofka Bild. antik. Leb. ı, 11.).
[5
41.
12.
im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 125
. Dionysos mit einem Panther auf der Linken kämpft mit Speer gegen einen drachenum-
wundnen schon gesunkenen Giganten dem ein anderer zu Hülfe kommt, den Gott mit
der Lanze bedrohend. Hlavarrıos steht über dem gesunkenen; #«70s hinter Dionysos, ein
zweites z«7os vor dem helfenden Giganten. Volcenter Kyathis (Gerhard Auserl. Vasen-
bild. 1, L1.).
Taf, IV;
. Jugendlicher Dionysos mit Kantharos und Thyrsus, Bacchantin mit Schlange und Krottalen
#«2.05 Nagcops; volcenter Kylix (Monum. d. Instit. arch. Tom. ı. Tav. xxvuı, 41.).
. Triptolemos den Flügelwagen besteigend, spricht noch mit Demeter die in ihren Hän-
den eine hoch gehaltene und eine gesenkte lodernde Fackel hat: hinter ihr steht Per-
sephone mit einem Pflug: vor ihr zaAs, vor Triptolemos #«Aos. Cumanischer Stamnos
(Avellino Bull. arch. nap. 1843. Tav. ı1.).
. Weibliches Brustbild im sogenannten phönizischen Styl, darunter Irzc@os zurcs auf
jeder Seite einer volcenter Kylix (Tav. d’agg. der Annali dell "Instituto archeol. 1851.).
. Epeios mit einem Pferd auf dem Schild, schwirrende Pfeile rings um ihn, Avrıcs zuA2os:
Innenbild einer Kylix im kgl. Mus. (Gerhard Vas. u. Trinksch. d. kgl. Mus. Taf. vı,
vuu, 4.).
. Die Amazone Hippolyte mit Streitaxt zu Pferd bekämpft von der Lanze des Theseus:
Erısdss zaros. (Gerhard Auserl. Vasenbilder ıı, cLxzL.).
. Hahn und Henne z«Aos und z«Ase am Hals einer agrigentiner Olpe (R. Politi Quattro
Vası fittili Palermo 1829.).
. Silen eine Bacchantin mit Thyrsus und Schlange umfassend, Havcurıos zeros. Innenbild
einer volcenter Trinkschale, unedirt.
Eos und Tithonos, z&Aos O:ovozAss: Rückseite dieselben Worte vor Laomedon. (Monum.
d. Instit. arch. 1, v,3. Duc d. Luynes Choix d. Vas. xxxvı1.).
Dämon des Akestor abwehrend den auf das Achilleion einen Zweig darbringenden
Ephippos, z&r0s Azerrogiöes zaros: auf der Rückseite ein erschreckter Alter, des Ephippos
Vater, Poimandros. Nolanische unedirte Diota des Blacasschen Museums.
. Alkmaeon bedroht Eriphyle mit dem Schwert, Orovoxrss zaros; die Rückseite zeigt den
Schatten des Ampbhiaraos z«?o. Nolanische Diota des Blacasschen Museums, unedirt.
Hermes mit dem kleinen Herakles im Arm: z«Aos 5 mus und %aıze zu‘ archaisirende
volcenter Amphora (Micali Monum. Tav. LXXVI, 2.).
Eos und Tithonos, z«rss Xagwöes; auf der Rückseite flieht etwa Dardanos; nolanische
Diota (D. de Luynes Choix d. Vas. Pl. xxxıx.).
126 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ
Männernamen.
Akestorides
Alkaios
Alkimachos
Antias
Antıphon
Argos
Aristarchos
Athenodotos
Chairestratos
Charmides
Charops
Damas
Diogenes
Diokles
Dioxippos
Epeleios
Epidromas
Epimedes
Erilos
Euaion
Euphiletos
Eupolis
Glaukon
Glaukos
Hiketas
Hippodamas
Hippokrates
Hippokritos
Kallikles
Karysstos
Kephalos
Verzeichnils der Eigennamen.
Frauennamen.
Kephitos Glyko
Ktesileos Nelais
Laches Oinanthe
Leagros Philomele
Leokrates Phodon
Lykaon Stheno.
Lysippides
Lysis
Meletos
Memnon
Nikesippos
Nikias
Nikodemos
Nikolaos
Nikon
Nikostratos
Nyphes
Oionokles
Oly(m)piodoros
Onetor
Onetorides
Orthagoras
Panaitios
Pasikles
Pedieus
Perses
Phaos
Pheidon
Polyphrassmon
Pythodoros
Pythokles.
Zapl.
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Von den Pflichten der Pietät gegen die Person
des regierenden römischen Kaisers.
Von
HT: H..E. Bann.
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 1. Februar. 1849.]
D ie classischen Geschichtschreiber Rom’s, aus dem ersten und zweiten Jahr-
hundert der christlichen Zeitrechnung, namentlich Tacitus, (') Appian (?)
und Dio Cassius, (?) indem sie den Übergang der römischen Staatsverfas-
sung aus der republicanischen in die monarchische Form im Zusammenhange
besprechen, unterstützen durchaus nicht die Ansicht, welche bei den nam-
haftesten Stimmführern unserer Tage (*) besondere Gunst gefunden hat,
dafs nämlich die Cumulirung verschiedener republicanischer Magistraturen,
in der Person von Julius Cäsar und August, unmittelbar zur Bildung des
Principates geführt habe. Jene Classiker deuten vielmehr an, dafs die ge-
nannten Gewalthaber und deren Nachfolger die Übertragung der Befugnisse
einiger der hervorragendsten republicanischen Beamten sich gefallen lielsen,
um dadurch die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu stimmen, und dafs
sie überhaupt die Überlieferung des politischen Schematismus aus der Zeit
des Freistaates nur insoweit festhielten, als die Förderung ihrer monarchi-
schen Bestrebungen dabei betheiligt erschien (?). Dagegen zeigten sie sich
vorzugsweise beflissen, in den Besitz anderer selbstständiger Gewaltsrechte
(‘) Annal.1.ı.2.
(2) Histor. rom. Praefat. c. 6.— c. 8.
(?) Hist. R. LI. 1. LI. ı7. 18. Andere machen sogar ausdrücklich aufmerksam auf die In-
comparabilität des Principates und der republican. Magistraturen. S. Quinctilian. inst. orat.
VI.128385.
(*) Vergl. Puchta Curs. d. Institution. Bd. 1. $. 87. Auch Savigny (Syst. d. heut. R.
Rs. Bd. 1. 8.23. S. 122. fg. Bd. 6. $. 285. z. Anf. vergl. S. 495. fg.) darf dahin gezählt werden.
(5) S. den Bericht des Dio Cassius LIM. 18. LIV. 2. über das nomen censorium der Kai-
ser. Vergl. Plin. panegyr. c. 45.
128 H. E. Dirksen: von den Pflichten der Pietät
zu gelangen, welche die Befugnisse eines jeden Staatsbeamten weit überrag-
ten. Es mag hier nicht der verschwenderischen Vergebung aller wesentli-
chen Hoheitsrechte an Jul. Cäsar, von Seiten des römischen Senates und
Volkes, (%) gedacht werden. Wir erinnern nur an die, bis auf August (7)
zurückreichende, und sämmtlichen Nachfolgern desselben bewilligte, Frei-
sprechung der Person des Staatsoberhauptes von der Verbindungskraft der
Landesgesetze. (°) Daneben geschieht der unbestrittenen Befugnis des Kai-
sers Erwähnung, einzelne seiner eigenen Hoheitsrechte auf die Person seiner
Gemahlin zu übertragen. (°)
Nicht weniger beachtenswerth ist die Beflissenheit, mit der schon Jul.
Cäsar und August die freiwillig ihnen dargebrachten Huldigungen, der Pri-
vaten gleichwie der Behörden, benutzten um ihre eigene Person, und zum
Theil auch die Persönlichkeit ihrer nächsten Angehörigen, als den Gegen-
stand einer ostensibeln Pietät, um nicht zu sagen als den Mittelpunkt eines
eigenen Cultus, für sämmtliche Bewohner der römischen Welt zu bezeich-
nen. (!°) Als ein zur Förderung dieses Zweckes geeignetes Mittel erkannten
die genannten Gewalthaber das, dem Staatsoberhaupte zugestandene, Prä-
dicat des Vaters des Vaterlandes, so wie die Sitte, beim Jahresbeginn die
Geltung der erlassenen Verfügungen der Kaiser durch die Staatsbehörden
(6) Ders. XLII. 20. XLIM. 14. 45.
(7) Ebenders. LIV. 10.
(*) Ders. LIII. 18. Zonaras annal. X. 32. a. E.Plin. a.a. O. c. 65. Fr. 31. D. de legib, 1. 3.
Vlpianus lib. 13. ad. L. Jul. et Pap. „Princeps legibus solutus est; Augusta autem, licet legi-
bus soluta non est, Principes tamen eadem illi privilegia tribuunt, quae ipsi habent.” Vergl.
H. Grotius flor. spars. ad ius Just. h. 1.
(°) Schon August hatte die persönliche Unverletzlichkeit der Volkstribunen seiner Gemahlin
Livia und seiner Schwester Octavia bewilligt. Dio Cass. XLIX. 38. Das Zugeständnifs des
Prädicates Augusta für die Kaiserin erfolgte in späterer Zeit gewöhnlich auf den Antrag des
Senates. Plin.a.a. O.c. 84. Capitolin in Ant. Pio. c. 5. in Pertin. c. 5. sq. Spartian in
D. Julian e. 3.sq. Ähnlich verhielt es sich mit der Bewilligung göttlicher Verehrung für die
verstorbene Kaiserin, welche unter den ersten Kaisern nur ausnahmsweis vorkam, (vergl. Corp.
inscription. graecar. Vol. I. P. 2. Cl. 7. no. 313. P. 3. no. 1073. P. 14. no. 2965. sq.) und erst in
der folgenden Zeit zur Regel erhoben wurde. Capitolin in Marco c. 26.
('°) Sueton. in Octay. c. 25. z. Anf. Plin. Ep. X. 24. 25. 75. 97. Panegyr. c. 1.sq.7.52. Die
ausgesprochene Geltung des Begriffes eines selbstständigen Principates ist, neben der thatsächli-
chen Anerkennung, nicht bereits unter der Herrschaft von Julius Cäsar und August vorauszu-
setzen. Vergl. des Verf. Abhdlg: Üb. Valer. Maxim. Jahrg. 1845. S. 119. dieser Abhdlgg.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 129
beschwören und für die Wohlfahrt der regierenden Dynastie öffentlich Ge-
lübde ablegen zu lassen.
Dio Cassius (!') hebt unter den amtlichen Beinamen der römischen
Kaiser den des Vaters des Vaterlandes besonders hervor, indem er bemerk-
lich macht, dafs derselbe zwar nicht als die Quelle selbstständiger Rechts-
ansprüche zu betrachten sei, wohl aber als die sichtbare Bezeichnung der
väterlichen Gesinnung des Staatsoberhauptes gegen die Untergebenen, und
der kindlichen Verehrung, welche diese jenem schuldig seien. Die Nutz-
anwendung davon findet man bereits in Beziehung auf die Person des Jul.
Cäsar gemacht. Dieser hatte nämlich zuerst den fraglichen Ehrennamen
beigelegt erhalten, (!?) und seine Ermordung wurde als ein Elternmord ge-
brandmarkt, (1?) um so mehr da der römische Senat für die Unverletzlichkeit
von dessen Person sich eidlich verpflichtet hatte. ('%) August liefs gleichfalls
das Prädicat eines Vaters des Vaterlandes sich selbst beilegen, (!°) welches
seitdem zu den stehenden Attributionen für sämmtliche römische Kaiser er-
hoben wurde. (!%) Denn das Verfahren der unmittelbaren Nachfolger Au-
CH) ELIEFISS CH yao 4 Fo0 Kaisagos n re ou Auyousrou meosenıs Ölvarıy 18V
dvdsniav durois dızeiav Moss IyTt, ÖnAct Ö raus To MeV, vrv Toü yevous dav Öedoyrnw, Fo
ö8, Frv FoU «Eimneros Aaumaoryre. za Y Ye Too margos Erwvunie Tayc PR? 2Eovsiav Five
Aurois, Yv more oi maregss im ToÜg mails EcXov, zarc mavrwv Yaav Ölödwew. gu evror zu
dmı FoÜro apymv Eyevero, RAR 85 ve rıuyv za 25 magavesw, ve @ura TE roüs doy,auzvous, ws
zu maidas Ayarwev, za 2xelvor ebäs, ws za1 marsges audavrat.
(1?) Ebendas. XLIV. 4. Appian. De B. €. II. 106. Sueton. in Julio c. 76. c. 85. Florus
epit. rer. R. IV. 2.a. E. Zonaras Annal. X. 12.
(13) Dio Cass. 1.1. c. 49. Appian l.1. c. 118. II. 62. 64. sı. IV. 9. 132. 134. Florus
IV. 7. Sueton. in Julio. c. 88. Valer. Max. I. 6. $. 13. Der zuletzt genannte hat an einem an-
dern Orte (IX. 11. ext. $. 4.) auch Sejan’s Verschwörung gegen Tiberius als den Versuch eines
parricidium bezeichnet. Vergl. die zuvor (Anm. 10.) angeführte Abhdlg. des Verf. Anm. 95.
(1#) Sueton.a.a.O. c. 84.
(1?) Ders. in Octav. c. 58. Aurel. Victor de Caesarib. c. 1. Florus IV. 12. a. E. Orelli
colleet. inscript. lat. no. 602. 606. 642. sq. In dem Fragm. Praenestin. der Calendar. marmor.
(ebendas. Vol. II. p. 384.) heilst es beim 5ten Februar. „D. Non. N. Concordiae. In. Arce.
Feriae. Ex. $.C. Quod. Eo. Die. Imperator. Caesar. Pontifex. Max. Trib. Potest. XXI. Cos. XIII.
A. S. P. Q. R. Pater. Patriae. Appellatus.” Vergl. Th. Reinesii Epist. ad. Hoffmann. et
Rupert. Ep. 28. p. 132. sq. Lips. 1660. 4.
(16) S. oben Anm. 11. und Reimarus, in seiner Ausg. d. Dio Cass. zu XLIV.4. Plinius
H. N. XXXVIL 2. Auch dem Commodus wurde diese Beehrung nicht versagt. S. Orelli
a. a. O. no. 887.
Philos-histor. Kl. 1849. R
130 H. E. Diesen: von den Pflichten der Pietät
gust’s war in diesem Punkte blos hinsichtlich des Grades der Eilfertigkeit
verschieden, die sie bei der Annahme jenes Namens an den Tag legten. (?7)
Nur der Antrag, welchen einige Mitglieder des Senates machten, die Ge-
mahlin August’s durch den Titel einer Mutter des Vaterlandes zu beehren,
blieb ohne Erfolg. ('°)
Die Sitte, bei dem Beginne des Jahres die Ablegung eines feierlichen
Eides der höchsten Staats- Behörden (!°*) in Beziehung auf die Acte des ge-
genwärtigen Staatsoberhauptes gleichwie auf jene von dessen Regierungs-
Vorfahren zu veranlassen, wird mit der Person des Jul. Cäsar in Verbindung
3 öffentlicher Gelübde für
das Wohl des jedesmaligen Gewalthabers als eine zuerst dem Pompeius
wiederfahrene Auszeichnung schildern. Dio Cassius (!?) nämlich führt als
gebracht; während einige Referenten die Leistun
Beweis an für die allgemeine Verehrung‘, welche Pompeius zur Zeit der
Blüthe seines politischen Einflusses genossen, dafs während der schweren
Krankheit, die denselben vor dem Ausbruche des Krieges gegen J. Cäsar
befallen hatte, in allen Städten Italiens öffentliche Fürbitten wegen seiner
Genesung veranstaltet worden seien. Dieser Berichterstatter fügt noch hinzu,
dafs man die gleiche Auszeichnung hinterher auch für die Kaiser in Anwen-
(17) Über Tiberius vergl. Sueton. in Tiber. c. 26. c. 67. Dio Cass. LVII. 8. LVIH.
12. Über Caligula, Claudius und Nero: denselb. LIX. 3. LX. 3. Josephus Antiquit.
Judaic. XX. 1. $. 2. Sueton. in Neron. c. 8. Orelli a. a. O. no. 2267. Über Trajan: Plin. in
panegyr. c. 21. c. 94. Über Hadrian, Piusund Marc. Antonin: Spartian. in Hadr. c. 6.
Capitolin in Ant. Pio. c. 6. in Marco c. 9. c. 12. Eusebius chronic. P. II. Olymp. 226. 230.
p- 285. 287. ed. J. B. Aucher. Venet. 1818. 4. Über Vespasian, Pertinax und die folgenden
Kaiser: Sueton in Vespas. c. 12. Capitolin. in Pertin. c. 5. in Max. et Balb. c. 8. Spartian.
in Jul. c. 4. Lamprid. in Alex. c. 1.sq. Auch gehört hierher die allgemeine Äufserung des
Appian. de B. C. II. 7. und Plin. a. a. O. so wie die umschreibende Bezeichnung bei Vopis-
cus in Probo. c. 12. a. E.
(13) Dio Cass. LVII. 12. Sueton. in Tiber. c. 50. Dennoch ist auf Münzen dieses Prä-
dicat der genannten Kaiserin wirklich beigelegt. Vergl. Reimarus in d. Anmerkgg. zu Dio
Cass. LVIIL 2. S. 18. und die Ausleger des Sueton. a.a. O. Hiermit nicht zu verwechseln
ist die Bewilligung des Prädicates Augusta. S. oben Anm. 9. und Eusebiusa. a. O. Olymp.
215. 216. pag. 277. 285. Über die Ansprüche, welche Livia zu Anfang der Regierung des
Tiberius geltend zu machen versuchte, vergl. Zonaras Ann. XI. I.
(18°) Fr. 233. $. 1. D. de R. J. 50. 17. Vergl. H. Grotius for. spars. ad ius Just. h. 1.
(9) Hist R. XLI. 6.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 131
dung gebracht habe. (°°) Das Beschwören der Acte des Staatsoberhauptes
am ersten Tage des Jahres soll zuerst unter dem Triumvirate im Jahre Rom’s
712 feierlich begangen sein, und zwar in Beziehung auf die Acta des Jul.
Cäsar ('). Allein unter August’s Regierung scheint die Beeidigung der
Acte des Kaisers nur ausnahmsweis durch den Senat vollzogen zu sein, (2?)
nicht aber regelmäfsig; und gleiches gilt auch von der bezüglichen Eideslei-
stung der Beamten. Tiberius erhob das Beschwören der Acte des ver-
storbenen Kaisers abseiten der Behörden zu einer ordnungsmässigen Feier-
lichkeit (22°); das Ablegen von öffentlichen Gelübden für den lebenden
Kaiser scheint er gestattet zu haben, dagegen nicht die eidliche Anerkennung
von dessen Regierungsmaafsregeln (*?), ausgenommen gegen das Ende seiner
eigenen Regierung, wo nach der Unterdrückung von Sejan's Verschwörung
einer derartigen feierlichen Eidesleistung Erwähnung geschieht. (°*) Bei dem
Regierungs-Antritte Caligula’s trug es sich zu, dafs der Kaiser nicht allein
für seine Person, sondern auch für seine noch lebenden mütterlichen Ascen-
denten und für seine Schwester, die Ablegung feierlicher Gelübde so wie
den Eid der Treue von den Behörden verlangte, in der Art dafs dieselben
sich verpflichteten, die Förderung des Wohles des kaiserlichen Hauses sich
angelegen sein zu lassen, selbst auf Gefahr des eigenen Lebens gleichwie
(°°) Allein etwas ähnliches kommt schon vor unter den Bewilligungen des Senates an J.
Cäsar (ebendas. XLIV.6. Appian.a.a. O. 11. 106. Zonaras das. X. 12.) und an Octavian. (Dio
Cass. LI. 19. Appian. das. V. ı32.). Beispiele gleicher Auszeichnung für besonders populäre
Männer werden auch schon vor der Zeit des Pompeius erwähnt. (Aurel. Victor de vir. illustr.
c. 66.). Über die später zu den Feierlichkeiten des Jahreswechsels gezogene Ablegung solcher
Fürbitten für den Kaiser vergl. auch Plutarch in Ciceron. c. 2.
(1) Dio Cass. XLVII. 18.
(°?) Ders. LIM. 8.
(”) Puchta a.a. 0.8 87. S. 374. Ausg. 2. hat diese leere Förmlichkeit als eine Nachahm-
ung des Rechenschafts-Berichts, welchen unter der Republik die Consuln am Schlusse des
Amtsjahres dem Senate erstatteten, geltend zu machen versucht und eine Bestätigung seiner
Ansicht von dem Wesen des röm. Principates (vergl. oben Anm. 4.) darin zu finden geglaubt.
(°°) Sueton. in Tiber. ec. 26. c. 67. Dio Cass. LVII. s. Wie denn auch noch in späte-
rer Zeit die Ablegung der vota solennia pro incolumitate Principis da vorkommen konnte, wo
die Anknüpfung einer Beeidigung der acta Principis von selbst hinwegfiel; nämlich aufserhalb
Rom’s, z. B. in den Provinzen. Plin. Ep. X. 44. sq. 60. sq. 101. sq.
(**) Ebends. LVII. 17. vergl. Taeitus Hist. VI. 2.
R2
132 H. E. Disgsen: Yon den Pflichten der Pietät
jenes der Ihrigen. (*°) Anderntheils unterliefsen es die Behörden, die Acte
des Tiberius nach dessen Tode eidlich zu bekräftigen, und es wird ausdrück-
lich berichtet, (2°) dafs auch in der Folgezeit in dem Eidesformular der
Behörden den Acten dieses Kaisers niemals ein Platz gegönnt worden sei.
Ähnliches wiederholte sich unter der Herrschaft des Claudius. Dieser Re-
gent wollte anfangs das Beschwören seiner eigenen Acta nicht zugeben, wäh-
rend er später es genehmigte. (*") Von den Regierungsmafsregeln des Cali-
gula hatte er zwar nur die besonders schädlichen ausdrücklich aufgehoben;
allein den Acten des letzteren wurde ebensowenig wie jenen des Tiberius
die Aufnahme in das feierliche Eidesformular der Behörden zu Theil. (?°)
Diese Thatsachen darf man nicht unbenutzt lassen bei der Rechtfertigung
der Erscheinung, dafs in juristischen und nichtjuristischen Quellen des rö-
mischen Rechts zwar der Geltung mancher Volks- und Senats-Schlüsse aus
der Regierung des Tiberius Meldung geschieht, dagegen auf einzelne Con-
stitutionen des genannten Kaisers und seines unmittelbaren Regierungs -
Nachfolgers nur beiläufig Bezug genommen wird. (?°)
(?) Dio Gass. LIX. 3. 9. Sueton. in Calig. ce. 15. Tiberius hatte aus Eifersucht nicht ge-
statten mögen, dafs andern Mitgliedern seiner Familie die Ehre der vota publica zu Theil würde.
Ders. in Tiber. c. 54. Von Caligula ist es bekannt, dals er die Verehrung seiner Person, mit-
tels Errichtung von Standbildern in den öffentlichen Tempeln, auch gegenüber den Juden,
deren Religionslehren einer solchen Abgötterei entgegen waren, selbst mit Gewalt durchge-
setzt wissen wollte. Josephus a. a. O. XVII. 8. $S$. 1. sqq. XIX. 5. 8. 2. c. 6. $. 3. Suidas
v. Böcruyue Eonuweews v. Iyueice. Zonaras Ann. III. 10. VI. 4. 10. sq. XI. 7. (Über die
zum Theil abweichende Erzählung des G. Cedrenus vergl. dessen Histor. comp. p. 192. 226.
249. ed. Becker. Vol. I. p. 337. 397. 438.). Verschieden von diesem Ansinnen war die Beehrung
des regierenden Kaisers durch Opferhandlungen vor dessen Standbilde (Plinius Epist. X. 97.)
und durch eigene demselben zu errichtende Tempel; was schon unter August’s Regierung in
den Provinzen allgemein vorkam, (Estr& Horat. prosopograph. p. 361. Amstel. 1846. 8.) und so-
gar bei den Juden keinen Widerstand hervorrief, während es den Abscheu der Christen er-
regte. Josephus de bello Ju. d. I. 21. $. 3. II. 9. 10. 17. $. 2. Tertulliani apologetic. c. 13. c.
16. c. 31. sq. ad nation. 1.17. (2°) Dio Cassa20:
(27) Ebends. LX. 10. 25.
(2?) Ders. LX. 4. Sueton in Claud. c. 11.
(°) Vgl. Bach Hist. iurispr. R. IH. 1. Sect. 2. $. 16. Sect. 3. $$. 3. sq. Sect. 4.$$. 9. sg. Sa-
vignya.a.O.Bd. ı. 8.23. S. 123. Anm. d. Eines Rescriptes von Tiberius Caesar findet
man gedacht in Fr. 38. $.10.D. ad. L. Jul. de adulter. 48. 5. S. auch Fr. 41. D. de hered. inst. 28. 5.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 133
Aus der bisherigen Ausführung (°°) ist zu entnehmen, dafs die
Bestrebungen der einzelnen Kaiser den Absichten des römischen Senates
(°') entsprachen, die Gesammtheit der freien Einwohner des römischen Rei-
ches an die Person gleichwie an die Familie des jedesmaligen Staatsoberhaup-
tes zu knüpfen, nicht blos durch den Einflufs der politischen Interessen, son-
dern gleichzeitig durch die moralischen und religiösen Motive der Pietät und
des eidlich bekräftigten Versprechens. Indem wir es nunmehr versuchen,
einzelne selbstständige Resultate zu bezeichnen, (°?) welche aus diesen Einflüs-
sen hervorgegangen sind, glauben wir uns auf die folgenden drei Punkte
beschränken zu dürfen. Zunächst auf die Sitte, das Leben eines einzelnen
Staatsbürgers zur Rettung der bedrohten Persönlichkeit des Kaisers einzu-
setzen. Sodann auf die geschichtliche Thatsache, dafs die Vollziehung frei-
gebiger Zuwendungen an das Staatsoberhaupt in den Testamenten sämtlicher
Staatsbürger, seit dem Beginne der Kaiserregierung, zu den Ereignissen des
Tages gehörte. Endlich auf dieses Prineip, dafs die geringste Verletzung
der Ehrfurcht gegen den Kaiser ohne weiteres die Verhängung einer Capi-
talstrafe zur Folge haben konnte. (*°)
(3°) Dieselbe ist vorsätzlich beschränkt worden auf die Person des Kaisers und auf dessen
Familie. Auch ist ganz abgesehen von den priesterlichen Feierlichkeiten zu Fürbitten für den re-
gierenden Kaiser und dessen Haus, worüber die Inschriften vielfach berichten, zumal die Acia
Fratrum Arvalum. (Vergl. Orellia.a. O. no.947. no. 2267. sqq.). Die Berücksichtigung
der kaiserlichen Günstlinge mulste hier ganz ausgeschlossen bleiben. Denn obgleich einigen
von diesen, namentlich den prätorianischen Präfecten Sejanus und Plautianus, entsprechende
Auszeichnungen gleich jenen des Kaisers bewilligt wurden, (Dio Cass. LVII. 2. LXXV. 14.)
so ging daraus doch nicht eine feste Norm für die Zukunft hervor.
(°!) Dieser beehrte z. B. den L. Vitellius, den Vater des nachherigen Kaisers, wegen der
Anhänglichkeit an die Person des K. Claudius, nach seinem Tode mit einem Standbilde, wel-
ches die Inschrift führte: „Pietatis immobilis erga Principem.” (Sueton. in Vitell. c. 3.). In
ähnlicher Weise suchte auch die Bellissenheit städtischer Communen den Ausdruck ihrer Devo-
tion gegen die Person des Herrschers auf Denkmälern zu verewigen. S. bei Orellia.a.O. V.
II. no. 3734. 4074.
(°?) Minder auffallende Äufserungen derartiger Pietät mögen hier unberührt bleiben, z. B.
die bannale Phrase auf Inschriften für angesehene Beamtete: „piAdzurag zur hiAomargıs.”
(Corp. inser. graec. V. 1. P. 4. no. 1363. sq. 1369. sq. 1375. 1379. P. 5. 1613.). Diesem entspricht
bei Nichtrömern die Formel: „piARozUTER zer dirogumaıos.” (Ebendas. P. 11. no. 2108. c. u. f.
no. 2123. sq. P. 13. no. 2719. Addend. p. 1005. zu no. 2114. bb. p. 1008.).
(°°) Begreiflich ist an diesem Orte nur zu handeln von den Erscheinungen der Pietät gegen
die Person des noch lebenden Kaisers. In die Verehrung, die dem bereits verstorbenen
134 H. E. Disksen: Yon den Pflichten der Pietät
I.
Dio Cassius (°*) berichtet, dafs die zu seiner Zeit in die Hof- und
Umgangs-Sprache übertragene Formel: „dem Kaiser seine Devotion bezei-
gen,” aus dem nachbenannten geschichtlichen Vorfall geflossen sei. Nachdem
sämmtliche Hoheitsrechte auf August waren übertragen worden, hätten ein-
zelne Beamte und Senatoren noch versucht einander zu überbieten durch
die Ermittelung neuer Schmeicheleien gegen den Gewalthaber. So sei im
Jahre d. St. 727. einer der Volkstribunen, Namens Sex. Pacuvius, (wel-
cher auch ein Plebiscit des Inhaltes durchsetzte, dafs der Monat Sextilis
fortan den Namen Augustus führen sollte, (°°)) im versammelten Senate mit
der Erklärung aufgetreten, er stelle hiermit, gemäfs der in Spanien herr-
schenden Sitte, (°°) dem gegenwärtigen Staatsoberhaupte seine eigene Person
und sein Leben zur freien Verfügung; indem er gleichzeitig die Hoffnung
ausprach, dafs alle Senatoren seinem Beispiele folgen würden. Da aber der
in der Versammlung anwesende Kaiser diese Demonstration nicht habe dul-
den wollen, so sei der Tribun auf die öffentlichen Strafsen und Plätze ge-
eilt, um die dort versammelten Bürger zur Vollziehung eines solchen Devo-
tionsactes zu vermögen, zugleich auch die Bestätigung desselben durch ein
Opfer zu bewirken.
nach erfolgter Apotheose gezollt ward, mischten sich Beziehungen des Sacralrechts. (S.Sueton.
in Octav.c.5.c.6.). Freilich ist hier die Grenze leicht überschritten, indem die überschwängli-
chen Ausdrücke der Schmeichelei gegen den lebenden Kaiser nahezu an die Formen göttlicher
Verehrung des verstorbenen streifen (z. B. Numini, v. genio, maiestatique Imp. Caes. Orellia.
a. O. V. I. no. 980. 996. 999. sq. 1003. sq. 1020. 1024. 1718. V. II. no. 4985. Omnium seculorum,
o. virtutum, sacratissimo Principi. Ebds. V. I. no. 202. 596. 1049. Custodi. imperü rom. totius-
que orbis terrarum praesidi. Ds. n. 6/3. Subiugatori, vo. Pacatori, Restitutori, orbis terrarum.
Ds. no. 838. 859. 885. 927. 1030. 1089. sq. 1102. sq.). Anderntheils bleibt es unserer Aufgabe
nicht minder fremd, von den Feierlichkeiten zu handeln, durch welche bei einem Regierungs-
wechsel die Behörden ihre Pflichten gegen die Person des neuen Kaisers zu bethätigen pflegten.
Unter diesen hat die Eidesleistung der Beamten, und die nachgesuchte Bestätigung in ihrem
Amte durch den antretenden Herrscher, sich bis auf die späteste Zeit erhalten. S. Canta-
cuzeni Historiar. I. 2.
@% Hist. R. LII. 20.
(°?) Macrobius Saturnal. I. 12. II. 4.
(°°) Reimarus, zu Dio Cass. a. a. O., verweist auf J. Lipsius Antiqu. lection. V. 8.
(Opp- T. I. p. 128.) und auf Casaubonus zu Strabo geogr. III. p. 77.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 135
In der Fortsetzung seines Geschichtswerkes (37) liest man bei demsel-
ben Referenten: es seien unter Caligula’s Regierung zwei Römer das grau-
same Opfer einer ähnlichen, gegen den Kaiser gerichteten, Schmeichelei
geworden. Während einer bedenklichen Krankheit Caligula’s hätte nämlich
ein Plebejer, P. Afranius Potitus, und ein römischer Ritter Namens Atanius
Secundus, durch einen Eid sich verpflichtet, für den Fall der Genesung des
Kaisers das eigene Leben zum Opfer zu bringen, und beziehungsweis in
Fechterspielen zu kämpfen. Nach wiedererlangter Gesundheit habe nun
wirklich Caligula die beiden an ihren Eid gemahnt und sie genöthigt den Tod
zu erleiden.
Aufserdem gehört hierher ein anderer Bericht des Dio Cassius, (°°)
der durch die Angaben des Biographen Hadrian’s (°?) unterstützt wird, ‚über
den Tod des Antinous. Es heifst bei diesen Referenten, dafs die eigene
Meldung Hadrian’s wenig Glauben verdiene, als ob der in seinem Gefolge
Ägypten bereisende Antinous bei einer Fahrt auf dem Nil verunglückt sei.
Für ungleich wahrscheinlicher habe man vielmehr diese Version zu halten,
dafs der den geheimen Künsten der Zeichendeuterei und Zauberei ergebene
Kaiser dem Aberglauben gefröhnt habe, als ob die freiwillige Opferung ei-
nes ihm geweihten fremden Menschenlebens die unerlässliche Bedingung
zur Sicherstellung des eigenen Wohlergehens sei. Zu einem solchen Opfer
nun wäre Antinous, durch freie Entschliefsung geleitet, oder bestimmt durch
Hadrian’s Bitten, ausersehn worden. (*°)
Aus diesen Mittheilungen erhellet, dafs nur von solchen Devotionen
hier die Rede ist, die als ein Zeichen aufopfernder Liebe zur Erreichung
des Zweckes dienen sollten, durch den Untergang der eigenen Person die
Rettung eines fremden Lebens zu sichern. Verschieden von den Devotio-
nen der entgegengesetzten Art, (*!) die in der Anwendung von Beschwörun-
7) Dio Cass. LIX. 8. Vergl. auch den noch mehr in’s einzelne gehenden Bericht des
Sueton. in Calig. c. 27.
(°) Hist. R. LXIX. 11. vergl. c. 22.
(°) Spartian in Hadr. e. 14. vergl. Aurel. Vietor de Caesarib. c. 14. $$. 7. sqq.
(9) Die kurze Angabe in des Eusebius Chronic. P. I. Vol. 2. p. 235. ed. Aucher, über
des Antinous Tod deutet gleichfalls auf einen Zusammenhang mit den vaticinia. Unerheb-
lich ist die beiläufige Äufserung Tertullian’s ad nation. II. 10.
(*') Vergl. Sueton. in Calig. c. 3., wo von Germanicus gesagt ist: „ Obtrectatoribus
etiam, qualescunque et quantacunque de causa nactus esset, lenis adeo et innoxius, ut Pisoni
136 H. E. Diegsen: Yon den Pflichten der Pietät
gen bestanden, um eine verhafste Persönlichkeit einseitig dem Untergange
zu weihen; (**) oder welche die gewaltsame Opferung eines fremden Men-
schenlebens erforderten, um den durch äufsere Zeichen kundgewordenen
Zorn der Götter von unserer eigenen Person abzulenken. (*) Allein auch
jene Selbstopferungen aus persönlicher Zuneigung waren wiederum gedop-
pelter Art. Der Aberglaube der alten Welt (*”) hatte dieselben eingeführt
als ein sinnlich wahrnehmbares Mittel, um durch die freiwillige Opferung
eines andern Lebens die Wohlfahrt des von dem Zorn der Götter bedrohten
Individuum’s sicherzustellen. Es war ursprünglich davon nur die Rede bei
einer gegenwärtigen oder nahe bevorstehenden Lebensgefahr, und der Tod
des der erzürnten Gottheit sich preisgebenden Menschen mufste unmittelbar
erfolgen, damit die Lebensrettung der geliebten Person dadurch herbeige-
führt werden möchte. Selbstopferungen dieser Art sollen auch den Römern
nicht unbekannt gewesen, und zwar zwischen Ehegatten oder Liebenden,
gleichwie zwischen Eltern und Kindern vorgekommen sein. (**) Zu diesen
Beispielen würde denn auch der Tod des Antinous gezählt werden können,
sobald es feststünde, dafs derselbe wirklich unter den zuvor als wahrschein-
lich bezeichneten Voraussetzungen erfolgt wäre. Ganz anders verhielt es
sich dagegen mit den andern oben berührten Fällen der Devotion, die aus
der Periode von August’s und Caligula’s Regierung berichtet werden. Dies
waren entweder Weihungen der eigenen Person, die ohne Bezugnahme auf
eine bestimmte Lebensgefahr des Kaisers als allgemeine Betheuerungen
schrankenloser Ergebenheit, mithin als inbaltleere Ceremonien sich darstell-
decreta sua rescindenti, clientelas diu vexanti, non prius succensere in animum induxerit, quam
veneficiis quoque et devotionibus impugnari se comperisset.” S.d. Ausleger zu dieser Stelle.
(*?) Die Quellen des römischen Rechts zählen diese Operation zu den sacra impia, nocturna.
PaulusR. S. V. 23.8. 15.
(#3) Sueton. in Neron. c. 36.
(BIYFPHn HN. €. 1.2 Eric. 2:
(**) Vergl. die Ausleger des Spartian. a.a. O. Bei dem Lehrsatze der römischen Rechts-
doctrin: dals, im Fall des, bei gleichzeitiger Veranlassung erfolgten, Ablebens von Vater und
Kind, der früher erfolgte Tod des ersteren präsumirt werden solle, ausgenommen wenn das
Kind noch unmündig gewesen, indem alsdann die Vermuthung für das Gegentheil streite, (Fr.
9. 8. 4. vgl. S$. 1. fg. D. de reb. dub. 34.5. Savigny’s System. II. S. 20. fg.) ist an eine Bezie-
hung auf derartige Liebes- Opferung nicht zu denken. Vielmehr liegt diesem Räsonnement
lediglich die Rücksicht auf die grölsere Widerstandskraft eines schon entwickelten und noch
nicht abgenutzten physischen Organismus zu Grunde.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 137
ten, wie z. B. der theatralische Auftritt, den der Volkstribun Sext. Pacuvius
herbeiführte; (*) oder es stellten dieselben sich dar als blofse eventuelle Zu-
sicherungen einer künftigen Devotion, die nicht eher in Vollzug treten sollte
als bis die Lebensrettung des bedrohten Individuums im gewöhnlichen Wege
erfolgt sein würde. Von dieser letzten Gattung waren die beschworenen
Weihungen der beiden Schmeichler, zur Zeit der schweren Erkrankung Ca-
ligula’s. (*%) Die grausame Ironie, mit welcher der wieder genesene Kaiser
in diesem Falle auf Vollziehung der Devotion bestand, erschien um so em-
pörender, da ein erzwungenes Menschenopfer nach bereits beseitigter Gefahr
nicht einmal dem Aberglauben genügen konnte, und da überdem bei Cali-
gula jederzeit der Nebenzweck vorausgesetzt werden durfte, dafs der Kaiser
seine Opfer nur wähle um deren Vermögen für sich selbst zu gewinnen. (*7)
Der Biograph Caligula’s berichtet an einem andern Orte, (**) dafs dieser
Kaiser nach einer stürmischen Seefahrt seinen Schwiegervater M. Silanus,
der ihn auf dieser Reise nicht hatte begleiten wollen, zum Selbstmorde ge-
nöthigt habe, indem er ihn staatsgefährlicher Pläne beschuldigte, die für
den Fall des Unterganges des Kaisers hätten zur Ausführung gelangen sollen.
An eine Ahndung wegen unterlassener Devotion für das Leben des Staats-
oberhauptes ist dabei wohl nicht zu denken; und eben so wenig mag das,
in den Vatic. Frr. berichtete, saerum in portu pro salute Impera-
torisfaciendum, in unmittelbarer Verbindung gestanden sein mit der Weih-
ung eines Menschenlebens zur Förderung der Wohlfahrt des Kaisers. Jeden-
falls aber berührt diese denkwürdige Mittheilung den hier zu besprechenden
Gegenstand überhaupt, nämlich die Pietät gegen die kaiserliche Person;
und da die Auslegung der fraglichen Textesworte mit nichten als abgeschlos-
sen zu betrachten ist, so dürfte eine wieder anzustellende Prüfung derselben
kaum als ein unzeitiges Unternehmen bezeichnet werden.
Die Ausdrücke jener Stelle der Vatic. Frr. lauten nach der gang-
baren Textes-Recension also: $. 148. Is qui in portu pro salute Im-
(*3) Ähnliches gilt von der Schmeichelei, deren gedacht ist bei Sueton. in Octav. c. 59.
„Nonnulli patrumfamiliarum testamento caverunt, ut ab heredibus suis praelato victimae titulo in
capitolium ducerentur, votumque pro se solvereiur: Quod superstitem Augustum reliquissent.”
(*°) S. oben Anm. 37.
(+7) Vergl. die Erzählung des Sueton. in Calig. c. 41.
(+3) Ebendas. c. 23.
Philos. - histor. Kl. 1849. S
138 H. E. Diresen: Yon den Pflichten der Pietät
peratoris sacrum facit ex vaticinatione archigalli, a tutelis exeu-
satur. Da jedoch die Handschrift entschieden liest: ii, und excusan-
tur, so dürfte dies beizubehalten und demnach facit in faciunt umzu-
ändern sein; ganz abgesehen davon, dafs verschiedene uns erhaltene Inschrif-
ten das, nach dem Ritus des Cybelen-Dienstes, für die Wohlfahrt des
regierenden Kaisers und dessen Familie veranstaltete Opfer als ein solches
bezeichnen, welches der oberste Priester dieses Cultus unter der Mitwir-
kung anderer Priester und Priesterinnen vollzogen habe. (‘”) Dafs aber in
dem obigen Texte die priesterliche Eigenschaft der, mit der Immunität vom
vormundschaftlichen Amte beliehenen Subjecte nicht direct angedeutet ist,
kann durch die folgende Bemerkung gerechtfertigt werden. Zunächst kommt
in Erwägung, dafs das von dem Archigallus formulirte sacrum durch Prie-
ster der verschiedensten Gattungen (°°) begangen werden konnte. Sodann
ist zu beachten, dafs im Zeitalter der christlichen Kaiser, welchem die Com-
pilation der Vatie. Frr. unbestritten angehört, der Aberglauben des Heiden-
thums, insofern er sich auf die Förderung der Wohlfahrt des kaiserlichen
Hauses bezog, oder mit den öffentlichen Belustigungen des Volkes in Berühr-
ung stand, zwar geduldet wurde, jedoch ohne die ausdrückliche Anerkenn-
ung seiner Geltung. (°') Überdem fehlt es in dem vorstehenden Falle nicht
an einer anderweiten Hindeutung auf ein blofses beschränktes Transigiren
zwischen der Staatsklugheit der christlichen Kaiser und den Lehrsätzen der
neuen Staatsreligion. Es ist nämlich hier nicht die Rede von den gewöhn-
lichen Gelübden und Opfern für das Leben und Glück des Kaisers, so wie
seiner Familie, von denen die epigraphischen Monumente vorzugsweis spre-
chen, (5?) und die zum Theil im Namen eines Priestercollegiums feierlich ver-
(*) Orelli.a. a. O. Vol. I. no. 2322. 2330. 2332.
(°°) Bald ist ein Sacerdos schlechthin genannt, als einer der XVviri S. F., oder der Sa-
cerdos civitatis, (Orelli das. no. 2322. 2325. 2328. sq. 2332. sq.) bald der Haruspex pub.
primarius. (Ebends. no. 2330.).
(°!) Theod. God. XVI. 10. c. 1. c. 3. de pagan. sacrif. Vergl. A. de Buchholtz iur.
civ. Ante-Just. Vatic. Frr. $. 148. p. 126. Regimont. 1828. 8. Glück Ausführl. Erläut. d. Pandekt.
Bd. 31. S. 299. fg. Rudorff das R. d. Vormdschft. Bd. 2. $. 89. S. 103. Berl. 1833. 8. Rein das
Crim. R. d. Röm. S. 908. fg. Leipz. 1844. 8.
(©?) Z.B. Supplicationes diis immortalibus pro Imp. Caes. (Orellia.a. O. V.
I. no. 3187. V. II. no. 4945.). Pro salute et reditu, oder Pro reditu et itu, dn. imp.
Caesaris. (ebds. V. I. no. 901. 1256. 1759. 1869. 1888. 2129.). Bono eventu profectionis
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 139
handelt wurden. (°%) Vielmehr wird nur gesprochen von demjenigen heiligen
Ritus, der für das Wohl des Staatsoberhauptes in einem Hafen zu vollziehen
war, und zwar nach der Inspiration des Oberpriesters der Cybele. Dadurch
sind wir zu der Annahme berechtigt, dafs das fragliche Opfer lediglich Be-
zug gehabt habe auf die, entweder bevorstehende oder bereits glücklich über-
wundene, Gefahr einer Seereise des Kaisers, und nicht auf die einfachen
vota publica pro itu et reditu Principis suscepta. (5*) Je unvoll-
kommener aber die Schiffahrtskunde bei den Griechen und Römern war,
desto eifriger wurde von den zur See Reisenden und deren Angehörigen der
Dienst der Schutzgötter in den Hafenplätzen beschickt. Dies bezeugen die
Orakel an einigen solcher Tempel, die über den Erfolg einer anzutretenden
Seereise befragt zu werden pflegten; (°°) auch wird dies beglaubigt durch die
bei den Rhetoren besprochenen Beispiele von Opfergelübden der Seefahrer. (5°)
Besonders weisen dieGeographen und Periplisten auf diejenigen Heiligthümer
hin, welche an jedem namhaften Hafenplatz der für die Schiffahrt mehr als
gewöhnlich gefährlichen Meere anzutreffen waren, (°7) und ihren Aussagen
orientalis et reditus Augustorum etc. (ebds. no. 907.). Pro salute et victoria, v.
incolumitate, v. perpetuitate, Imperatoris etc. (das. no. 917. sq. 924. sg. 931. 941. 947.
972. 1230. sqq.). Ob salutem Imp. (das. no. 815. V. II. no. 4957.). Vergl. Brisson. de
Formul. I. 173.
(°?) Man vergl. z. B. die, unter den Monumenta Fratrum Arvalium erhaltene, Tafel
über die vota für den K. Domitian; bei Orellia. a. OÖ. no. 2269. und den Vermerk in dem Fr.
Amiternin. der Calendar. marmor. zum 11ten Octob. Ebendas. V. II. pag. 400.
C+) Vergl. Anm. 52. Sueton. in Tiber. c. 38. in Calig. ce. 14. Lamprid. in Comm. c. 12.
Damit ist freilich nicht geleugnet, dafs auch dergleichen vota zu grolsartigen Spenden führen
konnten: wovon die auf Inschriften erhaltenen Widmungen Zeugnils geben. Man S. unter an-
dern das über die Ausschmückung des Templum Jovis reducis berichtete, (Orellia. a. O.
Vol. I. no. 925. 1256.) imgleichen die Votiv-Denkmäler, die dem Mercurius redux, (ebds.
no. 1413.) oder der Fortuna, (das. no. 1756. 1759. sq. 4247.) oder einer nicht näher bezeich-
neten Gottheit, mit Beziehung auf die Wohlfahrt des Kaisers und seiner Familie gestiftet wurden.
(Ebds. V. II. no. 3771. 4902. 4922.). Als Bethätigung brüderlicher Liebe werden auch die Ge-
lübde geschildert, welche Marc- Antonin ablegte, als sein Bruder Verus beim Antritt des parthi-
schen Kriegszuges erkrankt war. Capitolin in Marco c. 8.
(°?) Sueton. in Tito. c. 5.
(°°) Cicero rhetoricor. II. 31. Suidas v. E’Eırrgious euyae.
(°’) Strabo geograph. XI. 3. 8.17. XII. 4. 8.2. Arriani Epist. ad Hadrian. in qua periplus
ponti Euxini. pag. 6. 9. sq. und Marciani Heracleotae periplus. pag. 69. (in Geograph. vet.
scriptor. graec. minor. Vol. I. Oxon. 1698. 8.) Suidas v.’Eg "isgev.
52
140 H. E. Dirgsen: Yon den Pflichten der Pietät
fehlt es nicht an der Unterstützung durch epigraphische Denkmäler. ($7°)
Bei gröfseren See-Expeditionen geschieht überdem der, die Abfahrt so wie
die Rückkehr begleitenden, feierlichen gottesdienstlichen Handlungen Er-
wähnung, verbunden mit der Meldung, dass verfallene Heiligthümer an be-
deutenden Küstenpunkten hergestellt, oder neue daselbst gegründet worden
seien. (°°)
Was ferner die Besorgung des Oybelen-Dienstes durch entmannte
Priester (Galli) (5%) anbelangt, deren Vorgesetzter unter der Benennung:
Archigallus (matris deim magnae Idaeae) vorkommt, so ist davon
auf Inschriften (5°), gleichwie bei den Classikern des heidnischen (°°) und
des christlichen Glaubensbekenntnisses (°') vielfach die Rede. Wir erfahren
aus diesen Mittheilungen, dass im Verlaufe der römischen Geschichte, bei
grofser Bedrängnis des Gemeinwesens durch Seuchen oder Feindesgefahr,
dem römischen Volke mehrmals Rettung sei verheifsen worden durch den
Mund der Cybelen-Priester, die bei dem ersten Auftreten in Rom der Be-
völkerung als Betrüger erschienen und des Schutzes der Behörden bedurf-
ten; (°2) bis dass endlich, nach der Vorschrift der sibyllinischen Schicksals-
bücher, das Heiligthum der Göttin selbst nach Rom versetzt und ein förm-
(7°) Vergl. die folgende Inschrift einer einfachen Ara, welche im J. 1843. in der Nähe des
Tempels der Juno am Laeinischen Vorgebirge entdeckt wurde: „Herae. Laciniae. Sacrum.
Pro. Salute. Marcianae. Sororis. Aug. Oecius. Lib. Proc.” (Braun, in d. Neuen Jen.
A.L. Z. 1847. no. 282.).
(°®) Xenophon. anabas. IV. 8. $. 17. VI. 5. $$. 15. 18. Appian. de reb. Hispan. c. 2. de
reb. Syriac. c. 63. Plinii H. N. VI. 17. a. E. Arriani Epist. ad. Hadr. 1. 1. pag. 1.sq. Nearchi
paraplus. p. 3. 28. sq. 38.
(28°) 'Plinii H.N. V. 32. XXXV. 12.2. E.
(°) Orellia.a. ©. no. 2320. sqq. Doni inscription. antiqu. IV. 5. p. 134. Vgl. Reinesii
Epistol. ad Hoffmann. et Rupert. Ep. 69. p. 616. sq. 648. sq. Lips. 1660. 4.
(°°) Festus v. Galli (p. 95. ed. ©. Müller.) Servius ad Virgil. Aen. IX. 116. X. 220.
Strabo geogr. X. 3. $$. 12. sqq. XII. 5. $. 3. XIV. ı. $$. 37. 40. Plinii H. N. II. 93. Sue-
ton. in Domit. c. 1. Herodian. Histor. I. 11. Juvenal. satyr. IX. 62. und Schol. in h.
sat. III. 137.
(°!) Augustinus de €. D. II. 4. sq. 7. 26. sq. VL. 7. sq. VII. 2/.sq. Arnobius ady. gent.
V. 5. sgq. 16 sqqg. Tertulliani apologet. c. 23. c. 25. Ad nation. II. 7. Minuc. Felix in Octay.
(Anhg. zu Arnob. 1. 1. ed. G. Elmenhorst. p. 376. sq. Hanov. 1603. 8.) Firmie. Maternus
de err. prof. relig. c. 4. c. 28. a. E. Suidas v. Dvatos. S. Reinesius a. a. O.
(°?) Vergl. Drumann Gesch. Rom’s. Bd. 2. S. 178. Bd. 4. S. 314. fg.
Te,
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 141
{eo}
licher Dienst derselben dort gegründet wurde. (°%) Die Aussprüche des
Archigallus sind, in Übereinstimmung mit der vorstehenden Äufserung
der Vatic. Frr., uch auf Inschriften (°*) als vaticinationes bezeichnet. Sie
kommen jedoch an einigen Orten (°°) unter der einfacheren Umschreibung
vor: Indictum iussu, v. Factum ex imperio, matris deüm.(°) Jedenfalls
aber dürfte hier nicht an die eigenthümliche Art des Opfers zu denken sein,
welche angeblich (°%) der Archigallus zur Zeit der letzten Krankheit des
Marc-Aurel, um die Todesgefahr vom Kaiser abzuwenden, vollzogen haben
soll; vielmehr an ein Ritual von ungleich späterem Datum, zu welchem viel-
leicht die gefahrvolle Expedition, welche Constans zu Anfang des J. 343.
n. Chr. nach Britannien unternahm, (°%) den Anlafs gegeben haben mag.
11.
Von dem nämlichen Tribun Pacuvius, der die römischen Bürger zu
bestimmen suchte, nach seinem Beispiele mit Leib und Leben sich der Per-
son August’s zu devoviren, berichtet Dio Cassius (7) ferner, es habe der-
selbe dem versammelten Volke erklärt, dafs es seine Absicht sei, neben
(°%) Appian. de bello Hannib. c. 56. Schol. in Iuvenal. sat. IH. 137. Dadurch wurde frei-
lich die Persönlichkeit der entmannten Priester in der öffentlichen Meinung keineswegs gehoben.
S. ebendas. II. 16. v. Peribomius. VI. 513. spp. 531. sq. 542. VII. 207. (A. G. Cramer in Iu-
venal. sat. comm. vet. p. 48. sq. 252. sq. 3/3. Hamb. 1823. 8.) Darauf beruht die, von Valerius
Max. VII. 7. $ 6. berichtete Entscheidung eines Rechtsfalls, nach welcher die Erbeinsetzung
eines solchen Cybelen-Priesters, mit Übergehung des Patrons des Erblassers, als nicht zu Recht
bestehend behandelt wurde. Der eingesetzte Erbe, als ein „homo non integrae existimationis,”
konnte gegenüber dem Patron nicht als ein gültiger Testamentserbe angesehen werden. Eine
andere künstlichere Auslegung findet man bei Savigny: Syst. d. heut. R. Rs. VI. S. 493. fg.
(64) S. Orelli a.a. O.no. 2325.
(63) Ebendas. no. 2322. 2327. sq.
(66) Z. B. in dem Berichte von einem: „Taurobolium matris D.M. id quod factum est ex
imperio matris D. deum, pro salute Imperatoris Caes. etc” Ebendas. no. 2322. 2325. sq.
(°°°) Tertulliani Apologet. c.25. „Itaque maiestatis suae in Urbem collatae grande docu-
mentum nostrae etiam aetati proposuit (sc. Cybele,) cum Marco Aurelio apud Sirmium reipub.
exemto, die XVI. Calend. April. Archigallus ille sanetissimus, die IX. Calendar. earundem, quo
sanguinem impurum lacertos quoque libando castrabat pro salute imperatoris Marci iam interemti,
solita aeque imperia mandavit.”
(°6°) Firm. Maternus a. a. ©. c. 28. ed. Münter not. 12. Havn. 1826. 8.
(7) Hist. LIII. 20.
142 H. E. Disgsen: Yon den Pflichten der Pietät
seinem eigenen Sohne den Kaiser zu gleichem Antheil als Erben im Testament
einzusetzen. Dieser Plan sei auch von ihm ausgeführt worden, und zwar
nicht ohne die, durch den vollständigsten Erfolg gekrönte Nebenabsicht,
noch bei seinem Leben sein Vermögen durch Zuwendungen der kaiserlichen
Freigebigkeit vergrössert zu sehen. Man kann dies Beispiel freilich nicht
unterstützen durch die Erzählung desselben Historikers (°°) von dem Testa-
mente des Mäcenas, in welchem August als der alleinige Erbe der reichen
Verlassenschaft bezeichnet war, während dasselbe für die nächsten Bekannten
des Erblassers nur fideicommissarische Zuweisungen enthielt. (°) Denn es
wird ausdrücklich erinnert, dass diese letztwillige Anordnung durch das enge
persönliche Verhältnis zwischen August und Mäcen, welches ungeachtet vor-
gefallener Störungen bis zum Tode des letztern fortbestand, begründet ge-
wesen sei; (’°) auch weiss man aus einer andern Quelle, (') wie eifersüchtig
August darüber wachte, in den letztwilligen Verfügungen seiner Freunde
nicht unbedacht zu bleiben. Dagegen fehlt es nicht an sonstigen unverwerf-
lichen Zeugnissen dafür, dass das durch Pacuvius gegebene Beispiel der
Erbeseinsetzung des regierenden Kaisers mehrfache Nachahmungen gefunden
habe von Seiten testirender Privatpersonen. Es wird nämlich beim Tode
August’s erinnert, dass dieser Kaiser die ihm zugewendeten Erbschaften rö-
mischer Bürger, welche Kinder hinterlassen, zwar selbst angetreten, jedoch
nur als Geschäftsführer solcher Descendenten bis zu deren Mündigkeit ver-
waltet, und die Herausgabe aller solcher bei seinem Leben noch nicht resti-
tuirten Erbmassen in seinem eigenen Testament verordnet habe. (’?) Ein
gleiches Verfahren wird auch den besseren unter seinen Regierungs-Nachfol-
gern nachgerühmt, indem dieselben ihre Erbeseinsetzung in den Nachlass
5
fremder Personen gar nicht anerkannten, sobald entweder Leibeserben des
(63) ‚Das; LV...7.
(69) Denn so ist die Äulserung Dio’s zu verstehen, es sei lediglich dem Ermessen August’s
anheimgestellt gewesen, ob er den Freunden des Erblassers etwas oder nichts wolle verabfolgen
lassen. Die bekannte Verfügung dieses Kaisers, über die rechtliche Verpflichtung des Erben zur
Erfüllung fideicommissarischer Auflagen, (Pr. I. de fideie. heredit. 2. 23. Pr. I. de codicill. 2.25.)
dürfte demnach späteren Ursprunges gewesen sein als dieses Ereignils.
(9) 2.2.0: LIV.AELV..7.
(!) Sueton. in Octay. c. 66.
(2) Ders. a. a. O. Dio Cass. LVI.32. Vergl. des Verf. Scriptor. hist. Aug. S.240. Anm. 26.
Leipzig 1842. 8.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 143
Verstorbenen, oder wohl gar auch dann wenn überhaupt gesetzliche Erben
vorhanden waren. (?°) Dagegen unter der Herrschaft despotischer Kaiser
wurden durchaus abweichende Grundsätze geltend gemacht. Schon Tibe-
rius brachte gegen das Ende seiner Regierung eine neue Quelle des Geld-
erwerbes mittels des Verfahrens zur Anwendung, begüterte Personen durch
Bedrohung ihres Lebens zu bestimmen, ihren Frieden mit dem Kaiser auf
dem Wege zu verhandeln, dass sie denselben im Testamente mit einem
Theile ihrer Erbschaft bedachten. Dies Auskunftsmittel erreichte freilich
nicht immer seinen Zweck. Allein der Kaiser versäumte jedenfalls nicht von
seinem also begründeten Erbfolgerecht Gebrauch zu machen, sogar dann
wenn der übrige Inhalt des Testaments ehrenrührige Äusserungen über dessen
Person darbot. (”*) In ähnlicher Weise gingen Caligula, Nero und die den-
selben gleichgesinnten Kaiser zu Werke. (7°) Selbst unter den mehr geregel-
ten Regierungen der folgenden Gewalthaber erhielten die Ansprüche des
Fiscus an die testamentarische Verlassenschaft von Privaten eine, mit den
Forderungen der Gerechtigkeit durchaus nicht zu vereinigende Ausdehnung.
Es wurden nämlich dem Kaiser auch solche Erbschaften zugesprochen, für
welche derselbe in einem unvollständigen, und mithin zur Ausschliessung
der gesetzlichen Erbfolge nicht rechtskräftigen, Testament als Erbe berufen
war; (7°) gleichwie die Sitte sich gebildet hatte, den Landesherrn im letzten
Willen unter der ausdrücklichen Bedingung zu instituiren, dass er einen be-
stimmt bezeichneten Rechtsstreit des Erblassers fortsetzen möge. Gegen
diese beiden Misbräuche waren verschiedene Verfügungen gutgesinnter Kaiser
8
gerichtet, unter welchen, um der minder genau charakterisirten Fälle (°° )
(3) So z. B. dem Tiberius, zu Anfang seiner Regierung; (Dio Cass. LVO. 17. Taci-
tus Annal. II. 48.) denn im Verfolge derselben machte bei ihm, gleichwie bei Domitian, das
entgegengesetzte Princip sich geltend. (Dio Cass. LVIII. 16. Sueton. in Domit. c. 9. c 12.)
Ferner gehören hierher Claudius, (Dio Cass. LX. 6. Zonaras Ann. XI. 8.) Hadrian und
die Antonine, (Spartian. in Hadr. c. 18. Capitolin. in Ant. Pio. c. S. in Marco. c. 7.)
(%), Dio Cass. LVII. c. 4. c. 25.
(3) Ders. LIX. 15. LXIM. 11. Sueton. in Calig. c. 38. in Vitell. e. 14. in Domit. c. 12.
Plin. in panegyr. c. 34. Lamprid. in Comm. c. 5. c. 19.
(76) Ja dass man auch noch weiter gegangen sei, zeigt Sueton. ın Domit. c. 12. („Con-
fiscabantur alienissimae hereditates, vel exsistente uno qui diceret, audisse se ex defuncto, cum
viveret, heredem sibi Caesarem esse.”) Vergl. in Calig. a. a. O. Lamprid. a. a. 0.
(162 ) Dahin gehört, was Plinius als das unter Trajan’s Regierung in Aufnahme gekommene
Verfahren rühmt, ohne dasselbe auf eine vereinzelte Verordnung dieses Kaisers zurückzuführen.
144 H. E. Dıirksen: von den Pflichten der Pietät
nicht zu gedenken, am meisten ausgezeichnet wird eine Oratio des Perti-
nax. (7) In den entsprechenden Rescripten Sever’s, Oaracalla’s und
Alexander’s (”°) ist dieses Motiv hervorgehoben: „Licet lex imperü solem-
nibus iuris Imperatorem solverit, nihil iamen tam proprium imperü est quam
legibus vivere;” um dadurch anzudeuten, dafs die Rechtfertigung des früheren
entgegengesetzten Verfahrens, mittels des Principes der den römischen Kaisern
bewilligten Befreiung von der Verbindungskraft der Landesgesetze, zwar der
Form nach rechtlich begründet sei, allein dem Herkommen und der Staats-
klugheit nicht entspreche. Es liegt jedoch zu Tage, dass nur eine willkühr-
liche Auslegung jenem Principe Anwendung auf den in Frage stehenden Fall
bewilligen konnte; (?*) auch waren die ersten Kaiser weit entfernt davon, sich
dieser Argumentation zur Vermittelung eines solchen Resultates zu bedienen.
Denn es wird berichtet, (?°) dass Caligula anfangs durch einen eigenen Senats-
beschlufs sich von den Beschränkungen des Papischen Gesetzes habe ent-
binden lassen, um als unbeweibt und kinderlos dennoch Erwerbungen aus
fremden Tastamenten vollziehen zu können.
Geht man nun zurück auf den wahrscheinlichen Ursprung jener, seit
dem Beginne der Kaiserregierung allgemein verbreiteten Sitte, in Folge deren
ö
die durch Rang oder Vermögen ausgezeichneten römischen Bürger den regie-
renden Kaiser, und beziehungsweis den Thronfolger (?') oder auch wohl die
Gemahlin und die Mutter des Kaisers, (#?) in ihrem letzten Willen zu be-
denken pflegten; so kann man denselben nicht gerade in die Periode der
despotischen Regenten verlegen und etwa bis auf die Gewaltherrschaft der
Panegyr. c. 43. „In eodem genere ponendum est, quod testamenta nostra secura sunt; nec unus
„omnium, nunc quia scriptus, nunc quia non scriptus, heres es. Non tu falsis, non tu iniquis
„tabulis advocaris. — Scriberis ab amicis, ab ignotis praeteriris.”
(7) Capitolin. in Pertin. c. 7. Inst. Iust. $$. 7. 8. Qu. mod. testam. infirm. 2. 17. Müh-
lenbruch in Glück’s Ausführl. Erläut. d. Pand. Bd. 39. $. 1438. a. S. 300 fg. und des Verf.
Scriptores histor. Aug. S. 238. fg.
(3) &.8. 1.1.1.2. 17. Cod. Iust. c. 3. de testam. 6. 23. Fr. 23. D. de legat. III. (32.) vergl.
Fr. 57. de legat. II. (31.)
(79) Vergl. Mühlenbruch a. a. O. S. 310. fg.
(80) Dio Cass. LIX. 135.
($!) Capitolin. in Marco c. 7. Lamprid. in Heliogab. c. 31.
(32) Schol. in Iuvenal. sat. IV. 81. „Perit (sc. Crispus) per fraudem Agrippinae, quam here-
dem reliquerat, et funere publico elatus est.” Bisweilen verlangte auch wohl der Präfect der Prä-
torianer einen Antheil für sich, neben der Erbeseinsetzung des Kaisers. Dio Cass. LXIM. 11.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 145
Usurpatoren vor August zurückführen. (%?) Freilich sehen wir unter Tiberius,
Caligula’s, Nero’s Regierung die Erbeseinsetzung des Kaisers durch reiche
Leute als eines von den vielgestaltigen Mitteln (°*) benutzt, um durch die
Aufopferung eines Theiles ihres Vermögens den Rest desselben und daneben
das eigene Leben zu retten. Die mit dem Tode bedrohten Individuen such-
ten auch wohl den Inhalt eines solchen Testaments, in welchem sie das
Staatsoberhaupt bedacht hatten, zu veröffentlichen, um dadurch ferneren
Lebensnachstellungen zu entgehen. (*°)
Zur Zeit des Triumvirats, gleichwie unter der Regierung der ersten
römischen Kaiser, sehen wir die von den alten Römern mit religiöser Strenge
bewahrte Freiheit und Heiligkeit der Testamente unter dem Einflusse poli-
tischer Motive mannichfach beeinträchtigt. Als nämlich Octavian (8%) die
Eröffnung des Feldzuges gegen M. Antonius öffentlich zu rechtfertigen
wünschte, glaubte er dies am sichersten zu erreichen durch die Bekanntmachung
des Inhaltes von dessen Testament, der ihm durch die Zeugen des Testa-
ments-Actes verrathen worden war, und der allerdings dem politischen Cha-
rakter sowie dem moralischen Gefühl des Verfassers keineswegs zur Ehre
gereichte. (°”) Die Vestalinnen, in deren Archiv die Urkunde dieser letzt-
willigen Verfügung niedergelegt war, weigerten anfangs deren Herausgabe
(°°) Als ganz unverbürgt ist die folgende Mittheilung des Zonaras annal. XII. 1. a.E. zu
betrachten, der von Antoninus Pius, unter andern ungenau berichteten Einrichtungen, auch die-
sen Act der Gesetzgebung schildert: Ilegi rourov duroxgaroges wdera orı nal TO Tns Tuy-
uAyrou narerause Iybırua, 6 nar Emırayav rou Teuriov yeyove Karragos, Sermiov
undevi EbeirIar diaSguny mov, ei um MEgos WgLmlevov Tw nowd nararenbeı Tausin.
09ev vonißeran nal ueygı revde rals diaSyraus eyygaperIaı orı „nu 70 Basırad
Taeiy kararınmayu Tode.”
(°*) Zu den sonst bekannten Mitteln für diesen Zweck sind zu zählen: Ankauf von Gegen-
ständen des kaiserlichen Privateigenthums, um eine unverhältnismässig hohe Erwerbsumme;
(Dio Cass. LIX. 14.) ferner baare Beisteuern zu kostbaren Bauunternehmungen, cder zu Ver-
gnügungs-Anstalten für den Kaiser; (ebends. LXII. 25. LXXVII. 9. sq. Sueton. in Calig. c. 22.
€. 38. sq.) endlich unverschleiertes Erkaufen des eigenen Lebens gegen Aufopferung bedeutender
Geldsummen. (Dio Cass. LXXI. 16.)
(°°) Ebends. LVII. 4. vergl. Tacitus Hist. VI. 14. Plin. H. N. XX. ı4. a. E.
(°) Früher hatte schon J. Cäsar, um seinem Einverständnis mit Pompeius die grösste Öffent-
lichkeit zu verleihen, dem versammelten Heere sein eigenes Testament vorgelesen, in welchem
Pompeius zum Erben eingesetzt war. Sueton. in Jul. c. 83.
(87) Ders. in Octav. e. 17. Dio Cass. L.3. Zonaras. X. 28.
Philos. - histor. Kl. 1849. iR
146 H. E. Diexsen: Von den Pflichten der Pietät
und wichen zuletzt nur der Gewalt; (%°) während sie sonst kein Bedenken
trugen, die ihrem Gewahrsam anvertrauten politischen Actenstücke dem
jedesmaligen Gewalthaber auszuhändigen. (°) Es wird ferner von August
berichtet, dafs er im Jahre d. St. 731., nach der Herstellung von einer
lebensgefährlichen Krankheit, sein eigenes früher errichtetes Testament in
die Senatsversammlung mitgebracht habe, um durch dessen Vorlesung
zu zeigen, es sei darin kein Regierungs-Nachfolger von ihm ernannt wor-
den. (°°) Ähnlich soll Tiberius, im Jahre 748. d. St. vor seinem Abgange
nach Rhodus, in Gegenwart des Augustus und der Livia sein Testament er-
öffnet haben, um durch die vollständige Mittheilung von dessen Inhalt die
gegen ihn genährte Verdächtigung seiner Pläne für die Zukunft zu ent-
fernen. (°')
Diese Beispiele, (°*) welche, gleich vielen anderen, (9°) für jenen trüben
Zeitraum der römischen Geschichte die Verirrungen der Politik und den
gesunkenen Zustand der Moralität in beredter Weise beglaubigen, sind
schwerlich geeignet den Ursprung einer Sitte zu erklären, welche zur Zeit
eines geordneten Rechtszustandes in Rom sich festgesetzt hatte und deren
Rechtmäfsigkeit auch niemals bezweifelt worden ist. Denn es wurde schon
zuvor (%*) ausgeführt, dass die Erbeseinsetzung des Staatsoberhauptes in den
Testamenten der Privaten unter August’s Alleinherrschaft bereits als ein all-
gemein verbreitetes Institut sich darstellt. Wir glauben den Grund desselben
in dem, durch die Schmeicheleien des Senates sowie der Umgebung des
Kaisers hervorgerufenen, durch die Politik August’s und seiner Nachfolger
(°°) Plutarch. in Antonio. c. 58. Vergl. Fr. 1. 88. 4. fgg. D. de L. Corn. de fals. 48. 10.
(89) Dio Cass. XLVII. 12. 36. sq. 46. vergl. Zonaras. X. 22.
(29) Dio Cass. LIH. 30. sq. Zonaras. X. 33.
(°1) Dies berichtet Dio Cass. LV.9. Dagegen Sueton. in Tiber. c. 10. sqq. schweigt davon.
(22) Man könnte deren Anzahl noch ansehnlich vermehren, namentlich durch die Berichte
von der Behandlung des Testaments des Regierungs-Vorfahren abseiten des Nachfolgers. Dio
Cass. LIX. 1. sq. LXL. 1. Der Beispiele gar nicht zu gedenken, wo die Parteien vor Gericht
ihr eigenes Testament producirten, um durch die bei dem Testamentsact zugezogenen Personen,
oder durch den Inhalt ihrer letztwilligen Anordnung, die behauptete freundliche Gesinnung in
Beziehung auf bestimmte Individuen zu bekräftigen. Vergl. Plin. Ep. VI. 22.
(3) Zu vergleichen ist unter andern die Mittheilung des Sueton. a.a. O. c. 51. über
die Ursachen der Verfeindung Tiber’s und seiner Mutter, in den letzten Lebensjahren derselben.
(°*) S. oben Anm. 72.
ezen die Person des regierenden römischen Kaisers. 147
ge 8
aber genährten Prineipe wiederzufinden, dass die Person des Staatsober-
hauptes allen Bürgern in der Stellung eines Vaters gegenüber stehe, und
demnach die Erfüllung der Pflichten der Pietät von denselben ansprechen
dürfe. Zu diesen Pflichten gehörte unter andern, nach altrömischer Volks-
ansicht, auch die Berücksichtigung im Testament. (°5) Diese beschränkte
sich keineswegs auf die nächsten Verwandten des Erblassers , (2°) sie um-
schloss auch die demselben befreundeten Personen, sowie alle diejenigen,
8 ver-
5
gelten zu müssen. Das letztwillige Bedachtwerden eines Freundes galt
deren Liebesdienste er glaubte durch ein Zeichen seiner Anerkennun
als ein Beweis unveränderter Gesinnung, während das Gegentheil fast als
eine Aufkündigung der Freundschaft gedeutet wurde. (°”) Und dies blieb
nicht ohne Einfluss auf die Sitte, den Inhalt eines vorlängst errichteten
Testamentes, in Folge veränderter persönlicher Beziehungen hinterher zu
ergänzen. (*°)
IM.
Es ist an einem andern Orte (°°) ausgeführt worden, dass die seit der
Alleinherrschaft August’s anerkannte Übertragung der Strafbarkeit der Ma-
jestätsbeleidigung auf Angriffe und Verunglimpfungen der Person des Staats-
oberhauptes, nicht durch ein selbstständiges Gesetz bewirkt worden sei,
sondern durch die einfache Anwendung der bestehenden Gesetze über das
(°°) So hatte z. B. August in seinem Testament Grundstücke und Capitalien auch an solche
Individuen vermacht, die ihm im Leben eigentlich ferne gestanden waren. Dio Cass. LVI. 32.
(2°) Bei entfernteren Verwandten, und bei Verschwägerten, war die Berücksichtigung im
Testament ein Zeichen besondern persönlichen Verdienstes und die Belohnung unzweideutiger
Pietät. Capitolin in Ant. Pio. c. 1. a. E.
(°7) Ebends. c. 12. a. E. Vergl. auch das oben Anm. 71. über August erinnerte, und die
Äusserung des Plin. Ep. VII. 20. 31. Ferner gehört hierher der briefliche Bericht Fronto’s
an Antoninus Pius über die letztwillige Verfügung des Niger, eines ihm befreundeten „‚vir
consularis et censorius.” (Corn. Frontonis reliquiae. ed. Niebuhr. Epist. ad Ant. Pium. 3. 4.7.
Berol. 1816. 8.) So pflegten denn auch Caligula und Nero die Testamente derjenigen, welche
keine Vergabung an den Kaiser enthielten, auf Grund der Undankbarkeit des Erblassers für
nichtig zu erklären und den Nachlass dem Fiscus zu überweisen. Sueton. in Calig. c. 38. in
Neron. ce. 32. in Vitell. c. 14.
@°) S. Plinius Epav.>.
(°°) Vergl. des Verf. Seriptor. histor. Aug. II. 4. SS. A. fgg. S. 246. fgg.
72
148 H. E. Disgsen: Yon den Pflichten der Pietät
Majestätsverbrechen auf den Kaiser, als den Inhaber der gesammten Hoheits-
rechte des Volkes, welchem noch aufserdem die persönliche Unverletzlich-
keit der Volkstribunen ausdrücklich gewährleistet worden war. Diese
Zusicherung, welche schon Julius Cäsar erhalten hatte, (10%) wurde dem
Augustus zu wiederholten malen ertheilt,('%') während den Nachfolgern
desselben die gleiche Bevorrechtung schon bei ihrem Regierungs-Antritte
zufiel, durch die bleibende Verleihung der Tribunicia potestas.. Es
konnte demnach nicht die Berechtigung in Zweifel gezogen werden, sondern
nur die Räthlichkeit des Verfahrens, bei jeder Verletzung der Person des
Kaisers und der, mit gleichen Hoheitsrechten durch ihn ausgestatteten, Glie-
der seiner Familie, (1°) der Majestäts-Anklage Folge zu geben. Und wären
in solchen Fällen nur wenigstens die Formen des gerichtlichen Verfahrens
gewissenhaft beobachtet worden, so würden selbst die zahlreichen Beispiele
der Verfolgung angeblicher Majestäts-Beleidiger, denen wir unter der Re-
gierung despotischer Kaiser begegnen, schwerlich die Fülle des öffentlichen
Unglücks haben hervorrufen können, welches die Geschichtschreiber der
römischen Kaiserherrschaft mit der Beredsamkeit eines edeln Unwillens
schildern. Die Quelle schrankenloser Willkühr und der offenbarsten Ver-
höhnung des gesetzlichen Rechts, welche in diesen Darstellungen uns ent-
gegentreten, muss anderswo gesucht werden. Zunächst in dem That-
umstand, dass der förmlich angeklagte Majestätsverbrecher gewöhnlich
seinem ordentlichen Richter entzogen, und entweder an den römischen Se-
nat, (1%) oder an einen kaiserlichen Specialeommissarius, mithin vor ein
Forum gewiesen wurde, welches die Bürgschaft einer gründlichen parteilosen
Untersuchung und Beweisführung nicht gewährte, die das Verfahren vor
dem Volksgericht wenigstens hoffen liefs. Ungleich folgenreicher war indess
ein anderes Moment, nämlich die Benutzung der Anschuldigung einer gegen
den regierenden Kaiser begangenen Impietät. Denn das crimen impietatis
erforderte durchaus nicht die Begründung der Anklage durch irgend eine
von den Majestäts-Gesetzen verpönte Thatsache. Es genügte dazu eine jede
(19%) Zonaras Annal. X. 12.
(191) Dio Cass. XLIX. 15. sq. 38.
(102) S. oben Anm. 9. Vergl. auch die Übersicht der einzelnen iudicia maiestatis unter den
Kaisern, in Rein’s Criminal R. d. Röm. S. 543. fgg. Leipz. 1844. 8.
(19) Vergl. des Verf. Civilist. Abhdlgg. Bd. I. S. 161. fgg.
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 149
Verdächtigung der kindlichen Ehrfurcht und Dankbarkeit eines einzelnen
Bürgers gegen den Kaiser, als den Vater des Vaterlandes. Ja es bedurfte
nicht einmal einer förmlichen Anklage, sondern das Verfahren gegen einen
solchen Capitalverbrecher wurde in der Regel mit der Execution begonnen,
gleichsam als ob eine Versündigung gegen die Gottheit zu büssen wäre, wegen
Verletzung des, auf die Unantastbarkeit der Person des Kaisers und seiner
Angehörigen abgelegten Eides. (!'*)
Dieses Impietäts-Verfahren wird mit den eigentlichen Majestäts- Pro-
cessen nicht selten vermengt, selbst von den glaubwürdigsten classischen
Referenten. Und dies nicht ohne den scheinbaren Grund, dass bereits
unter der Republik ein solches Beispiel der Übertragung des Majestäts-Ver-
fahrens auf den Fall einer Anrufung der Götter, welche gegen die Wohlfahrt
des römischen Volkes gerichtet war, vorgekommen sein soll. (1%) Dennoch
fehlt es nicht an andern Berichten, welche die &yzayuara 775 areßsias als
wesentlich verschieden von jenen gerichtlichen Majestäts-Verfolgungen dar-
stellen. (!°%) Dazu kommt dass gerechte und milde Regenten, z. B. Vespa-
sian, Titus u. a.m. die Geltendmachung der crimina impietalis, als eine
unversiegbare (Juelle des Misbrauches, durchaus beseitigt wissen woll-
ten. (17) Ja schon von August wird berichtet, (!%%) dass er der frivolen
Anklage geachteter Personen, denen schuld gegeben wurde: quod male opi-
nari de Caesare solerent, mit Nachdruck entgegengetreten sei. Und ähnlich
mögen auch die allgemeinen Äusserungen der Classiker, über die zu Anfang
von Caligula’s Regierung, gleichwie durch Trajan und Hadrian, bewirkte
Beseitigung der iudicia maiestatis gedeutet werden können. ('!") Anderer-
(19%) Sueton. in Calig. c. 15. c. 24.
(105) Ders. in Tiber. c. 2. Vergl. Valer. Max. VII. 1. damnat. $. 4.
(106) Dio Cass. LIX. 4. Wir sehen hier ganz ab von solchen Zeugnissen, die wegen der
Unbestimmtheit des Redeausdruckes eine Beziehung auf andere Richtungen der Impietät, als
jene gegen das Staatsoberhaupt, nicht ganz ausschliessen. Vergl. z.B. die Äusserung in des
Plinius Epist. I. 5.
(197) Dio Cass. LIX. c. 4. c. 16. LX. 3. sqg. LXVI. 9. 19. LXVIIL. 1. LXXIH. 5. Plin. a.a.
O. X. 85. 86. in panegyr. c. 43,
(19) Sueton. in Octav. c. 51.
(199) Zonaras Ann. XI. 4.a.E, 21. Plinius panegyr. c. 42. sq. 53.sq. Spartian in
Hadr. c. 18. Vergl. H. Grotius flor. spars. ad ius Iust. Dig. 48. 4. Fr. 7. und des Verf. Scriptor.
Hist. Aug. S. 252. fg.
150 H. E. Dirksen: Yon den Pflichten der Pietät
seits erklärt es sich aus dem obigen, dass unter der Herrschaft despotischer
Kaiser die grundlosesten Vorwände zur Anschuldigung der Impietät für aus-
reichend gehalten wurden, (11°) während dieselben zur Einleitung eines Ma-
jestäts-Verfahrens auch nicht einmal scheinbar hätten dienen können. (!!!)
Ein solches System leidenschaftlicher Verfolgungen, bei denen das
Leben des Schlachtopfers nicht selten nur verlangt wurde, um unbehindert
dessen Vermögen dem Staate anzueignen, ('!?) obwohl es auch für eine blos
launenhafte Schlächterei an Beispielen keineswegs fehlte, (11%) konnte nicht
ermangeln auf Religion und Sittlichkeit den nachtheiligsten Einfluss zu
äussern. (1%) Die Begünstigung der Spionerie und falschen Anklagen gehört
zwar zu den bittersten Früchten dieser Saat, allein sie stand nicht vereinzelt
(110) Z. B. wegen Entkleidens vor dem Standbilde des regierenden Fürsten; (Dio Cass.
LXVII. 12.) wegen Träume dritter Personen, in denen man als Inhaber der höchsten Gewalt
erschienen war; (ebendas. LXXVI. 5.) oder weil man ein Orakel befragt hatte; (das. LXX VII.
20.) oder wegen Unehrerbietigkeit gegen den Namen eines Verstorbenen, dem der regierende
Kaiser besondere Verehrung gewidmet hatte, wie z. B. Caracalla dem macedonischen Alexander;
(das. LXX VII. 7. sq. 12. LXXVIII. 19. Spartian in Carac. c. 2.) ja sogar wegen rhetorischer
Declamationen gegen die Tyrannen überhaupt. (Dio Cass. LXVII. 12. sq.) Die sinnlosesten
Beschuldigungen dieser Art wurden geltend gemacht unter der Regierung Tiber’s, (Sueton.
in Tiber. c. 58. c. 61.) Nero’s und Domitian’s, (ders. in Nerone. c. 36. sq. in Domit. c. 10. sg.
Plin. panegyr. c. 53. sq. Dio Cass. LX. ı8. 26. sqqg. Zonaras. XI. 19.) Commodus, Ca-
racalla’s und Heliogabal’s. (Lamprid. in Comm. c. 10.sq. Spartian. in Carac. c.5. Dio
Cass. LXXIX. 4. sq. Vergl. auch Rein a. a. O.)
(111) Ausser wenn die schamlose Anweisung Nero’s geltend gemacht wurde: „U lege maie-
statis facta dietaque omnia, quibus modo delator non deesset, tenerentur.” Sueton. in Ne-
rone. c. 32.
(112) Dio Cass. LXVII. 4. Sueton. in Domit. c. 12. vergl. in Tiber. c. 49. Zonaras.
XI. 5. a.E. Auch erlangt dadurch die Anpreisung der Enthaltsamkeit bei besser gesinnten
Kaisern (Lamprid. in Alexand. c. 40.) besondere Bedeutung.
(113) Dio Cass. LXXI. 4. 14. LXXVIL. 4. 11. 16. 18. LXXIX. 3. sq. und Exce. bist. R.
Dionis, p. 204. ed. A. Maii. p. 93. edit. Sturz. V. 9. Lips. 1836. Sueton. in Calig. c. 27. sgg-
c. 38. in Nerone. c. 36. sq. Plin. in panegyr. c. 33. Spartian. in Carac. c. 3. sq. Capitolin,
in Maximin. duob. e. 10.sq. Zonaras. XII 4.sq. Suidas v. Kapivos. Von dem statistischen
Problem ist hier nicht weiter zu handeln, dass sämmtliche politische Illustrationen aus der Pe-
riode der kaiserlichen Tyrannei in verhältnismäßig kurzer Frist aus dem Leben geschieden waren.
S. Plinius Epist. III. 7. Vergl. Plinii H. N. VII. 48.
(114) So verfehlte der knechtisch gesinnte Senat nicht, die Überführung solcher Angeklag-
ten, als ein das Wohl des Vaterlandes begünstigendes Ereignis, zu einem Erinnerungsfest für
die kommenden Geschlechter zu erheben. Vergl. in dem Frag. Amiternin. der Calendar. marmor.
die Bemerkung zum 10ten September. (Orelli a. a. O. Vol. II. p. 398.)
gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 151
da. Manche andere Erscheinung von allgemeiner moralischer Versunkenheit
wird von den gleichzeitigen Historikern berichtet, die der Menschenfreund
von der Tafel der Geschichte getilgt wissen möchte. (115) Und von eigen-
thümlicher Beredsamkeit sind hier vereinzelte beiläufige Äusserungen der
Zeitgenossen Domitian’s und seiner Consorten. So die Bemerkung des
ältern Plinius, (!!%) dass es dem unvollkommenen Menschen zum Trost
gereiche, manches zu vermögen was selbst seinen Göttern versagt sei; wozu
namentlich die Freiheit des Selbstmordes gehöre, dieses unschätzbaren Mit-
tels der Abhülfe gegenüber den schweren Drangsalen des irdischen Daseins.
(15) Vergl. z.B. den Bericht des Dio Cass. LXVII. 4. LXXII. 14.
(16) H. N. IL. 7. a. E. vergl. XXVII. ı. a. E.
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ÜBER SCHULE UNIVERSITÄT ACADEMIE
von herrn JACOB VERIMM.
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[gelesen am 8. nov. 1849.]
Er... tage trat, aus mehr als einer ursache, es an mich nahe, einen die
genossenschaft, der wir zu gehören, unmittelbar betreffenden, ohne zweifel
auch von vielen unter uns oft erwogenen gegenstand in neue betrachtung zu
ziehen. rechenschaft geben wollte ich mir über das eigentliche verhältnis
der academie zu andern wissenschaftlichen anstalten, über das was bei ver-
schiedenen anlässen academisch sei oder nicht. Auf unser statut zurück
gewiesen zu werden besorge ich kaum, da dessen schon mehrmals (am letz-
ten 1812 und 1835) eingetretene änderung selbst darthut wie wenig dieser
verein von gelehrten männern für in sich abgeschlossen und fertig zu erachten
oder gegen der zeit und des allgemeinen menschlichen fortgangs allmächtigen
einflufs unempfindlich sei. Das uns bei der stiftung übergeworfne erste kleid
haben wir längst verwachsen, und die muster nach welchen es geschnitten
wurde gelten auch sonst nicht mehr, so wenig als für irgend eine der deut-
schen universitäten die Heidelberger satzung von 1346 mafsgebend geblieben
ist. Dennoch darf es ein glück heifsen und eine wolthat, dafs damals zu
Berlin oder in der Pfalz halb tactvoll, halb unbewust, das rechte und an-
gemessene getroffen wurde. Desto ruhiger abwarten oder im geiste voraus
ahnen dürfen wir, die academie werde über lang oder kurz sich zu verjüngen
und erweitern alle fähigkeit in sich tragen, und wohin mein blick gerichtet
sei soll hernach unverhalten sein.
Wer über das wesen der academie nach zu sinnen beginnt kann sich
schon bei dem klang ihres namens an die universität zu denken kaum ent-
schlagen, welche gleichfalls academie zu heifsen pflegt. Aber auch hier
läfst sich noch nicht einhalten, da zwar keine academie, doch die universität
auf die benennung einer hohen schule anspruch hat, so dafs in den ganzen
kreis dieser begriffe und erörterungen nicht minder die schule gezogen wer-
Philos.-histor. Kl. 1849. U
154 Jıcos GrImMm
den mufs. Und wie solchergestalt die verwandtschaft zwar nothwendig
geschiedner aber in einander über greifender behörden bereits in ihren
namen vorbricht, findet sie hier in Preufsen dadurch ausdrückliche bestä-
tigung, dafs nicht selten vorragende lehrer an den gymnasien zugleich als
professoren der universität auftreten und alle mitglieder der academie auf
sämtlichen landesuniversitäten vorlesungen zu eröfnen berechtigt sind.
Kann demnach an vielfacher, innerer wie äufserer berührung dieser drei öf-
fentlichen anstalten im voraus nicht gezweifelt werden, so soll das ergebnis
meiner nachfolgenden untersuchung darlegen, wie und auf welche weise in
ihren mitteln und erfolgen sie ganz von einander abweichen, um so sicherer
aber eine sich stützende stufenartige trilogie bilden, welche solange die
academie ihr abgieng unvollständig erfafst war, man darf auch sagen, solange
die academie ihrem wesen nach unzureichend aufgestellt ist, immer noch
mangelhaft begriffen wird.
Es braucht nicht zu verwundern, dafs diese anstalten insgesamt, deren
entschiedenes deutsches gepräge bald ins auge fällt, nur mit fremden wörtern
bezeichnet werden können und unsere jetzige sprache für sie gar keine hei-
mischen ausdrücke darbietet. denn gleich der sache sind die namen zwar
zu sehr verschiedener, doch einer solchen zeit, wo die in unserm volke
selbst gelegnen bildsamen triebe zurück standen, uns von süden und westen
her über die Alpen und den Rhein zu gebracht worden; wie es bei manchem
andern von aufsen aufgedrungenen der fall war, haben wir ihren begrif all-
mälich abgeklärt und vertieft, so dafs nichts weiter an der ihnen ursprünglich
zugestandnen oder im verfolg anderswo beigemessenen bedeutung gelegen
scheint. Wir Deutschen, denen zu heifs drückender schmach das ersehnteste
recht eines freien volkes, das seiner ungehemmten einheit bisher noch vor-
enthalten wird, erblicken einem solchen gebrechen gegenüber zwar gering-
fügigen, an sich dennoch grofsen ersatz oder trost dafür in dem anerkannten
ruf, dafs was auf wissenschaft und deren förderung bezogen werden kann,
alles bei uns fast in höherem grade vorhanden ist, als bei den mächtigsten,
einsichtsvollsten völkern der gegenwart. Wie viel unherstellbares in unserm
öffentlichen leben uns mislungen, wie viel auch des gelingenden bald wieder
verkommen und untergegangen sei, alles noch rettbare gedeihen scheint sich
nach einer seite hin geflüchtet zu haben, und in den meisten der wissenschaft
gehörenden einrichtungen die gunst eines frohen und anhaltenden fortschritts
über schule universität academie. 155
uns immer unversagt. Und vermag der geist einen hinfälligen leib aufrecht
zu erhalten und zu fristen, so kann ohne ruhmredigkeit behauptet werden,
dafs unsere wissenschaft und errungene literatur, das untilgbare gefühl für
sprache und poesie es gewesen sind, die in zeiten härtester trübsal und tief-
ster ohnmacht des deutschen reichs das volk gestärkt, innerlich angefacht
und erhoben, ja den sonst nichts hätte aufhalten mögen vor untergang uns
bewahrt haben. Franzosen und Engländer, ihren blick theilnahmlos und un-
gläubig von unserm politischen ringen abwendend, wo nicht gar es höhnend,
erkennen auf dem felde der wissenschaft uns als ihnen ebenbürtig oder selbst
überlegen an; sie sind längst bestrebt unsre leistungen und anstalten kennen
zu lernen und vielleicht nachzuahmen. Was auch in ihren augen und mit
verzehnfachtem selbstgefühl würden wir ausgerichtet haben, hätte aller unsrer
wissenschaft, das heifst der erhebung des geistes auch ein stolzes bewustsein
der stärke und macht des vaterlandes, als eines bodens, von dem der geist
sich schwingen, auf den er weilend sich nieder lassen könne, zum grunde
gelegen? oder welch unerfülltes glanzenderes geschick ruht für uns auf jetzt
noch unnahbaren knien der götter? Wem solch ein lob zu voll, diese hof-
nungen malslos und überspannt erscheinen, der möge hernach gewahren,
dafs ich herben tadel unter zu mischen und von den wissenschaftlichen an-
sprüchen, zu denen wir befugt sein könnten, grofse stücke abzuziehen nicht
säumen werde. Von andern seiten her erschallen ja misbehagen und unzu-
friedenheit viel anhaltender und lauter. Es ist eine seltsame erscheinung,
dafs gerade was dem ausland an den sonst um nichts geneideten neidenswerth
vorkommt, unsre schulen und universitäten, bei mitlebenden unter uns her-
abgesetzt und als wesentlicher umwandlung bedürftig dargestellt zu werden
pflegt. War jener vorzug nur eingebildet, oder steht er so fest, dafs alle
gemachten vorwürfe von ihm abgleiten? Niemand der gesundes sinnes ist,
wird frevelnden neuerern das wort reden, die jede gute gewohnheit herge-
brachter sitte ruchlos untergraben möchten, niemand aber auch den auf ihren
zinnen über alle und jede neuerung zeter schreienden Zionswächtern sich
beigesellen wollen.
Ich erbitte mir nachsicht dafür, dafs ich, wie man schon gewahren
wird, mit anspruchloser offenheit keinem anstofs oder bedenken ausweichen
will, was einige meiner ansichten mit sich führen können; hinten zu halten
und mich zu bergen war meine sache nie.
U2
156 Jacos Grımm
Von der wissenschaft hege ich die höchste vorstellung. alles wissen
hat eine elementarische kraft und gleicht dem entsprungnen wasser, das
unablässig fortrinnt, der flamme, die einmal geweckt ströme von licht und
wärme aus sich ergiefst. Solang es menschen gibt, kann dieser lechzende
durst nach wissen, wie vielfach er gestillt wurde, nie völlig erlöschen.
Eigenheit der elemente ist es aber aller enden hin in ungemessene weite zu
wirken und darum verdriefst es die wissenschaft jeder ihr in den weg ge-
rückten schranke und sie findet sich nicht eher zufrieden gestellt, bis sie eine
nach der andern überstiegen hat. Ihrer unermessenheit zufolge scheint sie
nothwendig unpractisch in der meinung, dafs sie nicht auf irgend ein be-
stimmtes ziel einzuengen, sondern der guten fabel ähnlich statt auf einzelne
nutzanwendungen vielmehr auf jeden nutzen gerecht und bei aller gelegen-
heit diensam ist. Dieser reiche unabschliefsende gehalt der wissenschaft
äufsert sich auch darin, dafs aus ihrem scholse zweige und äste, wie aus der
pflanze entspriefsen und treiben, die sich bald ihr neues gesetz schreiben
und dann gesondert als einzelne wissenschaften neue frucht bringen. das
beispiel der vergleichenden sprachforschung soll mir hier zu statten kommen,
die in unsern tagen, in gegenwart und vor augen dieser academie selbst, sich
eignen weg gebrochen hat, der zu ganz andern ausgängen führt als den von
der alten philologie verfolgten. denn während diese sich nur der classischen
sprache bemächtigte und in deren umfang meisterin war, muste die compara-
tive grammatik ebenwol alle rohen, von jener über die achsel angeblickten
idiome und alle halbgebildeten sprachen in ihren kreis ziehen, wodurch sie
zu ergebnissen gelangte, von denen früher keine ahnung war. Ich scheue
mich nicht hinzuzufügen, dafs in gleicher weise dem betrieb der classischen
mythologie, die sich zur seite unbeachtet liegen liefs was von mythen sagen
und bräuchen aus dem lebendigen volksmunde des gesamten heutigen Euro-
pas im überschwank zu sammeln steht, bald auch eine vergleichende sagen
forschung sich erzeugen werde, deren ernste resultate nicht blofs einigen
regeln zum correctiv dienen können, die aus dem griechischen und römi-
schen alterthum bisher geschöpft und zwar reichströmend, doch allzu einsei-
tig abgeleitet waren.
Fragt es sich nun aber im allgemeinen nach dem boden, wo jede ein-
zelne wissenschaft wie alle zusammen wurzeln, was sie zeuge, nähre und
sättige? so wird beständig auf eine innere und äufsere ursache zu weisen sein,
über schule universität academie. 157
die fast unzertrennlich in einander greifen und kaum ohne einander zu denken
sind, ich meine den trieb des lernens und lehrens. Auch sind beinahe in
allen zungen bedeutsam die wörter des lernens und lehrens (deren sammlung
ich anderswo mittheilen werde) unmittelbar von einander gebildet, und ent-
weder wird das lehren als ein übertragen des gelernten, als ein wissen machen,
oder das lernen als ein gelehrtwerden und sich selbst lehren, überhaupt aber
als ein weise und gewis werden erfafst. Wer nun wollte, sofern man beide
fähigkeiten getrennt abwägt, nicht dem lernen den rang lassen vor dem leh-
ren? wie dem hören ein innerer sinn des vernehmens, dem sprechen ein
denken, dem singen ein dichten, mufs nothwendig dem lehren ein lernen
voraus gegangen sein. im lernen waltet unschuldiges behagen und gröfsere
freiheit; die lehre erscheint im geleite einer von ihr unzertrennlichen und
dem freien wissen eintrag thuenden autorität. je mehr der mensch lernen
kann, desto gelehrter mag er werden, nicht aber gilt das umgedrehte, dafs
je mehr er gelehrt werde, er desto mehr auch lerne, und blofser gelehr-
samkeit haftet ein nebenbegrif des angelernten bei, während die eigentliche
wissenschaft vorzugsweise aus sich selbst hervor gestiegen ist. das lernen ist
findend und schöpferisch, die lehre nur festigend und gestaltend; nimmer
würde sogar die treflichste lehre ihr werk verrichten, träte ihr nicht aus dem
lernenden ein empfängliches und mitfruchtendes verständnis gegenüber, was
der dichter in den schönen worten anerkennt:
erquickung hast du nicht gewonnen,
wenn sie dir nicht aus eigner seele quillt.
Menschlich aber ist es dafs beide, lernbegier und lehre in wechselwirkung
zusammen treten, und streng genommen gibt es darum weder autodidacten,
noch solche die nur durch die lehre wissend geworden wären. wer sich in
waldes einsamkeit von aller menschlichen gesellschaft flüchtete, könnte
immer nicht umhin, die ihm selbst durch die sprache eingeimpften und vor
der zeit, wo er den entschluls zur absonderung fafste, gesognen vorstellungen
seinem beschaulichen nachdenken unter zu legen, geschweige jeder andere, den
einflüssen seiner mitlebenden willig hingegebne mensch. Alle mittheilung ge-
schieht in zwiefacher absicht, entweder will der mittheilende beifall oder tadel
über das mitgetheilte vernehmen, oder er will es auf andere übertragen und
nur diese letzte richtung heifst lehre im eigentlichen sinn. im ersten fall läfst
er sein eignes forschen eine probe bestehen, die er selbst anzustellen nicht
158 Jacos GrımMm
vermag; im andern fall fühlt der lernende sich von dem lehrenden entzün-
det, der lehrende durch das entgegenkommen des lernenden tiefer angeregt.
Ich kann jetzt die anwendung machen auf unsere drei anstalten. in
zweien, der schule und universität waltet die lehre, die academie ist von ihr
entbunden. die schule zeigt aber lehrzwang, die universität lehrfreiheit. Kein
schüler hat die wahl der lehre, er kann sich nicht aussuchen was er lernen
will, und der lehrer soll lehren, was im schulplan liegt. Der student hin-
gegen darf sich frei entscheiden für alles wozu ihn innere neigung trägt; was
diese freiheit einschränkt ist vom übel und verfälscht. Den professor bindet
bei seinen vorlesungen eine nothwendige rücksicht, ihren inhalt dem lehr-
zweck und den bedürfnissen der zuhörer anzupassen, und die alljährliche,
wenn auch noch so freie und unmechanische wiederholung kann quälend
werden oder gefahr laufen sich abzustumpfen. In der schule ist alles praxis
und zwischen schüler und meister eine grofse kluft, es gibt nur sachen die
jenem schwer, diesem leicht fallen. Auf der universität hat sich der abstand
mehr ausgeglichen, die fähigkeit des lernenden erhöht und der des lehrenden
genähert, welcher um so geneigter wird herab zu steigen und seiner lehrgabe
die eigne lernbegierde unter zu ordnen. Für den academiker ist, im gegen-
satz zum schulmeister und professor, die volle lust und mufse des lernens
hergestellt, er darf immer oben bleiben oder seine höchste formel ausspre-
chen, und nur das beispiel legt ihm eine wolthätige fessel an oder einen
zugleich seine innerste kraft stärkenden zaum. Schon nach dieser allgemei-
nen darlegung wird die academie oder der academische betrieb der wissen-
schaft als gipfel aller wissenschaftlichen einrichtungen erscheinen und wie die
universität über die schule ihrerseits über die universität hinaus ragen.
Bevor jedoch zur nähern entwickelung und begründung meiner sätze
im einzelnen geschritten werden kann, ist erforderlich erst einer andern bis-
her unerwähnten und grofsartigeren erscheinung zu gedenken, als schule,
universität und academie zusammen genommen sind, einer anstalt, die zu-
gleich über lehre und lernen ihre wiewol erschütterte, immer noch unge-
brochne gewalt behauptet.
Das christenthum und die aus ihm hervorgegangene kirche bezeichnen
insgemein einen so durchdringenden wendepunct der geschichte wie aller ein-
zelnen richtungen unsers welttheils, dafs auch die fortpflanzung des mensch-
lichen wissens in allen seinen fugen davon berührt werden muste.
über schule universität academie. 159
Der heidnische glaube der alten welt wurzelte volksmäfsig, man könnte
sagen durch eine stille macht der überlieferung in den gemütern, und be-
durfte nicht für die grofse masse, nur für eingeweihtere der lehre und des
ausdrücklichen bekenntnisses; alles andere wissen wuchs neben ihm frei und
unabhängig empor. Die christliche kirche dagegen war von anfang und zu
allen zeiten eine lehrende, die nicht blofs ihren glauben streng einzuprägen,
sondern auch jegliche wissenschaft zuletzt auf ihn zu beziehen trachtete. je
straffer ihren zügel sie anzog, desto strenger pflegte sie erziehung und öffent-
lichen unterricht zu leiten und auf allen gebieten menschlicher erkenntnis im
hintergrund eine mauer zu errichten, vor welcher still zu stehen geboten,
die zu überschreiten untersagt war. Das christenthum that durch seine milde
wärme dem innern menschen vorschub, machte ihn also für das wissen an
sich empfänglich; allein die leiter der christlichen gemeinde hemmten und
beschränkten diese wolthätige wirkung, sie führten eine reihe dunkler jahr-
hunderte herauf, in denen sich keine freiere menschlichkeit entfaltete. Konnte
auch im geleite der kirche und von ihr geschützt die wissenschaft eine strecke
des wegs zurück legen; allmälich begannen beide sich zu scheiden und feind-
selig einander entgegen zu setzen. die wissenschaft will nur glauben was sie
weifs, die kirche nur wissen was sie glaubt. Nie hat es die kirche gescheut
und unterlassen aus ihrer geringschätzung alles menschlichen erkennens ge-
genüber den von ihr verfolgten zwecken ein hehl zu machen, und mit sol-
chem ausspruch, wenn er gälte, fiele die wissenschaft zu boden. Dem tode
verfallen sein ist unserm leib, nach dem ewigen grunde des wissens zu drin-
gen ist unserm geist voraus bestimmt. die kirche will aber allein beseligen
und bietet der menschlichen auf zahllosen wegen zur erkenntnis gottes vor-
strebenden natur trotz. Nach dieser durchgehends verfochtenen ausschliefs-
lichkeit der kirche musten alle von den heiden, die auch am schleier gelüftet
hatten, eingeschlagenen mittel wo nicht verkehrt, doch unzulänglich befin-
den, jede rückkehr zu den die vorwelt schon erregenden und befruchtenden
gedanken auf einem gewissen punct für ketzerei verschrien werden, bis end-
lich eine solche ketzerei zu ewiger ehre unsers vaterlandes durchschlug. Die
reformation verhält sich zur catholischen kirche fast wie das christenthum
seines stifters und der apostel zu dem glauben der eifernden jüdischen prie-
ster, und alle heilsamen folgen der glaubensreinigung musten der ganzen
8
welt, ja wider ihren willen und in weiterer ferne selbst der alten kirche zu
160 Jacos Grimm
gute kommen. Diese ihrem wesen nach unvollendete und unabgeschlossene
glaubensläuterung ist es, die auch, indem sie der wissenschaft ketten allmä-
lich sprengte, dem alterihum der Griechen und Römer seinen lange verhalt-
nen athemzug wieder löste. Man hat es ihr schwer aufgebürdet mit einem-
mal die politische einheit der Deutschen gebrochen und einen noch heute
klaffenden spalt zwischen brüdern hervorgebracht zu haben. Wessen war
aber die schuld, der vorschreitenden protestanten oder der zurückbleibenden
catholiken? von jeher galt forigang für des menschen würdiger als stillstand,
und es ist, wer genauer schauen und den finger der vorsehung erkennen will,
ein in Deutschland vorher gestörtes gleichgewicht eben dadurch auf andere
weise hergestellt worden. Da nemlich früher die herschaft der hochdeutschen
in Süddeutschland entsprungenen sprache aus bekannten ursachen auch über
Norddeutschland erstreckt worden war, scheint durch ein nach der andern
seite fallendes lofs die der südlichen hälfte unseres vaterlands mehr entzogne
geistige ausbildung deutscher sprache und dichtkunst eine zeitlang der nörd-
lichen überwiesen, damit auch für sie die spracheigenheit selbst gerechtfertigt
und erworben würde. Östreich und Baiern musten nach der glaubensver-
besserung, an der sie sich nicht betheiligten, die früher bei ihnen zu hause
wohnende und erblühte macht der poesie in norddeutsche landtheile aus-
ziehen sehn, von wannen erst nach und nach die wirkung wieder auf sie zu-
rück scheinen konnte. Die protestantische kirche jedoch, deren gröfsere
freiheit seit Luther der sprache und wissenschaft zu gewinn ausschlug und
ihnen beiden einen unverkennbar protestantischen character aufdrückte,
hat auch nach unerfreuenden rückschritten jene wiewol geminderte opposition
gegen die wissenschaft nie ganz aufhören lassen. Wenn einmal die gesamte,
catholische wie protestantische kirche zu ruhigem vollbesitz ihrer menschen-
beglückenden kraft gelangen, ihr glaubens und sittengesetz auf eine geringe
zahl einfacher gebote beschränken wollte und darüber hinaus jeden menschen
mit sich selbst und seinem gewissen, wie es die duldsamen alten thaten, fertig
werden liefse; so brauchte sie nicht länger proselyten zu werben, nicht mehr
liebe und hafs aus demselben gefäfs zu gielsen, und wäre der in vielen zeit-
altern umsonst erschollenen, endlich abgenutzten klage über die sündhaftig-
keit und den verfall der welt enthoben. Je mehr sie sich aber dieser wahr-
haft menschlichen, jene kluft allein heilenden richtung zukehrt, in derselben
über schule universität academie. 161
mafse werden sich auch einmal alle fragen nach unsrer besten erziehung
und wissenschaft vereinfachen, alle mittel dazu erleichtern. Jetzt deckt uns
den himmel noch ein grofses stück gewölke.
DIE SCHULE.
Bei der schule, von derich nun anhebe, kann nicht umgangen werden
eine niedere und höhere zu sondern, das darreichen der ersten milch alles
unterrichts von einer zubereiteten festern nahrung. Während die höhere
unter uns in blüte zu stehen und ihr rechtes mals fast zu erfüllen scheint,
erblicken wir den stand der elementarschule heutzutage sehr unbefriedigend
und verworren.
Diese niedere schule ist allgemeine spenderin einer lehre ohne unter-
schied, die heerstrafse für alle kinder, gleichsam das gröbste sieb, durch
welches deren frühste anlagen gebeutelt werden.
Mufs denn der mensch zu schule gehen? das insect, sobald es aus der
larve geschloffen ist, reckt einige augenblicke seine flügel und schwingt sich
dann leicht und gewandt in die lüfte. Zwar heifsts der vogel lehre seine
jungen fliegen, der adler führe sie der sonne entgegen, was doch die natur-
geschichte unbestätigt läfst. Wer lauscht wird gewahren, wie die flücken,
dem flaum entwachsnen nestlinge eigenmächtig ihr gefieder rühren und nach
geringem flattern mit den alten um die wette ihre bahn durchschneiden.
Dem anfangs unbeholfnen, langsam gedeihenden, zum bewältiger aller thiere
und der ganzen welt ausersehnen menschen stärkt sich dennoch jede leibes-
kraft von freien stücken und bedarf nur selten des gängelbandes. Einfache
speise bringt ihn empor und fast mit der fülse erstem treten auf den boden
beginnt ihm auch seine wunderbarste, dem thier versagte, dem erwachenden
denkvermögen innig verwandte fähigkeit, die der sprache, wie anzuwach-
sen.(!) Gleich dem vernommenen wort haftet sodann in des kindes reinem,
unversehrtem gedächtnis alles was es eltern, geschwistern, nachbarn abzu-
sehen oder abzuhhören vermag mit der schnellen aber zähen gewalt des
beispiels. Wie nun, seit das kind den tag von der nacht, gutes von bösem
unterscheidet, sollen sich ihm nicht auch tugend und sitte gleich handgriffen
(') Wenn das kind laufen lernt, lacht es, wie die menschliche natur überhaupt, sobald ihr
schweres gelungen ist, still lacht; zwischen dem vermögen zu lachen und zu sprechen besteht
aber analogie, und beides ist den thieren unyerliehen.
Philos.-histor. Kl. 1849. X
162 Jacos Grimm
einüben, die vor seinen augen gemacht werden? wie der vater sein söhnlein
die rechte hand gebrauchen lehrt, ihm die zahlen an den fingern vorsagt,
wird er auf der stelle lüge und ungehorsam an ihm strafen und ihm bei jedem
anlafs den namen gottes mit ehrfurcht aussprechen. Des lernens kraft eilt
auch hier schon der lehre zuvor und reicht über sie hinaus, dem kind wächst
die seele von innen, der leib von aufsen, und das ist die schönste, leichteste
und sicherste erziehung, die dem sich öfnenden und faltenden verständnis
und fassungsvermögen des kindes von eltern und hausgenossen unvermerkt
und ungesucht dargeboten wird.
Der ackermann nimmt seinen sohn mit aufs feld, der schiffer aufs
wasser, der hirt auf die weide, und läfst ihn erst kleine geschäfte ausrichten,
über welchen er allmälich auch die schwereren lerne. Wo stand und lebens-
art sich wenig oder nicht verrücken, ist nichts natürlicher als ein so unmit-
telbarer übergang der gaben von vater auf sohn, von mutter auf tochter,
und den sich ablösenden geschlechtern alle wesentliche unterweisung dadurch
gleichsam von selbst verliehen.
Lafst aus irgend welchem grund ein mädchen die schule nicht besu-
chen, sondern daheim unter dem eindruck der eltern und ihres umgangs auf-
wachsen, und seht zu, ob es nicht mutterwitzig, lebendiger rede kundig,
wolgeartet und haushältig werde vor allen schülerinnen, die sich mit man-
chem geplagt haben, was sie ohne schaden wieder vergessen können.
Hiermit aber soll blofs der eingebornen anlage des menschlichen
geistes, die es allen vorbereitungen beinahe gleich thun und sie sogar über-
holen kann, ihr recht geschehen, keineswegs die heilsamkeit oder das be-
dürfnis der schule unter gesitteten und gebildeten völkern, die der einfachen
lebensweise ihrer vorzeit längst entrückt in gemischte und vielfach verwickelte
verhältnisse der gesellschaft eingetreten sind, verabredet werden.
Es ist für eltern wie für kinder unentbehrliche wolthat, dafs öffent-
liche anstalten bestehen, denen mit vollem vertrauen ein grofser theil der
erziehung überlassen werden könne. Nicht allein entfernen die eltern den
lärm und die unstille der in die schule abgegebnen kinder dadurch aus dem
haus, sei es auch nur um stunden und halbe tage lang, wie mütter sagen,
die müle abzuschützen, und auf das geräusch ruhe eintreten zu lassen, deren
sie für ihre geschäfte und verrichtungen bedürftig sind; der hauptgrund,
und der natur der dinge gemäfs ist es, dafs gleichfalls das kind aus dem
über schule universität academie. 163
weiteren kreise des zerstreuenden hauses mit andern gespielen in engere,
stillere, fruchtbar zum eifer weckende gemeinschaft unter aufsicht eines leh-
rers gesammelt werde, der die angefangne und daneben waltende hauszucht
in geregelter ordnung fortseize und erhöhe. Welch süfser lohn für ihn alle
keime und knospen der unschuldig vordringenden kinderseelen in ihrer
manigfaltigsten gabe vor sich auf der bank zu haben, zu betrachten und lieb-
reich zu heben.
Solch ein lehrer, wie die amme ihre brust dem säugling hinhält, flöfst
dem knaben die noch leichte speise des ersten wissens ein, nährt, erzieht,
baut auf und meistert ihn in allen dingen. (')
Nichts besser zu statten kommt ihm dabei als die unersättliche wifs-
begier der an des meisters munde hängenden, ihn einem könige gleich hoch-
haltenden jugend selbst; doch hat diese freudige lernfähigkeit auch ihre
schranke, die eingehalten sein will. So unverdrossen der schüler lernt, er-
sehnt er zugleich die ausschlagende, ihn der vier engen wände entlassenden
und zur freien luft fördernden stunde. Mit welcher empfindung das kind
seine bürde auf und ab lade, sagt in einer unnachahmlichen stelle, wo er
die lust der knaben in die schule und aus ihr zu gehn der lust liebender von
und zu einander zu gehen treffend entgegen setzt, Shakespeare:
love goes toward love as schoolboys from their books,
but love from love, toward school with heavy looks.
Und von Tristan redend, der aus der freiheit seiner aufblühenden jahre in
des meisters hand gegeben wurde, hat schon Gotfried dasselbe gefühl in
den worten ausgedrückt:
der buoche l&re und ir getwanc
was siner sorgen anevanc.
Eines schulmeisters leben, wenn er genügsam sich bescheidet, nicht
über seinen stand hinaus strebt, könnte das friedlichste und glücklichste von
der welt sein. Jahr aus jahr ein unterweist er in hergebrachtem gleise, sieht
immer frische gesichter um sich versammelt und waltet in deren mitte beinahe
unumschränkt, denn in keiner andern lage des lebens wird dem vorgesetzten
(') Daher erziehen, unterrichten, instruere. Dals erziehen von der amme entnommen
wurde, lehrt eine stelle Varrons bei Nonius 5, 105: educit obstetrix, educat nutrix, instituit
paedagogus, docet magister. auch praecipere gilt von diesem ersten unterricht. Unsre alte
sprache nannte den lehrer magazoho d. i. qui filium educat.
X2
164 Jıcog GRIMM
von seinen untergebnen so viel williger und unterwürfiger gehorsam bewiesen
wie ihm von den schülern. Nur mäfsig angestrengt sind dabei seine kräfte
und überall vermag er mit unbefangenster sicherheit aufzutreten. Wie man-
che seiner zöglinge schon nach wenig jahren ihm entschieden überlegen sein
werden, jetzt steht er ihnen allen noch riesengrofs und vorbild gebend.
Jene beständige wiederholung und der langsame schritt seines unterrichts
gleichen der geduld des landmanns, der viele sonnen wieder kehren sieht,
bevor die saat zur ernte reift, aber sie festigen ihm auch alles was er weils
und das bekannte docendo discimus lautet auf deutsch sinnlicher ausge-
drückt: ein tag ist des andern schulknabe. Stunden zur erholung, ruhe,
ja inneren ausbildung, wenn sie in ihm auftaucht, bleiben dem schulmeister
genug vergönnt; aber zufriedenheit mit seinem stillen lofs mufs ihm eigen,
alles sich überheben, aller aufwand fremd sein.
Das mittelalter hatte die ganze schule in die hand der kirche gelegt
und nur zu den geistlichen, oder wo es klöster gab, zu den mönchen giengen
die knaben, zu den nonnen die mädchen in unterricht. Mädchen empfiengen
fast nur im glauben und in weiblicher handarbeit unterweisung, knaben ward
eine reihe von jahren hindurch das sogenannte trivium pedantisch eingeübt,
denn auf diesem boden gerade ist eines begriffes ursprung zu suchen, über den
ich mich bei andrer gelegenheit hier ausgelassen habe. Hauptanliegen war,
dafs man die knaben alle glaubensartikel, ein dichtes bündel von gebeten
(deren nachplappern auch den erwachsenen das ganze leben hindurch auf-
erlegt blieb), etwas gesang und einzelne kirchliche dienstleistungen lehrte;
zum lesen oder schreiben brachten es nur weiter vorgeschrittene, ja verschie-
dentlich scheint diese kunst vorzugsweise frauen mitgetheilt worden zu sein.
Damals konnte die schule überhaupt nichts anders als ein abbild, einen ge-
schwächten wiederabdruck der geistlichkeit darstellen und hätte schon darum
alles was die kirche von sich wies ängstlich meiden müssen. Doch ist hervor-
zuheben, dafs die bettelmönche, wie sie insgemein auf das volk näher einzu-
wirken trachteten, auch von der kirche unabhängigere, wenigstens unbewust
nach dieser unabhängigkeit strebende volksschulen förderten und stifteten.
Weil aber keine zeit ganz ohne freiheit und licht sein kann, und die der
menschlichen natur inwohnende liebe selbst unbeholfnen die hand leitet;
wird es auch im mittelalter an freudigen schulmeistern und erziehern nicht
gemangelt haben, die es verstanden das schlummernde talent der kinder
über schule universität academie. 165
zu wecken und zu leiten, ich verweise nur auf die schilderung der erziehung
Tristans oder des fündlings Gregorius bei Gotfried und Hartmann.
Aller beschränktheit und geistesarmut der schule steuerte endlich zwar
die reformation, indem sie an den platz des mönchischen quadriviums so-
genannte humaniora (statt des stärkern positivs humana) einsetzte, die das
elassische alterthum neben der christlichen glaubenslehre aufrichteten. Nur
in den ersatz des freilich allzuwenig enthaltenden triviums wurde nunmehr
allzuviel gelegt und ein nüchtern überladner elementarunterricht gegründet,
der seinen pedantischen anstrich steigernd zugleich die strenge der zucht
schärfte. Nach wie vor blieb er dann halbgebildeten kirchendienern, küstern
und kantoren anvertraut, die wie man sich denken kann, nichts von dem
erliefsen, was in die zuziehung der knaben beim gesang und bei jeder andern
öffentlichen gelegenheit ihres amtes einschlug, so dafs in gewissem sinn auch
die evangelischen schüler fortwährend chorknaben, acolythen und psalmisten
der kirche waren; welcher brauch doch allmälich ermäfsigt und heute bei-
nahe erloschen ist. übung der musik und des gesanges muste zugleich die
herbe der schule mildern und erheitern.
Wenn im mittelalter diese elementarschulen der regierung des landes
gar keine ausgabe verursachten, kosteten sie auch in den nächsten jahrhun-
derten nach der reformation noch nicht viel. Den meisten ländlichen ämtern
pflegte vor alters ihr gehalt fast nur in naturalien ausgesetzt zu sein, die die
gemeinde lieferte, und am längsten konnte dieser gebrauch sich bei pfarrern
und schulmeistern fortpflanzen. Zu der ständigen, meistentheils geringen
besoldung des schulmeisters traten die schulgelder und andere von den eltern
der kinder entrichtete beiträge; wenn der vater seinen sohn dem lehrer zu
führte, brachte er ihm auch eine gabe von lebensmitteln. Ich entsinne
mich, in der schule, wo ich selbst den ersten unterricht empfangen habe, (')
und gewis damals noch in vielen andern, nahm jeder schüler des morgens
ein scheit brennholz für den ofen mit und warf es auf den haufen, wie bis
auf heute in Irland beim täglichen schulgang jedes kind sein stück torf unterm
arm trägt, das es zum vorrat des lehrers hinbringt. (?) Wer alle schul-
bräuche der vorzeit, die feste und freuden der kinder, aber auch die für sie
(') Zu Steinau, in der hanauischen obergrafschaft. der praeceptor hiels Zinkhahn.
(2) Irische sagen und märchen, zweiter theil. Stuttg. 1849. s. 461.
166 Jacos Grimm
bereit gehaltnen strafen sammeln wollte, könnte ein anziehendes buch davon
schreiben. Ich wünsche dem volk möglichst geringe abgaben, doch wie
almosen dem einschufs in armencassen sind auch schulgelder und collegien-
honorare der ihres abgangs wegen nöthig werdenden erhöhung der besoldung
für schulmeister und professoren aus staatsmitteln vorzuziehen, schon aus
dem natürlichen grunde, weil die unmittelbar bezahlte schule und vorlesung
immer fleifsiger besucht zu werden pflegt. wer sich ein buch gekauft hat
liest es weit genauer, als der es leihen kann.
An der einfachen althergebrachten stellung der landschulmeister haben
die einflüsse der neueren zeit viel gerüttelt und manches verdorben, nicht
ohne misgriffe der ihnen vorgesetzten behörden, die mehr aus der schule
machen wollten, als ihr zu sein gebürte. Der erste jugendunterricht ist von
natur so beschaffen, dafs er einen niedern stand halten mufs und sich nicht
gewaltsam in die höhe schrauben läfst,; über das mafs gehende ansprüche
schaden hier nicht blofs den schülern sondern auch den lehrern. Soviel man
nun für sie bedacht gewesen ist, waltet nirgends tieferes misbehagen als ge-
rade unter unsern schulmeistern, wie sie nicht einmal gern heifsen mögen;
sie ziehen dem mehrsagenden alten namen den weniger enthaltenden vor.
Die Frankfurter nationalversammlung sah sich mit bittschriften und anträgen
der schullehrer fast überflutet, die höher und unabhängiger gestellt zu werden
forderten und gern das ganze unentworfne reich in ein schulregiment umge-
wandelt hätten. Es ist auch nicht unbekannt, welcher zusammenhang zwischen
unruhigen schullehrern, communisten und proletariern fast durchgehends statt
fand und nicht ohne gefahr für die gemeinde bleiben konnte; den schlüpfri-
gen abweg selbst betretend trugen sie eifrig dazu bei das volk auf ihn zu ver-
leiten. Dem grofsen haufen pflegt ein grund, dessen sie zu geltendmachung
ihres verlangens sich bedienen, scheinbar einzuleuchten. Da ihnen, sagen sie,
das edelste, kostbarste gut aller menschen, die kinder und deren geistige ent-
faltung empfohlen sei, könne man sie nicht gering wie handwerker seizen, die
nur dem leiblichen wol fröhnen, vielmehr amt und beruf müsse ihnen die an-
sprüche wahrer staatsdiener auf anständiges auskommen, genügende versor-
[e)
sung im alter und witwengehalte sichern. Hier aber wird offenbar der werth
uns
dessen, dem man einen dienst leistet, mit dem werthe des dienstes selbst
verwechselt: es ist nicht abzusehen, warum wir milch und brot für die kin-
der theurer einkaufen sollen als sie jedem alter gelten oder so theuer wie andre
über schule universität academie. 167
schwere speisen. Die fähigkeit, die wir vom schullehrer fordern und die er
uns aufwendet, scheint mir an sich unter der eines ausgezeichneten sinn-
reichen handwerkers zu stehen, der in seiner art das höchste hervorbringt,
während der lehrer ein fast jedem zugängliches mittelgut darreicht und sein
talent leicht überboten werden kann. Wir sehn nicht selten männer, die in
andern ständen verunglücken, sich hintendrein dem lehrgeschäft als einer
ihnen noch gebliebenen zuflucht widmen, ungefähr wie alte jungfern, die
nicht geheiratet haben, zu kleinkinderbewahranstalten übertreten. Dies soll
keine herabsetzung des lehramtes ausdrücken, sondern klar machen, wie es
durch eine verhältnismäfsig niedre kraft bedingt sei. Man hat auch geringere
leistungen zu achten, die aus reinem willen hervorgehen und wird sie dop-
pelt hoch anschlagen, wenn sie für einen uns theuern gegenstand erfolgten.
Das heute oft und mit heiserem schrei erschallende begehren voller freiheit
des unterrichts, die vielen zur freiheit ausschlagen würde nicht zu unterrichten
noch unterrichtet zu werden, ist so vieldeutig, dafs ihm wieder alle eigentliche
bedeutung entgeht. Wird es von einer kirchenpartei erhoben, die herschen
möchte da wo sie über druck klagt, so kann sie sich in der elementarschule am
leichtesten beruhigen, falls sie nur die natürliche schranke in glaubenssachen
einhält. Zu wünschen aber, dafs die lehrgegenstände eher verringert als
ausgedehnt werden mögen, wäre nicht unbillig und bezeichnete keinen rück-
schritt. Die wahl der lehrer würde ich den umständen nach bald vom staat,
bald von der kirche, bald von der gemeinde ausgehen lassen. Was ich von
den bestehenden schulseminarien in erfahrung gebracht habe macht mir ihren
nutzen mehr als zweifelhaft, sie erfüllen den angehenden lehrer mit kennt-
nissen, die ihm in der schule hernach nicht frommen; ist es milch und brot
des glaubens und der vaterlandsliebe, was dieser noih thut, so werde auch
nicht viel anders darunter gegossen. Über die nothwendigkeit des lesens und
schreibens für alle kinder ohne ausnahme ist freilich längst nicht mehr hin-
weg zu kommen, auch wenn man einsieht, wie viel die angeborne sprach-
regel unter dem schreiben in der schule verdorben wird.
Deutschland ist ein wahres land der schulmeister, etwa wie Italien
und Spanien das land der geistlichen. Rechnet man für ganz Preufsen auf
15 millionen menschen 30000 schulmeister, so kommt einer auf 500 ein-
wohner, unter welchen im durchschnitt 50 schulbesuchende kinder voraus
zu setzen sind. Wenn nun die übrigen deutschen länder fast noch einmal
168 Jacos Grimm
so viel annehmen lassen, entspringt ein heer von 50000 — 60000 lehrern, dem
schwerlich ein gleich grofses in andern ländern derselben bevölkerung zur
seite treten kann und dessen sold den staatshaushalt mächtig belastet. In die-
ser menge ist sicher auch eine grofse zahl von männern, die ihren beruf getreu
erfüllen und die ihnen aufgetragne erziehung der jugend gewissenhaft leiten;
als nebengeschäfte für sie eignen sich vorzugsweise musik, gartenbau, ver-
edlung des obstes und bienenzucht, aus welchen allen sie treffende gleich-
nisse und bilder für das gelingen ihrer hauptarbeit schöpfen mögen. Zu
gewissen, in der gegenwärtigen lage unsrer literatur unumgänglichen nachfor-
schungen, ich meine das sammeln der sprache und sage des gemeinen volks,
welche vertrauten umgang mit diesem und völlige eingewohnheit im lande
voraussetzen, taugte niemand besser als verständige schulmeister.
Fast aller tadel, der an den niedern schulen, wie sie heute beschaffen
sind, haftet, schlägt um in lob, wenn ich auf die höheren, heifsen sie nun
gymnasien, Iyceen oder noch anders, zu sprechen komme. Vorzugsweise
zwar für weiter schreitende, aus dem grofsen haufen bereits geschiedne jünger
der wissenschaft gegründet werden sie doch auch noch von andern schülern,
die demnächst in das gewerbe oder den kriegerstand eintreten, vortheilhaft
durchlaufen. Hier athmet nun das meiste, seit der kirchenverbesserung,
classisches alterthum, und nicht blofs bei den protestanten, auch den ca-
tholiken, die ofner nachahmung ausweichend ganz in der stille sich manche
einrichtungen unsrer gymnasien löblich angeeignet haben.
Ich darf mich darüber kurz fassen, da die art und weise dieser höhe-
ren unterrichtsanstalten vielseitig und mit befriedigender klarheit auseinander
gesetzt worden ist. Unserm volk, das aus ihnen grofse vortheile gezogen
und tüchtige männer in menge gewonnen hat, sind sie ein gerechter und
bleibender stolz.
Doch fallen mir unter meinem gesichtskreis einige drohende anzeichen
ins auge, die sich gegen den unveränderten bestand dieser schulen aus der
ferne erheben. unterliegen ja, den umständen nach, alle irdischen dinge
dem wechsel.
Ein wahres unheil scheint hier die immer steigende verlegenheit brin-
gende überfülle der lehrgegenstände, da sich in allen wissenschaften stoffe so-
wol als einsichten und ergebnisse häufen. Wie viel weniger von der geschichte
hatte noch im sechzehnten jahrhundert ein jüngling zu erfassen. er lernte
über schule universität academiße. 169
die hergebrachten vier monarchien, und brauchte eigentlich nur in der rö-
mischen, allenfalls griechischen geschichte auf genaue kunde bedacht zu sein.
In die nebel der einheimischen alten drang er gar noch nicht ein, wie viel
neues, welthistorisches hat sich seitdem zugetragen und ist, bei erleichterung
aller mittel des aufbewahrens, bis ins einzelne auf das reichste verzeichnet
worden; von geschichte der literatur und dichtkunst, wie sie gegenwärtig
angebaut werden, hatte man ehmals nicht die ahnung. Auf dem felde der
philologie war der lernbegierigen jugend aufser den beiden classischen spra-
chen nur noch die hebräische dargeboten, aber auskunft über die neueren
und vollends die muttersprache trat erst viel später hinzu, geschweige dafs
auch die kenntnis jener classischen sich beständig vertiefte und in ihnen nun
ein ungleich ansehnlicheres material zu bewältigen bleibt. Nicht anders hat
die fülle geographischer entdeckungen zugenommen, und die naturwissen-
schaften, deren eingänge schon in der schule aufgethan werden sollen, brei-
ten allenthalben das weiteste feld aus. Wie natürlich, dafs ehmals alle kraft
unzersplittert dem classischen studium zu statten kommen und alle praxis in
ihm gefördert sein konnte.
Will oder mufs man, da die zeit der lehre wie des lebens immer kurz
gespannt ist, dem classischen alterthum einen noch gröfsern theil des bisher
innne gehabten raums abdringen, als unvermerkt schon geschehen ist, und
dem neuen wissen eingeben? es kann von einsichtigen, redlichen lehrern be-
zweifelt werden, ob der erlittene verlust durch gewinne auf der andern seite
sich ausgleiche.
Wir haben uns alle lang in das alterthum eingelebt und sind mehr als
wir selbst wissen mit ihm verwachsen, so dafs beim losreifsen von ihm stücke
der eignen haut mit abgehen würden. Es war uns stets ein weiser und siche-
rer führer, an dessen starkem arm wir uns aus der eignen barbarei empor
gewunden haben. Die classischen sprachen sind uns mittel und handhabe
für unzähliges, fast unberechenbares geworden, sie wecken sinn, geist und
herz zusammen und flöfsen uns kraft und tugend in ihren reichen denkmälern
ein. ‘Was soll aufser ihnen gelesen werden? gewährt halben, um nicht zu
sagen vollen ersatz ihrer natur, frische und würde irgend eine der neueren
sprachen? in dieser classischen literatur ist uns vernunft, freiheit und poesie
gegeben. Beide, die lateinische, noch mehr die griechische sprache gelang-
ten zu hoher ausbildung und festigung, als ihre form noch sinnlich stark und
Philos.-histor. Kl. 1849. %
170 Jacos Grimm
unabgeschliffen war, so dafs leibliches und geistiges element auf das gün-
stigste einander vermittelten und erhöhten. die gewalt reizender for-
men erzeigt sich in einer blüte der dichtkunst und stärke der prosa,
wie sie nur aus der ungehemmtesten natur des volks hervorgehn konn
ten. Wir Deutschen um der edlen, reichen form auch unserer zunge
zu gewahren, müssen immer erst in den eng ausgebauten schacht unsrer
geschichte fahren. Unser heutiger sprachstand kündigt uns lauter ver-
luste an, und der bildende wurf war ihm nur in zwei absätzen, das letzte-
mal allzuspät gelungen. Man sagt, dafs deutsche sprachregel nicht überall
nach lateinischer zu ermessen sei; gleich wahr ist, dafs wir selbst feinheiten
unsrer eignen sprache erst an den classischen fühlen und erkennen lernen.
Wie aber mit der form, ist es auch mit dem ganzen gehalt dieser alten spra-
chen beschaffen, und wo wir eine neue untersuchung in ihnen anheben, oder
eine längst begonnene tiefer dringend wiederholen, öfnet sich alsbald ein
weiter kreis und grofser zusammenhang, während in unsrer deutschen ein-
heimischen die meisten verhältnisse schmäler gezogen, die ergebnisse darum
sparsamer und trockner bleiben.
Allein abgesehen von diesem gegensatz des classischen wissens zu dem
unclassischen, ja trotz ihm, beginnt dennoch das volksgefühl immer unver-
haltner und unverhaltbarer sich zu regen. man steigere alles, was sich zu
gunsten des classischen studiums sagen läfst, noch höher, ein zug von unna-
tur liegt darin, dafs ein vaterlandliebendes, ich will hoffen einmal stolzeres
volk seine erste anschauung und späteste weisheit aus dem gefäls einer frem-
den sprache, und sei sie die herlichste, schöpfen solle. Selbst den Römern
schlug es nicht zum vortheil aus, dafs der erziehung ihrer höheren stände
wenigstens griechische unterlage gegeben und jahrhunderte hindurch griechi-
sche neben römischen werken zu Rom geschrieben wurden, welche ausbrei-
tung griechischer sprachesund denkweise sicher auch den auszug des reichs
nach Byzanz, wo nicht herbei geführt, wesentlich erleichtert und beschönigt
hat. Nimmermehr wird sich in der welt das wunder wiederholen, dafs die
sprache eines untergegangnen volks wie des römischen (dessen nachfolger
man in den romanischen keineswegs erblicken darf) sich zum zweitenmal er-
gossen habe und als todte sprache forthersche. Ich lese lateinisch geschrie-
bene reden lebender gelehrten mit der empfindung, dafs keine andre zunge
der erde sich zu so bemessenem, gedrungenem und wollautendem ausdruck
über schule universität academie. 474
hergäbe, dafs nirgend sonst so anständig, reingewaschen und wolgefällig ein-
hergeschritten werden könnte; doch zugleich mit dem gefühl, gewisse stellen
und wendungen würde die heimische immer mit gröfserer wärme und wahr-
heit ausstatten, weil sie bei jedem zug sich ihrer lebendiger bewust bleibt
und dies bewustsein in anwendung eines fremden idoms unausbleiblich sich
erkältet. ein heutzutage latein schreibender oder redender ist in gefahr ge-
rade da aus dem ton zu fallen, wo ihm die sichtbarste fülle classischer re-
densarten flielst und zu gebot steht.
Wir gewahren nicht einmal, sondern zehnmal, dafs alle erfolge, auch
in der literatur, am ende doch nur mit eignen waffen erfochten sein wollen,
und führt uns etwas diese wahrheit zu gemüt, so ist es die geschichte der
deutschen dichtkunst seit hundert jahren. Kein zweifel dafs, als eine fri-
schere bewegung sich zu äufsern anfieng, sie damals von deutschen Hellenisten
und Romanisten am lautesten in zweifel gezogen und verspottet wurde. vor
ihren augen lag neben jener classicität die einheimische barbarei so dicht
dafs ihnen, bei der ehrlichsten meinung, im voraus anstofs geben muste,
was nicht lange hernach glänzend sich bewährte. Jetzt besitzen wir gedichte
von Göthe, deren gehalt wie form in einer lateinischen oder griechischen
übertragung ungefähr ebenso untergienge oder geschwächt erschiene, wie die
eines classischen gedichts in jeder verdeutschung, weil nur ein in der dich-
terseele selbst aufgestiegnes original originell zu bleiben und allen gedanken
und worten freie gewähr und vollen einklang zu lassen vermag. Das ist der
auf allem vaterländischen ruhende segen, dafs man mit ihm grofses ausrichten
kann, wie beschränkt seine mittel scheinen oder gar seien; ein stück haus-
backnen brotes ist uns gesünder als der fremde fladen. darum hatten begabte
dichter des sechzehnten jahrhunderts z. b. Eobanus Hessus ihre kraft ver-
geudet als sie zur lateinischen sprache griffen und ihre ungebildete heimische
zu bilden verschmähten; deutsche verse von ihm würde man noch heute le-
sen, seine sylvae, bucolica und heroides liegen in vergessenheit. Zuletzt wird
jeden dichter und jedes volk dıe geschichte nicht danach beurtheilen, was sie
sich von andern anzueignen, nur danach was sie selbst hervor zu bringen im
stande waren.
Wende ich diese gedankenfolge an auf die uns vorliegende frage, so
wird zu antworten sein, dafs die zeit zwar uneingetreten scheint, in welcher
die classischen sprachen auf der schule da weichen müssen, wo die einhei-
Y2
172 Jacog Grimm
mische vorrückt, einzelne vorboten diesen rückzug gleichwol ankündigen,
wohin die öffentlichen deutschen reden auf der universität bedeutsam gehö-
ren. Entscheiden wird ihn erst, dafs es unserm volk künftig gelinge eins
und mächtig zu werden, und der deutschen poesie ein ins volk gedrungnes
drama zu theil geworden sei, wodurch allein wir einen hinterhalt erlangen
können, wie die Engländer an ihrem Shakespeare, selbst die Franzosen
an ihren sogenannten classikern haben. Dann glaube ich wird der augenblick
herannahen, dafs auch die deutsche sprache dem ganzen volke zu fleisch und
blute gehn, und nicht länger nur verstolen und matten niderschlags, sondern
mit vollem segel in alle unsre bildungsanstalten bleibend einziehen darf.
dann kann jeder practische gebrauch der classischen sprachen und alle zu-
rüstung darauf erlassen bleiben, ihr historisches studium desto angestrengter
und so zu sagen uneigennütziger betrieben werden; wie sollte es je erlöschen?
Bevor aber jene mächtigen ursachen eingreifen, mögen unsre dieser neuerung
abholden schulmänner ihre furcht sinken lassen. Nur dafs die auch ihnen
durch noch geschlofsne thüren fühlbare erhöhung des nationalen elements
gegenwärtig schon den gewinn getragen hat, uns der geschrobnen, dem clas-
sischen stil nachgeahmten phrasen in deutscher schreibart beinahe zu enthe-
ben: was lateinischem oder griechischem munde und der reichen flexions-
fähigkeit dieser sprachen gemäfs ist, klingt bei abgang solcher redefugen dem
Deutschen unnatürlich und gezwungen.
8
Eine weitere, wiewol auch auf andere wissenschaften gerechte wahr-
nehmung hat sich mir doch an der philologie zunächst aufgedrängt. Bei dem
blühenden zustand aller philologischen disciplinen in Deutschland und bei
der grofsen zahl befähigter aus den höheren schulen vollgerüstet entlassener
jünglinge mufs befremden, dafs mit dieser gelungenen anstrengung der ent-
springende wissenschaftliche vortheil aufser verhältnis zu stehen scheint.
unsere gymnasien, wofern mir der vergleich nicht übel ausgelegt wird, er-
ziehen schönes glänzendes laub in fülle, lange nicht so viel früchte als dies
laub neben sich tragen könnte. die meisten philologen erzeigen sich so vor-
bereitet, dafs man darauf gefafst sein sollte, aus ihrer hand nun die wichtig-
sten bereicherungen der grammatik, critik und geschichte hervor gehen zu
sehen; allein was leisten sie hernach? in der mehrheit werden sie brauchbare,
aber bei der mittleren stufe beharrende lehrer, denen es fast genügt die wis-
senschaft auf dem standpunct zu erhalten und fort zu überliefern, auf welchem
über schule universität academie. 173
sie ihnen zugeliefert wurde. auch diese überlieferung hat ihren grofsen
werth, ist aber nicht unser letztes ziel. Ich möchte unsere statistiker, die
für rathsam erachten alle dinge zu zählen, einmal auffordern in dürren zah-
len zu ermitteln, wie viel tüchtige gelehrte aus schulen von grofsem, oder
denen von geringem ruf, aus den leuchtenden anstalten unsrer gegenwart
oder manchen dunklen vergangner zeit hervor gegangen sind. Auch hier,
dünkt mich, würde mein glaube sich bewähren, dafs der trieb des lernens
heftiger und wiksamer sei als der erfolg der lehre. Man hat aber die reiche,
an und für sich voll genügende privatgelehrsamkeit ausgezeichneter lehrer zu
unterscheiden von einer auf die gymnasiasten entweder nicht angewandten
oder an ihnen verschwendeten. Ist es nun undenkbar, dafs die hohe begabt-
heit eines meisters keine funken schlage an den schülern, die er behandelt;
so erkläre ich mir das ausbleiben nachhaltiger wirkungen bei der gröfsten
zahl derselben aus einem stillstehnbleiben vor der allzu gewaltig aufgetretnen
lehre und aus einem mehr begeistert scheinenden als begeisterten schwören
in die worte. ich halte den wahren enthusiasmus hoch, wo er nur herscht,
doch der stille wachsthum des lernens, das gefühl innerer fortschritte scheint
vorzugsweise abhängig von einem anspruchlosen zuschnitt der lehrgegen-
stände, wodurch ich mir wenigstens deutlich zu machen suche, dafs aus ge-
ringen gymnasien wie aus kleinen universitäten eine gleich ansehnliche wo
nicht stärkere zahl gelehrter männer geschritten sei. denn beiderlei anstalten
gewähren alle grade des wissens, deren ein lernender bedarf, und aus der
finstere bricht das licht hervor.
Es sei noch eine bemerkung über die classischen philologen hier nicht
zurück gehalten. vermöge ihrer vertrautheit mit dem alterthum der freiheit
und einer unbevorzugten stellung der menschen an sich zu gethan sind sie
gewis keine vertheidiger des heute unbeliebten, und es scheint fast entbehr-
lich gewordnen adelstandes. wie geschieht es, dafs sie so gern einen philo-
logischen stolz zeigen, der bessern grund hat als adelstolz, aber ihm doch
vergleichbar ist? keine unter allen wissenschaften ist hochmütiger, vorneh-
mer, streitsüchtiger als die philologie und gegen fehler unbarmherziger. Den
mafsstab der schule, auf welcher grammatische verstöfse für die schimpflich-
sten gelten und in andern aufgaben zurück zu bleiben entschuldigung findet,
räth uns der zweck des eigentlichen lebens an bei seite zu legen und nach
einer gleichmäfsigen gerechtigkeit und milde in allen dingen zu streben.
4174 JacoB Grimm
DIE UNIVERSITÄT.
Von der niederen zur höheren schule besteht ein oft unmerklicher
übergang, vom gymnasium zur universität kein fortgang, sondern ein sprung.
beide anstalten sind fast in allem anders, und nicht zu geringem schaden aus-
geschlagen ist es immer den gymnasien, wenn man sie zu universitätisch, den
universitäten, wenn man sie zu gymnastisch einrichten wollte.
Natur und wesen der universität sind in geistreichen abhandlungen wie-
derholt erörtert und so treffend beleuchtet worden, dafs ich mich auch hier
kurz fassen will und nur einzelne beobachtungen zufüge. Die geschichte der
letzten funfzig jahre wird bezeugen, dafs die universitäten immer ein heiliger
herd der vaterlandsliebe wie deutscher gesinnung waren und blieben; wenn
unsre feinde ihren ärger ausschütten wollen, so schelten sie unser edelstes
streben professoren politik und studenten renommisterei, wir aber kümmern
uns ibrer nicht und weichen keinen schritt vom rechten weg. das geschieht
oft in der welt, dafs die aus erkenntnis hervor gehende, den nicht wissenden
unglaubliche willenskraft unglimpf erleide.
Die universität hat ihren ersten im mittelalter empfangnen zuschnitt
oder anstrich viel weniger verwunden als das gymnasium seinen scholasti-
schen, von ihrer grundeinrichtung in facultäten an bis auf die allerjüngst,
unbillig und dem zeitgeist zum ärger aus der plunderkammer hervor gelangte
professorentracht.
Doch das meiste von diesem altfränkischen ist äufserlich und wird bald
einmal ganz abgeworfen sein. innerlich haben sich die deutschen universitä-
ten, den fremden gegenüber, frisch und in so sichtbarem fortschritt erhalten,
dafs jene nebendinge ihnen keinen abbruch thun, und sie aus sich selbst im-
mer neue kraft und lebensfähigkeit gewinnen.
Die universität, wenn schon zuerst entlehnt, ist eine eigenthümlich
deutsche pflanzung geworden, die auf fremdem boden nicht mehr so gedeiht.
hier treffen alle kennzeichen der deutschen volksart zusammen, innere lust
zur wissenschaft, eifriges beharren, unmittelbares nie ermüdendes streben
nach dem ziel mit hintansetzung
5
unvergleichliche combinationsgabe. aller andern lust vergessend sitzt der
eitler nebenrücksichten, treues erfassen,
deutsche gelehrte froh über seiner arbeit, dafs ihm die augen sich röthen und
über schule universität academie. 175
die knie schlottern (1); dem student ist dieselbe weise wie angeboren und es
bedarf für ihn keines andern antriebs.
Dieser anregenden und empfänglichen universitätszeit, gleich als hör-
ten sie nachher auf und dauerten nicht über das ganze leben hin, werden
vorzugsweise studien beigelegt. gegen das alte wort student verhält sich aber
das neue studierender fast wie zu schulmeister schullehrer. (?)
Die flut und ebbe der studenten auf der universität ist doch etwas an-
ders als der schüler zu und abgang auf dem gymnasium. das halb unfrei-
willige beugen unter die zucht des lehrers hat sich umgewandelt in ein ge-
wählteres verhältnis, das auf beiden seiten entweder näher anziehen oder
ferner abstofsen kann.
Mit wonne räumt der student die enge schulluft und tritt in sorglose,
fast ungezügelte gesellenschaft, heimlich ahnend dafs hernach im leben dieser
lust ein ende sei. die damals, gleich den auf der schulbank, geschlofsnen
freundesbünde überdauern alle späteren, wie das gedächtnis des alters am
festesten und liebsten haftet an dieser zeit.
Solche lust aber, solche aufheiterung brüderlichen zusammenwohnens,
scheint es mir, herschte vorzugsweise auf kleineren universitäten und hat sich
auf den grofsen schon gedämpft oder entfärbt, obschon hier andere, nicht
gering anzuschlagende vortheile entsprungen und zeitgemäfs gesichert wor-
den sind.
Der studierende jüngling fühlt sich plötzlich erstarkt und aller geistes-
kräfte mächtig. sein verstand und scharfsinn sind um kein haar anders als der
des mannes und greises; was ihm an übung abgeht und an erfahrenheit ver-
güten heiterer sinn und frische der gedanken in reichem ersatz. mit der #2:-
xia yaucu hat sich auch eine #04 vev, die zu mannesthaten befähigt, voll
eingefunden. Erstaunenswerth, dafs der mensch zwanzig jahre nachdem er
in die welt geboren wurde, den gesetzen des geistes und lebens nach zu spü-
ren und die uralten bahnen der gestirne zu überrechnen vermag.
Mich hat, als ich jung war, manchmal verletzt, wenn man der er-
wachsnen jugend an ihrem recht abziehen wollte, und nun ins alter getreten
(') Studierte, daz ime daz gebeine slotterte in siner hüt. myst. 210, 7.
(2) Ist doch student ein so deutliches participium von studere wie studierender von stu-
dieren, und niemand sucht für docent, practicant, soldat ein vornehmeres docierender, practi-
eierender, exercierender.
176 Jacog GrImM
fühle ich noch mit jugendlicher heftigkeit. diese jugend wird in allmälichem
erwerb sich eine fülle von kenntnissen erringen und nachholen, an sich
aber ist sie schon zu allen entschlüssen des willens, zu allen schlüssen der
vernunft ausgestattet. Ich weifs, dafs die Spartaner erst mit dem dreifsigsten
jahr auserzogen, und dafs nach einem volksscherz die Schwaben gar im vier-
zigsten volle klugheit erlangten.
Mistrauische vorsicht in dingen, die von natur freien lauf haben sol-
len, erreicht selten ihren zweck. ein grundübel unsrer zeit scheint mir das
anhäufen wiederholter endloser prüfungen, wodurch sich der staat gegen den
andrang der unwissenheit zu sichern und überall des besten habhaft zu wer-
den glaubt. das erschwerte spiel macht er sich damit doch zu leicht.
Auf der schule mag man in besiimmten fristen die kraft der schüler
öffentlich versuchen, weil daraus edler wetteifer entspringt und der knabe
gewöhnt wird hervor zu treten und gewandtheit der rede sich anzueignen.
sein talent zu wägen ist der lehrer fortwährend im stand und man kann sa-
gen, dafs dieser beständig die ungezwungensten messungen mit ihm anstelle.
Verwerflicher scheint das den eingang der universität bedingende und
erschwerende abiturientenexamen. Der gymnasiast mufs befugt sein end-
lich die schule zu verlassen, von seinem abgang an lösen sich zwischen
ihr und ihm die bande und welchen weg er nun einschlagen will steht in sei-
ner wahl. Wie kirche und schauspiel dem eintretenden offen gehalten sind,
sollte jedem jüngling das thor der universität aufgethan und ihm selbst über-
lassen sein, allen nachtheil zu empfinden und zu tragen, wenn er unausge-
rüstet in diese hallen getreten ist. denn die befähigung der menschen hat
ihre eignen, stillen gänge und thut unerwartet sprünge; wie sollten alle glei-
chen schritt halten, den der prüfung zwängendes mals fordert? den schlum-
mernden funken kann die erste gehörte vorlesung oder eine der folgenden
plötzlich wecken, und der bisher scheu und verschlossen gewesene thut es
nun auf einmal denen weit zuvor, die ihn anfangs übertroffen hatten.
Vorausgesetzt werden mufs aber, wenn alles so beschaffen ist, wie es
sein sollte, dafs jeder aus innerm trieb und für seine eigne ausbildung stu-
diere, nicht um dadurch ein amt zu erwerben. Dringt einmal diese würdigere
ansicht der studien und des lebens durch, so wird der staat selbst zuletzt
seine ungebührlich vielen dienste verringern dürfen und der wissenschaft
ihre ganze uneigennützigkeit zurück gegeben werden. Bei der anmeldung
über schule universität academie. 177
zum amt mag die ernsteste prüfung den ausschlag thun, der durchfallende
aber desto leichter eine andre lebensart ergreifen, als er sich den des dien-
stes überhaupt nicht begehrenden anreihen kann. Mit der einen prüfung
sollte es jedoch sein bewenden haben, und nicht, wie zu priestergraden,
eine zweite und dritte, immer unöffentlich unter vier wänden erfolgende
nach verlangt werden, die nur erhitzte vorbereitungen und treibhausfrüchte
zu erzeugen pflegt, welche unreif abfallen, nachdem das examen bestan-
den ist, also der innern echten triebkraft unvermerkten abbruch thun.
Unschädlicher allein fast zwecklos sind die im lauf der studienzeit
geforderten zeugnisse über besuch der vorlesungen; verderblich alle ertheil-
ten vorschriften über den besuch unumgänglicher vorlesungen, wodurch die
andern zu gleichgültigen oder unnöthigen herabgesetzt werden, denn nichts
wissenschaftliches ist an seiner rechten stelle ohne innere nothwendigkeit,
und die auswahl mufs den studierenden, oder dem beispiel und einer sich
von selbst einfindenden, nicht zu greifenden aber zu fühlenden autorität der
lehrer in bezug auf die güte ihrer vorträge ruhig überlassen bleiben. Der
mensch hat auch ein recht darauf mit unter faul zu sein oder zu scheinen,
und sich, wie er will, gehn zu lassen, oder über die wahl eines lehrers oder
seine eigne neigung gänzlich zu teuschen. das alles ist seine sache, nicht die
anderer, und soll ihm nicht nachgetragen werden.
Der professor mag beim bestimmen seiner vorlesungen an eine abrede
mit seinen genossen, oder einen hergebrachten wechsel gebunden sein; ihr
inneres wird er frei und unabhängig nach seinem gutdünken gestalten.
Was wollen hier alle engherzigen gesetze? sie meinen das schlechte
auszuscheiden, begünstigen eigentlich nur das mittelgut und sperren dem
höheren oft ohne noth und ärgerlich den weg. das genie sprudelt wie ein
brünnlein an verborgner stelle und seine niedergänge und steige weifs doch
niemand.
Zum wesen der universitäten gehört, dafs auf ihnen alle wissenschaf-
ten zulässig seien, (!) was durch die vier facultäten freilich nur unvoll-
ständig bezeichnet werden kann. offenbar ist solches nebeneinanderwirken
der wissenschaften ungemein belebend und für professoren wie studenten
höchst fördersam;, unerwartete berührungen brechen daraus von allen seiten
(') Dat mene studium. Detmar 2, 506.
Philos. - histor. Kl. 1849. Z
178 JAcos Grimm
hervor und können alsogleich verfolgt werden. Universitäten, die, wie in
Frankreich, einzelne zweige der wissenschaft ausschliefsen, arten in blofse
Sorbonnen, rechtsschulen, arzneischulen aus.
Unter den facultäten wies das mittelalter, wie sich von selbst versteht,
der theologischen den ersten rang an, welchen sie auch bei den protestanten
nicht ohne versuch einer oberaufsicht über die andern fort behauptete. noch
heute ist auf catholischen universitäten diese stellung und damit eine gewisse
herschaft der kirche unbeseitigt. Allen zeitgemäfsen umwandlungen der
universitäten in England stemmt sich die theologische facultät immer hart-
näckig entgegen.
In jeder der drei ersten facultäten tauchen practische zwecke auf,
die der vierten, und darum wissenschaftlich mächtigsten fremd bleiben, in
welchen vorzug ich nachher noch näher eingehen werde. Theologische pro-
fessoren können zugleich einem predigamt in der kirche vorstehen, die juri-
stische facultät fafst in schwebenden rechtsstreiten ihre vor gericht gültigen
urtheile ab und noch deutlicher tritt in der medicinischen eine practische
bestimmung auf, da alle professoren auch kranke heilen dürfen, was wört-
lich practicieren heifst. Dafs einzelne übertritte ausgezeichneter gymnasial-
lehrer zur universität stattfinden ist vielleicht nichts als bequemer misbrauch.
entweder sollten diese männer von hervorleuchtendem talent der universität
ganz gewonnen und aller last der schule entbunden, oder des gelockerten
schulverbandes dadurch nicht ungewohnt und überdrüfsig werden, dafs sie
auch die gröfsere unabhängigkeit der universität schmecken.
Fruchtbringend und glücklich scheint die einrichtung der privat-
docentenschaft, ein freier eingang zur professur, wodurch junge männer sich
vortreflich bilden, erzeigen und auszeichnen können. Sollte der staat seine
professoren blofs aus schriftstellern, die in der lehre vielleicht ganz ungeübt
sind, wählen, er würde oft in verlegenheit geraten und straucheln. der pri-
vatdocent ist ein selbstwachsener professor, und nicht übel wäre, dafs auch
in andern ämtern beständiger nachwuchs junger leute unverhinderten zutritt
fände, ohne dafs die schwächeren und unanstelligen unter ihnen befördert
zu werden brauchten.
Die wahl der professoren überhaupt hat aber der staat nicht aus seiner
hand zu lassen, da collegialischen, von der facultät vorgenommnen wahlen
die allermeiste erfahrung widerstreitet. Selbst über reingestimmte, redliche
über schule universität academise. 179
männer äufsert die scheu vor nebenbuhlern im amt eine gewisse gewalt. Die
universitäten haben sich unter curatelen oft ausgezeichnet wol, unter dem
einflufs anwesender regierungsbevollmächtigter immer übel befunden. Aus-
wärtige gelehrte und professoren können sich ohne gefahr dem curator melden,
wogegen jeder antrag bei wahlberechtigten facultäten bedenklich erschiene.
Auf universitäten weht durchgehends gelehrte luft, eine dünnere als
in der es einsamen und stillen dienern der wissenschaft wol wird, an die man
sich doch bald, nicht ohne das gefühl innerer stärkung, gewöhnt. es herscht
da eine ansehnliche buchgelehrsamkeit, die sich hebt und fortirägt, aber un-
gewöhnliche arbeiten, ehe sie geltung erlangt haben, vorläufig abweist. uni-
versitäten sind gartenanlagen, die ungern etwas wild wachsen lassen. Unter
diesem gesichtspunct sagen sie der regierung aufs höchste zu und es wird
ihnen, wie begünstigten kindern, oft durch die finger gesehen; nur nicht
die jüngste zeit her.
In unsern tagen sind die grofsen universitäten den academien in einige
hauptstädte nachgezogen und haben eine engere verknüpfung beider anstalten
entweder schon hervorgebracht, oder lassen sie voraussehen; doch steht zu
hoffen, dafs auch die kleinen halbländlichen universitäten sich daneben be-
haupten werden. An dieser stelle lenkt sich meine betrachtung unmittelbar
auf ihren dritten gegenstand,
DIE ACADEMIE.
Das wesen der academie, glaube ich, hat sich, und man begreift
warum, erst viel unvollständiger entfaltet als das jener andern wissenschaft-
lichen anstalten. es wird sich, triegen die zeichen nicht, in der zukunft mehr
luft machen.
Ihr name reicht auf die Griechen zurück, ist aber nicht von diesen
selbst entlehnt, sondern aus Italien und Frankreich her uns zugeliefert wor-
den, und bezeichnet auch eine ganz andre vorstellung als die man zu Platons
zeit damit verband. Zwar hatte gerade unter dem namen einer platonischen
academie schon im 15 Jahrhundert Cosmo von Medici zu Florenz eine geistige
anstalt eröfnet, deren wirkungen nicht von dauer waren, als Italien aufhörte
mittelpunkt der gelehrsamkeit zu sein und die grofse kirchenbewegung Frank-
reich und Deutschland in den vordergrund rückte. Die im laufe des 17 jahrh.
auftauchenden, von jenem muster ganz abgefallnen italienischen academien
Z2
150 Jacos GrImM
regten auch anderwärts nur zu geistlosen, mit der gelehrsamkeit spielenden
gesellschaften voll tödlicher langweile an, bis endlich Ludwig des XIV (von
Richelieu 1635 gestiftete, schon seit 1629 als privatverein hervorgegangne)
academie besser und stärker anschlug, denn nun wollten gleich ihm andere
fürsten und könige ihre academien einführen und unterhalten. Alle deut-
schen academien haben höfischen ursprung und französischen zuschnitt, wäh-
rend jene nach italienischem muster voraus gegangnen nur privatgesellschaf-
ten, wiewol vorherschend der gebildeten und vornehmen welt waren. All-
mälich haben die höfe der gelehrten überdrüfsig den geschmack an der
academie wieder verloren, wofür sich ein nationales ihre fortdauer verbür-
gendes element in ihnen kund that. Den academien kommt zu statten, dafs
sich der zeitgeist längst und immer stärker zu vereinen hinneigt, deren unmit-
telbare thätigkeit von natur wärmer ist, als sie der staat aus seinen mitteln
an zu fachen oder zu nähren vermag oder auch immer lust hat. Spanien und
Frankreich ertragen nur eine einzige academie, wir in folge unsrer zerrissen-
heit, und Italien aus gleicher ursache, besitzen ihrer eine ziemliche und fast
überflüssige anzahl.
Man mufs es eingestehen, dafs auch auf der höhe nationaler academien
tonangebend immer noch die französische stehe und und unter allen die ein-
flufsreichste sei; niemand in Frankreich wird ihr einen rang streitig machen,
der sie über alle französischen universitäten erhebt. In England dagegen hat
die academische thätigkeit weniger tief gewurzelt und die universität mehr
ansehen behauptet.
Ich wende meinen blick auch hier von allen fremden vorbildern ab
und suche in das innere wesen der academien, wie es sich nun in Deutsch-
land klarer bestimmt und festgesetzt hat, zu dringen.
Sie sind freie unabhängig gestellte vereine von gelehrten männern an
der spitze der wissenschaft; über ihnen schweben kann nur die unmefsbare
geistesgröfse einzelner, auch im wissen und in der erkenntnis voran gehen-
der menschen.
Schon weil jüngerer stiftung sind sie kirchlichem einflufs, selbst in
catholischen ländern entzogen, welche versuche auch gemacht worden seien
ihm geltung zu bereiten. Doch getraue ich mir in einem punct, über welchen
hinaus das gleichnis alsbald hinken würde, sie mit einer richtung des kirch-
lichen lebens selbst zu vergleichen. es zieht an, unter den verschiedensten
über schule universität academie. 181
umständen, ja ohne irgend nachweisbaren zusammenhang zu gewahren, wie
sich das geistige bedürfnis der menschen auf seinen wegen dennoch begegnet.
Jede academie ohne zweifel wird eine zahl von amtlosen männern auf
zuweisen haben, die nicht des lernens, vielleicht der lehre müde in sie, wie in
einen hafen, eingelaufen sind. So nahm im mittelalter auch die klösterliche
mauer mönche auf, die dort in geselligkeit ihrer inneren pflicht ernster und
strenger oblagen, als sie es aufserhalb im gewühl der welt gekonnt hätten. Die
geringere zahl der klosterleute steht der menge anderer cleriker, die in der
kirche practisch unterweisen gegenüber; die gröfsere wirksamkeit der welt-
geistlichen und bischöfe gleicht also einigermalsen der der schullehrer und pro-
fessoren. doch die wissenschaft jener zeit hatte ihren hauptsitz im kloster auf-
geschlagen. Mit dieser äbnlichkeit will ich weder die academiker ihrer welt-
kindschaft entheben noch die wissenschaft irgend in die academie einschränken.
Die academie hat einen turnus, keinen cursus, eine freie reihefolge,
keinen unaussetzbaren lehrgang, und ist der zwar festigenden und anregen-
den wiederholung überhoben, die, wie ich schon oben sagte, zur last werden
und zu pedantischem mechanismus sich ertödten kann. Ein lesender oder
lernender thut es aus innerm trieb oder bedürfnis, dafs er mehr als einmal
lese, das lectio lecta placet, decies repetita placebit ist auf ihn gerecht, we-
niger auf den lehrenden. Des schulmeisters halbjährliche rückkehr immer
zu demselben gegenstand bleibt, weil er auf den ihm aufsagenden und ant-
wortenden schüler alsbald einwirkt, insofern lebendiger als des professors
vortrag auf den stumm hörenden studenten; gleichwol besteht zwischen bei-
den die analogie einer auf ansehen ausgehenden und sich beim schüler oder
studenten geltend machenden autorität. (1!) Der academiker hingegen, wie
jedesmal er selbst anderes vorträgt, hört auch nur immer anderes vortragen,
das nie als lehre, nur als mittheilung auf ihn eindringt; dem wesen der
academie nach wird wissenschaftliches frei gegeben, frei genommen.
Aller auffallendste eigenheit der academien scheint mir der drei ersten
facultäten ausschlufs, nur die wissenschaften vierter facultät 'gehören ihnen
an. Vorhin wurde die allgemeinheit der universitäten ihrem vollen werth
(') Der alte Reuls zu Göttingen pllegte seiner collegen, die sich wegen zu haltender vor-
lesungen theilweise der bibliothek entzogen, zu spotten, und zu sagen, dals sie den schul-
meister machen wollten; er selbst hatte nie vor studenten gestanden, noch wäre er dazu
fähig gewesen.
182 Jacos Grimm“
nach anerkannt, und auf den ersten blick erscheint der abgang der drei ersten
facultäten in der academie ein nachtheil; er wird sich bei genauerer betrach-
tung als ein vorzug erweisen.
Wenn unser statut die academie verweist auf „die allgemeinen wissen-
schaften”, so will das nichts anderes bedeuten als jene beschränkung. Mir
entgeht, ob dieser ausdruck, wie ich vermute, einem „sciences universelles”
abgeborgt ist, man hätte die älteren reglements de l!’academie nachzuschlagen.
doch das jetzt gültige Pariser meidet ihn und zählt deutlicher alle einzelnen
der academie zuständigen wissenschaften auf, unter welchen nicht das ge-
ringste von theologie, jurisprudenz und medicin erwähnt wird. Auch in
allen übrigen mir bekannten academien, den jüngstgestifteten zumal, finden
sich diese drei wissenschaften nie als bestandtheil genannt.
Ihre absonderung kann nicht so gemeint sein, dafs theologen, juristen,
ärzte persönlich ausgeschlossen seien; in unserm kreise gerade verehren wir
vorragende männer dieser drei ersten facultäten als höchst thätige mitglieder.
blofs ihre facultätswissenschaft als solche ist es, die unacademisch erscheint.
Wir besitzen eine physicalischmathematische und philosophischhistorische
classe, keine theologische, juristische, medieinische. In unsern denkschrif-
ten gibt es nur physicalische, mathematische, philologischhistorische ab-
handlungen; von ausbildung der philologie war unmittelbar auch die fran-
zösische academie ausgegangen und andere wissenschaften hatten sich
allmälich angereiht.
Es leuchtet ein, dafs jene drei facultätswissenschaften keine sind noch
sein können im sinne der academischen. Entkleidet man sie dessen, was in
ihnen schon andern wissenschaften angehört, so bleibt ihnen eine feste, un-
bewegliche satzung zurück, die bei noch so hohem werthe wissenschaftliches
gehalts ermangelt. Man nehme der theologie kirchengeschichte, orientalische
und classische sprachstudien und moral, welche bereits stücke der historie,
philologie und philosophie sind, oder der jurisprudenz ihre überreiche rechts-
geschichte, die einen glänzenden theil aller und jeder geschichtsforschung
bildet, und deren gegensatz das naturrecht; so sieht sich der theolog auf sein
dogma, der rechtsgelehrte auf sein ständiges gesetzbuch gewiesen, denen sie
beide geltung verschaffen möchten und die nur der lehre, nicht mehr des
unendlichen forschens bedürfen. Die heilkunde fordert zur erkenntnis der
krankheiten und arzneien umfassende studien in der naturgeschichte und
über schule universität academie. 183
chemie; allein der sie ausübende arzt unterscheidet sich von dem wissen-
schaftlichen naturforscher, wie das studium der anatomie weit über den
bedarf des chirurgen hinaus zu hohen ergebnissen führt. Die ergründung
der gestörten gesundheit und die kunst sie herzustellen ist durch jene wis-
senschaften bedingt, ungefähr wie die kriegskunst in mathematik, geographie
und geschichte, die politik in philosophie und geschichte schöpfen. Hieraus
folgt, dafs die drei ersten facultäten keine neuen wissenschaftlichen gesetze
entfalten, nur die geltenden anwenden.
Das forschen nannte ich ein unendliches, es mufs so endlos sein wie
der sich über uns dehnende raum, in dessen unermessene fernen wir immer
weiter vordringen. Jede wissenschaft ist ein sich wölbender tempel, am
giebel aber bleibt eine öfnung, die nicht kann zugemauert werden, gleichsam
ein anblick des menschlichen augen undurchdringbaren himmels. man könnte
der philosophie, die kühne bauten aufführt, vorhalten, dafs sie der theolo-
gie nachgebend jenes giebelloch öfter als es ihr frommte zu schliefsen unter-
nommen hat. In keiner einzigen wissenschaft stimmen theorie und praxis so
edel und sicher zusammen wie in der astronomie und mathematik; die phi-
lologie ist fast nur theorie, ohne lebendige praxis, womit blofs eine wis-
senschaftliche, nicht eine solche gemeint sein kann, die beim lehren und
lernen alter oder neuer sprachen gewöhnlich stattfindet, und sich oft eine
grofse fertigkeit zu eigen gemacht haben mag.
Gehe ich nun auf die academischen obliegenheiten und leistungen
näher ein, so kann wesentliche aufgabe und zweck der academie kein andrer
sein, als, wie ein mächtiges schif die hohe see, die höhe der wissenschaft
zu halten, und in tonangebenden, schöpferischen vorträgen und mittheilungen
alle auftauchenden spitzen der forschung neu und frisch hervor zu heben
und weiter zu verbreiten. Da keine wissenschaft erschöpft oder erschöpflich
ist, so wird an jeder stelle, wo man in sie eindringe, gewinn aus ihr erbeu-
tet werden, wie aus dem boden, wo man in ihn senke, quellendes wasser
zu ziehen ist. Bei jedem wissenschaftlich arbeitenden soll sich aber ein
untrügliches gefühl einfinden für die unterscheidung dessen was abgethan
und erledigt sei von dem was sich vorbereitet habe und in raschen angrif ge-
nommen werden müsse: hier und nicht dort ist die kraft anzusetzen.
Nach einer wolthätig zwingenden reihe, die doch nie so feststeht,
dafs nicht änderungen verabredet werden könnten, sieht jedes mitglied der
184 Jacog Grimm
academie im voraus langsam den tag nahen, an welchem ihm einmal, höch-
stens zweimal jährlich auferlegt ist eine umfassendere abhandlung vorzutra-
gen, während ihm unbenommen bleibt mit minder ausgearbeiteten, kleineren
in jeder wöchentlichen zusammenkunft aufzutreten. Allen abhandlungen
aber, da sie gar nicht lehrhaft und populär sein sollen, gebührt streng wis-
senschaftliche form, wobei nicht einmal auf verständlichmachung der gegen-
stände für die verschiedenen classen der academie selbst bedacht zu nehmen
ist. Zu ihrem nicht geringen nutzen erfahren nemlich die mitglieder, dafs
auch an fremdliegenden stoffen mindestens durch das beispiel der behand-
lung zu lernen sei und allenthalben früher nicht geahnte analogien sich er-
geben können. Vorträge, die unter den gefrierpunct der aufmerksamkeit
fielen, sind darum fast nicht denkbar, oder es wäre ein zeichen, dafs sie
völlig fehlgegriffen hätten. Keinen bestimmten academischen stil gibt es,
nur einen solchen der in die sache dringt, und alles rhetorische wird eben
dadurch ferngehalten, dafs ein ruhiges vorlesen beinahe druckfertiger ab-
handlungen wenigstens die regel bildet.
Als die gelungensten erscheinen solche vorlesungen, welche nicht in ein
bereits ausgedachtes werk sich fügen, oder ein schon bekannt gemachtes blofs
erg
5
material zu wissenschaftlichem gebrauch fruchtbar darlegen. Unacademisch
änzen, vielmehr keime neuer, künftiger werke in sich tragen oder reiches
hingegen würde es sein als beitrag zu entrichten was ohnehin in fertigen bü-
chern bald heraus zu kommen bestimmt ist, es sei denn dafs durch dessen
vorlage einzelne erhebliche betrachtungen auf die wage gelegt oder geschärft
werden sollen.
Sich wenigstens wöchentlich zu versammeln hat sich als nothwendig
bewährt, damit die theilnahme in längeren fristen nicht erkalte und raum für
die manigfaltigkeit der vorträge gewonnen werde, die bei seltneren zusam-
menkünften zurückstehn oder allzulangen aufschub erfahren müsten.
Aus derselben ursache und um mit dem publicum in regere berührung
zu treten oder die schon eingetretne für die academie selbst nicht veralten
zu lassen scheint auch eine unausgesetzte schnelle herausgabe der academi-
schen abhandlungen wünschenswerth; dafs sie in dem jahr, wo sie gelesen
werden, erfolgen kann, zeigt uns England. unabhängig von der bleibenden
güte solcher abhandlungen steigt in ihnen, wie bei eingegossenem getränk
ein augenblicklicher schaum ihrer geistigsten bestandtheile auf, den es zu
über schule universität academie. 185
kosten freut, und der nach einiger zeit schon verflogen ist. Meinem gefühl
nach dürfte ihrer bekanntmachung nicht die leiseste, immer verletzende cen-
sur vorausgehn, sondern jeder academiker darauf ein recht haben, seine
vorgelesene arbeit, wenn er will, und es nicht für gut findet sie bei sich zu
halten, in den denkschriften der academie erscheinen zu lassen. dadurch
dafs die academie den einzelnen in ihren schofs wählte, drückt sie zugleich
ein unbegrenztes vertrauen in seine befähigung aus, das durch jene aufsicht
geschmälert oder versehrt erschiene. schwächere oder unreife arbeiten wer-
den von selbst darauf bedacht sein sich zurück zu ziehen. Noch nachtheiliger
wirkt jede rücksicht der einschränkung jährlich zu veröffentlichender vorträge
auf die bestimmte stärke eines zu füllenden bandes; denn ist stof zu mehr
bänden vorhanden, desto besser, und der dadurch erhöhte aufwand kann
nicht in betracht kommen, weil es sich hier um den wesentlichen zweck der
academie handelt, von dem ihre wirksamkeit hauptsächlich abhängt.
Den verkehr unterhalten monatliche berichte desto sicherer, wenn
ihnen gleichmäfsige iheilnahme von allen seiten der academie zu statten
kommt und nicht eine oder die andere richtung darin überwiegt. Auch diese
berichte könnten vortheilhaft auf mehrere bände im jahrgang erhöht werden,
und das rechte verhältnis zwischen dem was ihnen oder den abhandlungen ge-
bührt, mufs sich von selbst ergeben, sobald letztere rascher heraus kommen.
Ohne zweifel wäre den meisten mitgliedern willkommen, dafs jedesmal
acht tage vorher im sitzungssal angeschlagen würde, wer wirklich vorlesen wird
und über welchen gegenstand. Es ist angenehm einen vortrag zu hören, auf
den man sich zugerüstet hat, oder ihm, wenn er uns gar nichts verspricht,
auszuweichen. Auch können sich dann leicht erörterungen entspinnen, die
unvorbereitet in der regel abgeschnitten sind. Nachlässiger besuch, so we-
nig das ausbleiben an sich gehindert sein soll, bringt dem academischen leben
immer schaden, weil darunter die lebendige theilnahme leidet und aller zu-
sammenhang unterbrochen wird.
Löblich wäre die nachahmung der französischen gewohnheit, das an-
denken an verstorbene mitglieder feierlicher zu begehn, als es in unsern
öffentlichen sitzungen zu geschehen pflegt, da durch langjährigen verkehr
mit denselben die academie leichter als andre in den stand gesetzt ist nach-
richten zu erkunden, die sonst untergehn. Doch ist uns dafür, wie die
vorzeit ewige leuchten über gräbern stiftete, alljährlich auferlegt, einen
Philos.-histor. Kl. 1849. Aa
186 Jacos Grimm
grofsen mann und einen grofsen könig zu feiern, deren werke und thaten
unversiegenden grund des preises darbieten.
Mit recht sind diese festtage öffentlich, denn aufserdem soll und kann
die academie nicht populär werden in dem sinn, dafs sie die feinsten spitzen
ihrer untersuchung abzubrechen hätte einem gemischten und: mittleren ver-
ständnis zu gefallen, das ohne innern beruf vorlaut sich gern heran drängt.
Die wissenschaft hat kein geheimnis und doch ihre heimlichkeit, sie mag
nicht oft auf der grofsen heerstrafse weilen, sondern lieber sich in alle wege,
pfade und steige ausdehnen, die ihr neue aussichten öfnen, wo ihr jedes
geleit zur last wird. in der ebene treibt sich das gewühl der menge, anhöhen
und berge werden immer nur von wenigen erklommen. Erfolglos haben
wir darum, wie mich bedünkt, einem unbefugten verlangen statt gegeben
und stüle gestellt, auf welche der staub sich nieder setzen kann, weil sie von
niemanden eingenommen werden. In die hörsäle der universität mag jeder
gast unangemeldet eintreten, der academischen beschäftigung sollten nur die
jedesmal eingeführten dürfen beiwohnen. Dagegen unterscheidet von der
universität die academie sich auch darin, dafs sie mit dem entlegensten aus-
land fördernden verkehr und austausch unterhält, zumal sind es astronomie
und naturforschung die so weit in die ferne reichen müssen, dafs sie das
vaterland ganz aus dem auge verlieren, geschichte und philologie, obschon
auch ausholend, versäumen die heimat am wenigsten.
Hiermit ist die eigentliche und innere thätigkeit der academie an sich
selbst umschrieben; es pflegen aber noch zwei andre wirksamkeiten vorzugs-
weise von ihr auszugehn, denen ein ausgezeichneter werth nicht abgesprochen
werden kann. Einmal werden wissenschaftliche reisen oder kostspielige
gröfsere werke einzelner gelehrten durch ihre geldmittel unterstützt und her-
ausgegeben, dann aber über schwierige fragen der wissenschaft preise gestellt
und den siegreichen bewerbern zuerkannt. Es scheint an sich angemessen
und ist auch althergebracht durch solche preise die aufmerksamkeit auf un-
erhellte und mühsam erforschbare puncte der einzelnen wissenschaften zu
leiten und deren beseitigung zu veranlassen. man wird gleichwol academische
strengwissenschaftliche preisaufgaben unterscheiden müssen von den auch
auf der universität dem wetteifer der jünglinge ausgesetzten, bei welchen es
noch mehr auf deren übung als auf den gegenstand selbst abgesehen ist, wenn
schon diesem dadurch oft ein unerwarteter dienst geleistet wird. Preisfragen
über schule universität academie. 187
der zweiten art mögen es auch an zweckmäfsigkeit und wahrem nutzen den
academischen zuvor thun, wider welche sich manches bedenken aussprechen
läfst. Ungeübten jünglingen ziemt es nach einem äufsern lohn zu ringen, da-
gegen hat es etwas niederschlagendes sich der lösung einer weittragenden
aufgabe erst dann und nur darum zu unterziehen, wenn ein gewinn daran
geknüpft ist. der wahre entschlufs zu ihr sollte von innen aufgestiegen sein
und würde einmal zu fruchtbaren ergebnissen gelangt diesen auf den viel-
fachen unsrer literatur nunmehr offen stehenden wegen auch luft gemacht
haben. Überall ist es leichter zu fragen als zu antworten, und die der preis-
aufgabe beigefügte richtschnur scheint, wie geschickt erwogen, wie fein über-
legt sie sei, dennoch fähig die freie unbefangne untersuchung mehr zu fesseln
und zu hemmen, als förderlich zu erleichtern. der eigenthümlichkeit des
bewerbers hätte es etwa zugesagt, einige seiten des gegenstandes, die hervor
gehoben sind, liegen zu lassen oder liegen gelassene hervor zu heben, und
dieser zwang hat auf seine ganze arbeit nachtheiligen einflufs. So geschieht
es denn oft, dafs entweder zu viel aufgegeben oder von der aufgabe die
wahre endweite der forschung, die erst aus dieser selbst erwachsen kann,
unerkannt geblieben ist. Für das urtheil, zumal ein collegialisches urtheil
über die eingelaufne werbeschrift entspringen aber eigenthümliche verlegen-
heiten. sie geht zu ende der gesetzten frist plötzlich ein und überfällt den
mitten in andern arbeiten steckenden aufgabesteller, der sie nun zu be-
gutachten und seine entscheidung den übrigen mitgliedern vorzulegen hat,
die ihr in gleicher unmulfse meistens beipflichten, so dafs einzelne abweich-
ungen des urtheils durch die mehrheit im voraus abgestimmt und verworfen
sind. auf die entscheidung selbst pflegt aber höchst menschlich nicht nur
ein gefühl des schonens für das dargebrachte einzufliefsen und die gute absicht
den bewerber, der nicht ohne einige vortheilhafte seiten erscheinen wird,
zu ermuntern, sondern auch die unangenehme empfindung einer sonst un-
angerührt bleibenden aufgabe, wie man dem handwerker eine bestellte arbeit
abnimmt, die man von freien stücken nie gekauft hätte. dazu kommt endlich,
dafs ein angewiesner fonds vorrätig liegt, den man nicht unverwandt lassen
und los sein möchte. Überlege ich uneingenommen alle diese freilich hier
grell zusammengestellten und im besondern fall vielfach gemilderten übel-
stände, so ergibt sich mir die ansicht, dafs academische preisaufgaben auf-
gehört haben zeitgemäfs zu sein und an ihre stelle wol etwas heilsameres
Aa?
188 Jıcog Grimm
treten könnte. Weit schöner und edler scheint es einen lohn zu empfangen,
um den man nicht geworben, als um den man geworben hat. Triftige und
geistvolle forschungen treten schon, ohne dafs es nöthig wäre, sie hervor zu
locken, von selbst ans licht und die academie kann nicht umhin ihrer bald
zu gewahren. erkenne sie von zeit zu zeit, ohne durch bestimmte fristen
dabei sich zwang anzulegen, in besonnener, gerechter würdigung des sich
kund gebenden verdienstes, munera, nicht mehr pretia, ehrende zeichen
ihres anerkenntnisses, die wie ein leuchtender strahl auf das haupt des aus-
gezeichneten sich niedersenken, und auch ihr eignes ansehn wird durch sol-
che aussprüche vor der gelehrten welt und dem volke dauernd steigen, wäh-
rend die erinnerung zuerkannter preise schnell vergeht.
Es bleibt mir übrig die wichtigste, ich gestehe auch schwierigste ange-
legenheit der academie, ohne rückhalt, zur sprache zu bringen, die der
erneuerung und ergänzung ihrer abgänge, worauf nicht allein ihre ganze zu-
kunft, sondern eben auch ein erhöhter und fortschreitender wachsthum
beruben mufs. ist es unleugbar, dafs die academien im stand ihrer gegen-
wärtigen entfaltung noch nicht wirksam genug sind, gleichwol alle keime
einer zweiten oder dritten wiedergeburt in sich tragen, um desto offenbarer
ihre gebührende und heilsame stelle an der spitze der wissenschaft einzu-
nehmen; so fällt in die augen, dieser gröfsere zweck müsse und könne we-
niger durch ihre zum beispiel und zur bürgschaft gereichende thätigkeit, als
durch die freie und ungehemmte wahl neu zutretender mitglieder erreicht
werden. An den höheren schulen und universitäten sahen wir die beste und
tauglichste ergänzung durch den staat selbst geschehen, der leicht ein sicheres
augenmerk für die ersatzmänner gewinnt und selbst auf erfolgende anmel-
dungen einzugehn sich bewogen finden wird. die gesamte stellung der aca-
demie hingegen gründet sich wesentlich und unerläfslich auf gesellschaftliche
wahl, die wenn sie im weiten kreise umschauen kann, fast nicht irre geht.
diese wahl ist ein aus schwankender meinungsverschiedenheit zur einstim-
mung der mehrheit durchgedrungnes erbieten, das den gewählten gleich einer
angethanen ehre überraschen, gleich einem unerwarteten gruls erfreuen mufs.
Anträge und meldungen von seiten des candidaten, wie sie zu Paris statt-
finden oder in Östreich für einige ordensverleihungen, scheinen unangemes-
sen: sie heben die wolthat ganz freier ernennungen auf, hinterlassen dem
5
durchgefallnen verdrufs oder können auf die unparteilichkeit der handlung
über schule universität academie. 189
nachtheilig wirken, weil eine ablehnung des antrags als härte, der man gern
ausweicht, erscheinen würde. Keine bedeutende fähigkeit wird dem ge-
schärften blicke vieler und kundiger wähler entgehen; dafs wir in unsrer
academie bei vornahme der wahlen ordentlicher mitglieder auf die hauptstadt
und die nähe Berlins beengt sind, mufs für einen empfindlichen übelstand
gelten, den die uneingeschränkte wahl auswärtiger mitglieder und correspon-
denten lange nicht aufwiegt. unter örtlichen rücksichten oder landschaft-
lichen bedingungen mögen besondere gesellschaften nicht verkümmern, sogar
gedeihen; einer academie der wissenschaften schadet, dafs ihre freie wahl
nicht einmal auf alle Preufsen, geschweige auf alle Deutschen gehn kann,
wie es doch längst hergebracht und bewährt ist, lücken der universität aus
dem gesammten Deutschland her zu füllen. Erforderlich aber wäre, dafs
dann auch die mittel der academie ausreichten, um allen erwählten, ohne
den zwischentritt andrer zugleich übernommner ämter ihre äufsere stellung
und die ganze ruhe der arbeit zu sichern.
Dafs einmal solche schranke falle, hat der verlauf der zeit im stillen,
die anders gewordne öffentliche stimmung durch mehr als ein lautes zeichen
schon eingeleitet. wenn, was niemand leugnet, die wissenschaft selbst allen
Deutschen gemeinschaftlich ist, wie sollten deren vertreter es nicht sein?
würde jede wissenschaftliche academie des ihr anklebenden örtlichen ledig,
so könnte sie die anhänglichkeit an unser grofses, aus langen geburtswehen,
wie alle guten hoffen, endlich erstehendes vaterland wärmer hegen und näh-
ren. Erst eine deutsche academie, dann das reinste bild unsrer wissenschaft,
würde mit ganz anderm gewicht einer fremden nationalacademie gegenüber
stehn, als jetzt unsre, gleich uns selbst, zersprengten academien miteinander.
In der menschlichen seele glimmen alle wissenschaften und können
unmittelbar aus ihr zur flamme aufschlagen. aber der genügsamen beschau-
lichkeit indischer waldeinsiedler hat sich die welt längst entrückt und unab-
lässig gestrebt ein aus der vorfahren hand empfangnes, in sich wucherndes
erbe der hand der nachkommen zu überliefern, wie es nur durch eine frei
und unabhängig waltende, vollkommen tolerante, gesellige doctrin und selbst-
leitung geschieht, möge sie academie zu heifsen fortfahren, oder zu höherer
entfaltung ihrer ziele emporgetragen sich auch einen neuen namen finden.
Die gedanken des verfassers, wie man erwarten kann, diesmal zunächst
bei der academie stehend musten von ihr auf die universität, von der univer-
190 Jaıcos Grimm über schule universität academie.
sität auf die schule zurück gleiten, haben sich jedoch in umgedrehter ordnung
entwickelt. er bescheidet sich sie unbefangen, ohne alle absicht auf den be-
stand der gegenwart irgendwie einwirken zu wollen, mitgetheilt zu haben und
stellt sie künftigen und späteren lesern sogar lieber als heutigen anheim. auch
ist in der kurzen zeit, dafs er diese worte gesprochen hat und nun zu drucke
gibt, unsre öffentliche lage noch schlimmer und düsterer geworden, und
selbst dem an ihr nicht verzweifelnden müssen die nächsten forderungen und
begehren der wissenschaft jetzt als wünsche in die ferne treten.
— IR —
ÜBER DAS VERBRENNEN DER LEICHEN
V
von herrn JACOB GRIMM.
nur
[gelesen am 29. nov. 1849.]
Mitten im geräusch und in der arbeit des lebens werden wir allenthalben
an seinen ausgang gemahnt, dessen ernster betrachtung unser nachdenken
nicht ausweichen kann; nur kurze schnell vorbei rauschende zeit und wir
sind selbst unter dem grofsen heer versammelt, in das jeder einrücken mufs
und von wannen keiner wiederkehrt.
Vor den todten empfindet der mensch ein grauen. mit dem ausge-
stofsnen letzten athem sind sie uns abgeschieden und einem fremden unbe-
kannten land anheim gefallen, das alle festhält; der erkaltete leib beginnt
sich aus seiner fuge zu lösen und unaufhaltsam zu zerstören. Zwar pflegt
den ersten tag oder die erste nacht nach dem tode noch einmal des verstorb-
nen antlitz sich abzuklären und was der schwere kampf verzerrt hatte, rein
und ruhig aus zu prägen (1); bald aber melden sich alle boten der verwe-
sung, und der leiche anblick und dunst werden unerträglich. den meisten
völkern galt wer sie anrührte, wie das haus, worin sie liegt, für verunreinigt
und schon um der lebenden willen ist es geboten sie bei seite zu schaffen.
Selbst unter den thieren, die sonst für den tod von ihres gleichen gefühllos
scheinen, sollen die, deren haushalt dem menschlichen ähnelt, uns hier ent-
weder nachahmen oder vorbild geben. ich ziehe Virgils schöne worte von
den bienen an (Georg. 4, 255):
tum corpora luce carentum
exportant tectis et tristia funera ducunt,
(') Wie die gebrochne blume fortglänzt und duftet:
cui neque fulgor adhuc, nec dum sua forma recessit.
1923 Jacog Grimm
und was Plinius den ameisen nachsagt: sepeliunt inter se viventium solae
praeter hominem.
Nur die rohsten grausamsten menschen könnten es über sich gewinnen
ihre todten offen auf das gefilde zu legen, wo sie den wölfen und vögeln zur
beute würden. das sprechen die dichter blofs als herbes geschick der ge-
fallnen, (!) als drohenden fluch oder verwünschung aus, und davon genau
zu unterscheiden ist, dafs einzelne alte oder wilde völker ihre leichen wirk-
lich aussetzten, gerade mit bezug auf geheiligte thiere, denen sie überlassen
bleiben sollten. (?)
Das menschengeschlecht, durch vielfache bande an einander hängend
würde aber seine ganze natur verleugnen, wenn jenem recht der lebendigen
sich der todten zu entledigen, nicht auch von jeher gleichsam ein letztes recht
der todten beigemischt erschiene. angehörigen und verwandten, an die unser
herz gefesselt war, soll nicht nur eine ehre, deren sie würdig sind, sondern
auch ein dienst erwiesen werden, dessen sie bei der überfart und zur auf-
nahme in eine andere welt bedürfen. Diese kann nun bald als über uns im
himmel, bald als unter uns im abgrund der erde gelegen erscheinen und
gleich den himmlischen mächten erheben auch die unterirdischen ihren an-
spruch auf die todten, der ihnen nicht verkürzt werden darf. In solchen
rücksichten allen liegt ein grund zum begang der leichenfeier, die wir auf
manigfalte weise bei den verschiednen völkern der erde veranstaltet sehn.
Die beiden ältesten über die ganze erde am weitesten verbreiteten ar-
ten des bestattens, welchem ausdruck ich hier den allgemeinen begrif des
lateinischen sepelire beilege, sind das begraben und verbrennen, und je
tiefer man in ihr wesen eindringt, desto stärker überzeugen wird man sich,
dafs sie eine nothwendige, den bedürfnissen und der entwicklung der völker
unentbehrliche unterscheidung darstellen.
Erwägen wir beide weisen für sich, so scheint das begraben vorange-
gangen, im verbrennen ein fortschritt geistiger volksbildung gelegen zu sein,
D
(') Kurt zuge YeverTea, olmvorsıw up zar wUgrmee yeverScı bei Homer, die heilige schrift
redet von adlern (Luc. 17, 37. Matth. 24, 28), die poesie unseres alterthums von wölfen, adlern,
raben; stellen habe ich gesammelt Andr. und El. XXV—XXVII. in einem schwedischen volks-
lied Sv. vis. 2, 82 heilst es: liggen nu här för hund och för raven!
(2) Bekanntlich warfen die Perser und Hyrcanier ihre leichen den hunden vor, wie noch
heute die Mongolen den hunden und raubvögeln. Klemms eulturgeschichte 3, 173. die Kaffern
den wölfen, welche selbst für unverletzbare ihiere gelten. Klemm 3, 294.
über das verbrennen der leichen. 193
von welchem zuletzt wieder abgewichen wurde, als die menschheit fähig ge-
worden war noch allgemeinere stufen ihrer veredlung zu betreten.
Unleugbar sagt es dem nächsten menschlichen gefühl zu, dafs die
leiche unangetastet und sich selbst überlassen bleibe. deckt sie der lebende
mit erde oder birgt er sie tiefer in der erde schofs, so geschieht seiner pflicht
genüge und es tröstet ihn, dafs der geliebte todte noch unter dem nahen hügel
weile. dem todten hat sich das auge wie im schlaf geschlossen, er heifst ein
entschlafner, es ist kindlichem glauben gemäfs, dafs er aus diesem schlum-
mer wieder erwachen werde, wer wollte den schlummernden verletzen? (t)
Sein gebein soll sanft ruhen und von der erde nicht gedrückt. (2) Einer
mutter gleich hat die erde den aus ihr gebornen in sich zurück empfangen
und lieblich nannten die Griechen einen todten Önunrgiss, den der mutter ge-
hörigen; in das element das ihn erzeugt hatte wird er aufgelöst und gleich
dem fruchtkorn eingesenkt. at mihi quidem, sagt Cicero (de legib. 2. 22,
26) antiquissimum sepulturae genus illud fuisse videtur, quo apud Xeno-
phontem Cyrus utitur. redditur enim terrae corpus, et ita locatum ac situm
quasi operimento matris obducitur. Einem nackt liegenden erschlagnen wirft
der vorübergehende und erbarmende eine handvoll erde auf die brust, gleich-
sam um jenes recht der unterwelt, dem er nicht entzogen werden soll, sym-
bolisch anzuerkennen. (?) Staub soll wieder zu staub werden. (*)
Allein auch dem verbrennen liegen sehr einfache und erhebende vor-
stellungen unter. Von anfang an war dem menschen das feuer heilig, dessen
gebıauch ihn wesentlich von allen thieren abscheidet,; im feuer bringt er
(') Auch läfst der volksglaube den begrabnen ein gewisses leben fortsetzen, d. h. unzer-
stört bleiben. um ihn geweinte thränen lebender netzen dem todten das hemd; mitternachts
tritt die mutter aus ihrer gruft und geht heim den verwaisten säugling zu stillen, die kinder
zu kämmen. der sohn naht sich des vaters grab, zwingt ihn zur rede und heifst sich das
schwert heraus reichen. andern begrabnen soll ein fenster im hügel offen stehn bleiben, durch
welches ihnen die nachtigall den frühling ansingen könne. alle diese vorstellungen müssen auf-
hören sobald man sich den leib in staub zerfallen denkt.
(2) Daher die schönen formeln: sit tibi terra levis! ne gravis esse velis! tu levis ossa tegas!
molliter ossa cubent! amica tellus ut des hospitium ossibus u. s. w.
(%) Wo das rothkelchen einen erschlagnen im walde liegen sieht, läfst es der volksglaube
hinzu fliegen, einen zweig und blätter auf ihn tragen. dasselbe thun menschen, Parz. 159, 12:
Iwänet üf in dö brach
der liehten bluomen zeime dach.
(*) Daz ze molten wurde diu molte. Seryat. 1720.
Philos.- histor. Kl. 1849. Bb
194 Jacog Grimm
seinen göttern opfer dar, ausdrücklich benennt unsre alte sprache opfern
blötan, was dem gr. $Acıdevv, d.i. entzünden, brennen entspricht. ein von
den göttern ungnädig angesehnes opfer lodert gedämpft nicht in flammen
auf, das ihnen willkommne steigt mit hoher rauchseule in die lüfte empor.
das feuer, den dargebrachten gegenstand verzehrend hat ihn gleichsam da-
durch vermittelt. Den menschen muste also anliegen auch ihre todten den
göttern darzubringen und gen himmel zu senden; wie das grab den irdischen
stof der erde, erstattete die brunst den seinen dem element des feuers, von
welchem alle lebenswärme ausgegangen war. man glaubte die seelen der ab-
geschiednen zu beruhigen und begütigen, wenn man sie des ihnen gebühren-
den feuers theilhaft werden liefs. (1)
Die leichte flamme leckt aufwärts, während die schwere erde nieder
strebt; aus des scheiterhaufens feuer hebt sich der entbundne geist zum va-
ter, den unsre vorfahren altvater, die Römer Jupiter nennen, wie durch die
erde der leib in der göttlichen mutter arme zurück sinkt. eine gr. grabschrift
(Böckh no. 1001) sagt ausdrücklich
yala de KEUTeL
raue" mvonv Ö along Eralev mar, osmeo edwxs,
oder eine andre (no. 938)
Aa ya uv neuSe Hirga zevis AudıyuSeiTa,
Yuyav 0° Er Merewv oügavas eüpus exe. (?)
Alle erfahrung lehrt uns, dafs die der erde anvertrauten leichen faulen und
in staub gewandelt werden; das feuer geht demnach mit den todten nicht
härter um als die erde, nur dafs es schnell vollbringt was diese langsam ver-
richtet. Hat den noch unentstellten leib die gefräfsige flamme verschlungen
und sinkt sie zusammen, so enthält die hinterbleibende asche keinen andern
bestandtheil als den staub des grabes, dessen enge, moder und leides ge-
würm den gedanken peinigen. Nach dem brand werden jene überreste,
gleichsam ein alsbald auf sich zurück geführter auszug des geläuterten leibes
gesammelt in krüge und beigesetzt, so dafs aufser dem feuer zugleich noch
der erde genüge geschieht: das verbrennen war immer mit einem hegen
der brandstätte und bergen der knochen verbunden, darum ist auch auf den
(!) Ilvgös neihırseaev DM. 7, 410, auch muacs AagıgesIcu.
(2) Zwei seelen gehn mit dem leib verloren, die dritte bleibt: bustoque superstes evolat.
Claudian IV cons. Hon. 228 — 35.
über das verbrennen der leichen. 195
grabinschriften verbrannter das xeinaı, xeiraı, zarazeıra und das sit ei terra
levis gerecht.
Wie schön ist, wenn verwandte oder freunde in weiter ferne sterben,
dafs ihre asche ohne mühe gefafst und heim getragen werden kann, (!) da
das fortschaffen der ganzen leiche grofsen schwierigkeiten ausgesetzt bleibt. (?)
Und alle todtenkrüge lassen in gedrängter schicht sich von schwachen hügeln
decken, ihre ausdünstung gefährdet nicht, wogegen die den völligen leich-
nam umschliefsenden gräber weit gröfsern raum und entlegne stätte begehren.
Wer wollte miskennen, dafs die gewohnheit des leichenbrandes uns
höher stehende völker und ihren freieren blick in die natur der dinge kund
thut? dieser brauch hängt zusammen mit einer schon durchgedrungnen hei-
teren auschmückung des menschlichen lebens, dessen ende selbst feste her-
bei führen, die die trauer mäfsigen und erheben. was anders hätte dem aus-
gang des grofsen griechischen epos solche ruhe verliehen, wie es der beiden
helden bestattung und eines jeden unter eignen beschwichtigenden eindrücken
vermag‘ Feierliches ausstellen, opfer, gastmal, leichenspiel, das ergreifende
mitsterben der gattin, des freundes, der diener und hausthiere, alle diese
zurüstungen konnten eigentlich nur beim verbrennen, und entweder gar
nicht oder nur nach kleinerem mafsstab beim begraben der leichen eintreten,
da sich schon neben dem leichnam für die der rosse und übrigen menschen
im hügel kein raum geboten hätte. Selbst allgemeine, unter den völkern
des alterthums weitverbreitete vorstellungen von einem ungeheuren brand,
der an aller dinge ende die erde und zugleich die ganze welt verzehren solle,
dürfen nicht ausgeschlossen bleiben, wenn man sich wie tief diese sitte vor-
walte vollkommen erklären will: in dem was den sterbenden menschen ge-
schieht erscheint vortypisch der ausgang der sterbenden welt.
Alles wessen sich die dichtkunst grofsartig bemächtigen kann, das
muls im leben der menschen wahrhafte wurzel geschlagen haben. Auf diese
poesie des verbrennens folgte zuletzt wieder eine rückkehr zur prosa des
begrabens, das zwar nie ganz aufser gebrauch gerathen, sondern neben dem
brennen für einzelne zustände beibehalten worden war, auf welche meine
(‘) Zu Elektra sagt Orestes bei Sophocl. Electr. 1113: degovres aurod omızge Asılav Ev
Boaxei Feuysı Savdvros, Ws Öpds, Rolıgoner.
(2) Im mittelalter pflegte man die im kampf gefallnen armen zu begraben, die edlen auf
bahren zu lande zu führen. Wh. 451, 12. 462, 29.
Bb2
196 Jacos GrImMm
nachfolgende untersuchung sorgsam bedacht nehmen wird. Es gibt sodann
einen allgemeinen fall, in welchem jederzeit das brennen ausgesetzt werden
muste, den der kein gebot kennenden noth. War in einer schlacht und in
holzarmer gegend eine menge zugleich gefallen, so blieb nichts anders übrig
als sie in grofse gruben auch unverbrannt zu senken, wie dann noch heut-
zutage unsre krieger uneingesargt vergraben werden; aus derselben ursache
unterblieb der brand, wenn eine verheerende seuche plötzlich zahllose opfer
forderte. (!) Da wo aber sonst beide bestattungen neben einander gelten,
scheint der leichenbrand vorzugsweise für die edleren, höheren bestandtheile
des volks, namentlich für die herschenden männer und krieger angewandt
worden zu sein, während mindestens bei einzelnen völkern frauen, kinder,
unfreie meistentheils nur des begräbnisses theilhaftig wurden. Im verlauf
der zeit aber begann überhaupt wie in andern lebenszuständen ein menschlich
strenger und herber sinn um zu greifen, welchem der mühsame aufwand
des todtenverbrennens lästig geworden war, und der gern die älteste, schein-
bar einfachste weise des bestattens allgemein geltend zu machen trachtete.
Am leichtesten läfst sich der gegensatz beider bestattungen durch die
annahme fassen, dafs das verbrennen nomadischen, kriegerischen völkern,
das grab aber ackerbauenden angemessen erscheint. dem schweifenden
unstäten hirten war feuer sein unentbehrlichstes element, dessen er zum bra-
ten und opfern täglich bedurfte. die grofsen festfeuer durch welche das vieh
getrieben wurde, rühren aus der nomaden zeit, wälder und selbst auf weit-
gestreckten steppen sattsames gesträuch nährte die flammen; welche bestat-
tung wünschen können hätte sich der krieger als vor den augen des volks,
geschmückt und begleitet, von der flamme verzehrt zu werden? dem ein-
sameren ackermann sagte stille beisetzung im engen hause zu; wer das korn
in die erde grub dem muste geziemen auch selbst in die erde versenkt zu sein.
Man hat nunmehr der äufsern gestalt und dem inhalt der alten gräber,
wie sie fast durch ganz Europa sich erstrecken, die nothwendige sorgfalt
gewidmet und einen unterschied nicht übersehn können, der den angegebnen
weisen der leichbestattung auffallend zu begegnen scheint. In mächtigen
steinkammern, deren bauart fernste vorzeit verräth, sind beigesetzte leich-
(') So heutzutage in Siam, wo wie in Indien noch verbrannt wird, als die cholera über-
hand genommen hatte, vergl. deutsche zeitung 1849 s. 2655.
über das verbrennen der leichen. 197
name mit steinwaffen, in erdgräbern aschkrüge mit verbrannten knochen und
ehernem geräth, (') in noch andern hügeln ganz, sei es in gestreckter oder
hockender, kauernder gestalt, bestattete leichen mit eisernen waffen anzu-
treffen. Hiernach ergäbe sich ein steinalter, erzalter, eisenalter, die zugleich
als grabalter, brennalter und anderes grabalter betrachtet und auf die her-
gebrachte, doch in abweichendem sinn entsprungne unterscheidung eines
goldnen, ehernen und eisernen weltalters bezogen werden könnten. Auch
gewänne es allen anschein, dafs die steinbauten einem fremden in unvordenk-
licher vorzeit das land bewohnenden volke beizumessen seien, wogegen erz-
alter und eisenalter füglich von demselben stamm, der nach dem verbrennen
sich wieder dem begraben seiner todten zuwandte, gelten dürfen, wie die
ackerbauer aus den hirten des nemlichen und nicht eines andern volks her-
vorgegangen sind. Dennoch bleibt diese ganze, wiewol im allgemeinen nicht
unhaltbare ansicht einer menge von ausnahmen und näheren bestimmungen
im einzelnen bedürftig, da sich in felsengräbern verschiedner gegenden
nicht nur eisengeräth sondern auch aschkrüge finden, und ohne zweifel eine
schon in vollen besitz des erzes gesetzte, ihre leichen brennende heroenzeit
zugleich auf den brandstätten steindenkmale thürmte. weder ist dem stein-
alter aller leichenbrand, noch dem brennalter aller gebrauch des eisengeräths
abzuleugnen, wie das ganze brennalter hindurch neben dem brennen zugleich
ein begraben mehr oder minder sitte geblieben scheint.
Unter den Heiden des alterthums überwog bei weitem, wie meine
forschung offenbaren soll, das verbrennen der leichen, welches Juden und
Christen, die von anfang an immer begruben, unerträglicher greuel schien.
In der jetzigen welt hat längst das begraben über das verbrennen, dessen
anwendung sich stets enger beschränkt, den sieg davon getragen. Chinesen,
Mahomedaner, Christen, deren glaube über den ansehnlichsten theil der
bewohnten erde vorgeschritten ist, beerdigen ihre todten. wohin das chri-
stenthum drang, da erloschen vor ihm alle leichenbrände. Die Christen be-
gruben, weil im alten testament, soweit dessen kunde reicht, nur begraben
worden und weil Christus aus dem grab erstanden war; hierzu trat dafs die
christliche lehre ihrem ausgleichenden wesen nach den unterschied der stände
(') Der heroenzeit gibt Pausanias II. 3, 6 eherne waffen, an deren stelle hernach eiserne
traten; die benennung %arzeVs für den schmied galt später fort, als er auch eisen bearbeitete.
Nach Strabo XI p. 781 hatten die Massageten genug kupfer und gold, kein silber und eisen.
198 Jacog Grimm
aufhob und den armen wie den reichen, den knecht wie den herrn bestattet
wissen wollte, also ein vorrecht des adels auf den leichenbrand nicht länger
bestehen durfte: denn der adel hat überhaupt ein heidnisches, folglich un-
christliches element. Dem allgemein werden des begrabens kam sicher auch
zu statten, dafs ihm im voraus ansehnliche, noch heidnische secten huldig-
ten und der einflufsreiche buddhismus zu gethan war: den ganzen im mittel-
alter abgöttisch betriebnen reliquiencultus sehn wir wesentlich auf dem be-
graben der leichname beruhen.
Wo sich einer neuen untersuchung vielfacher anhalt darbietet, darf
sie weder unergibig noch überflüssig zu sein fürchten. Das classische alter-
thum, wie man sich denken kann, liegt auch auf dieser strecke nicht unan-
gebaut, hat aber so reichen vorrath, dafs er von immer unangerührten
seiten her versucht und erschöpft, vielleicht auch aus der gemeinschaft mit
barbarischen völkern neu beleuchtet werden mag. Unsre eigne vorzeit, in
dieser beziehung wie den meisten andern wissenschaftlich ganz vernachlässigt,
reicht uns jetzt nur bruchstücke dar, die gleich allem abgebrochnen die ein-
bildungskraft desto stärker anregen und lichter streifen lassen können auf
jene reicheren, darum doch nicht alle fragen beantwortenden denkmäler der
Griechen und Römer. dieselbe bewandtnis hat es beinahe um das alterthum
der übrigen europäischen völker, und nur das indische, mit welchem meine
betrachtung endigen wird, darf hier dem classischen gewachsen oder gar
überlegen sein.
Meine abhandlung schliefst das begräbnis, dessen bräuche vieler und
anziehender erörterungen bedürfen, von sich aus, insofern sie nicht allzu
nahe mit ihr zusammen hängen. hervor zu heben ist, in welchen fällen und
aus welcher ursache neben dem brennen begraben wurde; über diesen wich-
tigen punct ertheilen uns die quellen freilich lange nicht befriedigende aus-
kunft. Bei beurtheilung der geschichteten und entzündeten scheiterhaufen
wird an sich gar nichts verschlagen, ob sie für ein heiliges opfer oder fest,
zum verbrennen der lebendigen oder todten bestimmt waren. denn wir sahen
auch dem brennen der leichen die vorstellung eines opfers unterliegen, und
der sich freiwillig noch in den letzten stunden seines lebens den flammen
weihende held, die dem todten gatten folgende gattin wollen sich selbst zum
opfer darbringen, ja der dem feuer übergebne missethäter (RA. 699) soll als
sühnopfer sterben, und was dem todten zur ehre, konnte dem lebenden zur
über das verbrennen der leichen. 199
strafe gereichen, gerade wie gleich den leichen auch verbrecher lebendig in
die erde gegraben wurden. es scheint demnach die gewohnheit der men-
schenopfer durch das feuer und des feuertodes der verbrecher für das ver-
brennen der leichen wo nicht voll zu beweisen, doch die vermutung zu
begründen, dafs unter dem stamm, der sich einem dieser bräuche ergab,
wenigstens früher auch die andern im gang gewesen seien. (!) unsere deut-
schen Oster und Johannisfeuer z. b. müssen ursprünglich als heidnische
opfer angesehen werden und die schichtung ihrer scheiterhaufen wird wahr-
scheinlich denselben gebräuchen unterlegen haben, die beim leichenbrand
herschten; selbst wo ketzer und zauberinnen im späten mittelalter verbrannt
wurden konnte sich durch überlieferung manches von der beim brennen der
todten früher gültigen weise erhalten. Die gewohnheiten und deren anlässe,
auf welche hier rücksicht genommen werden mufs, sind also höchst manig-
faltig, der gewinn kann aber nicht gering angeschlagen warden, der aus einer
genaueren bekanntschaft mit ihnen allen für die sage wie die geschichte des
alterthums hervorgehn mufs.
Nach dieser einleitung gehe ich auf die verhältnisse des leichenbrandes
bei den verschiednen völkern selbst ein.
Für die GRIECHEN, von welchen billig auch hier anzuheben ist,
um sogleich festen und rechten anhalt zu gewinnen, bewähren das verbren-
nen der todten sowol mythische als historische zeugnisse. Ein scholiast zum
ersten buch der Ilias(?) leitet der ganzen sitte ursprung ab von Herakles,
welcher dem Likymnios verheifsen seinen sohn aus dem heerzug heim zu
führen, und den gefallnen verbrannt habe, um wenigstens asche und gebein
dem trauernden vater zurück zu bringen. Man weifs dafs dieser halbgott
selbst von schmerzen gequält auf der thessalischen Oeta seinen eignen holz-
stofs erbaute und dann anzünden liefs; wie sollten nach solchen beispielen
die leichen andrer heroen den flammen entzogen worden sein? Bei Homer
sind uns drei grofse scheiterhaufen in allgemein bekannten stellen geschil-
('!) Verschieden von dem förmlichen verbrennen einzelner menschen ist das in unserm
alterthum häufige anzünden eines hauses, worin sich viele zusammen befanden und ihren tod
finden musten, wenn sie den jeden ausgang sperrenden feinden nicht entrinnen konnten. be-
rühmte beispiele liefern das “vereiten des sals in den Nibelungen XX und die Niälsbrenna,
vergl. RA. s. 700.
(2) Schol. Il. A, 52, vergl. fragm. hist. gr. ed. C. et Th. Müller 2, 350 b.
200 Jacos Grimm
dert, des Patroklos im 23, des Hektor im 24 buch der Ilias, und des Achil-
leus im 24 der Odyssee, unter welchen doch die erste die ausführlichste und
ergreifendste ist. Nachdem holz im walde gefällt und das gerüste errichtet
war, wird des Patroklos leiche darauf gehoben, Achilleus schneidet sich sein
haupthaar ab und legt es in des todten freundes hand, wirft dann vier hohe
rosse, zwei von neun haushunden geschlachtet und zwölf getödtete zum sühn-
opfer ausersehne Troer aufs gehölz, das nun die flammen verzehren. Ze-
phyros und Boreas werden angerufen die glut anzufachen, als das gerüste
zusammen gesunken und die flamme gestillt war,
NOS mupzai Euagaivero, mauraro 8 BAcE,
kehrten die winde heim, die krieger sammelten das weilse gebein aus der
asche, (') legten es in ein goldgefäfs und schütteten darüber auf der brand-
stätte selbst den hügel. Ebenso verfahren die Troer mit Hektors leichnam,
nur dafs keines mitverbrennens der thiere, noch begreiflich der gefangnen
erwähnung geschieht. Sowol des Patroklos als Hektors leiche waren mehrere
tage liegen geblieben bevor sie zum brand gelangten, ausdrücklich heifst in
der Odyssee von Achilleus, dafs er erst am achtzehnten tag nach dem tode
sei verbrannt worden. Auf die bestattung selbst folgten bei Achilleus wie
Patroklos leichenspiele, kampf und wagenrennen.(?) Beim heerzug der
sieben gegen Thebae standen, wie Pindar sagt (Nem. 9, 54. Ol. 6, 23) &rr«
rugai vor der stadt sieben thoren, man hat doch anzunehmen, eigentlich nur
um die leichen der gefallnen Thebaner zu verbrennen. Wahrscheinlich zehrten
stattliche scheiterhaufen, wenn ihre menge nicht zu grofs war, alle im treffen
gefallnen krieger gemeinschaftlich auf (11.7, 333—336) und was von der zeit
verheerender seuche gilt mufs sich auch auf die die des kriegs anwenden lassen.
Dafs bei den Griechen verbrennen der leichen vorwaltete lehrt am
deutlichsten der technische ausdruck Sarrew, der gar nicht weiter aufs ver-
brennen andrer gegenstände angewandt wird, da er doch ursprünglich der
unmittelbaren wirkung des feuers gehörte, wie die sanskritwurzel tap cale-
facere, urere, pers. taften, lat. tepere, folglich auch das ags. befjan, ahd.
depan, vgl. nhd. dampfen weisen. doch hat sich das wort repga cinis, wel-
chem ich jetzt, der unterbrochnen lautverschiebung ungeachtet, das ags.
(!) "Osrsoroyie, ÖrroAoyie Diodor 4, 38. lat. ossilegium.
(2) Leichenspiele Il. 23, 258. Od. s, 100. 24, 70. Statius Theb. 6, 296. Virg. Aen. 5, 104.
über das verbrennen der leichen. 201
tifor, ahd. zepar d.i. opfer zu vergleichen geneigt bin. Sarrw aber, wie
gesagt, bezeichnet nicht mehr das brennen selbst, wofür zaw gebraucht wird,
sondern das bestatten der verbrannten leiche, sowie rabes und rapy ursprüng-
lich brandstätte aussagen musten, allmälich das auf ihr geschüttete mal, folg-
lich grab und grabmal ausdrücken. nah verwandt liegen rUußes und rupew
dampfen, rauchen. Sarrew wird demnach Il. 21, 323. Od. 12, 12. 24, 447
in der sache richtig durch verbrennen aus zu legen sein, Od. 12, 13 folgt
auch unmittelbar &rei vergos &xan, und ein gedicht der anthologie darf treffend
mug Sarrew igne sepelire verwenden. Wenn Herodot 9, 85 die bestattung
der leichen auf dem schlachtfelde von Plataea (479 vor Chr.) schildernd sich
nur der ausdrücke Sarreıv und rades bedient, nie von xaieıv redet, so könnte
zwar angenommen werden, dafs er den bekannten brauch des brandes voraus
setzt; richtiger aber scheint mir hier jene unthunlichkeit des verbrennens
eingetreten zu sein, wie die grofse menge der todten aus dem hervor heben
der einzelnen griechischen stämme bei diesem begraben hinweist. Thukydi-
des hingegen bei darstellung des grofsen athenischen sterbens (434 vor Chr.)
läfst 2, 52 neben Sarrew und ra«py die wörter rug« und zairSau einflie-
fsen, so dafs kein zweifel bleibt, dafs das allmäliche fallen der opfer dennoch
den brand gestattete. Bei Sophokles als Antigone auf den nackt liegenden
bruder Polynikes durstigen staub (dıliav xevı) schüttet, werden Surrew, rapw
zaAurreıv oder nOUTTEW, arades und aSarros überall auf begraben bezogen,
ohne dafs die vorstellung des verbrennens ausdrücklich hinzu träte. Im
Phaedo p. 115 läfst Plato den Sokrates von Krito gefragt werden: Sarrwusv
Ö& we riva oomcv; und der antwortende stellt ihm art und weise des bestattens
gänzlich frei, unterscheidet aber ein swu« kasuevov und HATOQUTTOJEVOV, so dafs
beide arten damals im schwang gewesen sein müssen, (1) #«rogurrew drückt
humare im eigentlichen sinn aus. Kyrews rad bei Diodor 19, 34 ist deutlich
die stelle wo Ceteus eben erst soll verbrannt werden, folglich kann auch
hernach i rau rersAeurnaerwv rabn auf ein verbrennen aller andern in der
schlacht gefallnen gehn. Schwerlich dürfte in älterer zeit Sarrew für ein
bestimmtes ögurrew, d.h. eingraben unverbrannter leichen gesetzt werden,
. . D7 z De
insel Delos ein todter weder begraben noch verbrannt werden durfte: od yag eEesrw Ev aurn
N Andy Scrrew oüde zuisw vergov. so war auf der insel Reichenau im Rhein ein ungetauftes
kind zu bestatten untersagt. (d. mythol. s. 567 anm.)
Philos.- histor. Kl. 1849. Ce
202 Jacog GrImM
obschon rapgev ögurcew bereits in der Ilias graben ziehen bedeutet. ein noch
allgemeinerer ausdruck des bestattens war #ndevew von »Ados sorge, trauer und
leichbegängnis. Aber noch Lucian (de luctu cap. 21) als er die characteristi-
schen leichenbestattungsarten der verschiednen völker angibt, stellt verbren-
nende Griechen den begrabenden Persern entgegen: 5 nv "EAAyv Enausev, ö
de Ilegons eIunbe.
Um beispiele berühmter männer, deren leichen verbrannt wurden,
auszuheben, so gehören nach Plutarch dahin Solon, Aleibiades, Timoleon
und Pyrrhus. Alexanders des grofsen leichnam kam bekanntlich auf keinen
holzstofs, sondern wurde einbalsamiert und nach Agypten gesandt. Ge-
wöhnlich aber mangelt die angabe der bestattungsart oder lautet unbestimmt;
wenn es bei Arnobius 6, 6 von Cecrops heifst ‘terrae mandatus’, so schliefst
das kein vorgängiges verbrennen aus, wiewol nach Cicero de leg. 2, 25 dieser
von Äeypten hergekommne Cecrops in Athen gerade die humation eingeführt
haben soll.
Die griechische sage und geschichte ist voll treuer knechte, freunde
und frauen, die sich aufzuopfern bereit sind. Evadne, als Kapaneus ihr
gemahl verbrannt wurde, stürzte sich in den scheiterhaufen um den tod mit
ihm zu theilen, wie aus den supplices des Euripides erhellt. Pausanias 4, 2
meldet, dafs Marpessa, Kleopatra und Polydora, drei messenische frauen
desselben geschlechts, nach ihrer männer absterben sich selbst tödteten,
Eauras Eriraresdafav, man darf folgern dafs sie hernach auch mit ihnen ver-
brannt wurden. Lucian de luctu cap. 14 von den mit verbrannten pferden,
kebsen, weinschenken und kleidern redend bedient sich gerade so der aus-
drücke rızarerpafav und vuyzaresrsfav. Nach einer angabe des Duris Samius
(fragm. hist. gr. 2, 486) war es griechischer, wenigstens makedonischer
brauch, dafs die töchter bei der leiche des vaters den scheiterhaufen anzündeten.
Den scheiterhaufen nannten die Griechen rug« oder rugraia, was feuer-
stätte allgemein bezeichnet, den aschenkrug oder die urne regos. Pindar
Pyth. 3, 68 bedient sich der worte reiyos Evrwev, hölzerner wall, welches ich
im sinne von cratesnehme. Als desPatroclus leiche verbrannt werden sollte,
giengen die männer zur waldanhöhe, fällten hohe bäume, die sie spalteten
(dia mryrrovres) und auf mäuler geschnürt zur ebne hinab trugen; nun wurde
die ug4 hundert fuls ins gevierte (Enarouredes EvSa nal &vIa) errichtet, es
kommt zumal auf den ausdruck an vyeov UAyv, wevosizea vyeov VAyv 11.23, 139. 163
über das verbrennen der leichen. 203
und vergeüs mupzains Emrevyveov 11. 7, 428. ABl. man pflegt mugav vncaı häufen
oder schichten des holzes auszulegen, ich möchte den gewöhnlichen sinn
von vew, nemlich nere und nectere festhalten, wie auch lat. nere für nectere,
plectere verwandt wird, Plinius 17. 20, 33 sagt von sich schlingenden pflan-
zen: inter se radices serpunt, mutuoque discursu nentur. das lat. glomerare
kann lehren, wie aus nectere, involvere der begrif übergeht in den von
owgevew. (1) Für den scheiterhaufen lag es daran schnellentzündbares holz
zu schaffen und die frischgehaunen waldbäume würden dazu ohne zwischen-
geflochtne dörner nicht gedient haben: die bäume gaben blofs den festen
itheil des gerüstes ab, das mit reisig durchwebt werden muste. das scheint
mir wugav vyocı und für meine ganze abhandlung wird entscheidend, dafs ich
gewicht darauf lege. Dabei kommt mir eine stelle Theocrits 24, 87 zu stat-
ten, die zwar von keinem holzstofs für menschliche leiche redet, vielmehr
worauf giftiges gewürm verbrannt werden soll. eben hat die schlangen des
jungen Herakles kraft erdrückt, und Tiresias ermahnt Alkmenen
AA yuvaı a) Ev Tor ÜMO OmodD eurunov Erw,
zayrava 0° armaraIw Eur Eromarar D) marıoupw
n Barw dveuw dedovnuevov avov anegdev
nule de Twd” dypmaw Emi oxicnmı dadrovre.
armaraSos ist ein dornstrauch, wofür es aber einen bestimmten deutschen namen
geben muls, raArcugos (sonst fauves) unser hagedorn, Bares weifsdorn, dy,epdas
zaundorn, also vier dornarten, gewis mit absicht und nach alter vorschrift
auserlesen; das zasıy aygimsw Em oxCysı stimmt zu einem &ygioıs zarazadraı
Evrcıs bei Phrynichus dem grammatiker, (?) der, wie ich belehrt werde, seine
beispiele gewöhnlich attischen dichtern, zumal comikern entlehnt. Ich mut-
mafse, als die Griechen noch nomaden waren, bedienten sie sich zum
leichenbrand bestimmter vielleicht geheiligter dörner, deren bedeutsamkeit
allmälich verloren gieng und im andenken des volks zuletzt nur noch für das
verbrennen von drachen und ungeheuern haftete, wie in manchem andern
(') Hegwzew Ürn 70 @?r0s, nemus eircumnectere lignis Her. 6, 80; freilich cirev razavnveov
&v zevtosı Od. 1, 147. 16, 51 heilst sie legten, schichteten brot in körben, und au«£es pgu-
yavav Emweovsı Her. 4, 62 sie beladen wagen mit reisern. vyros ist gesponnen, gewunden
und dann gehäuft, wie sich gewundnes garn um den glomus häuft. vnvew mag aus dvaviu
entsprungen sein.
(?) Bekkers anecd. gr. 10, 26.
Ce?
204 Jacos Grimm
fall auf thiere die längste anwendung behielt, was vordem für menschen recht
und sitte war. im allgemeinen dürfen solche dörner davyava heifsen von
douyu devrew torreo. Homer nennt sie schon nicht mehr, wenn er nicht
unter jenem vyraı dörner flechten verstand.
Ohne zweifel war von allen bestattungsarten wenigstens im höhern
alterthum der Griechen verbrennen die vorherschende und nicht auf krieger
und vornehme, deren scheiterhaufen nur prächtiger eingerichtet wurden, be-
schränkt. Dafs nicht allein die durchs schwert getödteten, auch die von der
pest weggeraften der flamme verfielen lehrt schon der homerische, vers
aieı Ö& mugal veruuv xalovro Iaueıci,
als Phoebus Apollon seinen pfeil im lager hatte erklingen lassen, und noch
mehr die schon vorhin angezogne beschreibung des grofsen sterbens zu Athen
bei Thucydides. Aber die nEgauvwJeuTes, weil sie der himlische strahl ge-
troffen hatte, blieben des irdischen feuers untheilhaft, und wurden, wie
Artemidor 2, 8 meldet, alsbald an der stelle begraben, wo der blitz sie ge-
rührt hatte. Über Kapaneus müssen des Euripides supplices 934 ff. ver-
glichen werden. Nicht anders liefs man selbstmörder, die das feuer verun-
reinigt hätten, unverbrannt, wofür Philostratus imag. 2, 7 des Ajas beispiel
anführt, den Agamemnon, ohne ihn den flammen übergeben zu haben, ein-
graben liefs und bei dessen tod auch Sophocles keines feuers gedenkt. (1)
Beides sind jedoch nur seltne ausnahmen, die gegen die häufige anwendung
des brands bei den Griechen kaum in betracht kommen. Gröfsern eintrag
gethan haben mufs ihm schon frühe die absonderung zahlreicher theiledes
volks in bestimmte gesellschaften, wobei ich vorzüglich die anhänger der
Eleusinien, so wie die Pythagoraeer ins auge fasse. Die richtung der weit-
verbreiteten Eleusinier auf geheimnisse der Demeter und Trioptolems durfte,
scheint es, grundsätzlich zwar reinigungen durch mystisches feuer, ‚keinen
leichenbrand gestatten und auch in den verstorbnen nur Anumreious oder Ce-
reales anerkennen. darum wird in des Dialogos grabschrift
Ev9ade AuaAoyos naSapy mugi yuia nasngas
Ürnerys Tobıns WXET &s aSavarous
die reine flamme der ug«, keine eleusinische gemeint. Nicht minder galt
bei den Pythagoraeern, dafs keine todten verbrannt würden; die Platoniker
(') Auch nach dem volksglauben des mittelalters kommen selbstmörder nicht: auf die grüne
wiese (ins paradies.) Flore 2422.
über das verbrennen der leichen. 205
ir
liefsen sich beides, verbrennen oder. begraben gefallen. Der Stoa, welche
sich das feuer göttlich, einen weltbrand am ende aller dinge dachte, hätte
eine Enmugweis auch für die leichen nicht können decken, doch weils
ich kein zeugnis dafür. Wer alle mysterien und philosophischen systeme
bei den Griechen in dieser beziehung untersuchen wollte, dem würde vielleicht
ausbeute lohnen. man darf wol annehmen, dafs in den letzten drei jahrh.
vor Christus das verbrennen der leichen zwar noch in Griechenland fort-
dauerte, dafs aber auch häufig blofs beerdigt wurde.
Unter den RÖMERN sind Cicero und Plinius einverstanden darin,
dafs für ihr volk dem brennen ein älteres begraben der todten voraus gegan-
gen sei, welches zu jener annahme eines steinalters vor dem brennalter siim-
men würde. Ipsum cremare, drückt sich der letztere schriftsteller 7, 54 aus,
apud Romanos non fuit veteris instituti; terra condebantur. at postquam
longinquis bellis obrutos eruiscognovere, tune institutum. et tamen multae
familiae priscos servavere ritus, sicut in Cornelia nemo ante Sullam dictato-
rem traditur crematus, idque eum voluisse veritum talionem, eruto ©. Marii
cadavere. Cicero, in der dem Plinius augenscheinlich vorliegenden stelle
de legibus II. 22, 26 vom alterthum des beerdigens redend fährt also fort:
eodemque ritu in eo sepulero, quod ad Fontis aras, regem nostrum Numam
conditum accepimus, gentemque Corneliam usque ad memoriam nostram
hac sepultera scimus esse usam. C. Marii sitas reliquias apud Anienem dissi-
pari jussit Sulla victor, 'acerbiore odio incitatus, quam si tam sapiens fuisset,
quam fuit vehemens. quod haud scio an timens suo corpori posse accidere,
primus e patriciis Corneliüis igni voluit cremari. Das hier von Numa gesagte
findet sich auch bei Plutarch cap. 22 bestätigt, nach welchem Numa seinen
leichnam zu verbrennen selbst untersagt hatte, so dafs gleichwol der leichen-
brand als bereits vorherschend angenommen werden mufs. war dies aber
der fall zu Numas zeit, so mag 300 jahr später, als die zwölf tafeln gegeben
wurden, das brennen noch Enke er im schwang gewesen sein, wie das
5
“hominem mortuum in urbe ne sepelito neve urito’, das 'rogum ascia ne po-
lito‘, ‘vino rogum ne respergito’, und 'homini mortuo ossa ne legito’ ver-
kündigen.
Virgil läfst in seinem gedicht, dessen eilfies buch die grofse leichen-
feier so schön darstellt, auf seite der Trojaner alle todten verbrennen, auf
seite der Latiner.auch viele beerdigen (11, 204), was vielleicht die ansicht
206 Jacos GrimM
a a
ausdrücken soll, dafs die alten landesbewohner, im gegensatz zu den troja-
nischen ankömmlingen, noch dieser gewohnheit huldigten. auch des troja-
nischen Misenus leiche wird den flammen übergeben. wer aber wollte
glauben, dafs die Trojaner die sitte des leichenbrandes erst in Latium ein-
geführt hätten? man kann blofs das ‚einräumen, dafs von altersher da-
neben auch unverbrannte leichen in die erde gesenkt wurden und einzelne
geschlechter, wie das cornelische, diesem brauch lange anhiengen. sicher
aber wurde das verbrennen nicht gebräuchlich, um dem zerstören der gräber
einhalt zu ihun, da man auch die urnen in hügeln beisetzte, die umgewühlt
werden konnten. Plutarch tom. 2 p. 499 (ed. paris. 1841. 3, 604) meldet,
dafs ein Decius (welchen der dreie meint er?) auf einem in der mitte des
heeres errichteten scheiterhaufen (rugav vyr«s) dem Saturn sich geweiht habe,
was die sitte des leichenbrands und deren zusammenhang mit opfern vor-
aussetzi.
Man weifs, dafs die berühmtesten männer der römischen geschichte
auf scheiterhaufen verbrannt wurden, ich will hier blofs Antonius, Brutus,
Julius Caesar, Pompejus, Octavius Augustus, Tiberius, Caligula und Nero
nennen. (!) Erst mit dem vordringen des christenthums im römischen reich
begann das verbrennen aufser gebrauch zu gerathen, im dritten Jahrhundert
hatte es zu Rom völlig aufgehört (?) und gegen den schiufs des vierten be-
zeugt dies aufhören Macrobius Saturn. 7, 7, der uns noch eine ihm bekannt
gewordne merkwürdige nachricht aufbewahrt: (*) licet urendi corpora de-
functorum usus nostro seculo nullus sit, lectio tamen docet, eo tempore quo
ig
simul incenderentur, solitos fuisse fuınerum ministros denis virorum corpo-
ni dari honor mortuis habebatur, si quando usu venisset ut plura corpora
ribus adjicere singula muliebria, et unius adjutu quasi natura flammei et
(!) Die Poppaea liefs Nero einbalsamieren: corpus non igni abolitum, ut romanus mos,
sed regum externorum consuetudine differtum odoribus conditur, tumuloque Juliorum infertur.
Tac. ann. 16, 6.
(2) Apollinaris Sidonius, ein christlicher schriftsteller aus der zweiten hälfte des fünften
jahrh. bedient sich epist. 3, 13 eines vom leichenbrand entnommnen gleichnisses, ohne dals
man daraus folgern dürfte, die sitte habe sich vielleicht in Gallien länger behauptet: enimvero
illa (persona) sordidior atque deformior est cadavere rogali, quod facibus admotis semicom-
bustum, moxque sidente strue torrium devolutum reddere pyrae jam fastidiosus pollinetor
exhorret.
(3) Ich gewahre, dafs schon früher Plutarch quaest. conviv. 3, 4 dasselbe berichtet.
über das verbrennen der leichen. 207
ideo celeriter ardentis cetera flagrabant. ita nec veteribus calor mulierum
habebatur incognitus. Ob das wahrnehmungen neuerer physiologen bestä-
tigen weils ich nicht, nach diesem zeugnis gehörten also die Römer nicht zu
den das verbrennen auf männer einschränkenden völkern, und zugleich er-
hellt, dafs ein und derselbe scheiterhaufe mehrere leichen zu umfassen
pflegte. Stellen Tertullians lehren dafs wenigstens im zweiten Jahrhundert
der leichenbrand zu Carthago üblich war. de corona militis cap. 9: et cre-
mabitur ex disciplina castrensi Christianus, cui cremare non licuit, cui Chri-
stus merita ignis indulsit? de resurr. carnis cap. 1: sed vulgus invidet,
existimans nihil superesse post mortem. et tamen defunctis parentant et
quidem impensissimo officio pro moribus eorum, pro temporibus sepulto-
rum, ut quos negant sentire quicquam, etiam desiderare praesumant. at ego
magis ridebo vulgus tunce quoque cum ipsos defunctos atrocissime exurit,
quos postmodum gulosissime nutrit, iisdem ignibus et promerens et offen-
dens. o pietatem de cerudelitate ludentem: sacrificat an insultat, quum cre-
matis cremat. gemeint scheinen die zum dienst der verbrannten leichen mit-
verbrannten sachen.
Die römischen dichter liefern uns erhebende, für den gebrauch lehr-
reiche darstellungen des leichenbrandes. aufser Virgils lieblicher schilderung
des bestatteten Pallas (11, 64—192) (!) und der des Misenus (6, 179— 230)
sei hier nur auf Tibulls zweite elegie des dritten buchs gewiesen, wo es unter
anderm heifst
"3 ergo cum tenuem fuero mutatus in umbram
candidaque ossa super nigra favilla teget,
ante meum veniat longos incompta capillos
et fleat ante meum maesta Neaera rogum.
sed veniat carae matris comitata dolore:
maereat haec genero, maereat illa viro.
praefatae ante meos manes animamque precatae
perfusaeque pias ante liquore manus,
pars quae sola mei superabit corporis, 0ssa
incinetae nigra candida veste legent,
et primum annoso spargent collecta Lyaeo,
mox etiam niveo fundere lacte parent,
(') Dies grab des Pallas wollte man im mittelalter gefunden und eröfnet haben, nach
Veldeckes Eneit 8324 ff. zur zeit kaiser Friedrich Rothbarts im jahre 1150, nach den chronisten
schon früher unter Heinrich dem dritten um das jahr 1045, vergl. Pistorius 1, 1140, 3, 117 und
Fel. Fabri evagatorium 3, 54.
208 Jıcos Grimm
post haec carbaseis humorem tollere velis
atque in marmorea ponere sicca domo.
Aber noch mehr aus dem menschlichen leben gegriffen sind die zahlreichen
epitaphe, voll des herzlichsten gefühls; ich meine, kein volk der erde war so
bereit und gerüstet zu einfachen sinnreichen inschriften bei allen anlässen des
lebens, aber auch keine andre sprache so geschickt dafür wie die lateinische,
zumal wo in prosa abgefalst wird, denn in metrischen grabschriften möchten
es die Griechen den Römern noch zuvor thun. welchen schatz von kennt-
nissen verdankt die nachwelt diesen in marmor gehaunen klaren buchstaben;
rechten gegensatz bildet die dürre des inhalts der runen auf nordischen grä-
bern, oder das barbarische zwar wortreiche doch gedankenarme deutsch auf
den leichensteinen unsrer kirchhöfe, dessen schnelles verwittern kommenden
zeiten keine sehnsucht wecken wird.
Die Römer gebrauchen sepelire für bestatten in so allgemeinem sinn,
dafs es bald terra condere, humare, bald auch concremare und comburere
ausdrücken kann.(!) bustum deutete ich in einer jüngst vorgelesenen abhand-
lung über die wörter des leuchtens und brennens aus ambustum, was die
verba amburere und comburere bestätigen. Festus sagt, bustum proprie
dieitur locus in quo mortuus est combustus et sepultus, dieiturque bustum
quasi bene ustum; ubi vero combustus quis tantummodo, alibi vero sepul-
tus, is locus ab urendo ustrina vocatur, sed modo busta sepulera vocamus.
demnach ist bustum gleich dem gr. r@pes aus seinem ursprünglichen begrif
einer brandstätte in den des grabs allgemein übergegangen, nur dals <
Römern der bezug auf urere fühlbarer blieb als den Griechen bei Tabos und
Sarrew. auch den namen urna, der häufig vom aschkrug des grabes gilt
(man sagte cineres in urnam condere und caelo tegitur qui non habet urnam)
leite ich lieber als vom skr. väri aqua oder vom gr. cügelv und cugavn einfach
ab vom lat. uro selbst, sei damit der gebrannte thon oder die verbrannte
asche gemeint. Dem scheiterhaufen gaben die Römer bald die gr. benennung
pyra, bald die ihnen eigne rogus, welches von regere, wie toga von tegere
stammt; regere mag ursprünglich ausdrücken struere, congerere und dem
goth. rikan entsprechen, so dafs sich für rogus der begrif von strues, con-
geries von selbst einfindet. der genauere sprachgebrauch wendet auch pyra
(') Plaut. Men. I. 2, 43 ist sepulcrum brandstätte, wie das folgende comburamus und incendo
rogum ergibt.
über das verbrennen der leichen. 209
auf den ignis rogi an, rogus auf die strues lignorum, in qua imposita cada-
vera cremantur. man sagte in rogum imponere, inferre und ascendere rogum.
Ich kann hier anzuführen nicht umhin, dafs nach Pollux 9, 46 (ed.
Bekker p. 369) $eyot auch kornschober und sıroßerıe hiefsen, wie gr. Topös
todtenbehälter an swgös getraidehaufe und haufe überhaupt mahnt. dazu
verglich ich gesch. der deutschen spr. s. 235 ein thrakisches eıgos sirus,
welches getraidehöle bezeichnet mit deutschen und finnischen wörtern; jetzt
liegt mir an hervorzuheben, dafs den Etrusken oder Tusken die pforte der
unterwelt für einen kornbehälter galt und der erde segen mit dem wirken
einer unterirdischen welt in berührung stand (O. Müller 2, 98), wie die
aegyptischen pyramiden so wol königsgräber als kornkammern, wgeia Barırza
cırodoy,& heifsen, (') wir werden noch mehr ausdrücken begegnen, die zu-
gleich scheiterhaufen und kornschober bezeichnen. pila, was sonst columna,
xiwy aussagt, findet sich nicht für rogus, doch das mlat. pila nimmt den sinn
von strues an, woher das engl. pile, scheiterhaufe.
Das zündbare holz hiefs eremium, lignum aridum, quia facile crema-
tur, aber auch sarmen (von sarpo): ignem et sarmen eircumdari. Plaut. Most.
V.2,65; ligna et sarmenta eircumdari, ignemque subjicere. Cie. Verr. II. 1,
27. inschriften haben die formel: subito conlectitioque igne cremare, wofür
dörner sich eignen. dennoch finde ich nie einen der ausdrücke, woran das
latein reich ist, spinus, rubus, dumus, prunus, vepris, sentis (neben sentix
und dem ad). sentus) beim entzünden des rogus verwandt, und weifs nicht,
ob Catull, wenn er carm. 34 des Volusius seripta ‘infelieibus ustulanda lignis’
bezeichnet, infelix etwan im sinn jenes gr. @ygıos setzt. Zur zeit aus welcher
uns schilderungen römischer scheiterhaufen zustehn hinterbleibt also von je-
nem nomadischen gebrauch der dörner zwar keine spur; doch beachte man,
dafs prunus durch seine verwandtschaft mit pruna und prurio, rubus durch die
mit rubeo gleichwol auf die vorstellung des brennens weisen. (?) Auf schnel-
les niederbrennen des holzstofses und volles zerstören der leiche wurde be-
dacht genommen. Wenn bei Sueton im Caligula gesagt wird cap. 59: cadaver
tumultuario rogo semiambustum, so drückt das verachtung aus, und bei dem
im voraus um seine leiche besorgten Nero heifst es, dafs sein gefolge mit
(') Etymol. magn. 632, vergl. Gregor. turon. 1, 10.
(?) Schon Isidor: pruna a perurendo; man nimmt sonst pruna carbo für prusna, wie dumus
für dusmus, leitet aber prunus vom gr. mgoÜvos = rgoJuvos.
Philos.- histor. Kl. 1849. Dd
210 Jacog Grimm
mühe erlangte ut totus cremaretur, wie auch bei Tibers bestattung der ruf er-
schollen war: in amphitheatro semiustulandum. nichts anders will ambustulare
sagen: ambustulatum objieiam magnis avibus pabulum. Plaut. Rud. 4, 65.
Man pflegte das holzgerüste auszuhobeln (wie jenes zwölftafelverbot
lehrt), mit tüchern, gewändern und waffen zu schmücken, auch anzumahlen
und starkduftende cypressen rings aufzustellen. Wer anzündete, und gewöhn-
lich war es der nächste verwandte, wandte das gesicht ab (subjectam more pa-
rentum aversi tenuere facem.) Blumen, vögel und andere opferthiere wurden
reichlich auf die flamme geworfen und mitverbrannt, wein und wolgerüche
gesprengt; eines mitverbrennens der frauen und witwen gedenken römische
quellen nicht. (!) die aus dem brand gelesnen knochen und aschen setzte
man in hügeln und gräbern bei. columbarium hiefs der raum des grabs, wo
die aschkrüge zusammengestellt waren; da dieser ausdruck eigentlich das
lager der tauben im gebälk, von wo sie ausfliegen, bezeichnet, darf man
vielleicht einen bezug auf den flug der seelen vermuten, die oft den tauben
verglichen werden.
Ausgenommen vom brand waren einmal kinder die noch nicht gezahnt
hatten. Plinius 7, 16 spricht es als allgemeinen brauch aus: hominem prius-
quam genito dente cremari mos gentium non est; des kindes knochen sind
noch unfest und dem feuer widerstand zu leisten unfähig. auch Juve-
nal 15, 138:
naturae imperio gemimus, quum funus adultae
virginis occurrit, vel terra clauditur infans
et minor igne rogi,
durch welchen gebrauch die erst beim zahnen erfolgenden geschenke für das
kind in unserm alterthum bedeutsamkeit erlangen.
Ferner blieben unverbrannt fulguriti (Plin. 2, 54), wegen der heilig-
keit des vom blitz getrofnen bodens. Ob der tod durch krankheit oder in
der schlacht erfolgte scheint keinen unterschied der bestattungen zur folge
zu haben, und dafs frauen neben männern verbrannt wurden, lehrt Macrob.
Wichtig aber wäre genauer zu wissen, welche altrömischen geschlechter
aufser dem cornelischen ihre todten, während der leichenbrand vorherschte,
unverbrannt begraben liefsen. Wahrscheinlich bestanden auch schon vor
(') Wenn es bei Plautus im Rudens III. 4, 62 von zwei mädchen heilst: imo hasce ambas
hic in ara ut vivas comburam, so sollen sie als brandopfer der Venus fallen, und die stelle ist
nachahmung einer griechischen.
über das verbrennen der leichen. 211
dem sieg des christenthums, seit griechische, jüdische und christliche secten
vordrangen, genug anhänger derselben, die ihre leichen der flamme entzogen.
Die bestattungsgebräuche der ALTITALISCHEN völker, von jenem
durchbrechenden gegensatz zwischen Latinern und Trojanern abgesehen,
sind uns verschollen. Auch in Etrurien scheint beerdigung ältere sitte, die
später dem verbrennen wich und nur noch für blitzerschlagene beibehalten
wurde. in den gräbern finden sich ganze leichen eingescharrt und grofse
steinsärge neben den gewöhnlichen urnen aufgestellt (O. Müller 2, 160.)
Von den leichen der GALLIER ertheilt Julius Caesar wichtige nach-
richt 6, 19: funera sunt pro cultu Gallorum magnifica et sumtuosa, omnia-
que quae vivis cordi fuisse arbitrantur in ignem inferunt, etiam animalia, ac
paullo supra hanc memoriam servi et clientes, quos ab iis dilectos esse con-
stabat, justis funeribus confectis, una cremabantur. das brennen ist also
hier unzweifelhaft und zum überflufs sagt Mela III. 2, 3: itaque cum mortuis
cremant ac defodiunt apta viventibus. olim negotiorum ratio etiam et exactio
erediti deferebatur ad inferos, erantque qui se in rogos suorum velut una
vietori libenter immitterent. Mit Caesars meldung mufs man aber noch ver-
binden, was er 6, 17 voraus geschickt hatte: alii immani magnitudine simu-
lacra habent, quorum contexta viminibus membra vivis hominibus complent,
quibus succensis circumventi flamma exanimantur homines. hier handelt es
sich nicht von leichen, sondern von menschen, verbrechern oder unschul-
digen, die den göttern zum opfer dargebracht und der flamme übergeben
werden; das weidengeflecht (sarmen) mahnt wieder ans vyraı rugav, und
an die zurüstung des scheiterhaufens bei andern völkern. Busta Gallorum
hiefs ein ort in den Apenninen, wo eine niederlage der Gallier erfolgt war
(Procop. b. goth. 4, 29.)
Aus dem spätern alterthum der Kelten weifs ich kein zeugnis für den
leichenbrand aufzuweisen und es befremdet darüber gar nichts weder in
irischen noch welschen quellen zu entdecken; Ossians nebelgeister der hel-
den sind sich keines verbrennens, bevor sie der hügel deckte, bewust. Aber
nichts wird auch einzuwenden sein gegen die aschenurnen und brandüber-
reste, die in entschieden keltischen gräbern allenthalben wahrzunehmen sind.
Und sollte nicht das ir. draighean, gal. draighionn dorn, draighneach schwarz-
dorn, draighbiorasg zunder, drag feuer auf das entzünden des feuers mit
dörnern leiten? draighean ist das welsche draen, armor. drean = sl. tr'n”,
Dd2
312 Jacos Grimm
goth. paurnus, hd. dorn, die nicht minder den begrif des brennens in sich
zu tragen scheinen; ja eine andre wurzel, das ir. gal. teine, welsche tän feuer
schliefst sich, obschon ohne lautverschiebung, an das goth. tains, ags. tän,
altn. teinn, ahd. zein virgula, vimen, sarmentum, vielleicht sogar an goth.
tandjan, ahd. zuntan incendere.
Von der bestattungsweise bei den SKYTHEN hätte man gern genauere
auskunft. Herodot 4, 71 beschreibt höchst lebendig das verfahren der am
Borysthenes wohnenden Gerrhen mit der leiche ihres königs. erst wird eine
grube gegraben, dann der leichnam einbalsamiert und auf einem wagen bei
allen unterwürfigen völkern herum geführt. darauf kommt er in die grube,
auf beiden seiten werden spere in die erde gesteckt, hölzer darüber gelegt
und mit geflecht bedeckt. in dem grabe wird auch eine der frauen, vorher
erdrosselt, bestattet, der weinschenk, koch, marschall und bote, dann pferde,
erstlinge von allen andern sachen und goldschalen, zuletzt erde aufgeworfen
und ein grofser hügel errichtet. Nach verlauf eines jahres werden funfzig
diener und eben so viel pferde getödtet, allen der leib aufgeschnitten und
an die stelle des ausgenommnen eingeweides mit stroh gefüllt und wieder zu
genäht. Dann festigen sie halbe radfelgen auf zwei hölzern in die erde, sto-
fsen eine stange der länge nach bis zum hals durch die pferde und setzen sie
auf die felgen, legen den pferden zaum und gebifs an und lassen auf jedes
pferd einen der funfzig jünglinge nieder, denen eine stange durch den rück-
grat bis zum halse getrieben ist, deren unteres ende in dem durch die pferde
reichenden holze haftet. dies gerüste bleibt um das grab aufgestellt. Das
ganze gerüste gleicht nun auffallend der pyra equinis sellis constructa, auf
welcher der verwundete Attila, um nicht seinen feinden in die hände zu fal-
len, sich selbst verbrennen wollte (Iornandes cap. 40) und wahrscheinlich
war auch die später über seinem grabe errichtete strava d.i. strues (vom
goth. straujan sternere, Iornand. cap. 49) ebenso errichtet, auch das im
Sachsenspiegel geschilderte alterthümliche wergeldsgerüste und die anordnung
nordischer und angelsächsischer scheiterhaufen wird licht darauf werfen.
Herodot gedenkt dabei keines feuerbrands (wie auch in Lucians Toxaris cap.
43. 59 blofs von Sarrew geredet wird); man darf ihn aber sich hinzu denken,
wie auch die ra«pcı varguıcı der Skythen, nach allem was vorhin über den
gr. sprachgebrauch erörtert wurde, verbrennen nicht ausschliefsen. Der
Skythen vorwaltende neigung zu feierlichen gerüsten erhellt am aller deut-
über das verbrennen der leichen. 913
lichsten aus dem drei stadien langen und breiten reiserhaufen, oyxos pguyavwr,
welchem jährlich 150 wagen frischen vorrath zuführten (Herod. 4, 62.) da
sich pguyavor von peursw ableitet, mutmafse ich, dafs die dörner eben zum
zünden der opfer dienten, die hier dem Ares gebracht wurden, dessen altes
eisernes schwert oben auf der spitze des haufens prangte.
er Nicolaus Damascenus fragm. 117 (fr. hist. gr. 3, 459) berichtet von
wahrscheinlich pontischen Kianern; Kio reis aroSavevras naranavravres zul
ÖnToAoyyravrss Ev OAuw Ta ÖTTE KHUTamTisTounw, Era EuSevres Eis TAolov ul
#onnwov Aulovres dvamıssurıv eis FEAaYoS nal moos Tev Avsuov &Eodialourw, aygıs
av Favra EndurySg za apavf yeınra (1).
THRAKISCHER gräber gedenkt Herodot 5,5 bei den Krestonaeern,
einem den Geten und Trausen nahverwandien stamm. die geehrteste und
geliebteste frau wird auf des verstorbnen mannes hügel vom nächsten freund
getödtet und mitbegraben: Shader Es Tov radov ÜmS TU oirmwrarcu Ewuris,
oday,Seira de auvSarreraı 79 üvdg. auch hier darf unter r«bos vorzugs-
‚weise die brandstätte verstanden werden, da das mitsterben der frauen
ursprünglichen leichenbrand voraussetzt. dazu sagt Mela II.2, 4 von den
thrakischen frauen: super mortuorum corpora interfiei simulque sepeliri vo-
tum eximium habent, und gleich darauf arma opesque ad rogos deferunt.
Überall, wo mitverbrennen lebender statt fand, liefs man ein er-
würgen vorausgehen.
Indem ich mich nun zu der untersuchung wende, ob leichenbrand
oder bestattung unverbrannter leichen bei den DEUTSCHEN der vorzeit
gegolten habe; so überhebt uns ein kostbares zeugnis des römischen schrift-
stellers, ohne welchen insgemein unser frühstes alterthum dunkel und glanz-
los geblieben wäre, aller zweifel. diese unverwerfliche beochtung des Tacitus
(denn Caesar hat hier von den Germanen gar nichts berichtet) mufs demnach
an die spitze aller übrigen nachrichten treten. er sagt cap. 27: funerum
nulla ambitio. id solum observatur, ut corpora clarorum virorum certis
lignis crementur. struem nec vestibus nec odoribus cumulant: sua cuique
arma, quorundam igni et equus adjieitur. sepulerum cespes erigit; monu-
(') Im Ruodlieb 6, 48 bittet eine verbrecherin selbst den richter: sed rogo, post triduum
corpus tollatis ut ipsum et comburatis, in aquam cinerem jaciatis, ne jubar abscondat sol, aut
aer neget imbrem, ne per me grando dicatur laedere mundo.
214 Jacos Grimm
mentorum arduum et operosum honorem ut gravem defunctis aspernantur.
Diese kunde, obgleich auf wahrnehmungen gestützt, die den Römern an
westlichen Germanen zu gebot standen, wird sich vollständig bewähren, auf
die worte ‘ut corpora clarorum virorum certis lignis crementur’ mufs ich so-
wol nach dem was schon voraus gesagt worden ist als nach allen ergebnissen
der folgenden forschung das entschiedenste gewicht legen. wie sollte irge
ein volk der Germanen, die zwischen leichbrennenden Galliern, Römern,
Griechen, Thrakern, Littauern und Slaven eingeschlossen wohnten, sich
dieser sitte entzogen haben?
Billig aber nehme ich zuerst auf die GOTHEN rücksicht, welche öst-
lichst gesessen, in sprache und gebräuchen vorzugsweise unsern zusammen-
hang mit andern völkern des alterthums am reinsten kund geben. wir lernen
aus Procops bericht (bell. goth. 2, 14), dafs unter den unleugbar gothischen
Herulen noch bis in das fünfte, sechste jahrh. nach Chr. die vorhin bei den
thrakischen Krestonaeern angetrofne sitte des mitbestattens der frauen sich
fortgepflanzt hatte. die wiederum mangelnde ausdrückliche angabe des lei-
chenbrandes darf aus der natur des ganzen gebrauchs, noch sichrer aus dem
zusammenhang der stelle selbst gefolgert werden, da unmittelbar vorangeht,
dafs nach herulischer gewohnheit auch die alten und kranken, nach vorher
beigebrachtem todesstofs auf scheiterhaufen verbrannt wurden: sure yag yn-
garnouow oure vorsusw aurois Quorevew Efnv, AAN Ereidav Tıs aürwv D) Yioe N
verw dAum, Emavaynes ol &yıwero Tous Zuyyeyeis aireis9aı orı rayırra EE dvSaw-
Fwv aürov übaview. ci de Eva moAAa Es meya rı üos Zuvunravres, naSıravres
TE ToV avSpwrav Ev rn Twv EvAwv Umeglcrn, Tuv TIva "Egourw», aNAorgıov KEV-
ra, aüv Eipidiy mag aurev Emeumev. Euyyeri yap aurd Tov hovea eva cu Jens.
Emeidav di alreis 5 Tou EZuyyevous hoveis Eravpeı, Euuravra Eraiov auTiRa TE
Evra, Er rau ETY,arwv pkauevon Tausuueıns TE aurols Ts hAoyes EvANekavres
Ta ö0TE TO FAgaUTIR« nm EngumTov. "Egeudcu de üvdoos TEAEUTHTAVTOS ERd-
vayass 77 Yuvalnı agerns Heramosumery nal nAcos aury EIeAoucy AcımerIa Bgo-
yov avanbarevn Tage Tov TV dvögos rabov cün Eis anpov Syyarew. cü Feiwusy
TE Taura megeisrmrei TO Acımov ddeEw TE Elvar nal Teis ToD dvdgos Evyyevese
WOOSHENgEUNEVGL. rasureis Ev Eyguvro "EgovAcı To marav veucis. die hochge-
schichteten reiser gleichen dem skythischen &yxos $guyavwv und nicht zu
übersehen ist, dafs zwar die verwandten die scheiter anzünden, den todes-
stofs jedoch durch einen fremden beibringen lassen.
über das verbrennen der leichen. 915
Die gothische geschichte selbst reicht nicht weit genug ins heidenthum
zurück um uns andrer beispiele des leichenbrands zu versichern. Eine stelle
des Sidonius Apollinaris gestattet vielleicht folgerungen, epist. 3, 12 von
einem bestattungsplatz der todten redend drückt er sich so aus: campus
autem ipse dudum refertus tam bustualibus favillis, quam cadaveribus nul-
lam jam diu scrobem recipiebat. damals in der zweiten hälfte des fünften
jahrh. waren die Gallier längst Christen und dem leichenbrand fremd, aber
Westgothen hausten zugleich in jenen landstrichen, entweder noch heid-
nische oder arianische, und es ist möglich, dafs sogar die Arianer ein ver-
brennen der todten gestatteten; die bustuales favillae können hier aber auch
uralte römische oder gallische grabhügel meinen. epist. 3, 3, als des Ecdi-
cius sieg über die Gothen (um 470) geschildert wird, heifst es von diesen:
tum demum palam offieiis exequialibus oceupabantur, .... sic tamen, quod
nec ossa tumultuarii cespitis mole tumulabant, quibus nec elutis vestimenta,
nec vestitis sepulcra tribuebant, juste sic mortuis talia justa solventes. ja-
cebant corpora undique locorum plaustris convecta rorantibus, quae raptim
succensis conclusa domieiliis culminum super labentium rogalibus fragmentis
funerabantur; es scheint dafs die Gothen, vom feinde gedrängt, ihre leichen
auf den wagen verbrannten.
Das bruchstück eines gothischen calenders verzeichnet uns ein ge-
dächtnis oder gaminpi marytr& pize bi Verekan papan jah Batvin bilaif aik-
klesjöns fullaizös ana Gutpiudai gabrannidaize, das waren christliche bei
noch unbekehrten Gothen im feuer verbrannte märtyrer; die strafart wird
auch auf das verbrennen der leichen einen schlufs gestatten. Noch deutli-
cher weisen dahin einzelne ausdrücke, deren sich Ulfilas in seiner verdeut-
schung bedient. Marc. 5, 2. 3. 5 bei dem besessenen, der in bergen und
gräbern hauste, wird das gr. uvju«@ dreimal ausgedrückt aurahi oder aurahjo,
wo die vulg. monumentum setzt. was ist dies bisher ungedeutete wort? ich
halte es für genau entsprechend dem lat. urceus, was hier den heidnischen
rabes, worin die verbrannte leiche bestattet war, bezeichnet;, für das männ-
liche urceus galt dem Gothen ein weibliches aurahi mit dem sinn von urna;
der bischof stand nicht an, die wohnstätte eines ungeheuern gespenstes mit
dem für das heidnische grab hergebrachten ausdruck zu verdeutschen, und
es scheint uns damit die sitte des leichenbrands unter den Gothen erwiesen,
der aschkrug oder die urne setzen sie voraus. Luc. 8, 27 steht für uyyuara
216 Jacos Grimm
das goth. hlaivasnös gräber, hügel, wie auch sonst das bekannte und ein-
fache hlaiv, ahd. hl&o = lat. clivus verwandt wird. Nun dürfte selbst der
ahd. ortsname Uraha, das heutige Urach in Schwaben (Graff 1, 459. Stälin
2, 453) auf heidengräber bezogen werden (!); dem urceus und urceolus ent-
sprach sonst ein ahd. urchal, mhd. urgel (Diut. 1, 480. 486) und mit über-
gang in zischlauturzalurzil, wofür ich bishernurdie bedeutung scyphus, nicht
die von urna sepulcralis nachweisen kann. Ürzel heifst ein dor 'fam Vogelsberg.
Aber noch wichtiger wird ein andres goth. wort. wie in aller welt
gelangt Ulfilas dazu, das einfache gr. Baros, in der vulg. rubus, zu übertra-
gen aihvatundi, was doch wörtlich besagt equi incensio oder combustio?
denn ist auch Marc. 12, 26. Luc. 20, 37 gerade der brennende busch ge-
meint, in welchem gott dem Moses erschien, so wird doch Luc. 6, 44 nichts
als der blofse strauch verstanden. offenbar mufs dieser rubus oder was sich
Ulfilas unter Bares dachte den Gothen ganz allgemein eine heilige bestim-
mung zum opfer gehabt haben, und hier liegt uns wieder das certum lignum
des Tacitus oder das dornreisig bei Theocrit vor augen. zunächst zwar geht
aihvatundi auf das den Germanen wie andern Heiden feierliche pferdeopfer,
warum sollte der strauch der dies zündete nicht auch für den scheiterhaufen
des leichenbrands gedient haben? selbst der gr. name rugaxavSa, den ich
für einen wildwachsenden strauch gebraucht finde, scheint mir anzuklingen.
unter crataegus oxyacanthus, mespilus pyracantha hat Nemnich die gangbaren
benennungen feuerdorn, feuriger busch, brennender busch, buisson ardent,
und selbst dem brennenden busch des alten testaments dürfen wir schon
mythischen sinn beilegen (?), so dafs der Gothe mit vollem fug sein aihva-
(') Falls man keinen bach (aha) darin sehn will, wie in der thüringischen Oraha (Pertz
2, 344.)
(2) Die dichter des MA. wenden den brennenden busch auf Maria an:
iu in deme gespreidach
Moyses ein fiur gesach,
daz holz niene bran;
den louch sah er obenan,
der was lanc unde breit:
daz bezeichent dine magetheit.
Hoffm. 2,142, vgl. Wernher vom Niederrhein 43,17 ff. ein provenz. dichter, P. de Corbiac sagt:
domna vos etz laiglentina,
que trobet vert Moysens
entre las flamas ardens.
über das verbrennen der leichen. 917
tundi für Qares, rubus, weifsdorn verwendet im gegensatz zu Paurnus, @zavSa,
spina, schwarzdorn. beide dornarten dienten wol zu verschiednen opfern.
denn das merkwürdigste ist, dafs auch Pbaurnus unser dorn auf feuer hin-
leitet und einer verlornen wurzel bairan = reigew, lat. terere angehört, folg-
lich geriebnes feuer aussagt (!); das n in baurnus trat der wurzel zu und ist
ihr unwesentlich wie in horn, korn, u.a. m. hierzu halte man die vorhin
beim keltischen draighean und draen vorgetragnen bemerkungen.
Die geschichte der HOCHDEUTSCHEN volkstämme hat uns nicht
die geringste kunde von einem heidnischen verbrennen der todten überlie-
fert; als Schwaben, Baiern, Burgunder, Langobarden bekannter werden,
war die christliche begräbnisweise schon durchgedrungen. keins ihrer volks-
rechte enthält verbote des brandes, das bairische redet 18, 6 ganz entschie-
den von humation und erdwurf auf den todten. Allein zahllose in alaman-
nischer, bairischer, burgundischer erde aufgedeckte, weder römische noch
keltische grabhügel zeigen uns in ihren aschkrügen spuren des leichenbrands,
oft noch neben beerdigten ganzen gerippen; es genügt mir hier auf die zu-
letzt entdeckten gräber bei Oberflacht in Schwaben (*) und Selzen unweit
Mainz (°) zu verweisen. beide rühren wahrscheinlich von Alamannen her
und die letztern reichen, weil sie münzen aus dem constantinischen haus
und von Justinian gewähren, nothwendig bis ins 6 Jahrhundert herab.
Entgienge uns aber diese geschichtliche und örtliche bestätigung, die
ahd. sprache würde in einer reihe bisher unbeachtet gebliebner ausdrücke
uns des leichenbrands versichern. warum sollten ahd. wie goth. unmittel-
bar von ihm entnommne wörter ohne anlafs dazu gebraucht worden sein,
wären sie nicht vollkommen gangbar und damals noch unausgerottet gewesen?
Für rogus und pyra liefern ahd. glossen den ausdruck eit (Graff 1,152),
dem ags. äd entsprechend; die bedeutung ist ganz die des gr. ug«, feuer und
brand. unverstanden aber war ein in den gl. Jun. 191 und in andern bei
für aiglentina sagen die Nordfranzosen aiglantier, agalancier, agarancier, garancier; ein ortsname
Garencieres heilst bei Irmino 262b. Warenceras, vergleichbar dem flecken Ilerisygos in Cyre-
naica (Strabo XVII, 839) oder dem slav. Glogau, poln. Glogow von glog hagedorn.
(!) Graff 5, 699 hat zura paliurus, was ich nicht von zeran, goth. tairan leite, sondern von
jenem pairan , mit verworrener lautverschiebung.
(2) Im dritten heft des würtembergischen alterthumsvereins.
(3) Dargestellt und erläutert von den gebrüdern W. und L. Lindenschmit, Mainz 1848.
Philos-histor. Kl. 1849. Ee
218 Jıcos Grimm
Graff 6, 148. 149 enthaltnes saccari rogus, ignis, pyra, zu welchem kein
andrer deutscher dialeet etwas ähnliches darbietet (1). desto bedeutsamer
ezeigt sich hier eine noch in mehr uralten wörtern vorbrechende verwandt-
schaft mit der littauischen sprache, die uns Zagaras oder Zagarai und die
vorstellung eines trocknen strauches an hand gibt. saccari also, dürfen wir
mit hoher wahrscheinlichkeit annehmen, bezeichnete unsern vorfahren den
scheiterhaufen im sinn eines zum brand heran getragnen, aufgerichteten und
verflochtnen strauchwerks, wobei man natürlich an eine bestimmte dazu aus-
erwählte dornart zu denken hat. ich stelle dem Zagarai das lettische sarri,
pasarri strauchwerk, sars zweig, rebe an seite, da litt. Z und lett. s einander
begegnen (litt. zole, lett. sahle gras; litt. Zaltis, lett. saltis schlange), sarri
{eo}
scheint aus sag
lettische sprache noch heute sahrts für scheiterhaufe, sahrti für strauch-
ari, sars aus sagars gekürzt. mit übergang des s in $ hat die
schichte in rodungen, $ahrtös kraut für strauchwerk zum verbrennen schich-
ten aufbewahrt. u
Gleichen oder noch höheren werth hat die ahd. glosse depandorn
rhamnus (gl. Hrab. 973 a. Graff 5, 227), welche vielleicht | A zu
berichtigen wäre und dem ags. befedorn spina, rhamnus, anderwärts byfe-
dorn sentis qui prehendit, sentis ursinus, Pyfel frutex, sentis entspricht.
zwar scheint dies Pyfedorn auf beof fur zu leiten, wie das latein. servos fu-
races, an denen was sie anrühren hängen bleibt, sentes nennt (?), allein
dann würde beofesdorn gesetzt sein, und die herleitung von deba, diba, was
in den malb. gl. incendium aussagt, ist weit vorzuziehen. depadorn scheint
demnach brenndorn, der gleich goth. aihvatundi und saccari das cremium
beim anzünden der pyra hergab. ich habe mit diesem deba befe incendium
und einem verbum debian incendere, ags. befian aestuare gewagt (gesch. d.
deutsch. spr. s. 232) die mythischen namen Tamfana und Tabiti = Vesta
zu verknüpfen, welche gleichfalls der wurzel tap, tepere und Sarrev zu-
fallen, und den uralten bezug von depadorn auf todtenverbrennung bestär-
ken. die urkundliche form depandorn liefse sich vollkommen rechtfertigen,
wenn in d&pan das starke part. praet. von depan dap (wie köpan kap k&pan)
(') Ziemanns mhd. sackiere ist unbefugt nach dem ahd. erfunden.
(2) Plauti Casina II. 6, ı lälst den Olympio zum koch sagen:
vide fur, ut senteis sub signis ducas. cocus: qui vero sunt sentes ?
Ol. quia quod tetigere, illico rapiunt: si eas ereptum, illico scindunt,
über das verbrennen der leichen. 919
gelegen iistundcombustus, 'accensus aussagt. enthält aber schon dorn an
sich denselben begrif, so bietet depandorn einen unsrer alten sprache höchst
angemessenen pleonasmus dar. welche fülle von uralten bezügen erschliefst
uns eine einzige glosse. weit jüngere nachrichten vom anzünden der oster-
feuer melden ausdrücklich, dafs man vorzugsweise dazu des bocksdorns
rgayarav9a sich bedient, ja das sunwends oder Johannisfeuer selbst “bocks-
dorn’ geheifsen habe (d. myth. s.583); diese feuer gehn augenscheinlich zu-
rück auf heidnische opfer, und beim darbringen des rosses oder bocks galt
ohne zweifel die anzündungsweise des leichenbrands, der auch ein opfer war.
Allgemeiner verbreitet also wralt ist der ahd. ausdruck hurt, welcher
den buchstaben wie dem sinne nach dem lat. erates genau entspricht; das
r hat nur seine stelle gewechselt. bezeichnet dadurch wird wiederum
ein geflecht von weiden und reisig zu vielfachem gebrauch, namentlich zu
kähnen und brücken, weshalb es liburna und pons glossiert (Graff 4, 1034)
man flocht aber auch körbe, schilde und vorgehängte thüren, das goth.
haurds, altn. hurd stehn gerade zu für thür; ags. ist hyrdel crates, craticula,
engl. hurdle, thornhurdle, mhd. hurt das geflochtne oder geschichtete reisig
8
auf welchem einer verbrannt wurde:
P\
diu hurt was bereit
Bi untz viur dar under geleit. Iw. 5155.
’E ir werdet beide erhangen
o oder üf einer hurt verbrant. Trist. 324, 31.
üf einer hürde, diu fiurie si. Wh. 44, 29.
in den gesetzen des mittelalters heifst es “mit der hüt-de rihten’, im Ssp. 2,
upper hort bernen, d.i. auf dem scheiterhaufen. mnl. findet sich horde
für'geflecht, z. b. bei Potter 4, 2006; nhd. hat sich hürde zumal für den
um die schafherde geflochtnen zaun erhalten. Zur eignen bestätigung des
wortes und seines sinnes gereicht aber das altfranzösische re, welches ich
aus crates (wie ne aus natus) entsprungen glaube und wie unser hurt für
bücher verwandt finde. man sagte ‘ardoir en re’ Trist. 161. 846. 1180 von
verbrechern, die den feuertod erieiden sollten:
mende fu la roine
jusques au r@ ardant d’espine, Trist. 1066,
also wieder zum brennenden dornbusch oder depandorn, wofür noch be-
deutsamer eine vorausgehende stelle spricht, nach welcher könig Marc die
Ee2
220 Jacos GrımMm
weifsen und schwarzen dörner zum verbrennen der königin sammeln
läfst, 831:
li rois commande espines querre
et un foss@ faire en terre.
li rois tranchanz de maintenant
partot fait querre les sarmenz,
et asenbler o les espines
aubes et noires o racines.
dieser dichter mag noch gewust haben, warum für Iseuts feuertod gewisse
dörner (sarmenta, spinae albae et nigrae) auserlesen wurden. auch in Chre-
tiens chevalier de la charrette, Reims 1849 p. 16 heifst es: ars en feu d’e-
spinel, verbrannt auf dornfener.
Bis in die heutige sprache hinab reicht das ahd. pigo oder piga,
congeries, acervus, strues sowol lignorum als manipulorum. bair. beige,
holzbeige (Schm. 1, 158), schweiz. beige, byge, ordentlich geschichteter haufe,
holzbeige, holzstapel (Stald. 1, 153), big schitter, holzstofs, scheiterhaufe
(Tobler 52), schwäb. beug, holzbeug (Schmid 57) (!); ich finde auch in
östr. mundart schwanken zwischen vierter und fünfter ablautsreihe. ein ort
in Östreich heifst Jedenspeigen, ein andrer Persenbeug, und jener in ältern
urkunden Iedungespiuge Idungsspiuge (gesch. d. deutsch. spr. 500) Yduns-
peugen (Wiener quellen und forsch. s. 167b.) das ahd. piugo sinus, eur-
vatura scheint dafür wenig passend, Iedunges bige aber congeries Tedungi,
verstehe man es von geschichtetem holz oder getraide, wobei sich wiederum
die behälter für feuer und korn begegneten. denkt man an den alten volks-
namen Iedunc Iodunc, so würde ledunges pigo combustura Iedungi, den
ort bezeichnen, wo vielleicht im heidenthum ein berühmter held dieses alt-
suevischen stammes als leiche verbrannt wurde.
Neben piga setzen ahd. glossen fin, welches denselben begrif von
vogus und strues ausdrückt, Otfried sagt fina, und sein versmafs räth langen
vocal anzusetzen. von Abraham, als er Isaac opfern wollte, heifst es II. 9,48:
in then alteri er nan legita, sö druhtin imo sag£ta,
thia liebün sela sina ufan thia wituvina,
joh es ouh ni dualti suntar nan firbranti.
diesem worte entspricht das ags. vudufin und umgesetzt finvudu strues ligni;
(1) Auch die italienische sprache hat dies bica congeries in sich aufgenommen.
über das verbrennen der leichen. 3231
noch im westfälischen holting to Ettelen von 1411 (weisth. 3,82. 83) liest man
vineholt. Den Finnen ist pino strues lignorum ordinata, den Esten pinno,
den Lappen fino acervus, muora fino acervus lignorum, von muor arbor,
lignum, und diese vewandtschaften verbürgen ein sicher in das heidenthum
zurückgehendes uraltes wort.
Nicht minder scheint unser heutiges allgemein gültiges haufe, ahd.
hüfo und houf strues, agger (Graff 4, 833. 835) und wituhüfo — witufina,
ags. heap acervus, congeries früher zugleich die vorstellung des scheiter-
haufens in sich zu enthalten, denn in den gl. argent. (Diut. 2 ‚ 194) wird
zur redensart rogum sibi construit ein alts. Bäp gefügt. unsre schtepjiehlde
zusammensetzung scheiterhaufe mag nicht weit über die letzten jahrhunderte
hinaufreichen, Luther verwendet sie nie, doch hat sie Aventin (Frankf. 1580
fol.56b.) hüfo und houf entsprechen dem slav. koupa acervus und litt.
kaupas haufe, kapas hügel, grabhügel, todtenmal, kapezius grenzhügel, so
dafs uns auch diese benennung zugleich auf leichenbrand und grab leitet.
Die unerforschte wurzel von hüfo houf getraue ich mir in hiufan lugere,
ululare zu suchen, dessen praet. houf pl. hufum lautet (Graff 4, 837), die
labialis schwankt in hiuban, hiupan, was sich zum goth. hiufan hauf hufum
Senveiv, agS. he&ofan oder heofian schickt. hiernach ist hüfo oder houf entwe-
der rogus oder sepulerum, wobei geweint, gejammert wird, holzstofs, öyxes,
hügel des weinens, der wehklage, ein treffender ausdruck für den scheiter-
haufen des alterthums, der allmälich in den begrif der anhäufung überhaupt
erkaltete. zugleich würde nun verständlich, warum ahd. hiufo und hiufal-
tar rubus, tribulus, paliurus bezeichnen (Graff 4, 836), denselben strauch,
der zum leichenbrand geschichtet wird, den dorn des trauerns. das ags.
heope, hiope ist rosa silvestris, dornröschen, mhd. hiefe, engl. hep, hip,
dän. hybe, schwed. njupon; dem dorn selbst legt der volksglaube fortwäh-
rend eine heilige bedeutung bei, wofür auch der name schlafdorn, altn.
svefnborn zu erwägen bleibt. merkwürdig scheinen das slavische koupa
acervus und kupina rubus in gleicher weise einander zu begegnen. früher
nahm ich verwandtschaft zwischen unserm haufe und dem lat. copia an,
welche aber schon der wahrscheinlichkeit weichen mufs, dafs copia zu ops
und opus gehöre und aus conopia, dessen zusammenziehung das o verlän-
gerte, entspringe. ja mit kupa oder kupina könnte selbst kupalo, die sl.
benennung des Johannisfeuers, gleich jenem bocksdorn, zusammenhän-
9392 Jıcos GRIMM
gen, oder das altsl. schipok rosa canina, russ. schip’.dorn, böhm. Sip, Sjpek
hagedorn mit jenem hiufo, hiefo, da slav. sch öfter unserm h entspricht.
Bustum wird in ahd. glossen (Diut. 1, 167), nach beiden lateinischen
bedeutungen, übertragen fiuristat, dar man prinnant, edo daz crap taotero,
ubi homines comburuntur aut sepultura mortuorum; dann auch durch aimu-
ria, eimurra, altn. eimyrja, ags. aemyrie, d.i. glühende asche im gegensatz
zu falawisca, der todten asche. die tradit. fuld. nennen ein dorf Beinrestat,
d.i, peinirö stat, locus ossium,
Zuletzt sei noch einer in alemannischen landstrichen gangbaren benen-
nung gedacht, mit welcher man vorchristliche, heidnische grabhügel unter dem
volke kennzeichnet. sie heilsen dort schelmenacker, schelmengrube, schel-
mengasse, oder auch blofs schelm und schelme (!). ahd. scalmo scelmo, drü-
cken aus pestis, lues (Graff 6, 451), jener name scheint also auf die durch
eine seuche oder schlacht weggeraften menschen zu gehn, wie ahd. wuol
strages clades, das ags. völ hingegen lues, pestis besagt, beide rühren an
den begrif der walstätte. Beachtenswerth ist eine von Mone s. 215 beige-
brachte angabe aus dem j. 1475 “im brand zen haidengrebern’, hier hat sich,
scheint es, unter dem volk die erinnerung an das verbrennen fortgepflanzt.
Ich wende mich zu den FRANKEN. auch bei diesem tief in Gallien
eingedrungnen volksstamm, dessen übergewicht und frühere geschichtschrei-
bung vorzugsweise nachricht über die bestattung der todten erwarten lassen
sollte, gehn wir leer aus an unmittelbaren zeugnissen. Gregor und Frede-
gar, denen der heidnische brauch sicher noch bekannt sein muste, enthalten
sich seiner zu erwähnen (?). Im jahr 1653 wurde zu Tournay ein reiches
grab entdeckt, in welchem sich ein schwert mit goldnem grif, eine gold-
schnalle, über hundert römische goldmünzen, alle des 5 jahrh., dreihundert
goldne bienen, die knochen eines grofsgewachsnen mannes, daneben der schä-
del eines jünglings fanden. die eisenklinge des schwertes zerfiel an der luft,
alles übrige ist sorgsam zu Paris aufbewahrt (?). höchst wahrscheinlich sind
die überreste Childerichs, der im j. 481 noch als Heide starb (erst sechzehn
(') Mones urgeschichte des badischen landes 1,215-218 hat eine menge von belegen.
(2) Freilich im Hunibald steht einmal: Salagastus moritur et combustus urnae imponitur.
Trithemii opera, Francof. 1601 fol. p. 83.
(3) Chifletii anastasis Childerici. Antv. 1661. Mabillon c&r@monies sepulerales des rois de
France.
über das verbrennen der leichen. 923
jahr später gieng sein sohn Chlodovech über zum christenthum) und im kö-
nigssitze Tornacum bestattet wurde. Diese merkwürdigen alterthümer, er-
neuter betrachtung werth und bedürftig, lassen gleichwol nicht bestimmt
auf einen dem bestatten vorausgegangnen leichenbrand schliefsen, obschon
jenes jünglings vom rumpf gelöster schädel, als eines mit verbrannten, viel-
leicht dahin weist.
Das salische noch zur zeit des heidenthums abgefafste volksrecht
konnte fast nur da, wo aus missethaten anlafs zur composition entsprang,
also wo von beraubung der grabhügel die rede ist, gelegenheit haben des
leichenbrands zu denken. in der that liefert titel 55 de corporibus exspo-
liatis zwar nicht durch die fassung des textes selbst, wol aber durch die bei-
gefügten malbergischen glossen, wenn ihnen die rechte auslegung abgewonnen
wird, unverkennbare beweise.
Es sind hier zwei fälle unterschieden, der erste, si quis corpus oceisi
hominis antequam in terra mittatur, exspoliaverit, worauf blofs 2500 denare
stehn, und si quis corpus jam sepultum effodierit et exspoliaverit, wofür
8000 denare zu entrichten sind, aufserdem dafs der thäter zugleich aus dem
lande verbannt wird und von niemand aufgenommen und beherbergt werden
darf, bis er sich mit den verwandten des todten ausgesöhnt habe. es scheint
jedoch nur von bestattung des leichnams und ausgraben des bestatteten die
rede, ein vorgängiges verbrennen durch den ausdruck corpus, der für asche
und gebein nicht recht taugt, fast ausgeschlossen.
Indessen findet sich zu dieser verletzung des grabs und ausgrabung
der leiche die merkwürdige glosse thornechale, thurnichale LV, 3; turnicale,
tornechallis sive odocarina (!), thurnichalt (l. thurnichall oder chali) 3, 4;
borechales, turnichalis 143, 1. in thurni, thorne liegt ganz deutlich das
goth. paurnus, ahd. dorn vor augen, dessen bezug auf den leichenbrand
schon soviel andere benennungen rechtfertigen, in chale chali chalis challis
erblicke ich das im text selbst tit. XLI und 227 erscheinende, durch die
zusammenstellung mit ramis erläuterte callis hallis allis. challus oder challa
vergleicht sich dem ahd. hala siliqua, wintarhalla labrusca (Graff 4,851. 859);
winterhehlen heifsen nach Nemnich noch in Östreich herlinge; thurnichallus
(') Odocarina berichtige ich in chre&otargina cadaveris sepimentum. lex sal. ed. Merkel
s. LI.
334 Jaıcog Grimm
oder wie man die endung bilden wolle, drückt also dorngezweig, dornge-
flecht, dornschichte aus, womit man ursprünglich den scheiterhaufen, dann
aber, wie bustum und r«des in den begrif des grabs übergiengen, den grab-
hügel bezeichnete. man dürfte bei challus auch ans goth. hallus petra, altn.
hallr lapis und höll aula, ags. heal, ahd. halla steinsal denken und thur-
nichallis auffassen als dornhalle, dornstein; seit das verbrennen mit dem
begraben tauschte, konnte es natürlich sein, dafs der bisher geheiligte dorn-
strauch auch auf das unverbrannte leichen umschliefsende grab gepflanzt
wurde, es geschah vielleicht aus ähnlichem grund auch bei den hügeln ver-
brannter leichen. hierzu stimmt sogar die ahd. glosse thornhüs ram (gl.
Ker. 236. Hattemer 203b.) dornhüs rar (Diut. 1,270), wo ich statt des
sinnlosen rar und ram vorschlage zu lesen ramnus, rhamnus oder ein roma-
nisches ramale, ramata, in beiden fällen scheint damit ein bedornter grab-
hügel gemeint. ferner dürfte man tit. XLI de ramis aut hallis cooperuerit’
durch ein bedecken mit ästen und steinen deuten; dadurch wird nun auch
in einer urkunde des j. 786 bei Wenk im dritten band der ausdruck "tumuli
qui vocantur hagenhougi’ vollkommen erläutert, es sind dornhügel, von ha-
gan paliurus und houc tumulus. Diese einzige glosse thurnichallis versichert
uns also, wenn man meinen erörterungen folgen mag, dafs die Franken,
gleich den übrigen Deutschen, ihre todten auf dörnern verbrannten und
zugleich einen dorn über der grabstätte pflanzten.
Noch unsern volksliedern ist es unvergessen, dafs auf oder vielmehr
aus gräbern dorn und weilsdorn spriefsen. in der sageberühmten schlacht
Carls des grofsen mit den Heiden, als der gefallnen leichen unerkennbar
untereinander lagen, geschah ein wunder: man fand bei anbrechendem tag
durch jeden Heiden einen hagedorn, bei jedes Christen haupt eine weifse
blume gewachsen, ich will Strickers worte selbst ausheben, 118 b.:
zwei ungelichiu wunder
sach man an in beiden:
durch iegelichen heiden,
der dä ze töde was erslagen,
gewahsen was ein süre hagen; (23
(‘) Aus hagan, mhd. hagen paliurus entsprang das nhd. hain, eigentlich dumus, dumetum,
zuletzt lucus, silva überhaupt.
(2) Bei Schilter: was gewahsen ein hagen; ich bessere nach Trist. 449, 12 und schalte in der
folgenden zeile 'heiden’ ein, da das sechsjährige aussehn, in verschrumpfter zwerggestalt, auf
die hagendörner selbst nicht zu beziehen ist.
[80]
[80]
ou
über das verbrennen der leichen.
die heiden wären rehte gestalt,
als wren si sehs jär alt,
sus lägen die unwerden
gezwicket zuo der erden;
die cristen lagen baz hindan,
dö sach man iegelichem man
gar bi sinem houbte stän
ein wizen bluomen wol getän.
dö die werden pilgerine
von des liehten tages schine
die hagendorne sähen,
begunden sie dar gähen
und sähen die heiden sö geschant,
daz bime zeichen wart erkant,
ir sele verlorn w.eren
und aller genäde enbzren ;
die cristen lägen michels baz,
got het an in erzeiget daz,
daz er ir helfer wolte wesen,
dös alsö lägen üz gelesen
gezieret mit den bluomen wiz:
got het siner genäden fliz
an ir lichnämen dö bewant.
In des pfaffen Conrad überlieferung, wie bei Turpin selbst, geht das alles
verloren; doch auch eins der altfranzösischen gedichte meldet, dafs um die
beerdigung der auf dem schlachtfeld vermischt liegenden leichen zu vollbrin-
gen ein gebet wunder gewirkt habe und früh morgens alle Heiden in dörner
verwandelt gewesen seien, die nicht blühen können (!). darunter scheint
offenbar der schwarzdorn, spina, verstanden, der, wo genau gesprochen wird,
dem weilsdorn rubus entgegen steht, und den Heiden zum opferbrand dien-
sam war. Bedeutungsvoll aber nannten die Franken jene grofse walstätte
Ronceval, span. Roncesvalles, bei Turpin Runciae vallis, von runcia, franz.
ronce rubus, sentis, und dieser altfränkischen sage (?) traue ich noch ein
nachgefühl des heidnischen begriffes thurnichallis zu.
(1) Monin roman de Roncevaux. Paris 1832 p. 52. Den helden Olivier läfst diese sage (p. 38)
wol mit absicht bei einem weilsdorn sterben:
desoz un pin, delez un aiglentier,
la trova mort le cortois Olivier.
(2) Die geschichte redet blo[s von einem treffen der Franken mit den Vasconen im j. 778.
Eginhart cap. 9.
Philos.- histor. Kl. 1849. Ff
296 Jacos Grimm
Um nochmals zum salischen gesetze zurückzukehren, nimmt man
tit. XLI, wo von einem werfen des getödteten in den brunnen und zudecken
mit reisern und dörnern die rede ist, callis entschieden für dörner, so ver-
dient der zusatz “aut incenderit' in 318 (ed. Merkel s. 86) hervor gehoben zu
werden, weil cooperire et incendere an den leichenbrand mahnt und for-
melhaft hierher übertragen scheint, wo gar kein brand angewandt wäre.
diese worte gewährten dann den einzigen bestimmten ausdruck des textes
selbst für das verbrennen.
Was bedeuten die worte: si quis cheristadona (cheristaduna, arista-
tonem) super hominem mortuum capulaverit, mit der malb. glosse madoalle
oder mandoado 144 und 256°? charistado cheristado haristato aristato scheint
mir eine auf dem grabhügel am ofnen weg, wohin die heidnischen gräber ge-
legt zu werden pflegten, errichtete heerseule oder irmenseule. die kaiser-
chronik meldet z. 624, dafs die Römer des getödteten Julius Caesar gebein
auf (vielmehr unter) einer irmenseule begruben, ganz wie die griechischen
hermen auch am wege standen. Aus Paulus Diaconus wissen wir, dafs die
Langobarden stangen (perticas id est trabes) an ihren gräbern errichteten,
und der charistadonen scheinen mehrere auf einem grab gewesen zu sein,
da von einem jeden (unoquoque) die gesetzte bufse von 600 denaren zu
zahlen ist. 339 heifst es schlecht erläuternd: si quis aristatonem, hoc est
stapplus super mortuum missus, capulaverit, aut mandualem, quod est ea
structura sive selave, qui est ponticulus, sicut mos antiquorum faciendum
fuit, qui hoc distruxerit aut mortuum exinde expoliaverit, de unamquamque
de istis 600 denarios culpabilis judicetur. in diesem barbarischen satz ist
staplus das ags. stapol, ahd. staphol, altn. stöpull columna, basis, fulerum,
dän. stabel pila; mandualis oder mandoalle ein gitter, wenn das ags. mond,
engl. mound corbis u. Ducange s. v. mandalus, clausura zur erklärung genom-
men werden darf. selave, silaue, 144, 4 sogar si levaverit, vermag ich gar nicht
zu deuten. Endlich 145: si quis hominem mortuum super alterum in nauco
(naufo naupho naucho) aut in petra miserit, malb. edulcus (idulgus), sol. 35
(') Vgl. deutsche myth. s. 105. 107. Heinrichs von Müglein ungrische chronik (nach Keza)
erzählt, wie Kewe der Heunen feldherr bei Tulna in der schlacht gegen Dieterich von Bern
blieb: do kamen die Hewnen und huben iren haubtmann auf und machten ein steinen sewl pei
der strasze und pestaten in mit seiner geselschaft, die des wirdig waren. Man halte hierzu her-
nach den slavischen bestattungsbrauch.
über das verbrennen der leichen. 2237
eulpabilis judicetur. naufus scheint ein sarg zu sein, denn Gregorius turon.
de gloria confess. sagt: sancta corpora pallis ac naufis exornata, reliquien
in kostbare tücher gewunden und in särge gelegt; vielleicht hängt nauchus
nauphus mit unserm nachen und dem lat. navis zusammen (vgl. altn. nöi
vasculum) und mit dem heidnischen brauch im schiffe zu begraben, in schif-
fen leichen zu verbrennen oder den särgen und gräbern gestalt des schiffes
zu geben. beides zu schiffen und särgen werden bäume ausgehölt, und wenn
tit. 18 der lex Bajuv. de mortuis et eorum causis mit einem capitel de navi-
bus schliefst, so kann dabei dieser zusammenhang obwalten.
Alle diese in erwägung gezognen stellen des salischen gesetzes bieten
noch mehrfache dunkelheit dar und lassen zwar in der glossethurnechallis den
leichenbrand vorblicken, gewähren aber über das begräbnis selbst so vielfache
bestimmungen, dafs man der annahme sich kaum enthalten kann, unter den
Franken habe schon vor ihrer bekehrung auch das begraben neben dem ver-
brennen geherscht. Was in Benedicts capitularien 2, 197 (Pertz 4b., 83)
gesagt ist: admoneantur fideles ut ad suos mortuos non agant ea, quae de
paganorum ritu remanserunt, ist zu unbestimmt, als dafs man daraus für die
eine oder andre bestattungsweise etwas folgern dürfte. Rogge (über das
gerichtswesen der Germanen s. 38. 39) stellt mit gewohnter kühnheit auf,
das begraben sei die regel gewesen und habe für den natürlichen tod, das
verbrennen für die ermordeten, in der fehde und dem volkskrieg gefallnen
gegolten. an beweisen hierfür gebricht es ganz.
Die, wie es scheint, zu anfang des achten jahrh. abgefafste, in Ma-
billons acta Bened. gedruckte vita Arnulfi metensis enthält cap. 12 eine
wichtige meldung, nach welcher sich nicht zweifeln läfst, dafs zur zeit Da-
gobert des ersten, folglich noch in des siebenten jahrh. erster hälfte die
heidnischen THÜRINGE ihre todten brannten. Als nemlich im gefolge
des Frankenkönigs Arnulf nach Thüringen gelangt sei (patrias Thuringorum
intrasset), habe sich an einem orte daselbst ein kranker, dem sterben naher
jüngling befunden, mit welchem Oddilo, einer der vornehmen in des königs
geleite, verwandt und befreundet war. bei der bevorstehenden abreise des
königs sei nun diesem Oddilo in seiner bekümmernis und angst kein andrer
rath geblieben als den befehl zu ertheilen: ut languentis capite amputato,
cadaver “more gentilium’ ignibus traderetur; vielleicht wollte er die asche
mit sich führen, Arnulf jedoch um hilfe angegangen, habe durch sein gebet
Ff2
238 Jaıcos Grimm
des kranken gesundheit hergestellt. Das abschneiden des haupts erklärt
etwa den unverbrannt bestatteten jünglingsschädel in Childerichs grab; ge-
nau aber stimmt zu der herulischen sitte sich ihrer abgelebten greise zu
entledigen oder der skythischen und altnordischen ihre alten vom fels zu
stürzen, dafs auch in Thüringen gestattet war, aufgegebnen und verzwei-
felten siechen, bevor der natürliche tod eintrat, das leben zu nehmen, wo-
durch sie wol gar erst des feuerbrandes würdig wurden. Aus der lex An-
gliorum et Werinorum steht für diesen nicht das geringste zu gewinnen.
Noch minder als bei Franken und Thüringen läfst sich unter den
länger dem heidenthum anhängenden SACHSEN das verbrennen der todten
in abrede stellen. Die epist. 72 Bonifacii (ed. Würdtw. p. 192) vom j. 745
besagt: nam in antiqua Saxonia si virgo paternam domum cum adulterio
maculaverit, aliquando cogunt eam propria manu per lagueum suspensam
vitam finire, et super bustum illius incensae et concrematae corruptorem
ejus suspendunt; die an sich selbst hand an zu legen genöthigte wurde nach-
her verbrannt, weil es brauch war alle todten zu verbrennen. Das im j. 785,
wahrscheinlich zu Paderborn ergangne capitular Carl des grofsen verordnet
cap. 7 (Pertz 3, 49): si quis corpus defuncti hominis secundum ritum Pa-
ganorum flamma consumi fecerit et ossa ejus ad cinerem redegerit, capite
punietur; und cap. 22: jubemus ut corpora Christianorum Saxanorum ad
cimeteria ecclesiae deferantur et non ad tumulos Paganorum. diese an ihrer
gestalt kennbaren tumuli und der brand war den bekehrern ein so grofser
greuel als das essen des pferdefleisches.
Dafs im zehnten und eilften jahrh. unter dem niederdeutschen volk
noch manche erinnerung an das verbrennen der todten haftete, verraten uns
züge bei den geschichtschreibern. Thietmar von Merseburg erzählt 1,7,
zur zeit bischofs Balderich von Utrecht (928 bis 977) habe ein priester in
der morgendämmerung eine neuerbaute kirche zu Deventeri betretend die
todten opfer bringen sehn und sei in der folgenden nacht, als er auf des
bischofs geheifs in der kirche wache hielt, von den geistern heraus geworfen,
endlich in der dritten nacht von ihnen ergriffen und dem altar gegenüber zu
asche verbrannt worden: et ecce solita venientes hora elevaverunt eum,
coram altari eum ponentes et in favillas tenues corpus ejus resolventes. der
volkswahn liefs diesen verstorbnen geistlichen von (heidnischen) geistern,
denen der kirchenbau zuwider war, den flammen übergeben. Als im j. 1017
über das verbrennen der leichen. 339
zu Magdeburg feuer ausgebrochen und ein geistlicher darin verbrannt war,
sammelte man sorgfältig die asche: corporis perusti tenues favillas mane
patres sumopere colligentes suis apposuere praedecessoribus. Thietmar 7, 43.
das wäre nichts heidnisches und noch heute bleibt das gebein der im feuer
verunglückten nicht unbegraben; allein der beidemal gebrauchte ausdruck
“tenues favillae’ scheint mir noch einen unterschied zwischen der asche des
leibs und des holzes anzudeuten, auf welchen man sich bei verbrennung der
leichen ohne zweifel wol verstand: es ist das was Horaz ‘favilla nigra’ nennt
im gegensatz zum ceinis e carbonibus.
Gewis deuten einzelne ortsnamen sächsischer gegenden auf heidnische
brennstätten; ich will einige hervorheben. in Geldern liegt ein dorf Eede,
wahrscheinlich von &d, ags. äd, ahd. eit ignis rogi. Kemble no. 983 hat
Adeshäm, heute Adisham in Kent, was in ahd. Eitesheim zu übertragen
wäre. Balahornon der trad. corb. 9.51, Balehornon in pago Pathergö des
registr. Sarachonis 209, Baleharnon in der Freckenhorster rolle und in
Kindlingers münst. beitr. 2,59, die heutige bauerschaft Ballhorn im kirch-
spiel Enniger und wol noch anderwärts in Niedersachsen (1), leitet sich
zurück auf bäl rogus, ags. b:iel, altn. bäl und horna angulus, ags. hyrne,
fries. herne, weil man wahrscheinlich in jedem landstrich gewisse abgelegne
örter zum leichenbrand ausersah. im ags. Bxle bei Kemble haben wir das
einfache, jenem Eede vergleichbare wort selbst, und in Bxleshäm, heute
Balsham ein gegenstück zu Adeshäm (?). Falke trad. corb. 792. 795 führt
aus braunschweigischen urkunden eine villa Sekere an, die ich einmal wagen
will jenem ahd. saccari rogus an die seite zu stellen, wenigstens sonst gar
nicht auslegen könnte. sollte nicht im itiner. Antonini der ortsname Com-
busta oder ein Combustica in Mysien, gleich jenem Busta Gallorum und Je-
gen?
Die trad. corbeienses 229 gewähren den seltnen mannsnamen Horo-
densbeige in Östreich stätten des leichenbrands anzei
bolla, welcher ungefähr bedeuten mufs urna lutea, aschenkrug.
In niederdeutschen gräbern finden sich nicht allein verbrannte men-
schenknochen und geräth, das vom leichenbrand verbogen und gesprengt
(*) Auch die trad. fuld. cap. 6 p.41 ed. Dronke haben “in villa Balhurne’, man sieht nicht
wo gelegen.
(?) Svilberg, der name eines sächsischen gaus, scheint brennberg, ahd, Sulziberg cod. lau-
resh. 2703 für Suilizoberg, von suilizo incendium.
230 Jıcos Grimm
wurde, sondern auch unverbrannte, und sachen, die keinem brand ausgesetzt
waren ('). gehören diese hügel dem Sachsenvolk oder einem andern deut-
schen an, so ist offenbar, dafs die leichen, nach einem uns unbekannten
unterschied bald verbrannt, bald unverbrannt begraben wurden.
Alle bisher für den leichenbrand unter gothischen, hoch und nieder-
deutschen volkstämmen aufgebrachten beweise sind mühsam aus einzelnen
glossen und ortsnamen oder vereinzelten nachrichten der gesetze und ge-
schichtschreiber zusammen gestellt worden; ungleich lebendigere und be-
deutendere meldungen gehen aus angelsächsischen und altnordischen quellen
hervor, nicht nur weil diese auf einer längeren dauer des heidenthums und
seiner denkmäler sondern auch auf der bei jenen stämmen fast erloschnen
einheimischen poesie beruhen.
Für die ANGELSACHSEN liefert uns das epos von Beovulf, dessen
jetzige gestalt höchstens dem siebenten oder gar achten jahrh. angehört,
dessen grundlage schon von den auswandernden Angeln und Sachsen nach
Britannien mitgebracht wurde, die schilderung zweier grofser scheiterhaufen,
die freilich prächtiger und geschmückter hervor treten, als des Römers ein-
fache beschreibung ergab. Der erste leichenbrand ist der des helden Hnäf
(ahd. Hnebi), nach dem es auch in einer urk. von 976 bei Kemble 3, 130
heifst tö Hnäfes scylfe, zur bank oder zum stul (engl. shelf) des Hnäf. die
ganze von 2207-42 reichende stelle muls hier ausgehoben und erwogen
werden.
äd väs geäfned and iege gold
ähäfen of horde herescyldinga,
betst beadorinca väs on bl gearu.
ät päm äde väs &dgesyne
svätfäh syrce, svin ealgylden,
eofer irenheard, ädeling manig
vundum ävyrded, sume on väle crungon.
het pä Hildeburh ät Hnäfes äde
hire selfre sunu sveolode befästan,
bänfatu bärnan and on bl dön,
earme on eaxle. ides gnornode,
geomrode giddum, güdrinc ästäh,
vand tö volenum välfyra mzest,
hlynode for hläve, hafelan multon,
(1) Lisch meklenb. jb. 11,368-372. Was alles Bolten (Ditmarsische gesch. 1, 315-310) von
gräbern und leichenbrand meldet ist schmählich erdichtet.
über das verbrennen der leichen. 931
bengeato burston, bonne blöd ätspranc,
lädbite lices lig ealle forsvealg,,
gesta gifrost pära pe per güd fornam
bega folces, väs hira blaed scacen.
da die ganze erzählung von Hnäf nur eine episode des gedichts bildet, ‚bleibt
in den persönlichen verhältnissen einiges dunkel. Hnäf war, wie aus Vid-
sides liede erhellt, ein Höcing, also chaukisches geschlechts, und die schlacht,
worin er fiel, auf friesischem grunde geschlagen, weshalb alle diese gebräuche
für Friesland mitgelten müssen. Hildeburg, Höces tochter (2146) verlor in
der schlacht geliebte kinder und brüder, ich nehme den Hnäf für ihren
bruder, auf dessen scheiterhaufen sie zugleich den gefallnen sohn bringen,
und mit dem arm an jenes achsel stellen liefs, earm& scheint instrumentalis.
sveolod von svelan brennen ist ein mit äd gleichbedeutiges wort für die glut.
aufserdem waren andre im kampf gebliebne krieger, das blutige hemd des
Hnäf, sein eberhelm und schweres gold auf den holzstofs gelegt. unter lau-
tem wehklagen Hildeburgs erhob sich nun die gierige um den hügel spielende
flamme und des helden geist erstieg mit ihr in die luft: so glaube ich das
“güdrine ästäh’ auslegen zu dürfen, denn ein steigen des todten auf den
scheiterhaufen kann unmöglich damit gemeint sein; oder wäre zu ändern
güdrec, heftiger rauch?
Die zweite stelle am ende des ganzen lieds geht auf den gefallnen
Beovulf selbst 6268 -90
him pä gegiredon Geäta leode
äd on eordan unväclicne
helmbehongne, hildebordum,
beorhtum byrnum, svä he b@na väs.
älegdon pä t6 middes mzerne beoden
häled hiofende hläford leofne.
ongunnon hä on beorge bielfyra mzxst
vigend veccan: vudurec astäh
sveart of svichole, svögende let
vöpe bevunden, vindblond (ne) geläg,
od pät he pä bänhüs gebrocen häfde
hät on hredre.
die helden behiengen den scheiterhaufen mit helmen, schilden, brunien,
legten ihren geliebten herrn in deren mitte und begannen das feuer zu
wecken, das nun den leichnam verzehrte. wie dort välfyra mzst heifst der
2332 Jacos Grimm
brand hier balfyra mest; vudurec ästäh käme dem vorhin gemutmasten
güdree ästäh zu statten: schwarzer rauch stieg unter wehklagen (hiofan
s. 221) der leute prasselnd aus der glut (vielleicht für svicpole zu lesen
sviolode?) und der wind legte sich nicht, bis das beinhaus (der leichnam)
gebrochen war. In den folgenden leider beschädigten versen wird hinzuge-
fügt, wie die männer über der brandstätte einen hohen und breiten hügel
aufwarfen, zwölf heldenden hügel umritten und ihres herrn preis ausspra-
chen. mitverbrannter rosse ist in keiner der beiden stellen gedacht.
Hier sind noch einige andere desselben gedichts:
bronde forbärnan, on bzxl hladan. 4247.
hlev gevyrcean beorhtne äfter bzele. 5600.
wer he bel cure, häte headovylmas. 5632.
pä sceal brond fretan, äled peccean. 6025.
pe us beägas geaf on ädfere
ne sceal änes hvät meltan mid pam mödigan. 6012.
heht pät hie bzelvudu feorran feredon. 6219;
die letzten worte mahnen an das herbeischaffen des holzes zur pyra im ho-
merischen epos, welches holz unter baelvudu gemeint sei, möchte man wissen.
Cxdmon, da wo Abraham und Isaac, oder die drei männer im feu-
rigen ofen besungen werden, verwendet überall noch die heidnischen aus-
drücke; er sagt äd hladan 175, 25, äd und balfyr 173,3. 4. on ba»l ähöf
175, 30. 177, 14. ädfyr onbran 203, 4. bzelblyse 203, 9. 230, 12. tö baele
gebeodan 242,4. die schottische sprache hat bail für feuer und flamme
bewahrt; es klingt auch an das galische bealteine, beilteine an.
In den ags. gesetzen begegnen ebensowenig verbote des heidnischen
leichenbrands als in den fränkischen und thüringischen; mehr fällt auf, dafs
die canones Edgari, capitula Theodori, das confessionale Ecgberhti unter-
lassen abergläubische überreste des gebrauchs zu rügen, er scheint schon
verschollen. Was bei Beda 3, 16, als vom anzünden einer stadt die rede ist,
gesagt wird: advexit illo plurimam congeriem trabium, tignorum, parietum
virgearum et tecti foenei, lautet in der übersetzung: micelne äd gesomnode
on beamum and on räftrum and on vägum and on vatelum and on bacum.
hier drückt äd nicht die flamme aus, sondern den gehäuften, geschichteten
holzstofs und die parietes virgeae sind crates.
Noch länger als unter den Sachsen dauerte der heidnische glaube bei
den SCANDINAVEN, noch reichlicher verzeichnet sind hier die denk-
über das verbrennen der leichen. 933
mäler in gedicht wie prosa, und hier werden die ausführlichsten nachrichten
und beispiele für das verbrennen der leichen anzutreffen sein. selbst die
heutigen sagen und lieder weisen noch manigfach darauf zurück.
Snorri in der vorrede zu seinen königssagen geht sogar vom verbren-
nen aus und meldet, das erste zeitalter habe brunaöld geheifsen, wo man alle
todten menschen brannte und über ihnen bautasteine aufwarf; als aber Freyr
unverbrannt im hügel, dem man drei fenster offen liefs, nachher auch der
dänische könig Danr samt waffen, rüstung, pferd und sattelzeug gleichfalls
im hügel beigesetzt worden sei, habe dieser brauch zumal in Dänmark um
sich gegriffen und ein haugs öld begonnen, in Schweden und Norwegen das
brennen länger angehalten. In Ynglingasaga cap. 8 folgt aber die bestimm-
tere angabe, dafs erst Odinn das brennen der leichen auf dem scheiterhaufen
verordnet und jedem verbrannten aufnahme in Valhöll zugesichert habe: so
viel von eines gut auf den scheiterhaufen gebracht sei, werde ihm nachfolgen,
die asche solle man ins meer schütten oder in die erde begraben (also das
vom feuer übrig gelassene den andern elementen zuführen.) Nach dieser
vorstellung ist anzunehmen, dafs vor Odins zeit gleichfalls begraben und
später dazu wiedergekehrt wurde. cap. 10 sagt, nach seinem ableben sei
Odinn selbst verbrannt und nun das brennen allgemein geworden; man habe
geglaubt, je höher der rauch in die luft aufsteige, desto geehrter sei der
verbrannte im himmel, wodurch sich der vom ags. dichter gewählte ausdruck
“ästigan” bestätigt: jeder natürliche mensch beim anblick des leichenbrands
muste so empfinden (1).
Gleich Odinn war auch Niördr und Odins sohn Baldr verbrannt wor-
den, an Freys leichnam glaubten die Schweden seien fruchtbarkeit und friede
im land gebunden, darum wollten sie ihn nicht brennen, sondern unversehrt
im hügel beisetzen. Von den folgenden königen wurden Vanlandi, Visbur,
Domarr, Agni, Haki dennoch verbrannt, dazwischen auch einer oder der
andre begraben, bis endlich die gewohnheit des blofsen begrabens allgemei-
ner um sich grif. nach Yngl. saga 24 Alfr oc Yngvi heygdr, ebenso Ön,
Egill, Adils, Yngvar, Hälfdan (das. 29. 30. 33. 36. 49.) Hälfdan svarti
(') Maria 158, 1 von einem opfer:
er brant beidiu fleisch und bein;
dö sich der rouch üf bouc,
der engel al damite flouc.
Philos. - histor. Kl. 1849, Gg
234 Jacog GrımMm
wurde in vier stücke zerlegt und an vier stätten beerdigt, um dem land
fruchtbarkeit zu verleihen, es gab daher mehrere Hälfdanar haugar. Harald
wurde unverbrannt in den hügel gelegt, nicht anders Häkon gödi samt sei-
nen waffen.
Neuere scandinavische gelehrten sind geneigt, alle gräber mit eher-
nem geräth für keltisch zu erklären, die mit eisernem und verbrannten leichen
den Schweden und Norwegern, grablager mit unverbrannten leichen und
zugabe des rosses den Dänen anzueignen. gleichwol ist jene sage von Dan
nicht unmythischer als die von Frey, und ich bezweifle kaum, dafs auch
bei den Dänen, wie bei den Gothen und den übrigen Germanen in bestimm-
ter zeit leichenbrand herschte; nur hat er in Norwegen und Schweden, wie
das heidenthum insgemein, sich länger behauptet.
Odinn selbst, wo er auftritt, ist blofs im licht des mythus, nie der ge-
schichte zu fassen. verlege man seinen zug aus Skythien oder Thrakien vor
oder nach Christus, wir wissen durch Tacitus, dafs zu beginn unsrer zeit-
rechnung die Germanen verbrannten; die sitte mufs nothwendig unter ihnen
weit älter gewesen sein und ihre einführung kann gar nicht von dem vor-
dringen der asen gegen westen und norden abhängen.
Diese halbgöttlichen asen und die von ihnen entsprofsnen helden und
könige unterlagen wie der griechische Herakles, gleich allen andern sterb-
lichen, dem tod und scheiterhaufen; wie sollte dessen gebrauch bei dem
deutschen volk überhaupt nicht in ein unvordenkliches alterthum zurück
reichen’?
Ein berühmteres beispiel des leichenbrands gibt es nicht als das von
Baldr Odinssohn: nachdem er durch verrat allen unerwartet und zutiefer trauer
gefallen war, brachten die asen seine leiche zur see auf ein schif und errich-
teten da den scheiterhaufen. Nanna seine frau starb vor grofsem harm und
wurde auch in die flammen gelegt, welche Thörr mit seinem hammer weihte;
einen ihm vor den füfsen laufenden zwerg (!) stiefs er gleichfalls in die glut.
Baldrs pferd wurde herangeleitet und mit allem sattelzeug verbrannt, Odinn
that seinen kostbaren ring Draupnir hinzu und hatte dem geliebten sohn,
(') Litr, vielleicht Liotr, deformis, denn die zwerge waren hälslich. der zug mahnt an den
mexicanischen brauch, auf dem scheiterhaufen des königs aulser seinen dienern auch einige unge-
stalte männer mit zu verbrennen, die er zum zeitvertreib in seinem palast unterhalten hatte.
Klemm 5, 51.
über das verbrennen der leichen. 235
bevor ihn die flamme verzehrte noch worte ins ohr geraunt (1). Noch dem
könig Heidrekr legt in Hervararsaga cap. 15 Gestr die frage vor:
hvat m«elti Odinn i eyra Baldri,
ädr hann var ä bäl borinn?
wie Vegtamr die vala fragt:
hverr mun hefnt Hedi heipt of vinna,
eda Baldurs bana ä bäl vega?
woraus sich ergibt, dafs Hödr, der den Baldr unwissend erschossen hatte,
zu vergeltung (von Rindrs neugebornem sohne Vali) getödtet und auf
dem scheiterhaufen verbrannt werden sollte; das wird auch gesagt in Vö-
luspä 38. Bei dieser leichenfeier Baldrs treffen wir also das mitverbrennen
der gattin, des rosses und andrer gegenstände als wesentliche grundzüge;
dafs im mittelalter bis auf heute das ritterpferd der leiche folgen mufs, er-
klärt sich aus diesem mitverbrennen, hat aber seinen rechten sinn verloren.
Wenn es Völuspä 26 heifst
er Gullveigo geirom studdo,
ok i höll Härs hana brendo:
brisvar brendo prisvar borna,
so drückt das der dreimal wiedergebornen Gullveig dreimaliges verbrennen
aus, auf jede geburt in die welt folgt zuletzt die bestattung. das geirom
stydja läfst ein feierliches legen oder erheben auf sperschäften beim brand
vermuten.
Rührend ist in der eddischen Brynhildargvida Sigurds und Brynhilds
scheiterhaufe besungen; das muste in den hörern des lieds ganz andern ein-
druck hervorbringen, als Siegfrieds, wenn auch ergreifend dargestellte be-
vilde in den Nibelungen. Brynhildr läfst zwischen sich und Sigurd das
schwert legen, wie es einmal im bett zwischen beiden gelegen hatte; ihr
zur seite soll der geliebte mann brennen; ihm zur seite ihre geschmückten
dienstboten, zwei zu häupten und zwei habichte; wenn ihm fünf mägde und
acht diener folgen, kann die thür der unterwelt nicht auf seine füfse fallen.
Die einfachen worte selbst lauten so:
lättu svä breida borg ä velli,
at undir oss öllum iafnrümt se,
(2) Auf Baldrs scheiterhaufen beziehen sich stellen der hüsdräpa. Laxd. saga p. 387. 388.
Gg2
9336 Jacos Grimm
beim er sulto med Sigurdi.
tialdi par um pä borg tiöldom ok skiöldom,
valaript vel fäd ok vala mengi,
brenni mer inn hunska ä hlid adra.
brenni enum hunska ä hlid adra
mina piona menjum göfga,
iveir at höfdum ok tveir haukar:
bä er öllu skipt til iafnadar.
liggi ockar enn i milli mälmr hringvaridr,
egghvast iarn svä endr lagit,
bä er vit biedi bed einn stigom,
ok h&tom pä hiona nafnı.
hrynja hänom pä ä hxl Peigi
hlunnblik hallar hringi litkod,
ef hänom fylgir ferd min hedan,
beigi mun vär för aumlig Pyckja,
pviat hänom fylgja fimm amböttir,
ätta Pionar edlom gödir,
föstrman mitt ok faderni,
hat er Budli gaf barni sino.
auch ihre milchschwester (föstrman, coalumna) und all ihre väterliche mit-
gift (faderni) ward verbrannt. Mit bemerkenswerther abweichung heifst es
in dem prolog zu helreid Brynhildar, nach ihrem tode seien zwei holzstöfse
errichtet worden, einer für Sigurd, der brann zuerst, und Brynhild ward
hernach verbrannt, sie fuhr auf einem mit kostbarem gewand bedeckten wa-
gen ihren helweg; vgl. Nornagests saga cap. 9.
Diener, rosse, hunde, falken, waffen wurden mit verbrannt, um den
helden bei ihrer ankunft in der unterwelt alsbald wieder zur hand zu sein,
weil man sich vorstellte, dafs dort die irdische lebensart ganz auf die alte
weise fortgesetzt werden sollte. In der Vilkinasaga cap. 246. 247 ist be-
richtet, wie Dietrich von Bern den Iron unter einem hoch von balken auf-
gerichteten gerüste bestatten liefs und auf dem gebälk pferd, hunde und
habichte des todten standen. Hier hatte die sage das verbrennen schon ver-
gessen und doch die zurüstung des scheiterhaufens beibehalten (').
Das mitsterben der ehefrau, obgleich weit unter den völkern ver-
breitet, scheint vorzugsweise der nordischen und germanischen sinnesart
(') Müllers sagabibliothek 2, 611. 612 theilt eine offenbar jüngere märchenhafte entstellung
der sitte mit. in den hügel werden das gesattelte pferd, waffen, habicht und hund lebendig ein-
geschlossen, der todte steht nachts auf, frilst habicht und hund auf u. s. w.
über das verbrennen der leichen. 9237
überhaupt zusagend. als im j. 1011 dem berühmten Niall von seinen feinden
das haus über dem haupt angezündet wurde, wodurch er das leben verlor,
wollten sie Bergthora, Nials frau, herausgehn lassen, sie sagte ich bin dem
Niall jung vermählt worden und habe ihm gelobt, dafs ein schicksal über
uns beide ergehn solle: ek var üng gefin Niäli, hefi ek Pvi heitid honum at
eitt skyldi gänga yfır okkr bedi; sie wich nicht aus dem haus und liefs sich
mit verbrennen. schon Taecitus cap. 15 versichert von den germanischen
ehfrauen: ipsis ineipientis matrimonii auspieiis admonetur venire se laborum
periculorumque sociam, idem in pace, idem in proelio passuram ausuram-
que. die frau erscheint hier nicht gleich einer dienenden magd im geleite
des mannes, es war ihr freier wille mit ihm zu leben und zu sterben. ein
rührendes beispiel dieser treue gaben Hagbarth und Sygne bei Saxo 132
St. 345 M., das viele volkslieder feierten; auch Gunnilda nach Asmunds
tod, bei Saxo 46.M.
Dafs aber nicht blofs ehfrauen mitverbrannt, sondern auch andre
frauen nach ihrem tod verbrannt wurden, lehrt vor allem ein allgemeiner
spruch in Hävamäl 80, dafs man den tag erst zu abend loben solle, eine
frau erst wenn sie verbrannt ist, d.h. nach ihrem tod:
at qveldi skal dag leyfa,
kono er brend er,
wie ein andrer spruch 70 blindr er betr enn brendr se nichts ausdrückt als
dafs blindheit dem tode vorzuziehen sei. Snafridr, Haralds härf. vor ihm
versterbende gemahlin wurde auf dem bäl verbrannt. Haralds saga cap. 25.
fornm. sög. 10, 207.208. Ich finde nirgend eine angabe, dafs frauen ge-
ringeres standes vom leichenbrand ausgeschlossen waren. Ebenso wenig
findet sich auskunft über das begräbnis noch ungezahnter kinder.
Ich will andere zeugnisse für den leichenbrand im Norden anführen,
die zugleich seinen übergang in das blofse begräbnis anschaulich machen (').
Als in der grofsen Bravallaschlacht (ums j. 720) könig Haraldr ge-
fallen war, liefs könig Hringr des gegners leiche waschen, schmücken und
auf dessen wagen setzen, dann einen grofsen hügel weihen, die leiche samt
(') Auch in der fremde hielten die Normannen den brauch ihre todten zu verbrennen fest,
wie uns Regino zum j. 879 (Pertz 1, 591) bezeugt: Nordmanni cadavera suorum flammis exu-
rentes noctu diffugiunt et ad classem dirigunt gressum, gleich den Gothen bei Sidonius.
238 Jacog Grimm
wagen und pferd in den hügel fahren und das pferd tödten. darauf nahm
er seinen eignen sattel und übergab ihn Haralds leiche, nun zu thun was er
wolle, nach Valhöll reiten oder fahren. alle helden, bevor der hügel ge-
schlossen wurde, warfen ringe und waffen hinein. So meldet das sögubrot
in fornald. sög. 1,387 und hier scheint das verbrennen ausgeschlossen. Saxo
gramm. gibt p. 147 Steph. 391 Müll. bei demselben anlafs folgenden be-
richt: tandem cum corpore reperta clava Haraldi manibus parentandum
ratus equum, quem insidebat, regio applicatum currui aureisque subselliis
decenter instratum ejus titulis dedicavit. inde vota nuncupat adjieitque pre-
cem, uti Haraldus eo vectore usus fati consortes ad tartara antecederet atque
apud praestitem orci Plutonem sociis hostibusque placidas expeteret sedes.
deinde rogum exstruit, Danis inauratam regis sui puppim in flanmae fomen-
tum conjicere jussis. Oumque superjeetum ignis cadaver absumeret, moe-
rentes circuire proceres impensiusque cunctos hortari coepit, uti arma,
aurum et quodeunque opimum (l. optimum) esset liberaliter in nutrimentum
rogi sub tanti taliterque apud omnes meriti regis veneratione transmitterent.
Cineres quoque perusti corporis urnae contraditos Lethram perferıi ibique
cum equo et armis regio more funerari praecepit. Unbedenklich trägt hier
Saxos erzählung kennzeichen höheres alterthums, lehrt aber mit jenem be-
richt des sögubrot verglichen, wie auch in ähnlichen fällen die angabe des
leichenbrands verwischt wurde.
In dieselbe heldenzeit fällt Starkadr. als Saxo p. 158 Steph. 406 Müll.
dessen tod erzählt, fügt er hinzu: verum ne tantum athletam busti inopem
jacere pateretur, corpus eius in campo, qui vulgo Roelung dieitur, sepul-
turae mandandum curavit. hier kann nicht einmal bustum bestimmt auf
verbrennen bezogen werden, es meint blofs grab (').
(‘) Das christenthum drang auf Island in den jahren 995-1000 ein, aber schon vorher war
daselbst begraben und beerdigen (heygja, iarda) unverbrannter leichen üblich. im j. 946 öfnete
man einen hügel, um eine neue leiche in ihm beizulegen. Egilssaga s. 601. Egill selbst, der
noch als heide nach 980 starb, wurde mit waffen und kleidern bestattet, und man fand später
sein gebein. ebenda s. 768. 769. Nicht anders war Thorolf im j. 926 mit waffen und kleidern
bestattet worden. ebenda s. 300. Skalagrim im j. 934 ins schif geführt und mit pferd und waf-
fen begraben. ebenda s. 399. Die Laxdoelasaga redet von i haug setja s. 20, haug kasta, verpa
s. 104. 142. 152, nie von verbrennen; doch wurde sie erst im 13 jahrh. abgefalst und die einzel-
nen ausdrücke können schon nach dem späteren brauch gewählt sein. s. 16 liest man: Unnr var
lögd i skip i hauginum ok mikit f& war i haug lagt hia henni, var eptir pat aptr kastadr haugrinn.
über das verbrennen der leichen. 9339
Nicht übergangen werden darf aber was Saxo p. 87 Steph. 234 Müll.
von seinem dritten Frotho anführt: lege cavit, ut quisquis paterfamilias eo
conciderat bello cum equo omnibusque armaturae suae insignibus tumulo
mandaretur. quem si quis vespillonum scelesta cupiditate tentasset, poenas
non solum sanguine, sed etiam inhumato cadavere daret, busto atque inferiis
cariturus. si quidem par esse credebat, ut alieni corruptor eineris nullo
funeris obsequio donaretur, sortemque proprio referret corpore, quam in
alieno perpetrasset, centurionis vero vel satrapae corpus rogo propria nave
constructo funerandum constituit; dena autem gubernatorum corpora unius
puppis igne consumi praecepit; ducem quempiam aut regem proprio injectum
navigio concremari. Dies alles scheint kein allgemeines leichengesetz, son-
dern blofse anordnung für den eben beendigten heerzug, daher auch der
frauen und unfreien nicht erwähnt wird; aber die abstufung der verschiednen
bestattungsweisen ist merkwürdig. die vornehmen sollen auf holzstöfsen im
schif, zehn zusammen oder einzeln verbrannt, die übrigen krieger blofs mit
pferd und rüstung im hügel beerdigt werden; es wird für sie keiner bren-
nung gedacht und doch könnte sie vorausgesetzt sein, da der hier bedrohte
leichenraub auch an hügeln verbrannter denkbar wäre.
Von Hotherus heifst es p. 41 St. 119 Müll.: Gelderum Saxoniae re-
gem, eodem consumptnm bello, remigum suorum cadaveribus superjectum
ac rogo naviglis exstructo impositum pulcherrimo funeris obsequio extulit.
eineres ejus perinde ac regii corporis reliquias non solum insigni tumulo tra-
didit, verum etiam plenis venerationis exequiis decoravit.
‚Nach dieser stelle, nach Frothos anordnung und nach dem mythus
von Balders tod wurden die leichname der asen, könige, und helden auf
schiffen verbrannt, die man sobald der scheiterhaufe entzündet war, der
flutenden see überliefs; nach Yngl. saga cap. 27 befahl der todwunde Haki
auf einem schif den scheiterhaufen zu entzünden: göra bäl ä skipinu, Haki
var lagidr ä bälit, geck skipit logandi üt um eyjar i haf. Hier also empfien-
gen beide elemente, feuer und wasser, den todten gemeinschaftlich. dieser
merkwürdige gebrauch scheint zusammenzuhängen mit der weit umgreifenden
Während in Islendinga bök cap. 7 das aussetzen der kinder und essen des pferdefleisches (barn-
ütburd, hrossakiötsät) als heidnisch bezeichnet ist, steht der leichenbrand (daudra brenna) nicht
auf gleicher linie und muls früher abgekommen sein.
340 Jıcos Grimm
vorstellung des alterthums, dafs der todte über das gewässer in ein fernes
land, auf eine insel der seligen fahren müsse, wovon ich in der deutschen
mythologie s. 790 ff. ausführlich gehandelt habe. daher mag auch in spä-
terer zeit, als man vom verbrennen zum begraben zurückgekehrt war, sich
eine zwiefache sitte herleiten, einmal dafs man die leichen in schiffen selbst
oder in schifsförmig gestalteten särgen dem erdhügel übergab, dann dafs
man auf dem hügel steine und felsen in gestalt eines schiffes ordnete. sol-
cher schifssetzungen haben sich zumal in Schweden manche erhalten, man
sieht die seiten und schnäbel des schifs deutlich gelegt, in der mitte aber
einen höheren felsenrif als mast sich erheben. wirkliche schiffe sind zwar
nirgend in nordischen noch deutschen gräbern aufgefunden worden, wol aber
die schwäbischen todtenbäume aus stämmen ganz wie nachen gehölt, und
nicht blofs altnordische auch deutsche sagen erzählen ausdrücklich von leich-
bestattungen im schif(!). dieser volksglaube mag also allgemein und über
den norden hinaus unter unsern vorfahren und viel weiter noch gehaftet
haben (?).
Für rogus findet sich altn. kein dem ahd. eit, ags. äd gleiches eidr
(denn eidr jusjurandum, ahd. eid, ags. äd ist unterschieden davon); der
übliche ausdruck lautet bäl, dem ags. bl und vermuteten alts. bäl entspre-
chend, wogegen kein ahd. päl zu bestehn scheint. die goth. völlig zweifel-
hafte form wäre bel; schwed. gilt bäl, dän. baal. dies bäl bezeichnet mehr
den holzstofs als die flamme selbst, gleichviel ob zum verbrennen der lei-
chen oder zu andern zwecken dienend; bei der berühmten Niälsbrenna
heifst es cap. 130: töku eld ok gerdu bäl mikit fyrir dyrunum. Egilssaga
cap. 45 s. 222: bäl mikit, lögdu par i eld, es mus also, wenn das geschich-
tete bäl brennen soll, erst feuer dazu kommen. in den altschwedischen
gesetzen z. b. Uplandslag p. 150. 254 wird häufig das ‘i bäli brinnä, der
scheiterhaufe, als strafe des verbrechers ausgesprochen, in den norwegischen
das “deema til brands ok til bäls” Schwedische volkslieder schildern diese
strafe dichterisch, z. b. eins bei Arwidsson 1, 312, der könig entsendet seine
diener in den wald holz zu hauen:
i gän ät skogen och huggen ett bäl!
(‘) Im goldnen schif begraben, sage bei Müllenhoff n. 501.
(2) Noch heute pflegt in China den särgen schifsgestalt ertheilt zu werden. Klemms cultur-
geschichte 6, 131.
über das verbrennen der leichen. 941
als es geschichtet ist, werfen sie die unschuldige ins feuer:
sä kastade de liten Kerstin pä rödaste bäl,
und sie jammert über das rothe kissen, den blauen polster, auf welchen sie
schlafen solle:
mina dynor brinna röda, mina bolstrar brinna bla,
gud näde mig liten Kerstin, som skall sofva deruppä!
man vergleiche dazu die ausdrucksweisen s. 315. 317. 319 und zumal 352.
373, so wie in dänischen liedern (D. V. 3, 339. 340).
Dennoch mag in bäl ursprünglich der begrif der flamme selbst gelegen
haben, wie ich aus dem lappischen buolam flagro, finnischen palan flagro,
palo incendium, slavischen paliti urere folgre, und jenes irische bealteine,
worin man tine durch feuer, beal aus eines gottes namen deutet (deutsche
myth. s.379), ja der name des verbrannten gottes Baldr, ags. Baldäg könnte
dabei in betracht kommen. jedenfalls schlägt hier eine uralte, weitverbrei-
tete wurzel ein. In Bohuslän heifst mittsommer oder das sunwendfeuer
noch heute häbäln, das hochfeuer, der hohe scheiterhaufe (!).
Seltner als bäl wird das altn. hladi strues verwandt, von hlada struere,
acervare, ags. bxl hladan, slav. klasti; ferner altn. köstr, gleichfalls strues von
kasta aufwerfen, wozu sich noch das einfachere kös congeries, vielleicht das
dän. kost (besen, a congerendo, converrendo) halten läfst. Sxzm. 268 b.
heifst es:
hladit er iarlar eikiköstinn,
lätid hann und himni hx#stan verda,
schichtet den eichnen haufen, lafst ihn hoch aufsteigen unter dem himmel.
Noch einen ausdruk weifs ich nicht befriedigend zu deuten, die wörterbü-
cher geben budlüngr (auch bolüngr, bulüngr), rafta budlüngr strues ligno-
rum. nun ist raftr, ags. räfter tignum; bezeichnete budli, ahd. putilo praeco,
lietor, so wäre rafta budlüngr, perticarum praeco, princeps =rogus? wahr-
scheinlich geht die benennung blofs auf die holzschicht und nicht auf pyra.
Die Dänen nennen einen scheiterhaufen brändestabel oder vedkast,
den entzündeten, brennenden aber baun, den hügel, worauf er glüht, bau-
nehöi. in diesem worte hat man den diphthong au wie anderwärts (gramm.
1,523) zu fassen, folglich wird baun hervorgegangen sein aus baven = ags.
(1) Dybecks runa 1844 s. 21.
Philos.-histor. Kl. 1849. Hh
242 - Jacog Grimm
beäcen, ahd. pouchan zeichen und dann feuerzeichen auf berg und hügel.
doch ist das altn. bünki congeries zu erwägen.
Gern empfienge man bestimmte nachrichten über die besonderheit
des zum altn. scheiterhaufen verwandten holzes. eikiköstr, strues ilignea
fanden wir vorhin in der edda, und wie bei Homer gehn im schwed. volks-
lied die männer zu walde, holz für den scheiterhaufen zu fällen; es heifst
(Arwidsson 1, 317) huggen den veden af eken. Doch Yngl. saga cap. 27
steht einmal leggja eld i tyrvid, ignem imponere cremio, tyrvidr oder tyr-
vidi scheint harzholz, cremium zu bezeichnen, wofür ich sonst auch eldsneyti,
ignis consortium finde. Olaus Magnus 16, 11 gibt an, man habe sich zum
leichenbrand des wacholders (schwed. enbär, enbusk) bedient, der zwar
kein dorn ist, aber gleich ihm einen verworrenen, stachelichten strauch bil-
det, den man allgemein zu reinigendem räuchern verwendet und der im al-
terthum für heilig galt. ich denke zumal an den weitverbreiteten mythus
vom gemordeten knaben, dessen aufgelesnes, zusammengebundnes gebein
die treue schwester unter einen machandelbaum legt: aus dem immergrünen
gezweige erhebt sich ein neubelebter vogel. sogar die bekannte deutung des
lat. wortes juniperus (a junior et pario, quod juniores et novellos fructus
pariat antiquis maturescentibus), liefse sich hinzunehmen. ags. evicbeäm.
Nicht zu verkennen ist sodann die bedeutsamkeit verschiedner arten
des dornstrauchs auch in altn. sage, wie in unserm alterthum überhaupt.
mit dem schlafdorn (svefnbomi) stach Odinn die valkyrie Brynhild, d.h. er
steckte ihn an ihr gewand, worauf sie in todähnlichen schlummer sank; noch
jetzt heifst uns die dornrose (sentis canina) schlafrose und ein moosartiger
auswuchs daran schlafapfel. diese Brynhild ist nun dieselbe, welche, wie
wir vorhin sahen, auf prächtigem scheiterhaufen neben Sigurd verbrannt
wurde und im deutschen märchen das von der spindel gestochne schlafende
Dornröschen genannt wird, weil eine undurchdringliche hecke von dornen
um sie gewachsen war. Es wird sich im verfolg ausweisen, dafs der süd-
schwedische volksglaube einen dorn auf gräber pflanzt und für heilig hält;
dort ist auch die sage verbreitet, dafs die trolle frühlings, wenn sie ihr
gold sonnen, es auf dornsträuche hängen und diese in der meinung der
leute dann brennend erscheinen (1), was nochmals auf den brennenden busch
(!) Dybecks runa 1847 s. 19.
über das verbrennen der leichen. 943
führt. unmittelbarer weist zum verbrennen der gebrauch, dafs für das bäl
der mittsommernacht, wie in Deutschland beim Oster und Johannisfeuer
neunerlei holz und neunerlei blumen verwandt werden müssen (1).
Was uns jedoch keine der altnordischen sagen gewährt, die sicherste,
ihrem ganzen gepräge nach auf das höchste alterthum zurückgehende nach-
richt vom schichten der scheiterhaufen hat ein in Smäland überliefertes kin-
dermärchen (?) bewahrt, dessen beweiskraft von denen nicht unterschätzt
werden wird, die auch in Perraults belle au bois dormant reste altfränkischer
überlieferungen von Brunihild anzuerkennen bereit sind. alle hierher gehö-
rigen züge verdienen hier sorgsam ausgehoben zu werden.
Eine königstochter zum frosch verwünscht hauste ihrer erlösung har-
rend einsam in entlegnem prächtigem hof und garten. sie hatte einen jüng-
ling als diener angenommen, wies ihm im garten “einen grofsen strauch,
desgleichen ihm nie vor augen gekommen war’, und trug ihm auf jeden tag,
wo die sonne am himmel stehe, sonntag wie montag, jultag wie miltsom-
mertag einen zweig von dem strauch zu schneiden, mehr aber nicht. weiter
hatte er das ganze jahr durch nichts zu verrichten und lebte ruhig in allem
überflufs. Als der letzte zweig geschnitten war, hüpfte der frosch heran
und schenkte ihm ein wunderbares tuch, das er mit nach haus nehmen und
zu julabend auf seines vaters tisch breiten solle. Die weiteren begebenheiten
fallen nun hier aus, nach jahresablauf gelangte der jüngling von neuem in
den froschgarten, wurde wieder in dienst genommen und empfieng diesmal
den auftrag von einem ihm überreichten garnknäuel (bundt efsingar) jeden
tag einen faden an einen der voriges jahr (i fjol) abgeschnittnen zweige zu
knüpfen, doch wieder nicht mehr als einen, sowol sonntags als montags,
jultags und mittsommertags. Auch dies geschäft verrichtete er genau nach
der vorschrift und empfieng, als der letzte zweig gebunden war, vom frosch
einen kostbaren trinkbecher geschenkt, den er daheim julabends seinem
vater auf den tisch setzen solle. Es war ihm aber beschieden nochmals in
denselben garten zurückzukehren, wo ihm zum drittenmal die aufgabe ge-
schah, jeden tag, an dem die sonne leuchte, mittwoch wie donnerstag, jul-
(‘) Dybecks runa 1844 s. 22.
(2) Svenska folksagor of äfventyr samlade och utgifna af Cavallius och Stephens. Stock-
holm 1844. 1, 251-363.
Hh2
244 Jacog Grimm
tag und mittsommertag einen der geschnittnen und gebundnen zweige im
hof zu schichten, immer nur alltäglich einen einzigen, nach ablauf des jahrs
aber, sobald der letzte zweig geschichtet sei, den haufen (bälet) anzuzünden
und was in der asche übrig bleibe zu bergen. Der jüngling that alles wie
ihm geboten war, und als der grofse reiserhaufe stand, entzündet wurde,
aufloderte und verglomm, erhob plötzlich aus der asche sich eine wunder-
schöne jungfrau, die der jüngling eilends der glut entrifs und die nunmehr
seine braut ward.
Hier scheint lange Jahrhunderte hindurch in märchenhafter verklei-
dung unter dem volk sich noch ein unverkennbares andenken an das
heidnische bäl und die gänze art und weise vielleicht seines feierlichsten auf-
schichtens fortgepflanzt zu haben. den dazu ausersehnen oder erforderlichen
dornstrauch nennt die aufgezeichnete überlieferung nicht, doch sie bezeich-
net ihn; das langsame schneiden und binden der zweige verkündet heiligen
opferbrauch und gemahnt ans skythische dorngerüste oder ans aufhängen
des sächsischen wergelds, das aus verglühender asche emporsteigende neue
leben an die dem leichbrand nothwendig zum grund liegende vorstellung,
dafs aus den flammen die unsterbliche seele sich gen himmel erhebe. Diese
unversehrte frische einer schwedischen bauersage, die keine phantasie so
ersonnen hätte, gewährt uns einfachen aufschlufs über das verbrennen der
leichen bei unsern vorfahren insgemein: wie die erlöste königstochter in des
jJünglings arme, werden sie geglaubt haben, dafs auch Brunhild in Siegfrieds
aus der glut gesprungen sei.
Hier darf ich aber noch etwas geltend zu machen nicht säumen. Nils-
son(!), von ganz andern gesichtspuncten als ich ausgehend, hat 6, 4. 5 bei
scharfer und sorgsamer untersuchung der auf Schonen liegenden grabhügel
wahrgenommen, dafs alle dem brenn oder erzalter angehörigen von ihm
für keltisch gehaltnen gräber durch einen dorn (crataegus oxyacantha) ge-
kennzeichnet sind und dafs dieser dorn bei dem volk noch jetzt für heilig
erachtet, von keinem beil angegriffen wird und ein hohes alter erreicht.
mich dünkt vollkommen zulässig dergleichen dornhügel auch dem germa-
nischen und skandischen alterthum anzueignen, da die heiligkeit des dorn-
(') Skandinaviska nordens urinyänare. Lund 1838 - 1843; man vgl. Dybecks runa 1847
s. 19. 20. ;
über das verbrennen der leichen. 245
strauchs ebensowol in deutscher sage vorbricht und in dem altfränkischen
thornichallis gerade ihre sicherste gefähr findet. Schonische grabhügel führen
nicht blofs den namen Bälhögen (brandhügel) sondern auch Tornhögen
(dornhügel) ('), die zeugnisse dafür haben im fortgang der untersuchung sich
so ansehnlich gemehrt, dafs sie nun wechselsweise einander unterstützen.
Noch aber bin ich mit dem deutschen gebrauch hier nicht zu ende,
falls ich grund hatte, gleich den alten Aestiern auch spätere ESTEN für
Germanen zu erklären (?), deren name zuletzt an einem benachbarten und
nachrückenden finnischen stamm haftete; auf solche weise war der keltischen
Bojen name mit dem besitz des landes erst auf die deutschen Baiern, zuletzt
auf die slavischen Böhmen übergegangen. an jener nordöstlichen seeküste
hatte bereits Pytheas Ostiaeer neben Guttonen gekannt, Tacitus hernach
die ihm noch unzweifelhaft germanischen Aestier am suevischen meer den
Sueven, wenn auch in bezug auf ihre sprache nicht ganz verglichen; viel
später unterhielt mit ihnen verbindung der gothische Theodorich. Finnen
standen bereits im ersten Jahrhundert und warum nicht weit früher in oder
an diesem landstrich neben Germanen; wer könnte sagen, wann der ger-
manische stamm ausgezogen, der finnische an dessen stelle getreten, wann
vielleicht eine mischung zwischen beiden entsprungen sei? war was im
e)
neunten jahrhundert Esten heifst entschieden ungermanisch und schon fin-
nisch oder waltete damals noch das deutsche element vor? auch wenn man
letzteres für möglich hält, konnte sprache und sitte durch manchen einflufs
von aufsen her gestört und verändert worden sein.
Vulfstän hat uns in einer Älfreds Orosius eingeschalteten nachricht
folgendes über die estische leichbestattung
0)
wie sie, wir wollen annehmen,
zur zeit des neunten jahrhunderts galt, mitgetheilt.
Stirbt unter den Esten ein mann, so bleibt er bei seinen verwandten
einen monat, bisweilen zwei unverbrannt, ja reichere und könige noch län-
gere zeit. in dem haus, wo der todte liegt, ist trinkgelag und spiel bis dafs
er verbrannt wird. am tage aber, wo sie ihn zum scheiterhaufen tragen,
theilen sie seine habe, so viel von dem trinken und spielen noch übrig ist,
in fünf, sechs oder mehr theile. diese legen sie dann auf einer mindestens
(') Sjöborgs nomenklatur för nordiska fornlemningar. Stockh. 1845 s. 73, 74.
(2) Geschichte der deutschen sprache s. 719.
246 Jaıcos Grimm
meilenlangen strecke aus, so dafs der gröfste haufe am fernsten, der kleinste
am nächsten dem hause des todten liegt. hierauf sammeln sich alle, die im
land die schnellsten pferde besitzen, wenigstens fünf oder sechs meilen von
dem ausgelegten gut und reiten nnn zusammen um die wette darnach. wer
das schnellste pferd hat, erlangt den gröfsten haufen und so jeder nach dem
andern, bis alles weg genommen ist, der geringste fällt dem zu, welcher
dem hause zunächst bleiben muste. Ist auf solche weise des todten ganze
habe ausgetheilt, so trägt man ihn aus und verbrennt ihn mit seinen waffen
und kleidern. Durch das lange einlager und auslegen der güter auf dem
weg wird die habe schnell verschwendet. Übrigens verbrennen die Esten
alle ihre leichen und wo man ein unverbranntes gebein findet, mufs starke
hufse dafür erlegt werden. sie verstehn sich aber darauf kälte hervor zu
bringen und darum können die todten bei ihnen lange liegen ohne zu faulen.
Diese zauberei sieht eher lappisch und finnisch als deutsch aus und
auch die grofse güterverschwendung scheint dem geregelten erbrecht unsres
geschlechts widerstrebend; doch wem wird Vulfstans beobachtung ganz ge-
nügen? leichenmale, leichenwachen und spiele waren auch unserm alter-
thum gemäfs. das wettrennen, wen mahnt es nicht ans pferderennen bei
Patroklus leiche? aber um Beovulfs brandhügel ritten gleichfalls die hel-
den (6332).
Vierhundert jahre später kann es nur undeutsche, finnisch redende
Esten geben. Heinrich der Lette ( um 1228) (!) meldet zum j. 1210: sed
Estones tristia funera multis diebus colligentes et igne eremantes, exsequias
cum lamentationibus et potationibus multis more celebrabant. und zum
j. 1225: et receperunt uxores suas tempore christianitatis suae demissas, et
corpora mortuorum suorum in coemeterüs sepulta de sepulchris effoderunt
et more paganorum pristino cremaverunt. wie man sonst verbrannte leichen
begrub, werden begrabne hier wieder ausgegraben um sie des heiligen bran-
des theilhaft werden zu lassen. Auch von den Kuren wird das verbrennen
der todten p. 68 zum j. 1209 versichert: Curones a eivitate recedunt et col-
lectis interfeetis suis ad naves revertuntur et transita Duna triduo quiescentes
et mortuos suos cremantes fecerunt planetum suum super eos. In diesen
kurzen nachrichten Heinrichs ist nichts was denen Vulfstans widerspräche,
(') In Grubers origines Livoniae sacrae et ciyilis. Francof. et Lips. 1740 p. 58. 155.
über das verbrennen der leichen. 247
aber auch nichts was sie bestätigte. niemand wird in zweifel ziehen, dafs
die finnischen Esten gleich den germanischen, littauischen und slavischen
Heiden ihre todten der flamme übergaben. Ich werde hernach noch auf
die Finnen zurückkommen und will zuvor von den Littauern und Slaven
reden.
Den alten Aestiern wie den späteren Esten unmittelbar anstofsend
lagen die LITTAUISCHEN völker, deren alterthümliche sprache und sitte
der unsrer vorzeit so oft begegnet. grofses gewicht in der hier angestellten
untersuchung empfängt der wahrgenommene einklang des littauischen zaga-
ras und ahd. sakkari. das littauische wörterbuch kennt aber Zagaras nur im
ursprünglichen sinne von dornstrauch, nicht in dem von scheiterhaufen, wo-
für ich läauzas angegeben finde, das zu läuzu ich breche gehörig scheint.
doch im lettischen $Sahrts scheiterhaufe und strauchschicht, das ich zu sarri
= Zagaras nehme, walten beide bedeutungen.
Da die littauischen völker zum theil bis ins vierzehnte, fünfzehnte
jh. heidnisch blieben, darf nicht verwundern, dafs sich bei ihnen noch ganz
späte beispiele des leichenbrands aufzeigen lassen. In einer urkunde von
1249, worin die neubekehrten Preufsen mit dem deutschen orden vertra-
gen werden (!), geloben sie, quod ipsi et heredes eorum in mortuis com-
burendis vel subterrandis cum equis sive hominibus, vel cum armis seu
vestibus vel quibuscunque aliis preciosis rebus, vel etiam in aliis quibuscun-
que ritus gentilium de cetero non servabunt, sed mortuos suos juxta morem
Christianorum in cemiteriis sepelient et non extra; wonach also verbrennen
und begraben nebeneinander zulässig gewesen scheint. Die dem ausgang des
dreizehnten jahrh. zufallende livländische reimchronik berichtet von den
etwa zur mitte des jahrh. bekriegten Samen z. 3869-3838:
in disen dingen wurden brächt
ir liute, die dä lägen töt;
sän ir wisten in geböt,
daz sie die töten branten
und von hinnen santen
mit ir wäpen ungespart:
sie solden dort ouch hervart
unde reise riten;
des geloubtens bi den ziten.
(') Dregers cod. diplom. Pomeraniae no. 191 p. 286-294.
248 Jacos Grimm
der rede volgeten sie mite,
wan ez was der liute site.
üf höher ze hant si träten,
ir töten, die sie häten,
die brantens mit ir ziuge
(vürwär ich niht enliuge):
spere, schilde, brünje, pfert,
helme, keyen unde swert
brante man durch ir willen,
dä mit solden sie stillen
den tiuvel in jener werlte dort.
sö gröz törheit wart nie gehört.
von dem was seine eignen vorfahren thaten hatte dieser dichter nichts ge-
hört. die mitverbrannten waffen und thiere, wähnte man, würden gleich
den ins grab gelegten gegenständen im neuen leben hergestellt und ihren
alten eignern zu dienste sein. Diese Samen bildeten den kern der alten
Preufsen, welche zum littauischen stamm gehörend, auch den Samogeten
(im gedicht Sameiten genannt) benachbart und verwandt waren. die Sa-
meiten müssen aber nicht minder ihre todten verbrannt haben, wie schon
daraus folgt, dafs sie ihren göttern menschen zum opfer brannten, z. 4700:
die gote die sint wol wert,
daz man brünjen unde pfert
und ouch rische man dä mite
brenne näch unser site.
Dirc Potter, ein holländischer dichter schon aus dem beginn des 15 jahrh.
erzählt in der Minnen löp 1, 509-524 von einem heidnischen volk, das er
nicht näher nennt:
want het is noch huden mede
over al heidenscip ene sede,
als conince of hoghe vorsten sterven,
so plachmen him daer bi te werven
horen heimelixten camerline
ende merrien melc, dits ware dinc,
die graeftmen mede mitten here,
dat houden si vor grote ere,
want si meinen, twaer grote schande,
dat hoer her in enen anderen lande
comen soude sonder ghesinde
ende sonder dranc diemen minde:
über das verbrennen der leichen. 249
want melc van merrien houden si daer
vor den edelsten dranc vor waer,
die men den heren schenken mach.
diese ausstattung des herrn durch mitbegraben seines vertrautesten dieners
und ein gefäfs stutenmilch stimmt zu jenem samländischen glauben; auch
in deutschen gräbern werden die meistens zu fülsen der gerippe gestellten
krüge oft den mitbegrabnen trank enthalten haben. stutenmilch war bei den
alten Samen wie bei den Skythen beliebt ('). woher Potter den ihm all-
gemein heidnisch erscheinenden brauch schöpfte weils ich nicht. Bartholo-
maeus anglicus oder Glanvil (um 1350) schreibt von den Livonen: mortuo-
rum cadavera tumulo non tradebant, sed populus facto rogo maximo usque
ad cineres comburebat. post mortem autem suos amicos novis vestibus ve-
stiebant et eis pro viatico oves et boves et alia animantia exhibebant. servos
etiam et ancillas cum rebus aliis ipsis assignanles una cum mortuo et rebus
aliis incendebant, credentes sic incensos ad quandam vivorum regionem fe-
lieiter pertingere et ibidem cum pecorum et servorum sic ob gratiam domini
combustorum multitudine felicitatis et vitae temporalis patriam invenire.
Lasicz aber de diis Samagitarum p. 57 (bei Haupt 1, 148. 149) überliefert
merkwürdige, mit dem vorgetragnen oft eintreffende züge: defunctorum
cadavera vestibus induuntur et erecta super sellam locantur, quibus assiden-
tes propinqui perpotant ac helluantur. Lamentatione absolute dantur cada-
veri munuscula, mulieri fila cum acu, viro linteolum collo ejus implicatum.
Cum ad sepulturam effertur cadaver, plerique equis funus prosequuntur et
ad currum obequitant, quo cadaver vehitur, striclisque gladiis verberant
auras vociferantes ‘geigeite begaite pekelle!’ eia fugite daemones in orcum!
qui funus mortuo faciunt numos projieiunt in sepulerum, futurum mortui
viaticum. panem quoque et lagenam cerevisiae plenam ad caput cadaveris
in sepulerum illati, ne anima vel sitiat vel esuriat collocant. Des verbren-
nens geschieht bei Lasiez noch Potter keine meldung, ihre nachricht rührt
schon aus einer zeit, wo nur begraben wurde, die einzelnen bräuche dabei
stimmen aber zu denen des leichenbrandes, wie schon die vergleichung mit
Bartholomaeus lehrt. das setzen der leiche auf den sattel mahnt bündig an
(') Geschichte der deutschen sprache s. 721. Montevilla p. m. 170 erzählt, dals die Tataren
der milch wegen stuten samt ihrem füllen mitbegraben.
Philos.- histor. Kl. 1849. Ti
350 Jaıcos Grimm
die pyra equinis sellis constructa des Attila und das skythische grabgerüste,
das reiten der schwertschwingenden an das estische pferderennen. begaite
ist von begti currere zu erklären und pekelle entweder von pekla hölle oder
pekulas, pikulas dem höllischen geist.
Sebastian Munsters cosmographie, buch 4 s. 907 der ausgabe von
1559 bemerkt von den Samogeten und ihren heiligen wäldern ausdrücklich:
habebant praeterea in silvis praefatis focos, familias et domos distinctas, in
quibus omnibus carorum et familiarium cadavera cum equis, sellis et vesti-
mentis potioribus incendebant. locabant etiam ad focos hujusmodi ex subere
facto sedilia, in quibus escas ex farre in casei modum praeparatas depone-
bant, medonemque focis infundebant, ea ceredulitate illusi, guod mortuorum
suorum animae, quorum illie combusta fuerunt corpora, nocte venirent esca-
que se reficerent. Nicht viel später bezeugt Matth. Stryikowski in seiner
polnisch geschriebnen, zu Königsberg 1582, Warschau 1766 gedruckten
chronik s. 148 von denselben samogetischen Littauern, dafs sie mit ihren
todten die klauen von lüchsen und bären (rysie i niedZwiedzie paznokeie)
zu verbrennen pflegen, durch deren schärfe ihnen das übersteigen eines
furchtbar steilen bergs in der unterwelt erleichtert werden solle. dieser glä-
serne berg heifst Anafielas und auf ihm wohnt ein die thaten der menschen
richtender kriwe kriweito, worüber Narbutts litt. mythologie s. 385 nach-
zulesen ist. Die jüngste mittheilung rührt von Alexander Guagnini, einem
Italiener her, der lang in sarmatischen ländern gelebt hatte und 1614 zu
Cracau starb; in seinem buch de origine Lithuanorum (Pistorii script. rer.
polon. 2, 391) schildert er die littauischen bestattungen folgender gestalt:
corpora mortuorum cum pretiosissima supellectile, qua vivi maxime uteban-
tur, cum equis, armis et duobus venatoriis canibus falconeque cremabant,
servum etiam fideliorem vivum cum domino mortuo, praecipue vero magno
viro cremare solebant, amicosque servi et consanguineos pro hac re maxime
donabant. ad busta propinquorum lacte, melle mulsato et cerevisia paren-
tabant, choreasque ducebant tubas inflantes et tympana perentientes. hie
mos adhuc hodie in partibus Samogitiae confinibus Curlandiae ab agrestibus
quibusdam observatur.
Wir schreiten fort zum leichenbrand bei den SLAVEN, wofür es an
alten und lehrreichen nachrichten nicht gebricht.
über das verbrennen der leichen. 351
Die frühste darunter bezieht sich auf die den Norddeutschen zunächst
wohnenden Wenden und ist in einem briefe des Bonifacius vom j. 745 (ed.
Würdtwein no. 72 p. 191) enthalten: ad Ethibaldum regem Merciorum:
laudabilis mulier inter illas (mulieres Winedorum) esse judicatur, quae pro-
pria manu sibi mortem intulit, ut in una strue pariter ardeat cum viro suo.
die frau tödtet sich selbst um des scheiterhaufens mit ihrem gatten theilhaft
zu werden.
Für die Polen zeugt einige jahrhunderte später Thietmar von Merse-
burg, der 8, 2 mehrere gebräuche dieses volks unter Bolislaus verzeichnet,
dessen sohn Otto im j. 1018 mit Oda, des markgrafen Ekkehard tochter
vermählt wurde: in tempore patris sui, heifst es, cum is jam (d.i. adhuc)
gentilis esset, unaquaeque mulier post viri exequias sui igne cremati decol-
lata subsequitur. sie wurde, hat man anzunehmen, nicht blofs enthauptet,
sondern auch mit verbrannt, denn ihre tödtung
5
sicht. Bei den Littauern und Esten war gerade von gemeinschaft des todes
geschah eben in dieser ab-
zwischen den ehegatten keine rede. heutzutage nennen die Polen den schei-
terhaufen gorzelina oder stos drewny (holzstofs).
Was die Böhmen angeht, so findet sich in der mater verborum 17a.
(ed. 1840 p. 230 b.): piram, rogum, i. lignorum constructionem, in quo
(rogo) mortui comburuntur, sarouisce, oder nach der heutigen schreibung
Zarowisce, Zarowiste (Jungmann 5, 830), von Zarjti accendere. jetzt pflegt
man scheiterhaufe durch hranice acervus, hranice dijwj acervus lignorum
auszudrücken. Eine stelle der Königinhofer handschrift, gegen den schlufs
des liedes von Cestmir a Wlaslaw (1829 s. 106), wo gesagt ist, dafs die
dem mund entfliegende seele von baum zu baum flattre,
doniZ mrtew nezien,
bis der todte verbrannt sei, diese stelle würde man mit vertrauen hierher
nehmen, wenn nicht verdacht wider alle dichtungen der handschrift (1)
geweckt wäre. Cosmas von herzog Bretislaw redend, der sich im 7. 1093
mühte die überreste des heidenthums unter den Böhmen auszurotten, sagt
p- 112: similiter et lucos sive arbores, quas in multis locis colebat vulgus
ignobile, exstirpavit et igne cremavit. item ..... sepulturas, quae fiebant
(') Gesteigert hat ihn zuletzt Haupts beweis, dals das zwar nicht in ihr enthaltne,
aber ähnlich klingende minnelied könig Wenzels trug ist (berichte über die verhandlun-
gen der gesellschaft der wissenschaften zu Leipzig 1847 s. 257-265).
112
352 Jıcos Grimm
in silvis et in campis, atque scenas, quas ex gentili ritu faciebant in biviis
et in triviis, quasi ob animarum pausationem, item et Jocos profanos, quos
super mortuos, inanes eientes manes ac induti faciem larvis bacchando exer-
cebant ... exterminavit (!). leichenbrandes wird dabei nicht erwähnt, er
hat wahrscheinlich dennoch stattgefunden; die auf scheidewegen, wo man
oft grabhügel findet, errichteten hütten gleichen dem was Munster bei den
Samogeten häuser nennt, und auch der vorhin angeführte Guagnini versi-
chert von den Sarmaten und Slaven insgemein: sepulturae eorum erant in
silvis et agris, tumulosque aggestis lapidibus vestientes eminenter muniebant,
quod genus in Prussiae regionibus passim adhue visuntnr: nonnulli quoque
more romano cadavera cremare, cineresque collectos in urnas recondere
solebant. an krügen mit asche und verbrannten knochen ist auch in slavi-
schen gräbern überflufs. Den technischen ausdruck trizna liefert die mater
verborum 11b. (ed. 1840 p. 228) für inferiae, placatio inferorum vel ob-
sequiae, vel infernalium deorum sacrificia, mortuorum sepulturae debitae;
wir werden ihm gleich noch bei Nestor begegnen, der aber trysna schreibt.
Kopitar im Glagolita hat trizna lucta, Miklosich trizna @ywv certamen, vgl.
Jungmann unter tryzna.
Bei den südlichen Slaven, sowol Slovenen als Serben und Kroaten
hat sich keine kunde des leichbrandes erhalten, in den serbischen liedern
keine anspielung darauf. ich vermag nur einige benennungen des scheiter-
haufens hervorzuheben. den Slovenen in Krain und Steier heifst er germada,
germazha, was von germ strauch, busch abstammt; das serb. grm bezeichnet
nach Vuk eine art eiche, ich vermute robur, donnereiche, von grmiti don-
nern; gromila oder mit ausgestofsnem r gomila bedeutet acervus. sollte
nicht auch das russ. poln. gromada, böhm. hromada, obwol ihnen die be-
deutung von rogus gebricht, gleich unserm haurds und hürde auf die vor-
stellung geschichteter reiser und zweige zurück zu leiten sein? darin bestärkt
mich ein slovenisches koster und kust rogus, russ. koster”, was wieder von
kust” gesträuch stammt, aber auch dem altn. kostr an die seite treten dürfte.
Des sl. tr’n’= goth. paurnus, ahd. dorn, sowie koupa, kupina und kupalo
geschah oben erwähnung.
(') Auch bei Helmold 1, 83 $. 18 von den obotritischen Slaven: et praecepit comes
populo Slavorum, ut transferrent mortuos suos tumulandos in atrium ecclesiae.
über das verbrennen der leichen. 253
Ungleich wichtigeres ergibt sich über die heidnischen Russen. Nestor,
der seine chronik nach dem j. 1110 zu Kijev vollendete, berichtet (Schlözer
s. 12. Jos. Müller s. 76) uns das brennen der leichen bei den noch unbe-
kehrten Radimitschen, Wjatitschen und Sjeveriern; es mufs unbedenklich
für alle altrussischen stämme gelten. Starb ein mann, so wurde trysna über
ihn veranstaltet, dann eine grofse klada geschichtet und darauf die leiche
verbrannt. die nach dem brand gesammelten knochen legten sie in einen
krug (sosud”) und stellten ihn auf eine seule am weg; so thun namentlich
die Wjatitschen, aber auch die Kriwitschen und andere Heiden mehr. klada
stammt von klast’ schichten, legen und entspricht genau dem ags. hladan,
altn. hlada. Vom begang dieser trysna ist oft die rede (Jos. Müller s. 117.
118. 120. 185), sie mufs leichenmal und leichenspiel gewesen sein, weil
das wort lucta, certamen ausdrückt, und die bräuche der ags., estischen und
littauischen leichenfeier gleichen. das stellen der todtenseule an die heer-
strafse kommt meiner deutung des salischen haristato, cheristado, der her-
men und irmenseulen zu statten, begegnet auch dem böhmischen gebrauch
an den kreuzwegen.
Es gibt aber eine fast zweihundert jahre ältere, höchst anschauliche
und lebendige schilderung des russischen leichenbrands von dem Araber
Ibn Foszlan, der im j. 921 und 922 nach Chr. auf seiner gesandtschaftsreise
von Bagdad zum könig der Slaven, d. i. der Wolgabulgaren die sitten und
gebräuche der heidnischen Russen erkundigte. wir besitzen seine schrift
gleichwol nur in dem auszug, welchen ein späterer schriftsteller namens
Jakut, der von 1178 bis 1229 lebte, einem umfassenden geographischen
lexicon unter dem worte Rus einfügte; danach ist sie durch Frähn zu Pe-
tersburg 1823 herausgegeben und verdeutscht worden.
Ibn Foszlan sah diese Russen am Il (an der Wolga) wohin sie mit
ihren schiffen aus dem innern land gekommen waren. man hatte ihm vom
verbrennen ihrer todten erzählt, er war neugierig die gebräuche kennen zu
lernen, als man gerade den tod eines ihrer grofsen meldete.
Sie legten den todten in ein grab und schlugen ein dach darüber für
zehn tage, bis sie mit dem zuschneiden und nähen seiner kleider fertig waren.
Ist ihnen ein armer mann gestorben, so bauen sie für ihn ein kleines schif,
legen ihn hinein und verbrennen es. beim tode eines reichen aber sammeln
sie seine habe und theilen sie in drei theile. das eine drittel ist für seine
254 Jacog Grimm
familie, für das zweite schneiden sie ihm kleider zu, für das dritte kaufen
sie berauschendes getränke.
Sobald unter ihnen ein oberhaupt verschieden ist, fragt man dessen
mädchen und diener “wer von euch will mit ihm sterben?’ dann antwortet
einer ‘ich’, und hat er dies wort ausgesprochen, so ist er gebunden und
darf es nicht zurückziehen. meistentheils aber sinds die mädchen die es
thun. Bei jenes mannes tode war schon die frage ergangen und eins der
mädchen hatte geantwortet: ich. man vertraute sie nun zwein andern mäd-
chen, die sie bewachten, überall wohin sie nur gieng begleiteten und ihr
bisweilen die füfse wuschen. Während die kleider bereitet und alle übrigen
zurüstungen getroffen wurden, blieb das mädchen frölich, trank und sang.
Als der tag des verbrennens herangekommen war, zog man das schif
des verstorbnen ans ufer, trug eine ruhebank darauf, über welche ein altes
weib, das sie den todesengel nennen, gesteppte tücher, goldstoffe und kopf-
kissen spreitete. Dann giengen sie zum grabe, räumten die erde vom holz-
dach und zogen den todten samt dem leichentuch, worin er gestorben war,
heraus, kleideten ihn in prächtiges gewand, und trugen ihn unter das schifs-
zelt auf die gesteppte decke, indem sie sein haupt mit dem kopfkissen un-
terstützten. berauschendes getränk, früchte und basilienkraut wurden neben,
brot, fleisch und zwiebeln vor ihn hingelegt. darauf brachten sie einen hund,
schnitten ihn in zwei theile und warfen beide ins schif, legten dann dem
todten alle seine waffen zur seite und führten zwei pferde herbei, die so
lange, bis sie von schweilse troffen, gejagt und dann auch mit schwertern
zerhauen und alle stücke ihres fleisches ins schif geworfen wurden. auf
gleiche weise verfuhren sie mit zwei ochsen, einem hahn und huhn, die sie
gleichfalls zerhieben und ins schif warfen.
Das dem tode geweihte mädchen wurde nunmehr zu einem vorsprin-
genden, dem gesims einer thür ähnlichen gerüste geleitet, indem sie ihre
füfse auf die flachen hände der männer setzte emporgehoben und nachdem
sie auf das gesimse niederschauend einige worte gesprochen hatte, wieder
herabgelassen. alles dies wurde zum zweiten und drittenmal wiederholt.
alsdann reichten sie ihr eine henne hin, deren kopf sie abschnitt und weg-
warf; die henne selbst nahm man und warf sie auch ins schif.
Als der Araber sich nach den ihm unverständlichen worten erkundigte,
die das mädchen gesprochen hatte, antwortete der dolmetsch: das erstemal
über das verbrennen der leichen. 255
sagte sie “sieh, hier sehe ich meinen vater und meine mutter.” das zweitemal
“sieh, jetzt sehe ich alle meine verstorbnen anverwandten sitzen.’ das dritte-
mal aber ‘sieh, dort ist mein herr, er sitzt im paradiese, das paradies ist
so schön, so grün. bei ihm sind die männer und diener, er ruft mich: so
bringt mich denn zu ihm!”
Nun nahmen und führten sie sie zum schiffe hin. sie aber zog ihre
beiden armbänder ab und gab sie dem weibe, das man den todesengel nennt
und das sie morden wird. auch ihre beiden beinringe zog sie ab und reichte
sie den zwei ihr dienenden mädchen, töchtern des todesengels.
Dann hob man sie auf das schif, liefs sie aber noch nicht ins gezelt,
sondern männer kamen mit schildern und stäben und reichten ihr einen be-
cher berauschenden getränks, den sie annahm und singend leerte. hiermit,
sagte der dolmetsch, nimmt sie abschied von ihren lieben. darauf ward ihr
ein andrer becher gereicht, den sie auch nahm und ein langes lied anstimmte.
die alte aber hiefs sie eilen und ins zelt treten, wo ihr herr lag. Das mädchen
schien jetzt bestürzt und unentschlossen, sie steckte nur den kopf zwischen
zelt und schif; stracks falste die alte sie beim haupt, brachte sie ins gezelt
und trat selbst ein, die männer begannen mit den stäben auf die schilder zu
schlagen, dafs kein laut der schreienden gehört würde, der andre mädchen
erschrecken und abgeneigt machen könnte auch einmal mit ihrem herrn in
den tod zu gehn. Dann traten sechs männer ins gezelt, streckten sie an des
todten seite nieder, indem zwei ihre fülse, zwei ihre hände fafsten, und die
alte, welche todesengel heifst, ihr einen strick um den hals legte, dessen
ende sie dem fünften und sechsten mann reichte; mit einem grofsen breit-
klingigen messer selbst hinzu tretend, stiefs sie dem mädchen zwischen die
rippen das messer ein und zog es wieder aus. die beiden männer aber würg-
ten mit dem stricke bis es todt war.
Nun kam nackend der nächste anverwandte des verstorbnen, nahm
ein scheit holz, zündete es an und gieng rückwärts zum schiffe, das holz in
der einen hand haltend, die andere auf seinen rücken gelegt, bis das unter
das schif gesteckte holz entzündet war. darauf nahten auch die übrigen mit
g ein stück das oben schon brannte
8
und warf es auf den haufen. bald ergrif diesen das feuer, hernach das schif,
zündholz und anderm holze, jeder tru
dann das zelt, den mann, das mädchen und alles was im schiffe war. es
356 Jacog Grimm
blies ein heftiger sturm, wodurch die flamme verstärkt, die lohe noch mehr
angefacht wurde. i
Neben dem botschafter des chalifen stand einer von den Russen, den
er mit dem dolmetsch sprechen hörte und nach dessen worten er sich er-
kundigte. es waren diese: ‘ihr Araber seid doch ein dummes volk. ihr
nehmt den, der euch unter den menschen der geliebteste und geehrteste ist,
und werft ihn in die erde, wo ihn die kriechenden thiere und würmer fres-
sen. wir dagegen verbrennen ihn in einem nu, so dafs er ohne aufenthalt
ins paradies eingeht! dann in unbändiges lachen ausbrechend fügte der
Russe hinzu: “seines gottes liebe zu ihm machts, dafs schon der wind weht
und ihn im augenblick wegraffen wird. und traun, keine stunde vergieng,
so war schif und holz und mädchen mit dem verstorbnen zu asche gebrannt.
An der stelle, wo das aus dem flufs gezogne schif gestanden hatte,
führten sie einen runden hügel auf, in dessen mitte an einem grofsen bü-
chenscheit der name des verstorbnen und des königs der Russen geschrieben
wurde. alsdann begaben sie sich weg.
So weit reicht Ibn Foszlans nachricht, welcher Frähn s. 104. 105
noch ein paar andere aus arabischen schriftstellern beifügt. Masudy sagt
von den Russen und Slaven, die einen theil der Chasarenhauptstadt Itil be-
wohnten: hi defunctorum cadavera una cum jumentis, supellectili et ornatu
comburunt. uxores cum maritis defunctis cremantur, non item viri cum
uxoribus. si quis caelebs moriatur, mortuo tamen feminam uxoris loco ad-
dunt. hae autem omnes hoc mortis genus comprimis expetunt, sic enim
aeternam felicitatem adepturos esse credunt. hactenus autem illi populi ab
Indis hac in re differunt, quod apud hos nulla uxor, si noluerit, cum viro
comburitur. Von den heidnischen Slaven (Saklab) berichtet Schemseddin
Dimeschky: diese verbrennen ihre könige, wenn sie gestorben sind, und
mit ihnen knechte, mägde, weiber und alle, die zu ihrer nächsten umge-
bung gehörten, den schreiber, wesir, den gesellschafter beim becher und
den arzt.
Auch der Byzantiner Leo Diaconus, der um die mitte des zehnten
jahrh. in Kleinasien geboren, im j. 966 nach Constantinopel gekommen, von
den verhandlungen zwischen Johannes Zimisces und Syätoslav (IpevderIAu-
Res) aber genau unterrichtet war, erwähnt (ed. bonn. p. 149 ff.) unter dem
j. 972 von den ihm als Skythen erscheinenden Rös d.i. Russen folgendes:
über das verbrennen der leichen. 257
An dE vunrös naranyelens nal As ununs mAnTıdacts curns nar& To mediov EEEA-
Sovres Tels Fberegeus avelnAapuv vergous: oUs nal Cuvarıravres mg0 ToU megı-
Borsu zul mugas Sanıras dravanvavrss, KaTszaucav, MATTOUS TÜV aiyuaAuTwv,
avögas kal yuvamı, Em’ autos nare. Tov marTgıov vowov Eravanpakavrss. Evayızlaous
TE memamnores, Emi Tov "Ioroov Uronalıu Raepn za @Nerrgucvas dvervıfav, TO
boSu TOU MOTRUO TADTE AUTAMOVTWTAVTES. AcyEral yag EAAyvircis opyioıs nar-
} Y
ON,EUS OVTaS.
Wer wollte hier griechischen brauch suchen? dringender ist es nach
dem einflufs zu fragen, den warjagische einwanderung seit der mitte des
neunten jh. auch auf die sitte des nördlichen Slavenlands gewonnen haben
könnte. in der that gleicht die von dem Araber gelieferte schilderung des
russischen leichenbrandes auffallend dem altnordischen, zumal darin, dafs
der scheiterhaufe auf dem schif geschichtet wird und das sich aufopfernde
mädchen unmittelbar in das grüne paradies überzugehn wähnt, wie unsre
vorfahren in den grünen wang oder heim der götter (mythol. s. 782. 783).
mit dem schlachten der pferde stimmt auch die altdeutsche gewohnheit und
zu dem nochmals durch Leo Diaconus bestätigten würgen der hennen oder
hähne darf das galli caput bei Saxo gramm. (St.17. Müll. 51) gehalten wer-
den, nach dessen wurf über die mauer der vogel neues leben empfängt.
Allein verbrennen zu schiffe war hier den auf der Wolga fahrenden, sonst
im land fremden Russen von selbst geboten und mitopfer der thiere ein
fast allgemeiner, bei den meisten, zumal auch littauischen scheiterhaufen
wiederkehrender zug, den man gar nicht erst nöthig hat aus Scandinavien
herzuleiten. Aufserdem ist in des Ibn Foszlan schilderung, der überhaupt
diese Russen als ein höchst unreinliches und wollüstiges volk darstellt, von
mir absichtlich vorhin etwas empörendes unterdrückt worden; er berichtet
nemlich, dafs die sechs ins gezelt getretnen männer, welche dem mädchen
hände und füfse halten und es mit dem strick erdrosseln musten, ihm zuvor
samt und sonders beigewohnt hätten. Solch eine unthat stände aber altnor-
discher wie altdeutscher sitte fern, und nimmt man hierzu, dafs auch unter
den übrigen Slaven, namentlich Wineden und Polen das verbrennen der
todten üblich war und Nestor für die Wjatitschen und Radimitischen sich
dabei des slavischen aber undeutschen ausdrucks trysna bedient; so sehe
ich keine ursache, den an der Wolga unter den Russen des zehnten jh. be-
Philos.- histor. Kl. 1849. Kk
258 Jıcog Grimm
obachteten hergang auf scandinavische Warjager zurück zu leiten. (1) Die
natürlichste annahme bleibt, dafs unter Slaven und Germanen von altersher
dies verbrennen der leichen auf sehr ähnliche obwol im einzelnen abwei-
chende weise im schwange gieng; wir würden uns davon noch besser über-
zeugen, wenn unsre einheimischen schriftsteller es verstanden hätten, die
gebräuche so anschaulich darzustellen, wie bei Herodot der skythische, bei
Procop der herulische, bei Vulfstan estische, bei Ibn Foszlan der russische
beschrieben sind.
FINNISCHE überlieferungen von dem brand der leichen sind mir
unbekannt oder jetzt noch unzugänglich. in Kalevala kommt vor, dafs der
riese Vipunen mit ganzem leib, also unverbrannt, zu grabe liegt, was ans
steinalter und die steinkammer der riesenzeit erinnert. Die neue ausgabe
des finnischen epos (?) gewährt aber XXXI, 145-160 die umständliche be-
schreibung eines scheiterhaufens, den Untamo schichten läfst, um darauf den
knaben Kullervo zu tödten, welchen er vorher schon im wasser vergeblich
umzubringen gesucht hatte. es heifst mit wieder kehrenden zeilen:
käski orjansa kerätä
koivuja kovia puita,
honkia satahavuja,
tuohia tuhat rekeä,
sata syltä saarnipuita,
er liefs die knechte sammeln weiflser birke hölzer, tannenzweige hundert-
nadliche, .... harzige, birkenrinde tausend schlitten, hundert klaftern eschen-
holz. hier wird kein dorn genannt, aber die zusammenfügung aus birken,
tannen und eschenholz in grofsen haufen mahnt an den skythischen oyxes
heuyavuv. Für den scheiterhaufen besitzt die finnische sprache den namen
pino, strues lignorum ordinata, dessen schon oben beim ahd. fina meldung
geschah, sonst gilt auch kokko für strues lignea. kanto, bei Renvall caudex,
truncus arboris, bezeichnet nach Juslenius zugleich bäl, und diese bedeu-
tung legt er dem worte miehusta bei, das nach Renvall truncus corporis hu-
mani ausdrückt.
(') wie Ernst Kunik in seinem reichhaltigen und belehrenden werke über die schwedi-
schen Rodsen, Petersburg 1844. 1845 2, Ad. 453-458 thut.
(2) Kalevala. toinen painos. Helsingissä 1849.
über das verbrennen der leichen. 259
Das UNGRISCHE wörterbuch gewährt rakas fa und rakas tüz, d.i.
holzhaufe und feuerhaufe, rakas aber scheint wieder an rogus und das goth.
rikan acervare zu klingen. Den wirklichen und alte brauch des lei henbra 1-
des bei den Ungern setzt uns aber ein zeugnis des Ekkehardus 1}
2,105 aufser zweifel; als sie im ]- 925 zu S Br: Gallen einbrache und zwei
ihrer leute umkamen, heifst es: quos bos inter postes Yalvan cre
flammivorus super liminare et lager veheme ter inv
massent, rogusque
nequaquam templu
deret, contisque incendio certatim plures Miscerent, m
Galli .. . .incendere que. ie thaten gleich jenen Gothen, Norı annen,
Esten und Russen nach der schlacht. a
Forscht man von der ungrischen und finnischen sprache ab weiter
gegen osten, so wird sich für den begrif des scheiterhaufens eine reihe sol-
cher wörter, die bald’ der flamme, bald dem geschichteten holz entnommen
sind, ergeben. zu anziehendem aufschlufs könnte erst eine vollständigere
samlung derselben führen. jetzt genüge an wenigem. der TURKISCHE
ausdruck ujum urum mag zusammen hängen mit dem MOÖNGOLISCHEN
norom, dies aber mit norma glühender asche. auch mandschuisch bedeutet
noran den scheiterhaufen und nora den haufen schichten. tibetisch sching-
krov holzstofs. In der mongolischen sage von Gesser Chan s. 34 wird aus-
drücklich das verbrennen der todten auf dem holzstofs berichtet.
Von uralter zeit an bis auf heute herscht in INDIEN unvertilgbar die
gewohnheit des leichenbrands und ohne zweifel hat auch die festigkeit in-
discher kasteneinrichtungen dazu beigetragen ihn unverändert zu erhalten,
obschon sie ihn zugleich einschränkten. denn abgesehn von den Brachmanen
wird er hauptsächlich den Kschatrijas d.h. helden und kriegern zu theil,
während die kaste der kaufleute, ackerbauer und handwerker von ihm aus-
geschlossen bleibt. er zeigt sich also wiederum als vorrecht und auszeich-
nung der höheren stände.
Abbruch thut ihm sodann der unterschied der glaubenssecten. die
anhänger Vischnus sind ihm ergeben, die des Siva sollen ihn verabscheuen
oder doch meiden. (!) Aufserdem brennen auch die zahlreichen Buddhisten
ihre todten nicht, sondern übergeben sie der erde, was sich von den in In-
(') Vischnus anhänger verbrennen ihre leichen, um nicht das wasser durch sie zu verun-
: 2. N -
reinigen; die des Siva als feueranbeter werfen sie in den Ganges oder begraben sie.
Kk2
*
260 Jıcos Grimm
dien TerbuEiläien ak. Ari von selbst versteht. Wie ig das hier ©
ordnen, wenn der
ft Rn er eine
een u eit
en
4
Der sterbende, wenn ein Südra, wird auf ein bett von kusagras, wenn
von einer andern kaste in die freie luft getragen. 7%
Der ieichnam wird gewaschen, ein stück gold in seinen mund, in die
nasenlöcher und ohren gelegt; dann trägt man ihn zu einer heiligen stelle
im wald oder am wasser und legt ihn auf ein kusalager mit dem haupt ge-
gen süden. die söhne oder nächsten verwandten rüsten den scheiterhaufen,
auf welchen nach nochmaliger waschung die leiche mit dem haupt gegen
norden gelegt wird. blumen schmücken den scheiterhaufen, ein gewand ist
darüber gespreitet, der berechtigte verwandte entzündet ihn mit den wor-
ten: mögen die götter mit flammenden mund diese leiche verbrennen! er
entzündet ihn zunächst am haupt des todten gegen süden schauend und das
linke knie beugend und ruft aus: namö namah! Das feuer wird so einge-
richtet, dafs einige knochen aufgelesen werden können. Die verwandten
nehmen sieben spannen lange holzstücke, wandeln um den scheiterhaufen
und die stücke über ihre schulter ins feuer werfend rufen sie: grufs dir, der
du das fleisch verzehrst! Ist die leiche verbrannt, so gehn die verwandten
nochmals um den scheiterhaufen, doch ohne in die glut zu schauen, dann
nahen sie sich dem wasser und reinigen sich; es folgen gebete, opfer und
fasten. Die knochenlese geschieht (nach Rämaj. 2, 62 erst den dreizehnten
tag nach dem brand) in ein irdnes gefäfs, eine tiefe grube am flufs wird mit
kusa bestreut, mit gelbem gewande bedegkt, dann das irdne gefäls einge-
stellt, lehm, dörner und moos darüber geworfen und ein baum gepflanzt,
über das verbrennen der leichen. 961
oder ein damm aufgemauert und eine fahne errichtet. den schlufs machen
lustrationen, opfer und geschenke.
Wird die leichenfeier eines in fremdem 5 verstorbnen od dessen
R " di
bein nicht 1 ist
dert und sechzig blättern
gen, so bilden sie eine estalt aus c
strauches butea, oder eben so viel wo.
e-
äden, womit sie die verschiednen theile des menschlichen leibs dar-
tellen nach bestimmten zahlenverhältnissen,; um die ganze gestalt eisen
lederner rieme von der haut einer schwarzen antelope und darüber noch
ein wollenfaden geknüpft werden, dann bestreichen sie diese figur mit ger-
stenmehl und wasser und verbrennen sie als ein sinnbild des leichnams. wen
überrascht nicht die höchst bedeutsame übereinstimmung dieses gebrauchs
mit dem uns im schwedischen märchen aufbewahrten‘ (!)
Vom mitverbrennen der indischen witwen hatten römische und grie-
chische schriftsteller längst kunde. (?) Cicero (tuse. disp. V. 27, 78) sagt:
mulieres in India quum est cujusvis earum vir mortuus, in certamen judi-
eiumque veniunt, quam plurimum ille dilexerit: plures enim singulis solent
esse nuptae. quae est victrix, ea laeta, prosequentibus suis, una cum viro
in rogum imponitur; illa vieta maesta discedit. Propertius IV. 12,15:
felix Eois lex funeris una maritis,
quos Aurora suis rubra colorat equis.
namque ubi mortifero jacta est fax ultima lecto,
uxorum positis stat pia turba comis:
et certamen habent leti, quae viva sequatur
conjugium, pudor est non licuisse mori.
ardent victrices et flammae pectora praebent,
imponuntque suis ora perusta viris.
Herodot 3, 38 gedenkt des verbrennens der eltern, nicht der frauen, was er
nicht unangeführt gelassen haben würde, wäre es ihm zu ohren gekommen;
(*) die indischen leichengebräuche schöpfe ich hauptsächlich aus H. T. Colebrooke on the
religious ceremonies of the Hindus, nach den asiatic researches, Calcutta 1795, wieder abge-
druckt in seinen miscellaneous essays, London 1837 vol. 1, wo die funeral rites p.155-186
und die schilderung der figur aus butealaub p. 159 enthalten ist. die abhandlung on the duties
of a faithful Hindu widow findet sich p. 114-122.
(?) auch in unser mittelalter war sie gedrungen, man vgl. z. b. das niederländische gedicht
die kinderen van Limborch s, 322.
962 Jacos Grimm
auf jenes kommt er zu sprechen, als er den Darius Hystaspes sohn erst Grie-
chen, dann indische Kalatier (oder Kalantier) nach dem aufzehren der el-
en läfst. die Griechen w
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juarı def "av TEAEUTEOVTaS ToUs maregus naranaleıy mugi: ci ö8 dußweavres
= eehnuee Exerevov. Allgemein aber bezeugt Plutarch tom. 2,
nicht blofs das mitverbrennen der frauen, sondern das verbrennen der lei-
ber bei den Indern überhaupt: 'Ivdav d& Qiravögcı nal nupgoves Yuvalzcs ümtg
ToU mUgos Ealdoucı zul Mayovras mgos GAMAas, Try Ö8 virnrarav reIunaori To @v-
da TuyzarapAsyAvaı, Haxagıav adevew ai Acımaı. Tüv de &xel vohlv edles N-
Awros oUde Warugırros or, av um Cav erı Hal Hrovav zul Uyıawwv, ToU FTWuarss
any un mugi darrysy, zul zaSagos &x@H ans Gapnes, invnbausvos To Iunrov.
Nicolaus Damascenus fragm. 143 (fragm. hist. gr. 3, 463): "Ivdai ruyzara-
Halsurıw Erav TEAEUTATUTL TOV Yuvanzav TyV meondıRerrarm. aurav de Eneivwv üyav
HEYITTOS Yıyverai, omovdalovrwv virjrar Enasıyv ruv dlAwv. Das wenige was
Strabo p.699 vom mitverbrennen der witwen meldet, entnahm er aus One-
sikritos und Aristobulos und bezieht es blofs auf die landstriche Kathaea
und Toxila: idıov de av Kaaıwv zal To TuyraranasıIaı TEIVENTı TOls. dv-
dgası TS YUvalKıds Kara TelayTyv airıav" orı, ggwraı WOoTE Tüv vewv, KbiTTavro
Tav avdgav, 7 Hapmanevsıev aureus’ veuov olv IerIaı Teürov, WS TauTcuems TAG
bagnaneıus cÜ mıSavws ulv oiv 6 vonos, old’ 9 airia Asyeraı. p. 714: mag qırı
6° dxovew duri, zul FUYRAaTanaloEvaSs TAS Yuvalzas Tols dvdganıv drusvas Ta de
uN Ümsneveuras, ddofeiv- eloyraı zal aArcıs raura. Denselben nichtigen grund
des gesetzes führt auch Diodor 17, 91, wo von Alexanders heerzug gegen
die Kathaer die rede ist, an: waga Ö& Teure vonınov Av Tas yuvalnas Tols @v-
dgusı TuynaranalıIu. route 0’ ErvowSy 78 doyua maga Teis Bagßagaıs dia Miav
yuvalza Papuancıs dveAsurav Tov dvdga.
Diodor berichtet aber 19, 33. 34 ausführlich ein in die schlacht zwi-
schen dem macedonischen Antigonus und Eumenes (Ol. 116,1. 316 vor Chr.)
fallendes ereignis. Ceteus, anführer der aus Indien angelangten krieger war
geblieben und hinterliefs zwei frauen, die ihm ins lager gefolgt waren. ein
altes gesetz der Inder verordnete, OmUS Tuyrararulwvrar TEIS TETEREUTNROTW
> ' e n \ nn E) ' N m > e ’
dvögarıy ai yuvalııs many Tav Eyauay n TÜV &xcuruv rexva. doch durfte nur
über das verbrennen der leichen. 263
eine der frauen mit verbrannt werden und nun entsprang zwischen beiden
wettstreit, der weil die ältere sich schwanger befand, zu gunsten der jünge-
ren entschieden wurde. 7 de &mı f vian megıy,agns amyeı meös Tau mugav, GreE-
bavoumeın WEV nirgas ÜTO TUV oineimv Yuvamıv, neronuem ÖL Namgemus urTEp
eis TIva yanov mooemeumero Ümo TÜV Fuyyevav ddovruv Unvev Eis nV agernv aurns.
Us Ö° Eyyls EyeunSm TuS mugas, mEgLaIgOUJALEVN Tov zoouov Eauris diedideu reis oi-
neloıs nal hiAas, Ws av Era Tıs, naraÄsimcusa Tols dyararı Mnusior. 6 08 #0-
Tuos Av megı uEv Tas Xelgas danrurwv TE mANIos Evdedeusvwv ArSoıs TE MOAUTE-
Aesı nal dimAAayuevas Tols Ygwmarı, megi de nv nebaAnv Ygurüv arregirauv cr
ödıyos dgıduos mavrodameis Afcıs disıinunevuv, Tüv Ö° Er TV nar” öriyov dei za’
ÜmegIerw meılovuv. TE ÖE TEAEUTALOV ÄTTATAMEM ToUs oinsious Ümo TÜdeAGoD MeV
eri TuV mupav aveßı dar Sn, bmo dt rov Fuvdoaovros em Tyv Seav minIous Sav-
parIera narestoeibev nguurus rev Riev. n mer yag duvanıs Ev Tols OrAus Tara
mei ünrerSar nv mupav Tais megmASer, aurm de Tavögı mapanıSeica, Kal Kara
nv ToU mupäs öpumv oudemiav dwuAv dyevun moosnEuM, mgoERaAETaTo av ögwvrwv
ToUS WEV EIS EAeov, ToLs Ö° eis Umeo@orn £rawuv. das austheilen des schmucks
erfolgt gerade wie beim russischen mädchen.
Was Strabo und Diodor hier vewos und veuıusv nannten mag auf ge-
heiligte sitte und herkommen, nicht gerade auf geschriebnes gesetz bezogen
werden; auch die geseize unseres oder des griechischen alterthums enthiel-
ten kein gebot des verbrennens oder mitverbrennens, erst einschränkung
des aufwands und zuletzt verbot pflegten sie auszusprechen. Ebensowenig
gebietet das gesetz des Manu das mitverbrennen der ehefrau; im Rigveda
reden jedoch mehrere stellen ausdrücklich vom feuertod, den getreue wit-
wen freiwillig erwählen: er soll für keinen selbstmord gelten; die vom
Brachman bei solchen scheiterhaufen gesprochnen gebete werden mitge-
theilt. In den Puränas heifst es, das mitverbrennen der frau solle des man-
nes sünde, selbst wenn er einen Brachmanen getödtet, einen freund ermor-
det habe, sühnen. an der stelle, wo sie sich verbrannte, wird der witwe ein
denkmal gesetzt und wer ihrem zuge zu fufs folgt soll für jeden dabei ge-
thanen schritt dasselbe verdienst sich erwerben, als hätte er das feierlichste
opfer, ein asvamedha d.h. pferdeopfer dargebracht. Nach Lassen 1,639 ist
das älteste beispiel das verbrennen der Mädr& auf dem scheiterhaufen ihres
gemahls Pändu aus dem Mahäbhärata.
264 Jıcos Grimm
Die gebräuche selbst werden so geschildert: wenn die witwe gebadet
und in reine gewänder gekleidet ist, fafst sie heiliges gras (!) und schlürft
wasser aus ihrer hand. dann schaut sie gen osten und norden, während der
brachmane das geheimnifsvolle wort om ausspricht; hierauf neigt sie sich
Näräyana und spricht das sankalpa aus: in diesem monat möge ich zu Arun-
dhati (gemahlin des Vasishtha) kommen und in Syarga (dem himmel) woh-
nen; mögen die jahre meines wesens zahlreich sein wie die haare des mensch-
lichen leibs, möge ich mit meinem gemahl die wonne des himmels geniefsen,
meine väterlichen und mütterlichen vorfahren und die voreltern des vaters
meines gemahls heiligen und selig sein mit meinem herrn in den reichen der
vierzehn Indras. ich rufe zu euch, ihr hüter der acht welttheile, zu sonne,
mond, luft, feuer, aether, erde, wasser, zu meiner eignen seele, Jama, tag,
nacht und zwielicht! und du gewissen, sei mir zeuge, ich folge meines ge-
mahls leiche auf den scheiterhaufen! Dann das sankalpa wiederholend wan-
delt sie dreimal um den holzstofs, und der Brachmane spricht: om! lafs
diese gute frau, unyerwitwet, gesalbt und klare butter haltend sich dem feuer
weihen! unsterblich, weder kinderlos noch gemahllos, geziert mit edlem
gestein lafs sie ins feuer eingehn, dessen element das wasser ist! (*) om, lafs
diese treue frau sich selbst rein und schön dem feuer übergeben mit der
leiche ihres mannes.
Der sohn oder ein andrer naher verwandter des verstorbnen zündet
darauf den holzstofs an.
Keine schwangere oder unreine darf ihn beschreiten. Stirbt und wird
ein Brachmana in der ferne verbrannt, so darf seine frau in der heimat nicht
einen zweiten scheiterbaufen besteigen. wol aber ist dies der frau eines
Kschatrija gestattet; sie mufs dann etwas von des ferngestorbnen gatten ge-
räth, namentlich seine sandalen auf ihrer brust zum feuer tragen.
(') herba pura, chreneerüda, skr. kusa, poa cynosuroides, welche die Inder in heiligen
gebräuchen oft verwenden. durva agrostis linearis, ein anderes heiliges gras, entspricht dem
ags. torf cespes, ahd. zorba.
(2) Rigveda VII. 6. 27. 2
imä närir avid’aväh supatnir äriganena sarpisä samvisantu |
anasravo ’namiväh suratnä ärohantu ganayo yonim agre ıı
diese frauen, unverwitwet, gute gattinnen heran mögen sie mit salbe und butter treten,
ohne ihränen, ohne krankheit, mit ihrem schmuck die mütter zuerst den schols betreten.
über das verbrennen der leichen. 365
Nicht allein witwen verbrennen sich mit dem gemahl, es kommt auch
vor dafs eltern der leiche des geliebten sohns in die flamme folgen; so star-
ben in einer episode des Rämäjana der blinde vater und die mutter des ein-
siedlers, den Dasaratha aus versehn erschlagen hatte. (1!) Im Vetälapanda-
vinsati verbrennt sich ein freier mit der gestorbnen geliebten.
Unheilbare kranke veranstalten selbst ihre verbrennung und bringen
sich auf diese weise ums leben, was an Herakles und den herulischen wie
thüringischen brand erinnert.
Überall aber stand es im freien willen der witwen, ob sie sich mit-
verbrennen wollten und nicht zu bezweifeln ist, dafs es oft unterblieb, wie
auch, wenigstens neuere reisende das mitverbrennen als ausnahme darstel-
len, die jedesmal grofses aufsehn errege. (?)
Der scheiterhaufe heifst im skr. tschitä oder auch tschajana, beide
von der wurzel tschi colligere (Bopp 119" 123° 124°), d.i. der geschichtete
holz und reiserhaufe, ignis collectitius. Im Rämäjana 2,76 findet sich aber
eine ausführliche, lehrreiche schilderung des holzstofses, auf welchem Da-
saratha verbrannt wurde und auch seine gemahlin Kausalija mitsterben
wollte, obgleich es nicht dazu kam. Der leichnam wird auf einer bahre aus-
getragen, gold und gewänder werden vor ihm gestreut. geschichtet aber
wird der scheiterhaufe aus devadäruholz, götterbaumholz, pinus devadäru
(Lassen 1,46. 252); in Bengalen verwendet man dazu die uvaria longifolia,
im Dekhan erythroxylon sideroxyloides, welches ein wilder dornstrauch ist,
prunus silvestris, so dafs unsre aufmerksamkeit hier wieder dahin gerich-
tet wird, wo wir schon die einstimmung des griechischen und altdeutschen
brauchs wahrnahmen (°); auch in unserm alterthum müssen bestimmte
holzarten heiliges feuerholz gewesen sein. duftende gerüche werden ge-
sprengt und unter priesterlichem weihgesang die scheiter entzündet.
(‘) Holtzmanns Valmiki s. 137.
(2) man vergleiche die anziehenden beispiele, welche Arnkiel im eimbrischen heidenthum
3. 104-110 und Klemm in seiner culturgeschichte 7, 143-147 gesammelt haben.
(3) Colebrooke 1,151 sagt: the fuel used at sacrifices must be wood of the racemiferous
figtree, the leafy butea, or the catechu mimosa. it should seem however, that the prickly ade-
nanthera (sami, adenanthera aculeata, ein dornstrauch) or even the mango may be used. the
wood is cut into small loges, a span long, and not thicker than a mans fist. anderwärts finde
ich noch andre sträuche und hölzer genannt.
Philos.-histor. Kl. 1849. Ll
266 Jacos Grimm
Es kann nicht meine absicht sein die sitte des leichenbrandes in glei-
cher ausführlichkeit über den ganzen erdboden zu verfolgen; ich wollte,
die deutschen völker im auge habend, auf alle ihnen benachbarten und ur-
verwandten mich erstrecken und so den weg nachweisen auf welchem die
gebräuche aus Europa zurück nach Asien verfolgt werden mögen. Nur mit
wenigem sei hier angemerkt, dafs gleich den Hebraeern die Araber und na-
mentlich Beduinen nur begraben, nicht verbrennen, weshalb auch dies den
Mahomedanern insgemein fremd blieb. Da die heidnischen Canaaniten ihren
göttern menschenopfer brannten, ihre erstgeburt durchs feuer gehn liefsen,
darf man vermuten, dafs sie auch ihre todten den flammen übergaben. Abra-
ham sollte seinen sohn im feuer opfern, und der brennende busch des alten
testaments verräth zusammenhang mit feuercultus; ich weils nicht, ob man
daraus einen älteren leichenbrand folgern darf. (1) Wahrscheinlich brann-
ten die alten Assyrier ihre leichen, Sardanapal liefs für sich und seine frauen
den prächtigsten scheiterhaufen rüsten, welchen aus Ctesias Athenaeus p.529
(12,38) umständlich beschreibt. Chinesen, Japaner, Mongolen begraben zwar,
doch spuren des brennens treten auch bei ihnen vor. (*) Alle indogermani-
schen völker hiengen wesentlich dem brennen an und was davon abweicht,
bleibt blofs näher zu untersuchen und zu begründen. So mufs die zendische
lehre, weil sie das feuer hoch heiligte, brennen der todten, gleich den zahl-
reichen Sivadienern, untersagt haben (?); manche bräuche der blofs begra-
benden Buddhisten stehn mit christlichen in zusammenhang. Während die
alten Mexicaner brannten, begruben die Araukaner (Klemm 5, 50. 51). in
Australien pflegen jüngere begraben, ältere verbrannt zu werden. ertrun-
kene oder an bestimmten krankheiten gestorbene wurden des verbrennens
(') auch im buch der richter 9, 15 wird der dornbusch (bei Gerh. von Minden n°33 der
blanke hagedorn) zum könig der bäume erwählt und feuer soll aus ihm gehn.
(2) nach Thunbergs reisen 2,2 s. 31.32 war in Japan der leichenbrand ehmals allgemein
und gilt jetzt nur noch für die vornehmen.
(3) was aber nicht hindert, dals art und weise der anzündung heiliger opfer und spenden
vielfach mit der des scheiterhaufens übereinstimme. nach Vendidad Sade (herausg. von Brock-
haus, Leipz. 1850) heilst es s.315: ba@vare vazjanam aecmanam khraojdvanam pairistanam äthre
Ahurah@ Mazdäo ashaja vanhuja urune cithim nigarenujät, d. i. zehntausend wagen von hart
sein müssenden trocknen ausgewählten scheiten spende er dem feuer des Ahura Mazdah um
guter reinheit willen als bulse für seine seele. ich folge der von Benfey in den Gött. anz.
1850 s.1225 gegebnen übersetzung.
über das verbrennen der leichen. 267
-
nicht theilhaftig (Klemm 5, 51). oft scheinen die beobachtungen ungenü-
gend.
Des Taeitus ausspruch, der den Germanen einfachen leichenbrand
mit bestimmten holzarten zuschreibt, hat sich vollkommen bewährt. man
wird es für mehr als blofsen zufall ansehn müssen, dafs die ältesten aus-
drücke für den scheiterhaufen von dörnern, die für viele dörner vom feuer
entnommen sind. es war hirtenvölkern natürlich zündbares reisig zum brand
zu verwenden (!) und einzelne dornarten auszuwählen, die ihnen für dies
heilige geschäft die geschicktesten zu sein schienen. alle in Europa einge-
zognen stämme brachten die sitte ihre todten zu verbrennen schon aus
Asien mit.
Der einklang unseres alterthums mit dem indischen fällt in die augen,
wie die wörter unsrer sprache denen des sanskrit, begegnen deutsche bräuche
den indischen. ich kenne kein schlagenderes beispiel solches zusammen-
treffens als das der Jahrtausende hindurch fort getragnen überlieferung eines
schwedischen märchens mit dem indischen leichenbrand. die ein volles jahr
hindurch zu brechenden, fädelnden und schichtenden zweige eines baums
gleichen den 360 blättern des indischen baums und dem knüpfen der wol-
lenfäden vollkommen.
In diesen bezügen des grases, der kräuter und aller elemente auf die
ereignisse und handlungen des menschlichen lebens offenbart sich ein un-
schuldiger glaube, eine kindliche feierlichkeit der vorzeit, die uns noch so
roh dünken kann und doch einnehmen und rühren wird. der mensch je
weiter er in der weltgeschichte vorschreitet fühlt sich immer ernsthafter ge-
stimmt und zu dem wesentlichen von dem zufälligen, zum gehalt der sache
von dem blofsen bild hingezogen. Hochzeit und leichenfeier gehn heute
schnell an uns vorüber, wie ein schauspiel, erscheinen nicht mehr gipfel
aller lust und trauer des lebens; längst wurden dem volk seine frohen braut-
läufte und leichenmale verkümmert und abgeschnitten, unter dem vorwand
oder im wahn es müsse dem aufwand gesteuert werden da, wo er gerade
an der rechten stelle ist.
Es war ein heiterer der menschheit würdiger gedanke ihre todten der
(1) man sagt noch heute “reiser zum scheiterhaufen tragen’ für einen beitrag geben.
L12
268 Jacos Grimm
hellen und reinen flamme, statt der trägen erde zu überlassen; vom ver-
brennen der leiche bis zum einbalsamieren und verharzen ist aber der gröfste
abstand den man sich denken kann. die brennenden völker erkannten kla-
res auges, was für den leiblichen stof gar nicht ausbleibe (1); aegyptische
schwermut und befangenheit wähnte ihn gerade festzuhalten. den blofs ein-
gewundenen, der erde übergebnen leichnam erreicht verwesung ungehindert;
des hölzernen kastens bretter, den die griechische sprache fleischfressend,
unser schwäbischer landmann noch heute todtenbaum nennt (?), halten sie
doch nur kurze zeit auf; schwere särge, wie sie bei Chinesen üblich sind,
oder die doppelten, metallnen unserer fürstengrüfte, hemmen sie ein klein
wenig länger und nähern die leiche dem zustand eingemachter mumie.
Wie hat sich die oft gefühllose weichherzigkeit der neueren luft ge-
macht gegen den herben brauch des mitverbrennens der frauen im alter-
thum, und doch billigen wir, dafs die ehe, wenn sie ihres (gesetz ausdrücken-
den) namens werth sei, ewig und unauflösbar heifse, und preisen als seltnes
glück, dafs hochbejahrte ehleute auf denselben tag hingeraft werden. denn
erhebend ist es wenn gesagt werden konnte
bis sex lustra tori nox mitis et ultima clausit,
arserunt uno funera bina rogo.
Wer es versteht, dafs bürger für das vaterland, freund für den freund, ge-
liebter für die geliebte, so lange die welt steht, starben und sterben, wird
nicht zweifeln, dafs die meisten frauen freudig mit den männern gestorben
sind (°); selbst die starke macht der sitte muste ihren freiwilligen und viele
ausnahmen duldenden entschlufs bestimmen, und niemand schilt gewohn-
heit oder gesetz, die ein kriegsheer zur schlacht entsenden, in welchem auch
unentschlossene oder unfreiwillige mitstreiten und fallen. Barbarisch und
grausam sollten also nicht die heidnischen völker heifsen, deren ehefrauen
mit den männern verbrannt werden durften, sondern die christlichen, unter
denen haufenweis ketzer und hexen unmenschlich der flamme überliefert
wurden; jenes beruhte auf einem geheiligten band der natur, dies auf der
priester verblendetem eifer.
(=) za Ti Osodugw jaerer, möTegov Unsp yrS % Ur0 yns oymercı; Plutarch II p- 499.
(2) auch in der Schweiz todiabomm sarg, bömmli kindersarg.
(3) nach Caesarius von Heisterbach 5, 19 verbrannte sich eine jungfrau freiwillig mit dem
ketzer Arnold, ihrem lehrer.
über das verbrennen der leichen. l 269
Kein volk, meines wissens, war von den schauern des engen dumpfen
grabes stärker ergriffen, als das der alten Sachsen und Friesen, seit sie vom
brennen zum begraben sich zurück gewandt hatten. lese man nur die ge-
spräche der seele mit dem begrabnen leichnam im cod. exon. s. 367-377 (4)
oder ein kleines “das grab’ überschriebnes gedicht in Thorpes analecten
s.142, dessen worte und wendungen denen des friesischen rechtsbuchs be-
gegnen, wo ein kind klagt um seinen vater, der es gegen hunger und nebel-
kalten winter schützen sollte: quod ille tam profunde et tam obscure cum
illis quatuor clavis est sub quercu et pulvere conclusus et coopertus, ich
habe die lateinische fassung ausgehoben, obgleich die ursprüngliche friesi-
sche noch einfacher klingt. Liegt in dieser unbeschreiblichen wehmut auch
etwas keltisches? denn bei Ossian heifst es öfter ‘ans an talla chaol gun leus’,
im engen dunkeln hause ohne licht.
Wir nennen das grab ein bett (?), eine ruhestätte der entschlafnen
(zoumrngiev), wo sie nach irdischer arbeit ungestört rasten, ein haus des frie-
dens (*) und der stille. das mag viel mehr von den heidnischen grabhügeln,
die noch kein pflug aufgeackert, keine habsucht oder neugier erbrochen hat,
als von den gräbern christlicher kirchhöfe gelten; der todtengräber und die
clowns im Hamlet wissen, wie lang es dauert, bis ein platz für neue gräber
wieder umgegraben werden mufs. es gibt keine unsrer städte, in der nicht
stralsen über alten kirchhöfen gepflastert wären; so mächtig waltet das be-
dürfnis der lebenden raumbeengten menschen, dafs es nur wenig rücksicht
auf die todten zu nehmen gestattet. kaum wird auf unsern todtenhöfen ein
grab nachzuweisen sein, das sich über einige Jahrhunderte hinaus behauptet
hätte, und bald liegt alles vergraset, verrostet, verwittert (4), das sind keine
houses which last till doomsday; wie tiefe wahrheit liegt in jenen worten
des Tacitus von den Germanen: sepulerum cespes erigit, monumentorum
(!) auch in mhd. gedichten: ich sihe din gebeine rozzen,
daz hät diu erde gar vernozzen.
tödes gehügde 631.
(2) intheket mir thaz ketli,
thaz mines friuntes betti.
O. III. 24, 82.
(°) friedhof, mhd. vrithof, ahd. frithof atrium, geschützter, eingefriedigter raum.
(*) schon Sidonius Apollinaris epist. 3, 12: jam niger cespes ex viridi, Jam supra antiguum
sepulcrum glebae recentes.
270 Jacos GrImM
arduum et operosum honorem ut gravem defunctis aspernantur. was hilfts
schweren stein über denen zu thürmen, welchen die erde leicht sein soll?
Wollte man für jeden der zahllosen millionen von gestorbnen menschen ge-
hegten grabraum fordern, die oberfläche würde sich bald mit hügeln decken.
Es läfst sich ein grauenvollerer anblick nicht denken, als den das schichten
menschlicher gerippe und schädel in den grüften einiger italienischer klöster
gewährt. für die angemessenste, das andenken am längsten sichernde be-
8
wahrung unsrer überreste wird die gelten müssen, welche den geringsten
raum kostet und die vergehende gestalt zu erhalten aufgibt.
Unter der mähenden sense gefallne gräser und kräuter duften wol-
geruch, die verwesung des entseelten fleisches wird unsern sinnen unerträg-
lich. Nicht das rohe bedürfnis sich der leiche, die man nicht bei sich be-
halten konnte, um jeden preis zu entledigen war es, was die menschen an-
trieb sie tief in die erde zu graben, durch die reinigende flamme zu verbren-
nen oder gar den raubthieren als beute hinzuwerfen; sondern liebreiche
sorge um die todten selbst, deren gebein gehegt, ehrbietige rücksicht auf
die götter, welchen sie geweiht werden sollten, walteten ob. wol hat ein
8
strenges gesetz des bestattens aufwand einschränken zu müssen geglaubt,
mangel an holz und gedörn in der wüste den leichenbrand untersagt, nie
aber forstmännische furcht vor waldverödung, erst der veränderte lauf des
glaubens eine so mächtige sitte abkommen lassen.
Wir können nicht wieder zu den gebräuchen ferner vergangenheit
umkehren, nachdem sie einmal seit lange abgelegt worden sind. sie stehn
jetzt aufser bezug auf unsre übrige eingewohnte lebensart und würden neu
eingeführt den seltsamsten eindruck machen, obgleich selbst der sprach-
gebrauch immer noch duldet von der asche unsrer unverbrannten eltern
zu reden.
g ist eine höchst ein-
fache, ehrwürdige. der entschlafne erwacht, die müden gebeine erheben
Die vorstellung der dvarrarıs oder auferstehun
sich mit neuer kraft und stehn auf, die vorige gestalt durch ein göttliches
wunder wird geläutert hergestellt. sammeln und wiederbeleben der aufbe-
wahrten knochen, sogar von thieren, war auch der heidnischen fabel be-
kannt. An mehrern orten hat man alte gräber eröfnet, in welchem die lei-
chen weder der länge nach gestreckt noch sitzend, sondern mit händen,
haupt und beinen zusammengebogen lagen, gleichsam um den leib wieder
über das verbrennen der leichen. 271
in dieselbe richtung zu versetzen, die er vor der geburt im-schofs der mut-
ter eingenommen habe (!), so dafs die rückkehr in die mütterliche erde an-
zeichen werde künftiger neuer geburt und auferstehung des embryons.
Kein nachdenkender kann umhin den begrif des auferständnisses von
dem der fortdauer oder des künftigen lebens zu unterscheiden. Selbst dem
auferstehn ist das verbrennen der leiche nicht mehr entgegen als das begra-
ben, da wir aus erfahrung wissen, dafs alle bänder und fugen des leibs im
verwesen gerade wie im brand aufgelöst werden. von allen bestattungs-
weisen wäre, sinnlich angesehn, das einbalsamieren den gekleisterten und
verklebten gliedern und beinen wiederaufzustehn am hinderlichsten. aber
der unsäglich viele menschen quälenden vorstellung des lebendig begrabens
machte das verbrennen ein unmittelbares ende.
Für ein sacrament der christenheit kann weder das begraben gelten,
noch das verbrennen für ein hindernis der seligkeit, welche niemand den
sonst in flammen oder im wasser umgekommnen abspricht. die kirche aber
befiehlt den todten zu begraben, wie sie befiehlt das neugeborne kind, nicht
erst das erwachsne, seiner vernunft mächtig gewordne zu taufen. man weifs
dafs auch viele heiden die neugebornen mit wasser besprengten, also beim
eintritt ins leben wie beim austritt durch die beiden elemente des wassers
und feuers weihten.
Bei dem durchdringenden gefühl dafs unser irdischer theil verloren
gehe, raunt in der innersten brust eine geheimnisvolle stimme uns unwider-
stehlich zu, der seelische theil bleibe erhalten.
Oben führte ich das beispiel einzelner thiere an, die gleich dem men-
schen ibre todten unter der erde bergen sollen. in erhebender dichtung
stellen uns sage und poesie des alterthums einen fabelhaften vogel dar, von
dem sich behaupten liefse, dafs er beide bestattungsweisen des menschlichen
geschlechts zusammen geübt habe. Herodot 2,73 vernahm zu Heliopolis,
dorthin alle fünfhundert jahre komme aus Arabien der Phoenix geflogen,
um in des Helios heiligthum seinen verstorbnen vater zu begraben. er be-
reite aus myrrhen ein ei, so grofs ers tragen könne, höle es, lege seinen va-
ter hinein und klebe es mit myrrhen zu; dann sei das ei gerade wieder so
(') wie eng er lege gevangen,
dä im knie und diu wangen
ruorten sich. Renner 19019. D
972 Jıcos Grimm
schwer als da es noch nicht ausgehölt war. Das legt Tacitus ann. 6, 28 an-
ders aus: confecto annorum numero, ubi mors propinquat, suis in terris
struere nidum eique vim genitalem adfundere, ex qua fetum oriri; et pri-
mum adulto curam sepeliendi patris, neque id temere, sed sublato myrrhae
pondere tentatoque per longum iter, ubi par oneri, par meatui sit, subire
patrium corpus inque Solis aram perferre atque adolere. adolere hier, wie
oft, verbrennen. Noch andre sagen ausdrücklich, wenn der phoenix fünf-
hundert jahre erfülle, baue er einen scheiterhaufen von gewürz, verbrenne
sich auf ihm und sterbe; aus der verwesung gebäre er sich new und trage
grofs geworden die gebeine seines alten leibs in myrrhen geschlossen nach
Heliopolis, wo er sie verbrenne. Pomp. Mela 3, 8.
Dies schöne edle beispiel für des lebens erneuerung nach dem tode
ist auch von christlichen dichtern oft aufgenommen und eingeprägt worden.
dem verbrennen der todten widersetzten sich Juden und Christen, weil Abra-
ham und Sara (von keinem ihrer vorfahren sagt es die schrift), Jacob, und
dann alle bis auf Lazarus herab begraben wurden, und Christus, unsers
glaubens stifter, aus dem grab erstand.
Das ist dem menschen eingeimpft, dafs er an wunder, die ihn zu gott
führen, glaube. ich glaube an ein wunder des samens, der in die erde ge-
legt aus seinem inneren haft hinauf treibt und sich zu zartem, farbigem, duf-
tigem kraut entfaltet; ich glaube nicht, dafs das zerstörte auseinander fal-
lende haftlose korn in dem boden treiben würde. selbst die geheimnisse
sind den gesetzen der natur unterworfen. Wie vermöchte der an seiner seele
fortdauer gläubige, neues leben ahnende mensch für wahr zu halten, dafs
die durch feuer oder erde, schnell oder langsam, verflüchtigten theile seines
vergänglichen und vergehenden leibs ihrem stoffe nach wieder zusammen-
geheftet würden; wie könnte ihm die auferstehung oder das emporsteigen
der rauchseule mehr als ein bild jener geistigen fortdauer sein? des mit
höchster weisheit auf die sinne eingerichteten leibes fleischliche herstellung
müste ein anderes sinnliches leben nach sich ziehen und ein höheres hin-
dern; die art und weise der uns geschehenden erhöhung oder vergeistigung
spricht aber keine zunge aus.
Desto gleichmütiger dürfen wir dem verbrennen der leichen sein ge-
schichtliches recht widerfahren lassen und von diesem standpunct her die
wahrheit der werte des dichters empfinden,
s. 200.
20%:
über das verbrennen der leichen. 373
höre mutter nun die letzte bitte:
einen scheiterhaufen schichte du,
öfne meine bange kleine hütte,
bring in flammen liebende zur ruh.
wenn der funke sprüht,
wenn die asche glüht,
eilen wir den alten göttern zu.
Nachträge.
die leiche kam ganz oben auf den scheiterhaufen £v mueH Ümarn zu
liegen. 11. 23, 165. 24, 787.
die tragiker denken sich zwar unter Sarreay und rades gewöhnlich
ein beerdigen ohne die vorstellung des brandes; bei Aeschylos in
den Choeph. 894 sagt Orestes zu Klytaemnestra
Toryap Ev raury Tapw xeise,
und 906 rourw Savooca Euyraleud”
wo das zusammenliegen, zusammenschlafen eher auf unverbrannte
leichen geht. Doch tritt das verbrennen, schon dem mythus nach,
nicht selten deutlich vor, in des Sophocles Antigone 1201 wird des
Polynices leib zuletzt auf frisch gebrochnen zweigen (&v veorwarw Sar-
Acıs) verbrannt, und in der Electra ist des Orestes list darauf be-
rechnet, dafs sein verbranntes gebein im aschenkrug heran getragen
werde: 86 ömus Acyw nAemrovrss Adelav barıy
degwmev aurels Toumov Ws Egpei demas
bAoyırrov non zal naryvIgarwuevov.
757 xal vw mup& neavres eüSus &v Roaxer
YaAAD nEyırTov Füna deiaias Fmodc)
Begovmn.
Im Ajas aber 1065 soll dieser unbegraben den vögeln anheimfallen,
1089 nal go moobwa rövde u Sumrew, Gmws
\ [4 U SEN > \ ’
pm Tovde Sarrwv autos eis Tahas merys,
wo kein gedanke an brennen ist, wie sie ihm auch zuletzt die gruft
ie) > )
bereiten, xoAyv zarerov, 1403. Wenn aber auch das begraben häu-
. \v
figer wurde, geschieht des brennens dennoch meldung: ra d& Aenba-
Philos. - histor. Kl. 1849. Mm
274
Jacog Grimm über das verbrennen der leichen.
va To0 OWMaTos Enasrov moAUv Kpovov mapuevew, Eus av y zarazaudn
7 xarasary. Platons Phaedon 86.
Caesar in foro combustus. Cie. ad Atticum lib. 14 ep. 10.
der lat. sprache scheint es mit sepelire, das ich sonst dem goth. fil-
han commendare verglich, nicht anders ergangen als der griechischen
mit Sarrew, auch sepelire mag ursprünglich brennen, leuchten aus-
gesagt haben und zum sl. paliti, planutise, wie zum gr. pAeyew, aber
auch zum finn. palan, palo und altn. bäl fallen; das se in sepelire
sepultus verhält sich wie in sejungere abbinden, sevocare abrufen,
nur mit eingetretner kürzung des e: sepelire ist abbrennen, verbren-
nen, verbrennen und verwandt vielleicht pulcer, pulcher nitens,
splendidus. aber schon sehr frühe artete es in die vorstellung des
begrabens oder bestattens überhaupt aus, wenn die zwölf tafeln sa-
gen: hominem mortuum in urbe ne sepelito neve urito; si cui auro
dentes vincti escint, im cum illo sepelire urereve se fraude esto,
wird es als beerdigen dem verbrennen gegenübergestellt, wie es auch
rogum bustumve novum heifst, wo bustum, die brandstätte wieder-
um als grab zur seite steht. Bei den uralten redensarten sepultus
morte meroque Festus 340; urbem somno vinoque sepultam Virg.
Aen.2,265; lingua sepulta mero Prop. III, 956 dachte längst kein
mensch weiter an brennen.
auch KoWeTos ist beides wasserkrug und graburne, aschenkrug.
unsre dichter des mittelalters hatten natürlich kunde des römischen
leichenbrandes:
ir töten sie dä branden,
alse man zuo den geziten pflac,
En. 7913, vgl. Herbort 8106. 8120, ohne die leiseste erinnerung an
den alteinheimischen brand.
ik
Über
Spinoza s Grundgedanken und dessen Erfolg.
w . Von
H” TRENDELENBURG.
name
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 1. März 1849.]
ei hat seiner Lehre, wenn man den Grundgedanken betrachtet, un-
ter den Systemen eine ursprüngliche und eigenthümliche Stellung gegeben,
eine Stellung, die noch nicht da gewesen war.
Sie wurde bereits in einer frühern Abhandlung „über den letzten Un-
terschied der philosophischen Systeme” bezeichnet (!), aber einer nähern
Untersuchuug vorbehalten. Indem dort dargethan wurde, dafs sich der
Grundunterschied der philosophischen Systeme um das Verhältnifs des letz-
ten und gröfsten Gegensatzes drehe und drehen müsse, um den Gegen-
satz der blinden Kräfte und des bewufsten Gedankens: ergab sich ein drei-
facher Entwurf einer Weltansicht, welchen auch in der That die Geschichte
der Philosophie in ihrem Ablauf verwirklicht und ausgebildet hat.
Wenn wir nämlich nackte Kraft und bewufsten Gedanken als die bei-
den Endpunkte eines grofsen Gegensatzes einander gegenüber stellen und
die Richtung auf die Einheit voraussetzen: so können sie sich in der Eini-
gung auf dreifache Weise zu einander verhalten. Entweder steht die Kraft
der wirkenden Ursache vor und über dem Gedanken, so dafs der Gedanke
nicht das Ursprüngliche ist, sondern Ergebnifs, Product und Accidenz der
blinden Kräfte; — oder der Gedanke steht vor und über der Kraft, so dafs
die blinde Kraft für sich nicht das Ursprüngliche ist, sondern der Ausflufs
und die Wirkung des Gedankens; — oder endlich Gedanke und Kraft sind
im Grunde dieselben und unterscheiden sich nur in dem auffassenden Ver-
stande.
(') Denkschriften der K. Akademie der Wissenschaften. Philologische und historische
Abhandlungen 1847. S. 219.
Mm 2
276 TRENDELENBURG
Es kann nur diese drei Stellungen von Gedanken und Kraft geben;
und da nur Eine der drei möglichen die wirklicke und wahre sein kann, so
sind die Systeme, je nachdem sie eine der drei sich einander auschliefsen-
den Stellungen durchführen und zum letzten Stützpunkt ihrer Bewegungen
machen, in einem durchgehenden Streit begriffen.
Bis Spinoza handelte es sich um die beiden ersten Auffassungen. In
den materialistischen Systemen erfüllte sich die erste Möglichkeit, in wel-
cher die Kraft der wirkenden Ursache als das Ursprüngliche vor und über
den Gedanken gestellt wird; in den idealen Systemen, im Platonismus, zu
welchem der Aristotelismus, die Stoa und die Philosophie der christlichen
Kirche wie Verwandlungen einer Grundgestalt gehören, erfüllte sich die
andere Möglichkeit, in welcher der Gedanke als das Ursprüngliche vor und
über die Kraft gestellt wird, sie richtend und regierend.
Bei Spinoza erscheint die dritte Möglichkeit mit der vollen Wucht
ihrer Eigenthümlichkeit. In Cartesius, von dem Spinoza ausging, war der
ursprüngliche Gegensatz von Neuem scharf hervorgetreten und zwar in der
Gestalt zweier Substanzen, der denkenden und der ausgedehnten, der sub-
stanlia cogitans und der substantia extensa, die sich einander schlechtweg
ausschliefsen. Dieser Dualismus, schroff im Prineip, ist von Cartesius durch
die Annahme einer dritten Substanz, die über beiden steht, durch die her-
beigerufene Substanz Gottes, der die beiden andern äufserlich zusammen-
bringt und vermittelt, nur scheinbar gemildert und eigentlich nur für das
schwächere Auge verwischt worden. Daher weckte er in dem schärfern
Geiste das Bedürfnifs der innern Einigung desto entschiedener.
In Spinoza erscheint nun derselbe Gegensatz; er erscheint als Den-
ken und Ausdehnung, cogitatio und extensio. Aber Spinoza greift ihn eigen-
thümlich und in einer Weise, welche allein noch nicht vertreten war. Wenn
bis dahin in den Systemen Gedanken und blind wirkende Kraft dergestalt
mit einander gestritten hatten, dafs entweder, wie in den teleologischen seit
Plato, der Gedanke über die Kräfte, oder, wie in den mechanischen seit
Demokrit, die Kräfte über den Gedanken siegen wollten: so fafste Spinoza
ohne solche Überordnung und Unterordnung beide in eins. Es wirkt weder
das Denken auf die Ausdehnung, noch die Ausdehnung auf das Denken; es
tritt weder der Gedanke vor die Kraft, noch die blinde Kraft vor den Ge-
danken. Sie sind in ihrem Grunde nicht verschieden; denn sie drücken Eine
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 277
Sache nur auf verschiedene Weise aus. Denken und Ausdehnung sind nur
die beiden nothwendigen Weisen, unter welchen sich der Verstand das We-
sen der unendlichen Substanz vorstellt. Indem Spinoza seine ganze Lehre
auf dieser Grundlage bauet, erfüllt er die dritte, oben bezeichnete Mög-
lichkeit.
Es wird zweckmäfsig sein, zunächst diesen Grundgedanken in Spinoza
nachzuweisen und in seinen nächsten Folgen darzulegen, damit die That-
sache feststehe und ihre Bedeutung erhelle.
Es kann in Wahrheit, lehrt Spinoza, nur Eine Substanz geben, wenn
es anders ihr Wesen ist, dafs sie keines andern bedürfe, sondern schlecht-
hin in sich sei und aus sich begriffen werde. Diese Eine Substanz, Gott, ist
alles Sein und aufser ihr ist kein Sein; alles Endliche ist als solches nicht
aus sich, sondern in ihr als Weise, als Modus des Daseins. Attribut der
Substanz ist dasjenige, was der Verstand als ihr Wesen ausmachend an der
Substanz denkt. Während nun die Eine Substanz, Ursache ihrer selbst,
schlechthin unendlich ist, sind die Dinge begrenzt und bestimmt (res deter-
minatae). Diese Bestimmung geschieht in den beiden Attributen des Den-
kens und der Ausdehnung und innerhalb derselben; aber jedes Attribut der
Einen Substanz mufs aus sich selbst begriffen werden (eth. I, 10) (!). Die
Bestimmungen des Einen Attributs bedingen nicht die Bestimmungen des
andern (eth. II, 6) (?); sie sind grundverschiedene Anschauungsweisen des
Wesens.
In der Auffassung von Seele und Leib stellt sich dies allgemeine Ver-
hältnifs im Besondern dar.
Der Leib drückt Gottes Wesen, inwiefern er als ausgedehnt betrach-
tet wird, auf bestimmte und begrenzte Weise aus; die Seele hingegen als
bestimmte Weise des Denkens (modus cogitandi). Die endlichen Modi als
Leib und Seele drücken nur Eine und dieselbe Sache aus, die einmal von
der Seite der Ausdehnung und dann von der Seite des Denkens aufgefafst
wird, und im ersten Falle Leib, im zweiten Seele heifst. Was der Leib der
wirklichen Gestalt nach ist (formaliter), das ist die Seele in der Weise des
(') Eth. I, 10. Unumquodque unius substantiae attributum per se concipi debet.
(2) Eth. I, 6. Cuiuscunque attributi modi Deum, quatenus tantum sub illo attributo, cu-
ius modi sunt, et non, quatenus sub ullo alio consideratur, pro causa habent.
278 TRENDELENBURG
Denkens (odjective nach dem damaligen Sprachgebrauch). Was in der Aus-
dehnung vorgeht, geht auch im Denken vor. Es kann weder der Körper
die Seele zum Denken, noch die Seele den Körper zur Bewegung und Ruhe
bestimmen (eth. III, 2). Alle Weisen des Denkens haben Gott, inwiefern er
unter dem Attribut des Denkens, und nicht unter einem andern Atiribut
betrachtet wird, zur Ursache; und umgekehrt haben alle Weisen der Aus-
dehnung Gott nur, inwiefern er unter dem Attribut der Ausdehnung betrach-
tet wird, zur Ursache. Hiernach laufen in beiden Attributen die Modi mit
einander parallel; aber die Erklärung in dem einen Attribut kann nicht auf
das andere übertragen werden. Diese Übereinstimmung in beideu Attribu-
ten ist der eigentliche Sinn des aus Spinoza oft angeführten Satzes, dafs die
Ordnung und der Zusammenhang der Vorstellungen derselbe sei als die
Ordnung und der Zusammenhang der Dinge (').
Aus diesem Grundverhältnifs ergeben sich unmittelbar die wichtig-
sten Folgen — und Spinoza zog sie wirklich.
Indem das Denken nicht auf die Ausdehnung wirkt, kann es den Be-
griff nicht geben, der voraussetzt, dafs ein Gedanke, eine Idee, die Gestal-
ten der Ausdehnung in ihrem Wesen bestimme. Der Zweck ist daher nach
dieser Ansicht nur eine menschliche Erfindung. Wie Gott um keines Zwek-
kes willen da ist, so wirkt er auch um keines Zweckes willen. Alle Philo-
sophen irren, die, wie Plato that, behaupten, dafs Gott nach der Idee des
Guten wirke (eth. I, 33 schol. 2). Das Gute wäre durch den Zweck be-
stimmt. Vielmehr ist das Gute, wie der Zweck, nichts Wirkliches in den
Dingen, sondern nur eine Weise des Denkens. Das wirkliche Sein der
Dinge, inwiefern sie nicht Weisen des Denkens sind, folgt nicht deswegen
aus der göttlichen Natur, weil diese die Dinge vorher erkannt hätte (eth. II.
6. coroll.)(?). Es kommt vielmehr der Natur eines Dinges nichts zu, was
nicht aus der Nothwendigkeit des Wesens der wirkenden Ursache folgt; und
was aus der Nothwendigkeit des Wesens der wirkenden Ursache folgt, das
geschieht nothwendig. (eih. IV. praef.)
Dem Begriff des Zweckes ist kein anderer an Bedeutung zu verglei-
(') Eth. II, 7. Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum.
(2) Eth. II, 6. coroll. Esse formale rerum, quae modi non sunt cogitandi, non sequitur ideo
ex divina natura, quia res prius cognovit.
über Spinoza'’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 979
chen, wenn man ihn nur nicht im Sinne des äufsern Nutzens, sondern des
innern Wesens nimmt. Ohne ihn giebt es namentlich kein Örganisches; und
wenn das Ethische ein frei gewordenes Örganisches ist, auch kein Ethisches,
kein Ideales in der Natur und im Menschengeiste. Daher hat für Spinoza,
wie bereits an einem andern Orte gezeigt ist (!), die Aufhebung des Zwek-
kes die ausgedehntesten Folgen, welche in seiner Lehre sich nirgends ver-
läugnen. Die Sätze z. B. über den menschlichen Leib, welche Spinoza im
2“ Theil der Ethik als Lemmata und Postulate einschiebt (eth. II. vor prop.
14), zeigen durchweg die mechanische Auffassung. Es giebt überhaupt für
Spinoza keine innere Übereinstimmung in der Natur der Dinge. Ordnung
und Verwirrung bedeuten nichts, wenn man an sich die Dinge betrachtet,
und beziehen sich nur auf unsere Vorstellung (Brief 15) (?). Wenn die Schön-
heit einen innern Grund hat, so liegt er ohne Zweifel im Organischen; sie
ist unter dieser Voraussetzung die Erscheinung harmonischer Zwecke. Aber
in Spinoza hat eine solche Betrachtung keinen Ort. Die Schönheit kann
ihm nicht die erscheinende Idee sein. Sie ist ihm keine Eigenschaft des Ge-
genstandes, sondern nur eine Wirkung der Dinge in dem Beschauer. Die
Dinge, in sich betrachtet oder auf Gott bezogen, sind weder schön noch
häfslich (°).
Indem umgekehrt auch die Ausdehnung nicht auf das Denken wirkt,
mufs nach dem Princip jene Ansicht fern bleiben, welche den Gedanhen als
ein Accidens der materiellen Kräfte betrachtet, der Materialismus, — und
der deutliche Ausdruck dieser Folge ist der Satz, dafs weder der Körper
(!) Logische Untersuchungen II. S. 39 ff.
(2) Der 15'* Brief ist belehrend, weil darin die Frage beantwortet wird, wie es zu denken
sei, dals die Theile der Natur mit ihrem Ganzen zusammeustimmen. p. 498. ed. Paul. — prius
monere velim, me naturae non tribuere pulchritudinem, deformitatem, ordinem atque confusio-
nem; nam res non nisi respective ad nostram imaginationem possunt dici pulchrae aut defor-
mes, ordinatae aut confusae.
(?) Brief 58. vgl. eth. I. append. besonders p. 74. ed. Paul. Wenn bei Plato die Idee des
Guten die Weltbildung leitet und das Gute wiederum in Wahrheit, Ebenmals und Schönheit
zerlegt wird: so kann man in diesem Zusammenhang auch die Schönheit als Grund der Welt-
bildung ansehn. Gegen eine solche Auffassung ihut Spinoza in dem Brief 58 Einsage p. 648.
-.... mundum naturae divinae necessarium esse effectum u. s. w. p. 6/49. pulchritudo non tam
obiecti, quod conspieitur, est qualitas, quam in eo, qui conspicit, effectus. ..... adeo ut res in
se spectatae vel ad Deum relatae nec pulchrae nec deformes sint.
2850 TRENDELENBURG
den Geist zum Denken, noch der Geist den Körper zur Bewegung oder
Ruhe bestimmen kann (eth. III, 2) (!).
Auf diese Weise offenbart sich der angegebene Standpunkt, indem
er Teleologie und Materialismus gleicher Weise verneint; und er darf in
seiner Eigenthümlichkeit, wiewol es oft geschehn ist, nicht verkannt wer-
den. Jacobi z. B. macht das System des Spinoza schlechthin zu einem Sy-
stem der mechanischen Ursachen. Er schreibt in den Beilagen zu den Brie-
fen über Spinoza (?): „Eine nicht mechanische Verkettung ist eine Verket-
tung nach Absichten oder vorgesetzten Zwecken. Sie schliefst die wirkende
Ursache, folglich auch Mechanismus und Nothwendigkeit nicht aus, sondern
hat allein zum wesentlichen Unterschied, dafs bei ihr das Resultat des Me-
chanismus als Begriff vorhergeht und die mechanische Verknüpfung durch
den Begriff, und nicht, wie im andern Fall, der Begriff im Mechanismus
gegeben wird. Dieses System wird das System der Endursachen oder der
vernünftigen Freiheit genannt; jenes das System der blos wirkenden Ur-
sachen oder der Naturnothwendigkeit. Ein drittes ist nicht möglich, wenn
man nicht zwei Urwesen annehmen will”. Indessen nimmt Spinoza, wie ge-
zeigt wurde, gerade eine dritte Stellung ein. Nur inwiefern er den Zweck
in Abrede stellt, geräth er in die nächste Verwandtschaft mit den Systemen
der blos wirkenden Ursachen; und es konnte daher leicht geschehen, dafs
er früh für einen Materialisten erklärt wurde (°). An sich ist Spinoza von
dem Materialismus wie von der Teleologie gleich weit entfernt. Jedes At-
tribut der Einen Substanz mufs aus sich begriffen werden (eth. I, 10); die
Erzeugnisse des Gedankens aus dem Attribut des Denkens, die Gestalten
der Ausdehnung aus dem Attribut der Ausdehnung; und man kann von Spi-
noza nicht sagen, dafs bei ihm der Begriff im Mechanismus gegeben wird.
Es fragt sich nun, wie es dem Spinoza gelinge, diesen eigenthüm-
lichen Grundgedanken, nach welchem Denken und Ausdehnung nur ein ver-
schiedener Ausdruck einer und derselben Substanz sind, sowol in sich als
den Erscheinungen gegenüber durchzuführen. Es fragt sich, wie weit er
') Eıth, III, 2. Nec corpus mentem ad cogitandum, nec mens corpus ad motum, neque ad
’ ji 5 1% „.neg
quietem, nec ad aliquid (si quid est) aliud determinare potest.
(2) Jacobi, Werke IV, 2. S. 95.
(3) vgl. z.B. Colerus, das Leben Spinoza’s, deutsch mit Anm. 1733. p.15. Anm. e. Jacobi
Bruckeri historia critica philosophiae. 1744. IV, 2. p. 707.
p P DDP.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 2381
ihm treu bleiben könne, ohne von den Erscheinungen genöthigt, in die bei-
den nebenstehenden Betrachtungsweisen, sei es in die eine oder in die an-
dere, in die teleologische (organische) oder die mechanische zu verfallen.
Es kommt auf diese Frage als auf die Grundfrage alles an. In ihr entschei-
det es sich, ob Spinoza’s Lehre als System stehe oder falle, und ob sie eine
Basis sei, auf welcher sich weiter bauen lasse.
Es ist über Spinoza und zur Kritik Spinoza’s viel geschrieben. Aber
die bisherige Kritik geht weder von diesem Punkte aus, noch zu diesem
Punkte hin. Erst in dem Grundgedanken und dessen Erfolg, erst in der
Aufgabe, die der Grundgedanke stellt, und in dem Erfolg der Lösung mes-
sen wir ein System nicht nach fremdem Gewicht, sondern nach eigenem Mafs.
Eine solche immanente Kritik mufs nach dem dargelegten Zusammen-
hange für Spinoza um so wichtiger sein, weil dadurch jener Kampf der
Weltansichten, die in der bezeichneten dreifachen Stellung ihren ursprüng-
lichen Ausdruck haben, wenigstens in Einem Gliede der Entscheidung ent-
gegengeführt wird.
Wir richten unsere Untersuchung auf dies Ziel und wollen so ver-
fahren, dafs wir zuerst den ganzen Gedankengang Spinoza’s in der Kürze
überblicken, und dann die Angeln prüfen, in welchen sich das Ganze be-
wegt. Sollte sich die Untersuchung hie und da von der Grundfrage entfer-
nen, weil die Kritik von Glied zu Glied führt: so werden doch am Schlusse
die Ergebnisse von selbst dahin zurückbiegen.
Wir erinnern also zunächst an den Zusammenhang des Ganzen.
Das System ist in den 5 Büchern der Ethik einfach angelegt. Von
der Metaphysik der Einen Substanz ausgehend (Buch 1) läuft es durch die
Erkenntnifslehre des Geistes (B. 2) und durch die Psychologie der leiden-
den Zustände hindurch (B. 3 u. 4) und erreicht in der Ethik der befreien-
den Erkenntnifs sein Ziel (B. 5).
Gott ist die Eine Substanz, deren Wesen der Verstand in zwei verschie-
denen Ausdrücken als Denken und Ausdehnung auffafst (1). Es darf jedoch
(') Eth. I. def. 4. Per attributum intelligo id, quod intelleetus de substantia percipit tan-
quam eiusdem essentiam constituens, vgl. eth. II. def. 2. Ad essentiam alicuius rei id pertinere
dico, quo dato res necessario ponitur et quo sublato res necessario tollitur; vel id, sine quo
res et vice versa quod sine re nec esse nec concipi potest. Also Gott kann nicht ohne Den-
ken und Ausdehnung, und Denken und Ausdehnung nicht ohne Gott gedacht werden.
Philos.- histor. Kl. 1849. Nn
9382 TRENDELENBURG
dies Verhältnifs nicht so vorgestellt werden, wie es öfter geschieht, als ob
Denken und Ausdehnung, der Substanz fremd, erst durch den Verstand von
aufsen an die Substanz herangebracht würden. Wie wäre dies für die Sub-
stanz, für welche es kein Aufsen und kein Innen giebt, zu denken? Viel-
mehr sind die Attribute Gottes ewig d.h. inwiefern das Nothwendige sein
Dasein immer bejaht, nothwendig. (!)
Aufser Gott giebt es keine Substanz; das Endliche und Einzelne ist
daher nicht in sich, sondern nur eine Weise in Gott (modus). Gott ist die
wirkende Ursache des Wesens, wie des Daseins der Dinge.
Das Unendliche (Gott) ist der schlechthin positive (bejahende) Be-
griff; das Endliche hingegen ist begrenzt und bestimmt, und jede Begren-
zung und Bestimmung ist eine Verneinun
8.
Es giebt in der Natur nichts Zufälliges; denn Gott, in welchem alles
ist, was da ist, ist auf nothwendige Weise da; sein Wesen schliefst sein Da-
sein ein (eth. I, 29). Gottes Macht ist sein Wesen; denn er ist Ursache sei-
ner selbst (I, 34); und was in Gottes Macht liegt, ist nothwendig (I, 35).
Die endlichen Dinge entspringen aus Gott oder einem seiner Attri-
bute, insofern dasselbe durch einen Modus affıeirt betrachtet wird, die Aus-
dehnung durch Ruhe oder Bewegung, das Denken als Verstand und Wille.
Alles Einzelne oder jedes Ding, welches endlich ist und ein bestimmtes Da-
sein hat, wird durch eine andere Ursache, welche auch endlich ist und ein
bestimmtes Dasein hat, zum Dasein und Wirken bestimmt und so fort ins
Unendliche. Dies gilt nach dem durchgängigen Parallelismus der beiden At-
tribute vom Endlichen ebenso im Denken als in der Ausdehnung.
Die ganze Natur ist Ein Individuum, dessen Theile, die Körper, auf
unendliche Weise wechseln ohne irgend eine Veränderung des ganzen In-
dividuums (II. lemma 7. schol. p. 94).
Auf ähnliche Weise sind die menschlichen Geister Theile des unend-
lichen göttlichen Verstandes (II, 11. coroll. V, 40).
Seele und Leib sind Ein und dasselbe Individuum, welches einmal
(') Eth. I, 19. Deus sive omnia Dei attributa sunt aeterna. Vgl. in der Demonstration:
— per Dei attributa intelligendum est id, quod divinae substantiae essentiam exprimit, hoc est,
id quod ad substantiam pertinet: id ipsum, inquam, ipsa attributa involvere debent. Atqui ad
naturam substantiae pertinet aeternitas, ergo unumquodque attributorum aeternitatem invol-
vere debet, adeoque omnia sunt aeterna.
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 283
unter dem Attribut des Denkens und dann wieder unter dem Attribut der
Ausdehnung begriffen wird (eth. II, 21. schol.).
Jedes Wesen, sei es Ding sei es Gedanke, sucht sich in seinem Sein
zu behaupten (eth. III, 6). Dieses Streben ist nichts als seine wirkliche Na-
tur. Der Geist sucht sich daher, sowol inwiefern er klare und deutliche, als
inwiefern er verworrene Vorstellungen hat, in seinem Sein zu behaupten.
Es kann keine Vorstellung in unserm Geiste geben, welche das Da-
sein unsers Leibes ausschliefst. Vielmehr was die Thätigkeit unsers Leibes
mehrt oder mindert, fördert oder hemmt, dessen Vorstellung mehrt oder
mindert, fördert oder hemmt das denkende Vermögen unsers Geistes.
Unter Lust wird der leidende Zustand begriffen, durch den der Geist
zu gröfserer Vollkommenheit übergeht; unter Unlust derjenige leidende Zu-
stand, durch den er zu geringerer Vollkommenheit übergeht.
Indem nun die Seele das sich vorzustellen strebt, was ihre oder des
Leibes Thätigkeit mehrt und das Gegentheil ausschliefst, entsteht aus die-
sem Streben Liebe und Hafs, d.h. Lust und Unlust, begleitet von der Vor-
stellung der äufsern Ursache.
Zunächst begleiten wir die real wirkende Ursache der Lust und Un-
lust mit Liebe und Hafs, dann die in der Vorstellung Lust und Unlust her-
vorbringende Ursache mit Liebe und Hafs. Daher bestimmt, abgesehen von
der Verkettung der wirklichen Ursachen, auch das Gesetz, das Vorstellun-
gen mit einander verkettet,— man nannte es später die Ideenassociation— die
leidenden Zustände unserer Seele in Liebe und Hafs. Die Vorstellungen,
die einander rufen, theilen einander, wenn sie nicht im Gegensatz stehen,
die Lust und Unlust und dadurch die Liebe und den Hafs mit, welche ih-
nen einwohnen. Ferner bejahen und verneinen wir uns in Andern, inwie-
fern wir sie in Beziehung zu uns setzen. Aus diesen Quellen fliefsen Sym-
pathie und Antipathie, Mitleiden und Wohlwollen, Undank und Schaden-
freude, Neid und selbst Bewunderung, Feindschaft und selbst Grofsmuth,
lauter leidende Zustände, welche hiernach aus dem Naturgesetz der Selbst-
erhaltung hervorgehen.
Die Macht dieser leidenden Zustände liegt in den inadaequaten Vor-
stellungen, und diese entstehen in uns daraus, dafs wir nur Theile eines
denkenden Wesens sind, von dem zwar einige Gedanken ganz, aber andere
nur theilweise unsern Geist ausmachen (de intellecius emendatione p. 441).
Nn2
254 TRENDELENBURG
Wir verhalten uns überhaupt insofern leidend, als wir ein Theil der Natur
sind, der an sich ohne die andern nicht kann begriffen werden (eth. IV, 2).
Wie der Mensch desto mehr leidenden Zuständen unterworfen ist, je
mehr inadaequate Vorstellungen er hat: so ist er desto thätiger (freier), je
mehr adaequate er hat.
Daher führt das imaginari, die Quelle der inadaequaten Vorstellun-
gen, zur Knechtschaft, das intelligere, die Quelle der adaequaten, zur Frei-
heit. Nos eatenus tantum agimus, quatenus intelligimus. Wir sind nur so
weit thätig, als wir begreifen (eth. IV, 24).
Wie die Gedanken im Geiste geordnet werden, so ordnen sich die
Affectionen, die Bilder der Dinge, im Leibe (eth. V, 1. vgl. V,10). Der Af-
fect, der ein leidender Zustand ist, hört auf leidend zu sein, sobald wir von
ihm eine klare und deutliche Vorstellung bilden (eth. V,3. vgl. V,11). Alle
Begierden sind nur insoweit leidende Zustände, als sie aus inadaequaten
Vorstellungen entstehen und dieselben werden der Tugend zugerechnet, in-
sofern sie von adaequaten Vorstellungen erregt oder erzeugt werden (eth. V,
4. schol.). Auf diese Weise löst sich die Knechtschaft der leidenden Zu-
stände in Freiheit.
Tugend und Macht (virtus und potentia) sind dasselbe, und Tugend
auf den Menschen bezogen ist die Macht, etwas hervorzubringen, was nur
aus den Gesetzen seiner Natur eingesehen werden kann (eth. IV. def. 8). In
demselben Sinne ist die Macht auch das Recht; und jedes Ding hat von
Natur soviel Recht, als es zum Dasein und zum Wirken Macht hat (tractat.
pol. c.2. p. 307. tractat. theolog. pol. c. 16. p. 359. ed. Paul.).
Jedes Wesen strebt sich selbst zu erhalten, oder, was dasselbe ist,
seine Macht zu behaupten und zu mehren. Es ist daher das Streben sein
eigenthümliches Sein zu erhalten die Grundlage der Tugend (eth. IV, 18.
schol. p.216), also für den Geist das Streben zu begreifen (intelligendi co-
natus) die erste und einzige Grundlage (eth. IV, 26 u. 27).
Diese Einsicht giebt die höhere Macht und daher auch die eigent-
liche Tugend.
Die menschliche Macht wächst, wenn alle Menschen in Allem so zu-
sammenstimmen, dafs aller Geister und Leiber Einen Geist und Einen Leib
bilden und alle zugleich, so weit sie können, das eigene Sein zu behaupten
streben und das gemeinsame Beste aller suchen. Daraus folgt, dafs die Men-
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 285
schen, welche nach der Vernunft ihren Nutzen suchen, nichts für sich er-
streben, was sie nicht auch den übrigen Menschen wünschen und dafs sie
daher gerecht, treu und sittlich sein werden (IV, 18. schol.). Was Eintracht
erzeugt, erzeugt grölsere Macht und ist das, was zur Gerechtigkeit, Billig-
keit und Sittlichkeit gehört (eth. IV. app. c.15. p.262. vgl. tractat. theo-
log. ce. 16).
Inwiefern jedoch Menschen Leidenschaften unterworfen sind, sind sie
einander entgegen und kommen unter sich nicht überein (eth. IV, 32). Da-
her mufs man die Leidenschaften meiden. Wer vernünftig lebt, wird dahin
streben, dafs er nicht von den Affecten des Hasses beunruhigt werde und
folglich dahin wirken, dafs auch kein anderer dieselben Affecte leide (eth.
IV,46). Er wird daher, so viel er kann, des Andern Hafs und Zorn und
Verachtung durch Liebe oder Grofsmuth ausgleichen.
Das intelligere, die Erkenntnifs des Nothwendigen und Ewigen, ist
auch von dieser Seite die Quelle des Sittlichen; denn Wille und Verstand
sind eins und dasselbe (eth. II, 49. coroll.). Inwiefern wir erkennen (quate-
nus intelligimus), können wir nichts begehren aufser dem, was nothwendig
ist, und uns schlechthin nur im Wahren befriedigen; und insofern stimmt
das Streben unsers bessern Theils mit der Ordnung der ganzen Natur zu-
sammen (eth. IV. c. 32. p. 267).
Inwiefern unser Geist erkennt, ist er eine ewige Weise des Denkens,
die von einer andern ewigen Weise des Denkens bestimmt wird, und diese
wiederum von einer andern und so ins Unendliche, so dafs alle zusammen
den ewigen und unendlichen Verstand Gottes ausmachen (eth. V, 31).
Je mehr wir nun uns und unsere Affecte, je mehr wir die einzelnen
Dinge begreifen, desto mehr begreifen und lieben wir Gott; und so weit
wir Gott betrachten, so weit sind wir thätig (eth. V, 16. 18.24). Es ist das
höchste Gut des Menschen Gott zu erkennen (eth. IV,28). Es entspringt
daraus die intellectuale Liebe des Geistes zu Gott, welche, da Gott alles
Sein ist, ein Theil der unendlichen Liebe ist, mit welcher Gott sich selbst
liebt, und zwar inwiefern er durch das Wesen des menschlichen Geistes,
wenn es unter der Form der Ewigkeit betrachtet wird, begriffen werden kann.
Aus diesen Grundzügen der Lehre heben wir nun die wesentlichen
Punkte hervor, welche wir erörtern müssen, wenn wir über die Bündigkeit
und den Erfolg des Grundgedankens urtheilen wollen.
256 TRENDELENBURG
Zuvörderst thun wir einen Blick in die Form und Structur des Gan-
zen (!).
Spinoza überschreibt sein System: ethica ordine geometrico demon-
strata, und bildet in der methodischen Form die Elemente des Euklides nach.
Wie er überhaupt die mathematische Nothwendigkeit sucht, so bringt er sie in
der geschlossenen Gestalt der geometrischen Methode zur Darstellung. Der
Leser hat dabei den grofsen Vortheil, dafs es ihm an jedem Punkt leicht
wird, in der Verkettung der Beweise von Glied zu Glied bis zur ersten Be-
festigung zurückzugehen und die Strenge der Verknüpfung zu überwachen.
Auch jene Darstellungsweise, deren Schmuck das Schmucklose ist, und der
eigentliche Ausdruck, der immer die Sache trifft, sind Tugenden, welche
dem geometrischen Vorbilde entsprechen. Aber in der Absicht der Anlage
liegt mehr. Es soll die metaphysische Ableitung zu derselben Bündigkeit
geführt werden, deren die geometrische Beweisführung fähig ist. Es fragt
sich indessen, ob nach der Natur der Sache die geometrische Methode des
Euklides zum Paradigma der metaphysischen und philosophischen werden
kann. Es treten dabei sogleich wesentliche Unterschiede hervor. Die Geo-
metrie geht von einer Anzahl Axiomen und Postulaten aus und unbeküm-
mert um die Einheit des Ursprungs überläfst sie ihre Erörterung einer frem-
den, der philosophischen Betrachtung. Wenn indessen die Lehre des Spinoza,
welche mehr als irgend eine auf die Einheit gerichtet ist, mit zerstreueten,
vorausgesetzten Axiomen beginnt, wenn darin selbst Begriffe, wie z.B. die
Causalität (eth. I. def. 3. 4) aufgenommen sind: so fragen wir umsonst, wohin
denn die Erörterung dieser Axiome falle. Spinoza hebt ferner mit Defini-
tionen an, z. B. der causa sui, der Substanz, des Attributs u. s. w., wie Eu-
klides mit den Definitionen der einfachsten ebenen Figuren anfängt. Indes-
sen haben bei Euklides die Definitionen früher gar keinen Werth und gar
keine Anwendung, als bis er ihre reale Möglichkeit nachgewiesen, bis er sie
construirt hat. Bei Euklides wird z. B. das Quadrat schon Buch 1. Def. 30
erklärt, aber es ist für das System noch gar nicht da, bis es am Schlusse des
ersten Buches, nachdem die Lehre von den Parallelen vorangegangen ist,
construirt worden (Satz 46). Die Evidenz hängt von der Construction der
Definition ab. Spinoza müfste, um dieselbe Evidenz zu erreichen, die von
(') vgl. des Verf. logische Untersuchungen II. S. 110.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 287
ihm definirten Begriffe construiren können. Erst dadurch würde die Vor-
stellung gegen Erdichtung gesichert; erst dadurch würde die innere Mög-
lichkeit der Definition verbürgt. Spinoza behandelt indessen seine Erklä-
rungen, die eigentlich nur Namenerklärungen sind, sogleich als solche Sach-
erklärungen, welche die Gewähr ihrer Wirklichkeit in sich selbst tragen.
Bei der richtigen Definition des unerschaffenen Wesens soll für die Frage,
ob es sei, kein Raum übrig bleiben (d. intell. emend. p. 451). Ihm fehlen,
da es sich um die letzten metaphysischen Begriffe handelt, die Mittel der
Construction; und er setzt daher in seinen Definitionen stillschweigend vor-
aus, was Euklides bei den seinigen erst werden läfst und beweist. Dies gilt
nicht nur von den Definitionen des ersten Buches, sondern auch von den
wesentlichsten der andern. Man vgl. z. B. Buch II. def. 3 und 4. III. def. 1
und 2. IV. def. 8. Bei allem was an diesen Stellen erklärt ist, wird man
fragen müssen: wie geschieht das?— und man steht dann bei dieser Frage
nach dem realen Vorgange mitten in ungelösten Schwierigkeiten. Solche
Subreptionen gefährden die ganze Lehre und untergraben namentlich, wie
sich später zeigen wird, den Halt des Grundgedankens.
Der weitere Gang unserer Untersuchung wird im Grofsen und Gan-
zen dem Gang in Spinoza’s Ethik folgen, indem zuerst der metaphysische
Begriff Gottes, darauf die logische, endlich die psychologische und ethische
Seite der Lehre werden zur Sprache kommen.
Wir verweilen hiernach zunächst bei dem Begriffe Gottes; denn Gott,
die Ursache seiner selbst, ist die Grundlage und die intellectuale Liebe
Gottes ist der Schlufsstein des Systems.
Bei Spinoza verschlingt sich im Begriff Gottes die ontologische und
kosmologische Betrachtung auf eigenthümliche Weise.
Spinoza hält die Definition Gottes als des höchst vollkommenen We-
sens nicht für die ursprüngliche (ep. 64). Indessen geht er selbst nicht im-
mer von einer und derselben Erklärung aus. In der Ethik (B. 1. def. 6) be-
stimmt er Gott als das schlechthin unendliche Wesen und die Ursache sei-
ner selbst (causa swi) als dasjenige, dessen Wesen sein Dasein einschliefst
und zieht beide Begriffe erst im Verfolg der Beweise dergestalt in eins zu-
sammen, dafs beides die Substanz ist, die in sich ist und durch sich begrif-
fen wird.
9388 TRENDELENBURG
In den Briefen (ep. 39. 40. 41. vgl. 72) bestimmt er Gott unmittelbar
in derselben Weise, wie er in der Ethik zunächst die causa sui bestimmt,
so dafs Gott als das begriffen wird, zu dessen Wesen das Dasein gehört, und
leitet daraus ab, dafs Gott Einer ist, ewig, einfach, unendlich u. s. w.
Beides hängt indessen auf das Engste zusammen und läuft auf das-
selbe aus.
Es herrscht in dem ontologischen Beweise vom Dasein Gottes die
Ansicht, dafs sein Wesen nothwendiges Dasein einschliefse. Aus diesem Be-
griff folgert Spinoza, dafs Gott keine Unvollkommenheit in sich trage, son-
dern nur Vollkommenheit ausdrücke; denn alle Vollkommenheit liegt im
Sein und alle Unvollkommenheit in der Beraubung des Seins (ep. 40. 41).
Während Cariesius den Begriff des vollkommensten Wesens zum Grunde
legte und daraus das Dasein als Eine unter seinen Vollkommenheiten er-
schlofs: setzt Spinoza umgekehrt das nothwendige Dasein voraus und leitet
den Begriff des vollkommensten Wesens daraus ab. Da ferner Vollkom-
menheit Sein und Sein Macht ist, so hat das vollkommenste Wesen keine
Macht aufser sich; es ist aus eigener Macht da. Es nimmt darin der onto-
logische Anfang eine kosmologische Wendung. Denn die zufälligen Dinge
sind durch eine fremde Ursache. Gott ist das nothwendige Wesen und da-
her alles Sein und aufser ihm kein Sein.
Wird Gott nach der andern Erklärung (eth.I. def. 6) als das schlecht-
hin unendliche Wesen gefafst, so ist das Unendliche die Bejahung schlecht-
hin (eth. I, 8. schol. 1) und alles Endliche ist, inwiefern es bestimmt ist,
Verneinung, und was, darin Bejahung ist, das stammt aus jener Bejahung
schlechthin. Das Unendliche ist daher auch Bejahung des Daseins, oder,
was dasselbe ist, sein Wesen schliefst das Dasein ein.
Beide Erklärungen wollen also dasselbe. Wie der kosmologische Be-
weis im Gegensatz gegen die zufälligen Dinge ein nothwendiges Wesen sucht
und der ontologische das Dasein im Begriff Gottes findet: so verschmilzt
Spinoza beide Betrachtungen. Zwar beweist er nicht das Dasein Gottes;
denn seine metaphysischen Definitionen, eigentlich nur Namenerklärungen,
gelten ihm ohne Nachweis der innern Möglichkeit als Erklärungen eines
Wirklichen. Spinoza setzt den Begriff und folgert daraus weiter (vgl. eth.
1.7 und 1,19).
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 289
Aus Obigem ergiebt sich, dafs Gott das Nothwendige (1) und in die-
sem Sinne (I. def. 8. ep. 29) das Ewige ist.
Wir dürfen uns im Geist des Spinoza den Zusammenhang des Noth-
wendigen mit demjenigen, dessen Wesen das Dasein einschliefst, durch ein
Beispiel erläutern. Das Wesen des Dreiecks schliefst das Dasein von be-
stimmten Eigenschaften, die in ihm nothwendig sind, ein. Wenn ein Drei-
eck ist, so folgt aus seinem Wesen, dafs seine 3 Winkel=2R. sind. Was
in solchen Beispielen hypothetische Nothwendigkeit ist, — denn man kann
nicht sagen, das Wesen jener Eigenschaften schliefse ihr Dasein ein — das
ist in jener Definition Gottes absolute (?).
Das Nothwendige ist der leuchtende Punkt in Spinoza’s Gottesbe-
griff. Daher geschieht es denn auch, dafs etwas in seiner Nothwendigkeit
betrachten und auf Gott beziehen bei Spinoza dasselbe bedeutet (3), und
dafs das Begreifen d. h. die Einsicht in die Nothwendigkeit die intellec-
tuale Liebe Gottes erzeugt. Es ist der metaphysische Griff Spinoza’s, dafs
er das All unter diese Betrachtung des Nothwendigen falst. Gott, d.h.
das Nothwendige ist alles Sein und aufser ihm giebt es kein Sein. Daher
hängt er von keinem andern ab, sondern ist in sich gegründet und insofern
frei (eth. I, 17. ep. 60. 62).
Diese Nothwendigkeit ist in voller Übereinstimmung mit dem Grund-
gedanken nicht die Nothwendigkeit des Zweckes oder des das Sein bestim-
menden ursprünglichen Gedankens; — denn die Attribute des Denkens und
der Ausdehnung wirken nicht auf einander und der Zweck ist daher nur
5
eine menschliche Erfindung — sondern lediglich die Nothwendigkeit der
(') vgl. unter anderm eth. I, 17. schol. Das Deus agit und das ex sola divinae naturae ne-
cessitate sequi wird gleichbedeutend. Damit hängt auch zusammen, dafs Spinoza mit dem pas-
siven Ausdruck des Hervorgebrachten, der natura nazurata im Gegensatz zu der natura na-
Zurans die in sich ist und aus sich begriffen wird, das bezeichnet, was aus der Nothwendig-
keit der göttlichen Natur folgt. Natura naturans und natura naturata verhalten sich ohne
Zweifel zu einander wie constituens und consecutivum. Vgl. die Erklärung eth. I, 29. schol.,
wornach Erdmanns Ansicht (vermischte Aufsätze 1846. $.134), der sie wie richtige und ab-
stracte Auffassung unterschieden wissen will, zu ändern sein möchte.
(2) d. intell. emend. p.431. Rem..... necessariam (voco), cuius natura implicat contra-
dietionem, ut ea non existat.
(3) vgl. z.B. ep. 58: res in se spectatae vel ad Deum relatae.
Philos.- histor. Kl. 1849. Oo
290 TRENDELENBURG
wirkenden Ursache (vgl. ep. 60) (!), die mathematische Nothwendigkeit,
inwiefern die Mathematik aus der wirkenden Ursache das Wesen ihrer Ge-
genstände bestimmt und aus dem dergestalt bestimmten Wesen die Eigen-
schaften beweist (vgl. ep. 64).
Gott, das schlechthin Unendliche und in sich Nothwendige, ist ein
denkendes und ausgedehntes Wesen. Diese Attribute des Denkens und der
Ausdehnung werden von Spinoza nicht aus der Natur Gottes abgeleitet, son-
dern aus den endlichen Dingen dargethan, inwiefern sie Weisen sind, welche
Gottes Wesen auf eine bestimmte Art ausdrücken. Die endlichen Gedanken
und die endlichen ausgedehnten Dinge, die wir vorfinden, führen auf diese
und keine andere Attribute und der menschliche Geist, welcher der Begriff
des Leibes ist (corporis humani idea), ergiebt keine andere und drückt keine
andere aus (eth. II, 1 und 2. vgl. ep. 66).
An dieser Stelle liegt der Grundgedanke; und man darf es sich nicht
verschweigen, dafs an derselben Stelle eine Schwäche liegt. Denken und
Ausdehnung sind ohne Vermittelung aufgenommen und zwar nur indem die
endlichen Modi ins Unendliche übersetzt und erweitert werden. Spinoza
geht dabei, genau genommen, von der Erfahrung aus, obwol es Stellen giebt
(ep. 28. 41), in welchen es scheint, als ob die Attribute, inwiefern sie das
Wesen der Substanz ausdrücken, sich darin wie die Substanz verhalten sol-
len, dafs ihr Dasein von ihrem Wesen nicht verschieden ist, und dafs z. B.
die Ausdehnung nothwendiges Dasein in sich schliefst. Wo jedoch Spinoza
die Sache so fafst, setzt er diese Bestimmung, ohne sie abzuleiten. Fragt
man weiter, warum die Modi der Ausdehnung und die Modi des Denkens
unter sich in keinem Zusammenhang des Grundes stehen, sondern was in
der Ausdehnung vorgeht, nur aus der Ausdehnung, und was im Denken,
nur aus dem Denken soll begriffen werden (eth. II, 6): so stützt sich die
Antwort nur auf formale metaphysische Bestimmungen. Denken und Aus-
dehnung sind Attribute; aber Attribute drücken das Wesen der Substanz
aus, und können daher, da diese nur aus sich begriffen wird, gleicher Weise
nur aus sich selbst begriffen werden (eth. I, 10. demonstr.); denn sie sind
mit dem Wesen der Substanz eins. Indem also schlechtweg angenommen
(!) z. B. tractat. theologico polit. c.3. p.192. Per Dei directionem intelligo fixum illum et
immutabilem rerum ordinem sive rerum naturalium concatenationem.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 291
und gesetzt wird, dafs Denken und Ausdehnung in diesem Sinne Attribute
der Substanz sind, wird die reale Untersuchung abgeschnitten, ob Denken
und Ausdehnung wirklich nichts Gemeinsames haben, so dafs das eine we-
der aus dem andern begriffen werden noch auf das andere wirken könne
(eth.1, 3). In dieser wichtigsten aller Fragen kommt man mit blofsen De-
finitionen nicht fort, zumal wenn sie, wie bei Spinoza, eigentlich nur Na-
menerklärungen sind.
Dies Versäumnifs rächt sich auch durch Widersprüche in den Folgen,
welche schwerlich blofs Widersprüche im Ausdruck sind. In Ubereinstim-
mung mit seinem Grundgedanken lehrt Spinoza (ethic. I, 5): die Vorstel-
lungen der einzelnen Dinge haben nicht die wahrgenommenen Dinge zu ih-
rer Ursache, sondern Gott selbst, inwiefern er ein denkendes Wesen ist.
Die Bilder der Wahrnehmungen folgen also aus dem Attribut des Denkens
und nicht aus der Ausdehnung (!). Nach der gewöhnlichen Ansicht wirkt
in der Sinneswahrnehmung die materielle Ausdehnung auf die Vorstellung,
die ihr Abbild ist. Spinoza kann einer solchen Betrachtung keine Stelle ein-
räumen; denn er würde sonst eine Einwirkung des Einen Attributs auf das
andere setzen. Sollte indessen Spinoza’s Ansicht, dafs die Vorstellungen
nicht die wahrgenommenen Dinge, sondern Gott als denkendes Wesen zur
Ursache habe, siegen: so mufste Spinoza den Vorgang des Denkens dar-
stellen, der ohne Einwirkung des Dinges die Vorstellung desselben erzeuge.
Die blofse Definition thut’s nicht. Sie setzt, aber begründet nicht (?). Hin-
gegen fällt Spinoza bisweilen in die gewöhnliche Betrachtungsweise zurück
und spricht von Vorstellungen, welche im Gegensatz gegen die reinen aus
zufälligen Bewegungen des Körpers entspringen (°).
(') eth. I, 5. p.80: ..... rerum singularium ideae non ipsa ideata sive res perceptas pro
causa efficiente agnoscunt, sed ipsum Deum, quatenus est res cogitans. Vgl. ep. 42. p. 599. 600.
(2) eth. II. def. 3. Per ideam intelligo mentis conceptum, quem mens format, propterea
quod res est cogitans. Explic. Dico potius conceptum quam perceptionem, quia perceptionis
nomen indicare videtur, mentem ab obiecto pati. At conceplus actionem mentis exprimere vi-
detur. def. 4. Per ideam adaequatam intelligo ideam, quae, quatenus in se sine relatione ad
obiectum consideratur, omnes verae ideae proprietates sive denominationes intrinsecas habet.
Explic. Dico intrinsecas, ut illam sec/udarn, quae extrinseca est, nempe convenientiam ideae
cum suo ideato.
(°) de intell. emendat. p.441. ostendimusque quod ideae fictae, falsae et caeterae habeant
suam originem ab imaginatione, hoc est, @ quibusdam sensationibus fortuitis (ut sic loquar)
002
2392 TRENDELENBURG
So wenig als Spinoza nachgewiesen hat, dafs bestimmte Gestalten der
Dinge, wie die organischen, ohne den einwirkenden bildenden Gedanken
können begriffen werden: so wenig hat er nachgewiesen, dafs bestimmte Ge-
stalten des Denkens, wie die Vorstellungen der Dinge, ohne die einwir-
kende Ausdehnung zu verstehen sind.
Die unendliche Substanz stellt sich als unendliches Denken und un-
endliche Ausdehnung dar. Wie das Unendliche nichts aufser sich hat, von
dem es könnte bestimmt werden: so ist es auch durch nichts als durch sich
selbst bestimmt. Das Endliche hingegen ist durch ein Ding seiner Art be-
stimmt und begrenzt, der endliche Gedanke von einem andern Gedanken,
dieser wieder von einem andern, und so fort ins Unendliche; der endliche
Körper von einem andern Körper, dieser wieder von einem andern, und so
fort ins Unendliche. Die endlichen Gedanken, welche von einander ins
Unendliche bestimmt werden, bilden zusammen den unendlichen Verstand
Gottes (eth. II, 11. coroll. vgl. V,40). Die endlichen Körper, welche von
einander ins Unendliche bestimmt werden, bilden zusammen das Eine In-
dividuum der ganzen Natur (eth. II. lemma 7. schol. p. 94. vgl. eth. I, 28).
Dafs das Endliche ins Unendliche hinaus bestimmt wird, soll offenbar auf
die unendliche Substanz hinweisen (!).
In diesem Sinne wird Gott, die unendliche Substanz, zum unbeding-
ten Ganzen und die endlichen Dinge werden seine "Theile. Spinoza fafst sie
wiederholt unter diesen Gesichtspunkt z.B. epist. 15. p.500.(?) eth. II, 11.
Der menschliche Geist sei ein Theil des unendlichen Verstandes Gottes
atque solutis, quae non oriantur ab ipsa mentis potentia, sed a causis externis, prout corpus
sive somniando sive vigilando varios accipit motus. p.449. scopus itaque est claras et distinctas
habere ideas, tales videlicet quae ex pura mente et non ex fortuitis motibus corporis factae sunt.
(!) vgl. die Fassung V, 40. schol. Mens nostra, quatenus intelligit, aeternus modus cogi-
tandı est, qui alio aeterno cogitandi modo determinatur et hic iterum ab alio et sie in infini-
tum, ita ut omnes simul Dei aeternum et infinitum intellectum constituant. Vgl. ep. 29. geg.
d. Ende p.532, wo der Fortschritt der Ursachen ins Unendliche unter der Voraussetzung, dals
es ein Unendliches giebt, das aus sich nothwendiges Dasein hat, für nichts Unmögliches gilt.
(2) ep-15. p.500. Paul. Vides igitur qua ratione et rationem cur sentiam, corpus huma-
num partem esse naturae: quod autem ad mentem humanam attinet, eam etiam partem naturae
esse censeo, nempe quia statuo dari etiam in natura potentiam infinitam cogitandi, quae, qua-
tenus infinita, in se continet totam naturam obiective et cuius cogitationes procedunt eodem
modo, ac natura eius, nimirum idearum.
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 293
(vgl. de intell. emend. p. 441. eth. II. lemma 7. schol. p.94) ('). Die Theile
determiniren sich unter einander, während das Ganze, Ursache seiner selbst,
in sich unendlich und nichts aufser sich habend, undeterminirt ist (non de-
terminatum ep. 40). Das Unendliche wird wol nur darum seltener von Spi-
noza als Ganzes bezeichnet, weil wir nach sinnlicher Analogie mit dem Gan-
zen eine Vorstellung des Geschlossenen und daher Endlichen zu verknüpfen
pflegen. Es spricht jedoch ein Ausdruck wie eth. II. lemma 7. schol. deut-
lich genug, inwiefern dort die ganze Natur, die nichts ist als die Substanz
unter dem Attribut der unendlichen Ausdehnung gefafst, als Ein Indivi-
duum erklärt wird.
Indessen schliefst Spinoza an anderen Stellen diese Betrachtung der
Theile aus. Gott, lehrt er, dessen Wesen das Dasein einschliefst, ist un-
theilbar (indiwsibilis), denn sonst wäre er entweder auflösbar oder doch
nicht mehr einfach (ep. 40. 41). Theile setzen das Unendliche nicht zusam-
men, so wenig als eine Linie aus Punkten zusammengesetzt ist (eth. I, 15.
schol. vgl. ep. 29. p.528).
Beides scheint sich zu widersprechen. Um in Spinoza’s Sinne die
Ausgleichung zu finden, mufs auf Folgendes geachtet werden.
Spinoza will zweierlei vermeiden, indem er gegen die Theilung der
Substanz Einsage thut. Wenn man die Substanz aus Theilen zusammen-
setzte, so würden einmal die Theile zu dem Ursprünglichen und Ersten und
sie würden dadurch zweitens als für sich bestehend d.h. als Substanzen ge-
dacht (?). Beides gilt ihm für unmöglich. Der Satz, dafs das Unendliche
nicht theilbar ist, soll also heifsen, Theile werden weder zum Unendlichen
zusammengesetzt noch sind sie so abtrennbar, dafs sie selbst Substanzen
würden, wie etwa zwei Linien durch Theilung entstanden als solche selbst-
(') eth. II. lemma 7. schol. p. 94. ed. Paul. Et si sic porro in infinitum pergamus, facile
concipiemus totam naturam unum esse individuum, cuius partes, hoc est, omnia corpora infini-
tis modis variant, absque ulla totius individui mutatione.
(2) vgl. z.B. ep. 40. p. 592. Partes namque componentes natura et cognitione priores sint
oportet, quam id quod compositum est; quod in eo, quod sua natura aeternum est, locum non
habet. eth. I, 15. schol. Nam si substantia corporea ita posset dividi, ut eius partes realiter
distinetae essent; cur ergo una pars non posset annihilari, manentibus reliquis, ut ante, inter
se connexis? et cur omnes ita aptari debent, ne detur vacuum? Sane rerum, quae realiter ab
invicem distinetae sunt, una sine alia esse et in suo statu manere potest.
294 TRENDELENBURG
ständige Individuen mögen gedacht werden. Hält man diese Vorstellungen
von dem Begriff des Ganzen und der Theile fern, so ergiebt sich Spinoza’s
Sinn. In Bezug auf die Materie, die unendliche Ausdehnung,
drücklich: unde eius partes modaliter tantum distinguuntur, non autem rea-
liter. Wenn daher z. B. Spinoza lehrt (eth. IV, 4. dem.), die wirkliche
Macht des Menschen sei ein Theil der unendlichen Macht Gottes oder der
Natur: so mufs man dies so verstehen, dafs Gottes unendliche Macht alles
sagt er aus-
Sein ist und in ihr und von ihr untrennbar die Macht des Menschen nur als
eine Art und Weise derselben unterschieden wird.
Wir vollziehen diese Vorstellung in dem Attribute der Ausdehnung
ohne Schwierigkeit, indem wir das Continuum von Körper zu Körper fort-
setzen, so dafs die ganze Natur ein Individuum wird, dessen Theile, die
Körper, auf unendliche Weise wechseln, ohne dafs das ganze Individuum
sich verändert (eth. II. lemma 7. schol.). Das umfassende Unendliche bleibt,
indem sich die Theile darin bewegen.
Indessen fügt sich dieselbe Vorstellung in dem Attribute des Denkens
nicht so leicht. Wir sehen da kein ähnliches Continuum von Gedanken zu
Gedanken, so dafs sie wie Theile Ein Ganzes bilden könnten. Es müfsten
allen Körpern und ihren Lagen Gedanken entsprechen; aber den wirklichen
Dingen entsprechen nur zu geringem Theile wahre Gedanken. Der Mensch
denkt; aber unendlich mehr Wesen denken nicht. Wenn in Spinoza’s Geiste
Gott das Nothwendige ist, aber das Nothwendige aus dem Wesen des Gan-
zen stammıt: so mülste vor allem der Gedanke des unendlichen Ganzen in
der Einheit gefordert werden, aus welcher die Vielheit fliefst. Dies wäre
für Spinoza’s Gott das Selbstbewulstsein, das man in ihm öfter vermifst hat.
Soll alles aus der Nothwendigkeit der wirkenden Ursache folgen und sich
daher Verstand und Wille in Gott nicht scheiden können (eth. I, 17. schol.):
so wird es in Spinoza’s Sinne keine andere Persönlichkeit, kein anderes
Selbstbewufstsein Gottes geben können, als den Gedanken des unendlichen
Ganzen und der daraus herstammenden Nothwendigkeit. Wie aus dem We-
sen des Dreiecks die trigonometrischen Eigenschaften folgen und der mathe-
matische Verstand der Gedanke ihrer Nothwendigkeit ist: so folgen aus der
Natur der unendlichen Substanz die Dinge; in demselben Sinne als Gott
Ursache seiner selbst ist, ist er auch Ursache der Dinge (eth. I, 16. cor. 1.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 295
eth. I, 25. schol.) ('), und der Gedanke dieser alles umfassenden Nothwen-
digkeit wäre Gottes Bewulstsein.
Es fragt sich erstens, ob Spinoza dies lehrte und zweitens wie eine
solche Lehre zu den übrigen Theilen stimmt.
Was das Erste betrifft, so ist es bekannt, dafs das Selbstbewufstsein
"Gottes, die persönliche Einheit seines Wesens, im Verständnifs des Spinoza
eine Streitfrage ist. Wenn man sich darunter, wie im Menschen, Verstand
und Willen, und insbesondere beide nach Zweckbegriffen thätig, vorstellt:
fo ist diese Auffassung von Spinoza’s Lehre ausgeschlossen. Die Nothwen-
digkeit der wirkenden Ursache, welche es allein giebt, läfst keinen Willen
zu. Wenn man aber weiter geht, und den infinitus intellectus Dei insbeson-
dere nach einer Stelle eth. V, 40. schol. für nichts aufser den einzelnen
menschlichen Intellecten erklärt, so dafs sich die Idee des Wesens Gottes
und alles in ihm Begriffenen in Gott nicht findet, sofern er Substanz ist,
sondern sofern er das Wesen der sämtlichen endlichen Geister ausmacht
(vgl. z. B. Straufs Glaubenslehre, 1840. I. S. 508): so widersprechen einer
solchen Auffassung sowol der Zusammenhang des Grundgedankens als ein-
zelne ausdrückliche Bestimmungen Spinoza’s.
Gottes Macht zu denken ist seiner wirklichen Macht zu wirken gleich.
Was aus der unendlichen Natur Gottes in der Wirklichkeit folgt, das folgt
alles in Gott aus Gottes Begriff und zwar in derselben Ordnung und der-
selben Verbindung als Gedanke (*). Hiernach entsprechen allen wirklichen
Dingen, also auch solchen, welche von den endlichen Geistern nicht ge-
dacht oder irrig gedacht werden, (und deren sind unzählig viele), wah-
re Gedanken in Gott, inwiefern sie in demselben Zusammenhang stehen,
in welchem die Dinge aus Gottes unendlicher Natur fliefsen. Wenn nach
dem Grundgedanken unendliches Denken und unendliche Ausdehnung nur
die verschiedenen Ausdrucksweisen Einer und derselben Substanz sind, so
(') eth. I, 25. schol. eo sensu, quo Deus dicitur causa sui, eliam omnium rerum causa di-
cendus est.
(2) eth. II, 7. coroll. Hinc sequitur quod Dei cogitandi potentia aequalis est ipsius actualı
agendi potentiae. Hoc est: Quidquid ex infinita Dei natura sequitur formaliter, id omne ex
Dei idea eodem ordine eademque connexione sequitur in Deo obiective, d.h. als Gegenstand
des Denkens. Vgl. über den veränderten Sprachgebrauch die Anm. zu des Vf. elementa logi-
ces Aristoteleae $ 1.
296 TRENDELENBURG
mufs in Gott jede Nothwendigkeit der Dinge, wie seine eigene, in der Noth-
wendigkeit eines Gedankens ihren Ausdruck haben.
Mehr kann man von Spinoza nicht verlangen. Was wir sonst Selbst-
bewufstsein nennen, schliefst eine Empfindung des Ich ein, um die es sich
in Gott nicht handelt. Wenn man noch den Gedanken des Gedankens (das
Bewufstsein des Gedankens) fordert, so ist dieser dem Spinoza mit dem sich
selbst offenbarenden Gedanken eins (eth. II, 21. schol. II, 43. schol.) (!).
Indem Gott die Nothwendigkeit seines Wesens weils, so weils er auch da-
mit dies Wissen; denn sonst wülste er in seinem Wesen etwas noch nicht.
Im Besondern spricht sich bei Spinoza diese Ansicht öfter aus. In
Gott giebt es nothwendig, heifst es im 3" Lehrsatz des zweiten Buchs, einen
Begriff sowol seines Wesens, als alles dessen, was aus seinem Wesen noth-
wendig folgt (?). Gott wirkt mit derselben Nothwendigkeit, mit welcher
er sich begreift (eth. II, 3. shol.) (*). Alle Vorstellungen, die in Gott sind,
kommen mit ihrem Gegenstande überein (eth. II, 32. dem.), ein Ausspruch,
der unmöglich wäre, wenn Gottes unendlicher Verstand nur die endlichen
Gedanken wäre; denn dann ständen Vorstellung und Gegenstand noch viel
öfter in Widerspruch. In Gott giebt es eine adaequate Erkenntnifs der Welt-
ordnung, heifst es an einer andern Stelle (eth. II, 30. dem.) (*), inwiefern
er die Vorstellung aller Dinge und nicht inwiefern er blos die Vorstellung
(') eth. II, 21. schol. Simulac enim quis aliquid seit, eo ipso scit, se id scire et simul seit,
se scire, quod seit et sic in infinitum. Vgl. de intell. em. p. 425.
(2) eth. IL, 3. schol. In Deo datur necessario idea tam eius essentiae, quam omnium, quae
ex ipsius essentia necessario sequuntur, vgl. II, 8.
(>) eth.II, 3. schol. ostendimus (1,16), Deum eadem necessitate agere, qua se ipsum intelligit,
hoc est, sicuti ex necessitate divinae naturae sequitur (sicut omnes uno ore statuunt) ut Deus
se ipsum intelligat, eadem etiam necessitate sequitur, ut Deus infinita infinitis modis agat. Vgl.
epist. 22. 49. 60. Vergleicht man diese Stellen, so wird man sich überzeugen, dals das deum
se ipsum intelligere nicht blos aus der Vorstellung der Menschen aufgenommen ist, sondern
in dem angegebenen Sinne zur Lehre des Spinoza gehört.
(*) eth. II, 30. dem. p.107. Qua autem ratione res constitutae sint, eius rei adaequata co-
gnitio datur in Deo, quatenus earum omnium ideas et non quatenus tantum humani corporis
ideam habet. In Gott also giebt es eine adaequate Erkenntnils aller Dinge; in den Menschen
von vielen Dingen nicht einmal eine inadaequate. Es ist in solchen Stellen ein Verständnils un-
möglich, wenn man in Gott keine andern Gedanken annimmt, als die Gedanken der endlichen
Geister, wenn man in Spinoza die moderne Lehre hineinlegt, dals Gott sich erst im Menschen
bewulst wird.
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 397
des menschlichen Leibes hat. Vorstellungen, welche im Geiste inadaequat
sind, sagt Spinoza anderswo (eth. III, 1. dem.), sind in Gott adaequat, inwie-
fern er auch die Geister der übrigen Dinge in sich zumal enthält (!). Offenbar
würden Irrthümer in uns nimmer in Gott zur Wahrheit werden, wenn Gott
das Nothwendige nicht in sich erkennete. Endlich liebt Gott sich selbst,
wie Spinoza lehrt (eth. III, 35), mit unendlicher intellectualer Liebe; denn
da die Vorstellung seiner selbst als seiner Ursache sein unendliches Sein be-
gleitet, so entsteht die intelleetuale Liebe Gottes zu sich selbst (2).
Auf diese Weise kann es nicht ungewils sein, was Spinoza meinte
und nach dem Grundgedanken der beiden Attribute meinen mufste. Und
doch entsprechen sich, genauer genommen, die beiden Attribute, unend-
liches Denken und unendliche Ausdehnung, einander nicht so, wie sie sich
in eigener Absicht entsprechen mülsten. Die unendliche Ausdehnung ist
keine andere als der Inbegriff der endlichen Körper, ihrer Modi; aber das
unendliche Denken kann nicht in gleicher Weise, wie es sein müfste, die
endlichen Gedanken sein und darin aufgehen; während es die unwahren
von sich ausschliefsen mufs, nimmt es zwar die wahren, als ewige Weisen
des Denkens, in sich auf; aber das unendliche Denken, die Nothwendigkeit
des Ganzen, welche die Nothwendigkeit der Theile in sich trägt, ist ein an-
derer Gedanke als der Gedanke von vereinzelten und zerstreueten wahren
Gedanken, die nur die lückenhafte Erkenntnifs einzelner Theile darstellen.
Wir sind nach Spinoza Theile eines denkenden Wesens (alicuius entis
cogitaniis, de intell. emend. p. 441. vgl. ep. 15. p.500). Aber unsere Ge-
danken sind ebenso irrig als wahr und noch mehr irrig als wahr. Wie stel-
len wir uns diese irrigen Gedanken als Theile des vollkommen denkenden
Wesens vor? und wenn nur die wahren den unendlichen Verstand Gottes
ausmachen, wo bleiben die irrigen? In den endlichen Geistern sind die wah-
ren Gedanken Bruchstücke. Wenn nun die unendliche Ausdehnung keine
andere ist, als diejenige, welche durch die endlichen Körper hindurchgeht:
(‘) eth. II, 1. dem. p.133. ..... quae — inadaequatae sunt in mente (ideae), sunt etiam
in Deo adaequatae, non quatenus eiusdem solummodo mentis essentiam, sed eliam quatenus
aliarum rerum mentes in se simul continet. Es giebt also in Gott eine Vorstellung, die im
Gegensatz gegen die vereinzelten Vorstellungen das Zusammenwirken der Dinge begreift.
(?) eth. V, 35. dem. Dei natura gaudet infinita perfectione idque concomitante idea sui, hoc
est, idea suae causae.
Philos.- histor. Kl. 1849. Pp
298 TRENDDLENBURG
so müfste auch der göttliche Gedanke kein anderer sein, als derjenige, wel-
cher durch die endlichen Geister hindurchgeht. Aber dann läuft der un-
endliche Gedanke Gefahr sich mit Irrthum zu versetzen und im Endlichen
zu Bruchstücken ohne Zusammenhang zu werden.
Es gilt vom Gedanken wie von der Ausdehnung, dafs Gott alles Sein
ist und aufser ihm kein Sein. Wo bleiben denn die irrigen Gedanken der
endlichen Geister, die in dem unendlichen Denken keine Stelle haben
können?
Diese Frage greift schon in eine andere Seite ein. Wir betrachteten
zuerst den Begriff Gottes, die eigentliche metaphysische Seite des Systems.
Es handelt sich nun zweitens von der Erkenntnifs des Menschen und es
kommt dabei zunächst auf das Wesen und den Ursprung von Vorstellen und
Begreifen, imaginari und intelligere an, auf den Gegensatz jener Begriffe,
in welchen Knechtschaft und Befreiung des menschlichen Geistes beschlos-
sen liegt. Wir müssen sie daher untersuchen, und zu dem Ende zunächst
fragen, wie Spinoza ihr Wesen und ihr gegenseitiges Verhältnifs bestimme.
An vielen Stellen spricht Spinoza von der blofsen Erkenntnifs des
reinen Verstandes und setzt sie der Vorstellung in Bildern nnd Worten ent-
gegen (1). Es ist dadurch gesagt, was sie nicht ist, und zugleich angedeutet,
dafs der Grund ihres Wesens in dem zu suchen ist, was über das Bild hin-
ausliegt. Jedes Bild ist endlich; die Betrachtung des reinen Verstandes ist
das Unendliche. Wo das Unendliche, das keine Vorstellung erreicht, die
Bedingung der Erkenntnifs ist, da offenbart sich der Verstand (intellectus).
Daher ist Gott, die unendliche Substanz, die Ursache seiner selbst, allein
ein Begriff des Verstandes. Wenn wir in demselben Sinne die körperliche
Substanz und die Quantität als unendlich und ewig und daher nicht als ge-
theilt und beschränkt auffassen, so fassen wir sie als Attribut Gottes adae-
quat; wir stellen sie dann nicht unserer Einbildung vor, sondern begreifen
sie (?). Es kommt daher darauf an, diese Betrachtung zur Grundlage zu
(!) z.B. tractatus theologico politicus ce. 4. p. 214. ed. Paul.: tum enim res intelligitur, cum
ipsa pura mente ewzra verba et imagines percipitur. vgl. epist. 42. p. 600. sola puri intelle-
ctus cognitio. ep. 29. p.529. de intell. emend. p. 447 u. s. w.
(2) eth. I, 15. schol. p. 50. Si itaque ad quantitatem attendimus, prout in imaginatione est,
quod saepe et facilius a nobis fit, reperietur finita, divisibilis et ex parlibus conflata; si autem
ad ipsam, prout in intellectu est, attendimus et eam, qualenus substantia est, concipimus, quod
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 299
machen; und wenn Spinoza drei Stufen der Erkenntnifs unterscheidet, so
geschieht dies auf jener dritten Stufe, auf welcher die Erkenntnifs von dem
adaequaten Begriff der Attribute Gottes zu dem adaequaten Begriff des We-
sens der Dinge fortschreitet. Spinoza nennt diese Stufe offenbar darum in-
tuitive Erkenntnifs, weil sie von dem Blick des einfachen Ganzen bestimmt
wird (!). Es liegt an dieser Stelle der Grund alles Nothwendigen, denn
Gott ist das Nothwendige. Daher gilt intelligere und res sub specie aeterni
contemplari dem Spinoza für gleichbedeutend.
Nach dem oben angegebenen Zusammenhang folgt noch mehr, inwie-
fern alles Endliche, sei es Körper oder Gedanke, als Theil des Unendlichen
betrachtet wird, und also das Unendliche das Ganze ist, auf welchem die
Nothwendigkeit beruht. Denn was nun auf gleiche Weise im Theil wie im
Ganzen erkannt wird, bildet einen adaequaten Begriff des Geistes (?). Da-
hin gehört namentlich die Erkenntnifs des ewigen und unendlichen Wesens
Gottes, weil sie auf gleiche Weise im Theil als im Ganzen liegt und die
Möglichkeit, dafs jeder der intuitiven Erkenntnifs theilhaft werden kann (°).
Da unser Gedanke und unser Leib ein Theil des Ganzen ist und mithin in
ihm das Ganze sich fortsetzt: so stammen daher unsere wahren Allgemein-
begriffe (notiones communes), welche die Grundlagen unsrer Schlüsse sind.
Sie sind die eigene Macht des Geistes, an der alle Theil haben (*), und
unterscheiden sich von den Universalien, welche verworrene Vorstellungen
sind und dann entstehen, wenn sich die Bilder des Einzelnen zu unbestimm-
diffieillime fit, tum, ut iam satis demonstravimus, infinita, unica et indivisibilis reperietur. Vgl.
besonders ep. 29.
(!) eth. II, 49. schol. 2.
(2) eth. II, 38. Illa, quae omnibus communia quaeque aeque in parte ac in tolo sunt, non
possunt coneipi nisi adaequate. II, 44. coroll. 2. demonstr. Adde quod fundamenta rationis
notiones sunt, quae illa explicant quae omnibus communia sunt quaeque nullius rei singularis
essentiam explicant; quaeque propterea absque ulla temporis relatione sed sub quadam aeter-
nitatis specie debent concipi.
(2) eth. II, 46. dem. p. 120. — id, quod cognitionem aeternae et infinitae essentiae Dei dat,
omnibus commune et aeque in parte ac in toto est, adeoque erit haec cognitio adaequata. vgl.
II, 47. schol. ... sequitur, nos ex cognitione hac plurima posse deducere, quae adaequate co-
gnoscamus atque adeo tertium illud cognitionis genus formare. tractat. theol. polit. e. 1. p. 157.
(*) de intell. emend. p. 456. vı. Ideae, quas claras et distinctas formamus, ita ex sola ne-
cessitate nostrae naturae sequi videntur, ut absolute a sola nostra potentia pendere videantur;
confusae autem contra. Nobis enim invitis saepe formantur. vgl. ep. 42. p. 600.
Pp2
300 TRENDELENBURG
ten Gemeinbildern vermengen (!). Während diese ein Erzeugnifs der Ima-
gination sind, inwiefern sie unvermögend ist, viele Bilder des Einzelnen ne-
ben einander vorzustellen, gehören jene dem Intellectus an und sind die
Bedingungen alles Begreifens. Man darf daher dies Wesen der Dinge nicht
mit abstracten Vorstellungen vermengen, welche aus vager Erfahrung ent-
stehen, sondern man mufs von dem Quell und Ursprung der Natur aus-
gehen (?). In demselben Sinne tadelt z.B. Spinoza die Ansicht des Baco,
nach welcher der menschliche Verstand alles nach der Analogie der eige-
nen Natur und nicht nach der Analogie des Universums bilde (?). Wenn
es auch weit über die Kräfte des menschlichen Verstandes hinausgeht, alles
zugleich und zumal aufzufassen, wie im Ewigen seiner Natur nach alles zu-
mal ist (*): so betrachtet doch der Verstand die Dinge in demselben Mafse
klar und deutlich, als er sie von innen d. h. mehrere Dinge zugleich auf-
fafst (°). In dieser Bestimmung, die Dinge zugleich aufzufassen, stellt sich
äufserlich die Richtung auf das Ganze dar. Dieselbe Richtung erscheint in
einer andern Beziehung. Weil alle Verwirrung daraus hervorgeht, dafs der
Geist eine ganze Sache nur zum Theil kennt: so kann es folglich von einem
einfachen Dinge nur eine klare und deutliche Vorstellung geben; denn ein
solches Ding kann nicht theilweise, sondern entweder ganz oder gar nicht
erkannt werden. Das Einfache wird daher begriffen (°). Es hängt damit
zusammen, dafs die Substanz, deren Wesen das Dasein in sich schliefst, der
eigentliche Gegenstand des Begreifens (intelligere), aus ihrem Begriff als ein-
fach bestimmt wird (7). Als Begriffe, welche allein durch den Verstand und
(‘) eth. II, 40. schol. 1.
(2) de intell. emend. p.442. Oritur denique (deceptio) eliam ex eo, quod prima elementa
totius naturae non intelligunt; unde sine ordine procedendo et naturam cum abstraetis, quam-
vis sint vera axiomata, confundendo se ipsos confundunt ordinemque naturae pervertunt. No-
bis autem, si quam minime abstracte procedamus et a primis elementis, hoc est, a fonte et ori-
gine naturae, quam primum fieri potest, incipiamus, nullo modo talis deceptio erit metuenda.
(3) epist. 2. p. 452.
(*) de intell. emend. p.453.
(5) eth. II, 29. schol. ... quoties interne, ex eo scilicet quod res plures simul contempla-
tur, determinatur ad earundem convenientias, differentias et oppugnantias intelligendum, ....
2... res clare et distinete contemplatur.
(°) de intell. emend. p. 437 sqgq.
(7) epist. 40. p. 592.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 301
nicht durch die Vorstellung erreicht werden können, bezeichnet Spinoza
beispielsweise sudstantia, aeternitas ('), welche das Unendliche ausdrücken,
aber weder enwickelt er noch entwirft er vollständig die Begriffe des reinen
Verstandes. Da alle klare und deutliche Vorstellungen, welche wir bilden,
aus andern klaren und deutlichen Vorstellungen, welche in uns sind, stam-
men, und keine andere äufsere Ursache kennen: so hängen sie allein von
unserer Natur und ihren festen Gesetzen d.h. von unserer Macht und nicht
vom Zufall ab (?). Der Verstand bildet einige Vorstellungen ursprünglich,
andere aus andern, z. B. die Vorstellung der Quantität ursprünglich, unab-
hängig von andern Vorstellungen, hingegen die Vorstellung der Bewegung
nur dadurch, dafs er auf die Vorstellung der Quantität achtet. Die Vor-
stellungen, welche er ursprünglich bildet, drücken die Unendlichkeit aus,
während er die begrenzten und endlichen (ideas determinatas) aus andern
bildet, und da sie nicht ursprünglich sind, auf mannigfache Weise ableitet.
Indem nun das Unendliche schlechthin die Bejahung des Daseins ist und
das Endliche theilweise Verneinung (eth. I, 8. schol.): so bildet er die be-
jahenden Vorstellungen früher, als die verneinenden (°).
Durch den Gegensatz gegen den intellectus ergiebt sich schon die Na-
tur der imaginatio als einer Quelle der inadaequaten Vorstellungen. Wenn
der intellectus da sein Wesen hat, wo es sich um das Unendliche handelt,
so bewegt sich die imaginatio nur im Endlichen. Wenn der intellectus das
ungetheilte und einfache Sein erfalst, so betrachtet die imaginatio das Sei-
ende nur in der Weise des Theils. Während die adaequate Vorstellung,
vom Intellectus ausgehend, das Gemeinsame zum Gegenstand hat, was auf
gleiche Weise im Theil wie im Ganzen gilt (aeque in parte ac in toto): ent-
steht die inadaequate Vorstellung, wenn nur der Theil betrachtet wird. Da-
her gilt es gleich, eine Sache nur zum Theil oder inadaequat auffassen. Dies
geschieht dann, wenn wir nicht blos eine Vorstellung haben, welche das
Wesen des menschlichen Geistes ausmacht, sondern welche zugleich mit
dem menschlichen Geiste auf ein fremdes Ding geht (*), wenn also nicht
(!) epist. 29. p. 529.
(2) epist. 42. p.599. vgl. de intell. emend. p. 440.
(3) de intell. emend. p. 455, wo Spinoza zum Schluls das Eigenthümliche des inzelleetus
zusammenfalst.
(°) eth. II, 11. coroll. Hinc sequitur mentem humanam partem esse infiniti intellectus Dei;
302 TRENSDELENBURG
der Theil aus dem Ganzen, sondern nur ein Theil mit einem andern auf-
gefafst wird. Indem das Getheilte und Endliche Gegenstand der Imaginatio
ist, wird Zahl und Mafs zu nichts anderm, als zu Weisen des Imaginirens;
denn sie dienen dazu, die Affectionen der Substanz zu determiniren (!); sie
sind die Hülfsmittel der Imaginatio,; und wer aus ihnen die Substanz, die
nur dem Intellectus zugänglich ist, verstehen und den Fortschritt der Natur
begreifen will, verwickelt sich in Ungereimtheiten und Widersprüche. Wäh-
rend der Intellectus die Dinge als nothwendig und in der Weise des Ewigen
fafst, stammt aus der Imagination das Zufällige, die conlingentia im Gegen-
satz gegen die aefernitas. Es ist die Sache der Vernunft, die Dinge nicht als
zufällig,
tion, wenn dieselbe Sache in verschiedener Zeit wahrgenommen wurde, eine
sondern als nothwendig zu betrachten. Aber inwiefern die Imagina-
verschiedene Erwartung der Zeit mit der Sache verknüpft und ihr daher
die Vorstellung der Zeit schwankt: so entsteht die Vorstellung des Zufäl-
ligen (?). Während die klaren und deutlichen Vorstellungen des Intellectus
allein von dessen Macht und Natur abhängen und insofern in sich wahr sind:
so tritt der Geist, wenn er imaginirt, vielmehr in das Verhältnifs eines Lei-
denden, indem zufällige und vereinzelte Sinneswahrnehmungen das Bestim-
mende werden (?). Es entsteht eine verworrene Vorstellung, so oft der Geist
ac proinde cum dieimus, mentem humanam hoc vel illud percipere, nihil aliud dicimus, quam
quod Deus, non quatenus infinitus est, sed quatenus per naluram humanae mentis explicatur sive
quatenus humanae mentis essentiam constiluit, hanc vel illam habet ideam ; et cum dicimus Deum
hanc vel illam ideam habere, non tantum, quatenus naturam humanae mentis constituit, sed qua-
tenus simul cum mente humana alterius rei etiam habet ideam, tum dieimus mentem humanam
rem ex parte sive inadaequate percipere.
(') epist. 29. p. 529. Ex quibus clare videre est, mensuram, tempus et numerum nihil esse
praeter cogitandi seu potius imaginandi modos; und bald darauf: auxilia imaginationis, vgl.
ep. 40. p. 592. ep. 41. p. 595 sq., woraus erhellt, dafs der Begriff des Theils nicht in Gott, also
nicht in der Wahrheit der Substanz gedacht werden kann.
(2) eth. II, 44. coroll. 1. Hinc sequitur a sola imaginatione pendere, quod res tam respectu
praeteriti quam futuri ut contingentes contemplemur. In dem angefügten Scholion wird die
Vorstellung des Zufälligen eigentlich aus dem Gesetze der später sogenannten Ideenassoeiation
abgeleitet. Wenn eine Sache öfter und zwar zu verschiedenen Zeiten wahrgenommen ist, so
schwankt die Vorstellung der Zeit in der Erinnerung und Erwartung. Indem die bestimmte
Zeit gegen das Ding gleichgültig wird, erscheint es als zufällig.
(°) de intell. emend. p. A441. ostendimusque quod ideae fictae, falsae et caeterae habeant
suam originem ab imaginatione, hoc est, a quibusdam sensationibus fortuitis (ut sic loquar)
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 303
von aufsen, nämlich aus dem zufälligen Zusammentreffen der Dinge dies
oder jenes zu betrachten bestimmt wird, und nicht vielmehr von innen, in-
dem er mehrere Dinge zugleich betrachtet, um ihre Übereinkunft und ihre
Unterschiede zu verstehen ('). Wie die Vorstellungen inadaequat werden,
weil sie statt des Ganzen nur einen Theil fassen: so geschieht dies dadurch,
dafs wir uns selbst nur als Theile verhalten. Wenn es, sagt Spinoza, zur
Natur eines denkenden Wesens gehört, wahre oder adaequate Gedanken zu
bilden: so ist es gewifs, dafs die inadaequaten Vorstellungen nur daraus in
uns entstehen, weil wir ein Theil sind eines denkenden Wesens, von dem
einige Gedanken ganz, andere nur theilweise unsern Geist ausmachen (2).
Die Vorstellungen sind daher nur inadaequat und verworren, inwiefern sie
nicht auf Gott, d.h. das Nothwendige und Ganze, sondern lediglich auf den
einzelnen Geist eines Menschen bezogen werden (°).
Nach diesem Zusammenhang geht alles Verständnifs auf das Ganze,
aller Irrthum auf den Theil zurück. Es fragt sich daher, was der Theil im
System des Spinoza bedeuten könne. Es giebt nur Eine Substanz; und da-
her sind die Theile nichts Wirkliches in sich, sondern werden nur als Art
und Weise an der Substanz unterschieden (*). In der sich fortsetzenden
Verkettung der wirkenden Ursache giebt es keinen Theil, der etwas für sich
atque solutis, quae non oriuntur ab ipsa mentis potentia, sed a causis externis, prout corpus
sive somniando sive vigilando varios accipit motus. p.449. scopus itaque est claras et distin-
ctas habere ideas, tales videlicet quae ex pura mente et non ex fortuitis motibus corporis factae
sunt. p. 447....animam circa imaginationem tantum habere rationem patientis. Vgl. eth. IV.
app- c. 2. p. 259.
(!) eth. II, 29. schol. ... sed confusam tantum cognitionem — quoties ex communi naturae
ordine res percipit, hoc est, quoties externe, ex rerum nempe fortuito occursu, determinatur ad
hoc vel illud contemplandum et non quoties interne, ex eo scilicet quod res plures simul con-
templatur, determinatur ad earundem convenientias, differentias et oppugnantias intelligendum;
quoties enim hoc vel alio modo interne disponitur, tum res clare et distincte contemplatur.
(2) de intell. emend. p.441. Quod si de natura entis cogitantis sit, uti prima fronte vide-
tur, cogilationes veras sive adaequatas formare, certum est, ideas inadaequatas ex eo tantum in
nobis oriri, quod pars sumus alicuius entis cogitantis, cuius quaedam cogitationes ex toto, quae-
dam ex parte tantum nostram mentem constituunt.
(2) eth. II, 36. dem. Ideae, quatenus ad Deum referuntur, sunt verae, adaequatae; adeoque
nullae inadaequatae nec confusae sunt, nisi quatenus ad singularem alicuius mentem referuntur.
(*) vgl. z.B. eth. I, 15. schol. p.50. unde eius (materiae) partes modaliter tantum distin-
guuntur, non autem realiter.
304 TRENDELENBURG
sein könnte. Und doch ist in dieser Verbindung dem Theil als solchen eine
wichtige Wirkung zugeschrieben, die verwirrende Thätigkeit des Irrihums.
Wie ein Theil, der in sich keine Sache ist, sondern nur als Art und Weise
unterschieden wird, dennoch diese Kraft habe: das hätte wol der Erörte-
rung bedurft.
Es ist die imaginatio dem intelleeius, die Vorstellung im Bilde dem
Begriffe entgegengesetzt. Wenn aus jener, inwiefern sie für sich thätig ist,
die inadaequate Weise der Erkenntnifs stammt, so giebt es doch auch Vor-
stellungen der Imagination, welche mit dem Intellectus übereinkommen (t).
Es sind offenbar diejenigen Vorstellungen, die in demselben Verhältnifs aus
einander folgen, als in den Gegenständen die Wirkung aus der Ursache.
Hiernach hat nothwendig die imaginatio auch ein positives Verhältnifs zum
intellectus, und sie wird nicht einseitig nur an verworrenen Vorstellungen
schuld sein, sondern sie wird auch klare und deutliche zulassen oder er-
zeugen. Die Imagination des Geistes in sich betrachtet, sagt Spinoza (eth.
II, 17. schol.), enthält keinen Irrthum, sondern nur inwiefern sie die Dinge,
welche sie sich als gegenwärtig vorstellt, als wirklich setzt und dabei der
Vorstellung entbehrt, welche dies Dasein verneint. Denn wenn der Geist,
indem er sich, was nicht da ist, als gegenwärtig vorstellt, zugleich wüfste,
dafs jene Dinge in Wahrheit nicht da sind: so würde er eine solche Kraft
zu bilden sich zur Tugend und nicht zum Fehler anrechnen; insbesondere
wenn dieses Vermögen zu bilden von seiner Natur allein abhinge d.h. wenn
die Imag
8
Imagination diese freie Kraft ist, Bilder entwerfend, ohne, was sie vorstellt,
ination des Geistes frei wäre (?). Wenn wir fragen, wo denn die
als ein daseiendes Ding zu setzen: so müssen wir, scheint es, an das mathe-
matische Gebiet denken, auf welchem das Bild der Vorstellung mit dem Be-
(!) de emend. intell. p. 447. nec etiam mirabimur, cur quaedam intelligamus, quae nullo
modo sub imaginationem cadunt, et alia sint in imaginatione, quae prorsus oppugnant intel-
lectum, alia denique cum intellectu conveniant.
(e)Fethll, Ar schol@p.98.2........ notetis velim, mentis imaginationes in se spectatas nihil
erroris conlinere, siye mentem ex eo, quod imaginatur, non errare; sed tantum, quatenus con-
sideratur, carere idea, quae existentiam illarum rerum, quas sibi praesentes imaginatur, secludat.
Nam si mens, dum res non existentes ut sibi praesentes imaginatur, simul sciret res illas revera
non existere, hanc sane imaginandi potentiam virtuti suae nalurae, non vitio tribueret; prae-
sertim si haec imaginandi facultas a sola sua natura penderet, hoc est, si haec mentis imagi-
nandi facultas libera esset.
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 305
griff des Verstandes in Übereinstimmung zu kommen vermag. Indem der
Verstand die unendliche Quantität unter dem Begriff der Ursache auffafst,
wie z. B. wenn er sie durch die Bewegung eines Punktes determinirt: bil-
det er durch die Imagination klare und deutliche Vorstellungen (vgl. de in-
tell. emend. p.455 f.). Spinoza hat oft genug auf die Mathematik, welche
die Lehrmeisterin des Nothwendigen sei, hingewiesen, und wir haben da-
durch in seinem Sinne das Recht, Zahl und Mafs, wenn sie von ihm für
Hülfsmittel der Imagination, für Weisen des Entwerfens (modi imaginandi)
erklärt werden, dessenungeachtet nicht für Ursachen der verworrenen Vor-
stellungen zu halten. Wir sind indessen zu einem Punkt gelangt, auf wel-
chem der Zusammenhang abbricht. Spinoza hat weder gesagt, wie sich der
Begriff zum Bild, der intellectus zur imaginatio verhalte, noch auch wie das
Unendliche sich zum Endlichen determinire. Der Verstand (intelleetus), sagt
Spinoza (de intell. emend. p.455), bildet die positiven Vorstellungen früher
als die negativen. Es ist dies folgerecht, da die Substanz, sein eigentlicher
Gegenstand, unendlich ist und das Unendliche, welches durch und durch
Bejahung ist, keine Verneinung in sich trägt. Aber Spinoza zeigt nicht, wie
denn der Verstand vom Unendlichen zum Endlichen, von den positiven
Vorstellungen zu der Begrenzung der negativen übergehe. Wenn in der Fi-
gur der Verstand die unendliche Quantität als determinirt durch die Bewe-
gung z. B. eines Punktes auffafst, so ist doch nirgends nachgewiesen, woher
er die Bewegung habe (1) und wie die Bewegung oder irgend etwas anderes
das Unendliche und nur Positive determiniren könne. Ebenso wenig zeigt
Spinoza, wie die unendliche Substanz dazu komme sich in das Endliche zu
fassen. Jede Bestimmung ist dem Spinoza Verneinung. Omnis determinatio
negatio. Wenn das Unendliche, die absolute Bejahung des Daseins, alle
Verneinung von sich ausschliefst (vgl. z.B. eth. I, 8. schol. 1): so hätte ge-
zeigt werden müssen, woher dennoch die Besonderung und Bestimmung
zum Endlichen stamme (?). Weil das Prineip der Unterscheidung in der
(') Auch in den Körpern ist dieser wichtige Begriff als durch sich bekannt vorausgesetzt
und auf keine Weise abgeleitet. s. eth. II. nach prop. 13. lemma 1. dem. p. 90.
(2) Noch im Jahre vor seinem Tode antwortet Spinoza auf die Frage, wie sich aus der
Ausdehnung die Mannigfaltigkeit der Dinge ableiten lasse, sehr unbestimmt. Sed de his forsan
aliquando, si vita suppetit, clarius tecum agam. Nam hucusque nihil de his ordine disponere
mihi licuit. epist. 72. p. 680.
Philos. - histor. Kl. 1849. Qq
306 TRENDELENBURG
Einheit des Realen fehlt, so ist auch das rechte Verhältnifs der imaginatio
zum intellectus nicht erkannt. Beides hängt genau zusammen. Inwiefern die
adaequaten Vorstellungen aus demjenigen stammen, was allem gemein und
gleicher Weise im Ganzen wie im Theil ist, erreichen sie das eigenthümliche
Wesen des Einzelnen nicht; denn Spinoza lehrt ausdrücklich (eth. II, 37),
was allem gemeinsam und gleicher Weise im Ganzen und im Theil ist, bil-
det von keiner einzelnen Sache das Wesen.
Im Vorstehenden ergab sich eine Lücke. Es fehlt der Zusammenhang
zwischen dem Begriff und dem Bilde, dem intellectus und der imaginalio;
es fehlt aber damit die Erklärung der verworrenen und irrigen Vorstellung
in der Consequenz des Systems. Dessenungeachtet lehrt Spinoza (!), dafs
die inadaequaten und verworrenen Vorstellungen mit derselben Nothwen-
digkeit folgen, als die adaequaten. Denn alle Vorstellungen sind in Gott.
Um den Parallelismus des Grundgedankens, die neben einander lau-
fenden Vorgänge im Denken und in der Ausdehnung, welche einander ent-
sprechen müssen, weil sie nur der verschiedene Ausdruck Einer und der-
selben Substanz sind, folgerecht festzuhalten, hat Erdmann (?) die Lehre
von den einfachen und zusammengesetzten Körpern und deren Bewegung,
welche Spinoza nur lemmatisch dem zweiten Buche der Ethik einfügt, mit
der Lehre von der Imagination in Übereinstimmung gesetzt. Er bezeichnet
dabei folgende Punkte. Spinoza nimmt einfachste Körper an, corpora sim-
plicissima (eth. II. lemma 3. ax.2. p.92), welche sich nur durch Bewegung
und Ruhe, schnellere oder langsamere Bewegung von einander unterscheiden.
Diesen sollen wahre, adaequate Vorstellungen entsprechen, inwiefern es in
den einfachsten Körpern keine Störung der Bewegung geben könne. Wenn
aber Spinoza ferner zusammengesetzte Körper annimmt, welche aus den
einfachsten bestehen, so sollen sich diese durch Richtungen der Bewegung
unterscheiden, z.B. durch geradlinige, krummlinige, und da die Körper zu-
sammen sind und zusammen einen Körper höherer Ordnung bilden, soll es
möglich sein, dafs sich die Bewegungen hemmen und stören, und daher die
Körper niederer Ordnung, die den höheren bilden, nur zum Theil Ursache
(') eth. II, 36. Ideae inadaequatae et confusae eadem necessitate consequuntur, ac adaequa-
tae sive clarae ac distinctae ideae.
(2) J.E. Erdmann vermischte Aufsätze, Leipzig 1846. S. 162. 168. in der dritten Abhand-
lung: die Grundbegriffe des Spinozismus.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 307
ihrer Bewegungen sind. Diesem Verhältnifs der Körper, dieser Störung der
Bewegung soll im Denken die inadaequate Vorstellung entsprechen, indem
diese nur zum Theil das Wesen des menschlichen Geistes ausmache. Wie
endlich das Eine umfassende Individuum der Natur (eth. II. lemma 7. schol.
p-94) alle Bewegungen in sich hat, ohne sich selbst zu verändern, so ent-
halte auch das unendliohe Denken alle Vorstellungen ganz; es ist die adae-
quate Ursache aller, und ebendaher sind auch in ihm alle Vorstellungen
adaequat. Es fragt sich, ob diese Übereinstimmung den Sinn des Spinoza
treffe und wie weit. Zunächst mufs in dieser Böclehifäs bemerkt werden,
dafs Spinoza dem zweiten Buche der Ethik die Lemmata über den Körper
=
haupt nirgends jene Coinzidenzpunkte andeutet. Erdmann hat sie im Sinne
nicht zu diesem Zweck der Vergleichung eingefügt hat, und dafs er über-
des Systems zusammengestellt. Dem einfachen Gegenstand entspricht aller-
dings eine adaequate Vursakllkung; aber nicht weil der einfache Körper von
störender Bewegung frei ist, sondern weil er keine Theile hat und daher
entweder ganz oder gar nicht aufgefafst wird (de intell. emend. p. 437). Viel-
mehr kann der einfache Körper, da er doch Bewegung hat, nothwendig auch
in seiner Bewegung gehemmt werden. Wenn jede Idee, wie Erdmann sagt ('),
„für sich genommen” wahr oder adaequat sein soll, wie jedes corpus simpli-
cissimum frei von störenden Bewegungen sei: so geht dann die Wahrheit auf
atomistische Theilung zurück und nicht auf die Eine Substanz. Der Gegen-
satz der einfachsten und zusammengesetzten Körper liegt nicht darin, dafs
jene nur in der Intensität der Bewegung als schnellere oder langsamere, diese
auch durch die Richtung (geradlinige, krummlinige) unterschieden werden.
Wo Bewegung ist, mufs auch Richtung sein und wenn Spinoza sagt, dafs
die einfachsten Körper nur durch die Bewegung unterschieden werden: so
bedeutet das nichts anders, als dafs sie nicht, wie die zusammengesetzten,
in den Theilen und deren gegenseitigem Verhältnifs Unterschiede zeigen.
Es mufs also in Abrede gestellt werden, dafs den einfachsten Körpern
(') Vgl. schon die verwandte Auffassung bei Thomas Spinozae systema philosophicum. Regi-
montii, 1835. 88.4.5. Karl Thomas Spinoza als Metaphysiker vom Standpunkte der histo-
rischen Kritik, Königsberg 1840. vgl. z. B. S. 98. S.163. Der Vf. ist darin consequent, dafs er
wirklich in Spinoza, indem er zwischen den Zeilen liest, im Physischen und Logischen, in der
Ausdehnung und im Denken einen unter sich parallel laufenden Atomismus und „Automatis-
mus” annimmt. Aber so wenig als im Euklid darf man im Spinoza die Lehre zwischen den
Zeilen lesen. Q q 9)
308 TRENDELENBURG
darum wahre Vorstellungen entsprechen, weil in ihnen keine Bewegung sei;
sie selbst haben Bewegung, wenn es in ihnen auch keine Theile giebt, die
sich bewegen könnten. Wenn hingegen ein Individuum, sei es einfach oder
zusammengesetzt, eine eigenthümliche Richtung hat, die in seinem Wesen
liegt: so wird es gegen eine Störung der Bewegung als gegen eine Minde-
rung seiner Macht in seinem Sein zu beharren streben, und es gehen daraus
im Menschen leidende Zustände hervor, die von inadaequaten Vorstellun-
gen begleitet werden. In dieser beschränkten Sphäre, in der Verdunklung
der klaren Vorstellung durch die Leidenschaft, stimmt jene Erklärung mit
Spinoza’s Grundgedanken überein. Aber die inadaequaten Vorstellungen ge-
hen weiter, wie z. B. in der oberflächlichen Abstraction. Wo sie rein theo-
retischer Natur sind, können sie nur mit Mühe und nicht ohne Gewalt auf
diese Erklärung des ursprünglichen Parallelismus zurückgebracht werden.
Auf jeden Fall bleibt die eigentliche Schwierigkeit auch bei dieser
Ansicht stehen. Die Bewegungen, wie sie sich auch kreuzen, sind wirklich
und gehen daher in die unendliche Ausdehnung ein. Die inadaequaten Vor-
stellungen hingegen sind unwahr und sie lassen sich daher nicht auf dieselbe
Weise in das unendliche Denken aufnehmen. Der Parallelismus des Grund-
gedankens wäre erst dann zu halten, wenn allen wirklichen Bewegungen,
seien sie ursprünglich oder, wie in der Störung, zusammengesetzt, wahre
Vorstellungen entsprächen— woran viel, wenn nicht alles fehlt.
Wir haben bis dahin die logische Seite des intelligere verfolgt; aber
dasselbe hat auch, wie wir oben sahen, eine ethische; ja es liegt darin die
ganze Macht des Sittlichen. Spinoza und Sokrates, wie unähnlich sie sonst
seien, begegnen sich darin, dafs ihnen die Tugend Erkenntnifs ist. Unsere
Untersuchung rückt daher nun in den Inhalt des dritten, vierten und fünf-
ten Buchs vor, in die psychologische Frage über den Ursprung der Affecte,
und in die ethische über den Ursprung der sittlichen Begriffe.
Bis jetzt ist die einfache und bündige Weise nicht übertroffen, mit
welcher Spinoza im 3'" Buche der Ethik aus dem blinden Grunde der Selbst-
erhaltung und der Ideenassociation die leidenden Zustände und Strebungen
der Seele ableitet. Im neuen Testament ist oft von dem natürlichen Men-
schen im Gegensatz gegen den geistigen die Rede; was er sei, wird dort
dem sittlichen Tact der eigenen Erfahrung überlassen. Spinoza hat, wie man
behaupten darf, dies Naturgesetz des natürlichen Menschen in seiner Ent-
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 309
stehung und der furchtbaren Gewalt seiner vielgestaltigen Formen enthüllt
und entwickelt; und, dafs der Mensch ihm unterthan ist, hat er im 4" Buche
als die menschliche Knechtschaft bezeichnet. Die Befreiung aus dieser Macht
geschieht, wie Spinoza im 5“ Buche zeigt, nur durch die adaequate Erkennt-
nifs, durch das intelligere.
Die ganze Entwicklung geht von dem Satz aus, dafs jedes Ding, so-
weit es in sich ist, in seinem Sein zu beharren trachtet (eth. III, 6) (!). Dar-
an knüpft sich das Streben, was dem eigenen Sein Eintrag thut, abzuweh-
ren, und was die eigene Macht vermehrt, zu suchen; daran, wenn die Vor-
stellung der äufsern Ursache hinzutritt, Liebe und Hafs; daran der Trieb
des Geistes, die eine Vorstellung herbeizuziehen, die andere auszuschliefsen,
und auf die Dinge, je nachdem sie die Vorstellungen in uns freundlich oder
feindlich treffen, Licht oder Schatten, Liebe oder Hafs zu werfen. Von die-
sem einfachen Grunde der Selbsterhaltung und dem Gesetz der sich einan-
der rufenden Vorstellungen geht das mannigfaltige, vielfach verwickelte Ge-
triebe der leidenden Zustände und Strebungen aus. Spinoza hat ohne Zwei-
fel den rechten Grund bezeichnet; aber wir fragen, welche Stellung jener
fruchtbare Satz, dafs jedes Ding, soweit es in sich sei, in seinem Sein zu
beharren strebe, zu dem Grundgedanken des Systems habe. Darauf kommt
es uns an.
Wir dürfen bei dieser Frage das Verhältnifs des Einzelnen nicht aufser
Acht lassen. Es giebt nur Eine Substanz, die in sich ist; und die Sache, die
in ihrem Sein zu beharren strebt, ist keine Substanz; hat doch Spinoza dies
von dem Menschen, um den es sich hier handelt, noch besonders bewie-
sen? (?) Jene Sache ist nur ein Theil der Einen Substanz und alle Theile
sind nur als Weisen des Daseins und nicht als wirkliche Dinge unterschie-
den (modaliter tantum, non realiter). Bestimmt von andern Theilen kann
der Theil nach dieser Ansicht nichts in sich sein; und noch viel weniger
streben, in seinem Sein zu beharren. Es fehlt der Mittelpunkt, in welchem
sich der Theil selbst besäfse und von welchem sein Streben ausgehen könnte.
Spinoza ist sogar geneigt, die Begriffe, welche den Theil als solchen be-
(°) eth. III, 6. Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.
(2) eth. II, 10. Ad essentiam hominis non pertinet esse substantiae, sive substantia formam
hominis non constituit,
310 TRENDELENBURG
stimmen, wie Zahl und Mafs, zu blofsen Weisen der Vorstellung zu machen.
Sollen nun die Theile nur in der Betrachtung der Imagination bestehen, wie
Spinoza doch eigentlich will: so kommt damit das Gesetz der Selbstbe-
hauptung, in welchem der Theil etwas in sich ist, in Widerspruch. Die end-
liche Sache (res finita) ist bei Spinoza nicht nachgewiesen, sondern aus der
Definition, als verstände sich damit ihr Dasein von selbst, aufgenommen
(eth. I. def. 2. vgl. II. def. 7). Als Modus ist sie in einem Andern und nicht
in sich und wird nur durch jenes Andere begriffen (eth. I. def. 5). Wenn
die Substanz, das Ursprüngliche, ihrem Wesen nach unendlich und allein
in sich ist: so hätte dargethan werden müssen, wie das Endliche werde und
wie es überhaupt in sich sein könne (unaquaeque res, quantum in se est,
in suo esse perseverare conalur). Wenn das bestimmte Ding in seinem We-
sen beharrt, so beharrt es in der Schranke, in der Negation. Wie reimt sich
dies mit der Lehre von der unbeschränkten Substanz? — Spinoza umgeht in
Übereinstimmung mit seinem Grundgedanken und mit seiner ausdrücklichen
Lehre auf jede Weise den Zweck. Der Leib z. B. wird nicht als ein Orga-
nismus bestimmt, als ein Körper, der für die Zwecke des Lebens Werkzeuge
hätte, sondern nur als ein vielfach zusammengesetzter, der mit andern Kör-
pern eine vielseitige Gemeinschaft hat (vgl. z.B. eth. II, 39. coroll.). Es
fehlt daher beim Spinoza das ideale Centrum, durch welches eine Sache et-
was in sich ist und um welches die Kräfte sich bewegen. Es fehlt ihm das
ideale Band des Zweckes, durch welches verschiedene wirkende Ursachen
zu der Einheit eines Ganzen, eines wirklichen Individuums verknüpft wer-
den. Er nimmt nur in der Definition an (!), dafs mehrere Individuen (ato-
mistisch gedacht) in Einer Thätigkeit dergestalt zusammenkommen können,
um alle zugleich die Ursache Einer Wirkung zu sein. Wie dies geschehe,
zeigt er nicht und will nur solche zusammenwirkende Individuen als Eine
einzelne Sache betrachten. Wenn man ferner den Beweis prüft, den Spi-
noza von dem Satz giebt, dafs jedes Ding, soweit es in sich ist, in seinem
Wesen zu verharren strebt: so ist er nur negativ. Das einzelne Ding, heifst
es nämlich, kann nichts in sich haben, wodurch es sein Wesen vernichtet,
(') eth. II. def. 7. Per res singulares intelligo res, quae finitae sunt et determinatam ha-
bent existentiam. Quod si plura individua in una actione ita concurrant, ut omnia simul unius
effectus sint causa, eadem omnia eatenus ut unam rem singularem considero.
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 311
und kann nur von einer äufsern Ursache zerstört werden (vgl. eth. III, 4 bis
6). Hierin ist nur die Kraft der Trägheit, die vis inertiae und nichts mehr
bewiesen (1); und die Selbstbehauptung einer wirkenden Ursache kann
auch keinen andern Sinn haben; denn es ist kein wahres Selbst vorhanden.
Aber Spinoza hat dessenungeachtet in jenem Streben, sich selbst zu erhal-
ten und die eigene Macht zu mehren, so wie in den Vorstellungen, die sich
in dieser Richtung erzeugen, mehr gedacht, als in diesen Praemissen liegt.
Es sind darin die Zwecke des individuellen Lebens vorausgesetzt, und erst
dadurch bekommt der Ausdruck, dafs jedes Ding, soweit es in sich ist, in
seinem Wesen zu beharren strebe, wirkliche Bedeutung.
Spinoza sagt in derselben Richtung (eth. IV. def. 8): Unter Tugend
und Macht verstehe ich dasselbe, d.h. die Tugend, inwiefern sie auf den
Menschen bezogen wird, ist das Wesen des Menschen selbst, inwiefern er
die Macht hat, einiges zu bewirken, was allein aus den Gesetzen seiner Na-
tur kann verstanden werden (*). In demselben Sinne setzt Spinoza (eth. IV,
37. schol. 1) die wahre Tugend, welche nichts anders ist, als allein nach der
Vernunft leben, in das, was die Natur des Menschen selbst und zwar in sich
allein betrachtet, fordert (?). Wenn es das Princip des Spinoza ist, alles
aus der Einen Substanz zu verstehen: so macht sich hier das entgegen-
gesetzte geltend, etwas aus dem Theil als solchem, aus den Gesetzen der
Natur des Menschen allein zu verstehen. Der Theil ist nun nicht mehr blos
in der Betrachtung da; er ist etwas in sich. Aber wie er dies sein könne,
hat Spinoza nicht gesagt. Wenn das Endliche determinirt und alle Deter-
mination Verneinung ist, so liegt dennoch in dem determinirten Wesen, wie
es da erscheint, wo allein aus den Gesetzen der eigenen Natur Wirkungen
sollen begriffen werden, etwas Positives, das über die blofse Schranke hin-
(') Cartesius war einer der ersten, der das Gesetz der Trägheit für Ruhe und Bewegung
der Körper aussprach; Spinoza überträgt es auf die Strebungen der Seele. Vgl. Cartes. prin-
cip. philos. I, 37”. Harum prima est (lex naturae), unamquamque rem, quatenus est simplex et
indivisa, manere quantum in se est in eodem semper statu nec unqguam mutari nisi a causis ex-
ternis. vgl. Spinoz. princ. philos. Cartes. II, 14, wo auch der Ausdruck Übereinstimmung mit
eth. III, 6. zeigt.
(2) eth. IV. def. 8. Per virtutem et potentiam idem intelligo, hoc est, virtus, quatenus ad
hominem refertur, est ipsa hominis essentia seu natura, quatenus potestatem habet, quaedam
efficiendi, quae per solas ipsius naturae leges possunt intelligi.
(3) eth. IV, 37. schol. quae ipsa ipsius natura in se sola considerata postulat.
312 TRENDELENBURG
ausgeht. Spinoza setzt hier, ohne abzuleiten. Es kommt auf den Grund der
Unterscheidung an, der, wenn die wirkende Ursache nicht genügt, um die
Thatsache des Organischen zu begreifen, auf einen die Determination be-
stimmenden Gedanken und damit auf jene Teleologie führen wird, welche
der Grundgedanke des Spinoza nicht verträgt. Um die Lücke auszufüllen,
mufs man an dieser Stelle stillschweigend die Vorstellung des zweckbe-
stimmten Lebens unterschieben.
Wenn es das Wesen des Zweckes ist, dafs aus dem Ganzen die Be-
stimmung der Theile und nicht aus den Theilen die Bestimmung des Gan-
zen genommen wird: so begegnen wir bei Spinoza auch diesem Kennzeichen
des verborgen zum Grunde liegenden Zweckes. Die Lust z. B., die an sich
gut ist, da sie entsteht, wenn das Wesen zu höherer Vollkommenheit über-
geht, wird aus dem Ganzen heraus gemäfsigt; denn die Lust des Theils,
z.B. Kitzel, Liebe und Begierde, kann die Thätigkeiten des Ganzen hin-
dern oder besiegen (eth. IV, 43. 44 und eth. IV. app. c.30). In derjenigen
Lust, in welcher kein Übermafs möglich ist, in der Ailaritas, müssen sich
alle Theile des Körpers gleichmäfsig verhalten (eth. IV, 42. vgl. TII, 11. schol.
eth. IV. app. c.30). Solche Betrachtungen haben erst im Sinne des Zweckes
volle Wahrheit (vgl. eth. IV, 60).
Wenn in diesem Zusammenhang mitten im Grunde der Dinge der
Zweck mitarbeitet, so bestimmt der Gedanke die Ausdehnung, das Eine At-
tribut das andere — was mit der Grundvoraussetzung streitet.
Im Streben der Selbsterhaltung zieht die Seele Vorstellungen an und
stöfst Vorstellungen ab, um darin ihre Macht zu behaupten oder zu meh-
ren; sie thut es, indem sie nur sich sucht. In diesem selbstsüchtigen Stre-
ben werden alle Vorstellungen einseitig; sie haben kein anderes Mafs als
den Bezug auf die Lust oder Unlust des Eigenlebens und keinen andern
Zweck, als die Seele in diesem Streben der Selbstbehauptung zu befestigen.
Die Vorstellungen stehen mit den leidenden Zuständen in dieser Wechsel-
wirkung. Sie werden von ihnen hervorgetrieben und treiben sie ihres Theils
weiter. Der Mensch geräth auf diese Weise unfehlbar in die Knechtschaft
seiner Affecte.
Spinoza löst diesen Bann, der durch die imaginirende Vorstellung
mächtig ist, durch das intelligere, durch welches der Mensch allein Herr-
schaft über die Affecte gewinnt. Es mufs daher hier, wenn oben das ima-
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. lo
ginari und intelligere von der theoretischen Seite als Quelle des falschen
und wahren Urtheils betrachtet wurde, derselbe Gegensatz als Grund des
unfreien und freien, des leidenschaftlichen und vernünftigen Handelns un-
tersucht werden. Wir müssen dabei auf einige allgemeinere Verhältnisse
zurückgehen, und zwar zunächst auf Spinoza’s Begriffsbestimmungen des
Willens.
Cartesius hatte in den Meditationen den Grund des Irrthums darin
gesucht, dafs der Wille, weiter als der Verstand, über diesen übergreife
und da bejahe, wo der Verstand verneinen sollte und umgekehrt. Dagegen
richtet Spinoza den Satz, dafs Wille und Verstand eins und dasselbe sind.
Sie sind nicht eigene Vermögen, sondern von den einzelnen Thätigkeiten
des. Wollens und Denkens nicht verschieden. Beide fallen zusammen; und
wollen ist nichts anders als bejahen und verneinen. Jede Vorstellung, z.B.
die Vorstellung eines Dreiecks, schliefst Bejahungen und Verneinungen ein;
und es giebt im Geiste kein Wollen, oder was dasselbe ist, keine Bejahung
und Verneinung
8
enthält ('). Von dieser Bestimmung, welche das Wollen in Bejahung und
aulser derjenigen, welche die Vorstellung als Vorstellung
Verneinung verwandelt, hängt viel ab. Denn darnach mufs die richtige Vor-
stellung auch den richtigen Willen nach sich ziehen oder vielmehr ist die
richtige Vorstellung schon an sich der richtige Wille. In demselben Sinne
wird gelehrt, dafs der Geist so weit thätig ist, als er adaequate Vorstellun-
gen und so weit leidend, als er inadaequate hat (?). Unsere Freiheit, heifst
es an einer andern Stelle übereinstimmend (?), besteht nicht in Zufälligkeit
oder Unentschiedenheit, sondern in einer Weise des Bejahens und Vernei-
nens; und wir sind desto freier, je weniger unentschieden wir eine Sache
bejahen oder verneinen.
Indessen ist die Begründung des Satzes, dafs wollen nur bejahen und
verneinen sei, sehr mangelhaft. Es wird nur von der theoretischen Vorstel-
lung z. B. des Dreiecks nachgewiesen, dafs sie nothwendig Bejahungen und
Verneinungen in sich schliefst, welche ohne die Vorstellungen nicht gedacht
werden können. Es wird gar nicht erwogen, ob die Sache da nicht anders
(') eth. II, 48. schol. und 49. demonstr.
(Seth: IA:
(?) epist. 34. p.568 sq. .... adeo ut, quo rem aliguam minus indifferenter affırmamus aut
negamus, eo liberiores simus.
Philos.- histor. Kl. 1849. Rr
314 TRENDELENBURG N
sei, wo der Mensch sich praktisch verhält, z. B. in den Trieben, in welchen
die Vorstellung nicht selten erst das Zweite ist. Ja, Spinoza sagt ausdrück-
lich, er wolle unter Willen nur das Vermögen zu bejahen und zu verneinen
verstehen, nicht aber die Begierde, wornach der Geist die Dinge erstrebt
oder verabscheuet (!). Wenn die Bedeutung auf diese Weise eingeschränkt
und die Begierde ausgeschlossen wird, deren Macht man offenbar mit im
Sinne hat, wenn man dem Denken das Wollen entgegen setzt: so ist der
Beweis überflüssig. Die Identität ist dann vorweg genommen. Es wird hier-
nach, wenn man auf die Begründung sieht, das Gebiet, auf welchem der
Satz gilt, enger begrenzt; und er mag hinreichen, um auf dem rein theore-
tischen Gebiete die Erklärung des Irrthums, die Cartesius gab, zu wider-
legen, aber nicht um das Verhältnifs von Vorstellen und Begehren zu er-
ledigen.
An einer andern Stelle wird daher der Wille anders gefafst. Zwar
wird er aus den klaren oder verworrenen Vorstellungen abgeleitet, aber
doch erst, inwiefern daraus dem Geiste das Streben entsteht, sich in seinem
Sein zu erhalten (eth. III, 9). Wenn dies Streben, wird hinzugesetzt, auf
den Geist allein bezogen wird, heifst es Wille (voluntas); wenn auf den
Geist und Leib zugleich, Begehren (appetitus), welches durchaus nichts an-
ders ist, als das Wesen des Menschen selbst, aus dem nothwendig folgt, was
zur Selbsterhaltung dient, so dafs der Mensch dadurch gerade dies zu thun
bestimmt wird. Wir begehren nichts, weil wir es für gut halten, sondern
wir halten es für gut, weil wir es begehren (?). An dieser Stelle ist nicht
die Bejahung und Verneinung der Vorstellung das Erste, sondern das indi-
viduelle Wesen, das sich selbst behauptet. Aus seinem Grunde stammt das
(!) eth. II, 48. schol. .... notandum, me per voluntatem affırmandi et negandi facultatem,
non autem cupiditatem intelligere; facultatem, inquam, intelligo, qua mens, quid verum quid-
ve falsum sit, affırmat vel negat, et non cupiditatem, qua mens res appetit vel aversatur.
(2) eth. III, 9. Mens tam quatenus claras et distinetas, quam quatenus confusas habet ideas
conatur in suo esse perseverare indefinita quadam duratione et huius sui conatus est conseia.
.... Hic conatus cum ad mentem solam refertur, voluntas appellatur; sed cum ad mentem et
corpus simul refertur, vocatur appetitus, qui proinde nihil aliud est, quam ipsa hominis essen-
tia, ex cuius natura ea, quae ipsius conservationi inserviunt, necessario sequuntur, atque adeo
homo ad eadem agendum determinatus est. .... Constat itaque ex his omnibus, nihil nos co-
nari, velle, appetere, neque cupere, quia id bonum esse iudicamus; sed contra nos propterea
aliquid bonum esse iudicare, quia id conamur, volumus, appetimus atque cupimus.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 315
Begehren, das die Einheit des Leiblichen und Geistigen ausdrücken soll,
während der Wille nur ein Ausdruck desselbigen im Denken ist; dafs wir
etwas für gut halten, ist insofern nur die Folge unsers Begehrens.
Wäre der Wille nichts anders als Bejahung und Verneinung der Er-
kenntnifs, so müfste die wahre Erkenntnifs zugleich der wahre Wille sein,
gegen den es keinen Widerstand gäbe. Aber Spinoza lehrt selbst (eth. IV,
14): Die wahre Erkenntnifs des Guten und Bösen, inwiefern sie wahr ist,
kann keinen Affeet einschränken, sondern nur inwiefern sie als Affeet be-
trachtet wird, d. h. inwiefern sie unser eigenes Sein angeht und also die
Empfindung der Lust oder Unlust in sich trägt (!). Wenn man tiefer blickt,
so wird dadurch von Neuem auf den Grund des individuellen Seins hinge-
wiesen, der sich in Lust und Unlust äufsert. Der Wille wurzelt nicht blos
in der Bejahung und Verneinung der Vorstellung, wie die Theorie wollte,
sondern wesentlich auch in diesem Grunde, der indessen, wie wir sahen,
aus Spinoza’s Praemissen nicht folgt.
In dem Sinne, dafs Verstand und Wille dieselben sind, wird ferner
die Befreiung von den Affeeten in den Verstand, das intelligere gesetzt. Wie
sich die Gedanken und Vorstellungen der Dinge im Geiste ordnen und ver-
ketten, genau so ordnen sich oder verketten sich die Affectionen des Kör-
pers oder die Bilder der Dinge im Körper. Denn die Ordnung und Ver-
knüpfung der Dinge ist dieselbe, als die Ordnung und Verknüpfung der
Vorstellungen (?). Da nun der Affect als leidender Zustand eine verwor-
rene Vorstellung ist, so hört er auf ein leidender Zustand (passio) zu sein,
sobald wir uns von ihm eine klare und deutliche Vorstellung bilden (3). Wir
haben so lange die Macht, nach der Ordnung des Verstandes die Affectionen
des Körpers zu ordnen und zu verketten, als wir nicht von Affecten, die das
Denken verhindern, bewegt werden (eth. V, 10).
Offenbar sucht Spinoza in dem intelligere eine Macht zu gründen, die
5
der Mensch in seiner Hand habe, um die Affecte, wenn nicht aufzuheben,
(') eth. IV, 14. Vera boni et mali cognitio, quatenus vera, nullum affectum coercere po-
test, sed tantum quatenus ut affeetus consideratur. vgl. IV, 7.
(2) eth. V,1. Prout cogitationes rerumque ideae ordinantur et concatenantur in mente,
ita corporis alfectiones seu rerum imagines ad amussim ordinantur et concatenantur in corpore.
(%) eth. V, 3. Affectus, qui passio est, desinit esse passio, simulatque eius claram et distin-
ctam formamus ideam.
Rr2
316 TRENDELENBURG
doch zu mildern ('). Aber nach dem Grundgedanken giebt es von der Seele
zum Leibe, vom Denken zur Ausdehnung und umgekehrt keinen Causal-
nexus. Jener Satz, dafs die Ordnung und der Zusammenhang der Vorstel-
lungen derselbe ist, als die Ordnung und der Zusammenhang der Dinge,
soll nach der Ableitung (eth. II, 7) nicht eine Wirkung des Einen auf das
Andere bezeichnen, sondern vielmehr dafs sie ohne Zusammenhang unter
einander nur zwei gleiche Ausdrücke Eines und desselbigen sind. Von die-
sem innern Punkt der Einheit ordnet sich daher beides zugleich, und es ist
dem Grundgedanken entgegen, dafs das intelligere etwas ordne oder dals
wir das Eine nach dem andern ordnen. Wenn man auf die Sache sieht,
und nicht auf den die Sache hie und da verhüllenden Ausdruck, so empfängt
hier das intellisere an und für sich betrachtet, die mens in se sola conside-
rata, eine in das Leibliche übergreifende Kraft. Spinoza darf auch eigent-
lich nicht von Affectionen des Körpers sprechen, welche das Denken hin-
dern, wie er es doch thut (eth. V, 10. dem.). Wo Spinoza die Macht der
leidenden Zustände darstellt (B.3 und 4) und dabei immer den Körper und
seine Kraft thätig zu sein als die durchgehende Voraussetzung und das The-
ma der Affecte festhält: da hilft derselbe Satz der Einheit, das Geistige dem
Materiellen gleich zu setzen (vgl. z.B. eth. III, 2. schol.). Hier wird er um-
gekehrt angewandt, um dem intelligere eine Macht über die leidenden Zu-
stände des Leibes zu verleihen.
Daher geht von diesem Punkte ein Schwanken aus. In der Betrach-
tung der frühern Bücher überwiegt die blind wirkende Ursache des Leib-
lichen, die sich von selbst in der Vorstellung wieder spiegelt, in dem fünften
Buche überwiegt hingegen die Einsicht in diese wirkende Ursache; in jenen
ist die Vorstellung, der Ausdruck im Denken, nur ein Zweites und Folgen-
des; in diesem sind die leiblichen Affectionen, die sich nach der Einsicht
ordnen, ein solches Consequens. Beides fällt von dem allgemeinen Grund-
gedanken ab.
Aber die Sache ist auch im Einzelnen schwierig, wenn man nämlich
darauf sieht, wie diese Einsicht geschehe. Der Geist kann bewirken, lehrt
Spinoza, dafs alle Affectionen des Körpers oder Bilder der Dinge auf Got-
tes Vorstellung zurückgeführt werden; denn es giebt keinen Zustand des
(') eth. V, 20. schol. quod mens in se sola considerata adversus affectus potest.
über Spinoza'’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 37,
Körpers, von dem wir nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden kön-
nen (eth. V, 14. vgl. V,4) (!). Wenn wir unsere Affecte klar und deutlich
einsehen, so freuen wir uns und diese Freude ist von der Vorstellung Gottes
begleitet— welches der Ursprung der Liebe zu Gott ist.
Jene Zurückführung auf die Vorstellung Gottes, die Betrachtung un-
ter der Form des Ewigen, ist, wie oben erhellte, in ihrem Grunde die Er-
kenntnifs des Nothwendigen. Es ist daher eine grolse Verheifsung, dafs der
Geist alle Affectionen des Körpers klar und deutlich einsehen und in ihrer
Nothwendigkeit begreifen könne. Woher nähme er zu einer solchen vollen-
deten Erkenntnifs des Leiblichen die Mittel, zumal sie erst mit der vollende-
ten Erkenntnifs der ganzen Natur möglich wäre? Die Erfahrung zeigt uns
hier überall Schranken, an deren Erweiterung das Menschengeschlecht fort
und fort arbeitet. Welche Mittel weist denn Spinoza zu einer solchen Er-
kenntnifs nach? Vergebens betrachten wir den Beweis jener Sätze. Spinoza
geht darin über metaphysische Allgemeinheiten nicht hinaus, die noch dazu
so dürftig bleiben, wie der begründende Satz, dals, was allen gemeinsam
sei, also der Körper, nur adaequat gefalst werden könne. Man vergleiche
den Beweis des vierten Lehrsatzes im fünften Buch und die dabei zu Hülfe
gezogenen Sätze eth. II, 12 und lemma 2 nach II, 13. Die reale Möglich-
keit, der Weg einer solchen Erkenntnifs ist dort mit keiner Silbe angedeu-
tet. Wenn es auch in Gott eine solche Erkenntnifs giebt und der mensch-
liche Geist ein Theil des unendlichen Verstandes Gottes ist: so hat man
dadurch doch keine Einsicht in den Vorgang, durch welchen die verworrene
Vorstellung, die den leidenden Zustand ausmacht, in die klare und deut-
liche verwandelt, das Leibliche auf Gott zurückgeführt, und das Endliche
und Zufällige von der Substanz aus erkannt werde (?).
(!) eth. V, 14. Mens efficere potest, ut omnes corporis affectiones seu rerum imagines ad
dei ideam referantur; welches auf den Satz zurückgeht V, 4: Nulla est corporis affectio, cuius
aliquem clarum et distinetum non possumus formare conceptum.
(2) Damit man sich überzeuge, wie auch in diesem wichtigsten Punkt, dem Ursprung der
intelleetualen Liebe, die Sache nur formal gehalten ist, heben wir die Momente heraus, auf
welche Spinoza zurückweist. Zu dem Satz eth. V,4 Nulla est corporis affectio, cuius aliquem
clarum et distinetum non possumus formare conceptum wird als Beweis hinzugefügt: Quae
omnibus communia sunt, non possunt concipi nisi adaequate; vgl. II, 38. ılla, quae omnibus
communia quaeque aeque in parte ac in toto sunt, non possunt concipi nisi adaequate; und
318 TRENDELENBURG
Das intelligere ist noch nach einer andern Seite thätig, indem es den
Trieb der Selbsterhaltung über das Eigenleben hinausführt und die Begriffe
der sittlichen Gemeinschaft gründet. Dies geschieht auf folgende Weise (1).
Die wirkende Ursache, die bei Spinoza allein berechtigte Betrach-
tung, falst sich, wenn wir sie auf das Wesen des Einzelnen beziehen, in der
Macht (potentia) eines jeden zusammen. Indem jeder in seinem Sein zu be-
harren strebt, — welches das durchgängige und unbedingte Naturgesetz des
Menschen ist — trachtet er diese Macht zu mehren und alles, was sie min-
dert, auszuschliefsen. Seine Macht ist sein Recht. Aber die Macht wächst
durch Vereinigung. Wenn sich z. B. zwei Individuuen derselben Natur zu-
sammen verbinden, so bilden sie ein Individuum doppelt so mächtig als der
Einzelne. Daher können die Menschen, um ihr Sein zu behaupten, nichts
Besseres wünschen, als eine solche Übereinstimmung aller in allem, dafs al-
ler Geister und Leiber gleichsam Einen Geist und Einen Leib bilden und
alle zusammen nach dem gemeinsamen Nutzen aller streben. Was Eintracht
erzeugt, erzeugt grölsere Macht und ist das was zur Gerechtigkeit, Billigkeit
und Sittlichkeit gehört. Es folgt daraus, dafs vernünftige Menschen d.h.
Menschen, welche vernünftig ihren Nutzen suchen, nichts sich selbst begeh-
ren, was sie nicht auch andern wünschen und dafs sie eben deswegen ge-
recht, treu und rechtschaffen sind (*). Die Selbsterhaltung und der eigene
daraus wird jener Satz durch die blofse Rückbeziehung auf eth. II, 12 und das darauf folgende
lemma 2 geschlossen. Dieses bietet nur den Satz: omnia corpora in quibusdam conveniunt;
jene propositio lautet: quidquid in obiecto ideae humanam mentem constituentis contingit, id
ab humana mente debet percipi sive eius rei dabitur in mente necessario idea, hoc est, si ob-
iectum ideae humanam mentem constituentis sit corpus, nihil in eo corpore poterit contingere,
quod a mente non percipiatur, — was zuletzt wiederum zurückgeführt wird auf jenes allge-
meine (II, 7) ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum. Erst wenn der
Körper dem Geiste durchsichtig würde, erfüllte sich diese metaphysische Verheilsung. Und doch
kommt jene selige Beruhigung (acquiescentia) des Geistes immer darauf zurück, das Wesen
des Körpers unter der Form der Ewigkeit aufzufassen, eth. V, 29. vgl. V, 31. demonstr. Mens
nihil sub aeternitatis specie concipit, nisi quatenus sui corporis essentiam sub aeternitatis spe-
cie concipit. Soll die ethische Befreiung von der Einsicht in das Naturgesetz des Körpers ab-
hängen, so ist der Weg dazu in Wahrheit lang, und Spinoza’s metaphysischer Sprung erreicht
das Ziel nicht.
(‘) vgl. eth. IV, 15 ff. p. 215 ff. tractat. theolog. polit. e.16. p.359 ff. tractat. polit. c. 2.
p- 306 ff. epist. 50.
(2) Dieser Grund des Sittlichen wird mit obigen Worten bezeichnet eth. IV, 18. schol.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 319
Nutzen bleibt hiebei die Grundlage; denn da Tugend Macht ist, so kann es
keine Tugend geben, die früher wäre, als dieser Trieb der Selbsterhaltung.
Der erkennende Geist sucht ebenso in seinem Sein zu beharren (!), und es ent-
springen daher aus der Erkenntnifs neue Strebungen. Das intelligere wird das
Mafs des Guten und Bösen; und es folgt daraus, dafs das höchste Gut allen
gemeinsam ist (eth. IV, 36. schol.). Wenn erkannt wird, dafs die Überein-
kunft aller in allem die Macht verstärkt, so wird der Vernünftige dahin stre-
ken, dafs die Menschen keinen Leidenschaften unterworfen sind; denn durch
die Leidenschaften sind sie einander feindlich; er wird folglich die Leiden-
schaften auch in sich selbst bekämpfen (eth. IV, 32). Inwiefern daher die
Menschen vernünftig leben, thun sie insofern nothwendig das, was der
menschlichen Natur überhaupt und daher jedem Menschen nothwendig ist
d.h. was mit der Natur eines jeden Menschen übereinstimmt (eth. IV, 35.
demonstr.). Wenn nun die Triebe und Strebungen nicht aus verworrenen
Vorstellungen entstehen, sondern von adaequater Erkenntnifs erzeugt wer-
den, so sind sie keine leidende Zustände, sondern werden der Tugend zu-
gerechnet (?). Auf diese Weise folgen Handlungen aus solchen Affecten,
welche auf den Geist, insofern er Einsicht hat, zurückgeführt werden und
Spinoza begreift Handlungen dieser Art mit dem Namen der Seelenkraft
(fortitudo) und theilt dieselbe in muthige und in edele Gesinnung (animosi-
tas und generositas). Unter muthiger Gesinnung (animositas) versteht er das
Bestreben, wodurch jeder sein Wesen nur nach der Vorschrift der Vernunft
zu behaupten trachtet; unter edeler Gesinnung (generositas) das Bestreben,
wodurch ein jeder nur nach der Vorschrift der Vernunft andere zu unter-
stützen und sich zu Freunden zu machen trachtet. Die Handlungen, welche
p- 216. vgl. eth. IV. append. c.15. p. 262. Quae concordiam gignunt, sunt illa, quae ad iusti-
tiam, aequitatem et honestatem referuntur. Spinoza setzt in die Bestimmung, welche von die-
ser Einsicht ausgeht, das ex duczu rationis vivere. Denn es ist im Unterschied von jener hö-
hern intuitiven Erkenntnils, welche von der Anschauung der Substanz und ihrer Attribute aus-
geht, und von jener sinnlichen Erfahrung des Einzelnen, welche unbestimmt und verworren
ist, Sache der ratio, richtige Gemeinbegriffe zu haben. eth. II, 40. schol. 2.
(') eth. IV, 26. demonstr. hic intelligendi conatus primum et unicum yirtutis funda-
mentum.
(2) eth. V, 4. schol. Appetitus seu cupiditates eatenus tantum passiones sunt, quatenus ex
ideis inadaequatis oriuntur, atque eaedem virtuti accensentur, quando ab ideis adaequatis exci-
tantur vel generantur.
320 TRENDELENBURG
unter dieser Bedingung allein den Nutzen des Handelnden bezwecken, ge-
hören hiernach der muthigen Gesinnung (animositas) an, welche aber den
Nutzen des andern bezwecken, der edeln Gesinnung (generositas), Mäfsig-
keit z. B., Geistesgegenwart u. s. w. sind Arten der erstern; Bescheidenheit,
Güte u. s. w. Arten der leiztern (!). Die Tugend kann dieselbe Aufsenseite
haben, wie ein leidender Zustand, der lediglich aus dem Streben der Selbst-
behauptung entspringt; aber sie ist im Grunde verschieden. Z. B. aus dem
Naturgesetz, dafs wir ein Wesen nicht hassen können, das wir bemitlei-
den (eth. II, 27. cor.2), folgt die natürliche Grofsmuth eines Mächtigen,
inwiefern er mehr Grund hat, einen Schwachen zu bemitleiden, als zu has-
sen. Aber von dieser natürlichen Grofsmuth, die aus entgegengesetzten
Strebungen entsteht, ist die edle Gesinnung der Grofsmuth verschieden, die
aus der Einsicht (dem intelligere) stammt. Auf diese Weise gewinnt Spi-
noza, dem alle Tugend in selbstsüchtige Selbsterhaltung zu entweichen
drohte, die Tugend wieder, die nun ihren Ursprung im intelligere hat und
zwar in der Erkenntnifs, dafs durch Vereinigung die menschliche Macht
wachse und für die Vereinigung nur das zu erstreben sei, was mit der
menschlichen Natur überhaupt übereinkomme. In diesem Allgemeinen hat
die Selbsterhaltung eine höhere Richtung.
Wenn es nun darauf ankommt, das zu thun, was mit der menschli-
chen Natur überhaupt übereinstimmt, und wenn darauf allein die Vernunft
hingeht : so ist der allgemeine Begriff des Menschen das Vorbild, dem wir
uns nähern müssen, der Zweck, dem wir nachstreben. Von hier aus kehrt
die von Spinoza verworfene Endursache (causa finalis) dennoch in die Be-
trachtung zurück (?). Daher finden sich bei Spinoza solche Ausdrücke, wie
(') eth. III, 59. schol. Omnes actiones, quae sequuntur ex affeetibus, qui ad mentem refe-
runtur, quatenus intelligit, ad fortitudinem refero, quam in animositatem et generositatem distin-
guo. Nam per animosilatem intelligo cupiditatem, qua unusquisque conatur suum esse ex solo
rationis dictamine conservare. Per generositatem autem eupiditatem intelligo, qua unusquisque
ex solo rationis dietamine conatur religuos homines iuvare et sibi amicitia iungere. Eas ilaque
actiones, quae solum agentis utile intendunt, ad animositatem, et quae alterius eliam utile inten-
dunt, ad generositatem refero. Temperantia igitur, sobrietas et animi in periculis praesentia etc.
animositatis sunt species; modestia autem elementia etc. species generositatis sunt.
(2) Nachdem Spinoza in der Vorrede zum 4“ Theil der Ethik den Zweck und die Muster-
bilder der Dinge und darnach Vollkommenheit und Unvollkommenheit, gut und böse für blofse
Weisen des Vorstellens erklärt hat, sagt er p.202 einlenkend: Verum quamyis res ita se habeat,
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 3
diese, dafs es des vernünftigen Menschen letzter Zweck sei, sich und die
Dinge, die Gegenstand seines Denkens sind, adaequat aufzufassen (eth. IV.
append. c. IV. p. 260), oder es sei der Zweck die Erkenntnil[s der Einheit,
welche der Geist mit der ganzen Natur habe (de intell. emend. p-417), oder
es sei der Zweck des Staates Friede und Sicherheit (tractat. polit. V. c. 2.
p- 329).
Man darf indessen diese Ausdrücke nicht anders nehmen, als der
strenge Sinn des Ganzen zuläfst. Der Zweck ist nur ein anderer Name für
die wirkende Ursache des Begehrens und Verlangens.
Bei Spinoza giebt es nur die Nothwendigkeit der wirkenden Ursache.
Was geschieht, hat ein Recht, zu geschehen. Gut und böse liegt nur in un-
serer Vorstellung (!). Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Sünde und Ver-
dienst sind äufserliche Begriffe, aber keine nothwendigen Figenschaften,
welche die Natur des Geistes erklären (?). Die Strebungen, welche aus der
Vernunft entspringen und die Begierden, welche sich aus andern Ursachen
in uns erzeugen, sind insofern nicht verschieden, als diese, wie jene, Wir-
kungen der Natur sind und die natürliche Kraft darstellen, wodurch der
Mensch in seinem Wesen zu beharren trachtet (°).
Wir können daher folgerecht die Sache nur so fassen. Spinoza will
das Naturgesetz (potentia) und darnach ist alles oder nichts gut; gut und
übel sind nur Weisen des Denkens und blofse Vergleichungen. Die durch
nobis tamen haec vocabula retinenda sunt. Nam quia ideam hominis, tanquam naturae humanae
exemplar, quod intueamur, formare cupimus, nobis ex usu erit, haec eadem vocabula eo quo
dixi sensu retinere. Per bonum itaque in sequentibus intelligam id, quod certo scimus, medium
esse, ut ad exemplar humanae naturae, quod nobis proponimus, magis magisque accedamus. Per
malum autem id, quod certo scimus impedire, quo minus idem exemplar referamus.
(') eth. IV. praef. p. 202. Bonum et malum quod attinet, nihil etiam positivum in rebus,
in se scilicet consideratis, indicant, nec aliud sunt praeter cogitandi modos, seu notiones, quas
formamus ex eo, quod res ad invicem comparamus.
(2) eth. IV, 37. schol. 2. p. 233.
(3) tractat. polit. c.2. $.5. p.308. ...nullam hie agnoscere possumus differentiam inter
cupiditates, quae ex ratione et inter illas, quae ex aliis causis in nobis ingenerantur: quando-
quidem tam hae quam illae effectus naturae sunt vimque naturalem explicant, qua homo in suo
esse perseverare conatur. Vgl. epist. 36. p. 56/4, besonders p.566. eth.IV. append. c. 6. p. 260.
omnia illa, quorum homo efhieiens est causa, necessario bona sunt. tractat. polit. e. 2. $.18.
p- 314. homines maxime appetitu sine ratione ducuntur, nec tamen naturae ordinem pertur-
bant, sed necessario sequuntur.
Philos.- histor. Kl. 1849. Ss
322 TRENDELENBURG
Vereinigung verstärkte Macht, woraus dem Spinoza die sittlichen Begriffe
fliefsen, wirkt ebenso und zwar indem sie vorgestellt wird, als Naturgesetz,
und daraus entstehen in der Vorstellung Begriffe, wie gut und böse, Zweck,
Vorbild (finis, exemplar) (!). Sie wirken nothwendig und als Naturgesetze;
aber wo sie nicht wirken, ist dies auch nur nach Naturgesetzen geschehen.
Recht und Unrecht entspringen daher erst aus den bürgerlichen Gesetzen,
die wiederum wirken, indem sie sich an das Naturgesetz der Affecte, die
Furcht, wenden (?).
Spinoza’s intelligere ist nach dieser sittlichen Seite nur Einsicht in die
durch Vereinigung verstärkte Macht und in das, was nothwendig folgt, wenn
diese gewollt wird. Es ist eine Art jenes allgemeinen intelligere, jener Ein-
sicht in die Nothwendigkeit der Natur überhaupt, welcher auf der höchsten
Stufe die intellectuale Liebe Gottes folgt.
Die Macht bleibt, wenn auch die Verstärkung der Gesichtspunkt wird,
immer der treibende Grund. Die sittlichen Begriffe folgen erst aus dieser
Quelle; sie haben nicht an und für sich Werth, sondern nur um der zu ver-
stärkenden Macht willen (ex accidente); die Gerechtigkeit z. B. nicht an
sich, sondern nur um der Eintracht willen, die stark macht. Die Leiden-
schaften, aus inadaequaten Vorstellungen entspringend, stellen nicht die
Macht, sondern die Ohnmacht des Geistes dar (eth. IV, 32). Wir müssen in
andern die Leidenscheften dämpfen, weil Leidenschaften Leidenschaften er-
regen und daher durch Entzweiung die Macht theilen.
Dieser sittliche Grund der Macht hat übrigens, wenn man prüft, wel-
ches Gewicht er tragen kann, in vielen Fällen eine zweifelhafte Stärke; denn
er kann nur nach seiner eigenen Richtung in den Köpfen wirken. Wenn es
allein auf die Macht ankommt, so fragt es sich, wie diese zu erreichen sei,
welches lediglich eine Frage der äufsern Zweckmäfsigkeit ist. Wer den Feind
todtschlägt, kann dabei in gegebenen Fällen leichter zum Ziel kommen, als
wer ihn anerkennt und gegen ihn gerecht ist. Auf den Grund, die Verstär-
kung der Macht, wird sich daher ebenso gut Ungerechtigkeit, als Gerechtig-
keit reimen lassen. Spinoza will dies freilich nicht. Vielmehr beweist er
(?) Diese Auffassung stimmt mit der Weise überein, wie Spinoza (eth. IV. praef.) die Ent-
stehung des Zweckbegriffs in der menschlichen Vorstellung erklärt.
(2) eth. IV, 37. schol. 2. p. 231 ff. tractat. polit. c. 2. $ 21.
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 323
(eth. IV, 72), dafs ein freier Mensch, selbst nicht um sein Leben zu erhal-
ten, treulos sein würde. Aber er beweist es aus einem Grunde, welcher
von der durch die Vereinigung verstärkten Macht sich schon entfernt und
den Menschen einem Allgemeinen unterwirft, das tiefer geht, als das Motiv
der Macht und der Selbsterhaltung. Wenn die Vernunft es Einem gestattete,
sagt Spinoza, so würde sie es allen gestatten, dann gäbe es aber keine ge-
meinsamen Rechte mehr (!). In dieser Begründung sind die gemeinsamen
Rechte die feste Voraussetzung, die mehr gilt und höher steht, als das Prin-
cip selbst, die Erhaltung des eigenen Seins. Spinoza hat allerdings in seinen
sittlichen Begriffen eine edele Richtung; aber sollen sie Halt haben und
fest werden, so müssen sie in dem menschlichen Wesen ursprünglicher ge-
gründet sein, als in der berechnenden Klugheit der sich durch sie verstär-
kenden Macht.
Die berechnende Klugheit ist im Innern selbst da die bewegende
Seele, wo nach aufsen die reinste Vorschrift der edelsten Ethik erreicht
wird. So lehrt z. B. Spinoza (IV, 46), wer vernünftig lebe, der suche des
andern Hafs und Zorn und Verachtung gegen ihn durch Liebe und Edel-
sinn auszugleichen; aber er beweist den Satz lediglich aus dem eigenen
Nutzen der Selbsterhaltung. Wer vernünftig lebe, werde dahin streben, dafs
er nicht von der Leidenschaft des Hasses beunruhigt werde, und folglich
werde er dahin streben, dafs auch kein anderer diesen Leidenschaften er-
liege (*).
Der sittliche Werth wird nur an der durch die Vereinigung sich ver-
stärkenden Macht gemessen; und das Sittliche wird für diesen Zweck zum
Mittel.
(1) eth. IV, 72. homo liber nunquam dolo malo, sed semper cum fide agit. schol.: Si
iam quaeratur, quid si homo se perfidia a praesenti mortis periculo posset liberare, an non ra-
tio suum esse conservandi omnino suadet, ut perfidus sit? Respondebitur eodem modo, quod
si ratio id suadeat, suadet ergo id omnibus hominibus, atque adeo ratio omnino suadet homi-
nibus, ne, nisi dolo malo, paciscantur, vires coniungere et iura habere communia, hoc est, ne
revera iura habeant communia, quod est absurdum.
(2) eth.IV,46. Qui ex ductu rationis vivit, quantum potest, conatur alterius in ipsum odium,
iram, conlemtum amore contra sive generositate compensare. Im Beweis wird gesagt: cona-
bitur effhicere, ne odii affectibus conflictetur et consequenter conabitur, ne etiam alius eosdem
patiatur affectus. Dabei wird eth. IV, 37 angeführt, ein Satz, der auch nur auf dem Nutzen
beruht.
Ss?
324 TRENDELENBURG
Der Grundbegriff des Staates ist hiernach die Eintracht. Die Ge-
setze dingen dem Eigennutz und den Leidenschaften des Einzelnen so viel
ab, um diesen Begriff der durch Vereinigung wachsenden Macht zu verwirk-
lichen; und setzen dafür die letzten Hebel des mechanisch von dem Druck
und Stofs der wirkenden Ursache bestimmten Menschen, nämlich Furcht
und Hoffnung, in Bewegung (!). Der höchste Zweck des Staats ist Friede
und Sicherheit (?); alle andern Zwecke folgen aus ihm oder liegen neben-
bei. Und doch blickt bei Spinoza, den die sittliche Richtung nie verläfst,
nicht selten ein tieferer Gedanke durch, der der ursprüngliche sein mülste,
statt dafs er kaum aus jener nackten Macht, die verstärkt werden soll, ab-
zuleiten ist. So sagt er z. B., zu diesen Rücksichten, die Macht durch Ver-
einigung zu vermehren, komme noch hinzu, dafs die Menschen ohne
wechselseitige Hülfe kaum das Leben fristen und den Geist ausbilden
können (°). Der Staat, sagt Spinoza an einer andern Stelle, dessen Unter-
thanen nur aus Furcht nicht die Waffen ergreifen, ist eigentlich nur ohne
Krieg, hat aber keinen Frieden. Denn Frieden ist nicht blofse Verneinung
des Krieges, sondern eine Tugend, die aus Seelenstärke entspringt; denn
Gehorsam ist der beständige Wille das zu thun, was nach dem gemeinsamen
Beschlufs des Staates geschehen soll. Spinoza will keinen Frieden, der nur
von der Trägheit der Unterthanen abhängt, die, um Knechte zu sein, wie das
Vieh gehalten werden. Wenn er den Staat für den besten achtet, in wel-
chem Menschen einträchtig leben, so versteht er unter leben ein mensch-
liches Leben, welches nicht allein durch den Umlauf des Blutes und andere
Dinge, die der Mensch mit den Thieren gemeinsam hat, sondern hauptsäch-
lich durch Vernunft, die wahre Tugend und das wahre Leben des Geistes
bestimmt wird (*). In Stellen dieser Art wird auf menschliches Leben als
(') tractat. polit. c.3. $ 8. sequitur, quod ea omnia, ad quae agenda nemo praemiis aut
minis induci potest, ad iura civitatis non pertineant. vgl. eth. IV, 37. schol. 2. p.232. Es stimmt
dies mit der Stelle eines Briefes überein (epist. /9. p. 630), in welcher er die ethischen Conse-
quenzen des Determinismus abwendet und darauf hinweist, dals immer Furcht und Hoffnung
als das den Menschen Bestimmende übrig bleiben.
(2) tractat. polit. c.5. $ 2. p.329. (finis status cıvilis) nullus alius est, quam pax vitaeque
securitas.
(3) tractat. polit. c.2. $ 15. p.313: His accedit, quod homines vix absque mutuo auxilio
vitam sustenlare et mentern colere possint.
(*) tractat. polit. c.5. $4u.5. Civitas, cuius subdili metu territi arma non capiunt, po-
über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 325
solches alles Gewicht gelegt, so dafs dieses in sich Werth hat und nicht mit
jedem Naturgesetz auf Einer Linie steht. Erst auf Umwegen wird dies mit
der die Macht mehrenden Eintracht in Zusammenhang zu setzen sein, näm-
lich inwiefern die wahre Tugend des Geistes Macht ist und Macht giebt
(eatenus Zantum agimus, qualenus intelligimus).
Offenbar wirkt hier ein Zweck, um den besten Staat zu bilden; jene
Aufgabe, die Vereinigung unter solche Gesetze zu bringen, dafs mensch-
liches Leben als solches möglich sei. Wenn dieser Zweck nicht gemacht,
sondern nothwendig ist, so ist er im Wesen des Menschen gegründet; und
er käme nie heraus, wenn er ihm nicht ursprünglich zum Grunde läge. Der
Staat behauptet sein Wesen, wie der Einzelne, nicht blos, weil er es kann,
sondern weil er dazu nach dem Mafs des ihm inwohnenden Zweckes be-
rechtigt ist. Spinoza muls in dieser Consequenz anerkennen, dafs es noch
ein anderes Recht gebe als die Macht, und wenn er dies anerkennen mufs,
so steht er nicht mehr auf seinem Standpunkt, sondern auf dem Stand-
punkt seines Gegners, der ursprünglichen Teleologie, in welcher der Ge-
danke die Ausdehnung bestimmt und nicht blos ein anderer Ausdruck des-
selbigen ist.
Es ist oft und auch oben bemerkt, dafs dem Spinoza ein Princip der
Unterscheidung fehlt, welches erst mit einer sich gliedernden Idee gewonnen
2. Die ethische Einsicht,
8
das intelligere im sittlichen Sinne (ex duetw rationis vivere) führt dahin, das
werden kann. Wir finden auch hier die Bestätigun
Besondere, das zwieträchtig macht, aufzuheben und nur das zu suchen, was
der menschlichen Natur gemäfs ist oder mit der Natur eines jeden überein-
stimmt. Was nun aber jene menschliche Natur überhaupt sei, wird nicht
gesagt und wird um so mehr vermilst, da wir sie nach Spinoza sonst nur in
dem allgemeinen Naturgesetz der Selbsterhaltung und der dadurch beding-
tius dicenda est, quod sine bello sit, gquam quod pacem habeat. Pax enim non belli privatio, sed
virtus est, quae ex animi fortitudine oritur: est namque obsequium constans voluntas id exse-
quendi, quod ex communt civitatis decreto fieri debet. Illa praeterea civitas, cuius pax a sub-
ditorum inertia pendet, qui scilicet veluti pecora ducuntur, ut tantum servire discant, rectius
solitudo quam civitas dici potest. .... Cum ergo dieimus illud imperium optimum esse, ubi
homines concorditer vitam transigunt, vitam humanam intelligo, quae non sola sangninis cir-
culatione et aliis, gquae omnibus animalibus sunt communia, sed quae maxime ratione, vera men-
tis virtute et vita definitur.
326 TRENDELENBURG
ten Affecte kennen. Wenn überall die adaequate Vorstellung sich nur im
Allgemeinen bewegt, in demjenigen, was gleicher Weise im Ganzen und im
Theil ist: so kann auch im Eithischen, insofern es auf dem intelligere ruht,
das Besondere in seiner Eigenthümlichkeit nicht zum Rechte kommen. Dafs
bei Spinoza die Unterscheidung fehlt, die aus dem Allgemeinen heraus ge-
staltet und die in diesem Falle nur in den Zwecken der menschlichen Natur
und ihrer Unterordnung gefunden werden kann, zeigt sich bei Spinoza auch
äufserlich. Wo er, wie im Zracialus polilicus, von Verfassungen und Ge-
setzen handelt, nimmt er ohne Ableitung Gegebenes auf und verknüpft es
für den äufsern Zweck des Bestandes und der Einheit.
Wir haben die theoretische und praktische Seite des intelligere ver-
folgt und sahen darin mehrfach den Grundgedanken durchbrochen, indem
das Denken eine höhere Bedeutung gewinnt, als dıe ist, in welcher es nur
den mit der Ausdehnung gleichlaufenden Ausdruck Einer und derselben
Substanz bildet.
Vielleicht tritt dasselbe schliefslich in den Worten hervor, mit wel-
chen Spinoza am Ende des vierten Buchs die Ergebnisse zusammenfafst:
„Wir sind ein Theil der ganzen Natur, deren Ordnung‘ wir folgen. Wenn
wir klar und deutlich einsehen, so wird der Theil von uns, der als Verstand
bestimmt wird, d.h. unser besserer Theil, daran Genüge haben und in die-
ser Genüge zu verharren trachten. Denn inwiefern wir Einsicht haben,
können wir nur begehren, was nothwendig ist, und schlechthin nur im Wah-
ren Genüge haben. Inwiefern wir daher dies richtig einsehen, kommt das
Bestreben unsers bessern Theils mit der Ordnung der ganzen Natur über-
ein” (!). Wo Spinoza sonst den Ausdruck „übereinkommen” (convenire)
gebraucht, z. B. wenn er sagt (eth. IV, 31), dafs eine Sache, soweit als sie
mit unserer Natur übereinkomme, nothwendig gut sei, bezeichnet er jene
Verbindung, welche unsere Macht verstärkt. Schwerlich gilt diese Bedeu-
tung hier, da von der Ordnung der Natur die Rede ist. Wenn aber jene
() ‚eth. IV. app. ec. 32.7... nosque partem totius naturae esse, cuius ordinem sequimur.
Quodsi clare et distincte intelligamus, pars illa nostri, quae intelligentia definitur, hoc est,
pars melior nostri, in eo plane acquiescet et in ea acquiescentia perseverare conabitur. Nam
quatenus intelligimus, nihil appetere, nisi id quod necessarium est, nec absolute nisi in veris
acquiescere possumus; adeoque quatenus haec recte intelligimus, eatenus conatus melioris par-
tis nostri cum ordine totius naturae conyenit.
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 327
Harmonie gemeint wäre, in welche wir mit der Ordnung des Ganzen treten:
so liegt dieser Verheifsung eine Einheit in der Entzweiung zum Grunde,
welche sonst das Zeichen der durch einen innern Gedanken geforderten
Theile ist. Wäre dies der Fall, so schweifte hier Spinoza über seinen Grund-
gedanken hinaus.
Sicherlich thut er es in der Bezeichnung des „bessern Theils von uns”
(pars melior nostri), die wir bei seiner Richtung auf scharfen und eigent-
lichen Ausdruck auch dann nicht für eine Metapher halten würden, wenn
sie nicht in anderen Schriften wiederkehrte, z. B. in dem tractatus theolo-
gico politicus c.4 ('). Es hängt die Ansicht von einer pars melior nostri
mit Spinoza’s Lehre zusammen (eth. V, 23. vgl. V, 49), dafs der menschliche
Geist nicht mit dem Leibe schlechthin zerstört werden kann, sondern dafs
etwas von ihm übrig bleibt, das ewig ist. Während die Vorstellung in Bil-
dern (das imaginari) nur während der Dauer des Leibes möglich ist, hängt
das Begreifen (intelligere) davon nicht ab, denn die Beweise (*), die das
Nothwendige ergreifen, sind die Augen des Geistes. Aus der Erkenntnifs
des Nothwendigen entspringt, wenn sie von der Vorstellung Gottes begleitet
wird, die intellectuale Liebe Gottes, welche ewig ist (eth. V, 33), und so-
weit diese den Geist ausmacht, ist er ewig (eth. V,39. dem.).
Auf solche Weise wird das intelligere zu einer Macht für sich, zu dem
bessern und ewigen Theil unserer selbst. Es tritt darin deutlich die Rich-
tung hervor, dem Geiste oder einem Theil desselben nachträglich einen Vor-
zug zu geben, welchen die Grundansicht nicht gestattet. Denken und Aus-
dehnung, die beiden Attribute, drücken Eine und dieselbe Substanz nur
ec und der Zusam-
verschieden aus. Beide gehen daher parallel. Die Ordnung
menhang der Vorstellungen ist derselbe, als die Ordnung und der Zusam-
menhang der Dinge und umgekehrt. Wenn nun der Leib vergangen und ein
Theil des Geistes übrig bleibt, wo ist denn da noch das gleichlaufende Cor-
relat in der Ausdehnung? Während früher (vgl. besonders eth. III, 2. schol.)
dem Geiste nichts gelassen wird, als dafs er mit dem Körper eine und die-
(!) tractat. theolog. polit. c.4. p.208. cum melior pars nostri sit intellectus etc.
(2) eth. V, 23. schol. At nihilominus sentimus experimurque nos aeternos esse. Nam mens
non minus res illas sentit, quas intelligendo concipit, quam quas in memoria habet. Mentis
enim oculi, quibus res videt observatque, sunt ipsae demonstrationes.
328 TRENDELENBURG
selbe Sache sei, die bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem
Attribut der Ausdehnung aufgefafst werde: so wird nun ein Theil vom
Leibe abgetrennt, so dals ihm im Attribute der Ausdehnung nichts Wirkliches
mehr entspricht. Es fällt dies um so mehr auf, da sonst nach Spinoza der
Theil nichts in den Dingen, sondern nur eine Weise des Denkens ist.
Es leuchtet hieraus ein, dafs diese Ansicht in doppeltem Betracht von
dem Grundgedanken abfällt, einmal inwiefern der Parallelismus zwischen
Denken und Sein als verschiedenem Ausdruck Einer und derselben Sache
abgebrochen ist, sodann weil dem Denken über die Ausdehnung, obwol sie
beide als Ausdrücke Eines und desselbigen gleich berechtigt sein müssen,
plötzlich ein wesentliches Übergewicht gegeben wird. Wenn in den frühern
Büchern der Bezug auf das Leibliche dergestalt vorherscht, dafs die Vor-
stellung fast nur wie ein Abbild desselben erscheint: so wird zuletzt dem
Gedanken als dem ewigen vor dem vergänglichen Leibe die Ehre gegeben.
Ein solches Schwanken steht mit dem festen Grundgedanken in Wider-
spruch, aber es ist, wie wir sahen, nach den verschiedensten Richtungen da.
Aus diesem Schwanken erklärt sich auch die entgegengesetzte Wir-
kung, welche Spinoza in der Geschichte der Philosophie auf die Geister ge-
habt hat. Bald folgten ihm solche, welche allein den Determinismus der
materiellen Ursache wollen, wie in neuester Zeit viele; bald erhoben ihn
solche, welche, wie Schelling und Schleiermacher, auf der Seite eines idea-
len Platonismus stehen. Beides liefse sich kaum neben einander denken,
wenn nicht dazu im Spinoza selbst die Veranlassung läge.
Spinoza’s Grundgedanke steht klar da, wenn er Denken und Ausdeh-
nung als die Attribute bestimmt, die, unter sich in keinem Causalzusammen-
hang, nur für den Verstand die verschiedenen Ausdrücke Einer und der-
selben Substanz sind.
Zur Kritik dieser eigenthümlichen Auffassung ergab sich, wenn wir
die entscheidenden Punkte aus der Verflechtung ablösen, Folgendes.
Zunächst ist die ganze Ansicht formal gehalten und die reale Unter-
suchung, ob die Ausdehnung auf das Denken und das Denken auf die Aus-
dehnung wirken könne, durch die gleich Axiomen gesetzten Definitionen
von vorn herein abgeschnitten (s. oben $.286 f. 5.290 ff.).
Ferner läfst sich der Parallelismus zwischen den Erzeugnissen des
Denkens und den Gestalten der Ausdehnung, inwiefern die einen den un-
über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 329
endlichen Gedanken Gottes, die andern die unendliche Ausdehnung bilden,
aber beide nur der verschiedene Ausdruck einer und derselben Substanz
sein sollen, nicht durchführen. Das Continuum der Körper bildet die un-
endliche Ausdehnung, aber es läfst sich nicht auf gleiche Weise ein Conti-
tinuum der Gedanken vorstellen, welche zusammen den Verstand Gottes
bildeten. Wo blieben in Gottes unendlichem Gedanken die irrigen Vorstel-
lungen der Menschen? und wo entsprächen allen wirklichen Bewegungen
wahre Vorstellungen? (s. oben S. 297. S. 308)
Die inadaequaten Vorstellungen wurzeln in der Imagination, inwie-
fern wir als Theile eines denkenden Wesens Theile auffassen, aber der Be-
griff der Theile, der hier den Irrthum erzeugt, ist in der Lehre des Spinoza
so wenig erklärt, als die Determination, wodurch es geschieht, dafs der In-
tellectus vom Unendlichen zum Endlichen übergeht und im Endlichen wahre
Vorstellungen bildet. Soll wirklich eingesehen werden, dafs Denken und
Ausdehnung nur verschiedene Ausdrücke einer und derselben Substanz
sind: so darf diese Frage, wie sich das Denken bestimme, so wenig uner
ledigt bleiben, als die Frage, wie sich die Ausdehnung determinire (s. oben
S.304. 305).
Spinoza leitet alle Affecte aus dem Satze ab, dafs jedes Wesen sich
in seinem Sein zu behaupten strebe, und alle Tugend aus der Macht etwas
zu bewirken, was aus den Gesetzen der eigenen Natur verstanden werden
kann (s. oben S.309. 311). In diesen Sätzen verbirgt sich das individuelle
Leben, das in seiner Determination keine blofse Negation, sondern Bejahung
ist, aber ohne die zum Grunde liegenden Zwecke nicht gedacht werden kann.
Spinoza setzt mitten in dieser Betrachtung der Naturgesetze der Seele den
teleologischen Standpunkt voraus (s. oben S. 311. 312).
Wie die verworrene Vorstellung, das imaginari, die leidenden Zu-
stände der Seele bedingt und festhält, so werden wir von denselben durch
die Einsicht, das inzelligere, befreiet, indem sich die Zustände des Leibes
nach den Bedingungen des Begriffs ordnen. Dem intelligere wird darin eine
Wirkung auf die leiblichen Zustände zugeschrieben, welche der Grund-
gedanke nicht erträgt (s. oben S. 315. 316).
Im Ethischen führt das inzelligere, die Einsicht in die durch Vereini-
gung verstärkte Macht zur Anerkennung von Zwecken, z.B. der allgemei-
nen Gerechtigkeit, die ursprünglicher sind, als dafs sie sich aus der blofsen
Philos. - histor. Kl. 1849. Pt
330 TRENnDELENBURG über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg.
wirkenden Ursache ableiten liefsen. Auf diese pafst Spinoza’s Wort nicht,
dafs die Zwecke nur eine menschliche Erfindung sind (s. oben S. 320.
322. 325).
Endlich ist es in der Consequenz der Grundansicht, dafs Denken und
Ausdehnung nur der nothwendige Ausdruck einer und derselben Substanz
seien, nicht zu begreifen, wie der Intellectus, als der bessere und ewige
Theil von uns, der übrig bleibe, wenn der Körper zerstört wird, bezeichnet
werden könne (s. oben S. 326 ff.).
Diese Einwürfe ergeben sich, wenn man Spinoza auf seinem eigenen
Wege verfolgt und alle Hauptpunkte an der Consequenz oder Inconsequenz
mit dem Grundgedanken mifst.
Wenn Spinoza seiner Lehre, wie im Eingang bemerkt wurde, unter
den Systemen von der Wurzel aus eine neue Stellung gegeben hatte: so er-
hellt aus dieser Untersuchung, dafs der Grundgedanke in den wichtigsten
Punkten, in denen er sich bewähren sollte, von sich abfällt und in die bei-
den andern Betrachtungsweisen, bald in die teleologische, bald in die mate-
rialistische übergeht. Zwischen diesen beiden allein geht nun der Kampf
der Prineipien fort, wenn nach dem grofsen, aber vergeblichen Versuch die
Grundansicht Spinoza’s, jene dritte Möglichkeit, um die Einigung von Ge-
danken und Kraft zu begreifen, aus der Reihe der Streitenden ausscheidet.
Die meisten der hervorgehobenen Punkte weisen auf eine Idee im
Grunde der Dinge hin, — und obwol Spinoza die Idee nicht anerkennt, so
dienen ihr doch die Naturgesetze des Geistes, welche er selbst, wie im drit-
ten und vierten Buch der Ethik, scharfsinnig dargestellt hat.
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ÜBER FREIDANK
von BR
h”"- WILHELM GRIMM.
aannnmAnNNAaNme
[gelesen in der akademie der wissenschaften am 15. märz 1849.]
D. name den unfer dichter fich felbft beilegt wird von W. Wackernagel
im gloffar zu feinem lefebuch durch Freidenker überfetzt, gewis richtig, wenn
man von dem nebenbegriff abfieht, der diefem ausdruck gegenwärtig an-
hängt, jener zeit aber fremd war. damals wird niemand über die bedeutung
des gewählten, auf den inhalt des gedichts bezüglichen namens in zweifel
gewelen fein, fo wenig als jemand in Frauenlob, in dem Unverzagten, oder
in dem Freudeleeren (Haupts zeitfchr. 5, 243. 7,530) und andern den ei-
gentlichen namen des dichters fah. noch mehr, da es kein gefchlecht gab,
das von der Vogelweide hiefs, fo mag auch Walther einen dichterifchen na-
men angenommen haben. daher erklärt fich warum er, wie der Spervogel,
der auch nur diefen dichternamen (MS. 2, 226°) vorbringt, von fich in der
dritten perfon redet (18, 6 folg.) und fich felbft (119, 12) min trütgefelle
von der Vogelweide anredet, von dem er beiftand im gefang fordert: oder
warum er dem, den man € von der Fogelweide nande (108,7) eine art grab-
fchrift dichtet; es ift nicht nöthig diefe lieder andern beizulegen. Frei-
dank als eigenname kommt erft im vierzehnten jahrhundert vor, ohne zwei-
fel veranlafst durch das in grofsem anfehen ftehende gedicht, wie auf gleiche
weife ein Walther der Vogelweid von Veltheim in einer urkunde vom jahr
1349 (Haupts zeitfchrift 4, 578) erfcheint. dafs Freidank, der urfache hatte
fich zu verbergen, zu feiner zeit nur unter dem angenommenen namen be-
kannt war, zeigt eine kürzlich gefundene ftelle in den colmarifchen Annalen
aus dem dreizehnten Jahrhundert (Haupts zeitfchrift 4,573), Frydankus va-
gus fecit rithmos theutonicos gratiofos: woraus wir zugleich erfehen dafs er
ein herumziehender fänger war, auch darin dem berühmten Walther ähn-
lich. beide klagen über mangelnde freigebigkeit der fürften (anmerk. zu
Tt2
332 WiLHELMm Grimm
Freid. 87,6. 7 und 8). eine durch Schedel bewahrte nachricht von einem
grabmal Freidanks und einer infchrift darauf, habe ich der forfchung nicht
vorenthalten wollen, fondern in Haupts zeitfchr. 1, 30. 31 bekannt gemacht,
wo auch die gründe auseinander gefetzt find, weshalb ich glaube dafs man
fie nicht auf unfern dichter beziehen darf. das ift nicht der gute ftil des drei-
zehnten jahrhunderts. die erfte zeile entbehrt des versmafses und lautet roh
hie lit Fridanc, kläglich ift der zufatz gar än allen finen danc: Veldeke fagt
(MS. 1,20°) wan ez got ni geböt daz dehein man gerne Jolte fterben. wie
zierlich gedacht, wie reinlich ausgedrückt ift der bekannte fpruch auf dem
fchwerte Konrads von Winterfteten.
Von den lebensumftänden des dichters fcheint keiner feiner zeitge-
noffen etwas gewufst zu haben; uns bleibt nichts übrig als einzelne andeu-
tungen aus dem eigenen werk zufammen zu lefen. felbft über feinen ftand,
ob er von adel war oder nicht, hatte man keine gewisheit. bei einigen heifst
er meifter, bei andern her: ich habe die fiellen in der einleitung zur Be-
fcheidenheit f. xxxıx. xu nachgewiefen und trage nur Tanhaufers hofzuht
(Haupts zeitfchr. 6, 488), die von Ettmüller herausgegebenen fechs briefe
9,32, Helbling 2, 147 und Teichner (Drefden. handfchr. nr 67. bl.5". 18°)
nach, wo er immer her genannt wird. der ältefte von denen, die ihn nen-
nen, Rudolf von Ems, bezeichnet ihn zweimal als meifter, einmal ohne zu-
fatz: aber er nennt auch (Orlens 4481) den Walther mei/ter, obgleich diefer
gewis zum adel gehörte. Rudolf bekümmerte fich fchwerlich um Freidanks
lebensverhältniffe oder, was am wahrlcheinlichften ift, er wufste nichts be-
ftiimmtes. ebenfo fchwankt Hugo vom Trimberg, der ihm doch die gröfste
verehrung zollt, zwifchen her und meifter; hätte er etwas näheres von ihm
fagen können, er würde, zumal bei feiner redfeligkeit, es ficher nicht zurück
gehalten haben.
I
Die mehrmals angeregte frage ob Freidank noch andere gedichte als
die Befcheidenheit verfalst habe, verdient erft aufmerkfamkeit wenn man
gründe dafür beibringen kann. in jener grabfchrift heifst es der alwege
/prach und nie fanc, angenommen fie fei echt d.h. aus dem dreizehnten
jahrhundert, fo beweilt fie weiter nichts als dafs der verfaffer derfelben kei-
ne Iyrifche gedichte von Freidank kannte, und es ift auch nicht glaublich
dafs er folche unter diefem namen habe ausgehen laffen. aufserdem fcheint
über Freidank. 333
für jene zeit /prechen und fingen nicht ausreichend einen gegenfatz auszu-
drücken: fagt doch Frauenlob (Ettmüller feite 114. 115) /waz ie gefane
Reinmär und der von E/chenbach, fwaz ie ge/prach der von der V ogelweide,
und das wird niemand fo verftehen als habe Wolfram wie Reinmar nur lie-
der gefungen, Walther erzählungen oder fpruchgedichte vorgetragen. Hein-
zelein von Konftanz äufsert in der Minnenlehre her Fridanc der ie [eite unde
Janc fteteclich die wärheit, was auch nichts als ein allgemeiner ausdruck
ift. hätten nur die colmarifchen annalen ein paar worte mehr zugefügt! doch
rhythmi teutoniei gratiofi bezeichnen eher Iyrifche gedichte als die fprüche
der Befcheidenheit, die für den vortrag eines fahrenden fängers wenig ge-
eignet fcheinen. wenn die worte nun auf die lieder Walthers zu beziehen
wären? Was Rudolf von Ems im Alexander fagt, der finneriche Fridanc,
dem äne valfchen wanc elliu rede volge jach, fwaz er in diut/cher zungen
/prach, hilft auch nicht weiter: der finneriche heifst er zumal in zufammen-
hang mit dem, was noch vorher geht, als dichter der Be/cheidenheit: die
letzte zeile könnte man verftehen als habe er auch in anderer, etwa in latei-
nifcher oder romanifcher fprache gedichtet, wo feine rede nicht fo fliefsend
gewefen fei: aber das ift doch fehr unwahrfcheinlich; dagegen könnte fie
allerdings darauf hindeuten, dafs das fpruchgedicht nicht fein einziges werk
gewefen fei.
Die abfchnitte von Rom und Akers unterfcheiden fich durch die ge-
fchichtliche haltung fo beftimmt von der lehrhaften weife des übrigen grö-
fsern theils dafs ich fchon bei der herausgabe der Befcheidenheit auf den ge-
danken geraten war, fie feien ftücke aus einem andern werk und hier nur
eingefchoben. ich bin feitdem in diefer anficht beftärkt worden. es ift [chon
auffallend dafs nur wenige handfchriften den abfchnitt von Akers kennen,
nur A von der erften und Bb von der zweiten ordnung: die einer ganz an-
dern aufftellung folgenden handfchriften X 3 haben nichts daraus, ebenfo-
wenig [cheinen Hugo von Trimberg und Boner ihn gekannt zu haben. in Bb
bricht diefe gefchichtliche erzählung ohne allen zufammenhang mit dem an-
dern plötzlich hervor. endlich haben A und Bb die quelle nicht gleichmäfsig
benutzt, A hat 162,25—163,12, Bb 157,1—162,25, ein noch gröfseres ftück,
ganz allein. immer aber muls diefe vermifchung fchon frühe ftatt gefunden
haben, da fie fich bereits in der älteften und beften, ficher in das 13" jahrh.
gehörigen handfchrift zeigt. der abfchnitt von Rom pafste mehr in den plan
334 Wirnerm Grimm
der Befcheidenheit. das alles fcheint mir darauf zu deuten, dafs wir nur
bruchftücke eines grölsern werks vor uns haben. gleichzeitig mit dem übri-
gen find fie nicht gewefen, das erweift eine andere bemerkung: dort näm-
lich (46, 15. 130,10) begegnen wir mehrmals der klage über nichtachtung
des päbftlichen bannes, hier (148, 19) dagegen einer herben äufserung
über die käuflichkeit deffelben zu Rom, ja der über den keifer Friedrich
ausgefprochene bann (157,19. 21. 158, 2. 160, 10. 19. 162, 4) wird gerade-
zu als ungerecht und unkräftig betrachtet. der dichter redet von Rom, wo
er gras in den alten paläften gefunden hat (148,23), als augenzeuge: er mag
auf dem zug nach Syrien dort gewelfen fein und befchreibt diefen aufent-
halt hernach als er fich in Akers befindet. jetzt verfteht man auch wie eine
ftelle doppelt vorkommen kan, in dem früheren gedicht (132, 26—133, 4)
als gemeines fprichwort, in dem fpätern (158, 16—21) mit paffender an-
wendung auf den keifer und den fultan.
Läfst fich keine hinweifung auf das verlorene werk finden? ich mufs
auf eine vielfach angefochtene ftelle in Rudolfs Wilhelm von Orlens zurück
kommen, die in allen, ziemlich zahlreichen handfchriften immer gleichlau-
tend erfcheint,
wold iuch meifter Fridanc
getihtet han, jo waret ir
baz für komen danne an mir,
oder von Abjalone:
het er iuch alfo fehone
berihtet als dıu mere
wie der edel Stoufcere,
der keifer Friderich verdarp
und lebende hohez lop erwarp.
od der, wie ich in der vierten zeile lefe, ift kaum eine änderung, aber
Abj/alöne kann nicht richtig fein, da ein ortsname folgen mufs. zu den bis-
herigen vorfchlägen, die den fchwierigen namen ändern oder mit noch grö-
fserer kühnheit eine lücke voraus fetzen und einige zeilen einfchieben, oder
eine anfpielung auf unbekannte ereigniffe darin erblicken, will ich einen
neuen fügen, der nicht kecker ift als der mäfsigfte von jenen. ich lefe näm-
lich Akoöne oder Akaröne, und der dichter jener beiden abfchnitte ift damit
gemeint, der füglich fo genannt werden konnte, da er in Akers eine zeitlang
über Freidank. 335
lebte und dort das werk dichtete, von dem diefe bruchftücke uns erhalten
find. Akers ift die gewöhnliche form, die im Lanzelet (8847), im Herzog
Ernft (5233), bei dem Marner (MS. 2,174”), Enenkel (f. 289), bruder Wern-
her (MS. 2,164°), Hugo von Trimberg (7505. 15845), Püterich (ftr. 110)
gebraucht wird: Akön finde ich bei Heinrich von Neuftadt (Apollon. 18217.
20617) im reim auf Edrön: endlich Acharön bei Odo, dem verfaffer des
lateinifchen Ernft (5233). nichts fcheint natürlicher als dafs der, welcher
die fchickfale Friedrichs bei dem kreuzzug erzählte, auch Barbaroffas und
feines traurigen untergangs gedachte.
Hier entfteht die frage wen wir als verfaffer der beiden abfchnitte zu
betrachten haben. Rudolf von Ems meint wohl einen andern als Freidank,
weil er fechzehn dichter anführen will und fonft nur fünfzehn genannt hätte.
das hat weiter kein gewicht, da der von Akers fchon der heftigen äufserun-
gen wegen, die er fich erlaubt, feinen namen wird geheim gehalten haben
und ihn Rudolf auf diefe weife am natürlichften bezeichnete; nur fo viel ift
ficher dafs er ihn als einen zeitgenoffen Freidanks betrachtete. beide für eine
perfon zu halten, find wir durch die einmifchung diefer abfchnitte in die
Befcheidenheit, weil fie fchon frühe ftatt fand, veranlafst: ein ftärkerer be-
weis liegt in der übereinftiimmung der fprache und des dem dichter ge-
läufigen ausdrucks, die ich hier nachweifen will. den glouben bezzern 148,
13: die krifienheit bezzern 76,2. äne [chame 148,17: 53,5. 112,15. fchal-
keit 149,3: 143,5. 20. diu kriften 149,14. 153,20: 10,26. kunft gewalt
noch lift 149,18: kunft noch lift 19,22. 126,17. kunft und al der werlde
lift 79,6. guot bilde geben 149, 20. 152,7: 69, 21. 71,5. gefünden 149,23:
180,10. einen an liegen 150, 7: 102,13. 106, 15. 170,5.7. /waere fenften
150,11: zorn fenften 64,12. gouch narr 150, 25: 54, 22. 98,12. gouches
töre 83,11. laefen befreien 151,3: 20,16. 39,19. 130,9. 181,4. fich haben
an einen 151,6: 55,11. 96, 27. zer helle varn 151,12: 105, 9. 180,1. dri-
zec lant, her u.s.w. 151,16. 155,10: 4,17. 46,1. 57,7.102,15. wan alle
krümbe werdent fleht 152,2: daz mich krümbe dunke fleht 50, 24. bürge
unt lant 152, 20: 75,13. ze langer frift 154, 2: 31,9. 33, 3. 96, 24. pfluoc
bildlich 155, 18: 27, 15. 168,13. über lüt 155, 22: 168,18. valfch flahen
156,15: 46,21. über daz 156,19: 6,8. daz befte tuon 156, 22. 160,18:
82,25. 99, 4. 110, 24. 149,22. tödes grunt 156, 24: meres grunt 11,3.
helle grunt 11,17. bi gefiän 158,1: 16,13. krump oder fleht 158,2: 10,21.
336 WirLseLm Grimm
widerfatz 158, 26: 172,15. 173,3. figen 160,1: 46, 17. nider figen 117,27.
die firäze offen ftänt 161,21: 66, 6. verbannen 162, 8.14: 51,1. z’ende
komen 162,19: 111,13. gehanen 162,23: 68,13. michels baz 163,12: mi-
chels lieber 156, 2. michels gerner 59,11. des libes röft 163, 25: einen üf
den röft fetzen 168, 10.
Von den metrifchen gefetzen Freidanks, die unten näher betrachtet
werden follen, zeigt fich in den beiden abfehnitten keine abweichung. wie
dort wird in jeder zeile nie mehr als einmal die fenkung ausgelaffen, gelten im
erften fufs drei filben, wovon die mittlere amı mindeften betont wird, und ift
ein dreifilbiger auftact unerlaubt: wie dort findet man nur wenige und leichte
kürzungen, und, was vielleicht am ftärkften wiegt, unz in der letzten fenkung
vor ftumpfem reim, nur, wenn i oder 2 deffen anlaut bildet: alfo un? tac
154,15, unt lant 156, 17. ebenfo in den reimen diefelben eigenthümlich-
keiten, erwert: ernert 163, 3. 4 wie erwern: ernern 63,7. 69,13. 14 und be-
fonders wirt: wirt 156, 20: 87,10.
II
Sind die gefchichtlichen abfchnitte zuthat aus einem zweiten werk, fo
haben wir das alter der Befcheidenheit erft zu ermitteln, denn nur von dem
über Akers wiffen wir gewis dafs er im jahr 1229 in Syrien ift gedichtet worden.
wir müffen uns nach zeugniffen umfehen, ich führe jenes zuerft an, das ich in
einer ftelle der überarbeiteten Klage 3540 —46 gefunden und in der einlei-
tung zu Freidank f.xxxvu—vıu fchon geltend gemacht habe: es fteht dort
in einem zufatz mit der abficht einen fpruch aus der Befcheidenheit einzu-
rücken, der unverändert geblieben ift. ich beharre bei der fchon früher
(f.cxvu—cxx) begründeten behauptung, dafs wörtliche übereinftiimmung mit
Freidank auf ein abborgen aus feinem gedicht mit ficherheit fchliefsen läfst.
man kann einwenden er habe feine fprüche aus dem munde des volks ge-
fchöpft, aber die herftellung des reinen reims, um den fich das volk wenig
bemühte, veranlafste fo gut änderungen als die handhabung des regelrechten
versmalses. wie felten mag es fich gefügt haben dafs die ohnehin beftändiger
umwandlung preis gegebene überlieferung des fprichworts geradezu konnte
beibehalten werden: wie grofs die verfchiedenheit in der auffaffung einzel-
ner fprichwörter war, erlieht man aus dem, was ich feite xc—cy neben ein-
ander geftellt habe. nach meinem gefühl trägt der ausdruck überall Frei-
über Freidank. 337
danks eigenthümlichkeit und die erblicke ich gerade in den von der über-
arbeiteten Klage wiederholten worten 117,21.22 der töt liep von liebe [chelt
uns er uns alle hin gezelt. fcheln in diefer bildlichen bedeutung gebrauchen
nur wenige (ich kenne nur die zur Goldnen fchmiede 52 angeführten ftellen,
wozu noch Tro). krieg 10068 kommt), das gewöhnliche war wohl, wie Hart-
mann im Erek 2208 —10 fagt, der töt allez liep leidet, fo er liep von liebe
feheidet, ebenfo Hug von Langenltein (Martina bl. 125") der tot — fröude
leidet und lieb von liebe fcheidet, und Friedrich von Sunburg (Mgb. 22°)
frou Werlt, ihr kunnet liep von leide fcheiden;, zwei handfchriften von Frei-
dank haben den ausdruck wirklich nicht verflanden und fcheidet gefetzt, die
eine ändert auch die folgende zeile, die andere entftellt den reim.
Lachmann hat zu den Nibelungen 353, 2 die gründe angegeben wes-
halb die überarbeitung der Klage vor dem jahr 1225 mufs vollendet gewe-
fen fein: möglicherweile war fie fchon zehn jahre früher vorhanden, immer
aber muls die Befcheidenheit voran gegangen fein. vielleicht können wir noch
weiter zurück fchreiten: ich habe in der Einleitung f. cxxvı den ausdruck
unwip hervor gehoben, der bei Walther und Freidank zuerft [ich zeige,
jetzt aber gefunden dafs auch in der echten Klage 361 unwiplicher muot
fteht. ich will hier noch keinen fchlufs ziehen, immer aber haben wir durch
die ftelle in der überarbeiteten Klage einen fichern anfangspunct gewonnen
und müffen zunächft nachfuchen ob wir bei den dichtern aus dem ende des
zwölften und anfang des dreizehnten Jahrhunderts eine {pur von Freidank
entdecken können. Hartman fagt im zweiten Büchlein 193 er bedarf un-
muoze wol, [wer zwein herren dienen fol: Freidank (ABa£A) 50, 6 fwer
zwein herren dienen fol, der bedarf gelückes wol; Hartmanns unmuoze fcheint
mir beffer und könnte die echte lesart fein. in demfelben büchlein 701 des
wip dä fint gehoenet, des well wir fin gekroenet: Freidank 102, 18 die man
vil manegez kranet, des wip fint gehoenet. Erek 431 wen dife edeln armen
nihl wolden erbarmen: Freid. 40,15 man fol fich gerne erbarmen über die
edeln armen. Erek 4800 nit mac doch daz nieman bewarn, daz im gefchehen
Jol: Freid. 132, 6 fwaz gefchehen fol, daz gefchiht. Gregor 525 wan im
niemer miffegät, der fich ze rehte an in (gott) verlät: Freid. 2,14 vil felten
ieman miffegät, [wer finiu dinc an got verlät. Gregor 3400 (etwas verfchieden
Armer Heinrich 26— 28) wir haben daz von fime gebote, [wer umbe den an-
dern (nach der Wiener handf. Lachmann in Haupts zeitfchr. 5,65) bite, dä loes er
Philos.- histor. Kl. 1849. Uu
338 WicneLm Grimm
fich felben mite: Freid. 39,18 merket, [wer für den andern bite, fich felben
Ioefet er dä mite. Armer Heinrich 101 des muge wir an der kerzen fehen
ein wärez bilde gefchehen, daz fi zeiner e/chen wirt enmitten dö fi lieht birt:
Freid. 71,7 diw kerze lieht den liuten birt unz daz fi felbe za/chen wirt.
Iwein 2964 mit lachendem munde truobetn im diu ougen: Freid. 32,15 daz
herze weinet manege ftunt, fö doch lachen muoz Be munt. Freidanks auf-
faffung fteht in allen diefen (prüchen nahe, und feine worte klingen durch,
ja der reim ift faft immer beibehalten. hierzu kommt dafs auch Hartmanns
nachahmer und zeitgenoffe, Wirnt, fichtbar einen fpruch aus der Be/chei-
denheit entlehnt hat, Wigalois 167,7 er (gott) nidert höchgemüete und hee-
het alle güete: Freid. 2,5 got haehet alle güete und nidert höchgemüete.
Wolfram und Gottfried waren von der macht des eigenen geiftes zu (ehr er-
füllt als dafs fie von andern etwas hätten annehmen follen: wenigftens finde
ich bei ihnen keine ftelle, die bekanntfchaft mit Freidank verriete. Wolfram
bringt zwar einige fprichwörter vor, aber eigenthümliche, und da, wo dere
eedabke vorkommt, ift er gedrungener und fchöner ausgedrückt. Parz.272,12
weinde ougen hänt füezen munt: Freid. 32,14 daz herze weinet manege We
Jö doch lachen muoz der munt, und Parz. 338, 11 im waere der liute volge
guot, [wer dicke lop mit wärheit tuot liegt fern von Freid. 60,23 merket, [wer
fich felben lobet äne volge, daz er tobet; felbft der volksmälsige, auch ander-
wärts (Einleitung xcv) übereinftimmende fpruch 31,16 Aiute liep, morne leit
lautet im Parzival 103, 24 hiute freude, morgen leit oder 548, 8 hiute riuwe,
morgen frö. bruchftücke aus einem unbekannten gedicht, das ftil und fpra-
che in die befte zeit des dreizehnten jahrhunderts weifen (Mones anzeiger
4, 314—21), enthalten z.122—24 folgendes, mir ift ouch für wär gefeil
daz er lihte friunde fich bewiget, [wer alle zit niugerne pfliget. ich glaube
dafs wir hier den echten text eines fpruches aus der Be/cheidenheit vor uns
haben, den wir nur aus wenigen und zumal fpäteren handfchriften kennen,
97,26 des friundes [chiere fich verwiget, der niuwer friunde pfliget. das au-
{ser gebrauch gekommene fubftantiv niugerne, das ich nur im Erek 7635 und
Lanzelet 7983 nachweifen kann und wofür Graffs fprachfchatz 4, 236 nur
einen einzigen beleg hat, mag veranlaflung gewelen fein mit abfchwächung
des gedankens die eebohung ee ade zu fetzen. das feltene wort
war auch dem verfaffer des lateinifehdeutfchen Freidanks unbekannt, denn
er bringt (Göttweig. hf. 4. alt. druck 5°) etwas anderes, ganz gehaltlofes vor,
über Freidank. 339
der friunde fich verwiget, [welch man lügen pfliget: die lateinifche über-
fetzung verftändiger, doch abermals abweichend, qui fimilis vento nobilitatis
(l. mobilitatis) labe notatur, foedus amicitie modicum curare probatur. die
Karlsruher hf. feite 111” entftellt das ihr unverftändliche wort ‘Der frunde
er fich fehier verwiget Wellich man ierunge pfliget’. die handfchrift jener
bruchftücke ift alt und gut, das zeigen die fprachformen, aber dafs fie, wie
Mone behauptet, gerade in den anfang des dreizehnten jahrhunderts ge-
hören, wird mit ficherheit fich nicht erweifen laffen, fo erwünfcht es wäre.
der Winsbeke und die Winsbekin, die nach Wolframs Parzival müffen ge-
dichtet fein, aber wenn Pfeiffers vermutung, wonach (Wigalois xvı) Wirnt
fie benutzt hat, richtig ift, fehon vor 1208—1210, gewähren eine anzahl
fprüche, die wir auch aus der Be/cheidenheit kennen. Der Winsb. 3,1 fun,
merke wie daz kerzen lieht die wile ez brinnei fwindet gar: Freid. 71,7 diw
kerze lieht den liuten birt unz daz fi felbe za/chen wirt. der W. 23,4 der
man ift näch dem finne min dar näch und er gefellet fich: Freid. 64, 4 /wer
den man erkennen welle, der werde fin gefelle. der W. 25,1 fun, bezzer ift
gemezzen zwir danne verhowen äne fin: Freid. 131,23 bezzer ift zwir ge-
mezzen dan zeinem mäl vergezzen. der W. 25,7 daz wort mac niht hinwi-
der in und ift doch fehiere für den munt: Freid. 80,12 mit witze [prechen
daz ift fin: daz wort enkumt niht wider in. der W. 28,5 der tugent hät,
derft wol geborn und Eret fin geflehte wol: Freid. 54, 6 fer tugende hät,
derft wol geborn: än tugent ifi adel gar verlorn und 64,13 wer rehte tuot,
derfi wol geborn. der W.33, 4 fwer gerne ie über houbet vaht, der mohte
defie wirs gefigen: Freid. 126, 21 vil lihte er fchaden fehouwet, der über
fin houbet houwet. der W. 33,8 muotes alze geeher man vil Iregen efel
riten fol: Freid. 116, 25 /wem gäch ift zallen ziten, der fol den efel riten.
der W.41,5 ein ieglich man hat eren vil, der rehte in finer mäze lebet und
übermizzet niht fin zil: Freid. 114,9 wer fchöne in finer mäze kan geleben,
derft ein feelice man: dä bi mit fpolte maneger lebet, der üz der mäze höhe
Sirebet. der W.45,4 fi machent breite huoben fmal: Freid. 120,5 breite
huoben werdent /mal. der W.60,9 ez ift ein lop ob allem lobe, der an dem
ende rehle tuot: Freid. 63,20 ichn fchilte niht [waz iemen tuot, machet er
daz ende guot. der W. 63,6 wir koufen in dem facke niht: Freid. 85,5 wer
inme facke koufet. die Winsbekin 15,1 gedanke fint den liuten fri und wün-
[ehe fam: weiftu des niht? Freid. 115,14 diu bant kan niemen vinden, diu
Uu 2
340 WirHELMm Gkimm
gedanke mugen binden. man vähet wip unde man, gedanke nieman vähen
kan. die W. 16,6 ze fwacher heimlich wirt man fiech: Freid. 93,14 un-
rechtiu heimeliche tuot nieman @ren riche. die W.19,2 fi [agent 'wip hänt
kurzen muot, dä bi doch ein vil langez här’: Freid. 182, 3 die frouwen hänt
langez här und kurz gemüete; daz ift wär. die W. 20,1 @ft komen her in
alten fiten vor mangen jären unde tagen daz man diu wip fol güetlich biten
und lieplich in dem herzen tragen. jö fuln fie zühteclich verfagen od aber
Jö finneclich gewern daz fi iht her näch beginnen klagen: Freid. 100, 20
diu wip man iemer biten fol, iedoch flät in verzihen wol und 100, 24 ver-
zihen ifl der wibe fite, doch ift in liep daz man fi bite. die W. 32, 4 betwun-
gen liebe if gar ein wiht: Freid. 101,13 beiwungeniu liebe wirt dicke ze diebe.
die W. 41,3 wer finem rehte unrehte tuot, der eren niht gehüeten kan:
Freid. 106,20 wer finem dine unrehte tuot, dem wirt daz ende felten guot.
bei der verfchiedenheit des ausdrucks im einzelnen ift die übereinflimmung im
ganzen fo grofs dafs der einflufs Freidanks fehr wahrfcheinlich wird, zumal
das ftrophifche versmafs und die verfchiedene haltung des gedichts nothwen-
dig zu änderungen führen mufte. bei Thomafın ift mir bekanntfchaft mit Frei-
dank noch wahrfcheinlicher, Welfcher gaft pfälz. handfchrift 2° wer fru-
mer liute lop hät, der mac wol tuon der boefen rät: Freid. 89, 22 wer der
‚frumen hulde hät, der tuot der befen lihten rät. W.g. 11° wer in zorn hat
Jehene fite, dem volget guotiu zuht mite: Freid. 64,18 wer in zorn ift wol
gezogen, dä hät tugent untugent betrogen. W.g.15° her üz (dem fals) kumt
ze keiner frift niuwan daz innerhalben ift: Freid. 111,2 üz iegelichem vazze
gät daz ez innerhalben hät. W.g.19" fi (minne) blendet wifes mannes muot
und fchadet [ fele lip] ere unde guot: Freid. 99, 11 minne blendet wifen. man,
der fich vor ir niht hüeten kan. W.g. 43° [welh man hät einen richen muot,
derft niht arm mit kleinem guot: Freid. 43, 20 fwa@ ift frelich armuot
dä ift richeit äne guot. W.g. 44° fwer finem guot niht herfchen kan, derft
der pfenninge [dienfiJman: Freid.56,15 nieman der ze herren zimt, der fin
guot ze herren nimt. W. g. 42° [wen niht genüeget des er hät, des armuot
mac niht werden rät: Freid. 43,10 fwen genüeget des er hät, der ift riche,
Siwiez ergät. W.g. 44" fwelh man verkouft fin frien muot, der nimt niht
gelichez guot: Freid. 131,3 ichn gabe minen frien muot umbe keiner flahte
guot. dazu kommt dals ich diefe fprichwörter grofsentheils nur bei beiden
gefunden habe. Heinrich von Türlein, der etwa im jahr 1220 die Krone
über Freidanl.. 341
dichtete, gewährt kein zeugnis über Freidank, wenigftens nicht in der mir
allein zugänglichen Wiener handfchrift die unvollftändiger ift als die Heidel-
berger; in. einem fpruch falst er fich ganz anders, f. unten die anmerkung
zu 88,15. Lichtenftein fcheint fich nur um die diehtungen von Artus und
der Tafelrunde bekümmert zu haben: mit Freidank kommt einiges gemein-
fame vor, doch die übereinfiimmung müfte entfchiedener fein. Frauen-
dienft 95, 14 ich was dä der befte niht: ich was ouch niht der beefie gar:
Freidank 90,25 wer mac die beflen üz gelefen, wan nieman wil der boefte
wefen? Frauend. 340,25 guot gedinge derft vil guot: lieber wän noch Janf-
ter tuot: Freid. 134,22 diu grefte fröide die wir hän, däft guot gedinge und
lieber wän. Frauend. 475, 21 der edele fol erbarmen fich über die armen;
daz rät ich: Freid. 40,15 man foll fich gerne erbarmen über die edeln
armen. Fleck hat die Befcheidenheit nicht gekannt (vergl. anm. zu 107,
23), auch nicht Stricker, der im jahr 1240 ftarb: da, wo er von ketzern
fpricht (Hahn kleinere gedichte von Stricker 12,503 folg.), hat er gar nichts
mit Freidank gemein, fo ähnlich im allgemeinen gedanken und anfıchten find.
auffallender ift es, dafs Ulrich von Türheim, der in feinem um das jahr
1250 gedichteten Wilhelm fprichwörter genug vorbringt, nichts von ihm zu
wiffen fcheint. die einzige ftelle, in der man etwas ähnliches findet, ift
doch zu verlchieden gefafst, pfälz. handfchr. 152. Caffel. 120° ez ift ein al-
tiu lere daz fich der man gefellet als fin leben ift geftellet lautet in der Be-
Jeheidenheit befler, 64, 4 wer den man erkennen welle, der werde fin ge-
‚felle. ob die dichter der folgenden zeit, wenn fie ähnliche fprichwörter ge-
brauchen, aus Freidank geborgt haben oder nicht, kann uns hier gleich-
gültig fein; fie find im zwölften abfchnitt der Einleitung nachzufehen. dort
(f.xxxıx— xt) find auch diejenigen nachgewielen, die ihn als ihre quelle aus-
drücklich nennen, oder bei welchen man ihn mit ficherheit voraus fetzen
kann. Rudolf von Ems ift der erfte unter diefen. er ftarb ehe fein letztes
werk, die Weltchronik, vollendet war, zwifchen 1250-54. Wilhelm von
Orlens ift vor 1241, Alexander nachher gedichte: jenem voran giengen Bar-
laam und der gute Gerhard. in dem letztgenannten werk benutzt er Frei-
dank ohne ihn zu nennen, auch nicht ohne einiges zu ändern, 37.38 die wifen
jehent ‘wer fich lobe [under volge daz er tobe’: Freid. 60,23 merket, wer
Jich ‚Jelben lobet äne volge, daz er tobet. Gerh.152—58 des nam er ein ur-
künde dort an der Jehrift der wärheit, diu von dem almuofen Jeit, wer ez
3423 WicHELMm Grimm
mit guoltem muole git, daz ez lefchet zaller zit die ‚Sünde alfam daz wazzer
tuot daz fiur: Freid. 39,6 wazzer lefcht fiur unde gluot, almuofen rehte
dez felbe tuot: daz lefchet fünde zaller zit, dä manz mit guolem willen git.
dies ift ein biblifeher fpruch und feine quelle der Ecclehafticus 3, 33 ignem
ardentem extinguit aqua et eleemofyna refiftit peccatis,; der zufatz wer ez
mit guolem willen git und zaller zit, den beide haben, beweift die abhängig-
keit der auffaffung. Gerh. 6670 der hehften tugent werdekeit diu aller tu-
gende kröne treit (Wilh. von Orlens im eingang be/cheidenheit diu aller tugende
kröne treit) wie Freid. 1,2. Gerh. 6741 dä tüfent jär fint ein tac: Freid.
4,7 ein tac fi dä tüfent jär. endlich kommt auch im Gerh. 3213 das adjectiv.
unwipliche vor, was ich zur Einleitung cxxvı nachtrage. könnten wir nur
mit ficherheit die zeit beftimmen, in welcher Gerhard entftand: ift die Be-
‚[cheidenheit älter als der gefchichtliche abfchnitt von Akers, fo wird auch
die jugendarbeit Rudolfs in eine frühere zeit fallen. lebte Freidank damals
noch, weil ihn Rudolf noch nicht nennt, und nennt diefer ihn erft rühmend
im Wilhelm und Alexander, weil er nicht mehr lebte? hier ift mir willkommen
was Haupt (Gerh. ıx) nachweift, dafs Rudolf von Steinach, deffen bitte wir
den Gerhard verdanken, fchon in urkunden vom jahr 1209 — 1221 erfcheint.
Ich habe noch einige aus fpäterer zeit nachzutragen, die [prüche von
Freidank in ihre gedichte eingerückt haben. Buch der rügen (Haupts zeit-
fchrift 2) das in das jahr 1276-77 fällt, 315 ir enrouchet wer diu fehäfe
fehirt (\. fehäf befchirt), daz ot iu diu wolle wirt ilt geradezu aus Frei-
dank 153,11.12 genommen. in einer andern ftelle ift ein gleichnis von ihm
umfchrieben, 711—15 wie fit ir fo grundelös als daz mer, dä wazzer gröz
Steele in fliezent und fich dar in befliezent: und kan doch nimmer werden
vol! bei Freidank 41,18—21 die gitegen und die richen fol man dem mere
gelichen: wie vil zem mere wazzers g£, e2 hete doch gerne wazzers me. 'Tan-
haufers hofzucht (Haupts zeitfchr. 6) 201 hie vor /prach her Fridanc guot
win fi der befie trance, wie Haupt richtig anmerkt “in einem verlorenen
fpruch, oder ift es ungenaue erinnerung an 95, 2 folg.?” 213—16 wer ma-
chet eine höchzit, [wie manege traht man gü, dä mac kein wirtfchaft fin,
da enfi guot bröt unde win: Freid. 15, 15—18 hät ein herre ein höchgezit,
dä man fiben trahte git, dä mac niht volliu wirt/chaft fin äne brot und äne
win. Otacker hat einiges aus Freidank geborgt, wie Haupt zeitfchr. 3, 278
nachweilt; eine ftelle war fchon Einleit. cxır angemerkt. in ein kleines ge-
über Freidank. 343
dicht, das eine anmahnung zur minne enthält (Fragmente 32, 243—245),
find drei fprüche aus Freidank (100, 24. 25. 100, 4.5. 101,3. 4) am fehlufs
zugefügt: einige ftehen mitten in dem .text der erzählung von dem fperber
(Liederfaal 1,232: F.71,17.18) und in ein paar andern gedichten (Liederf.
9,423,145—148: F. 102,20 — 23, fodann 3, 707,425 — 426: F. 100, 24— 25).
endlich find in die verfchiedenen bearbeitungen von Catos fprüchen verfchie-
dene ftellen aus Freidank eingegangen, ohne dafs er genannt wäre, 41,4.5
(Liederf. 3,171 2.319.320). 48, 9—12 (Ald. blätter 2, 31 2.557 —559. Hätz-
lerin 276 z.183. 184). 52, 16.17 (Hätzlerin 276 z.173. 174). 59, 20. 21
(Altd. bl. 2, 26 z. 325. 326. Liederf. 3,171 2.319. 320). 69, 9—12 (Liederf.
1,564 z.171—174). 108, 11. 12 (Hätzlerin 275 z.117.118). Gerhard von
Minden hat ihn gekannt: in feinen niederdeutfchen beifpielen vom jahr 1370
(Wiggerts zweites fcherflein 31) bezieht er fich auf Freidanks worte 85, 13,
“mit dummen dum, mit wifen wis, fegt Fridank, “ift der werlde pris’.
Nach dem was ich ausgeführt habe, gelange ich zu dem fchlufs dafs
Freidank fchon im beginn des dreizehnten jahrhunderts in dichterifcher thä-
tigkeit fich zeigte und zwar als ein die welt beobachtender, wohl erfahrner
mann, auch in diefer hinficht mit Walther vergleichbar. rücke ich ihn in diefe
zeit, [o wird es mir vergönnt fein mit hinweifung auf die einzelnen anmerkun-
gen eine anzahl wörter zufammen zu ftellen, die zwar im althochdeutfchen
bekannt find, aber bei den dichtern des 13 jahrh. veraltet oder als unhöfifch
nicht geachtet waren, oder folche, die bei ihm allein vorkommen, kriften
10,26. reizer 47,24. jäherre 50,2. wizzecliche 51,7. hulwe 70,9. felbfelbe
85,23. daz luter 88, 17. laftern) 92, 12. nötgeftalle 96, 8. niugerne 97,
27. lönelin 103, 17. verniugernen 105, 6. des tiuvels er engiltet 105, 19.
nüfchel 115,2. frete 127,18. Samekarc 132,26. 133,2. 158, 16.17. rihtic
134, 21. narreht 140,18. miteteileere 147,14. horter 147,15. über daz 6,
8. 156,19. meifteil 164, 8. 21. lanclip 177,5.
IV
Ich kann die ftelle die Freidanks fpruchgedicht einnimmt nicht näher
beftimmen, wenn ich nicht zuvor einige blicke auf den urfprung und die ent-
wicklung des lehrgedichts werfen darf. ein berühmter mann hat behauptet
dafs mit dem lehrgedicht die poefie beginne, aber ich kan nicht dahin zäh-
len jene uralten lieder, welche, wie die Merfeburger fragmente, das Weffo-
344 Wıruerm Grimm
brunner gebet, oder die nordifche Edda, von erfcheinung der götter, der
erfchaflung und dem untergang der welt fingen: fie lehren nicht, fie ftel-
len keine betrachtungen an, fie verkünden überlieferte geheimnille, begei-
ftert im höchften finne des worts. die heldendichtung ift durch und durch
menfchlich, fie drängt die mytbifchen überlieferungen zurück oder verletzt
fie in irdifche verhältniffe. der erzählung grofser thaten und der darftellung
erhabener, von den edelften oder furchtbarften leidenfchaften bewegter men-
fchen bleibt es überlallen die lehre in dem gemüt der zuhörer zu erwecken.
kaum dafs das Nibelungelied am fchlufs mit den worten ie diu liebe leide
ze aller jungifte git etwas der art andeulet, oder eine unechte ftrophe (1022,
2) den allgemeinen fatz niemen lebet Jo Starker, ern mücze ligen töl für be-
fondere verhältniffe geltend macht, wie in gleicher anwendung Gudrun (5512
—=1377,4) fagt der vert lachete, den lat hiure weinen. das it der freien dich-
tung gemäls, die noch den geift des ganzen volkes abfpiegelt, und wie die
richtungen ver[chiedener zeiten wechleln, der fage auch einen andern mittel-
punct verleiht. beginnt aber mit dem heldenleben zugleich das gefühl für
das epos zu finken, fo geht die abgelöfte poefie in die hände einzelner über,
die ihr ein voraus beftimmtes ziel ftecken und die eigene betrachtung ein-
mifchen, um den gewinn felbft abzufchöpfen. in diefe zeit des einfamen
nachfinnens fällt die entftehung des lehrgedichts. Otfried, der hervor tre-
ten konnte, weil die fchaffende kraft des epos fchon zu verliegen begann,
das fortan von feinem erworbenen gut zehrte, fah gewis die moralifche
lehre, womit er die erzählung des evangeliums umgibt, als die hauptfache
und als feine eigentliche aufgabe an; auch dem dichter des Heljands find
betrachtungen nicht fremd, felbft in Mufpilli zeigen fie fich fchon. in
der langen zeit, in welcher geiftliche fich der dichtkunft bemächtigt hatten,
begegnen wir faft nur fittlichen betrachtungen, myftifchreligiöfen auslegun-
gen der bibel, felbft der naiurgefchichte, oder theologifchen fpitzfindigkei-
ten. fie fehen mit verachtung auf andere dichtungen herab: in dem allego-
rifchen gedicht von dem himmlifchen Jerufalem wird gefagt (Vorau. hand-
fchr.) fd man eine guote rede 1uot, (fö ift fie) dem tumben unmäre: der
haizet ime fingen von werltlichen dingen und von degenhaite. nur in den
bruchftücken eines lehrgedichts, das Docen (Mafsmanns denkmäler 80—82)
bekannt gemacht hat, finde ich gemüt und natürliches gefühl mit lebendigem
ausdruck vereinigt. wo man des gefchichtlichen nicht ganz entraten kann,
über Freidank. 345
da wird es dem dichter eine laft und felbft da, wo es den ftoff zu einer fchö-
nen dichtung gewährte, wie z.b. in dem gedicht von dem verlornen fohn
(f. Karajans denkmäler), mit wenigen zeilen abgefunden. nur bei religiö-
fen mythen, wie man die fage vom Antichrift und dem untergang der welt,
von Pilatus und der heil. Veronica nennen kann, war eine poetifche bele-
bung geftattet, doch nirgend zeigt fich eine fpur jener frifchen lebensluft,
die in dem Archipoeta fo wild überfchäumt, der fich vielleicht eben deshalb
der fremden fprache bediente. als in der zweiten hälfte des zwölften jahr-
hunderts die kunftdichtung wieder zu den laien übergieng, begann fie freier
zu athmen; wir haben aus diefer zeit fchöne zeugniffe dichterifcher kräfte.
auch die betrachtung durfte fich menfchlichen gefühlen und weltlichen ver-
hältniffen zuwenden. wie fchlicht und natürlich ift der gute rat, den ein
minnebrief aus diefer zeit (Docen misc. 2, 306) ertheilt: wie ernft und edel
die väterliche ermahnung des königs Tirol, wo mir gedanken und ausdruck
auch noch in das zwölfte Jahrhundert zu reichen fcheinen. die einfache fpra-
che und die innigkeit des gefühls in den Iyrifchen gedichten jener zeit geht
überall, felbft in dem religiöfen lied des Kolmas, mehr zu herzen als die
nicht felten erkünftelte und dabei doch eintönige ausbildung der fpätern.
fogar in den gedichten Walthers von der Vogelweide fehen wir den lebens-
vollen dichter von dem nachdenken und der klage über die welt zwar
nicht gefelfelt aber doch gehemmt. man glaubt kaum dafs es derfelbe
Gottfried ift, der im Triftan die luft der finne mit glühenden farben malt
und in den liedern (MS. 2, 183 — 185) gottes minne zu fuchen mahnt
oder armut und demut empfiehlt. weiter fchreitend bei bruder Wernher,
dem gedankenreichen Reinmar von Zweter, bei Raumeland, Friedrich von
Sunburg wuchert die lehre, die fich rankenartig ausftreckt und die freiheit
des unmittelbaren poetifchen gefühls faft erftickt. Konrad von Würzburg ift
ihr befonders zugethan und behandelt fie zwar mit gefchick, vorzüglich in fei-
nen liedern, bleibt aber meift an der oberfläche haften. in den beiden büch-
lein Hartmanns, zumal wo herz und leib fich unterreden, hat fie fchon
einen philofophifchen anftrich gewonnen, ja im Welfchen gaft legt Thomafın
ein philofophifchmoralifches fyltem mit unerträglicher breite auseinander.
Lichtenfteins frauenbuch mit feinen hohlen gedanken kann niemand ergötzen.
Das echte volksmäfsige fprichwort enthält keine abfichtliche lehre. es
ift nicht der ertrag einfamer betrachtung, fondern in ihm bricht eine längft
Philos. - histor. Kl. 1849. Xx
346 Wirserm Grimm
empfundene wahrheit blitzartig hervor und findet den höhern ausdruck von
felbft: welche kraft hat ein glückliches bild, es kann mild und ernft fein,
zierlich und witzig, aber es kann auch wie ein [chwert fcharf einfehneiden.
diefe erhebung des gedankens in eine reinere luft fichert dem fprichwort
innern gehalt, weite verbreitung und geltung durch Jahrhunderte: es ift,
wenn man will, eine freiere und kühnere, dem ganzen volk verftändliche
fprache, deren gebrauch eine geiftige belebung voraus fetzt: es ift auch die
volksmäfsige grundlage des lehrgedichts, das fich erft breit machen konnte,
als die neigung zu philofophieren eingang in die diehtung fand. bei uns
zeigt fich das fprichwort fchon in frühlter zeit, aber ich glaube dafs es,
wie das poetifche gleichnis, erft bei freierer beweglichkeit des geiftes zur
eigentlichen ausbildung gelangte. mit recht bemerkt Wackernagel (Gefchichte
der deutfchen literatur f.57) dafs in Mufpilli, dem Hildebrandslied gegen-
über, die fpruchweisheit mehr zu wort komme. in der Kaiferchronik habe
ich es, wenn auch nicht häufig, in der auffaflung gefunden, in welcher es in
dem dreizehnten jahrhundert fo oft erfcheint. Spervogel ift zuerft, foviel
ich weils, auf den gedanken geraten fprichwörter, die fich ihm bereits in
fülle darbieten, als lehre und ermahnung in einem gröfsern lied (MS. 2,226.
Mgb. 5) an einander zu reihen. weiter fortgebildet ift diefer gedanke in dem
Winsbeke, wo fie nur mäfsiger eingewebt find. daran fchliefst fich ein in der
pfälzifchen handfchrift Freidanks befindliches, jetzt in Hagens minnefingern
3, 46817! abgedrucktes gedicht, in welchem fprüche aus der Befcheidenheit
ohne grofses gefchick an einander gelchoben find. ich gedenke nur noch einer
ftrophe diefer art bei dem Marner (MSHag. 3, 452°) und einiger fpruch-
gedichte aus dem vierzehnten jahrhundert (im dritten bande des Liederfaals),
die einzelne fprichwörter ohne innern zufammenhang neben einander ftellen.
Freidank hat einen eigenthümlichen weg eingefchlagen: er wollte feiner
zeit einen fpiegel vorhalten und glaubte die anfichten über göttliche und welt-
liche dinge, über geift und natur, wie fie damals herfchten, in fprüchen
und fprichwörtern des volks am beften ausdrücken. unmittelbar belehren
wollte er nicht, auch nicht geradezu geltend machen was er fagt: ja fein
ftandpunkt erlaubte ihm widerfprechendes, wenn er es vorfand, hinzuftellen.
als die innere kraft der poefie in dem letzten viertel des dreizehnten jahrhun-
derts aufgezehrt war, blieb fie, ihrer fehwungfedern beraubt, auf dem boden
fitzen und ftreute die körner ihrer weisheit aus. die umwandelung der dinge
über Freidank. 347
zeigt Frauenlob am deutlichften, der von natur nicht unbegabt war und
welt und menfchen kannte. wenn feine leiche und geiftlichen lieder faft im-
mer durch die hinauf gefchraubte fehwierige fprache, oder durch die über-
treibung myftifchreligiöfer anfichten einen peinlichen eindruck machen, fo
zeigt er fich doch in feinen zahlreichen fpruchgedichten, die uns nicht we-
nige echte fprichwörter bewahrt haben (Freidanks Be/fcheidenheit war ihm,
fcheint es, unbekannt), als einen finnvollen man, der fich klug und ge-
fchickt auszudrücken weils. wenn er auch hier die fprache eigenwillig hand-
habt, fo läfst er fich doch einige male herab fchlicht und natürlich zu reden
wie in ein paar minneliedern und in dem ftreit zwifchen Welt und Minne,
als fei er ein ganz anderer. aber ihm mangelt das gefühl von dem höhern
werth der früheren dichter, ja er ift unwillig (feite 184) dafs man die alten
meifter preife und erhebe: unerfchöpflich fei der born der erkenntnis, natur
theile die gaben aus, die, gleich regen und wind, heute fich ebenlo wirkfam
zeigen könnten wie vordem. er geht noch weiter, in einem wetiftreit mit
Regenboge läfst er fich (feite 114. 115) von diefem fagen dafs Walthers und
Reinmars lieder mehr anklang in den landen fänden als die feinigen, erwi-
dert aber mit ftolz fwaz ie gefane Reinmär und der von E/chenbach, Jwaz
ie ge/prach der von der Vogelweide zuo vergoltem kleide: ich Frouwenlop
vergulde ir fanc, als ich iuch befcheide. fi hänt gefungen von dem veim,
den grunt hänt fi verläzen: üf kezzels grunde gät min kunft. fie haben nur
die oberfläche berührt, er holt die gedanken aus der tiefe des grundes und
verleiht der dichtung erft gehalt. die worte zuo vergoltem kleide erklärt Ett-
müller als einen höhnifchen hinblick darauf, dafs jene dichter kleider für
ihren gelang als bezahlung genommen hätten: gewis mit unrecht, denn es
ift nicht glaublich dafs Wolfram und Reinmar fich würden erniedrigt haben,
eine folche gabe anzunehmen, die noch der fpätere Buwenburg verachtet,
MS. 2, 181° /wer getragener kleider gert, der ift niht minnefanges wert, und
Geltar klagt MS. 2, 119° /6 ift mir fö nöt näch aller wät daz ich niht von
Jrouwen finge: mir woern vier kappen lieber danne ein krenzelin. Walther,
auf den jene worte Frauenlobs allein gehen, erklärt fich gerade dagegen,
wenn er (63,3) fagt dafs er geiragene wät von niemand als von feiner ge-
liebten annehmen würde, und meint bildlich damit ihre fchöne geftalt, den
reinen lip. fo gilt auch bei Frauenlob das goldgezierte kleid für die äufsere
glänzende form des gedichts. was er durch veim bezeichnet, fetzt ein an-
Xx?2
348 WirHeLm Grimm
derer fpruch (feite 120) aufser zweifel, /wer der materjen kleit & gap von
pfelle, famit, rich gewant, durchblüemet ende unde urhap mit fprüchen ganz,
fin, riche erkant: danc habe fin herze und ouch fin fin. kumt aber der ma-
terjen Juoch, kleid ichs in ein getriuwez tuoch. ich glaube er will damit feine
ftellung zu Walther bezeichnen.
Entfchädigt Frauenlob durch finn und verftand feiner fprüche für das
gekünftelte des ausdrucks, fo tritt bei andern die lehre in höchfter fchwer- #
fälligkeit hervor, wie bei Regenboge, oder in voller dürre, wie in Hugo von
Langenfteins kläglichem gedicht von der heiligen Martina. wollte ich noch
in das vierzehnte jahrhundert blicken, fo müfte ich hier vor allen den öft-
reichifchen Teichner nennen, deffen fpruchgedichte (*) fich zur aufgabe ma-
chen meift eine einzelne, an die fpitze gefetzte moralifche frage in ermüden-
der weife zu beantworten. aber zu der zeit mit der ich abfchliefse, im aus-
gang des dreizehnten jahrhunderts, ftieg Freidanks anfehen immer mehr:
man legte ihm die gemeinere anfıcht bei und fah in ihm einen genoflfen.
Boner rückte eine nicht geringe anzahl feiner fprüche aus der Be/fcheidenheit
in feine fabeln, ohne ihn ein einzigesmal zu nennen. felbft in den Schwaben-
fpiegel (f. unten zu 54, 4.5) hatte fchon eine ftelle eingang gefunden. einzelne
fprüche dienten im vierzehnten jahrhundert als infchriften in dem rathaus
zu Erfurt (Ledeburs archiv für gefchichtskunde in Preufsen 14, 175. 176).
Hug von Trimberg, dem es an practifchem blick und lebendigkeit nicht
fehlt, der aber die ganze welt belehren richten und ftrafen will, und dabei,
wie er felbft fagt, feines herzens fegel vom winde planlos treiben läfst, hat
nicht worte genug zu Freidanks preis. gleichzeitig zwifchen 1295 —98 dich-
tete fchon, wie Hug, in vorgerückten jahren Seifried Helbeling fein lehr-
haftes büchlein, in welchem wir abermals beziehungen auf Freidank finden.
es tritt hier eine befondere frage ein, weshalb ich bei ihm etwas länger ver-
weilen und die einzelnen ftellen fämtlich anführen mufs.
(a) 1,250 fiwer efel niht erkennet,
der fehe in bi den oren.
alfo ıft dem toren,
der fiellet fich nach finer art.
(*) man lernt fie [chon hinlänglich aus dem Liederfaal kennen, wo (gleich 1, 395 — 502) eine
ziemliche anzahl abgedruckt ilt; nur der jedesmal am [chluls vorgebrachte name muls hergeltellt
werden.
über Freidank. 349
(b) II,147 dä über fprach her Fridane
einen fpruch niht ze lanc,
[er Sprach] ‘dicke worden ift ze hoen
getwungen dienft, geribeniu fehoen.
und nochmals
VI, 46 getwungener dienft, geribeniu fchoen
dicke worden ift ze hoen.
(c) VI, 186 ez fprach her Bernhart Fridanc
‘zwiu fol der richen witewen lat (lade geldkifte)
än daz fi deftme bitel hät?
ir groz guöt wol füegen kan
daz fie nimt ein junger man.
für ir alte runzen
güt fi im filberpunzen:
die kan er wol nützen,
und rent ir üf die [prützen.
(d) VII,A1 ‘aller wisheit anevanc
ift vorhte fünder wanc’
/prach der wife Salomon.
(e) VII, 488 ez fprach her Bernhart Fridanc
"hochvertigiu armuot
daz ift richeit ane guot:
(f) armiu hochvart niht mer hät
wan hohe gedanke, an eren fpot.
gegenüber ftelle ich die fprüche, wie fie in der echten Befcheidenheit lauten,
(a) 82,10 bi rede erkennich toren,
den efel bi den oren.
(b) 104,20 man fihet manege fehcene,
diu doch ift wil hoene.
(d) 1,5 gote dienen dne wanc,
deift aller wisheit anevanc.
(e) 43,20 fiva ift froelich armuot,
da ift richeit dne guot.
(f) 29,6 armiu hochvart deift ein fpot:
riche demuot minnet got.
man fieht jeder diefer fprüche hat ftarke änderungen erlitten den worten wie
350 WiLseLm Grimm
dem finn nach, zugleich ift der unerträgliche reim @:o zugelaffen; denn dafs
/pot nicht als falfche lesart gebeflert werden muls, zeigt der echte text,
der das wort hier ebenfalls gebraucht und keine änderung zuläfst. eine ftelle
(c) kommt gar nicht in der Befcheidenheit vor, und darf nicht als eine ver-
lorne betrachtet werden, da fie Freidanks geift widerftrebt, über deffen lip-
pen die gemeine zote der fchlufszeile (vergl. Bernd die deutfche fprache in
Pofen f.291) unmöglich kann gekommen fein; die kürzung lat für lade, die
auf hät reimen mufs und für Freidank unmöglich ift, brauche ich nicht ein-
mal in anfchlag zu bringen. Haupt (von ihm rühren die worte in der Zeit-
fchrift 4, 264) hat diefelbe anficht geäufsert, “Bernhart Freidank fcheint mir
ein zeitgenoffe und landsmann Seifrieds zu fein, wie fchon der reim Aät:
Jpet $, 491 zeigt. dafs er mit dem bisher bekannten Freidank nichts gemein
ger als
5
die von Seifried angeführten ftellen fich des ältern Freidanks unwürdig zei-
habe, braucht demnach wohl kaum erwähnt zu werden: umfoweni
gen. wie es fcheint kannte Seifried das fpruchgedicht nur aus der über-
arbeitung Bernharts, die des alten gedichts edle haltung herabgewürdigt
und den ausdruck vergröbert, zugleich aber dem überlieferten namen den
eigenen zur unterfcheidung beigefetzt hatte. gieng doch der bedeutungsvolle
name auf andere gedichte diefer art über: ein diefer zeit zugehöriges, das
nur einzelne ftellen aus der Befcheidenheit aufgenommen hat, nennt fich der
minne Fridanc, (Docen misc. 2,172. vergl. Lachmann zu Walther f. 128).
ja ein fpruchgedicht, von welchem Mones anzeiger 3, 183 nachricht gibt, ift
überfchrieben daz buoch daz her Fridanc gelihtet hät, ohne dafs das ge-
ringfte darin von ihm vorkäme.
Ich kann noch nähere auskunft über Bernharts werk geben. in Mones
Anzeiger 1838 f. 367—70 wird eine auf der bibliothek zu Innsbruck befind-
liche papierhandfchrift vom jahr 1430 befchrieben und angedeutet dafs fich
darin auch fprüche von Freidank Bernhardus befänden. der gefälligkeit des
hn D. Adolf Pichler dafelbft verdanke ich nähere nachricht und eine ab-
fchrift der hierher gehörigen ftellen; zu gleicher zeit war hr Jofeph Diemer,
mitglied der kaiferlichen akademie zu Wien, fo gütig, mir von einer andern
papierhandfchrift, welche diefelbe zufammenftellung von fprüchen enthielt,
eine abfchrift mitzutheilen. die fprüche aus Freidank ftehen nicht neben
einander, fondern zerftreut zwifchen andern von Seneca, Salomon, Jeremias,
Paulus u. f.w. es find folgende,
über Freidank. 351
BERNHARDUS
1 ‘Seyt der tod niemandes jehont
Wer fol dan die welt lieb haben
Die welt felten yemand lont
Ob du es reht wild befinnen.
ich glaube es ift zu lefen
Sit der tot niemannes fehonet
und diu welt felien ieman lonet,
wer fol dan die welt liep han,
ob di ez rehte wilt verfiän ?
BERNHARDUS
2 ‘Das ift ein heilig veyertag
Als man won funden geveyern mag
Die tugent uber alle tugent get
Der einen bofen willen widerftet.
FREYDANKCH
3 ‘Wer reht fucht und befchaidenheit
Der felbig ift wol der der tugent ain kron trait
(der felb wol der tugent ein chron trait Diemer)
So han ich nicht pefferes gefechen
Denn wol tun und froleich wefen.!
BERNHARDUS
4 ‘Der nicht erhort die fiymme des armen
Und lat fich ihr prefien nicht erparmen
Den wil auch got erhoren nicht
Wenn er kumt in fein grofs verdriefs’ (l. geriht).
FREYDANKCH
5 ‘Pil gegerd und nicht gevangen
Wil gehort und nicht verftanden
Pil gefait und nicht gemerkceht
Das find alles verloren werich.
bei Diemer fehlt der zweite fpruch, dagegen hat diefe handfchrift zwei mehr,
FREYDANK
6 ‘Ich hab gut das ift mein
Ach got wes mag es fein
Ez enfiet nicht mer in meine gepot
dan ich vertzer und gib durch got.
352 WILHELM Grimm.
und unter einer falfchen überfchrift,
HELYFAS
7 ‘Wer diefe churcze zeit
fur die ebig fraude nympt (l. git)
der hat fich felber betrogn
nd czimert auff den regen pogen.
in der Wolfenbüttler handfchrift 8, wo dem ältern Freidank noch fehr ver-
fchiedenartige dinge beigebunden find, in den fogar, wie wir unten fehen
werden, wahrfcheinlich ein fpruch von Bernhart eingerückt ift, fteht in
der letzten, befonders paginierten abtheilung unter mancherlei kleinen ge-
dichten ganz vereinzelt feite 65° auch der fechfte fpruch in befferer falfung,
FREYDANCK
‘Hort ich hab güt das ifi nit mein
ach lieber got wes mags dan fein
es ftet nit mer zu meim gepot
Dan ich verzer und gib durch got.
diefe fprüche find aus Bernharts überarbeitung genommen, das zeigen die
veränderungen, zufätze und die fchlechten reime, nur der fiebente, der ihm
auch nicht zugefchrieben wird, mag aus dem echten Freidank 1, 7— 10 ftam-
men, es müfte ihn denn Bernhart unberührt gelaffen haben, was er wohl
mitunter that. der fammler hat beide namen getrennt, man kan nicht wiffen
aus welchem grund, aber mit richtigem gefühl. den erften und fünften
fpruch fcheint Bernhart zugefetzt zu haben, der zweite entfpricht Freid. 56,
24 und 54, 3, der dritte dem eingang der Be/cheidenheit, der vierte fteht
40,145. der fechfte ift dort nicht zu finden, aber er ift des echten textes
nicht unwert, und könnte zu den verlornen gehören; vielleicht lautete er
ich han guot daz ift niht min,
herre got, wes mac ez fin?
ez ftät niht mer ze mime gebot
dan ich verzer und gibe durch got.
In einer Strafsburger handfchrift vom jahr 1385 find gleicherweife
einzelne fprichwörter in reimen und profa gefammelt, die Graff in der Diu-
tifka 1,323 —326 bekannt gemacht hat: einiges ift aus Freidank entlehnt,
der dabei nicht genannt wird. eine ftelle, die Graff ihrer anftöfsigkeit wegen
übergangen, profeffor Mafsmann mir aber mitgetheilt hat, darf ich hier nicht
über Freidank. 353
zurück halten, “Alter der tivfel mus din walten aim pfärit nimeft finen zug
Ainem falken finen flug einem hunt fin geferti (|. geverte) und ainem za-
gel fini herti (hier feheint eine zeile zu fehlen) Ainem men/chen fine hiz
ainem man mache/t den zagel blaw V'nd dz hopt graw vnd die hoden lang
Sprichet maifter fridang! ich vermute der unfaubere fpruch ift ebenfalls
aus Bernharts werk genommen, deflen er ganz würdig erfcheint, und dem
auch wohl noch ein zweites ftück zugehört, das man unten in der anmer-
kung zu 51,17—22 findet. ein Freidank diefer Art mag nach Trevifo be-
rufen und dort begraben fein.
Endlich will ich noch den prolog mittheilen, den die Wolfenbüttler
handfchrift der Befcheidenheit (bl.77°) allein enthält und der, ftil und fpra-
che nach zu urtheilen, im vierzehnten Jahrhundert mit beziehung auf 151,
7—12 ift hinzu gedichtet oder, was am wahrfcheinlichften ift, aus Bern-
harts umarbeitung entlehnt worden. er zeigt wie in diefer zeit Freidank an-
gefehen ward, nicht als eine wirkliche fondern als eine fymbolifche perfon,
fo dafs feine unterredung mit dem pabft gar wohl mit feinem grabmal in Ita-
lien kann zufammen geftellt werden.
WIE DER PABST FRIDANC SINE SÜNDE WOLTE VERGEBEN.
Der pabft näch Fridanc het gefant:
fragt ob er were ein perfofant.
'gefii für ritter und für knehte,
und fwie di habefi in dime getrehte,
Jwie dich einer müge gefrägen,
daz kündefii eime gerimt wol fagen:
daz (l. des) foltü hie befcheider mich,
daz (l. des) wil ich abfolwieren dich:
und wil dir al dine fünde vergeben,
näch dinem ende dez ewege leben!
[der] Fridane fprach, 'heiliger vater,
kunt ir fö voller und jo fater
die fünde dn riwwe und leit vergeben,
und kume wir‘alfo_(l. füus) inz ewege leben,
wirt uns diu helle än buoz gewunen (l. genomen),
JO Jule wir al\in himel komen.
[und] alfö die herolt gar klein wägen
und torfien wol die warheit Jagen:
Philos.- hislor. Kl. 1849. NS
394
WILHELM Grimm
wor küngen fürften fi nit vermiten
daz fi diu tifchtüecher vor in zefchniten, (*)
Jö fi weften üf einen eine tat.
daz felbe ni gar vafte ab gat,
daz fi die warheit niemer jagen:
des fürht ieglich fins kopfs ab lagen.
v
Zu den fprichwörtern, die andere unferm Freidank beilegen, aber in
dem text der Befcheidenheit, den wir kennen, fich nicht finden, und die ich
feite 182 gefammelt habe, will ich einige nachträge liefern. in Rudolfs Wil-
helm von Orlens kommt (Caffel. handfchr. 9166 —80) folgende ftelle vor,
der edel wife wigant
was fines heiles alfö frö
daz ime was gefchehen fo
daz er die wege niht wol befach.
ime gefchach als einer fprach,
der fich verftuont des befien wol,
‘nieman fich fines liebes fol
ze fere fröun in finem muot:
ouch ifiz dem manne niht guot
daz er [fin] unfelekeit fo | fere] klage
daz er an freuden gar verzage.
durch liep durch leit fol niemen fich
wergähen; daz ift wislich.
eft war, jfö ie gaher,
Jö ie gar unneher!
ich finde in diefen fprüchen Freidanks geift und ausdruck (man vergleiche zu
dem letzten fpruch 32, 19.20) und glaube dafs fie aus der Befcheidenheit
genommen find; paffend bezeichnet ihn der ausdruck der fich ver/ftuont des
beften wol.
In den von Ettmüller heraus gegebenen fechs briefen heifst es z.29
folg. nach Haupts herftellung (Zeitfchrift 4, 398)
(‘) die verborgene unthat aufdeckten.
über Freidank. 399
Swer ane finne minnet,
wie felten der gewinnet
keine wünnecliche zit!
wan her Fridanc der kwit
‘ein man der rehte minne hat,
wie dicke er von den liuten gat!
er trüret zallen fiunden
und klaget fine wunden,
diu noch unverbunden Jiat,
wande fi nieman enhat
der fie gebinden kunde,
Jo fi bluoten begunde.
Zu der ftelle aus der Minnenlehre Heinzeleins von Konftanz bemerke
ich dafs auch Kirchhof im Wendunmut (Frankf. 1581) feite 145° diefes
fprichwort, doch mit andrer wendung anführt,
Lafs aufs dem Hof führn deinen Mift
Mit Vortheil weil du Schultheijs bift,
Aber doch bauw zuvor ein Haufs
Der Mift kompt hernach auch hinaufs.
Es ift kein grund vorhanden das zeugnis diefer ftellen zu verwerfen,
und der fchlufs ergibt fich von felbft (vergl. Einleitung xxxr), dafs wir Frei-
danks werk nicht mehr vollftändig befitzen. der verluft eines beträchtlichen
theils ift nicht wahrfcheinlich, fchon deshalb nicht, weil in der bedeutenden
zahl von fprüchen, die Hug im Renner dem Freidank ausdrücklich beilegt,
nicht ein einziger vorkommt, der noch unbekannt wäre.
vu
Von den feit 1834 aufgefundenen und mir zug
handfchriften Freidanks werde ich bei der neuen ausgabe nachricht geben:
hier berühre ich nur die, welche bisher noch nicht bekannte ftellen enthal-
ten. mittheilungen aus der Karlsruher handfchrift machte Mone (Anzeiger
4, 57— 60), die mich zu einigen bemerkungen (Göttinger anzeigen 1835
ftück 45) veranlafsten; er hatte über hundert zeilen ausgehoben, die in mei-
ner ausgabe fehlen follen, die aber darin ftehen. eigene einficht in die hand-
fchrift, die ich der grofsherzoglichen bibliothek verdanke, macht es mir
möglich genau nachzuweifen was fie bisher unbekanntes gewährt.
Yy2
änglich gewordenen
356 WitHeLm Grimm
23 hänt zwene herren Einen kneht,
er dient in beden jelten reht.
vielleicht nur eine entftellung von 50, 6. die kürzung reht für rehte an die-
fer ftelle ift für Freidank auffallend, doch vergl. unten 934; vielleicht ift
auch hier zu lefen deden niht ze reht.
155 gedanc hoeren unde jehen
die wellent nieman tete jehen.
in Einen muote niemen ınac
beliben einen ganzen tac.
wie man hernach fehen wird, kommen diefe vier zeilen, gleicherweife
auf einander folgend, auch im lateinifchdeutfchen Freidank vor: in mei-
ner ausgabe ftehen die beiden letzten 58, 11. 12, wo nur die worte äne
Jorge ftatt in Einem muote den finn ändern, fo dafs ein anderer fpruch dar-
aus wird, der feine berechtigung durch eine in der anmerkung beigebrachte,
entfprechende ftelle bei Walther erhält. die handfchrift A (110°) fiimmt
wieder mit dem texte hier überein.
249 ez fint driu dine (l. driu dinc fint) alleine
aller manne gemeine,
pfaffen wip und fpiler win:
begozzen brot magz dritte fin.
pfaffen wip meretrix, Berthold fagt 359 pfäffinne; vergl. Freid. 16, 17.
/piler win wohl ein wein geringer art, der fpielern gereicht wird. begozzen
dröt find mit heifsem fett beträufelte brotfchnitten: näheres bei Hadlaub
MS. 2,191’ (vergl. MSHag. 2, 299°), /ö der haven walle und daz veize drin-
ne [wimme, fo begiuz in (den gäften) wiziu brot: Wackernagel (Haupts zeit-
fchrift 6, 269) bezeichnet es als vorkoft. ein ftadtpfleger zu Augsburg war
im jahr 1347 her Heinrich der Begozzenbröt genannt. eine profaifche auf-
löfung des fpruchs in einer Strafsburger handfchrift (Diutifka 1, 325) lautet
‚/piler win, pfa/fen wip und begozzen bröt daz fint driu dinc diu gemei-
ne fint.
307 [wer fich vor fünden bewart (]. hat bewart),
der hat begangen [ein] guote wart.
311 fiver offenbare fünde tuot,
der habe worhte; daz ift guot.
über Freidank. 397
315 fiwelher äne riuwe ift,
dem wirt gegeben kleine frift.
Swaz man ane riuwe tuot,
daz wirt wil felten guot.
321 fiver fich niht liegens fehamen wil,
der volget eime boefen jpil.
493 zwivel grozen fehaden tuot,
er wvelfchet manegen hohen muot.
933 under wilen [der] fehalkhaftigen (1. fchalkhaft) kneht
durch trügenheit dient wol (l. dient ze) reht.
Eine von Wiggert im zweiten Scherflein f.70—78 befchriebene und
mir durch freundliche mittheilung feiner eigenhändigen abfchrift näher be-
kannt gewordene Magdeburger papierhandfchrift, von der fchon oben die
rede war, ift im jahr 1460 gefchrieben und enthält in etwa 3700 zeilen, die
der zweiten ordnung folgen, eine niederdeutfche überfetzung, deren ver-
faffer wahrfcheinlich das am fchlufs ftehende gebet hinzugefügt hat. einige
ftellen find hier allein erhalten.
bl. 21 ‘de logen mot dat fiwerent lan,
Schal fe jenighe getruwere han.
ich fchreibe den fpruch wie die folgenden gleich ins hochdeutfche um,
die lüge muoz daz fwern län,
Jol fi iender triuwe han.
echt fcheinen die beiden zeilen, denn in der handfchrift e ift Freid. 126, 15
ftatt diu glocke muoz den klüpfel hän, wie es gewis richtig heifst, die erfte
fälfchlich eingefchoben, “Die lügene müs dan claffen hän.
bl. 54° ‘dat hebbe wy beyde gehort vn gefeen’
(l. fwaz wir beide han gefehen,)
daz ifi wil dicke gefchehen.
— wirp felbe diniu dinc,
Jo kürzet fich daz tegedine.
von füren herzen hövefcheit,
daz ift verlorn arebeit.
— (alter) pfaffen kuonheit,
unde (l. junger) nunnen fietekeit
unde ohfen zelten
[diu] werdent (l. wirt) gelobet Jelten.
358 WILHELM Grimm
— junges mannes .... firit
und altes wibes hochgezit
und kleines pferdes loufen,
diu fol nieman |ze] tiure koufen.
beffer (a) im Liederfaal 3, 201 und (b) in der Strafsburger handfchrift vom
jahr 1385 (Diutifka 1, 324),
(a) alter wibe minne (b) iunger liute finne
und junger liute finne und alter liute minne
und kleiner rofje loufen und kleiner pferde loufen
Jol nieman tiure koufen. ol nieman tiure koufen.
In die fammlung der Clara Hätzlerin find auch einzelne ftücke aus
der Befcheidenheit, etwa 400 zeilen, eingerückt, wie es fcheint, nach der
zweiten ordnung. darin finde ich (feite 294”) zwei noch unbekannte fprüche
ez fint morgen alle liute
dem tode näher [vil] danne hiute.
der tot die liute von uns fiilt
rehte als der fchächzabels fpilt.
Mones anzeiger 1839 f.20 fpricht von einer zu Wien in privathänden
befindlichen papierhandfchrift vom jahr 1501, die ein bruchftück von 74 ver-
fen aus dem Freidank enthält. nur die beiden anfangszeilen werden mitge-
theilt, aber diefe liefern einen fpruch, der fonft nicht vorkommt,
wvil fchiere hät verlorn ein man
daz er in langer zit gewan.
Von dem lateinifchdeutfchen Freidank hat Efchenburg (Denkmäler
1441—118) nachricht gegeben: ich kenne ihn aus dem fehr feltenen, wahr-
fcheinlich noch in das 15" jahrhundert gehörigen druck, der fich in der meu-
febachifchen bibliothek befindet, fodann aus einer Göttweiger papierhand-
fchrift in klein folio, deren mittheilung ich der zuvorkommenden güte des hn
Diemer verdanke, wo diefer text verfchiedenartigen lateinifchen ftücken bei-
gebunden ift. der druck enthält etwa 1080, die handfchrift gegen 900 deut-
fche zeilen: fie fimmen wenig mit einander und gewähren nur zum theil
diefelben fprüche; wahrfcheinlich liefern fie auszüge aus einer vollftändigern
überfetzung. auch die Strafsburger handfchrift, von der Efchenburg f. 112
und Graff in der Diutifka 1, 324 fprechen, fcheint, zumal fie nicht mehr als
372 deutfche zeilen enthält, gleicher art zu fein. die lateinifche überfetzung,
über Freidank. 359
die den deutfchen text nicht ändern will, aber oft fehr verderbt vorbringt,
ift wohl im 14“ Jahrhundert entftanden: die Strafsburger pergamenthand-
fchrift fällt in das jahr 1385. der deutfche text verdient berückfichtigung,
da er einige gute lesarten (vergl. die anmerkung zu 72, 12) bewahrt oder
beftätigt. die fonfther nicht bekannten fprüche lafle ich hier folgen.
Göttw. h[. 3° alter druck 5° gedenken (gedanke Göttw.) hoeren unde fehen
diu wellent (Dy wyjen Göttw.) nieman (nymmer a. dr.)
Siete jehen.
in Einem muote niemen mac
geleben einen ganzen tac.
diefe vier zeilen find vorhin auch aus der Karlsruher hf. mitgetheilt, der alte
druck hat nur die beiden erften.
Göttw. 6° unkiufchiu wort diu machent
daz boefe (l. guote) fite [mit] fwachent.
10° des wifen mannes forgen
Jehaft im gemach vor borgen.
10: fiver den wiben übel fpricht,
der ift an ir minne enwiht.
14° fwie dem menfchen gefchiht (1. liep gefchiht),
ez gloubt doch einr dem andern niht.
15° ezn wart nie müeje alfö gröz,
[ön] der [do] wirt boefes wibes gnöz.
alter druck 1? ‘/Ver wiechen wyl dem czukunftigen czoren
Der volge nach crifio und feynem orden.
offenbar ganz verderbt, lateinifch Cedere venture quifquis vult iudieis ire
Debet poft Criftum filiatis paffibus ire.
5: ‘Es wart nye fo fiet kein menjchen mud
Der zu aller ftundt rutht.
die erfte zeit ift unmetrifch, der reim unzuläffig. die lateinifche überfetzung
lautet ‘Non eft cuiusque mens fubdita fit requiei Ut non mutetur fpacio quo-
cunque diei” ich glaube es ift nichts als eine entftellung des oben mitge-
theilten fpruchs der Karlsruher hf. z. 157. 158.
19° niumere grözen fchaden tuot,
‚Ji velfchet manegen fieeten muot.
360 WirneLm Grimm
24» der richtuom ift für niht gar,
des man niht gebrüchen tar.
25° Swer fich ze fünden (l. Swer ze fünden fi) bereit,
daft diu groefte unfelekeit.
lateinifch Hic ad peccandum qui cernitur effe paratus Poft erit infelix multo-
que dolore grauatus.
28: ‘Der libet aufs vnordetlicher libe
Dem wil eyn füundt der andern zu fchibe!
fichtbar entftellt, das lateinifche lautet Cum quis illicito fefe fupponit amori
Hic fenfus veniet ex fenfu deteriori.
30° eim boefen giftigen man
Jol man legen pin an.
Qui colubrum fuadet emittere dira venena Illum fi fequitur non mirum con-
grua pena.
In der Wolfenbüttler handfchrift, die ich ® bezeichnet habe, finde
ich einiges was fonft nicht vorkommt.
bl.110° ich mide wifehe manegen tac,
Jo ich ir niht gehaben (\. haben) mac.
120° ‘darümb lafs dich lieb nit vber gen
und gedenck daz du ir mügft vor geften
wiltu aber ye ein lieb haben
Jo fweig vnd lafs dich nit vberladen.
angerückt ift diefer fpruch an 99,19. der mangel an versmafs und der un-
genaue reim zeigen die unechtheit an. das pafst für Bernhart Freidank, und
ich glaube dafs er aus diefem, den die handfchrift 8 kennt, hierher gera-
ten ift.
vu
Gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer von Ja-
cob Grimm 1844 wird [. 113 gefagt “einen abftand Waltbers und Freidanks
aus ihrer fpracheigenthümlichkeit darzuthun fällt fchwer, da von beiden wir
nicht text genug vor-uns haben, Freidank aber bei zufammenftellung fchon
überlieferter fprüche leicht ausdrücke und wendungen behielt, die nicht ein-
mal in feiner mundart vorhanden waren. es kommt hinzu, dafs feine Be-
feheidenheit nicht in ihrer echten geftalt aufbewahrt und auf die jüngeren
über Freidank. 361
mehr unvollfiändigen als interpolierten abfchriften kein verlafs ift; die we-
nigen gerade auch in unfere Münchner lateinifche fammlung f. 110" aufge-
nommnen und daraus in Docens mifcellaneen 2, 195.196 abgedruckten fprü-
che gewähren ältefte urkunde. ich kan dem nicht beifiimmen. zwar ift, wie
ich gezeigt habe, die alte ordnung nicht mehr herzuftellen und in ein paar ein-
zelnen fprüchen das urfprüngliche geftört, aber bei der überwiegenden mehr-
zahl ift der text gefichert und zwar so gut gefichert als in den meiften denk-
mälern jener zeit. eine anfehnliche reihe von handfchriften gewährt hinläng-
liche beglaubigung, ja es liegt gerade ein zeugnis für die echtheit des textes
darin dafs, der verfchiedenen umftellungen und änderungen der reihenfolge
ungeachtet, er fo gleichlautend und übereinftimmend fich erhalten hat; und
wer darauf befteht den höchften grad der verderbnis voraus zu fetzen, der
kan doch unmöglich annehmen der urfprüngliche text würde abweichungen
von Walthers fprachformen gezeigt haben: dann mülte die vermutete ver-
derbnis abfichtlich darauf ausgegangen fein diefe verfchiedenheit zu tilgen,
daneben aber das übereinftiimmende ftehen zu laflen: ja die urheber der
verfälfehungen (mehrere natürlich, denn einer allein konnte den echten text
in allen handfchriften unmöglich vernichten) müften fich in diefem fireben
die hand geboten haben. ich zweifle nicht der text der reinften handfchrift
würde ebenfowenig verfchiedenheiten von Walther zu tage bringen als der
den wir befitzen, wahrfcheinlich aber noch einige übereinfiimmungen mehr.
die Heidelberger handfchrift A, welche die grundlage meiner ausgabe ge-
währte, ift mindeftens ebenfo alt als jenes Münchner bruchftück, das Schmel-
lers carmina burana f.107—109 genauer als Docen mittheilen: fie ift eine
gute wenn auch nicht vortreffliche zu nennen und ftellt die erfte ordnung
dar. da fie im ganzen unbezweifelt beflere lesarten liefert, fo habe ich ihr
in den meilten fällen der zweiten ordnung gegenüber den vorzug gegeben,
jedoch bei der neuen bearbeitung des textes von diefer firenge etwas
nachgelaffen. das Münchner nur aus 56 zeilen beftehende bruchftück folgt
der zweiten fpätern ordnung, und da es den vorzug verdienen foll, fo habe
ich die mühe nicht gefcheut, es mit A genau zu vergleichen. es ftellte fich
heraus dafs feine abweichungen, die niemals den finn berühren und im ge-
ringften nicht einen gegenfatz von echtem und überarbeitetem text auch nur
andeuten, überall fehlerhaftes oder verwerfliches liefern. 105, 6 flickt es
gegen das versmafs gar ein und fchreibt fälfchlich verniugeret. 136,12 fiht
Philos.- histor. Kl. 1849. Zz
362 WirHerm Grimm
für das richtige enfiht der erften ordnung. 136,13 wo A das fchwierige ge-
tagen hat und die handfchriften der zweiten ordnung, die das wort nicht
verftanden, immer etwas anders vorbringen, zeigt es ein unverftändliches
lagen. 138,6 fteht das weniger beglaubigte ;/i dem beflern were nach. 141,
20 kommt die metrifch fchon unzuläffige form florchen vor. 142,10 fwenne
ftatt /wd gegen A und alle übrigen handfchriften habe ich mit recht zurück
geftellt. es ift gar nichts aus diefem bruchftück zu gewinnen.
In Hattemers denkmälern des mittelalters 1, 421 wird aus einer hand-
fchrift der füftsbibliothek zu Sanct Gallen eine einzelne ftelle angeführt,
welche zwei fprüche aus Freidank (110, 21.22. 84, 6. 7) enthält; bei dem
zweiten fehlen die beiden reimwörter. die handfchrift foll angeblich in das
neunte jahrhundert gehören: das ift fehon der fprachformen wegen ganz un-
möglich, aber fie mag doch aus dem anfang des dreizehnten fein. der text
weicht von dem bekannten nicht ab und ift nur infoweit fchlechter als fich
in die erfte zeile felbes fälfchlich eingedrängt hat.
VIH
Gegen meine vermutung dafs hinter den namen Walther von der Vo-
gelweide und Freidank ein und derfelbe dichter fich verberge, habe ich den
von der gleich in die augen fallenden verfchiedenheit beider gedichte ge-
nommenen einwand, den einzigen der gewicht hat, gleich anfänglich felbft
mir gemacht, aber er fcheint mir entkräftet durch den natürlichen abftand
zwifchen kunftreichen liedern, die zum gefang beftimmt find, und einem die
gegenwart ernft und hart angreifenden, grofsentheils aus fprichwörtern zu-
fammen gefetzten, in einfachen reimpaaren abgefalsten werk, das gelefen
ward. wo zeigt fich Freidank in gedanken fprache und gefinnung Walthers
unwürdig? was unterfcheidet fie beide anders als der äufsere ftandpunct,
und was hindert einen beweglichen, nicht an Eine form fich bindenden geift
diefen oder jenen nach wohlgefallen einzunehmen? hier redet der dichter
fchlicht, volksmäfsig, wie es fein zweck fordert, dort mit dem fchwung der
erhebung und mit den blühenden worten eines fängers, und doch fehlt auch
diefem, der ars und mäne ins gleichnis bringt, nicht die gefunde derbheit
des andern. als ob Göthe der liederdichter nicht auch die weiflfagungen
des Bakis habe fchreiben dürfen? gemahnt Freidank wie eine fchwächliche
und abhängige natur, die ihre dünnen wurzeln erft aus fremder quelle be-
über Freidank. 363
giefsen mufs? weils er nicht felbft üs iegelichem vazze gät daz ez innerhal-
ben hät? ich glaube mich nicht zu teufeben, wenn ich, wie ich fchon in der
Einleitung cxx gefagt habe, in dem gedicht Freidanks den beigefchmack einer
eigenthümlichen perfönlichkeit und zugleich Walthers befondere gemüts-
füimmung empfinde. ich kann ein paar ähnliche oder vielmehr fchärfere ge-
genfätze aus jener zeit nachweifen. wer erkennt den lebensfrifchen dichter
von Erek, Gregor, Iwein, dem armen Heinrich in den mit ermüdenden, ziem-
lich dürftigen betrachtungen erfüllten zwei Büchlein wieder? Lichtenfteins
minnelieder find, wenn auch ohne tiefe des gefühls, zierlich gedacht und in
einer gewandten, höfilch gebildeten fprache anmutig ausgedrückt: würde
man glauben, wenn man deffen nicht ficher wäre, dafs ein von aller phanta-
fie entblöfstes gedicht, ich meine den Frauendienft, von demfelben verfaffer
ausgegangen fei? ich will nicht von dem oft widerwärtigen, oft abgefchmack-
ten inhalt reden, fondern denke hier nur an die trockene chronikartige er-
zählung, die es nirgend auch nur zu einem geringen grad von lebendigkeit
bringt; der gegenfatz ift viel gröfser als zwifchen Walther und Freidank.
aber es foll ‘fchwer fallen den abftand ihrer fpracheigenthümlichkeit darzu-
thun, da wir von beiden nicht text genug vor uns haben. das will mir nicht
einleuchten. Walthers lieder enthalten etwa 5000, Freidanks werk gegen 4000
zeilen: auf einem felde von diefem umfang konnten fprachverfchiedenheiten
genug aufwachfen. ift doch der umgekehrte verfuch gemacht worden (Haupts
zeitfchrift 5, 74. 75) aus fieben vereinzelten, nicht mehr als 64 zeilen ent-
haltenden bruchftücken eines verlornen gedichts von frau Treibe gleichzei-
tigkeit und ähnlichkeit der lautverhältniffe wie des fiils mit dem aus 1300
zeilen beftehenden gedicht vom grafen Rudolf nachzuweifen, während dort
vollkommene, hier unvollkommene reime beide gedichte weit genug aus-
einander fetzen. dann aber ift die übereinfiimmung in den [prachformen
Walthers und Freidanks, wie merkwürdig und wichtig an fich, nicht einmal
die hauptfache, fondern der einklang in fittlichen fowohl als politifchen an-
fichten, die nur in liedern fich tiefer und fchärfer ausfprechen konnten: fer-
ner der einklang in bildern, wendungen und redensarten, die fich bei einem
einzelnen feft zu fetzen pflegen und die ein anderer ohne mühlame anftren-
gung, zu der fich hier kein natürlicher grund denken läfst, nicht ablernen
kann. ift etwa jene ängftliche übereinftiimmung zu bemerken, wie bei einem
der fich von dem andern gedanken und worte holt? ich finde auf beiden
Zz2
364 WirseıLm Grimm
feiten freie und ungezwungene auffaflung: es gibt einfache fprüche bei Frei-
dank, die mit der reichern ausführung in Walthers ftrophen zufammen kom-
men (f. die anmerkungen zu 100, 6.7. 103, 25. 26). man erkläre diefe er-
fcheinung, wenn hier zwei verfchiedene fprechen, auf eine befriedigende weife
nur nicht durch kleinliche nachahmung oder angewöhnung, die bei dem fo
felbftändig und fcharf fich äufsernden Freidank nicht an der ftelle ift: welch
ein armfeliger, aller eigenen mittel entblöfster geift müfte er gewefen fein.
wo man einen folchen einflufs am erften fucht, bei Walthers fchüler, dem
von Singenberg, da habe ich ihn gerade nicht gefunden: hingegen wie leicht
erkennbar ift die nachahmung Hartmanns bei Wirnt und Fleck, die fich wie-
derum fo deutlich von ihrem vorbilde unterfcheiden.
Ich will die in der Einleitung exxın— vır ausgehobenen übereinftim-
mungen, fo genügend fie mir fcheinen, noch mit einer reihe anderer ver-
mehren, wobei ich abfichtlich auch auf weniger hervor tretende, doch nicht
überall vorkommende gedanken und ausdrücke rückficht nehme, weil mir
darin eine befondere beweiskraft gegen abfichtliche nachahmung zu liegen
feheint; dergleichen borgt niemand ab. der armet an der fele Walther in
W. Wackernagels lefebuch I. 388, 36: der armet an dem muote Freid. 56,
12. in finem füezen honge lit ein giftie nagel W.29,12: nü feht daz honc,
Swie füeze ez fi, da ift doch lihte ein angel bi F. 56,12. dü verderbeft dich
dä mite W. 60,29: fie verderbent fich dä mite F. 42,26. fo ift vaz und
tranc ein wiht W.106,22: dä wirt elliu fünde ein wiht F. 35,9. daz iu fanfte
tuot W. 56,20: daz mir fanfte tuot F. 40,9. daz fi dä heizent minne, deis
niewan fenede leit W. 88, 19.20: minne (bringet) fenede leit F. 51,16. doich
Je wünnecliche was in troume riche, dö taget ez und muos ich wachen W.
75, 22—24: dem blinden ift im troume wol, wachend ift er leides vol F.55,
1.2. dä für kan nieman keinen lift W. 56,8: dd für enkan ich keinen lift
F. 65,19. die unrehten die daz riche weenent fleeren W.10,23: der fürften
ebenhere fioert noch der riches ere F.73,8.9. wa fo liep bi liebe lit gar
vor allen forgen fri W. 92,1: wer liep hät, der wirt felten fri vor forgen
F. 101,25. 26. der kalte winter was mir gar unma@re W.118, 33: der fu-
mer würde gar unmare F. 117,6. huobe W.125,6: F.120, 6. faget war
umbe er fine lere von den buochen fehabe W. 31,31 und daz er mich von
dem briefe [chabe W. 100, 27: reht gerihte ift abe gefchaben F. 162,17 und
dins glouben Ere ift abe gefchaben F. 152, 27. ich merte ie dem tieyel finen
über Freidank. 365
Jehal W.123, 22: des hät der tiuvel grözen fchal F. 168,16. des fi dir lop
und ere gefeit W. 3, 71: F. 181,1. fü an iu fin fröide ftät W. 113,16 vergl.
81,18. 97,17. 121,15: an der des glouben fröide fıät F.161,8. daz dich
Jehiere got gehoene W. 64, 34: got mohte den tiuvel niemer baz gehoenen
F. 68,12.13. dä diu nahtegale fane W. 94,19: F.139, 22, beide gebrau-
chen daneben die ftarke form nahtegal W. 65, 23: F. 142, 7. gröze höve
(der plur. ift felten) W. 65,29: F. 88,18. 52 eigenem fiure W. 28,3: bi
eigenem bröt F.28, 3. halfen triuten W. 92,1: F. 100,6. al diu welt W. 58,
24. 111,8. al die werk W.28, 31: F. 101,23. über al der welte W. 76, 27:
F. 109, 11. der boefte, der befte W. 26, 29— 32: F. 90, 26. 105,15. 110, 24.
zer helle varn W.15, 27: F.405, 9. 151, 12. 180,1. zorn fenften W. 7,21:
F. 64,12. arger lift W. 34,17: F.14, 11. enger rät W. feite 148: F. 72,16.
boefer rät W. 83, 31: F. 162,2. fchanden mäl W. 30,23: F. 118,6. fel-
den fluz W.18, 25: fehatzes flüzze F. 148,4. üz der nöt komen W. 15,23:
F. 35,7. zende komen W. 84,2: F.111,13. 162,19. reife varn W. 29,18:
F. 12,12. den muot befwaren W. 62, 27. 88, 30. 90,12: F. 109, 5. leben
näch wäne W. 33, 31: F. 116,7. daz befte tuon W. 14,21: F. 82,23. 99, 4.
110,11. 149, 22. 156, 22. 160,18. aber als € W. 88,38: F. 88,18. michels
baz W. 112,31: F. 163,12. muoter barn W.5,40: F. 151,11. lüter brunne
W. 94,17: F. 71,23. guote finne W. 33, 32. 123, 36 u. f. w.: F. 143,18.
der wäre Krift W. 4,26. 5,18: F. 173,10. weizgot W. 32,26: F. 175,5. grunt
bildlich, herzen grunt W. 6,12. 27,26. 36: tödes grunt F. 156,24. fuontac
W. 95,7: fuones tac F.169,5. offen ften W.74,15.17.19: F. 12,20. 66, 6.
161, 21. fere fireben W. 80,5: F.154, 23. vor gän W. 33,13: F. 122,10.
fich haben an einen W. 31,22: F. 55, 11. 96, 27. 151,6. einem bi geftän
W. 45, 29: F. 16,12. 158,1. fich teren län W. 10, 20: F. 67,2. befcheenen
W. 104, 4. 106,6: F.162, 22. fich befprechen W. 79,7: F. 64, 21. grinen
W. 29,9: F. 138,12. drogen W. 12,10: F. 147,7. rünen W. 53,12: F. 54,
23. loefen befreien W. 76, 36. 78, 34: F. 20,17. 39,19. 130,9. 151,3. 181,
4. niuwe fubft. W. 17,30: F. 119, 4. gouch narr W. 10,7. 24,7. 79,2: F.
54,22. 83,12. 98, 12. 150,21. gehörfam W.11,7: lobefam F.13,13; vergl.
Haupt zu Engelhart f. 247. offenliche W. 10,14. 44,78: F. 162,27. her bis-
her W. 21,26. 32,1, 94, 3. 98,28: F. 176,8. zu unwip (Einleitung cxxvı)
mufs ich nachtragen dafs in der Klage 361, im Iwein 2299 unwiplich, bei
Herbort 17254 und Lichtenftein 566, 19 unwipliche, im Gerhard 3213 un-
366 WirHELm Gkimm
wiplichen, in Türheims Wilhelm bl. 161° unwiplichez wip vorkommt. die
früheren anmerkungen zu 58, 12. 67,25. 126, 18, die übereinfimmungen
nachweifen und hier berückfichtigung verdienen, habe ich anfehnlich ver-
mehrt zu 4,17. 16, 25. 33, 23. 35, 5. 44, 3. 55, 16. 57,2. 58, 11. 87,6. 87,
8. 89, 2. 95, 16. 103, 25. 123,12. 123, 21. 124,5. 126,18. 140, 9. 155, 4,
158, 8. 158, 27. 164, 8.
Man kann einzelne übereinfiimmungen für einen zufall erklären, aber
unmöglich eine fo grofse anzahl. von einem wort will ich noch befonders
reden, weil es bei unferer frage vor allen andern gewicht hat. bei Frei-
dank findet fich diu kriften für kriftenheit 10,26. 149, 14, und das vers-
mafs verlangt es auch 13, 22. 153, 30: es entfpricht dem althochdeutfchen
criftani, kommt aber in diefer zeit fonft nirgend vor. zwar auch nicht bei
Walther, doch fcheint er das auf gleiche weife gebildete heiden zu gebrau-
chen; vergl. zu Roland 3, 23 und Lachmann zu Walther 15,19.
Übereinfiimmungen in einzelnen fprachformen habe ich fchon in der
Einleitung cxxvır nachgewiefen und füge hier einiges hinzu. ob anderz W.
32, 31. 92,13: F. 12,12, die flectierte form des neutrums in diefer zeit noch
fonft vorkommt aufser im Iwein 7112, wo fie aber die befte handfchrift nieht
gewährt, ift mir unbekannt. dem gekürzten infinitiv pröfe F. 85,22 entfpricbt
büeze W. 37,13, wiewohl Lachmann die echtheit diefes liedes bezweifelt.
ich bemerke auch Aö W. 17,37. 67,1. 117,2: F. 43, 2. 103, 27. beide ge-
brauchen fanc als mafe. W. 14,5. 29, 3. 32, 33 u. f. w.: F. 143,18, fodann
den plur. friunt W. 74,10. 79, 21 (auch 31,2 ift wohl gewi/fe zu lefen): F.
12,12 und das part. praet. verbrennet W. 4,16: F. 151,16. W. gebraucht 7,
20. 91,25. 105,17 offenbäre, aber 87, 18.23, gerade in dem lied, in wel-
chem eine ftrophe mit F. flimmt, offenbär, wie es diefer 23, 17. 42,16 thut.
beide verwenden vzent vint vinde W. 53, 14. 29,20: F. 47,7. 62,2. 72,10. 73,7.
113,15. 128,4. verfchiedenheiten habe ich auch bei erneuter aufmerkl[amkeit
nicht finden können; ein umftand der nicht geringeres gewicht hat. denn
dafs F. 60,1 einmal im reim den nom. pl. herzen anwendet, W. nur Aerze,
brauche ich kaum anzuführen: warum follte F. fich nicht der andern fo be-
kannten form bedient haben, da ja auch W. bei firäze die ftarke und fchwa-
che form zuläfst? zudem ift eine änderung leicht, man braucht nur in der
folgenden zeile manege fmerze zu lefen, dem althochdeutfchen /merza ent-
über Freidank. 367
fprechend. diefes wort kommt fonft bei F. nicht vor, gar nicht bei W., und
ift überhaupt in diefer zeit felten.
Die fprache ift in beiden denkmälern rein oberdeutfch und zeigt nicht,
wie im mitteldeutfchen, einmifchungen der niedern mundart; fie verraten
auch darin eine gemeinfame heimat. ich hätte daher auch nicht die mittel-
deutfche form terre (8, 22. 19,1. 59, 4. 108, 3) gegen die lesarten ferne
fefthalten follen, zumal diefe bei Walther erfcheint; indeffen begegnen wir
‚Sterre auch im Servatius 648 und bei dem füddeutfchen Berthold: auch
reimt in dem gedicht von Bonus (Haupt zeitfchr. 2.211,87) flerre: herre, und
in einem öftreichifchen gedicht (Rauch feriptores 1, 374) fterren : merren.
ebenfo verhält es fich mit martel 9, 23. 26,16. 173,2, marteler, wie 67,24
ftehen mufs, und gemartelot 173,9, wolür marter marterer gemarteröt zu
fetzen ift, wiewohl es fchwer zu begründen fällt dafs die oberdeutfche fpra-
che diefe form nothwendig verlange, weil es zwar reime auf marter, nicht
aber auf martel gibt. ich ziehe marter gerne vor, da ich es auch bei Wal-
ther finde: ein ihm beigelegtes lied (MS.1,134°) zeigt es im reim. dagegen ge-
braucht Otfried fchon martelön und Berthold häufig martel f.28. 31. 35.101
u.f. w. wie martelen f.82.88. 150: ebenfo Heinzelein von Konftanz (Diu-
tifka 2, 255) martel. umgekehrt aber reimt der mitteldeutfche dichter des
Lohengrin zweimal (f.84. 194) marter : zarter, felbft im hl. Anno 87 findet
man merlirere, bei Herman dem Damen 384, im Wartburger krieg (MSHag.
3,179°) und im Paffional 4,20 marter, 128,19. 259, 93 martercere, ja die
niederdeutfche überfetzung Freidanks fchreibt in allen fiellen marzer und
nur einmal (67,24) mertelere.
IX
Ich bin bei der herausgabe von Freidanks werk der anficht gefolgt,
dafs man, weil er nicht wenige fprüche aus volksmäfsiger überlieferung auf-
genommen habe, eine ftrenge beachtung der metrifchen gefetze nicht fuchen
dürfte und glaubte ihn entfchuldigt, wenn man fchweren auftact, nachläffige
behandlung der fenkungen und andere verftölse gegen die kunftgerechte
form wahr nahm. von diefem vorurtheil bin ich zurück gekommen: ich
glaube vielmehr dafs er den beften dichtern in diefer beziehung nicht nach-
fteht und hofle dafs eine neue (diefer abhandlung fchon zu grund liegende)
368 WirHeLm Grimm
bearbeitung des textes davon überzeugen wird. auch hierin tritt die über-
einftimmung mit Walther hervor, fo weit fie bei der verfchiedenheit der
dichtungsart möglich ift.
In der abneigung vor ftarken kürzungen ftehen beide dichter den zeit-
genoffen Wolfram und Hartmann gegenüber; man könnte darin eine einwir-
kung von Walthers aufenthalt in Mitteldeutfchland fehen, wo fie nicht be-
liebt waren.
Das auslautende tonlofe e kann, wenn ein langer vocal voran geht,
nach den liquiden wegfallen, ich wen W. 22,30. 34,20: F. 111, 14. 120,15.
ich mein F. 75,19. än W.7,15. 29,1. 90, 25. 73,8: F.7,7. 37,25. 43,16.
411,19. 120,19. 126, 11. fin (fuam) W. 7,19. 29,14. 37,20: F.6, 4. 36,7.
37,17. 66, 24. 128, 27.129,11; -vergl. Lachmann zu W. 20,13 und 61, 22,
der nachahmung der gemeinen fprache darin fieht. min (meam) W. 36, 28.
46, 31: F. 113,17. wer W. 23,17: F. 75,11. 80, 23. 85,10. 89, 18. 136, 6.
145, 7. fuor W. 20,13. nach einer muta bei voraus gehendem langen vocal
nur in wenigen fällen, umd W. 11,5. 83, 38. 85,19. 111,4: F. 13,22. 55,4.
139, 24. ich wolt W. 26, 33: F. 91,8. flüent F. 3, 26. ged@t wir W.10, 2.
tet dü W. 89, 30; vergl. Lachm. z. 20,13. bei voran gehendem kurzem vocal
nur ein einziges auffallendes beilpiel /Zat W. 110, 34; vergl. Lachm. f. 172.
218. W. hat auch ich ih 82,14. diefes e fällt ferner im inlaut einige male
zwifchen liquiden aus. einr W. 26,17: F. 73,5. 105,2. 177,20; ich habe
kein beifpiel aus einem andern dichter. hüenr W. 34,12: F. 73,5. 177,20;
ich finde diefe kürzung nur noch bei Gervelein MSHag. 3, 37, der aber die
ganze zeile aus Walther wird genommen haben, wie eine andere ftr. 8,1 aus
W. 850,20. dinr W.5,24. viern F. 109, 21; das wort kommt nur in der
einen ftelle vor, bei W. gar nicht. zeiln F. 28,13. hern F. 90, 24. ein, der
artikel, für einen F. 2, 27. 6, 3. 46, 22. 70,14. 77,4. 131,15. 156, 27. 170,
14. auffallend F. 122,2 näch dem fin, aber das fubftantivum in der voran
gehenden zeile nöch dem fchaden min wirkt noch fort. der acc. dehein 141,
4 im reim auf @hein entfcheidet für die fchreibung. in den liedern enthält
fich W. diefer kürzung. häufiger ift der wegfall zwifchen liq. und mut. eins,
der artikel, W.19,5.8: F., der artikel, 80,16. 82,4. 98, 21. 22. 412,6.
138, 3 und zahlwort 18, 22. einz, zahlwort W. 18, 9: F. 87,25. keinz F. 2,
97. 19,19. 116,16. deheinz F. 12,1. mins W. 54,6. 73,16. 74,9: E..122,5,
179,25. /ins W. 18, 27: F. 23, 21.73, 3. 138,18. am häufigften in der drit-
über Freidank. 369
ten perfon des präf. fowohl nach liquida als muta, erteilt F. 89,17. erkennt
F. 32,14. went F. 44, 5.59,19. 99, 4. 126, 20. verdient F. 81,27 und part.
pret. unverdient F. 92, 96. grint F. 138,12. verniugernt F. 105,6. ert F.
56, 25.27. .oheert. F. 35, 17.1895 6:1:68,3. 95,10. 100, 32. 118, 25..121,9.
136,12. 149,16. haernt F. 144,16. fieert F.73,19. kert F. 61,26. 67,15.
18. 68,18. 23. 103, 20. 105, 26. lert F. 36, 27. lert ir F.142, 22. mert F.
41,17. volgt F. 36,19. bringt F.172,14. rüegt F. 34,5. lefcht F. 39, 6.
fücht F. 45,13. wirbt F. 111,11. /liuht F. 100, 8. halfı F.100, 6. vät (für
väht) F. 73,17. 78,13. kouft F. 66,19. verliuft F. 40, 23. 82, 3. 105, 12.
dazu die part. prät. gelouft : verkouft F. 45, 24.25, wo auch getoufet : ver-
koufet zuläffig wäre. diefe kürzungen des präf. und partic. prät. fagen dem
fingbaren lied nicht zu, deshalb wendet fie Walther feltener an, doch ent-
fchlüpft ihm weint 37,9. kert 29,14. lert 86,13. fticht 54,24. ich will
noch bei Freidank däbft 154,7.13. bäbftes 151,21. 153,15. jungften 178,
14 anmerken, wo Walther nicht kürzt. endlich, geht wurzelhaftes z vor-
an, fo läfst F. im präf. die endigung et, wenn es nöthig ift, ganz fallen. de-
riht 24,4. 28,11.70,20. geriht 72,5. geret 133, 24. fürht 136,11. 178,7.
viht 140,11. fchilt 62,24. brift 108,2. mich tröft 176,12. ir tröft 178, 21.
verleit 104, 17. briut 177,20. triut 100, 6. W. lälst nur einmal /röft 85,7
durch, denn ri (Lachmann f. 152) ift fchwerlich echt. geht d voran, fo habe
ich dt gefchrieben, vindt 62,12. 81,20. 82,17.18. fendt 68, 26.
Zufammenziehungen und verfchleifungen gehen bei Freidank nicht
über die gemäfsigten grenzen Walthers hinaus, und finden fich falt fämmt-
lich bei diefem wieder, find auch nicht häufiger: wenige, die der lieder-
dichter nicht anwenden wollte, oder wozu keine veranlaffung war, däz F.
96,10. sandern F. 57,4. habem F. 150,2. habern F.150,5. da fie bei den
meilten dichtern vorkommen, fo wäre es überflüffig ins einzelne zu gehen,
uur ein paar beifpiele, däft W. 15, 25. 90, 30: F. 9,2. 11,7. 145,24. derft
W.12, 4.26, 27: F..16,1. 54, 6. 135,19. foft W. 45,19. 69,10: F. 41,9.
53, 18.128,23. 144, 25. .öft W. 15,31: F. 22,3. 40,11. 179,6. der W. 19,
30. 84,21: F. 52, 19..114,14. däs W. 54, 26: F. 154,11.
x
Der einfilbige auftact, der den vers belebt, ift natürlich oft angewen-
det, der dreifilbige, der ihn beläftigt, vermieden, der zweililbige nie unge-
Philos.- histor. Kl. 1849. Aaa
370 WirueLm Grimm.
bührlich befchwert, wie dies z. b. bei Fleck gefchieht. gleich andern ge-
bildeten dichtern vergönnt Freidank dem erften fuls manchmal drei filben,
g zur dritten
darüber hin gleitet: immer aber fteht ein zweililbiges wort voran; fo hält
es auch der dichter des Athis (z. b. E, 80 zwonde daz) und Konrad (Haupt
zu Engelh. 3056). ich will die ftellen bei Freidank anführen, /wenner in 15,
12. danne diu 21,17. beidiu zen 22,17. woltens niht 77,1. izzet er 88,11.12.
Ere muos 93,10. re mac 93,18. geber mit 93,19. [wannez ze 94,18. un-
der den 133, 8. 158,19. /welher dem 140,1. prechent dä 156,11. zAkers
fint 157,1.5.
Freidank geftattet, wiewohl nicht oft, eine hebung ohne fenkung, aber
wovon die mittlere am mindeften gewicht hat, indem die betonun
immer nur einmal in der zeile; darin ftellt er fich dem dichter des Athis zur
feite, bei dem ich (f.25) ein gleiches bemerkt habe. zwar kann die eine [en-
kung an jeder ftelle des verfes ausbleiben, aber am meiften fehlt doch die
letzte und auch hier überwiegend öfter, wenn Ein wort die zwei letzten he-
bungen gewährt: fo z. b. Fridäne hirdt wisfagen rätgeben nölzöget und
lantman weizgöt oder fchilline pfennine weitin guldin. bei zufammenfetzun-
gen wie in bärfuoz 119,15 und dem zweifelhaften Sämkarc 132, 26. 158, 14
kann auch die erfte kurz fein. wenn dagegen der fchlufs aus zwei wörtern
befteht, fo find es zwei längen wie arm ift 40,12. zwelf jür 42,3. Schäf ift
67,27. liep hät 102,1. wip hät 104,10. guot ift 108,1. wär fügen 124,1.
dri märe 132, 27. 185,15, oder eine länge und eine kürze, Sliz an 61, 26.
werlt kan 31,18. geliton mäc 31,18. es fcheint zufall, wenn keine ftelle
vorkommt, wo die hebung auf einer kürze voran geht, wie bei andern, z. b.
der ift Iwein 208. taec nie Iw. 1743. /läac flüoc Iw. 6505. fin min Parz.
128,3. aber wohl abfichtlich verwendet Freidank nicht zwei kürzen, wie
wär nam Äneide 2461. /rium man Iw. 1849. 1861. göt gan Iw. 1928. 2324.
wol gän Iw. 2492. mir wer 3617. man nam 4119. daz er Büchlein 1, 1503.
Konrad bedient fich zweier wörter, aber nur unter befondern bedingungen,
die Haupt zu Engelhart feite 226 nachweilt: Eines wortes bedient er fich
oft und erlaubt überhaupt nur den wegfall der fenkung an diefer ftelle. bei-
fpiele aus Silvefter in Haupts zeitfchrift 2, 373. 74. wenn Konrad mehr-
mals am fchlufs pälds, allo Ein wort mit zwei kurzen filben, fetzt, fo ift zu
erwägen dafs an einem fremden wort die erfte filbe fchwerer betont wird,
über Freidank. 371
auf gleiche weife fteht es Graf Rudolf 15, 28. Lambr. Alexander 52692. 5284.
Klage 790..1139.. Parz. 23, 15..27,16. 32,12. 45,9. 53,14. 61,2. 69,22
u.f.w. Wilh. 97, 17. 140, 23. 144,1. Flore 6425. Mai 60, 28. 214, 12,
Barlaam 23, 9. 316, 21; vergl. Lachmann zu Nibel. 557,3, zu Iwein 6144
und f. 475. ebenlo fteht walap Parz. 173,29. 211,3. 295, 10. Wigalois 216,
38. Stricker Karl 41°. in Walthers liedern wird man eine folche unterdrük-
kung der fenkung nicht fuchen, doch finde ich 95,7 /uontde mit der lesart
endes ac, wo aber, glaube ich, Freidanks fuones tac (vergl. zu 35,27) zu
fetzen ift.
Die regel welche kunftgerechte dichter bei dem auslaut der letzten
fenkung beobachten, wenn diefe auf eine betonte filbe mit kurzem vocal
fällt und der darauf folgende ftumpfe reim vocalifch anlautet, hat Lachmann
zu Iwein 4098 angegeben wie die abweichungen die fich andere, felbft Wolt-
ram, Hartmann und Gottfried erlauben. bei Walther und Freidank kommt
in allen, ziemlich zahlreichen fällen kein verftofs gegen die ftrengften bedin-
gungen vor: der gewis zufällige unterfchied befteht nur darin dafs F. ein-
mal ez ouch 54, 23 fetzt, was ftatthaft ift, aber bei W. nicht erfcheint, die-
fer dagegen allein das ebenfo zuläffige daz ich 49, 31. daz iht 124, 3. daz
ort 28,18. 63,25; ftatt des fehlerhaften was ich 40, 30 fchlägt Lachmann
bin ıch vor.
Vor dem ftumpfen vocalilch anlautenden reim find abkürzungen nur
unter bedingungen erlaubt, die Lachmann zu Iwein feite 556 feft ftellt. die-
fen gemäfs läfst fie Freidank einige male zu, und ich wiederhole hier Lach-
manns zufammenftellung ([.558), zumal jetzt ein beifpiel wegfällt, liebeft ift
28,14. leideft ift 65,18. cheltenn ift 62, 9. lebenn ift 68, 22. der efel art
72,25. dan € 133,20. für das lied war wohl diefe kürzung zu ftark, doch
findet fich auch bei W. fung ich, weshalb Lachmann die echtheit der ftrophe
(z.110, 33) anzweifelt.
Am auffallendften zeigt fich die übereinftimmung beider dichter in
dem gebrauch des gekürzten, in die letzte fenkung fallenden unt vor ftum-
pfem reim, wo auch beide die bedingung (f. Haupt zu Engelhart 463) enger
und formelhafter einigung der wörter durch unt immer erfüllen. F. läfst es
nur dann zu, wenn der reim mit @ und 7, £ und Z beginnt, alfo ere unt amt
16, 23. /cheene unt jugent 176,16. vogele unt tier 5,13. 10,13. bihte unt
touf 16, 6. naht unt tac 154,15. zuht unt tugent 52,21. fehoene unt tugent
Aaa?
372 WirseLm Grimm
176,17. bürge unt lant 75,13. 79,26. 152,20. Ziute unt lant 156,17. Walther
vor a und i, d und /, üfunt abe S1,14. junc unt alt 56,7. trege unt alt 124,9.
er unt ich 40,15. üz unt in 55,11. jenen unt difen 81,8. liep unt leit 116,28.
j und 2 bei Freidank und i und d bei Walther kann einen unterfchied nicht
begründen. andere und gute dichter befchränken fich nicht fo weit oder auf
andere weife; ich will um das gewicht zu zeigen, das in der übereinftimmung
beider liegt, diejenigen gegenüber ftellen, die hauptfächlich hierbei in betracht
kommen. Hartmann verwendet diefes unt viel feltner, nur einmal im Iwein
und Gregor, einige male im Erek: er fetzt es nicht vor einem vocal, aber
vor dt hund m (höch unt die Erek 7845. Iw. 4365. naht unt tage Greg.
2956. fuor hin ze hove unt tete Erek 5699, wo, wie Haupt zu Engelhart
{.233 anmerkt, das formelhafte vernachläffigt ift. hin uni her Er. 3873. wip
unt man Er. 5281. iu unt mir Er. 6446); fund g (dürre unt vlach Iw. 449.
riterlich unt guoti 1w.905) hat Lachmann (z. Iw. f. 482) ausgewiefen. Wolfram
vor aiou und di (belege liefert Haupt zu Engelhart f. 233), auch vor m
(ros uni man Wilh. 365, 23). Gottfried von Strafsburg im Triftan vor @ ei
ei (an unt abe 204, 25. üz unt abe 329, 32. edelich unt alt 385, 32. dü unt
er 235, 7. pfert unt ich 69, 30. got unt ich 103, 33. und zwäre, folt du le-
ben unt ich 109, 20. min frouwe unt ich 287,11. ir unt ich 372, 27. fi unt
in 281,1. 346,10. mich unt in 377,21. triuwe unt eit 163,10. ein unt ein
327,17), fodann vor bd hm w (baz unt baz 73,10. 184,9. ich unt duo
250,32. diz unt daz 353,35. hin unt her 66,19. 97,3. m& unt me 344,29.
wä unt wie 409, 8), aber nicht vor /, denn 87,17 ift mit einer handfchrift
Jeheene zu ftreichen und 413,33 ift das feltfame finen wuocher bern unt fpil
gewis nicht richtig, ich ändere fin wuocher berndez fpil. auch wohl nicht
vor g und r, da wahrf[cheinlich 121, 24 vil unt zu ftreichen und von der ge-
denke ich genuoc zu lefen ift. löfcht man 258, 34 das überflüffige was vor
übel, fo bleibt ein herze übel unde guot. 238,20 maneges herzen fröude unt
rät lautet fchon befremdlich, ich beffere fröuden rät. in Gottfrieds lob-
gefang nichts der art und nur einmal in einem liede (MSHag. 2, 277°)
an unt abe. in der älteften und beften handfchrift von Neidharts liedern, in
der Riedegger fteht unt lediglich vor d und zwar nur zwei mal (hie unt dort
24,9. 36,6), in der Parifer (MS, 1,79 vollftändig bei Hagen 2, 113. 114) be-
findet fich ein lied, in welchem nicht blofs her unt dar, fondern auch hin
unt her, zwei untl zwei vorkommt: ob es ein echtes ift, wird Haupts ausgabe
über Freidank. 373
nachweifen; das gilt auch von einem lied (MS. 2, 82") wo wider unt für
fich zeigt. die aus andern quellen genommenen und im dritten band der
MSHag. ihm beigelegten lieder feheinen keine regel mehr zu beachten, bier
wird unt gefetzt voraeghjklmnp/ftw (junc unt alt 195". 312°. unt
er 313°. /piez unt gabel 266°. röt unt gel 296°. hin unt her 202°. 203. 204®.
hei unt hei 283°. kumt unt jagt 243°. kopf unt kragen 187®. kurz unt lanc
229°. milz unt leber 291". hals unt munt 201°. freude unt muot 296°. wip
unt man 292°. unt nern 290°. tage unt naht 294°. unt pfunt 201°. wart unt
Jpür 197°. gröz unt wer 300°. fruo untl Spät 313%. berc unt tal 383°, breit
unt wit 190°. hel unt wit 190°. rife unt wint 286°); fchon aus diefem grund
wird man fie zu den untergefchobenen rechnen müffen. bei Lichtenftein
finde ich unf nur einmal vor i (daz ez mir fchadet unt ir 415,4), defto öfter
vorddfghlmnftw (baz unt baz 126, 32. lewen unt bern 473, 27. arme
unt bein 583,2. dife unt die 76,26. her unt dar 90,5. 102, 10. 314,17.
her unt dan 91,2. dan unt dar 103,18. hie unt dä 69, 17. 171,15. 247,20.
535, 25. hie unt dort 287,19. 493, 5. 584,14. fruo unt fruo 72,9. pät
unt fruo 629,17. gemach unt guot 314,11. ich fluont üf willeclich unt gie
539, 9 ift die regel des formelhaften nicht beachtet. gemach unt guot 314,
8
11. Sehen unt guot 594, 17. 599, 25. 610, 31. dort unt hie 84, 27. 88,19.
193, 11.173,18. 211,8. 264, 21. 282, 28. 385,15. 405, 21. 452, 31. 455,
22. 480, 32. 489,1. hin unt her 489, 23. 491,10. fehene unt lanc 207,1.
tuon unt län 654,27. nafen unt munt 220,6. wip unt man 579,2. mer unt
me 589,9. tac unt naht 344,8. herz unt fin 382,23. lip unt fin 590,4. fus
unt fo 452,23. 476,23. 551,17. naht unt tac 324,29. 579,11. 588, 17. 642, 31.
bröt unt win 334,11). bei Rudolf von Ems mehrmals vor i (er unt ich Gerh.
2586. min fun unt ich 3415. 4251. min herre unt ich 6574. dü unt ich Wilh.
v. Orlens 6278. ich unt ir Gerh. 26, 56. dich unt in Wh. v. Orl. 12653.
unformelhaft fteht im Baarlam, daz ir fus wollet teren mich, daz ich ver-
kerte mich, unt ich erfehe in mittes tages [chin 278, 4. nicht unmittelbare
verbindung beider wörter in einer andern Stelle, daz kumet iu gar wol unt ir
12846). fodann vor dg hm tw (hie unt dä Barl. 32,18. Wilh. v. Orl.
8149. diz unt daz Barl. 293, 27. dar unt dar Wh. v. Orl. 12041. ich unt dü
12736. @re unt guot Gerh. 521. her unt hin Gerh. 3052. Wh. v. Orl. 3924.
gote uni mich Barl. 218, 21. naht unt {ac Wh. v. Orl. 11731. guot unt wis
6334. erde unt wafen 12996). der dichter der Guten frau vor m und w
374 WirseLm Grimm
(mäge unt man 2135. wä unt wä 2806). Konrad von Würzburg zeigt diefes
unt (vor dem perfönlichen pronomen bei ihm auch und) felten, hat aber die
bedingung zufammen gehöriger wörter nicht immer feft gehalten, wie Haupt
zum Engelhart [.233 nachweift; dort findet man auch die von Lachmann
z. Iwein f.557 fchon gefammelten beifpiele. bei ihm fteht es vor aeiiei
(an unt abe Tro). kr. 18390. üf unt abe 22006. june unt alt MSHag. 2, 317°.
Alexius 1271. Silv. 536. 989. Gold. fehmiede 1388. 1532. Troj. kr. 2105.
12916. kapelläne und er Silv. 869. fin fun und er 2898. beide fchibe und
er Pantal. 1545. tracke und er Troj. kr. 9872. fin mäc und er 10217. fin
maj//enie und er 10896. Deidamie und er 15453. er und ich Engelh. 600.
Thelamön und ich Troj. kr. 11727. 11769. ir und ich 22222. mich und in
3531. fi und in Engelh. 5094. er und ir Troj. kr. 11152. üz unt in. Turnier
62,2. ein unt ein Engelh. 463), fonft nur vor d und, wenn man den um-
fang von Konrads werken betrachtet, äufserft felten (ich unt dü Engelh. 526.
dirre unt der Silv. 2617. mir unt dir 'Troj. kr. 5704. dort unt dä 19568),
vielleicht auch einmal vor Z (az unt trance Alexius 670). das volksepos ge-
währt nur wenige beifpiele, vor einem vocal fteht unt weder im Nibelunge-
lied noch in der Gudrun: dort vor confonanten nur drei mal und zwar vor
m und d (wip unt man 1462, 3. wider unt dan 2229, 1 und in einer un-
echten ftrophe mäge unt man 1793,1): nach einer lesart auch einmal vor 2
(Jorge unt leit 934, 2; vergl. die anmerkung von Lachmann). in den ech-
ten ftrophen der Gudrun nur zweimal vor g und w (flolz unt guot 115, 2.
gerne unt wol 240, 2), in den verdächtigen vor / und w (michel höch unt
‚Starc 65, 2, wo aber wahrfcheinlich michel unde ftare zu lefen ift. man unt
wip 127,1). Dietleib und die Klage haben fich noch reiner gehalten: in bei-
den gedichten habe ich kein un? gefunden, denn in dem erfigenannten ift
zeile 12047 ohne zweifel zu lefen die helde küene unde junc. dem natür-
lichen gehör war die kürzung uni vor dem ftumpfen reim zu ftark. auch bei
den liederdichtern des zwölften jahrhundert, Reinmar mit eingefchloffen,
im Eraclius (z. 5077 ift figelös unde wunt zu lefen), im Lanzelet, im Athis
und bei Herbort habe ich es vergeblich gefucht. der dichter des Servatius
fetzt es nicht vor einem vocal, aber vor g hn / (unt guot 3231. hin unt her
1889. tac unt naht 667. unt fage 1973). merkenswerth dafs Veldeke nur
in dem früher gedichteten gröfsern theil der Äneide fich deffen enthält: zu-
erft erfcheint es 10460 dar näch fereip fiu (fo in der Berlin. hf. aber /chreip
über Freidank. 379
fie ein im druck) ein a unt s und deshalb ift mir fehr wahrfcheinlich dafs die
nach neunjährigem zwifchenraum unternommene fortfetzung nicht 10766 fon-
dern fchon 10454 beginnt. es kommt dann noch öfter vor und zwar vor @
k ft (wan er unmehtic was unt alt 13086; in der Berlin. hf. fehlt die zeile,
in der Wiener wan er waz gar ali. Minne, al daz ich mac unt kan 10907.
wan fie ir fere dröut unt fehalt 10550, die Berliner lieft ‘wande fi ir drowet
vn fchalt’, in der Wiener fehlt die ftelle. dö rihte fie fich üf unt fprach
10558. fünde unt [cholt 10987. naht unt täc 11174). in den liedern Veldekes
erfcheint es nicht, denn ftatt /under wig und wan’ MS. 1,90: ift funder wich
und äne wän zu lefen. doch Eilhart von Oberge, deffen Triftant Veldekes
Äneide mufs vorangegangen fein und der die feineren metrifchen gefetze
fehon kannte und beachtete, gebraucht diefes unt: er fetzt es nicht vor vo-
calen, aber vor dZ!m fw (des volkes zöch vil hin unt dar 6321. da im was
[vor] gefchehen liep unt leit 4069. 7222. daz was beidiu wip unt man. 3802.
er legete ez zwifchen in unt fie 3887. daz er haben fol unt wil 3577).
XI
Schon in der Einleitung zur Befcheidenheit cxxvır habe ich darauf
hingewiefen dafs bei Freidank kein reim fich zeige, der nicht auch bei Wal-
ther zuläffig wäre: hier trage ich nach dafs fich zwifchen beiden eine mer-
kenswerthe übereinftimmung findet. fie gebrauchen nemlich nur Zch, nicht
lich mit kurzem vocal, was bei andern entfchieden vorherfcht. lich reimt bei
Freidank blofs auf rich 11,23. 16, 8. 41,8. 43, 22. 58, 25. 91, 12. 103,3.
108,7. 115, 20. 122,7. 126,7. 11. 155, 23, ebenfo bei Walther aufser ein-
mal auf enitwich, wie man in Hornigs gloffar f.418 und 421 nachfehen kann.
die paar ftellen, worin bei Freidank Zch erfcheint, find auch aus andern grün-
den unecht, wie unten die anmerkung zu 141,7 dar thut. die von Freidank bei
dem fehwachen verbum gebrauchte form öt, verzwivelöt 66,7 und gemarte-
röt 173,9, hat Walther nicht angewendet, was vielleicht nur zufällig ift,
oder ihm fchien diefe alterthümlichkeit der gehobenen fprache des liedes
nicht mehr angemeflen. in den denkmälern des elften und zwölften jahr-
hunderts, zumal in denen, die in die erfte hälfte deffelben fallen, zeigt fich
öt fo häufig, dafs ich mich der beifpiele enthalte. ein gleiches gilt vom Ro-
ther und Wernhers Maria, felbft in der überarbeitung, die wir befitzen. im
jüngern Anegenge, geergeröt 3, 33. ordenot 3, 67. geordenöte 8, 61. hun-
376 WiLHELM Grimm
geröt 37,36. in dem lied auf die jungfrau Maria (Wackernagels lefebuch 1,
197) ungebrächöt, richfenöt. in den 17000 zeilen der alten Kaiferchronik
etwa vierzigmal. in gleichem verhältnis in den alten bruchftücken von Rein-
hart fuchs, gewarndt 1557. gehandelöt 1617.1750. gevolgöt 1645. gelägöt
1697. gedihtöt 1798, die alle in der fpätern überarbeitung getilgt find. in
dem gedicht vom Antichrift Elias und Enoch (Fundgr. 2) iroffendt 109,13.
gebildöt 116, 39. weigeröt 123, 34. gelonöt 125,15. verwandelöi 130, 12.
gefamenot 134, 3. in den bruchftücken von Ägidius gelonöt, goffenot, vir-
dienöt. in der heil. Margareta gemaheloöt : erwellöt : töt 181. 213. etwas
feltner in Hartmanns Credo 9. 10. 629. 816. 1872. im Rolandslied gemar-
teröt 111,31. gewarnöt 203, 22. vorderöten 246, 4. Carmina burana ver-
wandelot : nöt feite 204. in Albers Tundalus verwandeldt 44,72. 58,17. ge-
voderdt 47,62. in Eilharts Triftant gemarteröt 3543. im Servatius erziugote
837. gefamnote 869. zeichenote 1597. ordenote 1787. bezzerote 2053. kefti-
goten 2212 immer im reim auf gote bote geboten, der zeigt dafs ö fchon in o
abgefchwächt ift. im Anno fehlt es, gleicherweife in den bruchftücken vom
Grafen Rudolf, von Ernft, und von Athis. Heinrich von Veldeke meidet es
in der Äneide wie in feinen liedern gewis abfichtlich. auch in dem heil. Ul-
rich des Albertus habe ich es nicht gefunden, mit dem wir zum fchlufs des
zwölften jahrhunderts gelangen. von da an fchlüpft es nur einzeln durch.
Dietleip entwapenöt 8910. verferot 9536. gefenfiot 12374. Klage gebäröt
566. Nibel. ermorderöt 953, 3. gewarnöt 1685, 3; beide ftrophen gehören
zu den echten. Gudrun hat es nicht gebraucht. bruchftück von Ecken aus-
fahrt unverdienöt fir. 26. minnöt 27. Reinmar verwandelöt MS. 1,78®. 82»,
Eraclius gemarterdt 5042. Konrad von Fufsesbrunnen in der Kindheit Chri-
fti geoffenöt 81, 16. Konrad von Heimesfurt gefegenöt 1057. Welfcher gaft
marteröt bl. 178°. Neidhart verwandelöt MSHag. 2, 98°. 103°. 3, 257°. ge-
ringelöt MSHag. 3, 205". 236°. Warnung vernagelöt 1233 und verwandelöt
3051. als alterthümliche form in Dieterichs flucht 9277 recken die man hei-
zeit genöligöt wiganl. hernach erlifcht die form in der gebildeten fprache
der dichter gänzlich, in der volksfprache oder in mundarten wird fie fort-
gedauert haben, das beweift ihre häufige anwendung in Grieshabers predig-
ten. in betracht kommen daher nicht rohe dichtungen, wie Morolt verwan-
delöt 7°. 8°. Enenkel erarnöt Haupts zeitfchr. 5, 278. gewäfenöte Chronik
feite 346. Wigamur gefatelöt 18° oder fpätere wie Rüdiger von Hindihofen
über Freidank. 377
durchwieröt Wittich vom Jordan bl. 10 gotha. handfchr. Wigamur röt : ge-
Jatelöt 1750. auch zeigt fich fehon kürze des vocals, Heinzelein von Kon-
ftanz gefegnot : gebot Diutifka 2, 255. Hug von Langenftein verdampnot
Martina bl. 42°. 68° gewandelot: gehandelot 59". gekeftegot 56°.179°. kefte-
gotie 170°. predigot 193°. gefegenoten 208°. Leben Chrifti von Wernher ge-
‚Jegenot : dienot MSHag. 4, 515. Fragm. 21° got : gejagot. Liederfaal 3, 262
verdamnot : got. meift folgen diefe fchweizerifehen mundarten.
So wenig als Walther (vergl. Lachmann zu 98, 40) reimt Freidank
fagie : dagte, gerlen : werten, was Hartmann, Wolfram und Konrad unbe-
denklich thun. bei F. erfcheint die dritte perfon Zete 36, 3. 100, 12.23 und
tet 5, 16. 108, 26. 180, 21, die Walthers lieder wohl der fchwankenden
form wegen im reime meiden. W. reimt hein : flein 30, 26. genan : man
63, 3. kan (kam) : man 106, 26. F. ruon : tuon 99, 3. ahein : dehein 141,
3. wenn Walther nicht an :än reimt, wie F. einige male, fo wird niemand
darauf gewicht legen, zumal das lied immer ftrengere regeln forderte; da-
gegen läfst W. einmal rich : ich zu (Lachmann f. 197), dem ich bei F. nicht
begegne. auch gedrön (: lon) fieht bei F. 87,12 allein, wie gedröt (: brot)
123, 24, was Hartmann im Armen Heinrich 1075 gebraucht; vergl. Gramm.
1°,196. das feltene vals(: hals) F. 45,4 kommt bei W. nicht vor, und da über-
haupt nur walfch (Parz. 357,7. Paflional 221,21) als reim dazu vorhanden
gewelen wäre, fo blieb für das fprichwort nichts übrig als fich diefer frei-
heit zu bedienen; ähnlicherweile reimt Wolfram Parz. 18, 3. 27,15. 105,9.
154,5 harnas : was : palas, neben Wilh. 305, 12. 376, 17. 416,13 harnafch
:verlafch und 439, 10 harnafch : pfafeh, der dichter des Eraclius 4726
harnas : Kofdröas und 4683 harnas : was wie Ulrich von Zazichofen im
Lanz. 1366. 6495, der auch 3697 wunjle : brunfte zuläfst, Thomafın im Wel-
fchen gaft bl. 142%. 143° kunft : wunft, ein beifpiel aus dem zwölften jahr-
hundert im jüngern Anegenge 20,5 was : dras (drafch).
Freidank bedient fich zwar des rührenden reims, doch nur mit wirt
(fubft.) : wirt (verbum), aber zweimal 87,10. 156,20; auch bei Walther nur
ein beifpiel, das auf einer verbefferung beruht, Z@te (verbum) : /@te (fubft.)
30,10. ein lied 122, 24—123, worin diefer reim öfter vorkommt, halte ich
ich für unecht; ich werde mich darüber an einem andern ort ausführlich
äufsern. aus der abneigung gegen den rührenden reim erklärt fich wohl der
auffallende umftand dafs beide dichter die zufammenfetzungen mit lich liche
Philos.- histor. Kl. 1849. Bbb
378 WiLHELM Grimm
lichen dafür nicht verwenden, was aufser ihnen, wie es fcheint, nur noch
Gottfried thut. eine ausnahme wäre gelich : wunderlich 126,7, aber der
fpruch ift ficher unecht und noch dazu der text verderbt.
Den fchlagreim gebraucht Freidank in den beiden zeilen eines fpru-
ches, fingen /pringen fol diu jugent: die alten walten alter tugent 52, 6.7,
auch ift in dem 48““ capitel f.165—169 in dem anfang der zeilen Ziegen :
triegen durchgeführt. er findet fich angehäuft in einer ftrophe unter Wal-
thers liedern 47, 16, ich bin nur zweifelhaft ob diefe ftrophe von ihm her-
rührt, und werde dies anderwärts näher erörtern. es ift nicht unwahrfchein-
lich dafs Walther und Freidank den fchlagreim in diefer weife zuerft ge-
braucht haben. ich merke hier noch an dafs er fpäterhin nur in ftrophifchen
gedichten vorkommt und Freidank der einzige ift, der ihn bei dem kurzen
reimpaar anwendet.
Eine eigenthümlichkeit Freidanks ift der mittelreim, wo in der kur-
zen zeile ein wort mit dem endreim zufammenklingt ohne an ihn zu ftofsen,
z. b. diu Krift gebar än argen lift 7,14. öft lützel namen äne fchamen 53,
13: auch bei Walther dö gotes fun hien erde gie 11,18. ich habe diefen mit-
telreim noch bei ein paar fpätern dichtern des dreizehnten Jahrhunderts be-
merkt, doch auch in dem gedicht von dem Himmelreich aus dem zwölften,
das aus langzeilen befteht (Haupts zeitfchrift 8, 145), findet fich an daz fiur
ne leget me neweder bloh noch ftoch 248 und daz uns gewerren ne mege nd-
hen noch verren 338, und bei Wernher von Tegernfee (Iwein 329) dä bift
min, ich bin din. einmal läfst Freidank die zwei erften worte eines zwei-
zeiligen fpruchs auf einander reimen, /wä ift frelich armuot, dä ift richeit
äne guot 43,19.
Die leichtefte erweiterung des reims wird durch eine vorpartikel be-
wirkt und kommt wohl bei allen dichtern vor. häufig ift völlige gleichheit
der partikel, und ge: ge findet man überall, bei Freidank z. b. geftän : getän
16,12. genuoc : getruoc 69,17. gelogen : gezogen 159, 9, bei Walther ge-
walt : geftalt 16,12. gefchozzen : genozzen 40, 32. gemuot : getuot 116, 18
u.f. w. feltner ift de: be, Freidank hat nur begät : befiät 14,10, Walther
betaget : behaget 1,28. benomen : bekomen 65, 29. 73, 23. er: er zeigt fich
nur bei Freidank in erwern : ernern 63, 8. 69, 13. ernert : erwert 169, 3.
erbal: erfchal 109,10; es kann nur zufall fein, wenn es bei Walther nicht
vorkommt. ver:ver bei beiden öfter. un:un zweimal bei Freidank, unmin-
über Freidank. 379
ne : unfinne 101,1. unflete : unger«te 117,22, bei Walther finde ich es
nicht, für den liederdichter war vielleicht die partikel zu gewichtig. ze: ze
oder zer: zer fehlt bei beiden. fodann ge: be, er: ver bei beiden häufig, ein-
mal bei F. zebrochen : gerochen 4,4.
Diefe vorfchlagfylbe wird flüchtig ausgefprochen und ge manchmal
nicht mitgezählt, fie ift alfo bis auf un dem ohr wenig bemerkbar. von einem
doppelten reim kann erft die rede fein, wenn vor dem endreim abermals auf
einander reimende abgetrennte wörter ftehen, die in der regel daflelbe wort
wiederholen. Freidank und Walther verwenden dazu nicht blofs artikel pro-
nomen und partikel fondern auch fubftantivum adjectivum adverbium und ver-
bum. hier nur einige beifpiele, ein baft : ein gaft F. 13,14. ich war : ich var
F. 124,16. umbe minne : umbe gewinne F. 58,19. unde katzen : unde kraizen
F. 138,15. unde reht : unde kneht W. 9,6. dine tage : mine klage W. 64, 18.
fodann affen wil: affen fpil F.83,5. ander tugent : ander jugent F.52,18.
gerne flilt : gerne fpilt F. 49,5. wären driu : wären diu F. 19,25. dunke reht
: dunke fleht F.50, 25. mit nicht völligem gleichlaut behuote fich : behüete
mich W.113, 24. es ftehen auch zwei wörter voran, fol man vähen : fol
man hähen F. 47,18. zerehte hän : ze rehte ftän F. 50,16. der ift frö : der
ift [6 W.110, 28. alle frowen var : alle frowen gar W. 49,7.
Alle dichter von Otfried an geftatten die wiederholung desfelben reims
in zwei unmittelbar an einander ftofsenden reimpaaren, Veldeke fcheint zu-
erft darüber hinaus gegangen zu fein, und läfst einigemale denfelben reim
zehn - und zwölfmal wiederkehren. auch Freidank liebt folche anhäufungen,
die nur in der zweiten ordnung der handfchriften durch andere ftellung der
fprüche zum,theil verfchwunden find. fo läfst er z. b. achtmal zugent und
jugent (52,18—25) auf einander reimen, zwei und zwanzigmal woi (106,18
— 107,15), fechsmal (138, 3—8) unt und (80, 6—11) an än. bei Walther
diefelbe neigung; es genügt hier die hinweifung auf fünf fiebenzeilige ftro-
phen (f.75.77), wovon jede einen der langen vocale zum auslaut hat.
XI
Hier mögen noch weitere erläuterungen zu den einzelnen fprüchen
Freidanks eine ftelle finden.
14,1. in Konrads klage der kunft 9,4. 23, 4 erfcheint frau Befcheidenheit in
wünneclicher weete und fpricht das urtheil.
Bbb 2
380 WiLHEeLm Grimm
1,10 büwen üf den regenbogen auch in Türleins Wilhelm 107° und bei Jo-
hannes von Würzburg im Wilhelm von Öftreich bl. 43°. 52°. Liegnitz.
handfchrift. vergl. Deutfche mythol. 695.
2,27 Renner 16197 wer giht nü daz der men/ch niht tobe, der gotes ge-
Jchepfde wolde [wachen und felbe einen flöch niht kunde machen.
3,9—14 Welfcher gaft pfälz. handfchr. f.74° got fiht den muot baz dan daz
der man getuot. fi daz ein man tuot rehle wol, fin gelät doch heizen
fol übel ode guot dar näch und ime flät fin muot.
3,18 den genitiv bei wan hat Lachmann zu Nibel. feite 245 erörtert.
3,27.181,20 vergl. D. mythol. 290.
4,17 wie Freidank verwendet auch Walther drizec 19,21. 25, 32. 27,7. 88,
DAN:
4,27 der ftrengen regel gemäfs müfste an diefer ftelle werkn gefchrieben
g zu ftark.
6,8 über das wie 156,19 das heutige überdies, im althochdeutfchen nicht
felten (Sprachfchatz 5, 27), finde ich nur bei Boethius (Wackernagel
lefebuch I. 139, 21) und in Gottfrieds Triftan 449,3.
6,10.158, 27 daz fcheide got ift Grammatik 4, 334 befprochen.
6,21.19,21.24. 25,23 mufs gfchepfede gelprochen werden, wenn man die
regel herftellen will, wie Goldene fchmiede 1384; unverkürzt fteht das
wort 11,23. 12,11. 180,24. /chepfede würde als niederdeutfch nicht
zuläffig fein, denn die handfchrift e, die 19, 20. 180, 24 fcheffede ge-
währt, mifcht folche formen ein. ebenfo verhält es fich 29, 13 mit ge-
‚elle, das, wie bei Walther, fonft (63,22. 82,20) unverkürzt fteht. ge-
‚elle kommt hier nicht allein vor, Iwein 4959. 7567. Wolfyams lieder 4,
27. Helmbrecht 1271 ift, immer gegen die handfchriften, fellefchaft
‚felle fellen geändert: im Engelhart 1469 hat Haupt auf anderm weg zu
helfen gefucht: in Hartmanns Erek 3163 und bei Fleck (Sommer z.Flore
158) ift es beibehalten: im Rother 1645 und Graf Rudolf 13,1 war es
zuläffig, vielleicht auch bei Gottfried er fellete fich Lobgefang 31,5
mit der lesart gefellet; vergl. Lachmann z. Iwein 2704. ferner fteht
werden, aber für Freidank fcheint mir die kürzun
hier 49, 14. 151,21. 175, 2.7 gebot, oder man mülste das niederdeut-
fche bot annehmen, 121,19 gebüren, 129,17 geladen, 13,22 gemeine,
37,14 gedanke, 156,8 gevaterfchaft, 132,9 gefchehen, 142,20 gewar,
154,16. 160, 21 gefchiht, 161,2 genefen, wo man wohl gnefen fchrei-
über Freidank. 381
ben könnte: ebenfo Athis E,142 gevertin, Gerhart 892 geburt. glei-
cherweife hier 154,11 betrogen und Flore 3070. 7398 begunden begün-
den: dagegen ift Flore 7423 glegenheit geletzt.
7,1 über erfchellen vergl. Lachmann zum eingang des Parzivals f. 10.
7,4 ich wife gerne eine meere wie Lanzelet 2434, ich hörte gerne, ich wollte
es könnte mir einer lagen.
7,10.11 Kailerchronik pfälz. hf. bl.57° unfern vater Adam diu erde maget-
liche gewan. diu erde was magel reine, fi ne genam töten nine keinen,
noch enphie nie mennifken bluot unz Cäin finen bruoder erfluoc. daz
bluot daz von im ran, der erde iz ir magetuom nam. Anegenge 20, 17
—23 do was Cäin leit daz got fin opher vermeit unt ze deme Äbeles
Jach: vil flarke er ez über in rach: ze töde er in dar umbe fluoc. do
gemeille daz bluot die magetreinen erde, daz der gotes werde vor fi
nem bruoder üz go2. Wartburger krieg (MSHag. 3,179) diu erde Adä-
mes muoter was. vergl. Silvefter 3450 —61.
8,5 däne mannes rät fcheint der hier übliche ausdruck: fo Wernhers Maria
203,2 und andere denkmäler des zwölften jahrhunderts in W. Wacker-
nagels lefebuch 192, 20. 125, 20. Diemer Vorau. hf. 230, 11.
9,11 ezift noch manec fräge, diu niht hät antwurt Liederf. 3. 561, 34.
9,25 Evangelien aus dem elften jahrh. (Vorau. 328, 6) von dem töde (Chrifti)
/tarp der töt. Marienlieder aus dem zwölften jahrh. hanöy. hf. 28° dit
Jineme döde döde unfen dot. Pallional 112, 61 und unfen töt ze töde
erfluoc mit fime töde.
10,7—16 ich finde diefe lehre fehon bei Dietmar von Merfeburg, der im an-
fang des elften Jahrhunderts fchrieb und fie wahrfcheinlich von andern
empfangen hatte, etwas ausführlicher entwickelt, Chronicon 1,7 tres
namque funt anime, non equaliter incipientes nec fimul finientes. pri-
ma angelorum incorporeorum, qu& cum eis eft fine inicio et termino.
fecunda hominum, qu& cum eis fumit exordium fed in fine non habens
participium. namque immortalis eft et, ut quidam gentiles opinantur,
in futuro non habens hoc offieium quod in hoc seculo. tercia fpecies
eft pecudum ac volatilium, qua cum corpore parem inicii finisque for-
titur equalitatem.
10,26 kriften ift oben f. 366 erläutert.
11,3.4 Hermann der Damen 672.73 wä@ ane himel und erde hangen, min
WirHELMm Grimm
fin kan des niht erlangen: got habets in finer zangen, und ift im niht
were.
11,5 verfchiedene erklärungen der drei himmel bei Herman von Fritzlar 98,
14—32. der erfte himmel ift die luft: der zweite der, an dem fterne
fonne und mond ftehen: der dritte der feurige, in welchem fich die
heiligen und die engel befinden. nach andern ift der erfte himmel das
natürliche licht, darin die heiden gott fchaueten: der zweite das licht
des glaubens, darin wir gott erkennen, über dem licht der natur: der
dritte das licht der glorien, darin die heiligen gott fchauen. ferner, der
erfte himmel ift die perfon des heiligen geiftes, der zweite die perfon
des fohnes, der dritte die perfon des vaters. auch die drei hierarchien
follen damit angezeigt werden. endlich eine ganz überfinnliche deu-
tung, finnelich gewerp des men/chen ift der Erfte himel: der ander hi-
mel ift redelich gewerp des geiftes: der dritte himel ift vernunftie ge-
werp des geiftes. das loblied auf den hl. geift aus dem zwölften jahrh.
(Diemer 341,8) nimmt fieben himmel an, wenn hier nicht ein fehler
dahinter ift, fibene fint der himele, unte loufent dar nebene fternen fi-
bene liehte.
11,9.10 Wernhers Maria 178, 32. 33 & diu erde begunde fiän unt der himel
Jwebende wurde.
11,16 Marienlieder hanöv. hf. 10° in himele inde in erden enis engein hol, it
fi dines heiligen namen vol.
11,21 der befte roup bezieht fich auf die niederfahrt Chrifti zur hölle, wo
er diejenigen erlöfte und durch den erzengel Michael hinweg führen
liefs, die ungetauft in der vorhölle fchmachteten, Adam und Eva, die
unfchuldigen kinder u. f. w. Evangelien (Vorau. 328,7) diu helle wart
beroubet, dö daz maere öfterlamp fur unfich geopferel wart. Hochzeit
(Karajans fprachdenkmale) 43, 3 folg. daz was ein [chöniu hervart, dö
diu helle beroubet wart, dö got die fine knehte brähte zuo ir rehte, ze
Siner brütloufte mit finir marlir er fie koufle. Anegenge 39, 64—67
dö der gewihete gotes [un den roup deme an gewan, den er weenen
wolte daz ern immer haben folte. Wernher vom Niederrhein 62, 17 —
21 unfi herre di brach di hellin undi nam dä einen kreftigin roub. dü
(d.i. dö) rou den düvil der kouf, den Jüdas det mit fineme räde; di
über Freidank. 383
rüwe was alze fpäde. Paffional 101,55 —61 diu helle wart beroubet,
wand ir der guoten her entfioup. Krift bevalch difen roup an maneger
heiligen fele dem erzengel Michäcle, daz er fi brähte an vriundes wis
in das vröne paradis. 112, 64.65 wie er (Chriftus) uns üz der helle mit
gewalde roubete.
11,25. 26. 12,1.2 Legenda aurea cap. 2 in der fage vom heil. Andreas, quid
eft magis mirabile quod deus in parya re fecerit? diverfitas et excellen-
5
tia facierum. Haupts zeitfchr. 3, 28. 29 ‚fräge, welhez daz groefte wun-
der gotes fi. antwürte, daz er fö vil menfchen gefchaffen hät, doch
keinz dem andern gelich ift. Konrad von Würzbürg ftellt diefelbe be-
trachtung an MS. 2, 203°, an liuten hät diu gotes kraft für elliu dinc
gewundert. befchouwe ich menfchen tüfent hundert äne valfchen lift,
bi den allen, wizze Krift, fint zwöne gelich einander niht.
12,12—13,22 den abfchnitt von dem av& Marid, der nur in zwei papier-
handfchriften, denn auch B ift eine folche, vorkommt, halte ich für
unecht, nicht blofs weil ihm Freidanks geift und gedrängter ausdruck
fehlt, fondern auch wegen des reims muoter : tuoter (vergl. z. Athis
feite 26) und des worts lZobe/am, das Freidank und Walther nicht ge-
brauchen; vergl. Haupt zu Engelhart feite 247.
13,20 MS. 2. 172° fit din fun dir niht verfeit.
14,17 Hartmanns Credo 3679 mit aller himelifehen herfchaft: di heiligen
engele fint daz. Pfaffenleben 280 elliu englifche herfchaft.
15,7.8 Heinrich vom gemeinen leben (W. Wackernagels lefebuch) 222, 6— 9
/wenne des briefters hant wandelet gotes lichnamen, fol fi fich danne
niht zamen von wiplichen ane grifen?
15,19 Welfcher gaft bl. 158° die tagzit wol begen und mit guotem herzen ze
kirchen fien;, vergl. Gerhard 1190. Diemer zu der Vorau. handfchr.
354,10. Frommann zu Hermann von Fritzlar 30,40. Reineke vos von
Heinr. Hoffmann 3323. 4373.
16,24 folg. vergl. D. mythol. 829.
16,25 Walther fagt 12,30 got güt zu künege fwen er wil; vergl. Sommer z.
Flore 710.
18,2 Wackernagel (Haupts zeitfchrift 6, 284) macht hier dläs in der bedeu-
tung von fpahn, windlicht, die auch bei Frauenlob (vergl. Ettmüller
384 WirseıLm Grimm
f.334) vorkommt, geltend, doch in den Sumerlaten 8, 62 fteht bläs
flatus, und diefe bedeutung fcheint hier natürlicher, ebenfo beim bru-
der Wernher (Einleit. xexr), der vielleicht Freidanks fpruch kannte.
21,6 der töt ein feharpfer bote ilt in der Deutfchen mythol. f.808 erklärt.
21,11 Welfch. gaft bl. 146° j@ hät ieglich man und wip fünf tür in finem
lip. Karl Roths predigten 27 unferiu venfler daz fint diu ören diu
nafe diu ougen und der munt. Erznarren von Chriftian Weife f. 330
einen jeglichen bei feinen neun augen la/fen.
21,16 durch boefen namen weil man fchlecht von mir fpricht.
21,19 Gottfrieds lobgelang 56,6 mich vil armen fac.
22,18.19 über dem eingang des kirchhofs zu Eilenburg befindet fich die in-
fchrift was ihr feid, das waren wir; was wir find, das werdet ihr. eben-
fo über der kirchhofsthüre zu Avignon nous elions ce que vous £les, et
vous ferez ce que nous fommes; f. Blätter für litter. unterhaltung 1834
nr 335 feite 384. der von Singenberg MS. 1,157° wol ime der denket
waz er was und ift und aber [chiere wirt. Sülskind von Trimberg MS.
2, 178° /wenne ich gedenke waz ich was ald waz ich bin ald waz ich
werden muoz, fö ift al min Jröude [dä] hin.
22,26. 101,6.122,17 dafs auch Walther von der freiheit der gedanken fpricht,
ift in der Einleitung cexxıy bemerkt: Wolfram thut es im Parzival 466,
16 folg. und Süfskind MS. 2,178° in einer befondern ftrophe.
24,15 ir fin ift blint bezieht fich, wie mir Benecke richtig bemerkt hat, auf
die juden: ihnen mangelt die wahre einficht.
25,15 fo muoz der keizer lere fin in winkeln und in vinfterin, dazu gehört
Welfch. gaft bl.88" eines vinftern winkels muot.
26,22.29,31 Zivel, wie auch in einer alten erzählung (Reinh. 390, 520), bei
Konrad von Fufsesbrunnen in der Kindheit Jefu 97,29 und Stricker
XI, 587 zu fchreiben ift: die vatican. handIchr. von Hartmanns Gre-
gor 230 hat der tivel der fehanden; die kürzung liufl im Servatius 180
fcheint mir für Freidank zu ftark.
26,23 eine formel wie Erek 3187 unfer herre enfi der dich ner.
27,21—28,2 allgemeiner falst Frauenlob den fpruch (Ettm. feite 199), daz
men/fche wirt in driu gelich, fwenne ez von hinnen vert: fin fele aldä
ze himelrich, ob ez der licham hät befchert: daz fleifch den würmen
alfe [peech, daz hänt fi fchiere verzert: daz guot den erben näch fim
6,
7,
29,19
29,24.
30,23.
31,16
33,8
33,22
33,23
39,9
über Freidank. 385
leben menfchliche vollebräht. vert er ze helle durch Jin fireben, fin
wirt niht mer gedäht.
fo waent ein löre er fi got wird durch ähnliche ftellen erläutert in
Mafsmanns Eraclius feite 502. 503.
25 gedicht von den fieben todfünden aus dem zwölften jahrhundert
(Mones anzeiger 1839. £.58. Altdeutfche blätter 1, 363) höchvart lei-
dir vil gewalles hät: fi ifl in armir alfe in richir wät. auch der Wel-
fche galt handelt im achten buch von der höchvart. Frauenlob dage-
gen (Ettmüller feite 61. 62) nimmt höchvart in der edelften bedeu-
tung als ftreben nach dem höhern, und weils fie nicht genug zu prei-
fen: ir füezer fite kan allez adel vergulden;, ihr fteht übermuot ent-
gegen.
24 Veldeke MS. 1, 21° die ir (der welt) volgent die jehent daz fi be-
‚Jet ie lanc fö me. MSHag. 3, 438° frou Werlt, ir altet unde böfet.
Frauenlob (Ettmüller feite 189) ie elter und ie erger wirt der werlde
leben.
lied des herrn von Kolmas (Altdeutfche blätter 2,122. MSHag. 3
468") uns ift diu bitter galle in dem honge verborgen. Wellch. gaft
bl.22° ze gallen keret valfch die füeze. Altd. blätter 1.86, 280 wan
uns lit verborgen in dem hone diu bitter galle. Jüng. Titurel 1070, 4
b)
hiute füeze, morgen füre: ir (der welt) honic hät verborgen bitter gal-
len. Frauenlob Ettm. feite 110 mit gallen füezen einen honee. f.117
ob meres fluz wer galle gar, mit honc ez überfüezen. {.146 in honie
biute ich gallen. f.167 ich fpür gallen in des honges lift.
MSHag. 2, 364° hiute füeze, morne für. f. oben [.338.
Welfch. galt bl.76 wan der guote und der unguote fuln haben in ir
muole böde gedinge und vorhle ze got.
Berthold 91 fwer finen riuwen und fine buoze unz an denfelben (jun-
geflen)) tac part, daz ift ihm ze nihle guot.
Walther 77,30. 31 fwer fich von zwivel keret, der hat den geift bewart.
Walther 7,40 hilf uns daz wir fi (die fchulde) abe gebaden mit fleete
wernder riuwe. Armer Heinrich 518 fi bereite aber ein bat mit wei-
nenden ougen. Welfch. gaft bl.105° mit tugende und mit güete jol
er baden fin gemüete. Gerhart 2311 ir weinen was fö güetlich daz
munt und ougen beidiu mich baden hiezen funder danc: ir kintlich
Philos.- histor. Kl. 1849. Ccec
336 WirLHueLm Grimm.
weinen mich betiwanc daz ich mit ir dö weinde. der Winsbeke 64,1.
die Winsbekin 17,10 üz ougen muo/t er wangen baden: von herzeliebe
daz gefchach. pfälz. handfchrift 341. bl.89 mich dunket wir müezen
baden alrerfi üz den ‚fünden mit reines herzen ünden, die üf ze berge
fehiezen und üz den ougen fliezen. Neidhart 20, 3 Ben. wene ich
‚fündehafter in den riuwen baden. Ald. wälder I. 44,277 min herze
mit manegen leiden ift vil ftarke überladen: ez muoz in grözen for-
gen baden. Frauenlob Eitm. feite 35 fünder, wilt dü die buoze leiften,
bihte wol. din ougenregen dich wefchet ab.
35,10 Loblied auf die jungfrau Maria aus dem zwölften jahrh. (Diemer 299,
7) nü nift miner Junden nie fö vil, finer guote ne fi märe.
35,23.24. Roland 183,4 daz her allenthalben vor in fwant, [am der funne
tuot den fne. Konrads trojan. krieg Strafsb. hf. bl. 228° fi kunden
liute [wenden (im kampf), alfam diu funne tuot das is.
35,27 Juonestac auch Lanz. 8848. Paflional 264,58. 321,30: aber fchon im
zwölften jahrhundert (Karajans fprachdenkmale 96, 3) /uonstae.
39,6.7 Ecclefiafticus 3, 33 ignem ardentem extinguit aqua et eleemofyna re-
fiftit peccatis.
41,4.5 Konrad von Fufsesbrunnen in der Kindheit Jefu 80, 21 ouch ift uns
dicke gejeit ez fi ein groziu felikeit, [wer fine freude und fin klagen
in rehler mäze künne tragen. Cato (Liederfaal I. 572, 471.72) dü folt
ouch ze keinen tagen ze vil von diner armuot jagen.
41,18 Buch der rügen 711—716 wie fit ir fö grundeloös als daz mer, dä waz-
zer grös [lete in fliezent und fich dar in befliezent, und kan doch nie-
mer werden vol.
IS
[8]
[80]
die form huot auch im zwölften jahrhundert, Heil. Margareta (Haupts
zeitfchrift 1) 161 neben Auote 287: ferner Dieterichs flucht 368. Py-
ramus (Haupts zeitfchr. 6) 178.
42,27 der dat. pl. walden auch im Lanzelet 7082 im reim auf halden.
43,4.5 in dem bruchftück eines lehrgedichts aus dem zwölften Jahrhundert
(Docen mife. 2, 306. 7) heifst es nuo ift maneger dem daz wirret, daz
in fin armuot irret daz er niet mac vollebringen finen willen an mane-
gen dingen, als er doch gerne täte: der tuo als ich im räte. er bedecke
fin armuote mit fuoge und mit guote....fwaz er tugende mag gefuo-
45,12
47,9
über Freidank. 387
ren, die uobe er naht unde tag, und /wenne ers niht getuon mag, [6
befcheine er guoten (willen) doh.
Phyfiologus (Fundgr. 1,29) zellit daz diu natra driu geflahte habe. ir
Erift geflahte ift, Jö fiu eraltet, Jö ne gefihit fi nieht: [6 vaftet fi den-
ne vierzich tage und naht unze fich daz vel ab ir lofit. J6 Juochet fi
denne ein engiz loch an eineme fleine unte fliufet dä durch: JS vert
ir diu obere hüt abe; fo wirt fi gejunget. vergl. Karajans denkm. 88,
16 folg.
vielleicht ift vorm zu ftreichen; vergl. Lachmann zu Nibel. 959, 3.
47,25 reizer althochd. reizari (Sprachfeh. 2,259) nur noch im Tundalus 45,
48,9
74 ein reizere zornes unde firites. Meifner (MSHag. 3, 101°) reizelere.
irriu wip liederliche, der ausdruck kommt im Iwein 2895 vor und fchon
im zwölften Jahrhundert Pfaffenleben 650 (Altd. blätter 1,234). auch
Stricker gebraucht ihn, denn ich lefe bei Hahn 12,263 ich klage daz
win und irriu wip mer fröwent denne frowen lip. der Sachfenfpiegel
nennt fie varendiu, anderwärts heilsen fie unfletiu, Türheims Wilhelm
bl.246° keinen gebreften fi (die in den zelten liegenden ritter) heten,
wan fi der unfleten wibe gar enbären. fo auch Reinhart fuchs 351,
wo 1623. 1627 zu lefen ift und gerätent fö verwenden (lafeivire nach
Diutifka 2, 320°); vergl. Konrads troj. krieg 21614. deutfcher Cato
(Birkenftock. hf. f. 322. Liederfaal 2,177. Altd. blätter 2, 31) irriu
wip und fpiles liebe machent manegen man ze diebe.
49,21 vergl. 115,1.
51,7
auch im Sprachfchatz 1,1102 wizzielichen.
51,17—22 verändert und verfchlechtert fteht der fpruch aus der Strafsbur-
ger handfchrift vom jahr 1385 in der Diutifka 1, 326 abgedruckt; er
fcheint mir aus Bernharts überarbeitung genommen.
‘Alter lüte minne
So ich mich reht befynne
Dryer hant fchaden hat
wie es darnach ergat.
Zu dem erfien fint fy unwerd
won man ir nit vil begerd
So nimt (es) och kranken grüs
wnd daz felb er och tur bezallen [er] müs.
Ccc 2
388 WiLHeLMm Gkimm
53,9.10 Kanzler MS. 2, 247° die pflegent alle tumber fite, die fich des fcha-
ment, des fi doch fint geret.
53,19.16 es heilst hier vorhte machei lewen zam, da aber der angeborne mut
des löwen in allen dichtungen gepriefen wird, fo mufs fich diefe be-
hauptung auf eine befondere veranlaflung beziehen, wo der löwe von
furcht fich bezähmen läfst. der alte Phyfiologus (Fundgruben 1, 17.
vergl. 21) gibt auskunft, fo fer gät in demo walde und er de jagere
geflinkit, fo verliligöt er daz fper mit finemo zagele zediu daz fien
nine vinden. ebenfo der Welfche gaft pfälz. handfchr. bl. 198” der lewe
enpfindet wol [wanne man in-jagen fol, fö verflreichet er Jin Jpor gar
mit dem zagele; daz ifl wär. dä mite wil er daz erwinden, daz in nin
müge der jeger vinden. bei der folgenden zeile, ören befme daz ift
Jeham, erklärt Benecke (Wörterbuch 108) den ganzen fpruch dahin,
‘fo wie man den löwen durch furcht zähmt, fo zieht die ehre den men-
fchen durch fcham! zu diefer den gedanken abfehwächenden deutung
kann ich mich nicht bekehren. wer zähmt den löwen durch furcht
und auf welche weife jagt man ihm furcht ein? wenn noch gefagt wäre
“durch hunger’. die zweite zeile bezieht fich gleicher weife auf das thier
und feine eigenthümliche natur. das zeigt ebenfalls der Welfche gaft an
jener ftelle, /wan fich der lewe rechen wil und hät zornes niht fo vil
als er wolde, er tuot im € mit Jlegen des zagels harle wE: er treibt fich
felbft an. dren befme ift alfo der zagel, der wegen des büfchels in den er
endigt, hier zuchtruthe heifst, wie Walther (23,29) das wort gebraucht.
diefen edlen trieb des löwen kannte auch Boppe MSHag. 2, 379° fins
zagels [wanc in zornes Iwinget.
54,4.5 in den Schwabenfpiegel 71,18. 19 aufgenommen.
54,22.23 Mofis (Diemer 87,3—6) /wer dumben herfet, der fliufet fin are-
beit: [wer fö winket dem plinten, der verliufet fine flunde.
55,16.17 der angel ift der ftachel der biene und anderer infecten, wie er
nach Stalder noch jetzt in der Schweiz, nach Schmeller 1,78 in Baiern
heifst. man glaubt man müffe den ftachel drücken oder daran fau-
gen, dann komme der honig, dem aber der ftich folge. auch Walther
gebraucht das gleichnis, er fagt von den doppelzüngigen 29,12 in fz-
me füezen honge lit ein giftee nagel. bei Frauenlob (Ettmüller f. 238)
fagt die Werli zu der Alinne “in diner freude ein dorn unwert, in diner
über Freidank. 389
füeze ein angel tougen lüzen kan! ich laffe einige beweifende ftellen
folgen. Antichrift 111,42 (Fundgruben 2) von den heufchrecken, man
Jagit daz fie fich vlizin wie fie verholne bizin. die angle tragint fie in
den mundin, dä mite tuon fie wundin. Pfaffenleben 561 (Altd. blätter 1,
231) wiler daz honic ezzen, fo fouge er den angel. Reinbots Georg 718
auf freude folgt leid als daz honc, dar näch der angel. jüng. Titurel
2399, 3 näch honge [charfen angel bieten. Liederfaal 2,181 diu mir
unfüezen angel in füezez honc geworfen hät. andere ftellen in Be-
neckes wörterbuch feite 45 und 362, wo aber die erklärung ‘in den an-
gel beifsen’ unzuläflig ift.
57,2.3 Walther 31,15 diu meifte menege enruochet wies erwirbet guot.
57,7 Frauenlob Ettm. feite 56 ein ritter drizic jären riliche mac gebären.
57,8.9 Iwein 3580 —83 ich möhte mich wol änen ritterliches muotes: libes
unde guotes der gebrift mir beider.
58,5.6 Flore 7930 wan daz herze dä der haz inne lit verborgen, daz verfmel-
zent forgen fam der roft das ifen, ähnliche redensarten weift Som-
mers anmerkung nach. Freidanks auflaffung näher im jüng. Titurel
5833, 3.4 alfam daz ro/t den fiahel und ifen izzet, alfo tuot leit dem
herzen, fwä liebe rehte niht vergizzet. Berthold 200. 201 wendet das
gleichnis auf den hafs an, wan in (den menfchen) izzet der haz in dem
herzen, als der roft tuot ifen.
58,11.12 Walther 42,7.8 ich bin einer der nie halben tac mit ganzen fröi-
den hät vertriben.
59,20.21 der fpruch mit denfelben worten in dem deutfchen Cato (Lieder-
faal 3,171. Birkenftock. handfchr. f. 312).
60,23.24. 61,1.2. Frauenlob Ettm. feite 63 ein lop daz mit der volge üz wi-
Sem munde gät, daz lop beftät, vergl. Einleit. xcıv.
62,2.3 Reinart 181.182 en hout bifpel, viants mont feit felden wol.
63,14 /wer fich [cheltens wil begän erklärt die anmerkung z. Flore 3146 ‘wer
vom fchelten leben will, wer das fchelten zu feinem gewerbe macht’: war
um nicht einfacher “wer fich auf fchelten einlaffen, mit fchelten befaffen
will’, wie unten 171,11 und bei Walther häufig: Hermann von Fritzlar
213,15 fich koufes begän, Engelhart 1075 des diu natüre fich begät.
63,20 Konrad von Würzb. MS. 2,205" fwer an dem ende wol gevert, den hät
rö Selde geret. jüng. Titurel 5900, 3. 4 /waz grözer wirde hät ein
8 ] &
390 WirHELMm Grimm
anegenge, nimt ez ein Jwachez ende, fin eren don der klinget niht die
lenge. f. Einleit. xcı.
64,12 Prov. 15,1 refponfio mollis frangit iram. Rabenfchlacht 121,5.6 uns
Jaget dicke dez mere "füeziu wort benement gröze were‘.
64,18.19 Welfch. gaft bl. 11° wer in zorn hät fcheene fite, dem volget guo-
tiu zuht mite. der Winsbeke 24, 6 gezoumet rehte fi din zorn.
64,24 /wer im zorne fräget wer er fü erklärte mir Benecke durch die annahme
er fei der gegner, den der zornige anrede und den er durch die frage
herab würdigen wolle; aber kühn wäre dies er hier gefetzt. foll durch
die frage die bewufstlofigkeit in der leidenfchaft ausgedrückt werden?
Heinrich von Morunge MS. 1, 53° ich weiz wol daz fi lachet, [wenne ich
vor ir [län und enweiz wer ich bin.
65,5 —11 fchon Ifidor fagt lib. fententiar. 1,27 erunt autem quatuor ordines
in judicio und fo auch in einem gedicht der Vorauer handfchrift; vergl.
Diemer z. 102,14. fodann gehört noch hierher eine ftelle aus einem bei-
fpiel Strickers, die in Lachmanns abhandlung über den eingang des Par-
zivals {.5. mitgetheilt wird, und die eine verfchiedene auffaffung enthält.
danach ift bei dem jüngften gericht ein viertel der menfchen der helle
unabwendbar verfallen und zwar auf dreifachem wege. erftlich die im
unglauben verharren: fodann die verzweifeln, fich für verloren halten
und keine hilfe fuchen: endlich die auf gott zu grofses vertrauen fetzen,
die fich nemlich darauf verlaffen dafs er ihnen, wie fie immer leben,
das himmelreich öffnen werde, weil Chriftus die bufse für fie über-
nommen habe. diefe letzte ift die dritte ftrafse, die Freidank nicht
näher bezeichnet: aber auf das, was Stricker fagt, geht hinaus, was in
dem gedicht der handfchrift & vorkommt, diw dritte (/iräze) ift, [wer
‚fündet üf gedingen und troeftet fich unfteter jugent. fchade dafs der
Renner 20877—89 nur von dem wege zum himmelreich redet, indem
er Freidanks worte 66,13—20 umfchreibt.
66,20 der alles was er hat hingibt und felbft von almofen lebt.
67,6.7 ich beharre bei meiner erklärung und verwerfe die erkünftelte, die Be-
necke im Wörterbuch £. 254° vorbringt, ‘durch zauberfprüche kann man
nie glühendes eifen befprechen, dafs jedermann es anfaflen kann ohne
dadurch verbrannt zu werden. es ilt ja hier von der kraft der zauber-
fprüche die rede, nicht von ihrer unzulänglichkeit; öfen ift der nominat.
über Freidank. 391
67,19—22 derfelbe gedanke in der ftrophe eines unbekannten dichters (MS
Hag. 3, 440°).
Der tiwel ift ein lügen«re
und ift doch da bi wil geweere,
der im gedienet, daz er deme nimmer ungelönet lat.
nit willen kan er dienft vergelten:
daz tuont die kargen herren jelten,
die vergezzent maneges dienftes, des man in gedienet hat.
des entuot der tiwel niht:
Swie gar er fi ein bafe wiht,
er lonet doch in allen,
die im gedienet hant mit flize.
den boefen herren zitewize
kan er fchallen,
die dienftes ungelönet lazent daz fi defie wirs gevallen.
67,25 vergl. Haupt z. Winsbeke 8, 9.
69,5—8 noch eine ftelle aus dem Welfchen gaft bl. 211° daz fiur unde der
arge man diu gelichent fich dar an, daz in beden niht genüeget. daz
fiur brinnt, diu erge füeget wie fie erfülle dez guot.
69,9—12 Cato (Liederfaal 1,563. 564) dü folt ouch wizzen, fwd du gäft,
daz dü dri vient häft. die vinde nemne ich alleine: der erfte ift diu
welt unreine, din eigen lip der ander ift, der dritte des argen tiuvels lift.
69,21.23 Welfch. gaft bl. 121° der (pfaffe) fol guotiu bilde geben mit kiu-
Jehem libe, mit reinem leben, mit guotem werc, mit rede ‚Sehsene, und
nochmals bl. 134° kommt er darauf zurück. Grieshabers predigten
2,34 dä von fo were einem ieglichen lerer nöt daz er finen under-
tänen guoliu bilde für trüege.
70,9 weitere nachweifungen über Aulwe liefert Hahn zu Strickers kleinern
gedichten XII, 199; auch bei Enenkel (Rauch feript. rer. Auftr. 1,294)
werfen in ein hulben.
70,13 zu der redensart wer des hele niht enhät vergl. Grammatik 4, 247.
71,7.8 Wackernagel in Haupts zeitfchrift 6, 283. Diez poesie der troubad. 129.
71,17.18 diefer fpruch aus Freidank in der erzählung vom fperber (Lieder-
faal I. 232, 349. 50).
72,1 Ulrichs Wilhelm pfälz. hf. bl. 164° diw diet ift unberihtet, fwä der kü-
nec ift ein kint.
392
72,8
72,16
723,17:
Wirnerm Grimm
guol umb Ere nemen eine fprichwörtliche redensart, ehre für äufsern
vortheil und gewinn aufgeben: man fol re für daz guol nemen. Sper-
vogel MS. 2,227° erft tumb fwer guot vor Eren fpart. Hartmann vom
fahrenden volk, Erek 2165.66 /waz der diete dar kam, der guot
umbe ere nam, der tel man niht eines rät. Stwickers Karl 4° die guot
umb re nämen. meilter Kelin MSHag. 3, 22° vil maneger fprichet
“ich nim guot umb ere’. Reinmar MS. 1, 79° mer umb £re fol ein man
Jorgen denn umb ander guot. Lutolt von Seven MSHag. 3, 323° die
biderben nämen £re für daz guot. Friedrich von Sunburg MS. 2, 211°
[wer giht der guot dur Ere neme, daz fich der füre fünde, der luget
alde ez fündet der, der aller meift dä git dem kriften, juden. Kanzler
MS. 2,239" wer guot für Ere minnet, fin guot än €re gar zergät.
Schwabenfpiegel 16, 30—32 ob ein fun ze einem fpilmanne wirt, daz
er guol für ere nimt wider fines vater willen, unde daz der vater nie
guot für Ere genam, dann verliert der fohn das erbrecht; vergl. 255,
14. in Konrads von Würzburg Klage der kunft MSHag. 3, 336° wird
der verurtheilt, der künftelofer diete guot umb Ere gebe um von ihnen,
den unwürdigen, geprielen zu werden.
engen rat erkläre ich jetzt durch einen kurz und fcharf gefafsten, ent-
fcheidenden, nicht, wie W. Wackernagel im gloffar zum Lefebuch,
durch einen befchränkten: fo fteht in Türleins Wilhelm 3° enge be-
diuten. zu den fchon angeführten ftellen noch folgende, Herbort 6694
rede kurz enge und fmal. Pafhıonal 314,23 diu künegin was vil fwinde
dar üf an engem räte. Konrads troj. krieg Strafsb. hand[chr. b1.296°
mit wifen liuten enger rät die befte kraft an räte hät. Renner 4223 dö
fi fäzen in engem räle, als eine entfcheidung mufte gefafst werden.
noch Hans Sachs gebraucht den ausdruck in diefem finn; die ftelle
ift Grammatik 4,883 angeführt. der gegenfatz ift langer rät, Welfch.
gaft bl. 201° man fol lange gedenken waz man tuo und fnelle tuon
daz; ielwederz fin reht hät, länger rät und nelliu gelät. vergl. Rei-
naert 2492 Zfingrin ende Brüne die vraet hebben nu den nauwen raet
mellen coninc openbare.
18 wenn man einem fürften rat ertheilt, fo merkt man auf welche
weife er will gerühmt werden, auf welches lob er anfpruch macht.
denfelben finn gewährt der fpruch in dem alten druck des deutfch-
73,7
über Freidank. 393
lateinifchen Freidanks bl. 33" man fiht bi dem nefte wol wie man den
vogel loben fol. leicht möchte diefer bildliche ausdruck der ur-
fprüngliche fein, zumal er in ähnlicher weife noch heutzutage fortlebt,
Simrocks deutfche fprichwörter 353 ‘man fiehts wol am neft was für
vögel darin find.’
die alten erben in der bedeutung von vorfahren, eltern. auch in dem
alten bruchftück von Ernft (Fundgruben 230, 1) min lant dat mir —
von allen (l. alten) erven ane kumen is.
73,18 Der jüngfte tag (Haupts zeitfchr. 1,123) 222 /ö vervallent die bürge
74,4
die dä durch übermuot geworht wurden.
Renner 23357 alle künge üf erden mit ir hern mügen fich der flöhe niht
erwern,
74,18 Chronicon falernitanum ce. 11 (Pertz 5. 478, 46) kaifer Karl verlangt
dafs fich ihm Arichis der langbardifche herzog von Benevent unter-
werfe, ‘unum eft quod qu&ro, ut armiger meus unus miliarius fiat’.
fo trägt man daz wäfen der minne (Parz. 130, 4), des todes (z. Wigal.
7797), der unfreude (Stricker XII, 21), der welt (Docen mife. 2, 221);
vergl. D. mythol. 807.
74,26 Schwabenfpiegel 147, 12 Wackern. der der wärheit ze vil [wert, der
wirt der werlde unwert;, vergl. Finleitung xc.
75,2.3 /wer die wärheit fuorte und die ze rehte ruorte wer die wahrheit vor-
brächte, aufführte, eigen hätte und fie, wie es recht ift, förderte, gel-
tend machte. fo in Strickers kleinen gedichten 7,63 ob dü die wärheit
füereft und die lüge ninder rüereft. Gudrun 195,2 brant füeren her-
bei führen, ftiften. Konrads Alexius 1298 den fiechen allen wart be-
Jehert daz fi gefuntheit fuorten ihnen zu theil ward. wir fagen in die-
fem finne “ich führe den namen’. rüeren hat eine ähnliche bedeu-
tung, anregen, Servatius 1454 die wärheit begunde er rüeren. 608 diu
Jehrift niender rüeret daz ie iemen finen gelichen erfunde. Erek 5955
verfluochet fi der tac, daz ich die rede ruorte. Winsbeke 21,5 dem
ors die kraft rüeren, vergl. Rabenfchlacht 648,3. Strickers Karl 69!.
72°. Konrad von Würzburg MS. 2, 202° /wer lüter lop wil rüeren, des
er niht fol füeren, dem wirt ez fö [chedelich daz der dar an verferet
wirt. Palfional 174, 48 daz houbet rüeren. 272,69 daz wort daz ich
hie rüere. Lohengrin feite 131 gein dem min herze ie haz von [chul-
Philos.- histor. Kl. 1849. Ddd
394 WiLHELM Grimm
den ruorte. Teichner (Liederfaal 2,538) fit ich dä fwigen müefte,
daz mich nieman fchelten liez und mich ouch zer tür üz fliez, fö ich
die wärheit ruorte an und (2, 536) in anderer faffung wer die wär-
heit wirft enbor, vor den fpert man tür unt tor.
75,7 die heimliche ehe ift gemeint.
76,21.22 ähnlich im Welfchen gaft bl.166° /wer niht behaltet herren reht,
der fol billichen fin kneht.
77,8.9 Welfch. gaft bl. 197° wan die übelen fol er verdrücken und die guo-
ien zuozim zücken. Helbling 4, 337 —340 die mir ze Wienne fint ge-
reht, die wil ich für zücken und die nider drücken, fi fin ali oder kint,
die näch dem herzogen fint.
77,16.17 auch bei Frauenlob (Eittmüller feite 221) fchepfte ich wazzer mit
eim fibe. Teichner (Liederfaal 2,536) ein [ip daz wirt niemer wazzers
vol, [vaz man dar in [chepfen tuot.
78,11 Karajans denkmale 10,5. 15,20 nieman ift gotes kint wan die daz reht
wurkende int.
78,22 driu, auch metrifch beffer, ift die richtige lesart, denn was z.21 ent-
hält, wird nicht mitgezählt und dient als ein gemeinplatz nur zur aus-
füllung.
79,7 meifter Stolle MSHag. 3,10° fagt von der frau Ehre ji kleit daz wis-
heit erbet niht und edeliu tugent; daz fi got gekleit.
79,16 tübel döbel, ftumpfer hölzerner pflock, womit die bodenftücke des
faffes feft verbunden werden, was bei Ducange unter incaftrature er-
klärt wird; vergl. Sprachfchatz 5, 352 iudil fehlucht, einfchnitt (noch
heute in der Schweiz gebräuchlich): zubili gitubili incaftratura. Hein-
rich von Meifen 4053 daz vil freislich übel, daz in uns haftet als ein
tübel. Renner 957 lüge ift fünden und fehanden tübel. 16607 vorhte
und fchame [int Eren tübel.
79,19—24 verderbt als rätfel in Haupts zeitfchrift 3, 28 ein nagel helt ein
eifen, ein eifen ein pferdt, ein man ein fchlofs, ein fchlofs ein man;
vergl. Einleit. xevır.
79,29 folher ere, wie auch die Magdeb. handfchrift hat.
80,10.11 fwigen ift diu befte wilze in manegen liuten Liederfaal 3. 562, 54.
80,25 fwer in guot und £re feit zulpricht, ihnen als eigen beilegt. Parzival
165, 22 fin wunde und harnafch fwere—im müede unde hunger fa-
über Freidank. 395
gete. heil. Elfabeth (Diut. 1,477) gott, dem &re und ewecliche lugent
gefaget fü
80,26 wa AC, wa Bed. beffer wohl eine frage, wä diu witze wefen fol?
81,21 wenn die glocke geläutet wird, laufen die narren zufammen.
82,8.6 vergl. Deutfche mythol. 645. in der anmerkung ift verdruckt Calen-
berger für Lalenberger. Diutifka 2, 77.107 und Hätzlerin 270* unwifiu
wort und tumbiu werc tribe ich Elblin von E/elberc;, Graff meint es
fei der name des dichters. Pfälz. handfchr. 341. bl.78 die werdent
äne meil und kument ze fletem heil üf die burc ze Tugentberc; dä
Jint erkant des wifen werc. in der erzählung von der frau Ehrenkranz
(Liederfaal 1, 385) heifst es in minem hüs Belibentriu und dä ze Har-
renberc in dem lant Hoffenheil. vergl. Haupt z. Winsbeke 45, 7.
82,11 Reinmar von Zweter MSHag. 2,186: fo erkent man doch den efel bi
den ören.
82,14 Reinmar von Zweter MS. 2,128 die mit entlöhenter wirde fuoren.
85,5 über die redensart im facke koufen, die auch Diutifka 1,325 aus Frei-
dank genommen ift, vergl. Haupt z. Winsbeke 63, 6.
85,19 pfälz. handfchr. 341. bl. 127 doch hän ich micheln man gejfehen, dem
man zuht und Juoge muo/te jehen, und einen kleinen Jo ungefüegen,
daz al die werlt mohle genüegen.
85,23 Magdeb. handfchr. bl. 25" id enis neyn fulues mer. eine verderbte
ftelle bei Helbling 15, 372 “deham felb ift niur einer’: dez ift daz lant
allez vol enthält wohl denfelben fpruch, denn ich beffere dehein felb-
felbe ift mE wan einer ‘nur einer ift von niemand unabhängig’, womit
gott gemeint wird, deffen macht, wie Helbling hinzufetzt, überall
durchdringt, die erde erfüllt. denfelben gedanken drückt Frauenlob
(Ettm. f.159) anders aus, got ift ein ungefchaffen wefen. allein der
fpruch war wohl alt und man kann fagen kirchlich, in Notkers pfal-
menüberfetzung (f.11) fteht got der (id ipfum) felbfelbo heizet. in den
denkmälern der folgenden zeit habe ich zwar diefe eigenthümliche
zufammenfetzung nur noch bei dem öftreichifchen Enenkel (Rauch
f.287) gefunden, und als ungewöhnlich wird fie in den handfchriften
Freidanks und Helblings verfchwunden fein, aber ich trage kein be-
denken fie herzuftellen, zumal bei Freidank das metrum dies for-
dert und das wort im fiebenzehnten jahrhundert wieder auftaucht:
Ddd 2
396 WiLHELm GRIMM
Opitz 2, 224 (Amfierd. 1645) fagt felbfelbften, ein anderes beifpiel
Grammatik 3, 6.
87,6.7 B allein hat die richtige lesart. die eule ift nicht freigebig und hält
das zufammen gefcharrte feft. die Schande rät dem ungaftlichen rit-
ter (Liederfaal 1,525) den harfen - und fpielmännern fein thor zu ver-
fchliefsen: frau Ehre wirft ihr daher vor fo lereft du'n in hiuwen wife
leben. Freidank klagt hier wie Walther (26, 33— 35. 84, 18.19) über
den mangel an freigebigkeit bei den fürftlichen höfen.
87,8 Walther fagt (84, 17.18) gleicherweile ze Nüerenberc was guot ge-
rihte, daz fage ich ze mere. umb ir milte fräget varndez vole: daz
kan wol fpehen. die feiten mir ir malhen Jehieden danne lere.
88,15 Heinrichs Krone bl. 1° /wer den rühen ziegel tweht, der fiht ie lenger
dicker hor.
89,2—9 der gegenfatz zwifchen befte und befte auch 90, 25. 26. 105,15.
440, 24. 120, 14. Walther 26, 29. 30 diene manne beeftem, daz dir
manne be/te löne. Gudrun 1263, 3 € was ich diu befte, nü hät man
mich zer beeften;, vergl. 1264, 1. Iwein 144. 145 der bagfte ift dir der
befte und der befte der bafte.
89,11 der fwache gruoz ift verächtliche behandlung, geringfchätzung; vergl.
Nibel. 1796, 2.
89,12 Tanhaufers hofzucht (Haupts zeitfchrift 6) 141 ich hoere von fümeli-
chen fagen (daz ift wär, daz zimet übel) daz fi ezzen ungetwagen.
90,19.20 auch dieMagdeb. hf. hat den fpruch zweimal, bl. 16° und 39°, doch
jedesmal in diefem zufammenhang mit 17.18.
92,12 laftern finde ich nur Anno 816. Diemer 356, 22. Reinhart fuchs 1399.
Hermann von Fritzlar 165, 30 und Ortnit f.71, fpäterhin bei dichtern
nicht mehr; das althochdeutfche Zaftarön (Sprachfchatz 2,99) kommt
häufig vor.
93,8 der wallach war kein ritterliches pferd, Wackernagels lefebuch 589,
43 man fiht nu hengeftritter vil, die doch wol ro/fe waeren wert.
95,11 daz ift wol, wie 179,6 ez ift wol; vergl. zu 127,3.
95,16. 17 Walther 79, 24 mäc hilfet wol, friunt verre baz.
95,18.19 W. Wackernagels Bafler handfchriften feite 36 aus dem vierzehnten
jahrhundert bewerter friunt [und], geftanden fwert diu zwei fint grö-
zes guotes wert.
über Freidank. 397
96, 16 Kolocz. 103 und woere ich in dem vierden lant, ich wolde gerne ko-
men her, vergl. Grammatik 4, 958.
97,26 f. oben feite 338.
98, 11 Herant von Wildonie 23,159 wiplin diu man dä vindet ringe veil;
vergl. Freid. 16. 17.
99,17 Tirol und Fridebrant MS. 250° fun, du folt din &lich wip haben liep
Jam din felbes lip.
100,6.7 Walther 91,35— 92,2 ift aber daz dir wol gelinget, Jö daz ein guot
wip din gendde hat, hei waz dir danne fröiden bringet, fö fi [under
wer vor dir geftät, halfen, triuten, bi gelegen. von folher herzeliebe
muoft dü fröiden pflegen.
100,8.9 Heinrichs Krone bl. 69° wan minne den fchiuhet, der ir allez fliuhet
vor. Konrads troj. krieg 2421 die lute—fprechent der fi (die minne)
Juochen beginne, daz fie fliehe den.
101,4 Kaiferchronik bl. 27° bit fi vlizecliche des libes.
101,11.12 Lanzelet 5879—83 flarkiu huote und ungetriuwer muot diu ma-
chent fteetiu wip unguot. MSHag. 3, 418° huote machet tete frou-
wen wankelgemuot.
101,13.14 David von Augsburg (Pfeiffers myftiker 1) 368, 23 minne wil fri
fin: ift fie betwungen, f6 ift fi niht minne, wan fi felbe mac niht be-
iwungen werden. vergl. Haupt z. der Winsbekin 32, 4.
102,15.16 Teichner (Liederfaal 3. 367—70) maneger hirät üz den landen
näch dem glanz mit zehen fehanden und lät eine neben fich niur mit
eime brejlelin.
102,20—23 Welfcher gaft bl.64° fwaz ein man mit wiben tuot, daz fol al-
lez wefen guot: daz reht habe wir uns gemaht mit unfers gewaltes
kraft; vergl. Simonides Amorginus von Welker f.48. Leutolt von
Seven (MS. 1,163°) vinden wir an Einer libe miffetät, dä bi Einiu
tüfent wibe lugende hät.
103,1.2 Renner 12776 od ein frouwe miffetuot, dä bi hänt hundert fieten
muot: fwer die mit jener [chelten wolte, der tete anders denne er folte.
104,26. 27 Frauenturnier (Kolocz. 87, 406—410) fi kunnen brechen hertiu
Jper: daz ift ein michel wunder, fi ligent tete under unde behaltent
doch den pris, der man fi junc (l. tump) oder wis.
398 WirLHeLM Grimm
105,1.2 Reineke vos 1157 de heft fyne ere nicht wol vorwart, de fus fyn
wyf mit ener andern part.
105,8 Flore 5334 ez ift ein nöt fwer eine äne geyellen treit nähe gändiu
herzeleit in Jime herzen verborgen.
105,19 des tiuvels er engiltet er macht nichts daraus, wie wir fagen ‘er küm-
mert fich den teufel darum’; vergl. Deutfche mythol. 966.
106,6—9 Marienlieder aus dem zwölften jahrh. hanöv. handfchr. bl. 23° d&
heizes vrowe inde bis ouch alfö: wan dü, vrowe, häs gemachet vrö
fö wat in himele inde in erden is. dü vrowe van vroweden geheizen
bis, wan dü trürikheit enruorde dich nit. darum nennt Konrad (MS
Hag. 2, 330°) Maria frouwe aller freude. Konrad von Heimesfurt 215
—17 läfst den engel Gabriel zur jungfrau Maria fagen aller fröuden
Jrouwe, fröuwe dich: joch fröwet von dinen fröuden fich Swaz fröu-
de dä ze himel ift. Stricker (Haupts zeitfchr. 7,495) fi fint fö guot
‚für allez guot, die frouwen fint und fröude gebent. wenn Lichten-
ftein 660, 9 fagt fi frowe ob al den freuden min fo bezieht fich das
wol auf diefe etymologie, möglicherweife auch Gudrun 4422 (1105,
2) diu freudenlöfe frouwe. noch weiter führt fie aus Frauenlob f. 111
Ettmüller, frö von der luft, w@ von der burt, und f.113 we üf ein
frö geftempfet, wan fi uns tragent ein lebendez rs in Jpünder ou-
genweide. ein frowe diu mac fich fröuwen wol an lebender fruht.
Morolt 2,1144 fwd frouwen fint, da ift freude vil. MSHag. 3, 417°
frouwen fröuwent verre baz danne ein röfe in touwe naz. vergl. z.
103, 25. 26.
106,10.11 Karajans denkmale 12,12 er ift charl, dä ift Si chone (daz ift ein
vil altiu gewone), daz kint daz ift daz dritte reht.
106,20.21 meifter Kelin (MSHag. 3, 22°) fwer fime dinge in dirre werlde
rehte tuot, dem mac an fime adel wol gelingen. Türheims Wilhelm
bl.125° fwä man dem rehte reht tuot, dä wirt daz reht behalten.
107,23 vergl. Sommer z. Flore 36 wan ie daz lihter befer ift.
107,24—27 Dieterichs flucht 7935 betwungen dienft wirt nimmer guot, fwer
dienft betwungenlichen tuot, dö mac wol Schade von üf ftän.
108,7 Helbling 8,1 gewonheit diu ift riche. jüng. Titurel 5344, 3 gewon-
heit ift noch richer dan natüre. vergl. z. Flore 7635.
über Freidank. 399
108,11.12 Hätzlerin feite 144,109 ein ieglich herz fich dä näch Jent als ez
*dan vor ift gewent.
108,15.16 Walther 108, 17.18 der guote win wirt felten guot, wan in dem
guoten vazze: wirt daz bereit ze rehte wol, fö habet ez den win.
Frauenlob Ettm. feite 58 edel win muoz nieten von Swachem vazze
äfmackes fich;, vergl. Einleit. xc.
108, 17.18 latein. fprichwörter aus dem zwölften Jahrhundert (Altdeutfche
blätter I. 11,46) unde homo confuefeit vix unquam linguere nefeit;
vergl. Einleit. c.
109,6.7 vaftet, wie alle handfchriften lefen, ift in der bedeutung von
büezen, die fich leicht ergibt, fchon durch den Schwabenfpiegel
(cap. 287 f.268 Wackernagel) und andere ftellen beglaubigt. volle
ficherheit meiner erklärung des fpruches gewährt Türheims Wilhelm
bl. 197°, wo er ebenfalls vorgebracht und nur in entgegen gefetztem
finne angewendet wird, ld dinen unträft rafien: den man fol niemen
vaften, € er doch vor im iöt gelät. ftatt lahen hat die Magdeb. hf. ir-
Jelan. entfcheidend ift auch eine ftelle in einem gedicht des zwölften
Jahrhunderts (Vorauer handfchr. bei Diemer 348. 349), fwanne der
man vihtet, fin wäfen üf rihtet, 9 keret der manflecke deme werte
daz eine ecke uber fin felbes haubet: fö wirt diu fele ertaupet. den
lemtigen fol er (l. man) va/ften, den töt läzen ra/ten; im nift dere
vaflen pornöt: er hät ime felben getän den töt. hierher gehört viel-
leicht auch eine andere ftelle bei Diemer 308, 12.13.
109,12 Räthfel und fragen in Haupts zeitfchrift 3, 34 ein fräge, wer ge-
Jehrien habe daz ez diu ganze welt hörte. antwurt, der efel in der
archen Nöe.
109,18 gamäliön ift das chamäleon (lacerta chamzleon), von dem fchon die
alten, weil es lange ohne fpeife aushält, glaubten es lebe von der
luft; mehr fagt auch Freidank nicht, der Meifner Mgb. 38°, Frauen-
lob Ettm. feite 27. Hug im Renner 18734 folg. ausführlicher ein tier
heizt gamäliön (fo in der Frankfurter handfchrift, der druck hat ca-
melion), dä fchribent die meifter wunder von, daz der luft fin pife
Si und fwelher varwe ez wone bi, näch der werde fin bale gevar.
ironifch äufsert Boppe MS. 2, 236° bei der forderung unmöglicher
400 WILHELM Grimn.
dinge gamäleön fol niht wan der erde leben. Reinbot geht weiter,
3879 —80 gamaleon des luftes lebet, der fiben mile über de# erden
Swebet, und der jüngere Titurel 2757 gamaniol (l. gamäliön) vil
höch gelente vierzehn mile oberhalp der erde, und lebet niht wan luf-
les: ferner 4755 von dem galadröt (l. gamäliön) fö fagt er mere
wie er in den lüften get nu Jwebende und fine jungen brüetet, biz daz
fi mit im jehöne fliegent lebende. Heinrich von Müglin (heraus
gegeben von Wilh. Müller) feite 24 ich lebe dins tröftes [under wän
reht [am der luft gamälion. Hätzlerin 219°, 104 freut in den lüften
fich gamaliön gen miner wünne. Liederfaal 1,203 wird gefagt ga-
mäliön nehme die farbe nach der luft an. über die verwechfelung
des gamäliön mit dem karadrius f. unten z. 143,7.
109,26 Neidhart MSHag. 3, 225° hunt an einer lannen. Morolt 51? twingft
dü den alten hunt in bant, fo maht dü hüeten diner hant.
110,17 gelückes rat ift von W. Wackernagel in Haupts zeitfchrift 6, 135. 136
erörtert.
110,25.26 Stricker (Jahrb. der Berlin. gefellfchaft 8, 289) diu werc werdent
Jelten guot, diu man än guoten willen tuot.
111,6.7 jüng. Titurel 4151,1.2 [/terne] würze wort und ouch gefleine diu
hänt krefte niht wan von des krefte, der kraft an allen dingen was
gebende.
112,1.2 Welfcher gaft bl. 218° /welh man git und git drat, wizzet daz er
zwir gegeben hät; f. Einleit. xcıx.
112,3 Welfcher gaft bl.220° er fprichet alle tage morgen’.
112,4 vergl. Erek 4073, wo wohl zu lefen ift wen dü ein abeleite bift.
114,23 wer das gold als fchmuck am leib trägt. Hochzeit (Karajans denkm.)
19,5—15 die frowen zieret daz golt: von diu ift fi ime holt. diw ift
nie fo here noch fo riche, fi treit an barer liche die bouge joch daz
vingerlin: wie mag iz ir luffamer fin? fiu [pannet fur ir brufle
(daz ift geworht mit liften) ein guldin gewiere, daz iz ir den lip zie-
re, wan fi [ehöne dä mite gät. Gottfvieds lobgefang 70, 6 du fpien
din golt an blöze hüt.
114,27 Gudrun 2596 (649,2) gelücke daz ift finewel Jam ein bal.
415,2. 3 Lanzelet 5989 — 91 da enwas nieman ze ftunde, der ir den nüjfchel
kunde gelegen wol ze rehte, das wort war früberhin häufig in ge-
über Freidank. 401
brauch: nufche Anno 648. Rother 3087. nu/ke Diemer 20, 8. 286,
1. nüfchel Rother 392. Äneide 780. 1306. 12687. ferner Lanzelet
6035. 6045: auch nufche 5612. im 13 Jahrhundert wird es felten,
ich finde es nur noch in Heinrichs Krone bl. 90° und bei Neidhart
24,2 Ben. nüfchelin; die andern dichter verfchmähten es. erft in
einem ofterfpiel des 15“ Jahrhunderts (Wackernagels lefeb. 1015,39)
kommt es wieder zu tag.
115,14—17 von der freiheit der gedanken redet Walther 62,19 wie Frei-
dank hier und 101,6. 122, 7, ftellen bei anderen habe ich in der
Einleitung xcr nachgewielen: dazu füge ich noch Hartmanns büch-
lein 1,916. 917 ich han gewaltes wan den muot und den frien ge-
danc. die Winsbekin 15,1 gedanke fint den liuten fri und wünfche
Jam. Reinmar von Zweter MSHag. 2, 188° gewali mac melden un-
derftän. gedanke muoz man ledicfri ungevangen läzen gän; ez wart
nie keifer künec fö her, der gedanc und merken künne erwern. Hel-
beling 4, 233. 315 gedanke fint fri.
115,22.23 eingerückt ift der fpruch in die erzählung Frauenlift (Kolocz 113,
642. 43), wo er aber nach unferm text wird zu beflern fein.
115,27 Teichner (Liederfaal 1,457) ich bin fö ungeflaht daz ich niempt niht
mer gelrou denn daz ich mit den ougen fchou oder vor in henden
hän.
116,1 Hartmann büchlein 1,1186 du folt än Kundich helfen mir. Tanhau-
fer MS. 2, 67® her Schaffeniht. jude Süfskind MS. 2, 178+. 179:
Wähebüf, Nihtenvint, her Bigenöt von Darbiän, her Dünnehabe.
Helbeling 15, 512 Getrütfinniht. Apollonius 3764 Entriuwfinniht.
Rauch feript. rer. auftr. 2, 311.312 ein ort Trüfinniht.
116,10 züfent manne fin fagt ebenfo Veldeke Äneide 109, 41. Reinmar MS
Hag. 1, 188°. Lichtenftein 48,7. Strickers Karl 121°.
116,25.26 Friedrich von Schwaben (Berlin. handfchr. 1.129) ir fit üf iu-
werm pfert ze gaehe: ir full riten efel waehe.
117,26.27 Morolf II. 642.43 dü häft gefprochen fider ‘die einen gent üf,
die andern nider’.
118,23 Renner 1238 /wer tihten welle, der tihte fö daz weder ze nider noch
ze hö fins finnes flüge daz mittel halten. Kindheit Jefu 97, 37 fin
lere er im her für zöch weder ze nider noch ze hoch.
Philos.- histor. Kl. 1849. Eee
402
WirueLm Grimm
118,27.119,1 Kaiferchonik bl. 79° von Juftinian der fleic von tugenden ze
tugenden. Roland 1,24 von Rarl ie baz unde baz fleic der herre ze
tugende. Albertus 788 von Ulrich fus er von tugende hin ze tugende
irat.
419,9 Welfcher gaft bl. 154° ir (der unmäze) gefchoz ift äne veder gar.
119,18 aus dem zehnten jahrh. (Wackernagels lefebuch 1,123) ube man al-
liu dier furhtin fal, nehein fö harto fö den man.
120,5 Spervogel MSHag. 2, 373° ft hiute min, morne din: fö teilet man
die huoben. Lichtenftein 207,20 fie wären breiten huoben holt.
120,14 der gegenfatz auch bei Walther 26, 29 fun, diene manne beftem, daz
dir manne befte löne.
120,27 mate habe ich vorgezogen weil es die handfchrift der erften ord-
nung (hier die einzige) gewährt, gegen wife der fieben andern hand-
fchriften der zweiten, denn wi/ke in der Magdeb. ift die niederdeutfche
form; überdies würde das feltnere wort die vermutung für fich ha-
ben. wife gebrauchen füddeutfche wie norddeutfche dichter, Her-
bort 14339. Athis A*, 85. B, 142. Erek 186. 7035. Iwein 4464.
Wolframs Wilh. 56, 12. Strickers Karl 26°. Reinbots Georg 3036.
Göli MS. 2, 57°. Konrads tro;an. krieg 3970. 14561. Ortnit feite 69.
Lohengrin f.44; bei Walther kommt das wort nicht vor. der Sprach-
fchatz 2,658 hat keinen beleg von matä@: im 13“ jahrh. ift es felten,
Lanzelet 2671.3327 Fragm. bei Müller bl.14» eine maten majen;, Trau-
gemundslied 833,37. 834,7 die matten grüene; Fleck gebraucht zwar
3326 mate, aber bald hernach 2425 wife: doch hier war er wohl an
die überlieferung gebunden, die von einer wiele [prach, auf der die
feligen wandeln, deren auch Steinmar (MS. 1,105’) gedenkt, ich
wart aller fröuden vol als ein fele von der wife, diu ze himelriche fol.
war das eine heilige itiswi/@? Schwabenfpiegel 179,4 Wackern. wife,
aber in einer andern handfchrift matte. [päterhin erfcheint mate in
elfäfsifehen und fchwarzwaldrheinifchen weisthümern (Gedichte auf
Friedrich I. £. 114) und ift noch heute in der Schweiz geläufig.
121,17 Tirol und Fridebant MS. 2,249" dü folt wizzen, liebez kint, dä gegen
ift elliu lere blint, din liute folt du willee hän.
423,12 —17 auf den gegenfatz zwifchen worten und werken kommt auch
Walther mehrmals zurück, 7,12. 14, 6. 7. 33, 27. 37. 34, 27. 100, 22.
über Freidank. 403
123,20 —24 Engelhart 4080—84 ich hän vil manegen doners blic gefehen
harte freisfam, dar näch ein kleinez weter kam unde ein vil gefüeger
/lac. Boner hat 29,19.20 den fpruch aus Freidank genommen, aber
21,22 nähert er fich der faflung im Engelhart.
123,21.22 Walther 76,13.14 min herze fwebt in funnen ho: daz Jaget der
winter in ein firö. MSHag. 3, 448° die bafen wifen in daz ftrö.
Türleins Wilh. 96° ir höch gewalt ift worden ftrö.
124,1. 2 vielleicht ift die lesart von a die echte, fie wird auch in Mgd. durch
und, das ftehen geblieben ift, angezeigt und gewährt einen guten
finn, der arme, geringe mann foll fich nur mit wahrfagen abgeben, das
ift fein gefchäft (Deutfche mythol. 995): feine not foll er nicht kla-
gen, denn nur für jenes erhält er lohn; kumber klagen ift der ge-
bräuchliche ausdruck, Tirol MS. 2, 250° fen dine liute kumber kla-
gen, 250" /wenne der gernde kumber klaget. der finn der andern, bef-
fer beglaubigten lesart ift auch nicht verwerflich, ‘ich will mich auf das
wahrfagen des armen nicht einlaffen, es ift trügerifch’. das deutet auch
die ftelle aus dem Marner an, wie die andere aus der predigt, wo aller-
dings von prophezeien die rede ift, dem man nur keinen glauben
beilegt. gleicherweile fagt & zummen witze und lören fchatz und ar-
mes wisfagen rät gedihet kranker mäze. eine ftelle im Welfchen gaft
nimmt abfichtlich wärfagen für wär fagen bl.59'° dar umbe Jol ein
ieglich man, der an reht gedenken kan, den armen überfehen niht.
Jwelhen ze gebenne gefchiht varnden liuten dazs von in liegen, die
haben ouch den fin dazs der armen niht vergezzen gar, wan fi von
in [agent wär.
124,3.4 über den finn von widergüefen, das den wiederhall bezeichnet,
kann hier kein zweifel fein: er wird beftätigt durch die in der Ein-
leitung xcvıtr angeführte ftelle aus Heinrich von Morunge, der ant-
würten dafür gebraucht. das wort kommt, wie ich dort fchon be-
merkt habe, auch im Beljand bl.80 vor: ich will die ftelle vollftändig
herfetzen, weil fich daraus ergibt dafs man güefen annehmen mufs,
mit grimme vil hlegelicher flimme fie näch ir dö guoften: fi fehrirn
unde ruofien mit klegelicher herte.
124,5. 6 Walther 11,13—15 wer dich Jegene, fi gefegent: [wer dir fluo-
che, fi verfluochet.
Eee 2
404
WirseLm Grimm
125,15 Berthold 383. 401 frouwen die gemäleten und geverweten.
125,20 der golt fuochle und kupfer vant, ilt vergoldetes kupfer gemeint?
MS. 2, 97° mit golde kupfer überzogen. Reinmar von Zweler 2, 141
verguldet kupfer.
425,23 obezin kann nicht durch die aus Reinmar von Zweter MS. 2, 141°
angeführte ftelle gerechtfertigt werden, wo zu lefen ift filberfchin ob
zin. Freidanks fpruch ode filber widere zin, des gü ein flücke dez
ander hin verftehe ich jetzt ‘wenn filber dem zinn widerftrebt, weil
fie beide zu verfchiedenartig find, fo gehen beide zu grund’, fei nun
an eine mifchung gedacht oder an verfilbertes zinn. im Wigalois
11367 wird fogar bildlich gefagt min rötez golt gar überzint. einen
ähnlichen gedanken drückt Frauenlob feite 52 aus, und ift bi guote
ein [wacher fin, guot lät den namen hie. wol hin, von guole entrin.
din golt hät zin: dü bift fin golt und effeft in. dafs man zinn mit
gold und filber verfetzte, fehen wir aus Berthold 244.
126,2 glas für rubin erläutert W. Wackernagel in Haupts zeitfchr. 6, 306.
126,4 vielleicht ift das richtige für zobel, der ift wife niht.
426,7.8 ich weifs nicht was hier foll angedeutet werden und worin die fpitze
des gedankens liegt, wozu kommt dafs die kürzung vatr bei Freidank
ganz unzuläffig ift wie der reim gelich : wunderlich. die ftelle ift un-
echt wie alle, worin die flickworte daz ifti wunderlich erfcheinen,
alfo 109, 16. 137,8. 142,5; fie verraten fich fchon durch geiftlofe
auffaffung und rohen ausdruck. will man den immer fremden fpruch
ändern, fo mülste man kühn fein, wart ie fliefkint gelich dem edeln
vater, daz wundert mich. es wäre dann ein im ehebruch erzeugtes
kint gemeint, wie Spervogel MS. 230° fagt, dä mac ein höchvart von
gefchehen, daz fi ime ein fliefkint toufte. die Karlsruher handl[chr.
lieft lich kint, dann wäre wohl unelich zu bellern, und /tiefvater
könnte bleiben. im lateinifehdeutfchen Freidank (alter druck 31°)
fteht daz kint, und die zeile lautet ‘fi pure ingenuus facie vitrico fimi-
letur”.
126,18 Lachmann z. Walther feite 141 we daz ir bein ir arme ir hant ir zun-
gen niht erlament! Engelhart 3666 fin zunge müeze im noch erla-
men, eine verwünfchung, die auch der Unverzagte (MSHag. 3, 44°)
und der Meifner (Mgb. 39°) ausfpricht. in einem moralifchen ge-
über Freidank. 405
dicht der birkenftock. handfchrift feite 72 heifst es, der fweiger kan
manegen lift durch der [armen] fünder ungenift, dä miter die zun-
gen machet lam; er gefweiget einen mit der fJeham.
126,22 über houbet mit übertriebnem eifer, unbefonnen, mafslos: fo auch
Winsbeke 33,3 fwer gerne ie über houbet vaht, der mohte defte wirs
gefigen und Livländifche reimchronik 3084. 85 wer iuwer (1. über)
houbet houwen wil, der mae niht lange türen. Reinmar von Zweter
(MSHag. 2,194”) er ift ein töre, der getar vaft über houbet gräzen
dar, dä fin getät im felben fchaden fchaffet. Frauenlob feite 242
/wer über houbet vehet (l. vihtet), daz enift niht guot. ohne mis-
billisung Reinbots Georg 1257 alfus hän ich über houbet gerun-
gen, mit gröfster anftrengung. Schwabenfpiegel 31,6 Gerolt von
Swäben gewan Rome über houbet mit der Swäben helfe. dafelbft 70,3
er phendet wel über houbet mit rehte ohne fich zu befchränken. der
bildliche ausdruck wird noch weiter geführt, Meifener (Mgb. 44®)
diz bifpel merket al gemeine, fwer über houbet vihlet, wider Sircm
Jwimmet, dem rifent /pene in finen buofem; ez ift üz minem räte.
Fragm. 44" man feit [wer von der erden höhe über fich houwet, daz
/pene im rifent in die gefiht (}. fiht). Hugs Martina 726° über hou-
bet fie houwent, die die hohen went erkunnen. Brants Narrenfchif 7,
120 wer über fich vil howen wil, dem fallen fpäne in die ougen vil.
Kirchhofs Wendunmut (Frankf. 1581 f. 214°) wer [pen vber dem
kopf will hauwen, der nimmt fchaden.
126,26 der fchwere auftact fie ff, wie ihn Freidank fich nie erlaubt, verrät
fchon die unechtheit.
127,13 Herbort 83 fo zele man mich zem fünflen rade.
127,18 ein adjectiv frat in folgenden ftellen, Paffional 70, 32 im was der
lip gar durchflagen und alfö bluotee unde frat. 156, 50 ouch was
im fin antlitze von der trene hitze fö dicke übergangen das er an den
wangen her unde dar an maneger flät was durchfrezzen unde frat.
Apollonius von Tyrl. 10036 ougen röt unde frat.
128,14.15 Heinrich vom gemeinen leben 241 —45 die muniche folden hin-
den unde vorne der ougen alfö wefen vol, daz fi allenthalben wol die
viende gefehen wä fi fich wolden nehen ze den die in bevolhen Jint.
129,15.16 beide zeilen, die nur in zwei fpätern handfchriften vorkommen,
406 a Grimm
find fchon metrifch unzuläfig; der gedanke ift mit unpaffender an-
wendung dem vorhergehenden fpruch abgeborgt.
130,24.25 ich vermute zwöne herte fteine malent felten kleine; vergl. Sprach-
fchatz 2,711 chleino gemalnemo pulvere.
131,9.10 Kirchhofs militaris disciplina feite 101 das /prüchwort der Teutfchen
lehret Ein gut Weg vmb mach keine Krümb.
131,14.12 Heinrichs Krone bl. 30° ein man flüege wol ein her ob ez waere
äne wer. Gliers (Benecke beiträge 132) ein man ift tüfent manne her,
die alle wen fin äne wer. vergl. z. Athis F, 71.
131,23.24 derfelbe {pruch im Liederfaal 1, 334, wo aber die zweite zeile
entftellt ift.
132,2 —4 das vorangehende wird durch ein beifpiel erläutert, wie ftolz auch
einer darauf fei, dafs er fich in geftalt eines fackes gefchaffen (die
lesart /tellet, gebeflert in flalte wäre auch zuläffig) habe, fo hängen
doch, weil er dann keine arme hätte, die ermel (die fchwache form
ermelen ift Athis [. 69. 70 nachgewiefen) an feinem rock herab, wie
bei einem verftümmelten (handelöfer mancus Sprachfchatz 2, 71.
Renner 12744. 23565). die lesart /chalkes wis mag ein anderes ver-
ftändnis von /ac veranlalst haben; möglicher weife ift fie die echte.
gemeine leute, knechte trugen mäntel von grobem facktuch, von
welchen, wenn fie umgeworfen wurden, die ermel leer herab hien-
gen, gerade wie fie die Slowacken in Böhmen noch heutzutage tra-
gen und bei ihnen gewis altherkömmlich find. darauf weift auch ein
anderes fprichwort (oben 49,19) “wenn der knecht einen zobelpelz
anzieht, fo bleibt er darin doch ein knecht’. von dem hirten Paris
fagt Konrad (Trojan. krieg 1652) fin roc was ge/niten üz eime grä-
wen facke und hience an fime nacke ein gräwer mantel niht ze guot:
der jüngere Titurel (5070,1) von Parzival zimiere was er fparende,
er fuor in fackes kleiden. fo verftehe ich auch Parzival 364, 12.13
üz [childes ambt in einen fac wolt ich mich € ziehen, [6 verre üz arde
‚fliehen dä mich niemn erkande.
132,16 —19 vergl. W. Wackernagel in Haupts zeitfchrift 6, 273 anm.
432,26 ich ziehe jetzt die lesart Samkarc Gleichfchlau, der andern Säme-
karc Halbfchlau vor, weil jene einen noch beflern finn gewährt.
134,2 der Selden kint erklärt die Deutfche mythologie 827.
über Freidank. 407
134,18 unrehte bezieht fich hier auf ketzerifche irrlehren; vergl. Wacker-
nagels lefebuch 165, 28.
134,21 rihtic dem recht gemäfs, fchon im althochdeutfchen (Sprachfch. 2,
418): die abfchreiber änderten, weil das wort nicht mehr üblich war,
denn ich finde es fonft nicht.
136,1 diu beefen mere werdent wit breiten fich aus, wie 14,2 der funnen
Jehin ift harte wit. dagegen MS.2,156° fo wirt fin lob vil wite;,
vergl. Hartmanns lieder 6, 8 des liez ich wite mere komen, wo auch
nach Lachmanns anmerkung das adverbium gefetzt ift.
136,3 daz mare fliuget, vergl. Deutfche mythol. 850—51. Frommann z.
Herbort 13704.
136,9 Prov. 9,17 aqux furtive dulciores funt.
136,20 Boppe MS. 2, 231. 232 berichtet dasfelbe, was wahrfcheinlich aus
einem alten Phyfiologus genommen ift, Pardüs ein tier genant ift
küne unde balt, ze mäze groöz, in rehter forme wol geftalt, dem fin
natüre fremde minne bringet. daz felbe tier daz wonet [tete der lewin
bi, fwie doch des lewen kraft und minne bezzer fi, und wie [ins za-
gels fwanc in zornes Iwinget.
137,11 Spervogel MS.2,230° /wer den wolf ze hirten nimt, der vät fin [chaden.
137,23 vergl. Reinhart fuchs xxxvı. Sigeher MS. 2, 222 dem in lambes mun-
de wahfent wolves zende.
138,7.8 Engelhart 3534—37 ez ift noch ein beweret dinc, [6 man den frem-
den hunt ze vil ftreichen unde triuten wil, daz er enblecket finen zan;
vergl. Haupts anmerkung.
138,17 im zehnten jahrhundert (Wackernagels lefeb. 1,123) fone demo lim-
ble fö beginnit tir hunt leder ezzen.
138,21.22 Morolt 2, 605 der fuhs der fich mitfens fchamt, von hunger er
ergramt. Frauenlob feite 75 ein fuhs und ouch ein müsar der mü-
‚Jet näch finer art.
139,19.20 Marner (MS. 2,172°) ein fnecke für einen (]. den) lebart wol tü-
‚ent klafter [lane] fpranc. Reinmar von Zweter (MSHag. 2, 206*)
ein fnecke wolte fpringen für den lebart beide berc unt tal.
140,7 ich habe die lesart gurre? zurück gefetzt, obgleich fie ziemlich ver-
bürgt ift, weil ich glaube dafs fie auf einem misverftändnis beruht.
kerren bezeichnet das ausltoflen thierifcher laute (Parz. 69, 12 diu
408
WirHEeLm Grimm
ors von flichen kurren. Neidh. MSHag. 3, 189° diu fwin hörtich ker-
ren), und gurren kommt in diefem finne nicht vor. ergurret heifst
im Lanzelet vor alter fchwach geworden (1455 das pferd was niht
lam, ergurret, mager noch ze kranc), und in gleicher bedeutung
braucht der Teichner vergurret, er fpricht (Liederfaal 1,457) von
einem pferd, das man übertriben hät und einen trit nit mac von tat:
Jwaz man flahe üf im, ez murret. alfo ift diu welt vergurret, daz
ein zuc nit ziehen wil in der alten tugent fil. das verbum ift gebildet
von gurre, das einen alten gliederlahmen gaul bezeichnet und von
kerren abftammen kann, da der alte müde gaul ächzt und ftöhnt.
gurre erfcheint im althochdeutfchen noch nicht, ich finde es zuerft
im alten Laurin (Nyerup fymb. 8), Eraclius 1451, dann bei Reinmar
MS. 1,80®. Berthold 356 und andern.
140,9 efel und gouch ftellt auch Walther 73,31 zufammen.
141,5.6 zu den in der Einleitung ıxxxvı angeführten gründen, weshalb ich
diefe zeilen für unecht halte, füge ich noch dafs r& eine niederdeut-
fche form ift, vergl. Athis f. 15. 16.
141,7. 8 die ftelle, die nur in Aa vorkommt, ift unecht, fchon weil Freidank
wie Walther im reim nicht ich mit kurzem vocal gebraucht; vergl.
z. 126,7 und oben [f. 377. 378.
142,5 Dietleib 11144 näch der krebze fite gan.
442,14 bei den dichtern ift oft von der glänzenden, in farben leuchtenden
kleidung der engel die rede, manchmal werden die kleider der frauen
damit verglichen, am häufigften ritterlicher fehmuck; vergl. Lanze-
let 4430. Iwein 2554. Lichtenftein 92,2. 296, 15. 453, 16. Strickers
Daniel bl. 149°. Konrads trojan. krieg 2926. 5723. 19451. 24712.
Engelh. 2646. Turnier von Nantes 119, 1. 136, 1. jüng. Titurel 4515,
4. Ofwald 622 (Haupts zeitfchr. 2, 108). Rofengarten C, 2005. der
Unverzagte fagt dem jüngling (MSHag. 3, 43°) dü folt alle frouwen
Eren, fö wirt dir der engel wät dort gegeben.
142,15.16 Liederfaal 3, 520 wie vil der rappe gebadet fich, doch ift fin
varb niht weidenlich, daz er niht wizer wirt dan € und daz er fich
wi/fch iemer m£.
442,17.18 Frauenlob feite 58 das edel vederfpil verderben muoz dar abe,
Jwä krä, fwä rabe ir ädtem gegen im bieten.
über Freidank. 409
143,2 Helbling 8, 1233 den kneht begreif fin alter tuc. 9, 43.44 billich
Jolt ich läzen fin die minen jungen tücke.
143,7 zu der einleitung ıxxxvı einige nachträge. in dem vocabularius f.
Galli (Hattemer 1,10) fteht charadrion opupam hupupa und noch-
mals charadrion et ipfam non habemus, fed tamen dicitur et ipfam
volare per medias noctes in fublimitate czli; in einer andern gloffe
wie mehrmals im Sprachfch. 2, 245 caradrius lerichä. die umdichtung
des Phyfiologus in Karajans denkmalen ftimmt (f. 104.105) mit dem
lateinifchen und deutfchen in Hoffmanns fundgruben. nach Boppe
(MSHag. 2,378") wird der vogel, deffen gefieder fchneeweifs ift, ga-
ladrius im land Galadite genannt, bei dem Meifner kaladrius. in
den von W. Wackernagel in Haupts zeitfchrift (7,147) bekannt ge-
machten predigten kommt vor der adelar.....ift ouch einem andern
vogel gelich, der heizet caradrius umbe die bediutunge diu an ime
ift. dann wird die fage ausführlich aber übereinftiimmend mit dem
Phyfiologus erzählt. jüng. Titurel 5154, 3 wen der galadröt mit
Schine grüezet, [wie gröz fin [uhte were, der würde im Junder fter-
ben doch gebüezet: ifi aber daz er wendet diu ougen von dem fie-
chen, fin leben wirt verendet. wie es fcheint, hat man charadrius den
todtenvogel, chamäleon das von der luft lebt (vergl. oben z. 109, 18)
und galander (eine lerchenart) der in die höhe fteigt, verwechfelt
und vermifcht, fowohl den namen als den eigenfchaften nach. der
vocabularius f. Galli hat upupa gefchrieben, meint aber noctua, im-
mer im misverftändnis.
143,14 zu wufe ift ohne zweifel ze fuoze, da die Göttw. hf. häufig w für v
und / für z fehreibt. damit ftimmt die lateinifche überfetzung, A for-
tuna milvus cum locuplete relictus (Eft a fortuna capo in ].r. alt. druck
32°), Cum fibi currendo cogitur quxrere vietus. nun erklärt fich
die lesart zum füch/s in der Karlsruher hf.
144, 11—26 vergl. die deutfche umdichtung des Phyfiologus aus dem zwölf-
ten Jahrhundert in Karajans fprachdenkmalen feite 102.
145,23 Strickers gedichte von Hahn 13, 15— 21, wo der Salamander die
fliege rühmt, der fliegen kunde niht gelichen: die gewaltigen und
die richen die möhten fich ir niht erwern: fie müe/tens äne ir danc
Philos.- histor. Kl. 1849. Fff
410 WirHeLm Grimm
nern, fit fe mit in trunke und «ze und üf ir kleider [eze, üf gulier
und üf goltvaz; im geviel nie frouwe baz.
147,14 mitteilere findet fich Litanei 118 Mafsm., jedoch der ältere text
(Fundgr. 2, 217) hat mitilere.
148,21 Welfch. gaft bl.17" ftüende er umbe ein pfenninc pfant, in löfte niht
Kaäis hant. fonft ift noch nachzutragen Helbling 1,1175. 13,122.
Orendel 1354 pfenwert. Karl Roths predigten 42 zwei hundert pfen-
newert brötes ducentorum denariorum panes. Alexius bei Mafsmann
72,256 pfenninges wert er nie gewan. Kirchhofs Wendunmut bl. 205°
batzen bezaln für pfenningwehrt viel für geringe fache. bl.87° wollt
er allwegen zu allen fachen fein pfennigwehrt auch reden, wie man
in Süddeutfchland fagt, feinen heller dazu geben.
149,5 —12 der heil. Petrus zieht umher; f. Deutfche mythol. xxxvı— vır.
150,3 fin leben während feines lebens: Genefis 20,22 al din leben fo lange
du leben wirft.
150,26 bei merbot fragt W. Wackernagel im gloffar zum Lefebuch "mohr’?
aus Marbut Morabeth (vergl. mittellat. marbotinus maravedi)? Ge-
dichte auf Friedrich I. feite 114 wird der erklärung von maravedi
beigeftimmt, das goldftück vergebe die fünde. aber wie ift das fol-
gende, wo nur von perfönlichkeiten die rede ift, und ander wirte,
gebüre unde hirte damit zu vereinigen? kann merbote nicht einen be-
zeichnen, der über das meer gefendet ift um für eine fahrt nach Sy-
rien zu werben? fchon im concilium von Clermont (1095 — 96) follte
fie als bufse gelten. zugleich erfcheint im althochdeutfchen Meri-
poto und auch bei Neidhart (MSHag. 3, 267°) Merbot als eigen-
name; die lesart merdoien würde dann den vorzug verdienen. die
Magdeburger handfchrift bl. 45" hat mer dute: dies führt mich auf
einen andern gedanken, der meerdutt pleuronectes hippogloffus heifst
nach Nemnich auch heiligbutt, englifch holibut: follte Freidank ver-
fteckterweife den pabft gemeint haben, der den fifcherring trägt, mit
welchem der ablafsbrief befiegelt wart?
154,6.7 Reineke vos 4215.16 alfus ift dar manege lift, daran der pawes
unfchuldig ift ftammt aus Freidank.
155,4 ich habe golt filber umgeftellt, weil es metrifeh beffer und einer ent-
fprechenden ftelle bei Walther 25,7 gemäfs ift.
über Freidank. 414
158,8 ane höhen rät, nach 160, 3 äne genuoger liute rät: die fürften mit
denen der könig fich zu beraten hat, find gemeint; Walther 84, 28
edelr küneges rät, und hier 72,7 des küneges rät. Gudrun 1151, 2
Wate und ouch her Fruote des küneges r@te pflac.
158,13 Kaiferchronik bl. 10° fi ne wolden iz nimmer glouben, fi en/@hens
etelich teil mit den ougen.
158,27 es wird wohl zu lefen fein got müeze ez fcheiden: auch bei Walther
16, 31 got müeze ez ze rehte [cheiden.
159,10 fi hänt manegen zuc gezogen bildlich von dem einziehen des vollen
fifehnetzes, fie haben manchen fang gethan und zwar auf unrecht-
liche weife. ebenfo fagt Ottacker f.24° als das reich ohne keifer war,
man fach gemeinlichen an armen und an richen höchvart unde über-
muot: ieglichen dühte er wer fö guot daz er fich wol berihtet, € daz
ez würde verflihiet, er müefte € ziehen finen zuc; dä von gefchach
vil manic ruc, des lafter und fünde was.
161,1—3 die chriften die in Syrien leben und fich der bedrängniffe des lan-
des erwehren müffen, auch die waren dem vom kaifer gefchloffenen
frieden entgegen. landes in der dritten zeile verwerfe ich, weil es
aus unverftand eingerückt ift.
163,15 daz hüs von fiben füezen ift, wie Haupt in der zeitfchr. 3, 279 (vergl.
Wackernagel daf. 6, 297) richtig bemerkt, nicht der farg fondern
das grab. Heinrich von Rucke MS. 1, 98° und enwirt mir dar näch
niht wan fiben füeze lanc. Philibert (Karajans frühlingsgabe) 100, 46
ein grap daz küme fiben füeze hät. Altdeutfche blätter 1,115 dir
muoz genüegen äne dinen danc an eime grabe fiben füeze lanc, ähn-
lich im jüng. Titurel 1352, 1.2. Frauenlob feite 242 fagt die Minne
zur Werlt fwer allerbeft dir dienet, dem häftü verligen ein linin tuoch
und fiben fuoz landes’.
164,8.21 meifteil finde ich nur noch Iwein 3746. eine lesart erlaubt auch
hier meiftic zu lefen, was Walther 107,16 gebraucht.
164,12 Kaiferchronik bl. 34° die verworhten und die vertänen die man folte
tummeln oder hähen. bl. 43° beftumbelt und irhangen.
164,19 ich vermute dafs gotes lant zu lefen ift.
165, 19 Hadlaub MS. 2,187° daz fi (die merker.) fin verfluochet: ir zungen
int [6 lanc. pfälz. handfchrift 341 bl.75 man befnide die zungen
Fff 2
412 WirHeLm Grimm
daz fie die lüge mide. Wickrams rollwagen (1590) bl. 63° werden
etelich (die gottes läfterungen ausgeftoflen haben) hart an jr& Leib
geftraffet als mit dem Thurn, Branger, die Zungen befnitten.
166,9 den fuoz fetzen ift Reinhart fuchs feite 355 zu 123 erläutert.
169,16.17 Buch der rügen 616. 617 want ir got triegen, den nieman be-
triegen kan?
169,20.21 Hartmanns Credo 2596 Crift der nie gelouc, neheinen men/chen
er betrouc.
170,19.20 Gottfrieds lobgefang 19, 5.6 und 9.10 du wünneberndez fröuden
tach dä durch man regen nie gefach. du helfebernder kraft ein turn
vor vientlichem bilde. Heinzeleins Minnenlehre 1817—18 minne, du
bift ein fehilt für trüren. minne, du kanft müren manegen Jehrin für
Jorgen fla.
474,11 wer im handel fortkommen will, darf nicht die wahrheit fagen, mufs
den käufer teufchen, wie auch der folgende fpruch zeigt, den die
erfte ordnung unmittelbar folgen läfst, nicht die zweite. koufes ift
durch alle handfchriften gefichert, aber Morolt 2, 397—98 fteht
[wer fich klaffens fol begän, der muoz fin wär Jagen lan. vielleicht
eine parodie, allein da klaffen fo wohl pafst, fo könnte hier das
urlprüngliche bewahrt fein, zumal Freiddank 171,13. 14 fonft eine
wiederholung enthielte.
471,27.172,1 Türlein erzählt (Wilhelm 31°) von fchlangen auf dem gebirge
Sentanar, der här und houbet ift ein meit, und fährt dann fort, von
dem zagele ich niht fprechen fol: vil manec zagel giftee ift. houbet-
wisheit, zagels lift hät liep von eren dicke gefetzet und liep mit leide
/6 ergetzet das man von rehte den zagel fliuhet. Liederfaal 3, 338
Juncfrouwen blic und flangen zagel, al/fö ift diu werlt geftalt.
176,25 Graf Rudolf 26,16 daz gröze künecriche namens niht für eine naht.
177,2 vergl. Haupt z. Winsbeke 3, 10. Johann von Rinkenberg MS. 1,188°
Regenboge MSHag. 3, 354". Liederfaal 1, 555.
177,5 näch lanclibe hat Renner 23770 aus Freidank, er braucht aber auch
20870 Zanclebic. Armer Heinrich 1514 näch lanclibe und 646. 712.
Helbling 9,59 Zancleben: fonft habe ich das wort in diefer zeit nicht
gefunden; Zanclibi longevitas im Sprachfch. 2, 46.
177,13 Sommer z. Flore 3756.
über Freidank. 413
177,17 dem Töde maneger winket ift in der Deutfchen mythol. 802 erklärt;
vergl. Lachmann z. Nibel. 486, 6.
177,24 der lesart an dem /per B ift gegen die neun übrigen handfchriften,
wozu noch die Magdeburger bl. 23° kommt, in der Deutfchen mythol.
805 der vorzug gegeben.
178,2—5 vergl. Einleit. cıı. cıx und Sommer z. Flore 3792. Rudolf von Ro-
tenburg MSHag. 1,83° diu wort diu dunkent mich niht wär, daz man
/pricht "dar näch man werbe, des werde meift dem man’. Hätzlerin
135 vil dings verdirbet des man niht wirbet.
179,6.7 über den untergang der welt durch feuer ift D. mythol. 776 nach-
zufehen.
188,5 Welfch. gaft bl. 131" unfer herre tuon fol dem übelen we, dem guo-
ten guot.
182 zu dem fpruch aus Johann von Freiberg vergl. Haupt zur Winsbekin
1,2:
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ALTDEUTSCHE GESPRÄCHE
h”-. WILHELM GRIMM.
mmmwnvunmarss
[gelesen in der akademie der wissenschaften am 29. oktober 1849.]
er fpieilegium vaticanum (Frauenfeld 1838) f.31 gab nachricht von
einer aus verfchiedenen pergamentblättern des 9'* bis 12‘ jahrhunderts zu-
fammen gefetzten handfchrift der vaticana (cod. collect. membr. 4. Chriftin.
566). danach enthält blatt 5 “das bruchftück eines altdeutfchen gloffars aus
dem anfang des neunten jahrhunderts, interlinear und marginal mit fehr fei-
nen fchriftzügen gefchrieben, die mit den merowingifchen grofse ähnlichkeit
haben. das bruchftück rührt wahrfcheinlich von einem mönche her, der aus
dem innern Gallien nach Deutfchland reifte, wie fich aus der gloffe unde venis?
de Francia und den darin vorkommenden confonantenverhältniffen ergibt.
Greith liefs diefe gloffen abdrucken, aber bei manchen wörtern mufte ich
zweifeln dafs er richtig gelefen habe, auch war nicht zu erfehen wie der aus-
druck interlinear und marginal zu verftehen fei. ich wendete mich an hn
Dr Brunn in Rom, und er war fo gefällig mir ein forgfältiges, von ihm felbft
verfertigtes facfimile von jenem blatt zu überfenden. die arbeit war um fo
mühfeliger als, wie er bemerkt, das pergament zerknittert und die dinte an
einigen ftellen ganz erlofchen ift. für die richtigkeit des textes und der
fchriftzüge will er bürgen, nur den cheracter der fchrift, wie ihn ein voll-
kommenes facfimile gewähren foll, hat er nicht vollftändig wieder geben
können.
Die fchrift des theologifchen werks ift fchön und deutlich und ge-
hört wohl in das neunte jahrhundert;, eine genauere beftimmung ift fchwierig.
die gloffen find an den rand und wo fich innerhalb des textes leerer raum
zeigte hinzu gefchrieben, alfo fpäter und mit anderer dinte: aber die züge
der völlig verfchiedenen unfchönen hand find an fich alterthümlicher. fie
unterfcheidet fich befonders durch das aus dem uncialen N und NT gebil-
416 WirseLm Grimm
deten N N: auch find mehr kürzungen angewendet und öfter verfchiedene
wörter zulammen gezogen; fie mag nicht viel jünger fein.
Da Greiths abdruck fich unbrauchbar erweift, fo ift es gut dafs der
Sprachfchatz in den beiden letzten bänden, die nach 1838 erfchienen find,
auf diefe gloffen keine rückficht genommen hat. ich lege hier eine wohl ge-
ratene nachbildung des facfimile bei und laffe die gloffen folgen fo wie ich
fie lefe, nur mit auflöfung der fichern abbreviaturen, behalte aber bei das
zeichen -J für id eft, und + zeile 31 für est. was das einem H ähnliche zei-
chen vor der zwifchenzeile 36 bedeuten foll, weifs ich nicht: eine verwei-
fung fcheint es nicht zu fein.
Obethe. caput.
Faffen. capilli.
Auren. auril.
Ögen. oculi.
5 Munda. bucca.
Zunguen. dentel.
Bart. barba.
An. manuf.
An/co. Guanti.
ı0 Bruft. pectul.
Guanbe. uenter.
Follo guanbe. plenul uenter
Elpe. adiuva.
Jromin. dön’.
15 Guare uengelinaz felida guefelle. wel guenoz :|- par.
-' ubi abuilti manlionem ac nocte conpagn.
Te geraben. uf. felida -. ad manfionem comitis.
Guane cumet ger brothro -| unde uenil frater.
E gunt Jimono dodon” H | de domo döni mei. uel.
E cunt mer min erre uf. ;; de domo [enioril mei.
20 Gueliche lande cumen ger | de qua patria.
altdeutfche gefpräche. 417
E guaf mer in gene francia |. in francia fui.
Gu@z ge dar daden :|; quid fecilti ibi.
Enbet mer dar -. dilnaui me ibi.
Buster gerinaz ze metlına.
25 Terue ge u.
E ne quefa ti dar - ego non te ibi uidi. uel.
E ne quefa u thar -; uol non uidi ibi.
Que/afti min erre ze mettina | uidilti (eniorem meum
ad matutinal.
Terue nain i | non.
30 Guaz gildo -. quid uil tu.
Guer iflin erro -| ubi — [enior tuul.
ne guez |; nelcio.
uel er erro |; ad [eniorem [uum.
E /con® canet. bellul ualalluf.
35 uel /nel canet. uelox ualalluf.
Een: tere -- maluf uafalluf.
CVereft | ubi elt.
Sclaphen fin alf | da illi in collo.
habeo dın.
40 Ghanc hutz :| i. fort.
fairu . . oft.
Vindef arf intine nafo -| canil culü intuo nalo.
Als nächfte erklärung dient am beften eine übertragung in althoch-
deutfche fprachformen; die änderungen darin werden hernach in den an-
merkungen gerechtfertigt werden.
Houbit caput.
Fahs capilli.
Örün aures.
Ougün oculi.
Philos.- histor. Kl. 1849. Gag
418
13.
10
15
25
30
35
WiLHEeLm Grimm
Munt bucca.
Zungün (}. zendi) dentes.
Bart barba.
Hant manus.
Hantfcuohä guanti.
Brujt pectus.
W amba venter.
Follu wamba plenus venter.
Hilf adjuva. /römin don”.
Wär wärun gelind az felidö, gefello? vel genöz par.
ubi habuifti manfionem hac nocte, compagn?
Ze grävin hüs felidö ad manfionem comitis.
Wanna cumet ir, bruoder? unde venis, frater?
Ih cumu üt finemo (l. minemo) döme de domo domini mei. vel
Ih cumu mir üt minemo herrin hüs de domo fenioris mei.
Fona welihemo lande kumet ir? de qua patria?
Ih was mir in jenemo Frankönö lande in Francia fui.
W az ir där tätut? quid feecifti ibi?
Inbeiz mir där difnavi me ibi.
Wärut ir hina az ze mettino? fuifti?
Triwo jä iwih (}. ih).
Ih ne gefah dih där ego non te ibi vidi. vel
Ih ne gefah iwih där vos non vidi ibi.
Gefähi dü minan herrun ze meltinö? vidifti feniorem meum
ad matutinas?
Triwö nein ih non.
W az wildü? quid vis tu?
Wär ift din herro? ubi eft fenior tuus?
Ne weiz nefeio. vel
Er ift ze finemo herrin ad feniorem fuum.
Ih feöni kneht bellus vafallus. vel
Snel kneht velox valallus.
Ubil kneht mina triva malus vafallus.
Wär ift? ubi eft?
Klapf6 in finan hals da illi in collo.
altdeut/che gefpräche. 419
Hoab£ dinan.
40 Ganc hüz i fors.
Hundes ars in dinero na/ö canis culum in tuo nafo.
Zu den älteften denkmälern der deutfchen fprache gehören deutfch-
lateinifche wörterbücher, in welchen ausdrücke für die im täglichen leben
nothwendigen dinge gefammelt und zu bequemem gebrauch ihrem fach-
lichen inhalt nach geordnet find. davon unterfcheiden fich fehr beftimmt
lateinifchdeutfche, nicht auf befondere gegenftände befchränkte alphabetifche
vocabularien, noch mehr zwifchen die zeilen oder an den rand lateinifcher meift
theologifcher werke gefetzte gloffen. die beiden letztgenannten arbeiten dienten
gelehrten zwecken, während jene fachlichen handbücher zunächft für reifen-
de beftimmt zu fein fcheinen, vorzüglich für geiftliche, der lateinifchen oder
der eben aus dem lateinifchen fich ablöfenden romanifchen fprache mächtig.
bei jenen gelehrten gloflen ift das lateinifche die hauptfache, das deutfche
überfetzung: bei den fachlichen wörterbüchern mufs das deutfche als das
urfprüngliche gelten, wenigftens in fo weit als es von dem fremdling nicht
konnte aufgefchrieben werden, der fchwerlich im ftand war die unterfchei-
dung verwandter laute zu bezeichnen, die wir gewahrt finden. diefe fach-
lichen wörterbücher allein find hier der gegenftand unferer betrachtung.
Mir find folgende bekannt, A die Caffeler gloffen, B der Vocabula-
rius S. Galli, C die Schlettftädter gloffen (Haupts zeitfchrift 5,318), D No-
menclator in einer Wiener handfchrift (Hoffmanns althochdeutfche gloffen
{.57.58), E Summarium Henrici, F gloffen aus einer boxhorn. handfchrift
(Nyerups fymbolx f. 560— 337), G gloffen aus einer Wiener handfchrift
(Hoffmanns fumerlaten f. 29—43), H aus einer Innsbrucker handfchrift
(Mones Anzeiger 1838 [.287 —602), I die Wiesbader gloffen der heil. Hil-
degard (Haupts zeitfchr. 6, 321), K Vocabularius optimus (heraus gegeben
von Wackernagel 1847). ich beachte dabei nicht einzelne ausgehobene ab-
fehnitte, wie z. b. die ungedruckten Frankfurter gloffen nur die namen von
thieren und pflanzen enthalten, Zürcher gloffen (Diutifka 2, 273—277) nur
pflanzen; auch laffe ich zur feite lateinifchdeutfche alphabetifch geordnete
wörterbücher, in welche die fachlichen aufgelöft wurden; die Admonter
gloffen (Haupts zeitfchr. 3, 368) und die Leipziger (Mones Anzeiger 1835
f.93—95) fcheinen mir auf diefem weg entftanden zu fein.
Gese >)
80,7
420 WirneLm Grimm
Die handfchriften von A und B find die älteften und reichen beide
in das achte jahrhundert, leicht noch in das fiebente; die übrigen von C
bis I fallen in das zehnte, elfte und zwölfte, K in das vierzehnte. da aber
C manchmal ganz alte fprachformen bewahrt hat, die ihrer quelle ein glei-
ches alter mit A und B anweilen, fo irrt man fchwerlich, wenn man den ur-
fprung auch der andern, K ausgenommen, das, mit der handfchrift ziemlich
gleichzeitig, eine fpätere arbeit enthält, ebenfoweit zurück führt. B fetzt,
wie ich anderwärts (Caffeler gloffen feite 20) fchon dargethan habe, A vor-
aus, aber auch A, aus mehreren verfchiedenartigen ftücken zufammen ge-
rückt, deutet auf noch ältere quellen.
Vergleicht man den inhalt diefer wörterbücher, fo ergibt fich dafs
keins von dem andern abftammt, wenn man auch das gegentheil vermuten
follte. fie zeigen freilich übereinftimmung fo weit fie in einer gleichen auf-
gabe liegt, aber in der folge der einzelnen abtheilungen, die felten äufser-
lich getrennt find, ftimmt eins fo wenig mit dem andern dafs bei einem vor-
an fteht was bei dem andern erft am ende kommt; am meiften zufammen
gehalten find noch die abfchnitte aus dem naturreich. ebenfo verfchieden
find fie dem umfang nach: D und I enthalten nur wenige abfchnitte. end-
lich ift in der folge der einzelnen wörter keine gleichförmigkeit fichtbar: er-
fcheint auch manchmal eine kleine anzahl in derfelben ordnung neben ein-
ander, fo liegt dies gewöhnlich in der natur der fache, z. b. wenn die glie-
der des menfchlichen leibes aufgezählt werden: anderwärts zeigt fich wie-
der die gröfste verfchiedenheit. ebenfo ungleich find fie in beziehung auf
die reichhaltigkeit einzelner abfchnitte: rein gehalten find diefe auch nicht
immer, manchmal drängen fich verirrte gloffen dazwifchen, einzeln oder ein
paar zufammen. es fcheint bei der aufltellung diefer wörterbücher meift der
zufall gewaltet zu haben. C läfst diefe entftehung am deutlichften durch-
blicken: hier ift (feite 260) bei den namen der bäume aus einer andern, auch
fonfther (Altdeutfche blätter 1, 349. 350) bekannten quelle fogar ein latei-
nifches gedicht aufgenommen, wo dann die einzelnen gloffen über die zeilen
gefchrieben find. nur E, das Summarium Henrici, geht auf plan und ftren-
gere ordnung aus. unter den ältern ift diefes wörterbuch das vollftändigfte,
dennoch fehlen darin abfchnitte, die C H und I gewähren, fo wie gemein-
fchaftliche anderwärts reicher ausgeftattet find. K enthält fichtbar eine fpä-
tere bearbeitung und umfafst unter allen am meiften. der Vocabularius hat
altdeutfche gefpräche. 421
fich dabei noch ein anderes ziel gefteckt, er will zur erlernung des lateini-
fchen behilflich fein, denn es werden neben ein deutfches wort oft meh-
rere, ja ganze reihen lateinifcher denfelben oder einen verwandten begriff
enthaltende ausdrücke geftellt. gewis find dabei wörterbücher aus älterer
zeit benutzt, aber auch nicht weniges wird feiner zeit angehören. in dem
abfchnitt über das naturreich (feite 41—55) macht fich die alphabetifche
ordnung in den lateinifchen wörtern bemerklich, wo alfo der verfaffer eine
befondere quelle mufs benutzt haben. endlich begegnet man hier und da
überfetzungen und umfchreibungen, weil kein deutfcher ausdruck fich vor-
fand, am meiften in dem abfchnitt de compoficionibus librorum (feite 37),
wo hiftoria fchwerfällig erklärt wird ein gefechriben rede der getät, als ez ge-
Jehach, und de dignitatibus fecularibus (feite 38) monarcha ein einiger herre
über die welt. aus fpäterer zeit mag noch manches diefer art vorhanden fein,
was für unfere unterfuchung wenig gewicht hat: fo gibt von zwei hierher
gehörigen papierhandfchriften des funfzehnten jahrhunderts Mones Anzeiger
1837 feite 339. 340 nachricht.
Nach dem was ich ausgeführt habe, ift nicht glaublich dafs die ur-
fprüngliche, ich meine die erfte auffaflung diefer wörterbücher auf uns ge-
kommen fei: nur theile davon, freilich wohl die wichtigern haben fich er-
halten. auch die ordnung des ganzen mag urfprünglich ftrenger gewefen
fein: das gloffar der heil. Hildegard gewährt in diefer beziehung wohl das
befte; die feltfame unerklärliche fprache, in der es abgefafst ift, verhinderte
änderungen umftellungen und zufätze. es beginnt mit Deus, angelus, falva-
tor u. f. w., geht dann auf menfchliche verhältniffe über, und daran fchliefst
fich das naturreich mit feinen abtheilungen; verirrte gloffen habe ich darin
nicht bemerkt. die Caffeler gloffen fangen gleich mit caput an: bis zu feite
H unterbricht auch hier keine ungehörige gloffe die ordnung (*); feite H
1—14 ift ein fatz eingefchoben, der verfchiedenartiges untereinander wirft.
verwirrungen genug zeigen die Schlettftädter gloffen. unnöthig ift es, eine
hinter allen fammlungen ftehende einzige urfchrift anzunehmen: das bedürf-
nis kann mehrere von einander unabhängige auffaffungen hervor gerufen ha-
(*) deshalb [cheint es mir unzuläffig, das [chwierige wort altee (E,15) das zwilchen den
fingernamen fteht als eine verirrte glolle zu betrachten und auf etwas durchaus nicht dahin
gehöriges zu deuten.
4223 WirseLm Grimm
ben; gibt es doch auch eine angelfächfifche fammlung diefer art (Mones
Quellen 314.323), die mit den vögeln beginnt, wiederum völlig abweichend
in der aufnahme wie in der folge der wörter.
Spricht man von diefen wörterbüchern, fo pflegt man auch zu fagen
dafs fie fämtlich auf Ifidors etymologien zurück zu führen feien: ich kann
dies nur von den hier noch nicht erwähnten, aus wenigen blättern beftehen-
den Leipziger gloffen (Haupts zeitfchrift 2, 214. 3,116) gelten laffen, wo
man fogleich einen auszug aus Ifidor erkennt, dem nur ein paar deutfche
gloffen zugefügt find. die unabhängigkeit der Caffeler und Wiesbader glof-
fen habe ich fchon bei herausgabe derfelben dargethan, auch bei dem Voca-
bularius f. Galli ift fie aufser zweifel; vergl. W. Wackernagels gefchichte der
deutfchen litteratur f.27. es wäre zu verwundern, wenn fo frühe fchon alle
fpuren des zufammenhangs fich follten verwifcht haben. ich gehe jetzt noch
weiter und behaupte dafs auch die übrigen wörterbücher, das Summarium
Henrici ausgenommen, keine verwandtfchaft mit dem umfangreichen werk
des {panifchen bifchofs zeigen, auch dann nicht, wenn man annehmen wollte,
wie man fich auszudrücken pflegt, “die grundlage fchimmre nur durch’. wer
felbft nachgefehen und genauere vergleichung angeftellt hat, wird mir bei-
ftimmen. das Summarium ift es auch wohl allein, das zu jener allgemeinen
behauptung die veranlaffung gegeben hat. zunäcft hält man fich dabei an die
vorrede, weil fie fich ausdrücklich auf Ifidor beruft: allein man hätte auch
bemerken follen dafs die abtheilungen mit den lateinifchen überfchriften,
diefe bis auf kleinigkeiten unverändert, dorther genommen find. die folge
der bücher ift nicht ganz beibehalten, wohl aber ziemlich genau die folge
der capitel, in welche die bücher zerfallen. ebenfo find die einzelnen wör-
ter im ganzen wie dort geordnet. indeffen fehlt es auch nicht an capiteln,
die ftarke veränderungen erlitten haben, zumal wo nur das einheimifche,
wenigftens nur das in Deutfchland bekannte durfte angeführt werden. dahin
gehören capitel, wie II, 16 de pifeibus (Iüidor 12, 6), III, 7 de herbis (If. 17,
9), III, 9. 10 de oleribus (If. 17,10.11). faft ganz andern inhalts ift VIL, 1
de vocabulis gentium (If. 9, 2) und VII, 3. 4 de clerieis (If. 7,12). ja es
gibt capitel, die bei Iidor durchaus fehlen, wie VII, 8 de variis officiorum
vocabulis vel operariis und VII, 9 de notis et vitiis in homine, welches ge-
rade das reichhaltigfte ift.
altdeutfche gefpräche. 423
Das Summarium ift, wie ich mir vorftelle, auf folgende weife entftan-
den. der verfaffer wollte die meift unvollftändigen d.h. nur einzelne ab-
fehnitte umfaffenden und häufig verwirrten wörterbücher, die ihm bekannt
waren, in beflere ordnung bringen. er legte Ifidors werk zu grund, natür-
lich mit auslaffung der etymologifchen erläuterungen, die feinem zweck
fremd waren, nur VII, 22 find die worte eft aratio prima, cum adhuc durus
eft ager und VIII, 25 cafeus, quod careat fero aus Ifidor 17,2 und 20,2 auf-
genommen. die deutfchen wörter, fo viel er vorfand (auch die drei hand-
fchriften, zu Trier Wien und München haben nicht gleich viel), fetzte er
daneben, rückte einzelnes was bei Ifidor nicht vorkam, aus andern quellen
in das entfprechende capitel ein und gab manchmal dem einheimifchen den
vorzug, was einige umftellungen veranlafste. jene vorhin bemerkten, bei Ihi-
dor fehlenden capitel VII, 8. 9 finden fich gerade in den deutfchen und
zwar von einander unabhängigen wörterbüchern, VII, 8 in den gloffen der
hl. Hildegard wenn auch abweichend doch entfprechend: VII, 9 in den Caf-
feler gloffen, im Vocabularius S. Galli (f.198. 199) und in den Sumerlaten
(feite 31°). ob der verfaffer dem Summarium aus eigenen mitteln etwas zu-
gefügt hat, mag dahin geltellt fein. dafür fpricht nicht dafs er II, 9 de por-
tentis (Ifid. 11, 3) firenes übergeht, während meriminnä (Sprachfchatz 2,774.
775) zur hand war. feinen ftandpunct verrät das letzte capitel X de inter-
pretatione quorundam fuperius prtermifforum, wo er was fich in Ifidors
fyftiem nicht einfchalten liefs und als verfchiedenartig kein eigenes capitel
bilden konnte, zufammen ftellte und zwar diesmal, wo alles untereinander
lag, alphabetifch nach dem lateinifchen wort geordnet.
Noch eine bemerkung fei mir erlaubt, welche die bisherige anficht
von dem verhältnis zu Ihdor geradezu umkehrt. ich halte es für möglich,
ja für wahrfcheinlich dafs der bifchof durch ein fchon vorhandenes fach-
liches wörterbuch, fei es ein deutfchlateinifches oder deutfehromanifches,
zu feinen etymologilchen unterfuchungen ift veranlafst worden. gewagtes
liegt nicht in der vermutung, da die quellen der Caffeler gloffen fchon in
dem fechften Jahrhundert mögen vorhanden gewefen fein, und ihr urfprung
noch weiter zurück gehen kann.
Wahrfcheinlich hat man in frühfter zeit noch anderes für das tägliche
leben nothwendige oder nützliche nieder gefchrieben, auch wohl in beiden
424 WirneLm Grimm
fprachen. ein beifpiel gewähren die bruchftücke von heilmitteln, die Hoff-
mann aus Fallersleben auf einem einzelnen blatt (Vindemia bafileenfis 1834)
aus einer in das ende des fiebenten Jahrhunderts gehörigen handlfchrift Ifi-
dors bekannt gemacht hat. leicht ift dies nur ein kleiner theil eines grö-
fsern werks, das man arzätbuoch nannte, und deffen Hartmann (Erek 5238),
Wolfram (Parzival 481, 6), Freidank (59, 21) und Konrad (Pantal. 129. Tro-
jan. krieg 13597. 13627) gedenken. ein folches wird in einer handfchrift des
zwölften jahrhunderts dem Hippokrates beigelegt und ift in der Diutifka
(2, 269— 273) abgedruckt. auch in der dichterifchen umfchreibung von Mo-
fis (Diemer 88,13) heilst es an den buochen die arzät (l. arzätie) [uochen.
es konnten darin, wie in dem buch des gallifchen Marcellus burdigalenfis,
alte unter dem volk gebräuchliche heilmittel gefammelt fein. möglich dafs
man in früher zeit auch fchon kochbücher hatte; vergl. Wackernagel in
Haupts zeitfchrift 5, 11—16.
Eigenthümlicher art find gefpräche, von welchen die Caffeler gloffen
wahrfcheinlich auch nur ein ftück bewahrt haben, wie unfer denkmal. es find fra-
gen die der wandernde fremdling, der wohl meift ein Romanewar, in Deutfch-
land als herkömmlich erwarten konnte, mit den dazu gehörigen antworten
in deutfcher und lateinifcher fprache aufgezeichnet. man mufste den ankom-
menden fremdling bei feiner erfcheinung nicht blofs grüfsen, fondern auch nach
feiner herkunft und dem zweck feiner reife fich erkundigen. als Walther auf
feiner flucht in der höle des Wafichenwaldes angelangt ift, fendet Gunthari den
Camelo an ihn ab, der ihm die frage vorlegt, die, homo, quisnam fis, aut unde
venis vel quonam pergere tendis? 587; vergl. Rudlieb I, 128. als die boten
Liudgers und Liudgafts in Günthers land anlangen, dö frägte man der mare
die unkunden man Nibel. 140, 3. Günther grüfst die boten Etzels und fragt
weshalb fie ihr könig zu den Burgunden gefandt habe Nibel. 1379. die frage
an fich ift ganz natürlich, aber das eigenthümliche der fitte beftand Jarin,
dafs man fie nicht unterlaffen durfte, ohne den fremdling zu verletzen, der im
fchweigen eine geringfchätzung erblickte. ein paar ftellen aus dem dreizehnten
jahrhundert werden die fortdauer der fitte beweifen. Höllefeuer MSHag.
3,34° der gruoz der mache höhen muot dem gaft, [wenn in der wirt an
fihet, ob er den gruoz mit willen tuot. ein lachen (lachend?) frägen heert dä
zuo: der wirt niht fwigen fol alfö ein ftumbe. unfelie wirt, der alfo fpräche-
lös ie wart gefunden gen finen geften äne gruoz und äne fräge: er lät fich
altdeutfche gefpräche. 425
Jehande wunden, fö daz im lafter bi befti£ und daz in £re gar verbirt. dä
denket an, fit gruozes milt: daz freut den gaft und öret wol den wirt. der
Unverzagte MSHag. 3, 45° man fol den geften mit dem gruoze und mit der
Jräge nähen. 45" ich bin ein gaft den fremden liuten unde ein wirt der finne,
und fuoche näch der fräge manegen richen edelen man. Frauenlob feite
244 des fliche ich nä den liuten bi mit flihte und mit der krumbe: nieman
enfräget wer ich fi. Cato (Liederfaal 1,568) mit /weme dir befeha@he ze gän,
den jolt niht ungefrägel län den namen fin, wä er hin ge od wä Jin wille fie.
der pilger ift fchon an feiner kleidung kenntlich und erwartet gleich einlafs:
ein lied Gottfrieds von Neifen (MSHag. 1,59°) beginnt von Walhen fuor
ein pilgerin, er bat der hereberge in der minne.
Unfer denkmal beginnt mit dem fachlichen wörterbuch. zuerft caput
wie in den Caffeler gloffen und in einem abfchnitt der Trierer und Wies-
bader: dann folgen wie dort einzelne theile des gefichts, ferner manus pe-
etus venter. wir haben eine abfchrift vor uns, das zeigt der fehler zunguen
dentes, wo wahrfcheinlich zwei zeilen in eine zulammen gezogen find: wirk-
lich folgen in den Schlettftädter (Haupts zeitfchrift 5, 356) und Trierer glof-
fen (2, 30) zungd& lingua und zeni dentes aufeinander. mit guanbe brach der
fchreiber ab und zog es vor aus gefprächen, die wahrfcheinlich in derfelben
handfehrift ftanden, vielleicht urfprünglich zu dem wörterbuch gehörten,
einiges abzufchreiben.
Diefe gefpräche bewegen fich in ereigniffen des täglichen lebens. ein
fremdling tritt zur abendzeit in ein haus, wo er für die nacht wünfcht auf-
genommen zu werden, um am nächften morgen feine reife fortzufetzen. er
fpricht den üblichen grufs, und der hausdiener (oder wer es fonft ift, nur
nicht der herr des haufes felbft, das ergibt fich aus zeile 28), der ihn als fei-
nes gleichen betrachtet, fragt wo er das letzte nachtlager gehabt habe (naht-
‚felede Dietleib 5554. Walther und Hildegund I. 6,1. Heinrichs von Türlein
Krone Wien. hf. 54°. alfo tribet er daz jär hin ze fremden nahtfelden War-
nung 920), um zu willen wo er herkomme. der fremde antwortet "in dem
haus des grafen’, allo bei einem angefehenen mann. damit ift der fragende
zufrieden geftellt. jetzt (2.17) wird voraus gefetzt ein geiltlicher fei ange-
langt, der fragende, der ihn an feiner kleidung erkennt, redet ihn gleich
Philos. - histor. Kl. 1849. Hhh
426 Wirnerm Grimm
bruoder an und ihrzt ihn ehrerbietig, was fchon im neunten jahrhundert in
Deutfchland anfıeng gebräuchlich zu werden (Grammatik 4, 31). er erkun-
digt fich woher er komme und der geiftliche antwortet aus feiner kirche,
oder aus dem haus feines herrn (fenior ift wie das altfranzöfifche fenhor zu
verftehen), je nach den umftänden. ein dritter fremdling, kein gemeiner
mann, denn auch er erhält ihr bei der anrede, wird befragt aus welchem land
er komme. er antwortet ‘aus Frankreich’, und auf die weitere frage was er da
gethan habe, erwidert er er habe da zu mittag gegeflen. man darf daraus
fchliefsen dafs der fchauplatz in der nähe von Frankreich gedacht ward, da
man von mittag bis zum abend wieder herüber gelangen konnte. durch die
folgenden fragen (z.24—29) foll, glaube ich, der fremde weiter ausgeforfcht
werden, ob er (am morgen vor der reife nach Frankreich) in der meffe ge-
wefen fei und ob er feinen, des fragenden, herrn darin gefehen habe. jenes
bejaht er und fügt hinzu ‘ich habe dich nicht gefehen’, diefes verneint er.
z.28 ift das ohnehin fchwierige guefäfti in den plur. zu ändern, da der die-
ner fpricht.
Mit zeile 30 beginnt eine neue unterredung zwifchen einem herren
und einem knecht, der unterkommen zu fuchen fcheint. der herr fragt ihn
aus und erhält kurze und unbeftimmte antworten. der ankömmling rühmt
fich, aber der herr fchilt ihn und heifst einen feiner leute ihn mit fchlägen
fortjagen; es wird ihm noch eine derbe verwünfchung zugerufen.
Diefe gefpräche haben die reden aufgezeichnet, die man bei folchen
gelegenheiten gewöhnlich hörte, und find nicht aus der luft gegriffen. fie
follten den verkehr zwifchen fremden erleichtern, waren aber nicht geeignet
zur erlernung des lateinifchen zu dienen, wie die merkwürdigen, ebenfalls
in profa von Alfrich abgefafsten angelfächfifehen colloquia (Thorpe analecta
anglofaxonica Lond. 1834. f.101—118), wo diefer zweck ausdrücklich an-
gegeben wird. darin werden zuerft die welche beftimmte gefchäfte treiben
vorgefordert, der ackermann hirte fifcher koch lederarbeiter u. f. w. und
müffen auskunft über ihre arbeiten geben. zuletzt mufs ein klofterknabe der
weisheit und tugend lernen will dem lehrer rede und antwort ftehen. er hat
in der nacht das bett verlaflen und die herkömmlichen gefänge gefungen, dann
pfalmen und meffen: er berichtet was er gegellen und getrunken, endlich
wo er gefchlafen habe. eine gewiffe verwandtfchaft mit unfern gefprächen
altdeutfche ge/präche. 427
ift nicht zu verkennen, und Alfrich hat vielleicht in aufzeichnungen diefer art
veranlaflung zu feiner fchrift gefunden.
Das lateinifche ftimmt nicht überall mit dem deutfchen, und man kann
eine überfetzung auf keiner feite annehmen. zeile 15 war der zufatz hac no-
cte nöthig. z.24 und 39 fcheint das lateinifche nur aus nachläffigkeit des ab-
fchreibers zu fehlen. bei zerüe 25. 29. 36 war dem verfaffer wohl kein ent-
fprechender ausdruck zur hand.
Mehrere fchreiber laffen fich unterfcheiden. der erfte hat von anfang
bis zu zeile 30 gefchrieben. z.30 bis zu 37 mufs man bei aller ähnlichkeit der
züge doch einem andern beilegen, hier erfcheint vorherfchend & ftatt e (vergl.
Caffeler gloffenf. 15 und W. Wackernagel gefchichte der deutfchen litterat.
{.89 anm.), das dort nur einmal z.22 fich zeigt: ferner 0 ftatt ö in guildö
30, endlich erro 31.33 ftatt erre 19.28. der dritte, der mit zeile 37 beginnt,
bezeichnet w nicht wie jene durch gu fondern durch cr; man fieht es foll
ein ftarker hauch angezeigt werden. er kennt das anlautende A in habeo 39
und hütz 40, das jene meiden, und fchreibt zeile 40 g mit hartem kehllaut
gh. ihm gilt efl 37, dem andern is 31.33. zeile 41 fcheint, wie Dr Brunn
ausdrücklich anmerkt, wieder von einer andern alfo vierten hand. der um-
ftand ift auffallend bei einem ftück von fo geringem umfang, und man gerät
auf den gedanken, dafs mehreren bei einander fitzenden fchreibern eine
alte handfchrift vorgelegen habe, aus der fie diefe zeilen nahmen und deren
eigenthümliche buchftaben fie nachahmten.
Die fprache zeigt eine niederdeutfche mundart, aber eine nicht ent-
fchiedene, nach dem hochdeutfchen überfchwankende. da das einzelne her-
nach in den anmerkungen vorkommen wird, fo hebe ich hier nur den un-
fichern gebrauch der linguallaute hervor. der erfte fchreiber zeigt in öbethe
1 und dröthor 17 die gothifche und niederdeutfche afpirata: in Zande 20 die
gothifche media, die aber auch im althochd. neben der tenuis erfcheint: an-
lautend die althochd. media in där 22.23.26, daneben gothifch thär 27:
niederdeutfch däden 22 ftatt der hochdeutfchen tenuis. auffallend ift im an-
laut die tenuis in #5 26. das hochdeutfche z nicht das niederdeutfche Z in
zunguen 6 und ze 24. 28 neben te 16: ebenfo endet 23; auch die präpof.
üt ift anzunehmen, wie ich zu zeile 18 ausführen werde. zeile 22 guaz, z.30
guaz nicht guat und z. 32 guez nicht guet. der fchreiber von zeile 37 —40
Hhh 2
438 WirHneLm Grimm
hat din, dagegen tine in der letzten zeile entfpricht dem ti in zeile 26. diefe
mundart gehört in das nordweftliche Deutfchland, beftimmter fie zu be-
zeichnen wage ich nicht. gu für w weift nach dem Niederrhein, das trübe &
für a und die volle form garabe nach Angeln.
1:
Ich gehe zur erörterung des einzelnen über.
houbit fteht in allen deutfchen fprachen feft, denn die angelfächfifche ne-
benform heafde, die im Sprachfchatz 4, 755 angeführt wird, ift aus den
ftellen bei Lye Manning nicht mit ficherheit zu erweifen, und das im wör-
terbuche zum Ulfilas von Gablentz und Loebe f.59 angeführte dänifche
hovede kann ich nicht beftätigen; auch Wernher vom Niederrh. fchreibt
orith 21,22, cbethe kommt alfo nur hier vor. Richthofen hat feite 798.
799 den plural Aafde, doch der würde hier unpaflend fein, oder man
müfte annehmen der abfchreiber habe ihn ohne rückficht auf das lateini-
fche gefetzt, weil er in den folgenden gloffen gebraucht wird. auch an
einen übergang in hübe darf man nicht wohl denken; vergl. Haupts zeit-
fchrift 1,136. das anlautende A fehlt vor öbethe wie vor an 8.9. elpe
13. erre 19.28. Erro 31. 33. üs 16. 18.19. ina 24. undes 42, fogar in
dem lateinifchen abuifti und ac 16. das ift niederdeutfch (vergl. z. Wernh.
v. Niederrh. 4, 26. Graf Rudolf feite 6), allein es ift auch langobardifch
(Gefchichte der deutfchen fprache 692). wegfall des auslautenden A wird
zu zeile 9 angemerkt werden; überhaupt gebraucht der erfte fchreiber A
nur bei der afpirata /h.
. der fchwache pluralis fa/fen fällt auf, umfomehr als fahs im althochdeut-
fchen nur im fingularis erfcheint, der auch in den Caffleler gloffen D, 18.
E, 3 neben capilli fteht; ich weifs nur aus einem fegenfpruch des zwölf-
ten jahrhunderts /ant Marien vahfe im reim auf wahfe (Fundgr. 1, 343)
anzuführen. // für hs ift niederdeutfch; vergl. Grammatik 1?, 465.
. bei auren fehlerhaft auris: die Caffeler gloffen haben D, 16 richtig aures.
au für ö ent{pricht dem gothifchen au, althochd. ao, und gehört zu 6 für
ou in Ööbethe und ögen.
.munda für munt ift, wie öbethe, anderwärts unerhört, der plur. mundä
aber hier nicht paffend, zumal neben bucea.
. zunguen pl. gehört nicht hierher und ift aus blofser übereilung gefetzt: den-
tes zeigt dals zendi zeni ftehen follte, wie in den Caffeler gloffen D,18. gue
41:
ie
13.
altdeutfche gefpräche. 429
bezeichnet ge, fo auch in guefelle 15. guenöz 15. fogar que zeigt quefä
26. 27. 28.
. an, ein querftrich der fonft £ bezeichnet ift nicht etwa vergeffen, da in
der folgenden zeile anfeö fteht. auch in den Schlettftädter gloffen (Haupts
zeitfchrift 5, 363) hanfeuohä.
. in an/eö und dbröthro 17 entfpricht ö dem gothifchen und altfächfifchen
6, dem althochd. vo. der abfall des auslautenden A wie in quefä 26. 27,
in e 18 und in #26 weift nach Niederdeutfchland, entfprechend dem zu
zeile 1 bemerkten abfall des anlautenden 3. guanti (Ducange hat die ver-
fchiedenen formen gantus guantus gwantus wantus) verlangt den plur.
alfo würde hochdeutfch hantfeuohd ftehen.
guanbe wie in der folgenden zeile für wambe, alfo n für m, wie cunt für
cumt 18.19. w wird allzeit durch gu ausgedrückt, alfo guär 15. 24.
guane 17. gueliche 20. guas 21. gu@z 22 und guaz 30. guer 31. guez
32: der andere fchreiber fetzt fogar cv in ever 37. man könnte bei die-
fer fehreibung romanifchen einflufs vermuten, allein fie ift auch lango-
bardifch und altniederrheinifch ; vergl. Gefchichte der deutfchen fprache
295. 296. 692. durch diefes gu ift Greith wahrfcheinlich zu der behaup-
tung veranlafst worden, aus den confonantverhältniffen ergebe fich dafs
der verfafler der gloffen ein aus Gallien gekommener mönch gewefen fei;
auch W. Wackernagel irrt, wenn er in der Gefchichte der deutfchen li-
teratur f. 37 anmerkung 5 fagt die vaticanifchen gloffen feien entfchie-
dener romanifch als die Caffeler.
Jollo für das althochd. follu nach Gramm. 1°, 723. 24 die organifche form;
der Sprachfchatz hat 3, 479 nur beifpiele von folliu.
14. elpe wäre fo viel ich weils das ältefte beifpiel von der fchwachen im-
perativform eines ftarken verbums. im zwölften jahrhundert zeigt fie fich
nicht ganz felten, Genefis 67, 30 flahe. Exod. 95, 26 vare. Roland 42,
15 läze. 46,16 fwige. 50, 24 vare. 136, 4 underwinde. Chrifti leben
(Haupts zeitfchrift 5, 25) 287 befnide. Jüngftes gericht (Fundgr. 1) 174,
2 fihe; im dreizehnten jahrhundert mehren fich die beifpiele. indeffen
glaube ich dafs elpe als der conjunctiv mufs betrachtet werden. frömin
ift mit recht als Ein wort gefchrieben, wie es im Ludwigsl. 35 bei
Wackernagel fteht, und überall wo es fonft noch fich zeigt (bei Otfried
430 WirueLm Grimm
15.
und im Heljand) ftehen mufs, zumal es, als herkömmliche formel für
gott Chriftus engel und könige, unverändert auch da gebraucht wird, wo
mehrere die anrede an Einen richten oder mehrere von Einem angeredet
werden; vergl. Grammatik 4,299. für frouwe weift Lachmann z. Iwein
3384 einen ähnlichen gebrauch nach. helfe got war der grufs des ein-
tretenden, wie man beim niefen fagte got: oder Krift helfe dir Türleins
Wilhelm 35°. Marner MS. 2,169. Hermann von Fritzlar 103,10. Renner
15190: bei einer betheurung /ö helf mir got Arm. Heinr. 1317. Iw. 6163.
der junge Parzival erhält von feiner mutter die lehre bei der ankunft zu
fagen got halde dich (147,18. 30. 138, 27), beim abfchied got hüete din
(132,23). beim erwachen fpricht als morgengrufs die frau zum mann
Jriunt, got fegene dich (MS. 1,161°). es bleibt ungewis wie man dön?
auflöfen muls, ob adjuva oder elpe als conjunctiv gemäfs, domine oder
dominus, doch macht der hacken hinter dem wort, der ebenfo bei ma-
nus und pectus 8 u. 10 vorkommt, dominus viel wahrfcheinlicher. dann
fragt fich auch ob domne domnus zu fchreiben ift, da die zulammen-
ziehung zwar bei königen und edeln (Hildegund redet den königsfohn
Walther domne an 249. 1213, Rudlieb den liebling des königs 1, 114),
bei päbften und bifchöfen gebräuchlich, aber nach einigen ftellen, die
Ducange (2, 920 Henfchel) anführt, bei der anrede gottes die volle form
allein ftatthaft war.
guäre entlpricht der hochdeutfchen form wäre (Sprachfchatz 4, 1198).
das fchwierige uengelinaz erkläre ich durch wärun galinä az, wobei ich
annehme dafs gelina (reclinatorium) hier die ftarke declin. zeige, wäh-
rend der Sprach[chatz 4, 1096 nur beilpiele der fchwachen hat. wen be-
trachte ich als eine verftümmelung von guären, veranlafst durch die faft
gleichlautende vorangehende partikel. die angefchleifte präpofition az
kommt z.28 nochmals als adverb. vor und ift bekanntlich felten. felidä
für felidö, auch in der folgenden zeile, wird im Sprachfchatz 6, 177 nach-
gewielen: ebenfo fteht mettinä 24 und 28. oder follte az und zi hier
noch den acc. regieren und felida und mettina gelten? f. Gramm. 4,769.
770. zu vergleichen ift eine ftelle bei Williram 26, 23 der de muode ift,
der leinet fih gerno an die lineberga (gitter) und in einem gedicht des
zwölften jahrhunderts d@ fih die muoden an die linebergen Juln leinen
Haupts zeitfchr. 8. 151,232. das lateinifche par gehört zu genoz, zu ge-
16.
17.
18.
altdeutfche gefpräche. 431
Jelle aber compagn, was man für das romanifche companh compain (Ray-
nouard 4, 406) halten kann, möglicher weife ift es eine abkürzung von
compaganus bei Ducange.
man könnte zweifeln ob nicht Ze zu lefen fei, aber Z zeile 6 hat unten
deutlich einen querhacken, der hier wie z.25 und 29 in Terüe fehlt.
garäbe oder nach der andern fchreibung geräbe gewährt die längft ge-
wünfchte volle form für das althochdeutfche gräfo, die Waitz (Recht
der falifchen Franken {.136) auch in der bignonifchen formel gerafjo
nachgewiefen hat, wie fie ferner in einer dem achten jahrhundert zuge-
hörigen Parifer handfchrift der Lex falica cap. 32 und 45 (Pardeffus hat
feite 91 richtig gelefen, aber f.101, wie mir J. Merkel mittheilt, gegen
die handfchrift grafionem) vorkommt; ich fehe aus einer bemerkung von
E. v. Friedenfels zu fiebenbürgifchen urkunden dafs die dortigen Sach-
fen noch heutzutage gereb für graf fagen. damit erhält die anficht ftär-
kung,
auch wird man hernach zu zeile 25 aus denkmälern des zwölften jJahr-
welche in ga ge nur die vorpartikel fieht und in räfo die wurzel.
hunderts eine anzahl wörter finden, wo die volle form der partikel er-
halten und die fyncope gr noch nicht eingetreten ift; vergl. Rechtsalterth.
753. Müllenhoff zu Waitz (Recht der Franken f. 283 folg). endlich ift
hier canet zu beachten nach der anmerkung zu 34. das inlautende 3 in
garäbe entlpricht dem altfächfifchen dA, das im angelfächfifchen / lautet:
auch in Niederheffen hört man grede (dorffchulz), während das Bremer
wörterbuch grere hat.
guane im althochdeutfchen kAwanana aber auch fchon die kürzungen
hwanän wanna wanne; vergl. Sprachfch. 4, 1205. Gramm. 3, 202. ger
hier und 20, althochd. ir, zeigt ein anlautendes g, wie das altfächfifche
gi und das angelfächfifche ge gi, womit hier ge 22 völlig zufammen
kommt. für manfio, ort wo man auf einer reife die nacht zubringt, find
zwei deutfche ausdrücke gefetzt. brölhro ift in bröthor zu beffern, wenn
man nicht eine blofse umftellung diefer mundart darin fehen mufs.
e wie 19. 21.26. 27.34, althochd. ih, mit gänzlichem abfall des confo-
nanten, auch wenn es nicht mit ne verbunden ift, vergleicht fich dem
englifchen z, denn das altfächfifche angelfächfifche und altfriefifche ge-
braucht ic, das altnordifche ek. cunt das ebenfo in der folgenden zeile
erfcheint kann nur als kürzung cunüt für cumu üt verftanden werden,
1%
D WirneLm Grimm
zumal fonft die nöthige präpofition fehlen würde. als folche und vor
fubftantiven erfcheint bekanntlich zz fehr felten im, althochdeutfchen,
auch nicht in den älteften denkmälern, nicht im Heljand, aber öfter im
gothifchen und altfriefifchen. das übrige in der zeile ift vom abfchreiber
entftellt. fimono oder fimino ift nemlich verfchrieben für finemo, aber
auch das ift nicht richtig, es mufte minemo gefetzt werden oder vielleicht
mine, wie ich bei der folgenden zeile zeigen will. dodon? ift unerklär-
bar, es wird döme da geftanden haben, das als ein feltenes wort (nur Ein
beleg im Sprachfchatz 5, 140) von dem abfchreiber mishandelt ward; es
entfpricht dem lateinifchen domus domini oder dei, wovon Ducange
reichliche beifpiele liefert. an das althochd. zo/0 kann man dabei nicht
denken, es müfte wenigftens doden lauten, aber was foll patrinus hier
und wie kann dominus dadurch erklärt werden? auch fehlte dann üs
(hüs). der geiftliche fagt “ich komme aus meiner kirche’. das unverftänd-
liche H hat vielleicht der welcher an der zeile beflerte, als kürzung von
hüs angefügt, weil er meinte das wort fei vergeflen.
mer, althochd. mir, ift Gramm. 4, 362. 363 erörtert und erfcheint auch
zeile 21 und 23; ich ftelle es vor die präpofition, wenn meine erklärung
von cunt richtig ift. errehüs betrachte ich als eine zufammenfetzung, min
aber wegen des folgenden vocals als eine kürzung von mine, wie z.38
fin für fine fteht. diefes mine aber für minemo ift niederdeutfch, wie
im altfriefifchen fina fine fin vorkommt; vergl. gueliche 20, gene 21
und Gramm. 1°, 736.
. gueliche, althochdeutfch welihemo, wie mine 20. die präpofition fehlt,
althochdeutfch müfte fona ftehen wie in den Caffeler gloffen (H, 18)
bei derfelben frage, fona welihero lant/keffi? follte der fchreiber die
präpofition in feiner mundart nicht gefunden haben (fie fehlt aber nicht
im altfächf. und altfrief.), fo konnte er üf fetzen. die zweite perfon pl.
prs. auf en in cumen neben cumet 17, erfcheint ebenfo bei Konrad von
Würzburg, der aufser dem feltnern en auch et und ent gebraucht; vergl.
Haupts zeitfchr. 2, 379.
. gene althochd. jenemo; vergl. anm. z.19.20. aber francia daneben als
fem. kann nicht richtig fein und ift aus dem lateinifchen entlehnt: es
wird Frankoönö lande, oder wie die form hier lautete, da geftanden
haben.
99
23.
altdeutfche gefpräche. 433
2. gueez mit dem angelfächfifchen &, dagegen guaz 30. die zweite perfon
des pl. pret. auf en in däden und guären 24 entlpricht dem altfriehi-
fchen un.
bei enbet hat ein anderer das hochdeutfche z über das niederdeutfche £
gefchrieben. difnare prandere findet man bei Ducange, ihm entfpricht
das romanilche difnar dirnar bei Reynouard 3,51, das heutige diner.
das perfönliche pronomen fehlt hier und z.32, das fonft bei der erften
perfon, auch wo kein nachdruck darauf liegt, gefetzt ift. vielleicht foll
es hier mit dem anftofsenden en zulammen fallen.
.ich lefe guären ger ina az ze mettinä. Sprachfchatz 3, 16 az pim adfum.
wie 29 terue und 36 teruee: das entfprechende lateinifche wort fehlt
in den drei ftellen, als habe der fchreiber keinen ausdruck dafür ge-
gehabt: z.25 ift ganz unüberfetzt geblieben. in Zer&e erblicke ich eine
herkömmliche ausrufung für traun certe. in den beiden erften ftellen
ent{pricht es der althochdeutfchen betheuerung Zriwö, wovon der Sprach-
fchatz 5, 466 einige belege beibringt; Boner 48, 32. 83, 32 gebraucht
noch Zriuwe in diefem finn, und im Liederfaal I. 300, 5 finde ich fi Jprach
“triuwe, ich enweiz dir dä von ze fagenne niht’. zeile 36 ift der acc. mina
triva unzweifelhaft, wie bei Walther 28, 31 al die werlt! die alte form
unferes denkmals, die fich bei einer interjection erhalten konnte, ge-
währt noch die niederdeutfche überfetzung Freidanks in der Magdebur-
ger handfchrift: der hochdeutfche text 47, 12 Jehülte ein diep den an-
dern diep, daz were den nächgebüren liep lautet dort bl. 14° ‚Seholde
eyn de/f den andern de/f, das were derue fynen negeften leff’, der Nie-
derfachle hat alfo das wort aus eigenen mitteln zugefetzt. auffallend ift
ter für tr, welches letztere fchon das gothifche althochdeutfche altfäch-
fifche angelfächfifche und altnordifehen zeigen, doch die Vorauer hand-
fchrift fetzt in dem gedicht von dem himmlifchen Jerufalem 367, 6 un-
terüe neben 372, 22. 25 entriuwen, gelrüen. ebenfo findet fich dort
367,17 terö neben 372,1 iri, was kein anderer deutfcher ftamm kennt,
auch nicht in dem fanfkrit, dem griechifchen und lateinifchen fich zeigt;
nur aus letzterm liefse fich zer dem griechifchen rzis gegenüber anführen.
ferner dafelbft 370, 21 zerahtines neben 369, 11 irehtin. ja diefes ge-
dicht, das in das elfte jahrhundert gehören kann, geht noch weiter: es
fchreibt del für dl 368, 3 peluot neben 371, 10 pluot. ber für dr 364,7
Philos. - histor. Kl. 1849. Tii
434 WiLHELm GRIMM
DD 8
perinne neben 368, 20. 371,23 brinneten brinnent: 364,27 berunel. be-
renne neben 370,5 drennet: 398, 9 berufiwere neben 371,23 bruft:
368, 12 berucge (brücke): 369,6 berunne (fons). ger für gr 364, 14.28.
366,28. 367,2 gerune neben 364,20 griune und 366, 12 grune (gruone);:
364, 26 gerunifefie: 366,14 gereize |. gerieze (gries): 366, 16 geruenl.
geriven (greifen) und 367,7 gerife. gel für gl 368,19 gelas (vitrum).
gen für gn 368, 20 genaneift und zeile 27 ganaiften; vergl. Servatius
2666. Gramm. 2, 370. 754 und Sprachfchatz 4, 296: die form ganeift fin-
det fich auch in Grieshabers predigten 2,73. kel für kl 365,20 cheleine.
‚Jel für fl 370, 28 felahte: 371,25 umbefelozzen: 371,18 befelüzet. fem für
/m 372,18 femal. fen für fn 368, 20 fene. zew für zw 369, 23 zewene.
man darf darin keine willkür fehen, vielmehr kommen wir bei den mei-
ften diefer wörter, deren abftammung dunkel ift, der wurzel näher. und
nicht blofs im anlaut tritt diefe erfcheinung vor, ich bemerke auch 365,
17 halem neben 366,10 halme (plur.), dem lateinifchen calamus ent-
fprechend: 368, 10 durege (genit. fing.), wozu der genit. puragi im
Sprachfchatz 3, 179 gehört: 368, 10 forege (cura): 376, 14 trehetin.
noch andere gedichte der Vorauer handfchrift liefern diefelben und wei-
tere belege, Leben Jefu 241,1 phelegen: 268, 11 zewei: 273, 18 forhete:
Antichrift 281,26 cheneht (knecht). Jüngftes gericht 288, 12 phelegen.
Loblied auf Maria und den heil. geift 342, 21 cheleine: 343,2 charaft
(kraft). Gebet einer frau 379, 2 zewein. der metrifche Phyfiologus aus
dem zwölften jahrh. in Karajans fprachdenkmalen fchreibt einmal 96, 5
veleifchlich. vergl. die anm. zu zeile 16.
Ich erkläre ge in diefer zeile durch j@: im Heljand finde ich nach
der cotton. handfchrift g€ gie, wo die Münchner jd@ hat, auch im altfrie-
fifchen zeigt fich diefes ge. der acc. ü althochd.iwih fteht ebenfo z.27 und
entfpricht dem altfächfifchen und altfviefifehen iu. wahrfcheinlich ift je-
doch dafür e (ih) zu fetzen, oder e guefa ü herzuftellen.
.ti althochd. dih, altfächfifeh und altfriefifch Ai.
. vidifti gemäfs müfte guefäftü gelefen werden, und merkwürdig wäre die
form gefäs, gefäft für die althochd. gefähi, denn fie entfpräche dem go-
thifchen und nordifchen ?, das fich im althochd. nur im präfens der ano-
malen verba erhalten hat; vergl. Gefchichte der deutfchen fprache 485.
34.
36.
37.
38.
39.
a.
altdeutfche gefpräche. 435
487. aber ich habe oben (f.426) die gründe angegeben, weshalb ich glaube
dafs hier guefähen oder guefähet mufs gelefen werden. min wie fin 38,
althochd. minan finan. mit apocope des n der fchwachen form hier und
z.19 der acc. örre, wie z.33 der dativ erro, den auch der Sprachfchatz
4,992 einmal beibringt: es ift eigenthümlichkeit des nordanglifchen frie-
fifchen und nordifchen (Gefchichte der d. fpr. 951).
. ai in nain, das althochd. ei, entlpricht dem gothifchen ai.
. 37 guer mit dem getrübten @ für @. iflin anlehnung für is tin; vergl.
Richthofen f. 1144®.
2. das niederdeutfche € in gu@z wie 2.23 in bez.
. ich beffere er is zi fin. fin ift wie das z.19 erörterte min zu nehmen.
ein hochdeutfcher hat fönme geändert, auch ift der zufatz me und das
über z gefetzte /, wie Dr Brunn ausdrücklich anmerkt, von anderer hand.
35. 36 canet ift kneht, entfprechend der form garäbe 16: auch in der
Vorauer hf. Antichrift 218, 26 findet fich cheneht; vergl. die anm. zu 25.
ubile ift in die zweite declination übergegangen. was € über m bedeuten
foll, weifs ich nicht.
die bezeichnung deffen, nach dem gefragt wird, fehlt: gemeint ift der
den befehl in der folgenden zeile ausrichten foll.
ich erkläre klapho in oder ana finan hals. Eilharts Triftrant 1796 ich
wil in an finen hals flän. wegen des bei felaphen vorgeletzten / ift die
Gelfchichte der d. fpr. 990 nachzufehen. fin für finan ilt fchon zu 28 an-
geführt.
habeo kann hier unmöglich lateinifch fein, und wie wäre es zu erklären?
ich will eine vermutuug äufsern, eo fteht mundartlich oder durch einen
fchreibfehler für €, und habe ift der imperativ: es folgt din d.i. dinan
nach 28; das dazu gehörige hals verftehi fich von felbft, denn diefe zeile
enthält die erwiderung des bedrohten, “hüte deinen eigen hals, damit du
nicht felbft einen fchlag darauf von mir bekommt’.
gh bei ganc zeigt die harte aus[prache an, die man noch heutzutag im
paderbörnifchen hört. Aütz erklärt eine ftelle bei einem fränkifchen an-
naliften (Bouquet 6, 125): dort heifst es von dem fterbenden Ludwig
dem frommen dixit bis "hüz hüz!’ quod fignificat 'foras foras!’ das wort
kann demnach als ein deutfches nicht bezweifelt werden (Grammatik 3,
Lii 2
436 Wirserm Grimm alldeutfche gefpräche.
779), auch nicht der zufammenhang mit hina üz (Sprachfch. 466. vergl.
hina az z. 24), Paflional 177,73 hin üz. Lanzelet Wiener hf. 3548 und
Strickers kleine gedichte 5,17 hüze. fors für foras bei Ducange kommt
auch im altfranzöfifchen vor.
18
fer
. an diefer unverftändlichen zeile mufs ich vorüber gehn.
En
[89]
. dine für dinero wie mine für minemo, wenn nicht dinre zu beflern ist;
vergl. z.19. für die ftarke form von na/a hat der Sprachfch. 2, 1101
belege.
——II II —
Über
den Begrilf der Übervölkerung.
“Von
H”" DIETERICI.
nn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 8. März 1849.]
Was ist Übervölkerung und wann tritt eine solche ein?
D. Beforgnisse, welche die Zunahme der Bevölkerung erregt, waren Ver-
anlassung einer Abhandlung, welche Hoffmann am 22: Oktober 1835 in
der Königlichen Akademie gelesen hat. Er zeigte in derselben, wie bei rich-
tiger Würdigung statistischer Zahlenverhältnisse, die Lehre des Malthus,
dafs die Bevölkerungen im geometrischen, die Existenzmittel einer Nation
nur im arithmetischen Verhältnifs wachsen, in den wirklichen Erscheinungen
der Welt und nach der Natur der Sachen, sich nicht unbedingt bestätigt
finde, dafs jedoch allerdings bei steigender Bevölkerung drei unleugbare
Thatsachen hervortreten:
1) Zunahme der Ansprüche auf Unterstützung der Armen,
2) das Sinken des Einkommens aus einem bestimmten Boden- oder Ka-
pitalbesitze,
3) die wachsende Schwierigkeit ohne grofse Anstrengung bequemes Aus-
kommen zu finden.
Hoffmann wies nach, dafs der vermehrte Anspruch der Armen auf
Unterstützung zum Theil in dem Fortschritt der Nation in Wohlhabenheit
im Ganzen seinen Grund habe, und für den Einzelnen mehr Bedürfnisse im
Durchschnitt fordere, als in früherer Zeit verlangt worden, weshalb bei rich-
tiger Rechnung die Anfprüche der Armen auf Unterstützung mit Beachtung
dessen, was in anderer Weise, als baar, von den Wohlhabenden den Armen
gegeben werde, und der Berücksichtigung der Berechnung der Unterstüt-
438 Dierterıcı
zungen der Armen nicht nach dem Raum, der Quadratmeile, sondern nach
der Menschenzahl auf je 1000 oder 10000 Einwohner, sich vielfach doch
anders ftelle, als man gewöhnlich annehme; dafs aber die Folgen vermehr-
ter Bevölkerung „das Sinken des Einkommens aus einem bestimmten Boden-
oder Kapitalbesitze; und die wachsende Schwierigkeit, ohne grofse und dau-
ernde Anstrengung, bequemes Auskommen zu finden” für den Fortschritt
einer Nation nicht als Unglück zu bezeichnen seien, indem sie nur dahin
führen, dafs in allen Ständen ein Jeder arbeiten müsse, welches für die
Entwickelung einer Nation nur wünschenswerth sein könne.
Vor Kurzem hat Herr Hegewisch aus Kiel eine Schrift „Eigenthum
und Vielkinderei von F. Baltisch” (den Namen, den er als Schriftsteller an-
nimmt) der Akademie überreicht, in welcher in unbedingter Annahme der
Grundsätze von Malthus, das Heil der Zeit gesucht wird, im Abhalten zu
dichter Bevölkerung. Es wird in der Schrift davon ausgegangen, das Übel
der Armuth bestehe darin, dafs die Summe der vorhandenen Lebensmittel
zur Befriedigung aller Bedürfnisse nicht hinreiche, wobei indessen doch
(Seite 19) übersehen zu sein scheint, dafs bei einer etwas andern Verthei-
lung der Lebensmittel die Summe derselben auch wohl für Alle hinreichen
könnte. Es wird ferner angeführt, dafs Vielkinderei die Mutter der Kon-
kurrenz (Seite 53) und somit die Erfinderin aller Künste der Civilisation,
aber auch die Mutter aller Übel sei, welche der Fortschritt mit sich bringt.
Die Konkurrenz, heifst es Seite 57, die zu starke Konkurrenz ist in den aller-
meisten Fällen Schuld daran, wenn der Tagelohn nicht zur Erhaltung des
Arbeiters hinreicht. „Die Menschen vermehren sich” heifst es weiter Seite 61
„nicht nur, wenn sie sich wohl fühlen, sondern auch, und vielleicht am mei-
sten, wenn sie sich elend fühlen; darin besteht das allergröfste Übel der
Vielkinderei, dafs sie sich fortzeugt gleich dem Verbrechen, dessen Fluch
hauptsächlich darin besteht, dafs die böse That eine Kette von bösen Tha-
ten nach sich zieht!” Solche Aufserungen gehen doch offenbar zu weit. Der
Staat kann nicht, wie dies Sismondi vorschlägt, durch Gesetze bestimmen
und vorschreiben, wie viel Kinder in der Ehe sein sollen. Ein bestimmtes
Mittel, dem Übel abzuhelfen, ist von Herrn Hegewisch eigentlich nicht vor-
geschlagen. Der mehrfach ausgesprochene Gedanke, niemand solle eine Ehe
eingehen, der nicht wisse, dafs er nach seinem Verhältnisse Frau und Kinder
werde ernähren können, ist richtig; aber Gesetze können dazu nichts thun,
über den Begriff der Übervölkerung. 439
nur allgemeiner verbreitete Bildung, Vernunft und Moral können zu der
Besonnenheit im Volke führen, dafs Ehen nicht leichtsinnig geschlossen wer-
den. Wiederum aber kann es auch nicht so sein, dafs wie Herr Hegewisch
andeutet, Kapital gesammelt und Rigenthum erworben sein müsse, bevor
die Ehe geschlossen wird. Es wäre gegen die Humanität und gegen die Mo-
ral, wenn man ausschliefsen wollte, dafs der fleifsige Arbeiter, der durch
körperliche Arbeit gewils ist, seine Familie erhalten zu können, sich ver-
heirathen solle. Damit ist die Streitfrage auch nicht abgethan, dafs Herr
Hegewifch am Schlufs der Abhandlung Seite 188 sagt: „Eigenthum und
Fortschritt nicht Fortschritt und Eigenthum”. Man erleichtere den Erwerb
von Eigenthum und den Besitz desselben. Es ist richtig wie Herr Hegewisch
sagt: dafs Eigenthum zu erwerben das Ziel sein mufs, wohin der Arbeiter
strebt, aber man kann schwerlich verlangen, dafs der ärmere Arbeiter Eigen-
thum nachweise, wenn er sich verheirathen will. Auch würde solche Vor-
sichtsmafsregel nicht immer zum Ziele führen, denn wenn das nachgewiesene
Eigenthum für eine kleine Familie auch den Bedarf deckte, so würde doch
Noth einkehren, wenn die Familie stärker wird.
Die vielen gutgemeinten Vorschläge, die in diesen Beziehungen aus-
gesprochen werden, kranken nach einer oder der andern Seite hin. Ich
möchte sagen, die Übervölkerung ist in Bezug auf den Staat, zu vergleichen
mit Erscheinungen in der Natur. Es kommt darauf an genau zu beobachten,
um nur erst die Frage zu beantworten, was ist denn eigentlich Übervölke-
rung und wann tritt sie ein? Die Wissenschaft hat insbesondere die Aufgabe
die Begriffe ins Klare zu stellen; und so will ich denn von diesem Gesichts-
punkte aus obige Frage zu beantworten mich bemühen und bitte nur um
Entschuldigung, wenn ich nicht gerade Neues darlege, und aufserdem mich
viel in Elementarbegriffen bewege. Die Wichtigkeit des Gegenstandes scheint
es mir aber wohl zu rechtfertigen, wenn die vielen zum Theil schiefen An-
sichten in dieser Frage einmal zusammengestellt und einzeln nach einander
beleuchtet werden.
Eine Übervölkerung kann doch nur heifsen, dafs mehr Menschen
auf einem bestimmten Areal leben, als auf diesem Areal leben sollten oder
leben können. Die Übervölkerung geht hinaus über das richtige Maafs der
Bevölkerung. Es wird also vorausgesetzt ein bestimmtes Maafs, welches das
richtige Verhältnifs der Bevölkerung sei. Schubert unterscheidet (Theil 1
440 Diererıcı
Seite 77 des Handbuchs der allgemeinen Staatskunde) die absolute Bevöl-
kerung d.h. die Volksmenge eines Staates im Ganzen; von der relativen Be-
völkerung d.h. der Dichtigkeit auf der Quadratmeile, und nennt die rela-
tive Bevölkerung eine schwache, wenn unter 1000 Seelen, eine mittlere,
wenn zwischen 1000 und 2400 Menschen und eine starke, wenn mehr als
2400 Menschen auf einer geographischen Quadratmeile wohnen. Man las
wohl in alten Geographieen, es müfsten 2000 Menschen auf der Quadrat-
meile wohnen; das sei voll auf, wenn mehr vorhanden wären, sei Überyöl-
kerung da. Ja die neuere Schule der Socialisten in Frankreich will die Staa-
ten so organisiren, dafs auf jeder Quadratmeile 2000 Menschen wohnen müs-
sen. Ist es denn richtig, das gebührende Maafs der Bevölkerung in einer
theoretisch angenommenen Zahl feststellen zu wollen? In Norwegen woh-
nen auf der Quadratmeile 213 Einwohner, in Portugal 2114 Einwohner.
Wenn in Norwegen 2000 auf der Quadratmeile wohnten, wäre das nicht
Übervölkerung? Und wenn in dem fruchtbaren Portugal nur 2000 Men-
schen wohnen, mufs man nicht fagen, dafs für ein durch seinen Naturfonds
so reiches Land 2000 Menschen auf der Quadratmeile nicht eine mittlere,
sondern wirklich nur eine schwache Bevölkerung sei. Im Regierungsbezirk
Düsseldorf wohnen 9028 Menschen auf der Quadratmeile; sehr wenige wan-
dern dort aus. Im Regierungsbezirk Münster wohnen nur auf der Quadrat-
meile 3186 Menschen, und dort wandern viele aus. Ist die Bevölkerung
von 3186 in Münster nicht viel eher eine Übervölkerung zu nennen, als die
mehr als noch einmal so starke Bevölkerung pro (Juadratmeile im Regie-
rungsbezirk Düsseldorf? Man sieht wohl, mit einer absoluten Zahl 2000,
3000, 4000 Menschen können auf der Quadratmeile leben, ist die Sache
nicht abgethan. Bei einer Bevölkerung von 1000 Menschen auf der Quadrat-
meile kann Übervölkerung sein, und bei einer Bevölkerung von 4000, 5000
ja 8000 Menschen auf der Quadratmeile, nicht.
Das richtige Maafs der Bevölkerung kann nur im Begriffe festgestellt
werden und zwar dahin, dafs das richtige Maafs nicht überschritten sei, wenn
die Menschenzahl auf einem gegebenen Raume von den Erzeugnissen auf
diesem Raume genügende Existenzmittel hat. Es kann gegen diese Begriffs-
bestimmung freilich eingewandt werden, dafs Getreide, Vieh, überhaupt
Nahrungsmittel aus einer Gegend in die andere geführt werden kann, wie
dies auch unzweifelhaft vielfach geschieht. Indessen sind dies in der Haupt-
über den Begriff der Ü: bervölkerung. 441
sache doch nur Anomalieen für Distrikte, kleinere Gebietstheile, für die Ver-
hältnisse von Stadt und Land; — für gröfsere Staaten ist es statistisch ziem-
lich gewifs, dafs sie ihren Bedarf an den Hauptnahrungsmitteln selbst er-
zeugen. Auch für England, das viel Getreide ankauft, steht es nach Peels
Rede vom 9'" Februar 1842 fest, dafs alles Getreide, welches Grofsbritan-
nien als Zuschufs für seine Ernährung ankauft, nur etwa der Bedarf von acht
Tagen für die Gesammtbevölkerung ist, und dafs, wenn in Grofsbritannien
noch alles unkultivirte Land in Kultur genommen würde, auch Grofsbritan-
nien seinen Bedarf an Getreide selbst vollständig erzielen könnte. Abge-
sehen nun aber von allen solchen Ausnahmefällen, wie in Lancashire, in
mehreren Theilen Belgiens, bei uns auch im Regierungsbezirk Düsseldorf
gewils vorhanden sind, werden wir wohl sagen können: ein richtiges Maafs
der Bevölkerung sei vorhanden, wenn in einem gröfseren Lande grade nur
so viel Menschen leben, als von den Subsistenzmitteln aller Art, welche im
Lande erzeugt werden, erhalten werden können; wobei zu bemerken ist,
dafs die tropischen Verzehrungs - und sonstigen Verbrauchsgegenstände,
welche ein Staat vom Auslande bezieht, naturgemäfs durch Uberschufs der
inländischen Produktion und Fabrikation, überhaupt des inländischen Ar-
beitserzeugnisses gedeckt werden mufs, so dafs z.B. die Quantität Kaffee,
Zucker, Wein, Taback, Twist u. s. w., welche der Zollverein aus Amerika,
Frankreich, England bezieht, durch Getreide, Holz, Wolle, Tuch, wollene
und baumwollene Waare, Leinwand u. s. w., welche der Zollverein mehr
als sein Bedürfnifs erfordert, erzeugt, im Durchschitt alljährlich gedeckt
wird. Auch die Bezüge vom Auslande sind eine Summe, die durch inlän-
dische Mittel des Austausches ersetzt werden, und letztere müssen also als
nothwendige Existenzmittel dem Totalbedarf eines Landes hinzugerechnet
werden. Es tritt hiernach bei dem Begriff der Übervölkerung die Betrach-
tung zweier verschiedener Gröfsenverhältnisse, ich möchte sagen zweier Rei-
hen von Gröfsenverhältnissen ein: Anzahl der Menschen und deren Wach-
sen, und die Quantität der vorhandenen Subsistenzmittel und deren Steigen.
Man hat auch in Bezug auf die Subsistenzmittel namentlich des Ge-
treides wohl die Frage so gestellt: wie viel Getreide kann denn auf der Qua-
dratmeile wachsen? Es mufs doch eine gewisse Grenze geben bis wohin die
Produktivität nur gehen kann. Ich glaube nicht, dafs wir schon übersehen
und berechnen können, wieviel Nahrungsmittel auf einer gegebenen Fläche
Philos.- histor. Kl. 1849. Kkk
449 Diererıcı
erzeugt werden können. Man ist in unsern Gegenden meist sehr zufrieden,
wenn der Morgen 7, 8 oder gar 9 Scheffel Weizen bringt, wenn gleich in
besonders fruchtbaren Gegenden auch mehr auf dem Morgen gewonnen
wird. In Blumentöpfen habe ich von 8 Weizenkörnern 1256 Körner ge-
wonnen. Ich führe dies nur an um Extreme gegeneinander zu stellen. Ein
Getreidekorn, welches aufgeht, bestaudet sich mit 4, 5 Ähren, und jede
Ähre hat 20, 30 Körner und mehr; wie kommt es, dafs ein Scheffel Aus-
saat nur 7, 8, 9 Scheffel höchstens Erndte giebt? Ich bin weit entfernt durch
diese Betrachtungen den Ökonomen irgend Vorwürfe machen zu wollen;
ich kenne die Gründe, dafs nicht alles Getreide aufgeht, manches Korn
beim Mähen ausfällt, anderes nicht ausgedroschen wird und dergl. mehr,
welche gröfsere Erndten verhindern. Das aber wird doch nicht abgeleugnet
werden können, dafs selbst bei dem Getreidebau in der Landwirthschaft
noch aufserordentlich viel mehr gewonnen werden kann, als jetzt der Fall
ist. Wo die Grenze liegt, wissen wir nicht. Und die Kartoffel bringt auf
demselben Areal wohl noch einmal so viel Nahrungsstoff als das Getreide.
Was die Agrikulturchemie und die rationelle Landwirthschaft noch finden
mögen, mehr als bisher auf dem Morgen Landes zu erzeugen, können wir
noch gar nicht übersehen. Aber noch mehr, auch das Quantum Nahrungs-
mittel, welches der einzelne Mensch bedarf, ist verschieden. Beispielsweise
geht aus dem Resultat der Mahl- und Schlachtsteuer hervor, dafs an Wei-
zen und Roggen im Durchschnitt der Jahre 182 auf den Kopf versteuert
wurde in Kottbus 412 Pfund, in Görlitz 424, in Stettin 407, in Posen 406,
in Wolgast 390, in Breslau 390, in Frankfurt 344, in Berlin 308, in Küstrin
278, in Neu-Ruppin 252, in Marienburg in Westpreufsen nur 224 Pfund.
Das sind Differenzen wie 22 zu 42; beinahe wie 1 zu 2 und es zieht sich
durch eine Reihe von Jahren hindurch, dafs die verschiedenen Städte so
sehr verschiedene Quantitäten von Getreide verbrauchen. Soll auch gar
nicht aus diesen Zahlenverhältnissen allein ein sicherer Schlufs gezogen wer-
den, da die Kartoffelnahrung sehr verschieden, einzelne Angaben auch trüg-
lich sein können, so wird doch aus diesen und ähnlichen Wahrnehmungen
immer hervorgehen, dafs die Quantität von Nahrungsmitteln, welche die Men-
schen in dieser oder jener Gegend zu ihrer Erhaltung gebrauchen, wirklich
nicht überall gleich ist. Welches ist das Minimum, das der Mensch haben
mufs? Allerdings mufs eine gewisse Grenze, ein gewisses Maas vorhanden
über den Begriff der Übervölkeung. 443
sein, welches überall zur Sättigung mindestens nothwendig ist. Aber von
dieser Gränze ab ist offenbar nach Sitte, Gewohnheit, Klima ein noch wei-
ter Spielraum; wozu kommt, dafs in dem einen Lande mehr, in dem an-
dern weniger vegelabilische Nahrungsmittel dem Getreide hinzutreten, Kar-
toffeln, Kohlarten u. s. w. — Denkt man blos an Getreide, und bei diesem
nur an die zur menschlichen Nahrung nöthigen Quantitäten, so würden, wenn
zur menschlichen Nahrung allein auf einer Quadratmeile in einer fruchtbaren
Gegend 30000 Scheflel Getreide gewonnen werden, diese, wenn der Kopf
5 Scheffel verzehrt (wie es in Frankreich, England, im südlichen Deutsch-
land der Fall ist), eine hinreichende Menge Getreide für je 6000 Menschen
auf der Quadratmeile gewähren. Wenn aber in gleich fruchtbarer Gegend
die Menschen mit 4 Scheffel pro Kopf befriedigt werden, so könnten 7500
auf der Quadratmeile leben, und in beiden Fällen wäre eine Übervölkerung,
nach der Getreidenahrung gerechnet, nicht vorhanden. Es mag beiläufig be-
merkt werden, dafs in der Wirklichkeit in dichtbevölkerten Gegenden, in
der Regel mehr Getreide erzeugt und pro Kopf verzehrt wird, als in dünn-
bewohnten, woher es kommt, dafs die pro Quadratmeile oft weniger erzeu-
genden, aber dünner bevölkerten Gegenden Getreide zur Ausfuhr haben.
Wenn in Ostpreufsen, statt der oben angenommenen 30000 Scheffel, nur
etwa 16000 Scheffel Getreide durchschnittlich auf der Quadratmeile gewon-
nen werden, die hier auf der Quadratmeile etwa wohnenden 2500 Menschen
nur 4 Scheffel auf den Kopf verzehren, so gebrauchen sie zu ihrem Bedarf
10000 Scheffel, und haben also von ihrem Erzeugnifs pro Quadratmeile
6000 Scheffel übrig. In Baden wohnen auf der Quadratmeile etwa 4800
Menschen. Der Kopf verzehrt daselbst nach amtlicher Schätzung (vergl. Die-
terici Statistische Übersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und
Verbrauchs im deutschen Zollverein; zweite Fortsetzung; Zeitraum von
1840 bis 1842. Berlin bei E. S. Mittler. — Seite 273 u. folgende) 5-4 Scheffel;
sie brauchen also auf jeder Quadratmeile für sich selbst 26400 Scheffel, und
haben in jedem Fall, wie wirklich der Fall ist, wenn sie zur menschlichen
Nahrung auf der Quadratmeile auch viel mehr produciren, als Ostpreufsen,
viel weniger übrig zur Getreideausfuhr nach der Schweiz, als Ostpreufsen
und Litthauen nach England.
Aus allen diesen Betrachtungen folgt, wie es scheint, unleugbar, dafs
man im Allgemeinen nach einem theoretischen Satz weder sagen kann, 1000,
Kkk 2
444 DiETERICI
2000, 3000 Menschen sind das richtige Maafs der Bevölkerung für eine
Quadratmeile; noch auch, es können auf dieser oder jener Quadratmeile,
in dieser oder jener Gegend nur 2000, 3000, 4000 Menschen leben, da man
theoretisch nicht zu bestimmen vermag, wieviel die Quadratmeile Nahrungs-
stoffe erzeugen kann, und wieviel Nahrungsstoff der Kopf im Durchschnitt
zur Verzhrung gebraucht. Unbedenklich wird es im letzterer Beziehung ein
Minimum geben; aber wie die Sachen nach der Erfahrung stehen, würde
der Einwohner Badens erklären, dafs er darbe, wenn er nur 4 Scheffel Ge-
treide zur Verzehrung hätte, während in den meisten Gegenden des preufsi-
schen Staats jeder Einwohner mit dieser Quantität vollkommen zufrieden
wäre. Man hat sehr viele Beispiele, dafs in Hungerjahren eine Bevölkerung
mit $ oder nur 2 ihrer gewöhnlichen Nahrung sich behilft und doch fort-
besteht. Die Folgen eines solchen Hungerjahres zeigen sich dann in der
Regel nur in einer sehr viel geringeren Anzahl von Geburten im nächsten
Jahr, und in einer geringeren Anzahl von Ehen, die geschlossen werden.
Aber es ist hier nichts Festes, viele Verhältnisse schwanken hin und her;
man kann nur aus allgemeinen Zeichen, wenn die Bevölkerung andauernd
zurückgeht, die Anzahl der Almosen-Empfänger dessen ungeachtet sich ver-
mehrt, und aus ähnlichen Erscheinungen den Schlufs ziehen, dafs ein Land
nicht in glücklichen Verhältnissen fortschreitet, eine Übervölkerung viel-
leicht vorhanden ist, oder sich vorbereitet. Sie könnte immer noch abge-
wendet werden, wenn neue grofsartige Erwerbszweige irgend welcher Art
sich entwickeln; ist dies aber nicht der Fall, so wird bei solchen Zeichen
allerdings auf Übervölkerung zu schliefsen sein.
Angenommen nun aber eine Reihe von Jahren hindurch wären in
einem Staate die Verhältnisse so, dafs sichtlich die Einwohner ihr gutes Aus-
kommen hätten, unter welchen Verhältnissen ist zu besorgen, dafs der Men-
schen mehr würden, als sich auf der gegebenen Fläche ernähren können?
Man hat zwei verschiedene Gröfsenreihen zu betrachten:
4) das Wachsen der Menschenzahl,
2) das Wachsen der Quantitäten Nahrungsmittel.
Das Wachsen der Menschenzahl nimmt Malthus, und mit ihm Hege-
wisch, wenn keine besondern Hindernisse in den Weg treten, im geometri-
schen Verhältnifs an. Malthus beweist den Satz nicht, er liegt ihm in der
Natur der Dinge, er ist ihm ein unzweifelhaftes Axiom. Es kann nur etwa
über den Begriff der Übervölkerung. 445
folgender Gedankengang sein, der ihn zu dieser Annahme gebracht hat. Ist
die Anzahl der Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts in den
mittleren Lebensschichten, also der Menschen durch welche Geburten und
somit die Vermehrung der Nation bewirkt wird, in einem gegebenen Jahre
100, nach fünf Jahren 110, und es vermehren sich die 110 in den nächsten
fünf Jahren nach gleichem Gesetz, wie in den ersten fünf Jahren, so werden
aus ihnen nicht 120, sondern 121 u. s. w. Wer bürgt denn aber dafür, dafs
sie nach demselben Gesetz fortschreiten, kann es denn nicht sein, dafs es
ihrer nur 120 werden oder 119 oder 118° Hier kann offenbar nicht die all-
gemeine Betrachtung: wir sehen in vielen Familien 3, 4, 5 Kinder, die Men-
schen vermehren sich, auch wenn es ihnen schlecht geht; als ausreichender
Grund eines Bevölkerungsgesetzes angenommen werden, nur die Erfahrung
kann entscheiden. Moser sagt in dem Buche: die Gesetze der Lebensdauer
Seite 132 und 133 Folgendes: „Man geräth in der That in Verlegenheit,
wenn man ein Urtheil über die Hypothese der jährlichen Volkszunahme in
einem geometrischen Verhältnifs abgeben soll. Wie hat man zu dieser so
weit verbreiteten Hypothese gelangen können? Ein Kapital vermehrt sich in
einem geometrischen Verhältnifs, wenn Zins vom Zins gerechnet wird, weil
die Zinsen jedes Jahres im nächstfolgenden als Kapital wirken, und ihrer-
seits zu dessen Vermehrung durch Zinsen beitragen. Was hat aber dieser
Fall mit dem einer Bevölkerung gemein, in welcher ein Überschufs von Ge-
burten stattfindet? Sollen die in einem Jahre Mehrgebornen als solche be-
trachtet werden, die im nächsten Jahre ihrerseits Kinder erzeugen?” — —
und ferner: „Als es Malthus darauf ankam, nachzuweisen, dafs die Vermeh-
rung eines Volkes in der nicht unbeschränkten Zunahme der Nahrungmittel
eine Schranke finden müsse, wählte er für die Vermehrung der Menschen
das Bild einer geometrischen Progression, für die Vermehrung des Boden-
ertrages das einer arithmetischen. Dies können nur Bilder sein sollen, be-
stimmt, auf gewisse Leser zu wirken; denn beweisen würde Malthus we-
der die eine noch die andere Progression”.
Was sagt uns denn nun die Erfahrung?
Es giebt allerdings statistische Notizen, nach denen eine Verdoppe-
lung der Bevölkerung oder doch eine Vermehrung im starken Verhältnifs in
gewissen Zeiten eingetreten ist; nach Riekmann (Comparative account on
the population of Great Britain. London 1832) hatte 1760 Alt-England ohne
446 Diıerteriıcı
Schottland und Irland 6,786,000 Einwohner und 1841 mit Wales 14,806,741,
die Bevölkerung hat sich also in 81 Jahren etwas mehr als verdoppelt. Schott-
land hatte 1689: 1,200,000 Einwohner und 1841: 2,620,000; hat sich also
in 150 Jabren etwas mehr als verdoppelt. Irland wird 1792 als mit 3,600,000
Menschen angegeben, nach der Zählung von 1841: 8,175,000. Die Bevölke-
rung hat sich in Irland in 50 Jahren verdoppelt. Die Nordamerikanischen
Freistaaten zählten 1820 9 bis 10 Millionen Menschen, und haben jetzt voll-
kommen 20 Millionen. Hier ist in einem Zeitraum von 25 Jahren eine Ver-
doppelung eingetreten. Nach den officiellen Zählungen des General-Direk-
torii hatten 1748 das Königsbergsche und Litthauische Departement 567,366,
jetzt haben die Regierungsbezirke Königsberg und Gumbinnen 1,480,308
Einwohner. Da sich das Areal ziemlich gleich geblieben ist, indem das zum
Regierungsbezirk Königsberg geschlagene Ermeland, welches 1748 nicht
Preufsisch war, in Flächenraum ausgeglichen wird, durch die Theile West-
preufsens, welche bis nach Marienwerder hin 1748 zum Ostpreufsischen De-
partement gehörten, so ist in Östpreufsen und Litthauen entschieden in etwa
90 Jahren sehr viel mehr, als eine Verdoppelung eingetreten. Ebenso in
Schlesien, woselbst 1740 gezählt wurden 1,109,246 und 1846: 2,871,315
Einwohner.
Solche Resultate erschrecken diejenigen, welche in starker Volks-
vermehrung eine grofse Gefahr für die Existenz der Menschen erblicken.
Denn allerdings, wenn auch nur in je 150 Jahren, regelmäfsig eine Verdop-
pelung der Bevölkerung stattfindet, so müfste Griechenland z. B., wenn es
zur Zeit Christi-Geburt 1 Million Menschen gehabt hätte, und es wäre nun
alle 150 Jahre eine Verdoppelung eingetreten, schon um das Jahr 1400
1024 Millionen Menschen gehabt haben, so viel, als man jetzt auf der gan-
zen Erde etwa Menschen annimmt. Die Weltgeschichte zeigt für längere
Zeiträume nirgend, auch nur entfernt, ähnliche Erscheinungen. Wer sagt
denn, wer kann vorhersehen oder beweisen, dafs wenn in den letzten 100
oder 150 Jahren eine Verdoppelung der Bevölkerungen in mehreren Staa-
ten stattgefunden, aus diesem Ergebnifs eine allgemeine Regel für alle Zu-
kunft folge? Die Geschichte giebt Beispiele genug, dafs Bevölkerungen
zurückgegangen sind. Wenn Griechenland zur Zeit des Perikles nur 2 Mil-
lionen Einwohner gehabt hätte, welches nach Böckh’s Ermittelungen viel
zu gering angenommen ist, und zur Zeit Christi Geburt 1 Million, so müls-
über den Begriff der Übervölkerung. 447
ten, wenn hieraus ein Gesetz gefolgert werden sollte, dafs die Verminderung
der Bevölkerung in dieser Progression fortgegangen wäre, um das Jahr 1600
etwa 65000 Menschen im ganzen Griechenland nur gelebt haben. Man sieht,
zu welchen paradoxen Sätzen und völligen Fehlschlüssen man gelangt, wenn
man aus einzelnen Beobachtungen der jetzigen oder früheren Zeit sogleich
auf allgemeine Gesetze schliefsen will. Wir kennen das Gesetz nicht, nach
welchem Volksvermehrungen oder Volksverminderungen für Jahrhunderte
oder Jahrtausende eintreten. Das wird wahr bleiben, dafs die Bevölkerun-
gen stillstehen oder zurückgehen, wenn es ihnen an den nöthigen Nahrungs-
mitteln fehlt. Wie früh oder wie spät dieser Zeitpunkt eintritt läfst sich aus
Rechnung nicht vorher bestimmen. Nach der Fähigkeit der Menschen,
sich zu vermehren, kann man nicht folgern, wie sie sich wirklich vermehren
werden. Wir müssen vertrauen, dafs die göttliche Vorsehung für gröfsere
Zeiträume das richtige Verhältnifs wohl herbeiführen wird, wie ja schon
Cicero sagt (Tuseul. Disput. 1.49): Non enim temere nec fortuito sati et
creati sumus, sed profecto Juit quaedam vis, quae generi consuleret humano.
Aber in welchem Verhältnifs vermehren sich denn die Subsistenz-
mittel? Malthus sagt: Nur im arithmetischen Verhältnißs, also aus 100
wird in den nach einander folgenden Jahren 101, 102, 193 u.s. w., und da
die Bevölkerungen im geometrischen Verhältnifs sich vermehren, so müsse
sehr bald die im geometrischen Verhältnifs steigende Vermehrung d.h. die
Menschenzahl, die im arithmetischen Verhältnifs nur steigende Vermehrung
d.h. die Subsistenzmittel überflügeln, und also Noth entstehen. Es ist aller-
dings mathematisch gewils, dafs eine jede geometrische Reihe auch mit dem
kleinsten Exponenten eine jede arithmetische Reihe auch mit der gröfsesten
Differenz zuletzt überholen müsse. Aber ich gebe weder die eine Prämisse,
dafs die Bevölkerung sich im geometrischen Verhältnifs vermehren müsse,
noch die andere, dafs die Subsistenzmittel sich nur in arithmetischer Reihe
vermehren könnten, unbedingt zu, ja ich gehe noch weiter. Zugegeben ein-
mal, dafs die Bevölkerungen im geometrischen, die Existenzmittel nur im
arithmetischen Verhältnifs sich vermehren, so folgt daraus für bestimmte,
selbst längere Zeitabschnitte noch nicht, dafs z. B. in einem oder zwei Jahr-
hunderten, die Menschenzahl durch fehlende Existenzmittel in Noth gera-
then müfste. Man wird, was ein Mensch jährlich bedarf, an Brod, Fleisch,
Nahrungsmitteln aller Art, an Kleidung, Wohnung u. s. w. jetzt in dem all-
448 DieErteriıcı
gemeinen Tauschmittel, Geld ausdrücken, und also sagen können, ange-
nommen einmal auf einem gegebenen Areal erwürbe eine Bevölkerung allen
ihren Bedarf durch Getreidebau: Wenn vor 150 Jahren 100 Menschen hat-
ten ein Jeder durch seine Arbeit 100 Thaler, Geldeinheiten, Werthe zu sei-
ner Existenz, so producirten die 100 Menschen also 10000 Werthe. Wenn
jetzt nach 150 Jahren auf derselben Fläche 200 Menschen wohnen, und Je-
der hat wiederum 100 Werthe, Scheffel, Geldeinheiten zu seiner Existenz,
so mufs die ganze Fläche produciren 20000 Werthe; wenn die Zustände
der 200 Menschen auf der Quadratmeile jetzt, ähnliche sein sollen den Zu-
ständen der 100 Menschen auf derselben Quadratmeile vor 150 Jahren.
Ging die Mehrproduction der Werthe nur im arithmetischen Verhältnifs, so
mufste in jedem der 150 Jahre 4%%% d.h. 663 Werthe mehr geschafft wer-
den; oder auf je 1000 Werthe mufsten in jedem Jahre 6% Werthe mehr
producirt werden. Wenn nun die Bevölkerung steigt, die Arbeitskraft in
der Nation sich also fortdauernd mehrt, so wird kein Landwirth den gering-
sten Zweifel haben, dafs wo in dem einen Jahre 1000 Scheffel Getreide ge-
wonnen wurden, im nächsten Jahre bei nur etwas vermehrter Arbeitskraft
gar sehr wohl 10063 Scheffel gewonnen werden können. Hieraus folgt, dafs
eine lediglich vom Ackerbau lebende Bevölkerung auf einem gegebenen
Areal sich in 150 Jahren verdoppeln könnte, und in ihren Zuständen sich
ganz gleich bliebe, wenn sie statt 1000 Scheffel auf derselben Fläche jähr-
lich 10062 Scheffel gewönne. Es kann zwar so für alle Zeit nicht fortgehen.
Aber in der Regel leben die Menschen jetzt, wenn 4000 auf der Quadrat-
meile sind, besser, als vor 150 Jahren, wenn damals auf derselben Quadrat-
meile 2000 lebten. Man vergleiche die Zustände der Menschen in den Rhein-
gegenden, in der Preufsischen Provinz Sachsen, mit den Zuständen der Men-
schen in vielen Gegenden Westpreufsens. Die Productivität des Bodens
steigt oft noch rascher, als die Zahl der Menschen. Die Arbeit ist es vor al-
lem Andern, welche neue Werthe schafft. Sind mehr Menschen, ist mehr
Arbeitskraft da. Der unbebaute Acker trägt Feldblumen, der bearbeitete
Getreide. Und wenn die geistige Arbeit die productivste ist, so läfst sich
gar nicht übersehen, in welchem Verhältnifs die Quantität der Existenzmittel
durch immer verbesserte, immer rationellere Landwirthschaft, durch Ma-
schinen und Erfindungen aller Art in einem ungeahneten Grade steigen
können.
über den Begriff der Übervölkerung. 449
Was folgt denn nun aus allen diesen Betrachtungen? Nur, dafs wir
nicht a priori, nicht nach theoretischer Auffassung sagen sollen, es mufs
nothwendig da und dort, dann und dann, eine Übervölkerung eintreten; —
nicht, dafs die letztere unmöglich sei, sie kann allerdings eintreten, und ist
allerdings in vielen Gegenden eingetreten, aber nur in ganz concreter Auf-
fassung läfst sich sagen, wo sie vorhanden sei. Die Auswanderungen aus
einem Lande haben allerdings oft auch noch andere Veranlassungen, als
Übervölkerung, als die Veranlassung, dafs die Menschenzahl auf der Qua-
dratmeile in einer gegebenen Gegend nicht Existenzmittel genug habe und
produeire. Sind Freunde und Verwandte nach Amerika gewandert, so zie-
hen sie oft nähere Bekannte durch briefliche Schilderungen nach. Indessen
ist es eine gewöhnliche Annahme, dafs viel Auswanderungen ein Zeichen der
Ubervölkerung seien, und bis zu einem gewissen Grade, werden die Zahlen
oO
der Auswandernden in dieser Beziehung immer zum Anhalt dienen können.
Die umstehende Tabelle giebt eine Übersicht der im Preufsischen Staate im
Jahre 18%$ Ausgewanderten im Vergleich gegen die Einwohnerzahl von 1846
nach den Regierungsbezirken.
Die stärkste Auswanderung ist im Regierungsbezirk Trier, eine sehr
geringe im Regierungsbezirk Düsseldorf. Im Regierungsbezirk Trier woh-
nen auf der Quadratmeile 3727 und es wanderten aus in dem einen Jahre
3433. Im Regierungsbezirk Düsseldorf waren auf der Quadratmeile 9028
und es wanderten aus 558. So sehr verschieden ist der Grund und Boden
in Trier und Düsseldorf nicht, dafs deshalb in Düsseldorf fast dreimal so-
viel Menschen wohnen könnten als in Trier, und dessen ungeachtet aus dem
Regierungsbezirk Trier sechsmal soviel Menschen auswandern mülsten, als
aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf. Ja, vielleicht ist die Fruchtbarkeit
des Bodens im Regierungsbezirk Trier nicht geringer als im Regierungs-
bezirk Düsseldorf. Herr v. Viebahn sagt in der Statistik und Topographie
des Regierungsbezirks Düsseldorf Th.1. 5.145 u. 146 mit Angabe specieller
Zahlenverhältnisse, dafs durch das Erzeugnifs von Getreide mit Hinzurech-
nung von Buchweizen, Spelz und andern Nebenfrüchten der Regierungs-
bezirk seinen Bedarf an diesen Hauptnahrungsmitteln vollständig decke. Ein
Gleiches zeigt v. Hauer in der statistischen Übersicht des Kreises Solingen
von dieser dicht bewohnten Gegend.
Philos. - histor. Kl. 1849. Lll
450 Dierterıcı
Es sind im | Procentsatz
Jahre 1. Ok-| der Ausge-
tober 18°? | wanderten
Regierungsbezirke | —_ A | mit Konsens | gegen die
auf der Qua-| ausgewan- |ganze Bevöl-
Einwohnerzahl 1846
überhaupt dratmeile dert kerung
. Gumbinnen 632356
405805
613300
900430
. Bromberg 463969
. Potsdam mit Berlin. | 1226866
Frankfurt 840127
. Stettin 547952
434140
182981
1165994
987318
912497
674149
724686
343617
421044
459833
564842
2121 0,004
2665 0,016
1921 7 0,029
2799 0,016
2160 0,061
3207 0,030
2389 0,065
2294 0,00
1680 0,002
2296 0,017
4699 0,012
4062 0,010
3642 76 0,019
3208 0,045
3839 0,183
5566 0,171
3186 5 0,372
4806 7 0,164
4031 0,077
484593 6693 0,143
887614 9028 0,063
499557 | 4555 0,129
asunaans |
ııo go DD -
u u u
Be
Königsberg sure | 2078 0,007
488699 3727 B 0,703
402617 5322 0,133
Summe | 16112938 3170 0,093
über den Begriff der Übervölkerung. 451
Ähnlich wie bei Düsseldorf und Trier steht der Vergleich zwischen
den Regierungsbezirken Münster und Minden in Bezug auf die Auswande-
runsverhältnisse. In Münster wohnen auf der Quadratmeile nur 3186. Die
Zahl der Ausgewanderten ist 1565. In Minden wohnen auf der Quadrat-
meile 4806 und die Zahl der Ausgewanderten ist nur 752.
Nicht also die allgemeine Angst vor Übervölkerung soll zu Maafs-
regeln gegen dieselbe veranlassen, sondern höchsten Falles nur die concrete
Wahrnehmung, dafs, und wo, und in welchem Grade, sich eine Übervölke-
rung zeigt.
Welche Maafsregeln aber soll alsdann die Regierung ergreifen?
Sie kann, meiner Meinung nach, direkt eigentlich gar nicht einschrei-
ten, sie kann nur in indirekter Weise wirken, sie nehme die ethischen Prin-
eipien, die Moral zu ihrem Führer und die Maafsregeln und Gesetze, welche
sie in Folge ethischer Prineipien erläfst, werden am sichersten, wenn auch
nur indirect gegen das etwanige Übel einer Übervölkerung wirken.
Es ist ein Recht des Menschen auf Gottes weiter Erde zu wohnen und
sich zu nähren, wo er glaubt sich am besten durch seine Kraft nähren zu
können. Abschofs- und Abfahrtsgeld, Verhinderung und Erschwerung der
Auswanderung können, vom Standpunkt der Moral aus, nicht gebilligt wer-
den. Man gebe sie frei und es ist Raum genug in Australien und in Amerika
für die welche glauben, dort besser leben zu können, als in der Heimath.
Es mag selbst nicht getadelt werden, wenn man da, wo eine Übervölkerung
wirklich sich zeigt, in ähnlicher Art, wie man Arme unterstützt, den Aus-
wandernden Erleichterungen gewährt, namentlich für die Sicherheit des
Transports Sorge hat. In Bezug auf baare Unterstützungen und namhafte
Erleichterung der Auswanderung ist indessen grofse Vorsicht nöthig. Zu
Auswanderungen anreizen, wo sie die Noth nicht gebietet, ist bedenklich.
Das Exempel ist einfach. Ein Vater der 6000 Thaler hat und drei Kinder,
kann diesen in der Heimath nur ein mäfsiges Loos bereiten. In vielen Ge-
genden Nordamerikas kann man für 2000 Thaler ein angenehmes Landgut
erwerben. Es kann nicht gewünscht werden, dafs nach solchen Ansichten
und Ideen, Viele die in der Heimath mit Mühe sich eine behagliche Existenz
erwerben, durch künstliche Mittel angelockt werden, mit ihrem Vermögen
das Vaterland zu verlassen.
L1l2
452 Dieterıcı
Es ist Menschenpflicht sich der Armen anzunehmen, aber das Armen-
wesen mufs wohl geordnet werden. Das viele zerstreute Almosengeben ist
nicht richtig. Armuth mufs ein Übel bleiben, damit der Mensch sich an-
strenge, und wo' möglich sich selbst helfe. Wird der Druck der Armuth
hinweggenommen, ist es kein Unglück mehr arm zu sein, und weifs der
Arme, dafs er reichlich unterstützt wird, auch wenn er nicht arbeitet, so er-
zeugt sich, wie in Irland, ein junges Geschlecht von Bettlern. Mit Recht
eifert daher Malthus gegen die früheren englischen Armentaxen, die aller-
dings eine Übervölkerung von Armen herbeiführten. Der Staat erleichtere
den Erwerb und Besitz von kleinem Eigenthum; er gebe die Arbeit frei,
damit jede Kraft innerhalb der Schranke des Rechts und des Gesetzes sich
zum eignen Wohlsein entwickeln könne; damit die Familie sich bilde und
Familienglück entstehe; er sorge für Recht und Ordnung und Handhabung
derselben. Dann wird im Volke der Gedanke allgemein werden, dafs Fleifs
und Sparsamkeit, dafs Ordnung und unausgesetzte Thätigkeit in dem Be-
rufe, welcher es auch sei, nach Gottes Fügung von Ewigkeit her, die allei-
nigen Quellen wahren menschlichen Wohlstandes sind und nur sein können.
Trefflich führt Guizot diese Gedankenreihe aus in der Demokratie, indem
er überzeugend zeigt, wie das Verlassen dieser Grundideen eine jede Staats-
gesellschaft zum Unglück, und wie er sagt, ins Chaos führen müsse. Auch
an Canning darf ich erinnern, der in einer seiner Parlamentsreden kräftig
hervorhebt, wie die Menschen immer durch Maafsregeln, durch äufsere
Dinge ihr Unglück abwenden oder ihr Glück befördern wollen, während sie
das einzige wahre Mittel zur Verbesserung ihrer Lage, hauptsächlich in ihrer
eignen Thätigkeit, in sich selbst zu suchen haben.
Der Staat sorge für Verbreitung wahrer Religiosität, Sittlichkeit und
Bildung. Wird auf der einen Seite dadurch Ordnung im Hausstand, Glück
in den Familien vermehrt, so wird andrerseits durch allgemeine Verbreitung
von Bildung die Möglichkeit eröffnet, die Subsistenzmittel zu vermehren.
Man glaubt nicht, wie sehr die meisten unserer Handwerker ihr Gewerbe in
derselben Art und Weise fortführen, wie es bei dem Vater und Grofsvater
gewesen; wie viel Handwerksmifsbräuche bestehen, wie viel überhaupt noch
in Gewerben geschehen kann durch Anwendung von Verstand. Dasselbe gilt
vielleicht in noch ausgedehnterem Grade von der Landwirthschaft, die meist -
über den Begriff der Übervölkerung. 453
erst in neuerer Zeit, wesentlich auch durch A. Thaers Einflufs angefangen
hat, auf gröfseren Gütern rationeller betrieben zu werden, während in die-
sen, wie in allen kleinen Besitzungen, gewifs noch aufserordentlich viel mehr,
als bisher geschehen ist, durch verständigere Arbeit, dem Boden abge-
wonnen werden kann.
Das jetzt in Frankreich oft ausgesprochene Princip des Rechts auf
Arbeit, wird unrichtig oft so ausgelegt, als sei es Pflicht der Regierung oder
der Arbeitgeber, dafs sie nothwendig den Arbeitsuchenden Arbeit verschaff-
ten oder überwiesen. Das ist nicht der richtige Sinn. Die Arbeiter müssen
die Arbeit suchen. Dies Recht auf Arbeit hat ein Jeder. Und der Arbeit-
geber kann nur verpflichtet sein den Arbeitern Arbeit zu geben, wenn er
dieser Arbeit bedarf. Indessen läfst sich hier doch sagen, dafs der Staat oft
wohl Mittel hat, Gelegenheit zur Arbeit zu eröffnen. Zu Urbarmachungen,
Entwässerungen, Anlagen von Kanälen, Gräben, Wegen, ist in jedem Lande
und so auch bei uns noch viel Gelegenheit vorhanden. Dafs solche Quellen
der Erwerbsmittel, wenn die Etatsmittel die erste Auslage gestatten, wie ir-
gend möglich eröffnet werden, kann nur unbedingt empfohlen werden, und
wird zur Abhülfe des Übels der Übervölkerung, wo es sich findet, wohl
mitwirken.
Wenn Bildung, Sittlichkeit, Vernunft immer mehr und mehr in das
Volk dringen, dann wird sich von selbst mehr herausstellen, dafs die Ehen
nicht leichtsinnig und nicht eher geschlossen werden, als bis vernünftige
Aussicht vorhanden ist, eine Familie zu constituiren. Malthus und Hege-
wisch haben darin Recht, wenn sie verlangen, dafs die Ehen nicht geschlos-
sen werden sollen, wenn nicht einigermafsen die Aussicht der Existenz ge-
sichert ist. Aber freilich kann dies nicht so weit gehen, wie Hegewisch an-
deutet, dafs vor dem Abschlufs der Ehe so viel Eigenthum vorhanden sein
müsse, um dereinst 4, 5 Kinder erhalten zu können. Die sichere Gelegen-
heit zur Arbeit, die Möglichkeit des Erwerbs, wenn solche vernunftgemäfs
vorauszusehen ist, erscheint hinreichend. Immer aber ist auch dies nicht
durch Gesetze, sondern hauptsächlich nur durch Bildung und Sitte zu er-
reichen.
Malthus schlägt vor: damit die Ehen nicht zu fruchtbar werden, sollte
das weibliche Geschlecht erst mit dem 30“ Jahre heirathen. Schwerlich
454 Diererıcı
wird sich dies durch die Natur der Dinge bewirken lassen, denn es ist ge-
gen die menschliche Natur und gegen die Freiheit der Menschen; noch viel
weniger kann dergleichen durch Gesetze befohlen werden.
Es ist gegen alle Moral zu verlangen, dafs in einer jeden Ehe nur 2,
3 oder 4 Kinder kommen dürfen. Die Ehe ist heilig und Gesetze dürfen
in das Innere derselben nicht eingreifen. In dem Sprichwort des deutschen
Bauern, je mehr Kinder, je mehr Vaterunser liegt mehr Moral, als in hoch-
getriebenen staatswirthschaftlichen Meinungen, man müsse, wer weils welche
Mittel anwenden, um eine zu grofse Anzahl von Kindern in den Ehen abzu-
halten. In vielen Gegenden Frankreichs und leider auch in mehreren Ge-
genden Deutschlands, ist ein sogenanntes Zwei-Kindersystem in den Ehen
herrschend, d.h. es werden nicht mehr als 2 Kinder geboren, 4, 5, 6 Kin-
der haben, wird in der öffentlichen Meinung verachtet, wohl gar geschol-
ten. Hinter solchen Sitten liegen sehr oft grofse moralische Übel, und es ist
ein viel richtigerer Sinn, wenn die Engländer dem Vater vieler Kinder eben
deshalb besondere Achtung beweisen. Singt doch schon der alte Homer
„Ihm blühten zwölf herrliche Söhne und Töchter.”
Es ist eine Verirrung moralicher Begriffe, wenn eine starke Familie, die ehe-
liches Glück nur befördern soll, geschmähet wird.
Übrigens ist auch in dieser Beziehung die oft ausgesprochene Furcht
vor zu vielen Kindern in den Ehen meist übertrieben. Wo Gott im einzel-
nen Fall in der Ehe viel Kinder giebt, da giebt er auch Mittel und Wege
der Erhaltung und des Unterkommens, wenn sonst nur Ordnung, Fleifs,
Tüchtigkeit und gute Zucht und Sitte in der Familie herrschen. Vom voll-
endeten 14“" Jahre ab aber kann man für die Masse der Nation, in Stadt
und Land, annehmen, dafs die Kinder den Eltern nicht mehr zur Last fal-
len, und vergleicht man nun beispielsweise im Preufsischen Staat die An-
zahl der Ehen, gegen die Kinder bis zum vollendeten 14' Lebensjahre, so
zeigt die folgende Tabelle, dafs nach den letzten vierzehn Zählungen, auf
je 10 Ehen durchschnittlich noch nicht 21 Kinder bis zum vollendeten 14'“
Jahre sich berechnen.
über den Begriff der Übervölkerung. 455
Im ganzen Preufsischen Staate überhaupt
Es kommen
durchschnitt-
lich Kinder
auf eine Ehe
Zahl der |Zahl der Kin-
in den Jahren| stehenden | der bis zum
Ehen AÄten Jahre
1874643 3682346
1917643 3771382
1968775 3863856
2014783 3988901
2042476 4102391
2078001 4208743
2167592 4487461
2222649 4711093
2211729 4767732
2284390 4834079
2362445 4911033
2474177 5153721
2570049 5339390
2675531 | 5609214
Im Cholerajahre 1831 hatten sich die stehenden Ehen vermindert,
weil in demselben die Zahl der neu geschlossenen Ehen ungewöhnlich ge-
ring war.
Nach den ersten Zählungen von 1817, 1818, 1819, 1820 kommen
noch nicht einmal 20 Kinder auf 10 Ehen durchschnittlich, auch in den fol-
genden Jahren zeigen sich noch nicht bei der Hälfte der Zählungen 21 Kin-
der unter 14 Jahren auf je 10 Ehen.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, versuche ich meine Ideen
über die Maafsregeln der Regierung in Bezug auf die Bevölkerungspolizei,
in Bezug auf die Frage, was hat die Regierung zu thun, damit die Stärke
der Bevölkerung in ein richtiges Verhältnifs zu den vorhandenen Existenz-
mitteln trete? in folgende wenige Hauptsätze zusammenzufassen.
Die Regierung hüte sich vor zu positiven Maafsregeln, die lediglich
hervorgehen aus allgemeiner Besorgnifs vor zu dichter Bevölkerung oder zu
lebhaftem Wunsch, dafs eine zu dünne Bevölkerung dichter werde. Ob
eine Bevölkerung in einer Gegend zu dicht oder zu dünn sei, ergiebt sich
456 Dierterıcı
nur aus genauer Betrachtung und bestimmter Wahrnehmung in genau gege-
bener Gegend. Wo unzweifelhaft noch die Bevölkerungen zu dünn sind,
hat man früher Begünstigung der Einwanderung vorgeschlagen. Es mag dies
nicht unbedingt getadelt werden, doch haben die Einwanderungen, bei de-
nen ein höheres Moralprincip zum Grunde lag, die Aufnahme solcher Un-
glücklichen, die ihrer Religionsmeinung wegen verfolgt wurden, immer viel
bessere Erfolge gehabt, als wenn blofs äufsere Beweggründe die Einwande-
rung veranlafsten. Es ist grofse Vorsicht nöthig auch in der Beziehung, dafs
die Inländer sich nicht gegen die Eingewanderten zurückgesetzt fühlen. Die
viel häufigere Frage und viel gröfsere Sorge ist jetzt, dafs der Menschen zu
viel seien. Sie mit Gewalt vertreiben, etwa einen blutigen Krieg anzünden,
blofs damit der Menschen weniger werden, oder wohl gar, wie selbst Mal-
thus, wenngleich mit vieler Restrietion andeutet, nicht kräftig auftreten ge-
gen Pocken, Pest, Cholera und andere Epidemieen, damit das natürliche
Hemmnifs der Bevölkerung nicht verringert werde, ist gegen alle Humani-
tät, ist gegen die bestimmteste Pflicht der Regierung. Wer auswandern will,
darf daran nicht gehindert werden. Das ist ganz allgemein Regierungspflicht,
wo sich zu dichte Bevölkerung zeigt, kann Erleichterung der Auswanderung
mit Vorsicht eingeleitet werden. Die Eröffnung ganz neuer Erwerbszweige
ist unter allen Umständen zu empfehlen. Die Regierung kann in dieser Be-
g und Vor-
8
sicht verfahren. Einen Kanal anlegen wohin er nicht gehört, ist Verschwen-
ziehung mancherlei thun, doch mufs sie auch hier mit Uberlegun
dung. Eine lebhafte Industrie ist ein Glück für die Nationen. Aber eine ge-
sunde Industrie wird sich durch eigene Kraft erhalten. Eines oder das An-
dere kann die Regierung wohl thun, um diese oder jene Fabrikation zu he-
ben; aber sie sei im äufsersten Grade in dieser Beziehung vorsichtig und be-
hutsam; denn so künstlich gehobene Industrieen sind bei der geringsten Un-
gunst der Verhältnisse der Heerd, die Stätte der Armuth und des Proleta-
riats. —
Eine Ehe zu schliefsen oder nicht zu schliefsen ist Sache des persön-
lichen Entschlusses und der persönlichen Freiheit. Maafsregeln der Regie-
rung, die Ehen zu begünstigen, oder von Schliefsung der Ehen abzuhalten,
scheinen mir nicht gerechtfertigt. Die römischen Gesetze, welche die Ehe
befördern sollten, dürften nichts Erhebliches bewirkt haben; auch die Un-
terstützung, welche bei uns erfolgt, wenn sieben Söhne in einer Ehe gebo-
über den Begriff der Übervölkerung. 457
ren werden, hat, wenn auch das Wohlwollen in dieser Bewilligung volle
Anerkennung verdient, doch schwerlich auf gröfsere Fruchtbarkeit der Ehen
hingewirkt. Das Abhalten von Ehen, wie bisweilen sogar durch gröfsere In-
stitutionen z. B. „sehr langer Dienstzeit im Militär”, herbeigeführt wird, ist
schwerlich vom allgemeinen Standpunkte der Humanität zu billigen. Solche
Institutionen mögen in andern Gründen ihre ausreichenden oder nicht aus-
reichenden Beweggründe haben; von dem Standpunkte aus, dafs sie vor-
handen sein mülsten, um viele Menschen von der Ehe abzuhalten, erschei-
nen sie mir gegen das natürliche Recht. Ich übergehe Maafsregeln der Ver-
stümmelung im Orient, Vorschläge von Medicinern in unsern Landen, das
männliche Geschlecht von der Unzucht durch körperlichen Zwang abzuhal-
ten; — alle solche Maafsregeln sind gegen die Moral, gegen alle Humanität.
Keine Regierung hat zu soichen Maafsregeln ein Recht; keine wohlgeord-
nete Regierung darf sie im Entferntesten beachten.
Es ist ein günstiges Zeichen, wo, wie in England, grofsentheils doch
auch bei uns, die Bevölkerung hauptsächlich in geordneten Ehen fortschrei-
tet. Viel Wahres liegt in dem alten Wort „Er ist guter Leute Kind”. Wie
auch Milde und Humanität vorschreiben, dafs unehelichen Kindern die Un-
gunst ihrer Geburt nicht nachgetragen werde, so hat doch keine Regierung
zu einer laxen Gesetzgebung wahrhaften Grund, wodurch die Zahl der un-
ehelichen Kinder vermehrt wird, etwa weil dadurch, wie man früher wohl
sagte, immer die Anzahl der Menschen doch stärker werde. Auch in Bezug
auf diesen Theil der Gesetzgebung kann die Regierung nur von den Vor-
schriften der Moral ausgehn. Findelhäuser, Bordelle, sind nicht zu empfeh-
len als neu einzurichtende Maafsregeln; können sie, wie Findelhäuser in
Ländern, wo sie seit langer Zeit bestehn, wie Bordelle in Seehäfen und ein-
zelnen grofsen Städten nicht abgeschafft werden, so sind sie als nothwendi-
ges Übel polizeilich zu überwachen. Die Keuschheit hat ihr Recht als eine
christliche Tugend und darf von Mann und Weib in der Jugend verlangt’
werden, wie milde man den einzelnen Fall vergebe. Allerdings sei die Ehe
der erlaubte Wunsch des Jünglings und der Jungfrau, aber sie werde nicht
geschlossen in Leichtsinn und übereiltem Gefühl, sondern, wenn die Mög-
lichkeit der Erhaltung der Familie vorhanden ist. Dafs das die allgemeine
Meinung des Volkes werde, ist eben nur durch fortschreitende Bildung, Sitt-
lichkeit, Vernunft, Religion, Tugend und Zucht zu erreichen. Das Familien-
Philos.- histor. Kl. 1849. Mmm
458 Dierrteriıcı über den Begriff der Übervölkerung.
glück mufs es sein, welches der Einzelne als höchstes Ziel erstrebt, welches
die Regierung in allen ihren Maafsregeln vor Augen haben und befördern
soll. Sie erleichtere den Erwerb und Besitz von Eigenthum; sie halte auf
Ordnung, Recht und Gesetz unnachsichtig; sie gebe frei die Arbeit; eröffne
die Erwerbsquellen die sie eröffnen kann und gestatte dafs jede Kraft zum
eignen Wohlsein sich entwickle. Das ist ihres Amtes, sind diese Grundsätze
die leitenden in der Gesetzgebung: — dann lasse sie Gott walten; wie die
Weltgeschichte lehrt, wird sich die Menschenzahl gegen die vorhandenen
Existenzmittel von selbst in das richtige Verhältnifs stellen.
— ID II —
Über das Metroon zu Athen
und über die Göttermutter der griechischen Mythologie.
v Von
H” GERHARD.
munmmnnwwnanan
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 26. Juli 1849.]
J. eigenthümlicher, regsamer und folgerechter die Entwickelung des hel-
lenischen Lebens im Gegensatz alles für barbarisch erachteten Auslands sich
durchführen läfst, um so anziehender bleiben uns die scheinbaren Ein-
mischungen des Orients in die hellenische Welt. Einen sehr eigenthümlichen
Beleg solcher Einmischung bietet aus der mächtigsten und gebildetsten Zeit
Athens das im Mittelpunkt attischen Religions- und Staatslebens gegründete
Metroon uns dar, dessen der phrygischen Göttermutter geweihter Dienst
ohne Zweifel den rühmenden Ausspruch des dieser Göttin gleichfalls er-
gebenen Julianus (!) hervorrief, als seien es die Athener gewesen welche
den Dienst derselben nach Griechenland brachten. Als Tempel der phry-
gischen Göttin wird das Metroon ausdrücklich bezeugt (?), und je befremd-
licher dieses Zeugnifs für ein Gebäude uns ist, welches in Mitten des atheni-
schen Marktes dem Buleuterion eng verbunden die Staatsurkunden (?) Athens
an seinen Wänden enthielt, neben Tholos sowohl als Apollo-Patroos-Tem-
pel (*) den Heiligthümern des Staats angehörte und sein gefeiertes Götter-
bild von Phidias dem gröfsten Bildner Athens gefertigt erhielt, so sind die
späten Aussagen doch unverwerflich, nach denen ein phrygischer Priester,
von den Athenern verunglimpft und getödtet, von seiner Göttin aber gerächt,
einen ihrem Dienst günstigen delphischen Orakelspruch und demnach die
Gründung jenes athenischen Metroons veranlafste. Hierauf bezieht sich in
seiner Lobrede der Göttermutter Julian (°), hierauf die im Einzelnen mehr
oder weniger glaubhafte Erzählung der Lexikographen.
Mmm 2
460 GERHARD
Bei Suidas und Photius (%) wird nämlich erzählt, einer der Metra-
gyrten, der Bettelpriester jenes phrygischen Dienstes, habe die Einweihung
von Frauen zum Dienste der Göltermutter mit seinem Leben gebülst, näm-
lich durch gewaltsamen Herabsturz in den Erdschlund ohnweit der atheni-
schen Burg. Hierauf sei Pest entstanden und zu deren Tilgung vom delphi-
schen Orakel geboten worden den Mord zu sühnen. Weiter heifst es: „dels-
wegen nun ward das Rathsgebäude auf eben dem Fleck erbaut wo die Athe-
ner den Metragyrten getödtet hatten, und indem man dasselbe einhegte ward
es der Mutter der Götter geweiht, zugleich mit Aufstellung einer Statue des
Metragyrten”. Dafs das Metroon seitdem zum Staatsarchiv diene und dafs
der bekannte Erdschlund (BugaSgev) seitdem verschüttet sei, wird derselben
Notiz noch hinzugefügt ohne die mancherlei Dunkelheiten ihres Inhalts auf-
zuklären. Dunkel nämlich und weitern Aufschlusses bedürftig bleibt die
Einweihung der Frauen, obwohl sie im phrygischen Dienst (7) begreiflich
ist und zu Athen als Nachfälschung der Eleusinien verdächtig sein mochte (®)
— , dunkel die Einhegung des Buleuterion welche nicht anders erwähnt wird
als sei das Metroon eine zugleich der Göttermutter geweihte Umfriedung
des Rathsgebäudes gewesen—, dunkel endlich Zeit und Zusammenhang eines
Vorfalls der nicht blos der Religionsgeschichte Athens, sondern auch seinem
Staatsleben angehört. Dafs er nicht nach der Zeit des Perikles sich zugetra-
gen habe, geht aus des Phidias Erwähnung als Bildners der Göttermutter her-
vor; soll nun die Gründung des Metroon samt Erscheinung und Tödtung
des Metragyrten, ferner samt Pest und Sühnung, dem Phidias gleichzeitig
oder gar noch früher fallen? Phrygische Gebräuche, die einen altgläubigen
Athener schon zu des Perikles Zeit entsetzen mufsten, dürfen wir wenig-
stens nicht vor oder unmittelbar nach Ende des Perserkriegs (Ol. 77, 4) für
möglich erachten und es wäre demnach jene Zeitbestimmung in dem Zeit-
raum zu suchen der vom Ende des Perserkriegs bis zum Tode des Phidias
(O1. 87, 1) reicht. Von einer verheerenden Pest wird aus diesem mehr als
vierzigjährigen Zeitraum in unsern allerdings mangelhaften Nachrichten nichts
gemeldet, und an die grofse athenische von Ol. 87, 3 (a. Chr. 430) verbietet
nächst dem Stillschweigen der Historiker uns auch der Umstand zu denken
dafs Phidias bereits zwei Jahre vorher gestorben war. Nichtsdestoweniger
kann aus sonstigen Gründen doch eben nur jener Zeitpunkt der grofsen Pest
oder ein ihr nicht lange vorhergehender gemeint sein, für welchen die Notiz
Metroon und Göttermutter. 461
einer uns unbekannt gebliebenen ähnlichen Seuche ergänzt werden müfste.
Zu einer ähnlichen Zeitbestimmung berechtigt uns schon die überwiegende
Richtung der letzten perikleischen Zeit, in welcher Superstition und Frei-
geisterei, Elemente wie sie zur Einführung phrygischen Dienstes besonders
geeignet waren, in Aspasia’s Frauenverführung (°) und in der Weisheit des
Anaxagoras (‘) einen Anhalt fanden; woneben auch die Einführung des
Dienstes der Göttermutter in Theben, den Pindar vermuthlich gegen das
Ende seines Ol. 84, 4 beendeten Lebens verherrlichte (!!), auf Athen ein-
wirken konnte. Das Jahr von Aspasia’s Anklage, deren Gegenstand mit der
dem Metragyrten angeschuldigten Fraueneinweihung augenfällig überein-
stimmt, fällt mit des Phidias Todesjahr zusammen und geht dem Zeitpunkt
der grofsen Pest Ol. 87,3 nur um zwei Jahre voran. Während es demnach
am nächsten liegt, in der Erzählung des Suidas vom Metragyrten die einzige
auch sonst aus jener Zeit bekannte schwere Seuche gemeint zu glauben, tritt
bei näherer Erwägung das früher fallende Todesjahr des Phidias einer sol-
chen Zeitbestimmung auch nicht mehr entgegen, darum hauptsächlich weil die
Tempelstatue der Göttermutter bald des Phidias bald seines Schülers Ago-
rakritos Werk heifst ('?) und an des ersteren Todesjahr somit nicht gebun-
den ist; sondern es tritt vielmehr unsere Ansicht zu begünstigen auch der
Umstand hinzu, dafs der nicht weit vom Metroon gelegene Tempel des Apollo
Patroos gleichfalls in Folge der grofsen Pest gegründet oder erneut worden
war (!?).
Über die Einwanderung phrygischen Götterdienstes nach Athen und
zwar im blühendsten Zeitpunkt seiner Geschichte, im Zeitalter des Perikles,
kann nach diesem Allen kein Zweifel sein. Allerdings aber bleibt bei dem
engen Zusammenhang des Metroon mit den angesehensten Staatsgebäuden
und Heiligthümern, mit Buleuterion, Tholos und Apollo-Patroos-Tempel,
eine solche Einsetzung der phrygischen Göttin zur vornehmsten Göttin des
athenischen Staatslebens ohne erklärende Eigenthümlichkeiten ihres Wesens
und Dienstes nichtsdestoweniger uns unbegreiflch, dergestalt dafs statt aller
von der Athener Vielgötterei oder, wie Zoega (!*) gewollt, von Namen und
Bild der Thurmgöttin entlehnten Beschönigung vielmehr die Aufgabe uns
obliegt, jenes vielleicht nur scheinbare Phänomen hellenisirten Barbaren-
thums, nachdem es als Thatsache aufser Zweifel steht, nach Möglichkeit zu
erklären.
462 GERHARD
Aller Ausweg zu solcher Erklärung ist in der That auch nicht ver-
schlossen. Sollte aus vorperikleischer Zeit zu Athen eine Göttermutter der
Kekropiden nachweislich sein, wie eine eben so benannte Göttin der Tanta-
liden und Dardaniden aus dem Peloponnes ('°) und ein stattlicher Tempel
derselben dem Prytaneion benachbart aus Olympia ('%) uns bezeugt ist und
andere Dienste derselben bestehn mochten, aus denen mit dem arkadischen
Pan zugleich die Göttermutter nach Theben versetzt ward ('7), so wäre es
wohl zu begreifen, wie im Zeitalter lebhaften Verkehrs mit Asien der atti-
sche Nationalstolz die phrygische Göttermutter als eine der attischen Hei-
math nicht fremde, aber durch Zuthat ausländischen Dienstes in ihrer Würde
gesteigerte, anerkannt haben mag. Einzuräumen ist dafs die bisherige Mytho-
logie, bei einer nicht gar spärlichen Kenntnifs altattischer Heiligthümer, eine
altattische dem Hestiafeuer im Tholos ursprünglich verknüpfte Göttermutter
nicht kennt; zwei Göttinnen Alt-Athens dürfen jedoch als ihr ebenbürtig
bezeichnet werden, wir meinen die Erdmutter Ge und die mütterliche Burg-
göttin Pallas Athene.
Die Göttermutter der Tantaliden wird uns nicht näher bezeichnet,
darf aber unbedenklich der argivischen Hera der von Tantalos stammenden
Atriden gleichgesetzt werden, einer aus Homer hinlänglich bekannten Göt-
tin, um von Gebräuchen des spätern phrygischen Dienstes sie frei zu glau-
ben. Pausanias erwähnt jene Göttermutter als ältestes aller peloponnesischen
Idole derselben Göttin; da solcher sonst aus dem Peloponnes wenig oder
keine Erwähnung geschieht, so ist anzunehmen dafs er die Göttermutter mit
der dort mehrfach bezeugten kretisch -arkadischen Zeusmutter Rhea ('?)
oder auch mit der Mutter Erde gleich setzte. Den Dienst dieser letzteren
Göttin im spätern Griechenland wenig verbreitet zu glauben ist trotz der
Zeugnisse des Pausanias ('?) verzeihlich; ihn für weder ursprünglich noch
sehr alt zu halten (?°) ein um so gröfserer Irrthum. Heiligthümer der Gäa
sind nicht wenige uns ausdrücklich bezeugt; sie lassen durch andere sich
vermehren in denen, statt die Erdgöttin mit eigenstem Namen zu nennen,
eine Umschreibung desselben stattfand. Im dodonischen Orakel neben Zeus
genannt (2'), anderwärts als grofse Göttin (2?) bezeichnet, durch Orakel (°°),
Eide (2*) und blutgetränktes Priesterthum (?°) furchtbar, erscheint uns Gäa
als oberste Göttin des ältesten Griechenlands, deren Ansehn erst dann in
den Hintergrund trat, als ihre pelasgischen Verehrer durch hellenische Die-
Metroon und Göttermutter. 463
ner Demeter’s (?%) und hauptsächlich Apollo’s (?7) theils zu gemeinsamer
Geltung des alten und neuen Kultus theils zu alleiniger oder überwiegender
Herrschaft des letztern genöthigt wurden. Dafs so schlagender Züge unge-
achtet und trotz der mancherlei Kultusspuren, die aufser Dodona auch aus
Athen Sparta Delphi Olympia Bura Paträ und andern Orten (2°) erhalten
sind, die Verehrung der Gäa in unsern Zeugnissen verhältnifsmäfsig wenig
erwähnt wird, haben wir nicht sowohl der Geringfügigkeit ihres Dienstes
gemahlin
Rhea, deren bereits gedacht ward, auch andere Gottheiten ältesten Namens
als vielmehr dem Umstand beizumessen, dafs aufser der Kronos
und Dienstes ihr gleich sind und ihren Namen verdunkelt haben. Nicht nur
für Dia-Dione (°°), für llithyia und Theia, Themis und Artemis, Tyche
und Praxidike, Chryse und Basileia (°°), sondern auch für Demeter und
Kora, Aphrodite und Hestia, Hera und Athene läfst wenn wir nicht irren
diese Behauptung bis zu dem Grad sich durchführen, dafs wir in allen die-
sen Göttinnen nur wechselnde Namen und Auffassungen einer und dersel-
ben hellenisirten der Gäa gleichgeltenden Erd- und Schöpfungsgöttin zu
erkennen haben, und zwar einer Gäa die nicht nur als gährende Materie des
mit Uranos verbundenen Urstoffs, sondern mythisch als Kronosgemahlin,
ihrem Begriff nach als eine mit Zeus gemeinsam wirkende Muttergöttin der
olympischen Weltordnung, als eine dem Begriff der Urania (?!) entgegen-
stehende Gäa Olympia gefafst wird. Eben diese auch sonst mit Nachdruck
g einer
olympischen Göttin (°?) findet sich namentlich für Ilithyia und Aphrodite
gebrauchte und von der spätern Symbolik ausgebeutete Benennun
angewandt (°°), und ist der auf wahrscheinlicher Lesart des Pausanias be-
ruhenden Götterfortuna (°*) vergleichbar. In allen diesen Gottheiten ist der
Begriff einer den olympischen Mächten voranstehenden Weltordnung, einer
Schicksalsgöttin zu erkennen welcher wie bei Homer auch Zeus sich beugt
—, ein Begriff der vermittelst der mancherlei ihm entsprechenden Namen
und Darstellungen auch für die in unerklärter Allgemeinheit oft genannte
Göttermutter, durchaus unabhängig vom phrygischen Götterwesen einer nach-
folgenden Zeit, ein richtigeres Verständnifs uns hoffen läfst.
Treten wir jenen Göttergestalten, deren manigfache Namen und Bil-
dungen unsres Erachtens nur als hellenische Vervielfältigungen eines und
desselben weiblichen Götterwesens pelasgischer Urzeit zu betrachten sind,
im Einzelnen näher, so kann diese Ansicht zuvörderst für Hestia kaum einen
464 GERHARD
Widerspruch leiden —, eine Göttin deren nur selten zu menschlicher Form
gediehenes Wesen pelasgischer Namen - und Bildlosigkeit noch spät ent-
griechischer wie in römischer Auf-
fassung der Erde gleichgesetzt ward (°). In gleicher Geltung jedoch gibt
spricht und bei Erkundung desselben in
noch eine Reihe andrer Göttinnen durch jene naive Symbolik patriarchali-
scher Urzeit sich kund, die über den Götterscherzen Homers und über dem
Göttergepränge hellenischer Feste auch für den besonnenen Forscher allzu-
oft in den Hintergrund tritt. Eine delische Göttermutter in Ilithyia zu er-
kennen mag der Beiname Olympia, eine Erdgöttin in Themis und Artemis
wahrzunehmen die Kunde delphischer Erdorakel rechtfertigen; ungleich
einfacher aber ist es ähnliche Gleichsetzungen aufser der thronenden Stel-
lung der meisten jener Göttinnen auf ein Symbol zu begründen welches,
den Begriff der als Himmelsgemahlin gedachten Erde anschaulich zu ma-
chen, verständlicher, durchgreifender und älter als irgend ein anderes war.
Hestia, die im viereckten Heerd ihren Sitz und ihr Bild hat, führt als ande-
res und gleich altes Symbol auch die Rundung, die himmelsähnlich das
Heiligthum dieser Erdgöttin überwölbt (%): es ist die uralte Verbindung
von Gäa und Uranos dadurch angedeutet, und eben diese Verbindung ist
durch gleich einfache runde Himmelssymbole auch einer Reihe anderer
ansehnlicher Göttinnen beigelegt. Als solche Symbole betrachten wir das
im Polos wie Atlas ihn trug kugelförmig, oder, wie er den Schultern der
Göttin von Ephesos aufruht, scheibenförmig gebildete Himmelsrund (7).
In Scheibengestalt tragen auch sitzende Thonfiguren des griechischen Tem-
pelstyls, in denen zunächst sich Gäa vermuthen läfst, jene Andeutung des
Himmelsrundes als Kopfschmuck, und wie mit demselben nur zierlich ver-
jüngten Kopfschmuck die Götterkönigin Hera verziert zu sein pflegt (°®),
dient jene ältere dem Namen Polos entsprechende Bildung desselben, in Pal-
las Tyche und Aphrodite (°°), so oft sie damit geschmückt sind, Himmels-
göttinnen, der Uranosgemahlin Gäa gleichgeltend, nachzuweisen.
Bedeutung und üblichste Form solchen symbolischen Stirnschmucks
sind der Kunstmythologie zwar nicht unbekannt; der Umfang jedoch, in
welchem die darin gegebene Andeutung des Himmelsrunds, mit der Idee
besonderer Götterkräfte verknüpft, auch andre gleich einfache Attribute
hervorrief, ist weiterer Erwägung bedürftig. Dasselbe Rund nämlich, wel-
ches, in Polos sowohl und Stephane als auch in der Wölbung des Vestatem-
Metroon und Göttermutter. 465
pels unverkennbar den Himmel andeutet, ist bei kaum veränderter runder
Form, aber mit Nebenbedeutungen ausgestattet, auch im runden Frucht-
mals Demeter’s, in Thurmkrone und Tympanum der idäischen Göttin,
im Helm Schild und Spiegel, Athenens Hera’s und Aphroditens, end-
lich im Ball zu erkennen, der in der Erdgöttin Hand bald als Mohn und
vielkörniger Apfel bald auch als Himmelskugel erscheint (*%). Während
allen diesen Göttersymbolen die Idee des Himmelsrundes zu Grunde liegt,
haben ihrer manigfaltigen Rundung auch die verwandten physischen oder
ethischen Bezüge von Mond und Erde, von Fruchtbarkeit, Herschaft, Sieges-
gewalt und Todesschlaf sich bedeutsam verknüpft. Gebräuche wie die des
Schildschwingens und Schild - oder Beckenschlagens, der befruchtenden
Geifselung des Erdbodens entsprechend, und andere mehr (*!), halfen den
durch solche Symbolik herangezognen Begriff des geheiligten Himmels-
gewölbes noch mehr anzunähern und können nicht umhin den Gedanken
uns aufzudrängen, dafs in den Zeiten pelasgischer Göttersteine und dädali-
scher Götterbilder die ganze hellenische Götterbildung und Mythologie noch
unentwickelt im Schofs der Göltermutter verborgen lag, deren durchgängi-
ges Symbol ein irgendwie angedeutetes Himmelsrund war. In solchem Sinne
des Himmelsrunds erscheint Hera mit der Stephane geschmückt und wird
durch Schildfeste gefeiert, mit rundem Helme und rundem Schild ist auch
Pallas versehen und hat ganz ähnliche Schildfeste aufzuweisen, und eben-
so häufen auf Aphrodite sich mehrere Attribute derselben Form, wenn an-
ders ihr Schild auch im Bild der Schildkröte und als runder Spiegel ihr
beigeht —, Parallelen welche, zu voller Bestätigung der ursprünglichen Ein-
heit jener Göttinnen, auch im Gebiete der Thiersymbolik sich fortsetzen
lassen (*?). Mancher kunstreicheren Bildungen zu geschweigen, in denen für
jene drei Göttinnen die Spur ihrer ältesten Geltung als Göttermutter er-
halten ist, haben wir nächst jenem Schildsymbol hauptsächlich den ihnen
gleichfalls gemeinsamen Apfel ins Auge fassen, mit welchem Paris die idäi-
sche Aphrodite vor der attisch-böotischen Pallas und vor der argivisch-achäi-
schen Hera bevorzugt (*?). Wie aber allen drei streitenden Göttinnen jenes
oft milsverstandnen berühmten Mythos, der die Verbreitung der Götter-
mutter in drei verschiedenen Formen und Völkerstämmen klar und anmuthig
ausspricht, der kosmische Ball oder Apfel zusteht, kommt eben jenes Sym-
bol auch in seiner kernreichsten Form, als Granatapfel nämlich, ihnen zu
Philos.- histor. Kl. 1849. Nnn
466 GERHARD
und bildet als solcher den Mittelpunkt cerealischer und phrygisch - metroi-
scher Sagen (**). Dem eleusinischen Dienst ist die himmelsähnliche Run-
dung, nächst dem Kalathos auf Demeter’s Haupt, auch in seinen Tempel-
s nach
ie)
oben, war das Eleusinion gleichfalls nach oben, zur Andeutung der Unterwelt
anlagen eingedrückt: wie der Vestatempel zur Himmelsbezeichnun
aber gleich dem italischen Mundus auch nach unten geöffnet (*).
Weiter ausgeführt wird diese Symbolik des Weltrunds durch den
Doppelbezug, den die kosmische Scheibe erst und hauptsächlich als Him-
melsgewölbe, dann aber auch als Vollmond hervorrief. Beides verbunden
tritt in den bereits berührten attischen Thonfiguren einer sitzenden Göt-
tin uns vor Augen, die am Haupte mit dem Polos, auf der Brust mit der lu-
narischen Scheibe des Gorgonengesichts geschmückt ist (*%). Während dies
letztere, ohne Zweifel wol erst allmählich hinzugetretene, Symbol für jene
Idole zuerst den Gedanken an Pallas erweckt, durften sie vermöge des Po-
los und ihrer sitzenden Stellung der Erdgöttin zugesprochen werden; die
Benennung erst einer Gäa Olympia, dann einer Athene Polias trat zwi-
schen beide Deutungen vermittelnd ein, vollständig aber findet das Räthsel
jener merkwürdigen Idole, deren besondere Heiligkeit in der Gräbersitte
Athens vollgültig bezeugt ist, seine Lösung erst in der Gemeinschaft des
Athenabegriffs mit dem einer Göttin Erde und Göttermutter. Nachdem wir
den Fäden gefolgt sind, durch welche ein solches Urwesen vorhellenischer
Mythologie auf alle Göttinnen des spätern Griechenlands überging und na-
mentlich auch der Athenabegriff vom Typus der ältesten Göttermutter un-
zertrennlich erscheint, wird die nur allzu unsicher bezeugte Sage anziehen-
der, nach welcher des Tantalos Sohn Broteas, den wir als Diener der Göt-
termutter im Peloponnes kennen lernten, als Kind von Hephästos und Pal-
las dem attischen Erichthonios gleichgestellt wird (#). Ein andrer, für die
älteste Erdgöttin sagenhaft aus Delphi bezeugter und auch Diensten der Hera
und Aphrodite nachweislicher Zug, die Hintansetzung nämlich der nie auf-
gegebenen ältesten Gottheit hinter den neu und lebenskräftig erblühten
Apollodienst, findet sich wiederum hauptsächlich für Pallas Athene, und
zwar in überraschendster Ähnlichkeit mit der ältesten Göttermutter vor:
theils im uralten und wie im Vestadienst durch symbolischen Rundbau ge-
feierten Dienst der Athene Pronoia zu Delphi, theils in Milet durch die
alterthümliche Statuenreihe sitzender Göttlinnen welche, den attischen Thon-
Aletroon und Göttiermutter. 467
figuren der Polias ganz ähnlich, zum apollinischen Didymäon führten, theils
zu Athen in der Stammmutter Alhene Archegetis sagenhafter Verwandtschaft
mit ebendemselben attisch - ionischen Stammgott Apollo Patroos dessen
mit Hephästos vermählte Mutter sie hiefs (*°). Wenn nun eben diese my-
thisch bezeugte und durch die Abkunft des attischen Ahnherrn Erichthonios,
verhüllt aber nicht unverständlich, bestätigte Mutterschaft der attischen Burg-
göttin, zusammengehalten mit dem eleischen Götterdienst einer Mutter
Athene (*), ihre Übereinstimmung mit der ältesten Göttermutter einleuchtend
macht, so dürfte der Beweis für geliefert gelten, laut welchem das atheni-
sche Metroon, vermuthlich Jahrhunderte früher als an asiatisches Priester-
wesen in Athen sich denken liefs, einer ursprünglich gewifs nicht phrygischen
Göttermutter, sondern derselben mütterlich waltenden Stadt- und Burg-
götlin geweiht war, der vorzugsweise auch aller sonstiger Götterdienst des
frommen Athens galt.
Im Bilde des Phidias, welches allen folgenden Statuen der phrygi-
schen Göttermutter zum Vorbild gedient haben mag (°°), finden wir die vom
Polos bedeckten vorgedachten Thonbilder im Wesentlichen, nur mit dem
Unterschied wieder dals jenes der Polias als Kopfschmuck zugetheilte Him-
melssymbol im Bilde der Göttermutter zum Tympanum, auf das sich ihr
Arm stützt, geworden war: zum Tympanum, welches meist nur aus orgia-
stischem Paukenschlag bekannte Symbol keinesweges für asiatisch zu gelten
braucht, wenn man nur etwa die ähnlich geformten prophetischen Becken
Dodona’s damit vergleichen will (°'). Wie der Göttermutter und jener
Athena Bildung, erscheint auch ihr beiderseitiger Begriff in der That ver-
wandt, sofern man nur nicht blofs der wehrhaften und jungfräulichen Par-
thenos, sondern der schöpferisch und mütterlich zugleich gedachten Polias
des seit kekropischer Zeit bestehenden Dienstes gedenkt. Das Zwitterwesen
dieses Doppelbegriffs von Mutter und Jungfrau (°?) hat Athene mit an-
dern Naturgotiheiten des griechischen Alterthums, mit Hera, Artemis, Aphro-
dite” und hauptsächlich mit Kora ” gemein; wie durchgreifend es war, be-
weisen theils die für Pallas wie für Demeter und Hera bezeugten Verjün-
gungsbäder ®, mit denen die An - und Umkleidungsgebräuche des Peplos ®
verbunden waren, theils auch die Doppeltempel und Doppelbildungen dieser
Göttin, von denen die der athenischen Polias und Parthenos allbekannt
sind ®. Agrarische Feste derselben als Mutter Erde gefafsten Athene, im
Non 2
468 GERHARD
Priesternamen der Butaden und Buzygen allverständlich (°), bestätigen die
Mütterlichkeit der kekropischen Burggöltin, dergestalt dafs, auch ohne son-
stige Begründung dieses Begriffs, die Möglichkeit das Metroon beim Tholos-
gebäude ihr zuzusprechen unbestreitbar sein würde. Eben diese Möglichkeit
aus der Nachbarschaft beider Gebäude uns annehmlich zu machen kommt
die aus Troas und Rom bekannte Verbindung des Vesta- und Pallasdien-
stes (°*) uns zu statten, und neue Bestätigungen werden aus dem gemein-
samen Verhältnifs der Göttermutter sowohl als Pallas Athenens zu andern
Gottheiten sich ergeben.
Wenn Metroon und Buleuterion eng verbundne Gebäude waren und
die Göttermutter des Metroon nach allem Vorherigen mit der anderweitig
bekannten Markt- und Rathsgöttin Athene Agoraia und Bulaia (°°) zusam-
menfällt, so wird es uns wichtig dafs als Gottheit des Buleuterion ein als
hölzernes Schnitzbild alterihümlich zu denkendes Idol des Zeus Bulaios (°°)
angeführt wird, und wenn somit dieser Zeus von der als Göttin des Metroon
vorausgesetzten Athene nicht wohl sich trennen läfst, so drängt zunächst
sich die Frage auf, ob eine solche Verbindung mit der Grundansicht einer
ursprünglichen weiblichen Göttereinheit, für Athene sowohl als auch für die
Göttermutter, verträglich sei. Obenbin angesehn ist ein solches Verhältnifs
der Göttermutter zum Zeus kaum zu erwarten. Es hat vielmehr allen
Anschein dafs jene altgriechischen Dienste derselben, die hauptsächlich aus
Kleinasien uns bezeugt und an die Stammnamen des Dardanos wie des Tan-
talos geknüpft sind, unberührt von dem Zeusdienst bestanden, welcher aus
altgefeierten Kulten Dodona’s, Kreta’s, Olympia’s, Arkadiens, Roms in selb-
ständiger Würde uns bekannt ist. Bei näherer Erwägung ist jedoch nicht zu
verkennen, dafs alle jene Kulte, selbst den dodonischen nicht ausgenom-
men, den Zeus von mütterlicher Pflege umgeben wissen, deren Erfüllung
durch Nymphen im dodonischen und manchem andern Dienst (°7) den Glau-
ben an eine unnennbare und unsichtbare mütterliche Urgottheit eher bestä-
tigt als aufhebt. Dafs aus der Zeit des entwickelten Hellenismus der dodo-
nische Zeus uns in voller Männlichkeit, Dione die erst allmählich ihm bei-
gesellt worden sein soll als seine Beisitzerin bezeugt ist (°°), kann unsre Vor-
stellung über die ursprüngliche Natur eines Dienstes nicht bedingen, in wel-
chem die pelasgische Urzeit, ihrer namen - und bildlosen Götterverehrung
8
gemäfs, nicht sowohl einer persönlichen Gottheit als vielmehr dem Natur-
Metroon und Götlermutter. 469
geist in rauschender Eiche und den Waldnymphen huldigte, in deren Um-
gebung und Pflege das Walten jenes geheimnifsvollen Geistes gedieh; ist
aber dies die ursprüngliche Vorstellung des dodonischen Dienstes, so ist sie
auch dem altitalischen durchaus entsprechend, in welchem aufser dem herr-
schenden Zeus auch das noch unerwachsene Zeuskind zugleich mit den Müt-
tern verehrt ward, denen er in Gebirg seine Geburt und Pflege verdankte (°°).
Diese Mütter, in deren sichtbarer Mehrzahl von Nymphen einer der Über-
gänge aus der unsichtbaren Gölttereinheit in die vielfältigen Bildungen des
Polytheismus auch sonst sich kund gibt, verhalten sich zu Rhea oder den
sonstigen Formen der Göttermutter nicht anders als die gebärenden Ilithyien
Homers zur grofsen Geburtsgöttin Dlithyia, deren Höhlendienst aus dem Ge-
burts- und Vermählungsorte des kretischen Zeus, aus Knossos (6°), eben-
falls auf den Grund homerischen Zeugnisses, eine Welt - und Göttermutter
älter und gröfser als Zeus uns andeutet. Auch die homerische Abhängigkeit
des sichtbaren Machthabers Zeus von einer gleich den verhüllten Gotthei-
ten Etruriens unpersönlichen und unsichtbaren Göttin des ewigen Schick-
sals, darf nach allem Vorherigen zum gültigsten Zeugnifs für die Vereh-
rung einer aus vorhellenischer Urzeit bewahrten Göttermutter über und ne-
ben dem ihr irgendwie entstammten Zeus (°') uns gereichen. Ist aber die
attische Göttermutter nur ein gleichgeltender Ausdruck der Mutter Athene,
so kommt dieser letzteren auch als untergeordnet der zum Metroon gehörige
Zeusdienst des Buleuterions zu. Näheres über diesen Zeusdienst wird, au-
{ser der Erwähnung seines Schnitzbildes, uns nicht überliefert; da aber aus
gleicher Nähe des Metroons und Tholos noch andre mit uralten Zeusbegrif-
fen, namentlich des schlangengestalten Ktesios, verknüpfte Wesen sich fin-
den, wohin theils die Spur eines Ortsdrachen beim Agathe -Tyche - Tempel
theils selbst der Apollo-Patroos- Tempel sich rechnen läfst (°*), so haben
wir, um auch diesen mit dem Metroon und seiner Göttin verknüpften Götter-
wesen ihr Recht widerfahren zu lassen, dem Entwicklungsgang weiter nach-
zuspüren, in welchem die Eine und kaum gestaltete Göttin der Urzeit den
Göttergestalten des Polytheismus allmählich sich annäherte und vermischte.
Zu solchem Behuf kehren wir von der bis hieher verfolgten Mutter
Athena noch einmal zu der ihr gleichgeltenden Göttermutter der Urzeit
zurück. Ohnehin darf der Begriff eines solchen weiblich gedachten Ur-
wesens, dessen Idee ohne Eigennamen und lange Zeit ohne Bild den Glau-
470 GERHARD
ben des ältesten Griechenlands erfüllte und in geheimnifsvoller Weise, von
Nymphen vermittelt, den Zeus der bestehenden Weltordnung erst ans Licht
rief, nur dann für vollständig erwiesen gelten, wenn aus verwandten Um-
ständen und Untersuchungen auch die Momente des Fortschrittes sich erge-
ben, durch welche die Göttermutter pelasgischer Urzeit, die aller griechi-
schen Kulte Anfang und Mittelpunkt war, in Wechselwirkung mit dem er-
wachenden Lebens - und Bildungskeim des zu Person und Plastik vordrin-
genden Hellenismus, allmählich den Zeus und die angesehensten Götter hel-
lenischer Stämme um sich versammelte und der homerischen Götterwelt
Bahn brach. Menschliche Bildungen, wie die des später in edelster Mensch-
lichkeit allbekannten Zeus, sind in und bei jener Göttermutter der namen-
und bildlosen Urzeit ursprünglich nicht vorauszusetzen; soll aber die Reli-
gionsforschung der alten Welt hinter der geschichtlichen Erkenntnifs ihrer
Völkerstämme nicht völlig zurückstehn, so müssen Mittelglieder sich finden
lassen, die Kluft auszufüllen, die zwischen jenen unsichtbaren Götterwesen
des von Herodot uns bezeugten Pelasgerthums und zwischen den fleischlich
gedachten homerischen und hesiodischen Göltern (°°) obwaltet. Es begin-
nen aber im ursprünglich bildlosen Götterwesen pelasgischer Urzeit die Grup-
pirungen der irgendwie—als Stein oder Baum, Stamm oder Bret, Heerd oder
Sitzbild—zu denkenden (°*) Göttermutter bald mit dem vieldeutigen Beiwerk
doppelter Göttersteine (°), welches zu Molioniden und Dioskuren gediehen
das dualistische Zahlenverhältnifs streitender oder verbündeter Kräfte des
kosmischen Lebens ausspricht, theils mit zwei andern und selbstverständ-
lichen Symbolen weiblicher sowohl als auch männlicher Schöpfungskraft,
Schlange und Phallus (6°), welche wir um die in Heerd und Altar oder sonst
angedeutete Göttermutter geschaart uns zu denken haben. Von überwie-
gendster Anwendung ist zur Seite der Göttermutter das Schlangensymbol®:
es findet sich fast allen den Göttinnen beigesellt die wir als örtlich wech-
selnde Ausdrücke jener ursprünglichen Göttereinheit erkannten, namentlich
der thessalischen und italischen Here, der kekropischen Pallas, der eleusini-
schen Demeter, während andre entsprechende Göttinnen, wie Axiokersa-Per-
sephone, wie Hestia und Aphrodite, das nordgriechische Phallussymbol
mehr oder weniger unverhüllt bei sich hegen, und wieder andre vielleicht
mit beiden Symbolen gleicherweise betheiligt sich finden %. Der letztere Fall
tritt bei Demeter und Pallas ein, aber nur dergestalt dafs durch die begin-
Metroon und Götlermutter. 474
nende Verknüpfung verschiedner Kulte der cerealischen Schlangeneista die
bacchische Schwinge mit dem Phallus, dem Sitzbilde der Pallas ein ithyphal-
lischer Hermes ®, jenes von Thrakern, dieses von tyrrhenischen Pelasgern,
hinzufügt war: einer durch gegenseitigen Austausch von Götterbildern er-
folgten Stammverbindung gemäls, die auch im Verein der samothrakischen
Axiokersa mit dem tyrrhenischen Phallusgott Hermes aus Münzbildern ihre
Bestätigung findet. Wie jener Hermes aus den mit Phallus und Kopf be-
zeichneten Pfeilern erwachsen war, geben die Übergänge vom Schlangen-
dämon zur Menschengestalt noch handgreiflicher selbst in Sagen sich kund,
die in geheimnifsvollen Errettern des Städtewohls Zwitterwesen von thieri-
scher sowohl als menschlicher Bildung erkannten. Wie der phallische Pfeiler
zum Hermes, zu Telesphoros und wahrscheinlich auch zum Apollo Patroos,
gedieh die Schlange zum Knaben Sosipolis und zum Erretter Zeus Soter (°7).
eing aus dem Heerd und Heerdfeuer die Heerd- und
ging
Feuergöttin Hestia hervor und auch aus sonstigen Göttersteinen und Götter-
In ähnlichem Übergang
pfählen mögen, wie aus den gedachten zwei Lebenssymbolen, die Anfänge
menschenähnlicher Götterbildung allmählich erwachsen sein: namentlich ist
zu Dodona, von wo aus des Zeusbilds erst spät Erwähnung geschieht, der
Stamm der Eiche als das ursprüngliche Göttersymbol, wir denken als das
einer unsichtbaren Göttermutter und der sie vertretenden Nymphen anzu-
sehn, bevor aus dem Stamme Person und Bild eines Zeus hervorging und
nächstdem Dione, der samischen und kithäronischen Bret- und Stammgöttin
Hera vergleichbar, dessen Beisitzerin wurde (%°). Aus so einfach verständ-
lichen Andeutungen der Einen und ewig weiblichen Götterkraft ging die
Persönlichkeit sowohl als die Vielheit der griechischen Götterwesen im
Durchbruch des dem Pelasgerthum entwachsenen hellenischen Lebens her-
vor, und gleichzeitig mag in der Sonderung hellenischer Stämme jene Ver-
schiedenheit mannhafter oder zärtlicher Religionsansicht sich gebildet ha-
ben, laut welcher die asiatischen oder mit Asien verbundenen Griechen eine
dardanische Göttermutter, die übrigen bis in den italischen Westen hinüber
einen Zeus gleich dem dodonischen, obwohl nicht ohne weibliche Urkraft,
verehrten (°°). Mit dem Wechselspiel dieser zwiefachen Geschlechtsauffas-
sung beginnt die hellenische Mythologie. Während im Idagebirg, wo asia-
tische und nordgriechische Religionselemente sich kreuzten und Aphrodite
den Asiaten, Here und Pallas den europäischen Griechen verblieb, die idäi-
472 GERHARD
sche Göttermutter den mit ihr zugleich verehrten Zeus an Götterglanz über-
wog, erschien der dodonische Göttervater in ähnlicher Gleichsetzung und
Bevorzugung als Gatte Dione’s und, wie aus Homer uns bekannt ist, als Va-
ter der idäischen Aphrodite, worauf denn schon künstlicher im Mittelpunkt
griechischer Schiffahrt des Mittelmeers, in dem dardanischen Samothrake,
zu der mit dem phallischen Hermes tyrrhenischer Pelasger bereits verknüpf-
ten dardanischen Urgöttin ein dodonisches Götterpaar sich gesellte (7%):
dieses in ganz ähnlicher Weise wie auch das kapitolinische Götterpaar mit
Juventas und Terminus — Schlange und Phallus — eine Vierzahl italischen
Götterwesens uns kundgibt (?').
Denselben Entwickelungsgang ältester Religionselemente bis in den
Götterhimmel Homers und in die Sagenfülle des Epos hinein zu verfolgen,
sind zwei leitende Ideen hauptsächlich an ihrer Stelle. Eine derselben ward
oben bereits erwähnt: es ist die Idee eines lebenskräftigen Göttervaters, die
im Vordergrund von Homers unsichtbarer Schicksalsgöttin aus dem zur Göt-
termutter gesellten Symbol der Zeugung entstanden sein mag. Eine andere
hat) (aller Wahrscheinlichkeit nach vom Sinnbild geheimer Begattung, der
Schlange, ausgehend) den Lebenskeim der im Ehebund beider Geschlechter
liegt, zur Hochzeit von Zeus und Hera, zum Frühlingsbrautfest von Himmel
und Erde als Anfang des Göttergeschlechts ausgesponnen, welches von Zeus
erzeugt die Zügel des Erdengeschickes in Händen hat —, eine Sage welche
bei erster Hellenisirung des pelasgischen Nordens über Argos und Kreta,
Böotien und Euböa wie über andere Ursitze hellenischen Sagengebildes
sich ausgofs und andre dem Kreislauf des Jahres in ähnlicher Weise ent-
sprechende Sagen, namentlich Entführungs - Verjüngungs- und Kleidungs-
feste, unwillkürlich sich nachzog (??). Seit dieser Zeit tritt das dodonische
Götterpaar in wechselnden Gegensatz zu den von der dardanischen Götter-
mutter abhängigen Kulten, und alle seitdem entstandenen Kultusformen
griechischer Städte sind aus jenen beiden Grundformen oder aus deren
Schöfslingen zusammengesetzt. Der lebendige Entwickelungstrieb helleni-
o von Zeus und Hera und ähnlicher
ö
durch Geschlechtswechsel belebter lebensvoller Persönlichkeiten hin, wie
scher Dichtung drängt nach Anerkennun
solche in den sechs üblichsten Götterpaaren mit Zuziehung der verschiede-
nen Stammgottheiten — Poseidon Hephästos Ares Apollo Hermes und ihrer
Beisitzerinnen — den homerischen Götterstaat und das System der XII Göt-
Metroon und Göttermulter. 473
ter bildete (73); der Kultus dagegen hielt an Verehrung der Göttermutter
fest, und die aus politischem Anlafs eingewanderten Gottheiten wurden zu
festerem Verband und gröfserer Anerkennung an jene älteste und erhabenste
Göttin geknüpft, deren in alle gefeiertsten Götlinnen Griechenlands ausströ-
mendes Wesen bemerktermalsen auch dem Minervenbegriffe durchaus ver-
wandt ist.
In Sinn und Erscheinung einer solchen Göttermutter, deren namen-
und bildlos in der Idee überschwenglicher Schöpfungsmacht verehrte Ein-
heit erst im Lauf der Jahrhunderte und in der geschichtlichen Sonderung
hellenischer Stämme zur Herrscherin Hera, Liebesbeglückerin Aphrodite,
Kämpferin oder Werkmeisterin Pallas Athene ausgeprägt ward, findet denn
auch für das athenische Metroon sich das Räthsel gelöst, wie ein altattischer
Dienst der mütterlich und als Rathsgöttin wohlbekannten Athene, selbst in
Begleitung von Zeus und Apollo, in einen mit phrygischem Brauch mehr
oder weniger versetzten der Göttermutter sich verwandeln konnte. Mög-
lich ward dies bei der so unbestimmten als alterthümlichen Heiligkeit, durch
welche der Name der Göttermutter, wie im Peloponnes so gewils auch zu
Athen, einer ausgesprochnen Gleichsetzung mit der ihr ursprünglich iden-
tischen Burggöttin zwar allmählich entrückt, übrigens aber ehrwürdig genug
geblieben war, um auf den Grund gesteigerten Glanzes selbst ausländische
Formen ihrer Verehrung dem athenischen Volk und dem Orakel zu Delphi
genehm zu machen. Bewufste Hintansetzung des attischen Götterdienstes
gegen eine rein ausländische Gottheit ist dabei gewils nicht anzunehmen,
obwohl eine gewisse Geneigtheit des siegesstolzen Athens bald nach den
Perserkriegen vorausgesetzt werden darf, den überwundenen Barbaren auch
die ausschliefsliche Gunst ıhrer Gottheiten zu entreifsen, in ähnlicher Weise
wie wir auch sonst das klassische Alterthum, vom troischen bis zum römi-
schen Sagenkreis (’*), mit solcher Ansprache an fremder Götter Gunst bis
zu deren gastlicher Einführung in die Heimath mehrfach betheiligt wissen.
Anmuthungen schuldiger Sühnung können mitgewirkt haben, wie denn ein
Hauptanlafs der Perserkriege, der Brand des Kybele-Tempels zu Sardes (7°),
solche Pflicht den Athenern für lange Zeit auflegen konnte; aber auch ohne
solchen besonderen Anlafs sind zur Erklärung jenes seltsamen Ereignisses
Gründe genug vorhanden, unter denen der Grund einer innerlichen Ver-
wandtschaft des beiderseitigen Götterdienstes stets der nachhaltigste bleibt.
Philos.- histor. Kl. 1849. Ooo
ATA GERHARD
Auf ähnlichen Grund gemeinsamen asiatischen und hellenischen Götterwe-
sens wurden zu Delos von des Darius Feldherrn die beiden Lichtgötter ver-
ehrt (76), und es fand sich Xerxes bewogen der Athene von Ilion tausend
Rinder zu opfern (77), als sei die Burggöttin Ilions und Athens der Licht-
und Feuergottheit seines heimathlichen Dienstes gleichgeltend; wie vielmehr
konnte Athen in die Verehrung jener idäischen Mutter willigen, die mit der
Urgottheit Griechenlands, mit der von uns nachgewiesenen Göttermutter
der Tantaliden, Kadmeer und Kekropiden, erwiesenermafsen dieselbe war!
Weiter blickend könnte es vielleicht uns gelingen aus ähnlichen An-
lässen alten Minervendienstes die der Zeit nach nicht sehr entfernte Einfüh-
rung phrygischen Dienstes in Rom aus ähnlichem Grund zu erklären wie
die ins athenische Metroon; aber wir beschränken uns hier um so lieber
auf dieses, je mehr wir schliefslich verhoffen dürfen den dargelegten Ent-
wickelungsgang griechischer Religionselemente auch noch im geschichtlichen
Gegensatz kekropischer und theseischer Heiligthümer zu bewäh-
ren. Wie in späterer Zeit des Hadrianus Stadtviertel von der theseischen
Stadt (7%), war diese von Bau und Anlage der Burg des Kekrops geschie-
den; wie in jenem das Olympieion (?*), waren Metroon und Tholos die hei-
ligen Mittelpunkte der theseischen Agora, Poliastempel und Erechtheion
die ewigen Heiligthümer der kekropischen Burg. Alle religiöse Gründung
geht von Heerd und Altar, von dem Götterstein aus, der in pelasgischer
Zeit zugleich Götterbild ist und die Symbole des physischen Lebens, Phal-
lus und Schlange, um sich versammelt: eben nur dieses Grundelement alles
griechischen Götterwesens findet, wie auf der Akropolis so auch auf der
athenischen Agora in entsprechenden Formen sich dargelegt. Das unaus-
löschliche Feuer ihres Götterheerdes hatten auf der Akropolis die kekropi-
schen Autochthonen der thronenden Polias zu Ehren gegründet, die heilige
Schlange die ihr als Tempelhüter genährt ward gelangte zur mystischen
Geltung des Erichthonios und Poseidon Erechtheus; aber auch die phalli-
sche Kraft die neben der Göttermutter nicht fehlen durfte war im kekropi-
schen Hephästos, nebenher durch tyrrhenisch-pelasgischen Zusatz auch im
phallischen Hermes dargestellt. Als aber durch Theseus die untere Stadt
erweitert und statt der Hephästosfeste ein allen Demen gemeinschaftliches
Athenafest gefeiert wurde (°°), bedurfte der neue Stadttheil auch neuer,
dem ursprünglichen Kultus Athens und seiner Burggöttin entsprechender,
Metroon und Göttermuiter. 475
Heiligihümer. Das heilige Feuer fand nun auch in Mitten des Marktes einen
neuen erweiterten Staatsheerd, der schlangengestalte Burghüter und der
ihm entsprechende Poseidon Erechtheus fanden ihr Gegenbild im Zeus Bu-
laios und im Auiuwv @yaSes des Agathe-Tyche-Tempels, die phallische
Kraft des Hephästos und Hermes ihre entsprechende Darstellung theils im
Hephästostempel, theils in dem des Apollo Patroos: zu genügendem Beweis,
dafs die Muttergöttin, die neben diesem letztern ihr stattliches Heiligthum
hatte, dafs die im Metroon verehrte und von uns hiemit gedeutete Göttin
keine phrygische Göttermutter, sondern wiederum, aber als Mutter gedacht,
nur die athenische Stammmutter und Burggöttin war.
Anmerkungen.
(') Julianus Orat. V. (anfangs): ”Apa ye xpn davar xal Um: rovrwv . „nal ra dvex-
Aukyra Exhahyrouev; is uiv 6 "Arrıs yra ToaAdos, ris de j rwv Bewv myrnp, xal 6 Tas
oryvelag TaUTyC, Tpomos Ömolog; xml mpagerı TOD yapıy obrwar TuoÜros yuw EE dpxis Maredeiyhn,
mapadoßeis yuiv Umo ruv apyamrarwv beuyuv, mapudeydeis dE mpwrov bh’ "Ehkyvwv al Tovruv av
ruxdvrum, dhh Adyvalwv, Zpyas ddayderrw ürı un nahus Erwdasav Em ru rekoüvrı ro dp-
in vus Myrpos; Aeyovraı yap... (Anm. 5).
(2) Pollux II, 11. Myrpwov ’Adyuncı ro rAs Bpuylas Beoü iepov. Matris
magnae delubrum heilst es bei Plinius (Anm. 12).
» ’
(°) Phot. v. Murpwev: 70 iepov rys Murpas ruv dewv, Ev u yV Ypampara Öyudcın
xal oi vomoı. Harpocr. v. Myrgwev (aus Lykurg, vgl. Phot.): raus vououc &Bevro dvaypanbavres
&v ru Myreww.. Vgl. Athen. V, 14. IX, 17. Liban. III, 16. Diog. L. X, 16. Leake Topogr.
S. 96. Böckh Staatshaush. I, 435. Unten Anm. 6.
(*) Umgebung des Metroon: Zwölfgötterhalle, Apollo Patroos, Buleuterion und
Tholos. Paus. I, 3, 2ff. Zroa..wxodounre ypabas Exovsa Beous dwdexa nahoumevoug...
22. Tas ypabas Evbpavump Eypanlev ’Adyvaiıs nal mÄyaov Emoisev &v rw van rov "Amok-
»wva Iarpwov Emixinew (Anm. 13). ....Qixodoumrar ö8 nal Muyrpos Bewv iepev, Mu
Beidiag elpydsaro, nal mÄyaiov rwv mevraxsaluv xaheumevu BouAevrnpıov, ci Boukevouew
evinurov "Abywaloıs. BovAnlov de &v aurW xeiraı Eoavov Ards (Anm. 56) xal "Arokluv..
nal Afuos...— Folgt (5, 1): rau BovAeurupiov rwv mevraxociwv mAnelov Odkog Eori nalov-
eva xul voucw Evradda ol TpuToveig. Über ein gleichfalls benachbartes Heiligthum der
’Ayady Tuxa vgl. Anm. 62.
O002
476 GERHARD
. x 52 m ’ \
5) Julianus oratt. V. (Anm. 1): Aeyavraı yap ovror (ol "Adyvalsı) mepußaisaı zul ame-
| i
4 \ 4 € x n n ’ G € m; . 0 \ n q [3
Adaaı rov Tarkov, ws ra dein xuworomsdvra‘ ou Euvevres omamv rı rüs Bea) To yozua, ul WG
(4 ’ 3 m ‚ \ Mt; 4 \ ’ ” - \ 3 n m n rl ’
y map’ ayrois Tımwpeım Ay nal 'Pea al Ayunryp. eira mis 70 Evrendev Ton dee), xal Bepa-
a d . c N ’ m m - „N 12 En = x r ” & m ’E © En 8 n II 6 r
meia Tys Mmvdos" 7 Yap Ev ması rols nahoız nysuwv yevomevy raus ElAysı, 4 rovV Ilvdiov mpo-
R: = \ a n r 3,4 e aaa 2%, TS N , \
mavrıs Beon, rAs Murpos rwv Hewv min enelevoev Ihasxerdar" zu avesıy, bacı, Em Tourw TO
22 n ’ 14 B \ m \ \ 1.29.
Myrpwov, 09 rais "Adywalsıs Öymong mavra Eduhdrsero Ta Ypapmareia. mera dy vous Ekkyvas
aura "Pwmalcı mapsedsgavro....
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(°) Suidas und Photius v. Myrpayvprns. ’EMduw rıs eis ryv "Arrıwyv Emvei Tag
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yuvalxas r% Myrpl ruv Bewv, wg Exewor baniv- oi dr "Adyvalaı amexrewav airdv Eußuhövres
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“ol did roüro waodounsav Bovdsurypıov Ev w averAov rov myrpayvpryw, nal mepibpurrevres Mauro
dd, = M; \ SL AETE 5 7 \ 2 = s na 5 = AN Rn
»aßıdonaav 7% Murpi rwv dewv, avasıyravres al dvöpiivra TOD Murpayuprav. Expuvra de Ti
Myrpulw deyziy (Archiv) zul vousbuhuzeiy aaraywaavres nal 10 Bupudpov.
(") Fraueneinweihung: Eve ra yvvaixas (Anm. 6). Wie im römischen Matronen-
und Vestalinnen-Dienst der Cybele.
() Eleusinienlärm: Zpxerau 4 purap eis emCyrysw ras »opns. Vergl. Zoega Bassir. I,
p- 86.
(°) Anaxagoras: Plut. Pericl. 32. Nic. 23. Diod. XII, 39. Diog. L. II, 12.
. ’ > m \ 0
('%) Plut. Pericl. 32:"Aomacia ölxyv Eibeuyev areßelns, "Epuinms 70) zwumdorasd dw-
Kovrog nul mposaarnyopoüvros ws Ilepıxkei yuvalaas eheufeong eis TO aUro derweus Dmodexaro.
E \ m 3
(Vgl. oben Anm. 6 &uve ras yuvainas). zu Yrdırma Arsmeißns Eyparbev, eisuyyehheodar Toug
\ > \ 1 a \ / \ & D 8 / > ‚ > 2 >
ra Bein un vomilovras 7 Aoyous ep Tuv Merapsiuv Öldamxovras, umepsidomeros eis Tlspınkeu di
,
’"Avakaydpov ryv Umovaav.
(') Göttermutter in Theben. Zu Pindar Pyth. III, 77 — arX Emevkardaı mv
Eyuv 24km Marpl, rav xolpar map &mov mpodugev auv Ilavi meAmovra band aeuvav Beav Evvu-
yiaı — gibt der Scholiast die bekannte Erzählung von der Gründung des durch Orakel ge-
botenen Heiligthums der Göttermutter durch Pindar, der dasselbe bei seiner Behausung
errichtete. Vgl. Böckh Fragm. Pind. p. 591. Welcker zu Philostr. II, 12. p. 465.
('?) Göttermutter des Phidias. Arrian Peripl. p. 9: ... Basızva Beds. ein O’ dv dmd
TO) oydumaros renumponevo 4 "Pen" nal yap auußahor merd yelpns Eysı au Meovras Um rw
Apavo, ul öyraı werep Ev ro Myrpww ’"Adyvycıv 5 roD Beidiov. Dasselbe Götterbild
wird von Plinius XXXVI, 5,4 dem Agorakritos beigelegt: Est et in Matris magnae de-
lubro in eademn civitate Agoracriti opus. Vgl. Zoega Bassir. I, p. 87.
(*°) Paus. I, 3, 3 (Anm. 4): za mAurov (Eucbpavwp) Emoiysev Ev rw van rov 'ArmoAhuva
Ilarpwov EmiaAqswur.. 78 0: Zvoua ru Bew yevesdaı Aeyavan, orı ryv Aauwdy abisı vorov
med ru IleAomovwasly molduy melousav nard javrevum Emause Ashbwr. "Qixodounra de zul
Myrpos Bewv lepov... Gleich nachher wird ebendaselbst ein Apollobild neben dem Zeus
Bulaios des Buleuterion erwähnt (Anm. 6. 56).
('*) Zoega äufsert, um die gebotene Einführung des phrygischen Dienstes in Athen
zu erklären, sich folgendermalsen (Bassir. I, p. 87, 26): Forse a ciö contribuirono i nomi
di Magna e di Madre, e la turrita corona che la dichiarava Lutelare di cittadı.
Netroon und Göttermutter. 477
(5) Göttermutter der Tantaliden und Dardaniden. Von der lakonischen
Küstenstadt Akriä sagt Pausanias III, 22, 4: deu: aurcdı dein Myrpos Bewv va05 vol Aryahız
Adov. mahasrarev ö8 Tooro eva dacw (obwohl Steinbild) oi raus "Axpıng Eyxovres, ömosu rs
deob raurns Dekorovwarios iepa zorw* &m, Maryvyoi vye, ol ro mp9s Böfpav venovraı Tod Zirukov,
rauros Emi Kodöivov merpun Murpog Earı Bewv apyadrarıv omdvru dyakua, maufeaı d8 ai
Mayvares abro Bporeav (Anm. 47) Aeyovaı rev Tavrakov. Im umgekehrten Verhältnils zu
dieser angeblich aus Asien in den Peloponnes eingeführten Göttermutter steht die Sage
von der durch Idäos, des Dardanos Sohn, nach dem Ida versetzten: 28a Myrpı dewv
iepov idpuaamevos dpyın mul reherag nureotycaro, & xal el; Tode xpavav Öamevovaw (?) dv mach
$puyla (Dion. Hal. I, 61). N
(%) — zu Olympia, in der Altis. Paus. V, 20,5: Nacv dt neyeeı neyav au) Eprya-
19 Ausg, Myrpwav nal &5 Ems nakouaıw Erı, To dvoun aurı dmswlavres To apyalov" neirat
ÖE oUx aryahıız ev auru Bewv aurpog, Basıkewv ö8 Ertyxasıv avdpıavres "Puonaiuv.
('7) Der vorgedachten (Anm. 11) thebischen Göttermutter, die Pausanias als Anathem
Pindars erwähnt (IX, 25, 3: Muyrpos Awöumeung iepev), sind viele von demselben berührte Rhea-
dienste (Anm. 18) gleichzusetzen; ein Myrpos dewv lepev erwähnt er sonst nur aus
dem attischen Demos der Anagyrasier (I, 31, 1). Vgl. T7 neyahy Bes (ebd. 1, 31,2) in
Phlius.
(5) Die kretische und arkadische Zeusmutter Rhea erscheint im Sprachgebrauch
wie in Thurmkrone und Höhlendienst der Göttermutter gemeinhin gleich. Sie war von
Kureten und von Daktylen (Paus. V, 7, 4) begleitet, wie Kybele von Korybanten. Gleich-
wie Gäa (Anm. 21) wird sie nicht nur dem ihr vielleicht erst aufgedrungenen (Welcker
Aesch. Tril. S. 97) Kronos, sondern auch dem Zeus gepaart, von dem sie die Persephone
geboren haben sollte (Lobeck Aglaoph. I, 548).
(') Gäadienst, aus Pausanias schon von Zoega Bass. I, p. 84, 5 hinlänglich be-
legt. Vgl. Anm. 28.
() Schwenck Gr. Mythol. S. 333 nimmt an, dafs Demeter als Getreidegöttin den
Kult der Gäa fast ausgeschlossen habe: „und blieb sie auch nicht ganz ohne Vereh-
rung, so ist doch diese weder ursprünglich noch sehr alt.”
() Gäa und Zeus sind im dodonischen Orakel verbunden (Paus. X, 12, 5):
Zeug uv, Zeug Eorı, Zeug Eroerai, w meyahe Zei
T& xaomoVg avi, 0 »hnlere murega Toalav.
Ge und Zeus Agoraios auch in Sparta (Paus. III, 11, 8).
(@?) Meyahn 8eos ward Ge in Phlius benannt: Paus. I, 31, 2.
(@) Erdorakel der Göttin Gäa: aulser Dodona (Anm. 21) anerkanntermalsen zu
Delphi (Aesch. Eum. 2. Paus. X, 5, 3), Olympia (Paus. V, 14, 8) und sonst.
() Eid bei Gäa: Il. III, 278. IX, 259. XV, 36. Od. V, 184. Apoll Rhod. III, 716.
(*) Im Gaion ohnweit der achäischen Stadt Aegä hatte die Priesterin zu ihrer
Prüfung Stierblut zu trinken (Paus. VII, 25, 8).
() Nachdem, im älteren Dienste der Mutter Erde, T% wArnp (Myr&ow yalav dodo-
nisch Anm. 21) durch die Tempelordnung der gleichnamigen und noch späterhin gleich-
geltenden (Taf. IV: Demeter Kidaria) Ay-.yrnp verdrängt worden war, werden beide
478 GERHARD
allmählich auch wol zusammengestellt, dann aber mit dem Übergewicht einer zwischen
Demeter und Kora thronenden Erdmutter: aury iv (Demeter) xul Hi mais &rracı, ro Ö8
dyakna rag Tis Earı xudnevov (Paus. VII, 21, 4). Diese Gruppirung ist auch aus einem
attischen Idol des hiesigen Kgl. Museums bekannt: Prodr. I, Anm. 63. 74. Abh. Minerven-
idole (Berl. Akad. 1842) Taf. I, 1.
(@) Wie in der Sage vom delphischen Orakel (Aesch. Eum. 2), ist die Verdrän-
gung alten Erd-Dienstes durch apollinischen vielfach nachweislich, obwohl seltner für
ausgesprochene Gäakulte als für die ihnen gleichgeltenden der ältesten Hera (Wieseler
in Pauly’s Encyklop. IV, 551). In ähnlichem Verbältnils erscheint auch die vom delischen
Apoll überbotene Aphrodite dpyala (Paus. IX, 40, 2. Callim. Del. 308 not. Panofka Terra-
Cotten S. 61 ff. Gerhard Abh. Venusidole, Berl. Akad. 1843, S. 19).
() Gäadienste sind bezeugt aus Athen (Ge Olympia: Plut. 'Thes. 27), Sparta
(Paus. III, 11, 8. 12, 7), Delphi (Aesch. Eum. 2. Paus. X, 5, 3. Plutarch. Pyth. orac. p.
402. Müller Dor. I, 316), Olympia (Paus. V, 14, 8), Bura (VII, 25, 8), Paträ (VII,
21,4); ein Altar derselben Göttin wird auch beim Ilithyiatempel erwähnt (Paus. VIII, 48, 6).
() Dione als dodonische Zeusgemahlin, wie auch Gäa ebendaher als solche be-
zeugt wird (Anm. 21); die italische Dea Dia, die als samothrakische Göttin von Hermes
begehrt ward (Cic. Nat. d. III, 22. p. 603 ss. Cr. Vgl. Abh. Agathodämon Anm. 85), darf
als ihr gleichgeltend vorausgesetzt werden, zumal Dia auch in der Heroensage Nordgrie-
chenlands ein nicht unbekannter Name ist.
(°) Der Gäa gleichgeltende, obwohl später verdunkelte, Göttinnen sind haupt-
sächlich: a) Ilithyia, als kretische Höhlengöttin (Od. XIX, 188), eleische Olympia (Paus.
VI, 20, 2), delische Mutter des Eros (Paus. IX, 27, 2), Pflegerin des Schlangenknaben So-
sipolis (Paus. VI, 20, 2. Abh. Agathodämon Anm. 50) und als Doppelname der argivischen
Hera (Hesych. s. v. Prodr. S. 31 f.) bekannt; ferner die äginetische 6) Theia-Hekate
(Pind. Isthm. IV, 1. Expl. p. 572), der als goldener Göttin die lemnische Athene -Chryse
(Schol. Soph. Phil. 193. Expl. Pind. p. 512. Archäol. Zeitung IV, 161 ff.) und wol auch
Diodors (III, 57) der Rhea gleichgeltende Basileia gleichkommt; sodann ce) Themis als
delphische Erdgöttin (Paus. X, 5, 3. Welcker Tril. Anm. 49. Gerhard Prodr. S. 95), die
auch Ilithyia (Nonn. XLI, 162) heifst; d) Artemis als ephesische IIpwrodpovia (Paus. X,
38, 3); e) Tyche als Tvyn dewv (Anm. 34), ’Ayadn Tuyy, Fortuna Primigenia (Prodr.
S.115); endlich f) Praxidike als ogygische, der Pallas verwandte, Zeusgemahlin alt-
böotischen Dienstes (Suid. s. v. Prodr. S. 96).
C') Wenigstens der als Uranosgemahlin gefalsten Gäa, die man wol unbedenklich
Urania nennen kann.
(©?) Gäa Olympia als himmlische Schöpfungsmaterie. Vom Monde sagt Plutarch
(de def. orac. 13. p. 416): ei usw aorpov yewdtc, ci dt Okvmmiav yüv, ol d8 xAovias mal
xul ovpavias uhnpov "Exarys rpageimov. Vgl. Prodr. S. 8.30. Panofka Terracotten S. 13.
©’) Olympia wird als Beiname der Züthyia zu Elis (Paus. VI, 20, 2) bezeugt;
denselben Beinamen führt Aphrodite in Gemeinschaft mit Zeus in einem Rundbau zu Sparta
(Paus. III, 12, 9). Vgl. Prodr. S. 32.
(°*) Götterfortuna: in Sikyon Paus. II, 11, 8 (özWv Tvxy nach kaum zu bezwei-
felnder Lesart). Vgl. Prodr. S. 36. Abh. Agathodämon Anm. 46.
*» Metroon und Göttermutter. 479
() Hestia, als bildlos bekannt und auch als namenlos zu bezeichnen, da ihr ge-
wöhnlicher Name nur den der Gottheit geheiligten Stein oder Altar bezeichnet, ist ihrem
Begriff nach der Göttin Erde (YA oor« Dion. Hal. II, 66. Vgl. Eurip. bei Macrob. I, 23.
Ovid. Fast. VI, 267. 460. Intpp. Cornut. p. 339. Sillig Quaest. Plin. II, p. 5 s.) durchaus
gleich, heilst Mutter (Cie. Harusp. 6, 12 deorum Penatium Yestaeque matris) wie diese und
führt als stätig zugleich und mütterlich den Doppelnamen Siata mater (Fest. s. v.).
(°%) Serv. zu Virg. Aen. IX, 407: aedes rotundas tribus diis fieri debere, Vestae
Dianae vel Herculi vel Mercurio.
() Polos, als Kugel oder Scheibe hauptsächlich des Atlas bekannt: Paus. VI, 19, 5.
Prodr. S. 6. 36. Abh. Archemoros S. 36 ff.
(°) Polos als scheibenförmiger Stirnschmuck, später zur junonischen Stephane
verjüngt: Antike Bildw. Taf. CCCI, 1. CCCV, 1-14. Prodr. S. 24 ff. 392 ff.
(°) Mit dem Polos bedeckt waren laut Pausanias die Athene Polias von Erythrä
(VII, 5, 4), die Tyche des Bupalos zu Smyrna (IV, 30, 4) und die sikyonische Aphrodite
des Kanachos (II, 10, 4). Jener Athene zwar hat man neuerdings (Zeit. f. Alterthumsw.
4850 no. 14) lieber eine sonst unbezeugte Mütze (iAov) gegönnt.
(°) Symbole des Himmelsrundes sind ferner: a) das runde Fruchtmals Deme-
ters, als Kalathos oder Modius bekannt, allen Erdgöttinnen sowohl als dem Erdgott Sera-
pis (Maer. I, 20) zustehend; 5) die runde /rurmähnliche Krone und das runde der Erd-
scheibe ähnliche Zyrnpanurn (Anm. 51) der idäischen und pessinuntischen Göttin; c) ver-
schiedene rundliche Waffen, vielleicht selbst der Heim, häufiger der Schild Athenens
Hera’s und Aphroditens, bei welcher letzteren Göttin derselbe auch zum metallenen Spie-
gel oder zur verschlossenen Schildkröte wird. Endlich gehören dahin auch d) Apfel und
Mohn, beide zugleich als Symbole der sikyonischen Aphrodite (Anm. 39), der Apfel und
Granatapfel aber auch als Symbol Hera’s Athenens und Kora’s bezeugt (Anm. 44), und e)
die als Sphära und Ball gleich dem Polos ohne Nebenbegriff fortdauernde Gestalt der Him-
melskugel, wie solche hauptsächlich aus den Fortunenbildern römischer Kunst bekannt ist.
() Entsprechende Gebräuche knüpfen sich hauptsächlich an das Schildsymbol, wie
solches in Schildschwingung und Schildschlagen der Kureten, Korybanten und Salier, des-
gleichen im Schildlauf der argivischen Hera bekannt ist; Beckenschlagen, Erdgeilselung,
Spiegelbeschauung sind andre, an und für sich verschiedene, aber durch gemeinsamen Be-
zug auf das Himmelsrund verknüpfte Gebräuche.
() Als Göttinnen des Himmelsrunds sind Hera, Pallas und Aphrodite a) an
und für sich nachweislich, wie von der samischen Hera, der lemnischen Pallas- Chryse
und der idäischen Aphrodite (Klausen Aen. I, 28, 95) genugsam feststeht. Allen drei Göt-
tinnen sind 5) auch runde Symbole, namentlich Stirnkrone und Schilder gemeinsam, wenn
auch Schildfeste für Aphrodite, die helmlose Stephane für Pallas, vielleicht unbezeugt sind;
in gleicher Gemeinschaft ist auch c) die T’hiersymbolik, namentlich des Löwen, der Kuh
und der Ziege für jene drei Göttinnen angewandt, wenn auch der Widder vielleicht
nur für Pallas bezeugt ist. Des allen dreien gleichfalls gemeinsamen Apfels (Anm. 44) zu
geschweigen.
(?) Wie aus dem Konflikt achäischer und troischer Bevölkerung die Hintansetzung
der Hera und Pallas es kund giebt. Nicht unähnlich ist der von Artemis (als Hera? Vgl.
480 GERHARD :
Prodr. S.35, 88. Myken. Alterth. S. 12, 67), Pallas und Hermes dem Gäadienst (dem die
idäische Aphrodite entspricht) entgegengesetzte Widerstand im koischen Mythos des Agron
(Ant. Lib. 15).
() Das Schönheitsgericht im lesbischen Heratempel (KaAkırreiz Ath. XIII. 610),
dem das Parisurtheil zu Gunsten Aphroditens nachgebildet ist (Rückert Troja II, 3, 6),
war auf der gegenüberliegenden troischen Küste zu Verhöhnung des von Hellas aus ein-
gedrängten Hera- und Pallasdienstes — der argivischen Hera und alalkomenischen Alhene
Il. IV, 8. V, 908 — gemilsbraucht worden. Vgl. Klausen Aen. I, 277.
(‘) Dem Granatapfel, durch dessen Genuls Xora dem Hades hochzeillich (Wel-
cker Zeitschr. S. 10 [f.) anheimfällt, kam aufser seiner Vielkörnigkeit auch die blutrothe
Farbe zur Vergleichung mit des Dionysos oder des Atys Blutstropfen (Clem. protr. p. 12.
Arnob. V, 6) zu statten; bezeugt ist dasselbe Attribut bei der argivischen Hera (Paus. II,
17, 4) und der athenischen Athena Nike (Harpocr. N:.x4 ’Adyw&). Dals Aphrodite zwar mit
Apfel und Mohn (Paus. II, 10, 4), mit einem Granatapfel aber nicht leicht sich findet,
kann, zumal bei ihrer Gleichgeltung mit Kora, nur zufällig sein.
(”) Im Eleusinion entspricht der Deckwölbung (ro dralov &xepupwse: Plut. Pericl.
13. Müller Handb. $. 108, 5) eine unterhalb der Cella angebrachte Krypta; der Sinn die-
ser Krypta wird wiedererkannt im italischen mundus, einer bei Stältegründungen übli-
chen runden Grube (Plutarch. Rom. cap. 10. Müller Etrusker II, 96).
() Attische Sitzbilder mit dem Gorgoneion, übersichtlich zusammenge-
stellt in meiner Abh. über die Minervenidole Athens (Berl. Akad. 1842) Taf. I. Was dort
no. 5 als Gorgoneion angegeben ist, findet sich hie und da, in Marmorbildern (ebd. no. 4)
und auch wol in ähnlichen Thonfiguren (ebd. no. 1), nur als Scheibe, der Grundbedeutung
des Gorgoneion als Vollmond entsprechend. Über die betreffenden Thonfiguren war früher
mehrfach von mir gehandelt worden. Es hat nicht an Gründen gefehlt ihnen den Namen
einer Ge Olympia (Prodr. I, Anm. 63. 74. Hyperb. R. Studien I, S. 82 ff. Stackelberg
Gräber S. 42), dals heist einer himmlischen Erde (oben Anm. 32) beizulegen, in welchem
Sinne denn auch die Benennung einer Erdgötlin Demeter (Welcker zu Müller Handb.
8. 357,5. Vgl. Prodr. S. 87) einige Wahrheit hat. Ebenso konnte beim Anblick eines
Gorgoneion die Benennung einer Athene (wie auch Stackelberg Gräber d. Hell. LVII, 1)
nicht schlechthin abgelehnt werden; erklärt wird sie nur durch die Bedeutung der athe-
nischen Burggötlin Polias als Göttermutter. Vgl. Abh. Minervenidole S. 5. 21.
(”) Broteas: oben Anm. 15. Vgl. Schol. Eurip. Orest. 5. ‘Meziriac zu Ovid II,
p-331s. Die Abstammung von Hephästos und Pallas, wofür in Jacobi’s mythologischem
Wörterbuch auf die Ausleger zu Ovid’s Ibis 517 verwiesen wird, finde ich nur bei Na-
talis Comes II, 6. Dagegen scheint für Broteas als Tantaliden ein Weg der Erkläruug
dadurch gegeben zu sein, dals die dem Pelops bald angemuthete bald, wie von Pindar
(Ol. I, 26), abgesprochene Zerstückelung seines Leibes am Göttertisch füglich auf eine be-
sondere mythologische Person übergehen konnte, die man demnach als „„Angegessenen”
(Bpwros) Broteas benennen und, da Rhea (laut Bacchylides Schol. Ol. I, 37) die Glieder
wieder zusammengefügt haben sollte, auch als ersten Verehrer der Göttermutter darstellen
konnte. Mehr hierüber an einem andern Ort (N. Rhein. Museum VIII).
Metroon und Göltermutter. 481
() Zu Apoll steht Athene im Verhältnifs der Göttermutter (Anm. 27) theils
a) als delphische Pronoia, durch ein Heiligthum runder Form ausgezeichnet, worüber
Wieseler’s „Delphische Athena” Auskunft giebt, und 5) als Göttin der zum milesischen
Didymäon führenden Statuenreihe (Abh. Minervenidole Taf. I, 6. Archäol. Zeitung VIII,
no. 16), theils c) als attische Mutter des von Hephästos geborenen Apollo Patroos (Cic.
Nat. Deor. III, 23. Prodr. S. 38).
(*) Die Mutterschaft Athenens ist mannigfach anerkannt (Welcker Trilogie
S. 287) und zumal im Gegensatze der Polias zur Parthenos (Welcker Giebelbilder
S. 86) deutlich; so wird auch die Göttin der Aboriginer aus Reate als Göttermutter (Sil.
Ital. VIII, 417: magnaeque Reate dicatum Coeliculum matri), aus Orvinium als Minerva
genannt (Dion. Hal. I, 14). In Iolkos fällt die iasonische Athene mit der von Iason ge-
tragenen Hera, in Rom die „Erinnerungsgöttin” Minerva mit Juno Moneta zusammen;
mit Demeter wechselt sie in gephyräischen Opfern (Jo. Lyd. de mens. 3, 21. Klausen Aen.
I, 150) und ist durch versteckten Bezug auf Poseidon (Müller Pallas $ $. 30) ihr vergleich-
bar; ebenso dürften noch andere ähnliche Übereinstimmungen derselben Göttin mit Mut-
tergöttinnen ältesten Schlages nicht schwer zu finden sein.
(°°) Göttermutter des Phidias und deren Repliken: Zoega Bassir. I, p. 87. Müller
Handb. $. 395, 3.
(°') Dem Tympanum vergleichbar, obwohl als Kessel gedacht, ist das durch künst-
liche Berührung rauschende Erz von Dodona (Steph. Awdwvn).
(°”) Mutter und Jungfrau zugleich sind @) Hera und Artemis, indem siean und für sich
mit ihrer bekannten Geltung als Geburtsgöttinnen jungfräuliche Geltung verbinden (Hera rap-
Bevos Paus. II, 38, 2), Aphrodite aber, indem sie bald als neu geboren, bald als xouporgahos
und Genitrix gefeiert wird. Ebenso ist, 5) Kora betreffend, die jenen Gegensätzen zu
Grunde liegende Wahrnehmung eines im Jahreslauf bald mütterlichen bald neu verjüng-
ten Naturlebens schon in ihrer Ablösung von Demeter als stetiger Erdkraft, hauptsächlich
aber im jährlichen Wechsel einer winterlichen Gemahlin des Hades und jangfräulichen
Frühlingsgöttin zu erkennen, mit welcher als männliche Hoffnung des Jahres Iacchos kna-
benhaft zusammengestellt wird (Archäol. Zeitung VII. no. 16). Gleichgeltend dieser üb-
lichsten cerealischen Epiphanie sind Sage und Benennung der Demeter Zusia (Paus. VII,
25,4) und die dem entsprechenden c) Ferjüngungsbäder der Hera (II, 38, 2), Artemis,
Athene und anderer Göttinnen, womit denn auch die für Hera sowohl als auch haupt-
sächlich für Athene bekannten Kleidungsgebräuche des d) Peplos (Müller Pallas $. 17.
Bötticher 'Tektonik II, 172) zusammenfallen. Dals nun endlich die e) Doppelkulte vieler
Gottheiten, namentlich Athenens (vgl. mein Programm Zwei Minerven. 1848), auf eben
jenes Zwitterverhältnils der Mutter sowohl als Jungfrau Natur zurückweisen, kann nicht
handgreiflicher als durch den mehrbesprochenen (Abh. Minervenidole. Berl. Akad. 1842)
Gegensatz der Polias und Parthenos gerechtfertigt werden.
() Athene agrarisch, als Boapuia und Bovdeis bekannt (Müller Pallas $. 43), in
Athen von Butaden und Buzygen gefeiert (ebd. $. 15. 18. 67), empfing gleich Demeter
heilige Pflügungen (Plutarch praec. coniug. p. 144) und gephyräische Opfer (Jo. Lyd. de
mens. 3, 21. Klausen Aen. I, 150), wie sie denn gleich jener Göttin auch als Genossin
Poseidons nachweislich ist (Müller Pallas $. 30. 64).
Philos.- histor. Kl. 1849. Ppp
482 GERHARD
(°*) Ovid. Trist. III, 1,29: focus Yestae, quae Pallada servat et ignem. Vgl.
Dion. Hal. I, 69. Klausen Aen. II, 699.
(®) Athene Agoraia und Bulaia: Müller Pallas $. 10. 35. vgl. 37. Die Bemerkung
(ebd. $. 72), dals diese Göttin nicht vor Einführung der republikanischen Verfassung fal-
len möge, ist wohl verträglich mit der Annahme, dals in diesen Namen nur Prädikate der
im Metroon und Buleuterion verehrten Muttergöttin Athene pyryp zu Elis (Paus. V, 3, 3.
Müller Pallas $. 36) oder der anbei ihr entsprechenden Tholosgöttin Hestia (Bevhulu "Erria
Plutarch. X. Oratt. Isocr. IX, 328 Rsk. Harpocr. v. BovAaia, Altar der Schutztlehenden:
Leake Topogr. 96. 393) zu erkennen sein möchten.
(°%) Zeus Bulaios (Paus. I, 3,4. Oben Anm. 4), mit Athene zugleich genannt
bei Antiphon zepl roÜ xopevred (Oratt. Rsk. VII. p. 789): &v aurw my Boukeurzalw Ars Bou-
Aulov nal "Adyvas BouAatas iepov eori.
(°) Nymphenpflege des Zeus: aus Kreta, Dodona, Arkadien allbekannt.
(%) Zeus und Dione: Strab. VII. 329. Klausen Aen. I, 410 (vgl. 181). Abh. Aga-
thodämon (Berl. Akad. 1847) Anm. 67.
(°°) Italische Waldmütter: Klausen Aen. II, 869 ff.
(°) Ilithyia in Knossos: 081 re oneos Eikeıduiys (Hom. Od. XIX, 188).
(°‘) Auf dem Gargaron, wo die idäische Göttermutter überwiegende Verehrung
genofs, trägt ein noch jetzt nachweislicher Tempel kyklopischen Grundbaus im Überrest
einer Inschrift den Namen des Zeus Eleutherios (Klausen Aen. I, 177 ff). Der angebliche
Herakopf, den Clarke (Travels II, 1, 127. not. 2. Klausen Aen. I, 180) aus eben jenem
Tempel in die Bibliothek zu Cambridge versetzt hat, ist bis jetzt nicht näher bekannt
geworden; wohl aber genügt, um jene Stätten der Hera so gut als der Rhea oder Aphro-
dite geheiligt zu glauben, des Zeus Umarmung mit Hera im vierzehnten Buche der Ilias.
Ist nun solchergestalt die mit Zeus verbundene Göttin bald als Mutter, bald als Ge-
mahlin ihm beigesellt, so ist auch neben der thronenden Hera von Olympia (Paus. V,
47,1. Vgl. Abh. Agathod. Anm. 67) ein stehender Zeus nicht undenkbar.
(%) Umgebungen des Metroon: oben Anm. 4. Über das Heiligthum der ’Ayasy
Tyxn (Harpocr. "Ayadis Tuxns vews) vgl. Abh. Agathodimon Anm. 36. und Schneidewin’s
Philologus Th. IV, S. 380 ff.
(°) Pelasgische und homerische Götterwesen: Alles nach Herodots (II, 52. 53) Zeug-
nils über beide.
(*) Fetische der Göttermutter: Steine und Stämme, für Hera, Athena, De-
meter bezeugt (Müller Handb. 66, 1) und durch die Analogie hie und da abgebildeter
Göttersteine bestätigt, von denen der pessinuntische Stein und der delphische Omphalos
die berühmtesten sind. Zusammengestellt sind dergleichen Idole auf unserer Tafel I. II;
daran gereiht finden sich auf Tafel III zwei aus Umgegend der kithäronischen Hera her-
rührende Sitzbilder, in denen der kaum erfolgte Übergang stamm- oder bretähnlicher
Idole zur Menschengestalt wohl erkennbar ist.
(®) Doppelte Göttersteine sind in später Abbildung als dußportaı vergeı (Taf. II,
9) bekannt; neben der Göttermutter, deren doppelte Dämonen, Korybanten, Kureten, Dios-
kuren, uns häufig bezeugt, mitunter sogar auf ihrer Schulter sichtlich sind (Taf. II, 6.8. Vgl.
Metroon und Göltermutter. 483
Archäol.Zeitung IIT, 27, 1), können sie nicht gefehlt haben, obwohl die von Sillig (Quaest.
Plin. IL. p. 5) neben einer thronenden Vesta bei Plinius 36, 25 nachgewiesenen campteres
vielleicht als einziges Beispiel solcher Göttersteine neben den zwei Bäumen des dodoni-
schen und halikarnassischen (Streber numism. Bull. d. Inst. 1839 p. 180 ss.) Zeus, und
den noch häufigeren zwei einzeln verehrten Säulen (Taf. II, 7) sich erwähnen lassen. Merk-
würdige Analogien zweier heiliger Säulen (Abh. Kunst der Phönicier Berl. Akad. 1846.
Anm. 18), zweier Phallen (Luc. D. Syr. 16. 28), wie auch zwei steinerner Göttersitze
(Marathus: K. d. Phön. ebd. S. 23, 1) sind aus phönicischem Götterwesen uns erhalten.
(°%) Schlange und Phallus, wie solche mit Hermessymbolen auf Münzen von
Aenos (Abh. Agathod. Taf. IV, 7.9) zusammen erscheinen (vgl. Klausen Aen. I, 131), sind
auch vereinzelt bei den der Göttermutter entsprechenden ältesten Göttinnen nachzuweisen:
die a) Schlange bei der pelasgischen Hera, der Athene-Chryse und andern (Abh. Aga-
thod. Anm. 53), der 5) Phallus hauptsächlich bei der samothrakischen Axiokersa auf Münz-
typen dorliger Umgegend (ebd. Taf. IV, 4-7), aber auch bei Hestia, im Fascinusdienst
der Vestalinnen (Plin. XXVIII, 4, 7), bei Aphrodite, deren priapischer Dämon bekannt ist
(Müller Handb. $. 376, 3), und in ähnlicher Weise bei Tyche (Tychon, Servius: Abh.
Agathodämon Anm. 59. 60). Bei dieser letzteren Göttin findet, vermöge ihrer cereali-
schen Bezüge, auch das Schlangensymbol einige Anwendung (ebd. Anm. 56); doch würde
die Anwendung c) von Phallus und Schlange bei einem und demselben Götterbild
vielleicht ohne Beispiel sein, wenn nicht 4) in Mysterien zusammengesetzter Art cerea-
lische Schlangeneiste und bacchische Phallusschwinge (Etrusk. Spiegel I, S. 71. Vgl. bei
Paus. I, 27, 1 die Schlange der Athene Polias zugleich mit dem phallischen Hermes), ihre
gemeinsame Anwendung hätten.
(°) Menschengestalt aus Phallus und Schlange: Abh. Agathodämon Anm. 59.
61 und 17. 50. 74. Über Hermenbildung des Apoll vgl. Auserl. Vas. I. S. 135. 215.
(°°) Götterbilder aus Baumstämmen: zumal auf Anlafs der in hohle Bäume
gesetzten Idole (Hesiod. fr. 80: Zeus.. &v mußuen dryad. Müller Handb. $. 52, 2), von de-
nen noch mancher Münztypus zeugt. Vgl. Taf. II, 8.
(°) Weibliche Urkraft neben Zeus. In Latium setzt der Knabe Juppiter eine
Fortuna Primigenia, Vejovis eine Bona Dea oder sonstige Göttermutter (Klausen Aen. II,
856) voraus; in Etrurien ist das Verhältnils Juppiters zu den verhüllten Gottheiten ein
ähnliches (Senec. Qu. nat. Il, 41. Müller Etr. II, 82, 6. Abh. Gottheiten der Etrusker.
Berl. Akad. 1845. Anm. 17).
(°) Samothrakische Gottheiten: durch Zusammensetzung aus zweierlei Göt-
terpaaren bereits früher in gleicher Weise erklärt (Abh. Agathodämon S.8f.).
(”) Kapitolinische Gottheiten mit Juventas und Terminus (ebd. S. 9. Taf. IV, 1).
() Heilige Hochzeit (iepas y&uos) und deren Gebräuche: Welcker zu Schwenck’s
Andeutungen S. 268 ff.
() Zwölf Götter: Abh. über die zwölf Götter Griechenlands (Berl. Akad. 1840).
(*) Zueignung fremder Gottheiten: hauptsächlich aus Athen (®es£evz) und
Rom (di evocati: Ambrosch Röm. Studien S. 186) bezeugt.
Ppp2
484 GERHARD
(°) Tempelbau zu Sardes goE 70,2 = a. 499 v. Chr.). Herodot V, 102: xui
Zupdis naiv ae ev 08 aurinı nal ipev Emiywpins Beod Kußnßys ro exgmröpevn oi Tleoraı
Urrepov dvrevenijumpacan To Ev "Elke iod. Ebd. 105: Basıkei ö8 Anpein, ws EEnyyeAßy Dapöıs
dhovsag dvememprodan Umo Ahyvaluv al Imvum ... Adyeraı aurov „ . eimelv w Zed, Exyeverdar
por "Aduwalous rirasdaı
(%) Datis in Delos. Herodot. VI, 97: &v ; Xen ei duo Ben er ravrıw unde
oweoda... TaDra pEv Emexypunevsaro roisı Aykloaı nera 08, Aßavwrod rpimnocıd rahayra xu-
ravgcas Em rod Bwuon eduminse. Worauf das Erdbeben erfolgt.
(”) Xerxes in Troja. Herodot VII, 43: ri 'Adnaly 77 'Iuddt ure Bods xıhlas.
(°) Inschrift am Hadriansbogen: Ai ö’ eis’’Adpiaved xal ouxi Oyeews mil. Leake
Topogr. S. 204.
(®) Das zur Hadriansstadt gehörige und als Mittelpunkt ihrer Heiligthümer zu be-
trachtende Olympion (wie Strabo, Dio u. A. schreiben) oder (Ath. V. 194a) Olym-
pieion mochte von Hadrian wegen des unvollendeten Zustands jenes von ihm bewun-
dernswürdig ausgebauten Tempels (Leake S. 133 ff. 415 ff. Müller Allg. Encykl. VI, 233 ff.)
der theseischen Stadt abgesprochen worden sein; dals es mit zu derselben gehörte, scheint
auch in der Ortsbegrenzung eines dunklen Zeugnisses bei Bekker Anecd. gr. p. 273 zu
liegen: Kpsviov r£wevos TE mapd ro vov 'Okyumov mexpı ro Myrpweu ro) Ev Ayopd.
(°°) Suidas s. v. Xadxeie, Eoprn "Adıvası Oyuudns nal dpxula mavu: a Twes Adyvara
xuhodew, ol Ö: Ilavöymov (Ixvadıvam?) die TO Ume mavruw dryerdau Harpocr. v. xalxeia ...
Zar ouE: od: our "Adnva dus &yeodas ray Eaprav, ahk% "Hıbaistw. Etym. M. p. 805: Zerı
öE Evn »al ve Tod Ilvavernvac, Ev j nal iepeimı era Tu Appnbapuw rev memhov dialovrau Vgl.
Meurs. Gr: Fer. v. XaAxeia. Welcker Tril. S. 290. Hermann Gottesd. Alterth. $. 56,
31. 32. Der Zusammenhang mit den Peplosgebräuchen und mit Athenadienst, nämlich
dem der Athene Ergane, welche der Polias gleichkommt (Soph. Fragm. 724. Abh. Zwei
Minerven 1848 S. 9 ff.), sind entscheidend genug, um Verwandtschaft jener hephästischen
"Adyvaıa mit denen welche als Doppelnamen der Panathenäen (Harp. v. IIxv«8.) bekannt
sind nachzuweisen, obwohl jene in den Monat Pyanepsion, die Panathenäen aber, grolse
sowohl als kleine (Herm. G. A. $. 54, 11), in den Hekatombäon fallen.
Metroon und Göttermutter. 485
ERKLÄRUNG DER KUPFERTAFELN.
Tafel I. PerascıscheE GÖTTERSTEINE.
1-5. 20. Omphalos.
1. Omphalos: ein mit der Inschrift BOMOZS_ begleiteter, aber mit Netz-
decke überkleideter Stein in Form einer Halbkugel, dem delphischen ähnlich, den
man aus Reliefdarstellungen des Dreifulsraubs (Millin Gal. XVI, 55) und aus Va-
senbildern des Orestes (Taf. II, 1.2) kennt. Das Original des gegenwärtigen Steins
ist als Heiligthum des thymbräischen Apollo einer Darstellung des an Troilos fre-
velnden Achill angehörig,. Nach meinen Auserl. Vasenbildern II, Taf. 223.
2-4. 20. Ähnliche Idole der Artemis Pergäa, wovon no. 3 nach einem
Münzabdruck, no. 2 und 4 aber nach der in meinen Ant. Bildwerken Taf. CCCVI,
55 und 4 gegebenen Abbildung erscheinen; hinzugefügt ist in no. 20, einer bei
Sestini Lett. numism. (1820 ff.) IX, 2, 7 abgebildeten Münze, ein ganz ähnliches
Idol, der Stadt Caesarea am Libanon gehörig. In no. 2 endet eine gestreifte Halb-
kugel wie in einen Modius, anbei sind Sterne und zwei Trabanten des Götterbilds (°)
angegeben; ähnlich ist no. 3 bei gleicher Umgebung durch gleichen Aufsatz, nur
dafs die Streifen wegfallen und neben Stern oder Sonne ein Mond erscheint. In no. 4
sodann ist das Idol bereits zu menschenähnlichem Brustbild gesteigert zu finden,
dergestalt dals aus dem Obertheil des halbkugligen Steins ein verschleierter Kopf,
aus der modiusähnlichen Bekrönung des rohen Idols ein Kopfschmuck geworden
ist. Endlich in no. 20 erscheint die mit Kopf und Modius versehene Halbkugel
auch dergestalt von einem Mantel umhüllt, dafs die Rundung des Steines bereits
das Ansehn menschlicher Bildung erlangt hat.
(*) Auf einer pergäischen Erzmünze des älteren Philippus (Mionnet III, p. 466, 113. Lajard Culte
de Venus pl. 1,13) stehn auf einem Untersatz dem Idol zwei Figuren zur Seite, deren eine durch Halb-
mond als Artemis erscheint, dagegen die andre bet kurzer Kleidung der etwanigen Annahme eines Apolls
widerstrebt. In ähnlichen Nebenfiguren liegt es nahe Anfänge der Dämonologie (vgl. oben Anm. 65) fast
lieber als priesterliche Gestalten zu vermuthen, wobei jedoch nicht nur die Unsicherheit solcher Vermu-
thungen, sondern auch der Zustand der Münzexemplare und ihrer Zeichnungen zu steter Vorsicht ermahnen
muls. So verwandelt sich der rohe Typus einer Bronze von Parion mit Revers des Gallienus aus der von
Kureten oder Kabiren umgebenen Göttermutter, die in Sestini’s Zeichnung (Lett. numism. VI, 2, 11.
VII, 6, 25) sich kundgibt, durch ein von Dr. J. Friedländer der hiesigen Kgl. Sammlung überwiesenes und
von demselben mir mitgetheiltes Exemplar eben jener Münze in ein, immerhin von Dioskuren umgebenes,
Ehrendenkmal.
486 GERHARD
5. Ähnliches Tdol des Elagabalus, aufgestellt inmitten einer von je drei
korinthischen Säulen begrenzten Tempelansicht, welche aufserdem in ihrem Giebel
eine Mondsichel, neben der glatten Halbkugel aber, die das Idol bildet, zwei blu-
menähnlich erscheinende Gegenstände darbietet, mit denen wol Sterne, Morgen-
und Abendstern, gemeint sein mögen. Münze von Emesa. Nach Haym Tes. Bri-
tann. 1,29, 4. Vgl. Thes. Brandeb. II, p. 712. Vaillant num. col. I, p. 51. Zoega
obel. p. 203 s. Eckhel D. N. VII, 250 ss. Akerman im Numism. Journal II, 218 s.
6-10. Stand- oder Sitzbilder.
6. Standbild der Göttin von Myra in Lykien, im Innern eines von do-
rischen Säulen begrenzten Tempels. Aus einem Stein, dessen sphärische Grund-
form säulenähnlich schlank geworden ist (wie oben no. 2 und bei den ambrosischen
Steinen Taf. II, no. 9), ist eine verschleierte Frauengestalt hervorgegangen; mit
dem Saum ihres Kleides hängt die dem ursprünglichen rohen Idol angehörige Tem-
pelschlange zusammen. Nach Revue numism. 1849 pl. 13,2. Vgl. Mionnet Deser.
III, p. 459.
7. Ähnliches Standbild der Göttin von Jasos in Karien: aus dem palm-
artig schlanken und zugleich abgerundeten Stein ist ein Körper mit verschleiertem
Haupt und bekröntem Kalathos oder Modius geworden. Nach einer Münze des
Commodus. Vgl. Mionnet Il, p. 354, 292.
8. Sitzbild der Göttin von Julia Gordus in Lydien. Aus ähnlicher Stelen-
form eines umhüllten Steines ist eine vermummte Frauengestalt geworden, deren
oberste Abtheilung einen mit Modius bedeekten Kopf voraussetzen läfst. Jederseits
bezeichnet eine stehende Ähre die fruchtbare Wirksamkeit der Erdgöttin. Nach
Sestini Lett. VI, 2, 11. Vgl. Mionnet IV, 43 „Juno Pronuba.”
9. Sitzbild einer ähnlichen Göttin mit ausgeführter Angabe des umschlei-
ernden Mantels sowohl als des mehrfach abgetheilten hohen Modius, aber auch
der einwärts gehaltenen Hände, der Fülse und sogar des Angesichts. Mond und
Sterne, desgleichen jederseits eine Ähre, umgeben die Göttin. Gemmenbild, nach
Gerhard Bildw. Taf. CCCVIIL, 19.
10. Ähnliches, aber roheres Sitzbild, von Mond und Stern, Ähre und
Mohn in ähnlicher Weise begleitet, auch mit einem dünnen Modius bekrönt, unter
welchem jedoch die Stelle des Angesichts nur wie ein breiteres Fruchtmafs er-
scheint und auch die Andeutung der Extremitäten vermilst wird. Rother Jaspis
der Kgl. Sammlung, in Tölken’s Verzeichnils IN, 4, 12 als Dindymene von Sardes
angegeben.
41-15. Idole in Kegelform.
11. Kegelförmiges Idol des Aphrodite- Tempels zu Paphos, in seiner drei-
fach abgetheilten und vom llofraum umgebenen Hauptansicht, durch Kandelaber
und darüber sitzende Tauben eingefalst, auf der Höhe aber von Mond und Stern
Metroun und Göltermutter. 487
oder Sonne bekrönt. Die an der Spitze des Kegels heraustretende Tänia (vgl. no.
47) ist ungewöhnlich. Als Umsehrift das übliche Kawsv Kurgwv. Nach einem Ori-
ginal der Kgl. Münzsammlung. Vgl. Millin Gal. 43, 171-173. Münter Göttin von
Paphos Taf. IV. Lajard Culte de Venus pl. I, 10-12. Gerhard Abh. Kunst der
Phönicier (Berl. Akad. 1846) S. 31.
42. Ähnliches Idol von Mond und Stern, Ähre und Mohn umgeben,
dem Sitzbild no. 10 fast durchaus, nur mit dem Unterschied entsprechend, dals
die dort Kopfstück und Modius andeutende Begrenzung hier als ein einziger Ke-
gelaufsatz erscheint. Aarneol der Stoschischen Sammlung (Winck. Deser. VI, 58:
„Pharus”), in Tölken’s Verzeichnifs III, 1, 13.
13. 14. Pyramidales Idol, angeblich cexlieischer Münzen, durch das Beiwerk
von Trauben näher bezeichnet; das Exemplar no. 14 unterscheidet sich von dem er-
steren durch je einen Griff, durch welchen es tragbar wird. Mit dem Buchstaben
A, der auf die Iydische Stadt Daldis rathen liefs. Nach Mionnet Suppl. VII, pl. 8,
4 und Luynes Choix pl. XI, 1. Vgl. Panofka Antikenkranz (Winckelm. Fest-Pro-
gramm 1845) no. 3.4. Eine ähnliche Münze der Prokesch - Östenschen : Sammlung
ist in der Archäol. Zeitung II, 22, 38 als kyprisch angegeben.
15. Ähnliche Pyramide als Aufsatz eines in ähnlichen Münzen zum Theil
auch sichtlicheren Untersatzes, mit darin befindlichem Bildwerk des von einem
Löwen getragenen Sardanapallos, dessen Grabmal hiedurch dargestellt ist; auf der
Spitze ein Adler als Zeichen der Apotheose. Münztypus von Tarsos. Nach Ro-
chette Hercule assyrien pl. IV, 2. Vgl. ebd. no. 1. 3. 4.
16-19. Idole in Säulenform.
16. Säule auf Untersatz, von Löwen umgeben, als obere Verzierung des
sogenannten Löwenthors zu Mykenä bekannt. Die Säule ist nach unten verjüngt,
wie auch in ephesischen Idolen (no. 18) der Fall ist, darf aber nichtsdestoweniger
als Apollobild gedacht werden. Vgl. oben Anm. 27. 43. und mein Programm My-
ken. Alterthümer 1850 S. 10. Nach Gell Argolis pl. X. (Müller Denkm. I, 1, 1) und
Göttling N. Rhein. Mus. I. S. 169.
17. Apollo Agyieus in Gestalt eines aufrecht stehenden und mit Bändern
umbundenen Säulenkegels, auf einem Untersatz, Münze von Ambrakia, nach Pel-
lerin P. et.V. I, 12,1 (Müller Denkm. I, 1, 2).
18. Artemis in Art des ephesischen Idols, unterwärts aus einem umge-
kehrten Säulenkegel entstanden. Münze von Hierapolis, nach Gerhard Antike Bildw.
Taf. 308, 2. Dieselbe Verjüngung nach unten findet sich auch auf einer Münze
von Tarsos bei Sestini num. IX, 12 und sonst hie und da.
49. Palladion, unterwärts aus einer mit Schiffsschnäbeln verzierten Säule
gebildet. Münze von Melos, nach Pellerin pl. CIV, 4. Vgl. Archäol. Zeitung III,
S. 32 („Nachbildung der Chalkiökos?”). — Von no. 20. war bereits oben, zugleich
mit no. 2-4 die Rede.
488 GERHARD
Tafel II. Omrsatos, MurTerGöTTInnEn UND DOPPELSTEINE.
1. Delphischer Omphalos, ein netzumwundener Kegelstein von menschlicher
Gröfse, zu dessen Seiten ein Lorbeerbaum steht; Orestes, der zu diesem Götter-
bild sich geflüchtet hat, umfalst es ein Schwert haltend mit beiden Armen. Aus
einem vormals dem Cav. Lamberti zu Neapel gehörigen Vasenbild. Nach Jahn
Vasenbilder I, 1. S. 5 ff.
2. Derselbe Omphalos, als Götterstein von gedrückt ovaler Form, ist
unterhalb eines hohen Dreifulses aufgestellt, Orestes daran gelehnt. Aus einem
in Kopenhagen befindlichen und von Thorlacius edirten Vasenbild, nach Müller
Denkm. II, 13, 148. Vgl. Millin Gal. 171, 623. Rochette Mon. XXXV, p. 188.
Müller Denkm. II, 148. Frau auf Schwan bei Laborde Vases II, 28. Inghir. Vasi
1140235:
3. Idäische Aphrodite als Muttergöttin: ein von zwei Rindern im
Festzug getragenes leicht bekleidetes Idol, kenntlich als Aphrodite durch leichte
zum Theil abgestreifte und linkerseits tanzmälsig erhobene Bekleidung, wie durch
die der Brust angenäherte rechte Hand, als mütterliche Göttin alles Erschaffenen
durch die am Kalathos ihres Hauptes aufsteigenden Sphinx- und Löwenpaare. Erz-
figur aus dem sogenannten Grabmal Achills: Lechevalier Voyage de la Troade
pl. 23. Vol. II, p. 320 ss.
4. Löwe in der Hand Hera’s: nach der Gefälsmalerei einer das Urtheil
des Paris darstellenden Schale: Gerhard Bildw. Taf. 33. Berlins Bildw. no. 1029.
5. Löwenfell als Kopfbedeckung Athenens: Statue der Villa Albani,
nach Braun Tages (1839) Taf. V.
6. Göttermutter und zwei Dämonen, deren Köpfe auf den Schul-
tern dieses mit Modius und Halsband geschmückten Brustbilds verzierungsweise
haften. Thonbild zu Syrakus, zuerst von Avolio (Fatture in argilla XII, 4), dann
von Panofka als Harmonia mit den Dioskuren bekannt gemacht (Archäol. Zeitung
11,27, 178.183 48).
7. Brennender Dreifuls zwischen zwei Säulen, welche von einer
Himmelskugel, darüber von je einem Stern überragt sind; zwischen den Sternen ist
ein Halbmond, an den Säulen je ein Speer und ein Schwert mit krummem Griff
angebracht; an der Sphära bleiben verschiedene Abzeichen räthselhaft. Chalcedon
im Besitz des Herausgebers, in doppelter Grölse gezeichnet.
8. Sitzbild der Göttermutter von Myra, in die Zweige eines Baums
gestellt, an dessen Fulse jederseits ein Kabir oder Daktyl mit erhobenem
Hammer bemerkt wird. Nach Revue numism. 1849 pl. 15, 1.
9. Ambrosische Steine des Hafens von Tyrus: zwei auf gemeinsamem
Untersitz aufgestellte, oberwärts rundliche Stelen, neben denen ein dreifulsähnlicher
Metroon und Göttermutter. 489
brennender Altar. Münze von Tyrus. Nach Rochette Hereule assyrien pl. III,
2. vgl. ebd. I, p. 172. Eckhel D.N. III, 389 s. Akerman Numismatic Journal I,
p- 223 s.
10. Zwei Pyramiden, über denen ein Stern zu sehen ist, auf der Höhe
eines Altar. Münze von Zaba in Karien. Pellerin P. et V.II, 85, 24.
11. Idol in Form eines abgestumpften Kegels mit Umgebung zweier Tra-
banten oder priesterlichen Gestalten im Inneren eines Heiligthums, welches unten
die Beischrift XaAxıdewv trägt. Münze von Chalkis in Euböa, nach Sestini Med.
Fontana Il, tav. V,18. Ohne die Nebenfiguren bei Pellerin II, 80, 76.
Tafel II. Däpvauısche Inore.
Auf dieser Tafel sind in zwei Drittheil der originalen Gröfse zwei Thon-
figuren abgebildet, welche sich im Besitz des Professor Z. Rofs zu Halle befinden.
Aus der Umgegend von Platää herrührend erinnern sie zunächst an die kithäro-
nische Hera und deren mit aller Einfalt alter Naturreligion festlich gefeierten
Zwist, dem alljährlich eine Erneuerung des Ehebundes von Zeus und Hera sich
anschlols. Der Name des Dädala-Festes, der diesem drastisch gefeierten ieoos yanos
(oben Anm. 72) gegeben wurde, erinnert zugleich an die dädalische Kunst, zu de-
ren Charakteristik diese und ähnliche Schnitz- oder Thonbilder besonders sich
eignen. Zu menschenähnlicher Bildung aus Idolen von Baum- oder Bretgestalt,
Säulen oder Platten hervorgegangen, wie die vorherigen Tafeln deren nachwiesen,
erinnert das erste der hier vorliegenden Idole (1-3) an jene erstere rundliche,
das zweite (4-6) an die bretähnliche Gestalt, die uns namentlich von der sami-
schen Hera (ravis: Callimach. Fr. 105. Müller Handb. 66, 1) bezeugt wird. Hiezu
ist denn bei noch mangelnder Glieferung der Körpertheile und Extremitäten Son-
derung des Kopfes und Haars von dem mit allerlei Streifen und Strichen, wie
auch mit Farbenspuren, versehenen Körper getreten. Man unterscheidet im erst-
gedachten Idol (1-3) einen vom Kalathos bedeckten und mit Haarzöpfen begleiteten
Kopf, dessen Antlitz jedoch roh genug ist um eher die Vermuthung einer schaf-
ähnlichen Hera Ammonia (Paus. V, 15, 7. Vgl. Archäol. Zeit. 1850 Taf. XV, 3.
S. 152, 13) als einer rein menschlich gedachten zu begründen. Im zweiten Idol
(4-6) dagegen bedarf es der Vergleichung mit dem vorigen um überhaupt von der
Sonderung des Kopfes sich zu überzeugen, dagegen diesem Idol ein grölserer Reich-
thum von Verzierungen zu Statten kommt. An der Stelle der Brust könnten Sonne,
Mond und drei Sterne gemeint sein, dagegen zu bezweifeln steht, ob der Bildner
mit den wellenförmigen Strichen, welche am Untertheil wie am Obertheil der Fi-
gur reichlich vorhanden sind, Haare andeuten wollte.
Philos.-histor. Kl. 1849. Q qq
490 GexHarn Metroon und Göttermutter.
Tafel IV. GÖöTTERMUTTER ALS GRABESGÖTTIN.
Das Relief von gebrannter Erde, welches hier (no. 1) in zwei Dritt-
theil der originalen Gröfse gezeichnet ist, rührt aus Gnathia (Fasano) her und
ward von Hrn. Panofka im Jahr 1847 zu Neapel für das hiesige Kgl. Museum
erworben. Den Untersuchungen über die Göttermutter wird es als ein, den Grä-
beridolen der Athene Polias (Anm. 46) vergleichbares, augenfälliges Zeugnils hier
angereiht, wie ein als Demeter oder als sonstige chthonische Göttin gemeintes
Sitzbild in Gestalt und Verehrung der ihr ursprünglich gleichnamigen und gleich-
geltenden (Anm. 26) Göttermutter entspricht, dergestalt dafs eine den seltsamen
Kopfputz andeutende Benennung wie die einer Demeter Kidaria (Paus. VII,
45, 1. Preller Demeter S. 169) beiden Götterbegriffen zugleich sich eignen dürfte.
Thronend, bekleidet, mit langem Mantel verschleiert und mit einer spitzen Mütze
nach unteritalischer Sitte bedeckt, ist eine Göttin sichtlich auf der Höhe eines
mehrere Stufen überragenden Altars oder sonstigen einfachen Sitzes; sie hält eine
Schale in der Rechten und ein Ei (Mon. d. Inst. IV, 3. Ann. XVI, p. 142) oder
dem ähnliche Frucht in der Linken. Dieser Göttin zur Seite ist nach rechtshin
als schmückende Nebenfigur ihres Heiligthums auf niedrigerem Untersatz eine
priesterliche Jungfrau beigesellt, welche der Göttin einen Apfel entgegenhält;
sie statuarisch zu fassen, wird auch durch die mangelnde Angabe ihrer Fülse uns
nahe gelegt. Dagegen ist links von derselben Göttin auf hohem Lager ausgestreckt
eine bekleidete weibliche Gestalt zu erblicken, die wir kaum anders als eine im
heiligen Raum ihrer Schutzgöttin bestattete und demnächst heroisirt in deren un-
mittelbarer Nähe hier dargestellte Verstorbene betrachten können. Mit dieser
Voraussetzung ist auch das räthselhafte Attribut in ihrer Rechten wohl vereinbar,
sofern wir, absechend von der Möglichkeit dafs ein Spiegel oder sonst ein ver-
stümmeltes Geräth damit gemeint sei, einen nicht sonderlich deutlichen aber wohl
erhaltenen Vogel darin erkennen, wie er (als aphrodisische Taube, als Ausdruck
jugendlichen Scherzes, als Sinnbild des flüchtigen Lebens oder wie sonst verständ-
lich) Darstellungen abgeschiedener Personen in ähnlicher Weise nicht selten beigeht.
Die somit beschriebene Figurengruppe ist wie von einem Teppich umgeben und
mit vier ionischen Säulen eingefalst; die ganze Platte mit ihrem in stark vertief-
ten Grund eingelassenen und auf zwei Fülsen ruhenden farbigen Bildwerk, war
auf einem zugleich gefundenen Tisch aufgestellt, dessen Zeichnung in stärker ver-
kleinertem Mafsstab unter no. 2 auf derselben Tafel ebenfalls beifolgt.
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Über eine Cista myslica des brittischen Museums.
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[Gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 14. Mai 1849.]
E.. Erzgefäfs, welches die in der Einleitung zu meinen „Etruskischen Spie-
geln” zusammengestellte Reihe der sogenannten mystischen Cisten von Erz(!)
vermehrt, ward im Anfang des Jahrs 1846 bei dem Kunsthändler Capranesi
zu Rom von mir besichtigt, und zwar gab dasselbe dem prüfenden Augen-
schein bald als ein Denkmal sich kund, welches gleich manchen ähnlichen
nur durch die mühsame und gewissenhafte Sorgfalt jenes kunsterfahrenen
Mannes aus mangelhaften und zertrümmerten Überresten morschen Metalls
zu der Gesammtheit eines gefälligen Kunstwerks wiedererstanden war. Eine
Abbildung davon zu nehmen war, wie die Mifsgunst des Antikenhandels
bereits seit längerer Zeit es mit sich bringt, untersagt und aus gleicher Be-
wandtnifs blieb es unmöglich mit Sicherheit zu erfahren, ob jene neuent-
deckte Cista, wie fast alle die früher entdeckten (?) und vermuthlich (°)
auch diese, aus Präneste oder aus irgend einem andern Ort herrührt. Um
so willkommner war theils die Jahr und Tag nachher mir zugegangene Nach-
richt, dafs die Capranesi’sche Cista nach England versetzt sei, ıheils die
bald darauf durch vielbewährte Gefälligkeit der Aufseher des brittischen
Museums mir zugegangene (*) Abbildung desselben, welche zu näherer Er-
örterung uns vorliegt.
Die cylinderförmigen Cisten von Erz, welche gleich der vorzüglich-
sten unter ihnen, der vortrefflichen des Kircher’schen Museums (°), sowohl
als Gehäuse eines allzeit darin gefundenen Metallspiegels (°), als auch haupt-
sächlich wegen der in ihren Umkreis mit geübter Hand eingegrabenen Zeich-
nungen uns wichtig sind, haben in Widerspruch mit der früherhin ihnen
ausschliefslich beigelegten Mysterienbeziehung sich zum Theil nur als Be-
Qgq?
492 GerHAnD über eine Cista mystlica
hälter männlichen oder weiblichen Badegeräths (7), zum Theil aber doch
auch in der That als Gefälse bekundet, denen die Anwendung zu mystischen
Gebräuchen theils durch ihren Inhalt (°) theils durch aufgeheftete mystische
Deckelgruppen (?) unzweifelhaft zustand, und nur darüber konnte zuletzt
noch die Frage sein ob eine solche Mysterienbeziehung den früher schlecht-
hin so genannten mystischen Cisten blofs nachträglich aufgedrungen war oder
auch ursprünglich zustand. Jene erstere Ansicht ward durch die bisher nir-
gend mit Mysterien oder Unterweltsdienst verknüpft erschienene Auswahl
der Gegenstände begünstigt welche, wie Argonautenfahrt und troische Sa-
gen, zugleich mit palästrischen Darstellungen aus den bisher bekannten Ci-
stabildern veröffentlicht war; dafs es aber auch ähnliche Cisten gab, welche
solchem Zweck des Geheimdienstes bereits ursprünglich zugedacht waren,
wird durch die Bildnereien der Capranesi’schen Cista augenfällig, in welcher,
wenn nicht Mysteriengebräuche, doch unverkennbare Kultusgestalten baechi-
scher Unterwrltsmächte erscheinen.
Hierüber sofort jeden Zweifel zu heben, fassen wir mitten aus der
die Cista umgebenden Figurenreihe zuerst die sprechendste und zugleich
schreckbarste der darin enthaltenen zwölf Gestalten ins Auge, nämlich
die eines weinbekränzten, nackten und bartlosen Dämons, dessen zahnflet-
schendes vielleicht auch behörntes Angesicht, verbunden mit der von seinen
beiden Händen gefafsten umgekehrten Fackel, auch ohne Hammer und über-
triebenes Profil, uns an den etruskischen Todesschergen Charon (!?) erin-
nert. Eine Verbindung desselben mit den Gebräuchen der in Italien fast
mehr als in Griechenland verbreiteten bacchischen Mysterien war schon aus
früher entdeckten Denkmälern, namentlich tarquiniensischen Wandgemäl-
den (!!), bekannt; nirgend aber war eine solche dämonische Todesgestalt so
sichtlich wie hier mit Gestalten und Gruppen eingeweihter Sterblicher ver-
bunden erschienen. Dem Dämon auf der von einem Baumstamm begrenzten
linken Seite unsers Bildes gegenüber erblicken wir, von seinem Mantel um-
kleidet, einen weinbekränzten Bacchuspriester, den ein mit ihm dem To-
desdämon entgegentretendes Nlädchen ängstlich mit ihrer Rechten umfafst,
während sie mit ihrer andern Hand den von ihm gereichten und mit Bändern
umwundenen Thyrsus, ein sprechendes Symbol früh geübter bacchischer
Einweihung, mit ihrem Führer zugleich ergriffen hält. Dieser bereits im
Kindesalter den Schrecknissen des Todes entgegengesetzten Einweihung('?)
des brittischen Museums. 493
reiht andererseits von dem Todesdämon eine Scene elysischer Tänze sich
an. Eine verhüllte bis über Haupt und Kinn bedeckte Tänzerin findet hier
schattenähnlich einem weinbekränzten Satyr gegenüber zum Doppeltanz sich
auf ähnliche Weise vereinigt, wie auch in etruskischen Wandmalereien (13)
tanzende Paare die materielle Seligkeit des jenseitigen Lebens bezeichnen.
Es folgt, wiederum bacchisches Laub in der Rechten erhebend, ein älterer
bärtiger und übrigens in seinen Mantel gehüllter Bacchusdiener, dessen auf-
schauender Blick und zuversichtliche Haltung einen absichtlichen Gegensatz
zu der nächstfolgenden Darstellung bildet. Hier scheint nämlich in der
sitzenden Figur eines oberhalb nackten bärtigen Mannes von düsterm An-
sehn, der in seiner Linken ein Scepter hält und mit seiner Rechten eine
matronenhaft vor ihm stehende bekleidete Frau traulich über der Hand am
Knöchel (!*) falst, Pluto der Unterweltsgott mit seiner Gemahlin Proser-
pina gemeint zu sein, womit es nicht unvereinbar ist nebenher einen Schild
als Andeutung abgelegter und den Todesgöttern geweihter (!5) Waffen zu
erblicken. Den Unterweltsgebietern naht, durch hohen Pflanzenwuchs ge-
trennt, ein Jüngling mit vorgestrecktem rechten und mit aufgelegtem Ge-
wandstück versehenem linken Arm. Ein anderer Jüngling, der eben vom
stehenden Pferd herabgleitet, folgt nächstdem: eine Siegesgöltin bekränzt
ihn mit Tänien und deutet dadurch, wie der Lorbeer auf Grabgefäfsen (6),
die würdig vollendete Lebensbahn ihres der Unterwelt früh anheimgefallenen
Schützlings an.
Bei solchem Inhalt der Bildnereien der Capranesi’schen Cista gewährt
uns dieselbe im ersten aus dieser Gattung von Kunstdenkmälern zu Tage ge-
fördertem Beispiel verbundener palästrischer, bacchischer und Grabesbezüge
ein ganz ähnliches Verhältnils gemischter Anwendung ähnlicher Erzgefäfse,
wie wir auch an den bewalten Thongeläfsen es kennen. Während in diesen
Form und Darstellung ursprünglich nur einfachen — palästrischen, hoch-
zeitlichen oder sonstigen — Scenen des Alltagslebens galten, nach lange be-
folgter Beisetzung aber solchen schmückenden Hausgeräths in Grabeskam-
8
mern auch zur Darstellung von Einweihungs- und Grabesgebräuchen und zu
unmittelbarer Anwendung für Grabeszwecke aufforderten (!’), haben auch
jene berühmten eylindrischen Gehäuse nicht blofs als Behälter für Schrift-
rollen, Badegeräthb und Frauenschnmuck, sondern, nach häufiger Beisetzung
solcher Serinia ('°), samt anderm Geräth das den Tocdten ins Grab gefolgt
494 GERHARD über eine Cista myslica
war, auch der Mysterienbildnerei Anlals und Spielraum gewährt, die wir
im aufgehefteten Deckel der Kircher’schen und auch in den Bildnereien der
Capranesi’schen Cista vorfinden. Dergleichen Erzgefälse als mystische Cisten
schlechthin zu bezeichnen war irrig; eben so willkürlich aber war es, eine
dann und wann schon ursprünglich ihnen zugedachte religiöse Bestimmung
zum Grabesschmuck und eine darauf bezügliche bildliche Andeutung auf
Mysteriensitte ihnen abzusprechen.
Anmerkungen.
(') Gerhard Etruskische Spiegel I, S.3-73. Taf. I-XIX.
(2) Ihrer zwölf sind in meinem gedachten Spiegelwerk abgebildet, von denen Mül-
lers Handbuch $. 173, 3, selbst in dessen neuester Ausgabe, nur fünf kennt. Fast alle
jene Cisten rühren bezeugtermalsen aus Präneste her; nur eine von der üblichen hohen
Cylinderform beträchtlich abweichende volcentische im Museo Gregoriano (Etrusk. Spiegel
I, 9-11) und eine noch verschiedenere, durch Bianchini bekannte, Pennaechi’sche Cista (Etr.
Sp. I, 12. 13) ist andern Ursprungs. Volcentisch oder aus benachbarten Funden herrührend ist
auch eine ohne Graffiti verbliebene kleine Cista meines Besitzes; dagegen die in Müller’s
Handbuch S. 189 N. A. von Welcker erwähnte volcentische des Kunsthandels, soviel mir er-
innerlich ist, auf willkürlicher Einpassung gewisser Gorgonenreliefs in eine Cistaform beruht.
(%) Laut brieflicher Mittheilung des Hrn. Fr. Capranesi, welche von etwanigen Nebenum-
ständen des Fundes leider nichts zu besagen wulste.
(*) Durch besondere Gefälligkeit des Hrn. Sam. Birch.
(5) Kircher’sche oder Ficoroni’sche Cista: Müller Handh. 173, 3, 1. Gerhard Eir. Spie-
gel I, S. ı4 ff. Taf. II. In der Gröfse des Originals sorgfältig gezeichnet ist dies vortreflliche
Werk so eben zweimal erschienen: aus Bröndsteds Nachlals in Kopenhagen (Den Ficoroniske
Cista. 1847), und neuerdings durch Emil Braun’s Sorgfalt von Rom aus in Leipzig (Die Fi-
coronische Cista 1850).
(6) Metallspiegel als regelmäßsiger Inhalt ähnlicher Cisten und mit Wechselbezug der
beiderseitigen Bildnerei: Etr. Sp. I. S. 4. Anm. 16.
(7) Behälter für Badegeräth, laut darin gefundenen Striegeln, Ölfläschchen, Kämmen,
Nestnadeln und Schminkgefälsen: Etr. Spiegel I. S. 4. Anm. 17.
(8) Bacchische Thierfiguren wurden in der Borgianischen, äufserst wunderliche eines
entschiedenen Mysterienbezugs in der Pennacchi’schen Cista gefunden. Vgl. Etr. Sp. I. S. 9,
46. 10, 49. 26, 61. 37 ff.
des brittischen Museums. 495
(°) Offenbaren Mysterienbezugs ist die aus einer Frau und zwei Satyrn gebildete feier-
liche Deckelgruppe der Kircher’'schen Cista, der die frivolen bacchischen Gruppen zwei an-
derer Cisten wohl entsprechen. Abg. in originaler Grölse bei Bröndsted Ficor. Cista Taf. V.
Vgl. Etr. Sp. I. S. 15 ff.
(0) Charon, der Unterweltsscherge, verzerrten Angesichts, meist einen Hammer hal-
tend, aus etruskischen Grabreliefs und Malereien zur Genüge bekannt: Müller Etrusker II, 100.
Ambrosch De Charonte etrusco. 1837. Braun Ann. d. Inst. IX, 253 ss. Gerhard Archäol. Zei-
tung III, 25. Abh. Etrusk. Gottheiten (Akad. 1815) Anm. 198.
(‘) Bacchischer Charon: phallisch und von einer Thyrsusträgerin begleitet auf einem
etruskischen Stamnos des Kgl. Museums. Vgl. Neuerworbne Denkm. no. 1622. Ambrosch De
Charonte tab. I. Braun Ann. IX, 272. Mon. d. Inst. II, 5.
(2) Frühe Einweihung in bacchische Mysterien ist aus Livius (XXXIX, 9: mater ado-
lescentolum appellat se pro aegro eo vovisse.. Bacchis eum se initiaturam) für den Knaben
bezeugt, dessen Einweihung zum Gesetz Anlals gab, ne quis maior viginti annis initiaretur
(Liv. XXXIX, 13); griechische Inschriften aber weisen sogar Einweihungen zwei- und sie-
benjähriger Knaben nach (Fabretti Inser. p. 425. 429. Eir. Spiegel I. S. 42. Anm. 53). Die
Einweihungsscene eines Mädchens ist auf der problematischen Koller’schen Cista (Etr. Sp. I,
17. 18. $.59 f.), aber auch bei Tischbein Vases II, 12 abgebildet.
() Elysische Tänze: Monum. d. Inst. I, 32. 33. Ann. III, p. 331. Micali Storia tav. 68.
(14) Xeig’ mi zeoma. Vgl. Helena, von Menelaos geführt, auf einer nolanischen Amphora
der Kgl. Sammlung (Berlins Bildwerke no. 851) u. a. m.
('°) Ähnlich die Weihung auf dem Harpyienmonument von Xanthos: Mon. d. Inst. IV, 3
(Archäol. Zeitung I, 4). Annali XVI, p. 146.
(%) So die Lockenbekränzung der Todtengenien, denen Siegsgöttinen zur Seite gehn,
auf einem vatikanischen Sarkophag (Gerhard Antike Bildw. LXXV, 2. S. 315). Vgl. Beschrei-
bung Rom’s I, S. 324.
(7) Wie solche Sitte erst aus den Gefälsmalereien Unteritaliens bekannt ist. Vgl. Rap-
porto volcente p. 96 not. 937 ss.
('°) Scrinien, ein für Bücher und Salbkapseln (scrinia unguentorum Plin. H. N. XIII, ı)
gleicherweise bezeugter Ausdruck. Vgl. Etr. Spiegel S. 9. 68.
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Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 11. Juli 1850.]
D. einst unwiderstehliche Kraft der Mongolen ward in China früher ge-
brochen als in jedem anderen von ihnen eroberten Lande. Mit der sittli-
chen Erschlaffung seiner Kaiser hatte die des eingewanderten Volkes Schritt
gehalten, und etwa neunzig Jahre nachdem der grofse Chublai das ganze
Mittelreich bemeistert, mufste Togon Temür bei nächtlicher Weile fliehen
und jenseit der Grofsen Mauer sein Heil suchen. (!)
Dieser sein Lebelang unmündige Fürst, in dessen Namen eine Ironie
des Schicksals das Wort Eisen (temür) wieder angebracht hatte, welches die
Wurzel von Temudschin ist, (?) verträumte ein volles Menschenalter auf
dem ‘Drachenihron’, den er als junger Knabe bestiegen. Die chinesische
Geschichte sagt von ihm, was von den meisten Gewalthabern des Ostens
gesagt werden kann: “Er kümmerte sich um nichts, wohnte tief im Palaste,
und überliefs alle Geschäfte seinem ersten Minister. (?) Beiläufig wird auch
bemerkt, dafs er Geschmack an mechanischen Künsten und an den Tänzen
gefunden, welche seine Palastdamen bei religiösen Festen aufführten. Selbst
dichterischer Phantasie scheint Togon Temür nicht ganz entbehrt zu haben,
(') Chublai hatte erst 1279 die Eroberung von Südchina vollendet, obgleich sein Kaiserti-
tel von 1260 ab sich datirte,
(2) So führte der letzte Schattenkaiser des römischen Westreichs wieder den Namen R o-
mulus. — Temudschin heilst, wie das türkische „>, »+.3 timurdschi oder „>,
demirdschi, ein Arbeiter in Eisen. Es war der erste und eigentliche Name des grolsen
Tschinggis - Chan.
(3) ki wu sö ischuen, schin kiü kung tschung, mei sfe kiue jü tsäi-siang. Kang-kien-i-
tschi-lu‘ der königl. Bibl., Buch 92, Bl. 3.
Philos.-histor. Kl. 1849. Rrr
498 Scuorm:
wenn anders eine Art Klagepsalm, den ihm Sanang Setsen auf seiner Flucht
in den Mund legt, ganz oder theilweise als eigne Schöpfung des kaiserlichen
Flüchtlings zu betrachten ist.
Die Regierungszeit dieses letzten Tschinggisiden in China war durch
zahllose, bald unheilbringende, bald wenigstens schreckende Naturereignisse
bezeichnet, für die Chinesen eben so viele Anzeigen des Himmels, dafs etwas
im Reiche faul sei, oder die herrschende Dynastie ihrem Untergang entge-
geneile. In keiner Periode gab es häufiger Blutregen, aus der Erde schla-
gende Flammen, Bergstürze, am Nachthimmel emporwallende Feuerwolken,
nächtliches Waffengeklirr in den Lüften, u.s.w. Zu den Störungen der
Natur gesellten sich bald vielfache Empörungen und unermeßsliches Elend.
Längst hatten einzelne Banden Verzweifelter, zwar verheerend, aber
planlos, in dem ungeheueren Reiche sich umgetrieben, als 1351 den Mongolen
ein gefährlicherer Feind in den sogenannten N Hung-kin d.i.
5 fe) rıN o°
Rothmützen, erwuchs. Allein auch sie waren nur plänkelnde Vorläufer des
Hauptsturmes, oder zerrinnender Schaum oben auf dem todtbringenden
Tranke, der bis auf den Grund des Gefäfses zu schlürfen blieb.
Eine trügerische Ruhe von mehreren Jahren, die nach Vernichtung
der Rothmützen folgte, machte den Kaiser so sicher, dafs er seinen Lüsten
und Lieblingszeitvertreiben mit erneutem Eifer sich zuwandte. Unter An-
pn 2
deren liefs er ein ‘Drachenschiff” ( BE 4 lung-tscheu) zimmern, das
aber nicht, wie die gleichbenannten Fahrzeuge scandinavischer Helden, den
Sturmwogen des Oceans trotzen sollte, sondern zu schleichenden wollüsti-
gen Fahrten auf einem kleinen See bestimmt war, welchen der riesige Lust-
park des Kaisers einschlofs. Dies Fahrzeug soll ein Meisterwerk mechani-
scher Kunst gewesen sein: es wurde von vier und zwanzig, ganz in Gold-
stoff gekleideten Männern gerudert, hatte die Gestalt eines Drachen, und
bewegte während der Fahrt Kopf, Augen, Maul, Schweif und Klauen auf
täuschende Weise. Aufserdem besafs der Monarch eine merkwürdige gro-
fse Wasserschlaguhr, vermuthlich von arabischer Erfindung und Arbeit,
mit Figuren, deren Erscheinen die Stunden anzeigte.
Seit Anfertigung des “Drachenschiffes’ war ungefähr ein Jahr verflos-
sen, als wiederum sogenannte ‘Räuber’ in den verschiedensten Gegenden
Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China. 499
des Reiches ihr Haupt erhoben. Endlich um die Mitte des Jahres 1355 trat
ein gewisser Tschü-juan-tschang aus dem heutigen Fung-jang-fu, (t)
bis dahin einfacher Mönch in einem einsam liegenden buddistischen Kloster,
als Parteiführer mit in die Schranken. Dieser damals noch im Jünglings-
alter stehende Held eröffnete, nicht blofs wider die Mongolen, sondern auch
wider chinesische Empörer, denen es nicht um das Heil des Ganzen zu thun
schien, einen dreizehnjährigen Vernichtungskrieg. Sein Wahlspruch lautete:
“Beruhigung der Welt, Erlösung der Völker.(?) Alle Grausamkeit gegen
Besiegte oder Gefangene war ihm verhalst; er bemübte sich, in jedem er-
oberten Stücke Land die Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen
hatte, empfahl den Bewohnern jeder Stadt, welche ihm ihre Thore öffnete,
ruhige Fortsetzung ihrer Beschäftigungen, forderte sie auf, guten Muthes
zu sein, und zwang Niemand, seinem Heere sich anzuschliefsen, das nur
aus freiwilligen Kämpfern bestand.
Von Erregung oder Nährung eines allgemeinen Hasses gegen Tyran-
nen, sofern sie Ausländer, war damals und überhaupt niemals die Rede —
ein Umstand, der mir sehr beachtenswerth scheint. Die entarteten Nach-
kommen eines fremden, in China eingedrungenen Fürsten und seiner Strei-
ter werden dort aus keinem anderen Standpunkte betrachtet, als jede ein-
geborne, ächt chinesische Dynastiezur Zeitihressittlichen Ver-
falls. Gilt es, solche abgestorbene Bäume auszurotten, so thut man dies
immer mit gleichem Eifer und gleicher Erbitterung, mögen sie nun ange-
stammt — der chinesischen Erde gleichsam entwachsen — oder von drau-
fsen her nach China verpflanzt sein. Der Himmel selbst hatte den Mongo-
len zeitweilige Herrschaft über das "Reich der Mitte’ verliehen; und es mufs-
ten also die Fürsten aus Tschinggis-Chans Geschlechte geehrt werden wie
(!) Liegt am Hoai-ho in der vormaligen Provinz Kiang-nan.
(2?) an t’ien-hiä, kieu-seng min. Kang-kien ebds., Bl. 23. Um übrigens den Verdacht kos-
mopolitischerBestrebungen von seinen Manen abzuwälzen, setzen wir hinzu, dals unter der Welt
nichts als China, unter den Völkern nur das chinesische Volk zu verstehen. Schon den halb mythi-
schen Fürsten Jü, der nach gewöhnlicher Annahme von 2205 bis 2195 vor u. Z. regierte, lälst eine
uralte, stereotyp gewordene Sage bei irgend einer Gelegenheit äufsern: er habe vom Hinmel
die Mission empfangen, mit Aufgebot aller Seelenkräfte den zehntausend Völkern
zu helfen: ke li” 1 ldo wan-min.
Rrr2
500 ScHuorr:
ein einheimisches Regentenhaus, bis sie durch ihr eignes Gebaren die himm-
lische Gnade verscherzt hatten.
Eine bei den meisten Völkern sich vordrängende Befürchtung, dafs
nämlich fremde Eroberer die Nationalität der Besiegten untergraben könn-
ten, fällt in China ganz hinweg. Der Eingeborne weils aus seiner Landesge-
schichte, dafs kein ausländisches Volk, auch wenn es Jahrhunderte über
China oder Theile Chinas geherrscht, jemals fähig gewesen ist, an Sitten,
Gebräuchen, Denkungsart der Unterdrückten zu rütteln, dafs der Barbar
vielmehr, wie öfter ausgesprochen worden, auf chinesischem Boden die
eigne Volksthümlichkeit unwillkürlich ablegt und, ohne mit dem unter-
worfenen Volke sich zu vermischen, selber zum Chinesen wird. (?)
Die Ereignisse will ich nur kurz berühren. Da Tschü-juan-tschang
in der ersten Zeit seines kriegerischen Wirkens zu schwach war, um sofort
auf Peking marschiren zu können, ihm auch für jeden Erfolg daran gelegen
sein mufste, dafs er sich den Rücken frei hielt: so suchte er vor Allem seine
Macht im südlichen China zu begründen und mit dem Riesenstrome Jang-
tsfe-kiang, der so oft die Scheide zwischen Nord und Süd gewesen, sich zu
decken. Erst nach Erstürmung (oder freiwilliger Übergabe) der bedeutend-
sten festen Plätze des Südens wendete das unterdefs furchtbar angewachsene
Befreiungsheer sich nach Schan-tung, und als es auch dieser Provinz Mei-
ster war, geschah der grofse Sturm auf die Residenz. Seines Palastes nur
noch wenige Siunden Herr, packte der Kaiser in angstvoller Hast Prinzen
und Harem zusammen, liefs in stiller Mitternacht eine Pforte öffnen, und
floh nordwärts. (?) Dabei thaten ihm zwei Grofswürdenträger Vorschub,
die den Palast noch eine Zeit lang mit ihrer Mannschaft besetzt hielten.
(') Auch die seit zwei Jahrhunderten über China herrschenden Mandschu aus Tungusien
sind bis heute unvermischt geblieben und doch in Sprache, Sitten, Geistesrichtung zu Chine-
sen geworden.
(2) Die erwähnte Pforte wird von den Chinesen Kien-te’ d.i. indefessa virtus ge-
nannt. Sanang Setsen giebt ihr aber den mongolischen Namen Multuschi, der vielleicht
mit Entlaufen, Entweichung zu übersetzen ist; denn das mongolische Wort multuktschin
der Hase scheint gleiche Wurzel zu haben. Man vergleiche in derselben Sprache multul-
chu abziehen, abstreifen, entkleiden. Die drei nothwendigen Gonsonanten m (p)It begegnen uns
wieder in dem hebr. D>% und ©>D und in Kernwörtern des indisch - europäischen Stammes.
Alles führt auf eine Urbedeutung wie glatt und schlüpfrig zurück.
Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China. 501
Dem Juan-sfe-lui-pien (Buch 10, Bl. 53) zufolge (') hatten die zwei
mongolischen Grofsen im kritischen Augenblick ihren unglücklichen Gebie-
ter aufgefordert, mit allen seinen Getreuen einen rühmlichen Tod im Kam-
pfe zu suchen. “Dieses Reich’ — so sprachen sie unter Thränen — ‘ist das
Reich deines grofsen Ahnherrn Chublai! (?) Du mufst es mit deinem Tode
behaupten. Lafs uns alle waffenfähigen Leute, die noch übrig, zusammen-
rufen, einen Ausfall thun und kämpfend untergehn!” Für diesen, des alt-
mongolischen Heldensinnes würdigen Zuruf blieb der elende Kaiser taub:
er antwortete mit keiner Sylbe und schlich bei nächtlicher Weile davon.
Fürst Sanang Seisen, der sonst liebenswürdige, aber für seine Ahnen
(auch er stammte von Tschinggis) zu parteiisch eingenommene mongolische
Chronist, stellt den edlen Tschü-juan-tschang als einen schlauen Verräther
dar, der sich in des Chagans Vertrauen eingenistet und dessen treuergeben-
ste Räthe gestürzt habe, um seine ruchlosen Anschläge desto sicherer auszu-
führen. Von dem Allen weifs die chinesische Überlieferung nichts: dieser
zufolge hat der Befreier Chinas überhaupt niemals ein kaiserliches Amt be-
kleidet, ist mit der höchsten Person nie auch nur in entfernte Berührung
gekommen, und von seinem ersten Auftreten an erklärter und ehrlicher Em-
pörer gewesen.
Sanang Setsen läfst nun den gestürzten Kaiser, wie schon angedeutet,
auf seinem Abzuge in halbrythmische Klagen ausbrechen, die ich, von
(*) Dieses Werk, von welchem die königl. Bibliothek ein Exemplar besitzt, ist eine chi-
nesisch verfalste, mit den ältesten Traditionen der Mongolen anhebende Geschichte ihrer Dy-
nastie in China, Zuerst gedruckt im 38ten der Jahre Kang-hi (1699). Der Titel heifst:
“nach Materien geordnete Begebenheiten der Dynastie IT an denn diesen chinesischen
Namen, der mit grols, ausgezeichnet übersetzt werden kann, gab sich das in China
»
regierende mongol. Kaiserhaus. So betiteln die Mandschu ihr Herrschergeschlecht YB
Ts’ing das Reine oder Durchlauchtige; und die Oberhäupter eines mit ihnen nahe ver-
wandten Stammes, welcher vor der mongolischen Invasion Nordchina besals, hatten sich wäh-
rend dieser Periode a Kin die Goldnen genannt.
@) e Tr za + IE 7, T Vien-hia tsche Schi-tsu tschi
?ien-hia. Der posthume chinesische Name des Chublai ist Schi-tsü, was Ahnherr des
Geschlechtes bedeutet.
502 Scsortm:
Schmidts Übersetzung etwas abweichend, hier folgen lasse. Welches auch
der Ursprung dieser kurzen Jeremiade sei: (!) sie schildert meisterlich den
kindischen gekrönten Wüstling, dessen Gemüth seine zwei prächtigen Resi-
denzen beinahe vollständig ausfüllen:
‘Du meine edle und grofse Stadt Daitu, mit mannigfachen Kostbar-
keiten geschmückt! (?)
Du herrlicher kühler Sommersitz, (?) mein Schangdu Keibung
Kürdü-Balgasun!
Du Lust meiner göttlichen Ahnen, gelbe Ebene (*) von Schangdu!
Ich liefs mich täuschen und — meine grofse Herrschaft war dahin!
Du mein Daitu, aus neunerlei edlen Stoffen erbaut! (°)
Mein Schangdu Keibung, du Verein aller Vollkommenheiten!
Mein hoher Name und Ruhm, als Herr und Chagan der Welt!
Wenn ich früh erwachte und aus der Höhe hinabschaute, drang wür-
ziger Duft zu mir empor.
Wohin ich nur meine Blicke warf — Alles war Schönheit und
Herrlichkeit!
(1) Hat Sanang Setsen selber sie verfasst, so kann man vielleicht sagen, dafs er hier un-
freiwillig ironisch geworden ist.
(2) Daitu, genauer T’ai-tu d.i. grolse oder erhabene Residenz, hiels eine durch
Chublai erbaute Stadt, nur drei chinesische Stadien von Tschung-tu d.i. mittlere Resi-
denz, wie damals Peking benannt ward. Sie war Winteraufenthalt der Kaiser.
(3) Dieser Sommeraufenthalt der Kaiser lag jenseit der Grolsen Mauer unter 42° 25’ Breite
und 114° Länge von Paris, in einer romantischen Gebirgsgegend des heutigen Gebietes
Tschachar, und war ebenfalls von Chublai gegründet. Sanang Setsen drängt hier drei
Namen zusammen, welche dieser herrliche Ort führte: die beiden chinesischen, genauer ge-
schrieben Schang-tu d.i. obere Residenz, und Kai-ping (etwa Friedenstadt),
und den mongolischen Kürdü-Balgasun, wörtlich Rad-Stadt, vermuthlich eine Anspie-
lung auf die Frömmigkeit der Mongolenkaiser, welche von ihren lamaitischen Geistlichen
“Umdreher des Rades der heiligen Lehre’ d. i. "Verbreiter des heiligen Glaubens’ betitelt wur-
den. Doch ist das Rad, kürdü, tibetisch kor-lo, auch überhaupt Symbol der höchsten Ge-
walt. Im Sanskrit heilst rat tschakrawartin Radumdreher s. v. a. höchster Monarch,
Herr der Erde.
(*) Gelbe Ebene oder Steppe, im Texte Schara Tala, was Schmidt unübersetzt
gelassen.
(©) D.i. aus neunerlei kostbaren Stein- und Metallarten. Gewöhnlich rechnet man de-
ren sieben.
Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China. 503
Mein Daitu, von dem grofsmächtigen Chublai erbaut, du Ort,
wo man mülsig sein konnte ohne Überdrufs! (!)
Ihr meine in Geschäften eifrige Grolsen und Räthe! du mein schwar-
zes (gemeines) Volk!(?)
Mein Unglück war es, dafs ich auf die weisen Ermahnungen des
Ilagu Tschingsang nicht achtete; (?)
Mein Blödsinn, dafs ich dem gleifsnerischen (wie eine Schlange sich
windenden) Dschüge Nojan vertraute.
In strafbarem Irrwahn verbannte ich meinen edeln Obergeistlichen.
In unseliger Verblendung tödtete ich den verständigen Toktaga
Taischi!
Mein erlauchter Name als weitgebietender Herrscher!
Mein Daitu, wo Heiligkeit thronte — du prachtvoll erbaut von dem
verewigten Chublai!
Alles, Alles ist mir entrissen!
Der Verrath des Chinesen Dschüge Nojan hat mir nichts gelassen
als meinen schlechten Namen Togon Temür!’
Tschü -juan-tschang, jetzt erster Kaiser eines neuen Herrscherhau-
ses, (*) verfolgte mit seinen Feldherrn die flüchtigen Tschinggisiden bis an
den Pe-ho (Nordstrom,) d.i. den Kerulen-Argun, nahm einen Enkel Togon
Temürs gefangen und kehrte zurück. Der Exkaiser aber baute sich am
Kerulen eine Stadt, die er aus Ingrimm Bars-Chotan (Tigerstadt) nannte.
Hier lebte er noch zwei Jahre und starb 1370 im 51. Lebensjahre. Der
(‘) Eine freilich unbezahlbare Errungenschaft.
(2) Ein kleiner Winkel des kaiserlichen Herzens war demnach sogar dem Volke geblie-
ben. Es versteht sich übrigens, dafs nur die Mongolen gemeint sind.
() "Evssrı yatg mus Toüro rn FUgavVIÖL
Nosyuc, rois diAosı ur memorSevat.
Aeschylus im Prometheus, V. 224-25.— Wegen dieser und der folgenden historischen An-
spielungen verweise ich übrigens auf Schmidts Ausgabe des Sanang Setsen, die bekanntlich
von deutscher Übersetzung begleitet ist. Unter Dschüge Nojan ist eben Tschü- juan -
tschang zu verstehen.
(*) Der 2)3 Ming oder Leuchtenden, unter denen auch, beiläufig bemerkt, das Licht
des Christenthums in China angezündet oder wieder angezündet wurde.
504 Scnorr: Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China.
Befreier Chinas war so grofsmüthig, seinem der Zeitlichkeit entrückten
Feinde den posthumen chinesischen Namen Schün-ti zuzuerkennen, was
gehorsamer Kaiser bedeutet, “denn (so sagt die Geschichte) er bewies
sich dem Himmel gehorsam, indem er aus China abzog.” Seinem Enkel
Maitribala (') verlieh er die Vasallenwürde.
Und das neue heimische Fürstenhaus war auf “hunderttausend Mal
hunderttausend Jahre’ befestigt, bis das Schwert der Mandschu (um die
Mitte unsers 17. Jahrhunderts) von dieser entsetzlichen Zahl einen stattli-
chen Bruchtheil als unnöthig weghieb. Und der alte Kreislauf erneuerte
sich und wird bis ans Ende der Zeiten noch unzählige Male sich erneuern,
wenn nicht europäische Politik auch im “Reiche der Mitte! Wurzel schlägt.
(‘) Dieser Name, augenscheinlich sanskritisch, kann nichts anders heilsen als Kind (näm-
lich geistliches) des Maitreja, d. i. des Buddas der nächsten Weltperiode, und steht also für
Aerzrsıtt Maitrejabäla.
Das Reich Karachataı oder Si-Liao.
Fb
SCHOTT.
mmnnnmnnaNNWUN
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. März 1850.]
I. zwölften Jahrhundert u. Z. gab es, nach den Zeugnissen westasiatischer
und chinesischer Schriftsteller, ein heidnisches Reich Innerasiens, das öfter
mit Charefm-Schahen glücklich kämpfte und einem der gewaltigsten Seld-
schuken-Sultane eine furchtbare Niederlage beibrachte. Es wird in den
westasiatischen Quellen Kara-Chatai d.i. Schwarz-Chatai genannt, und
die Länder, die es hauptsächlich umfafste (Kaschgar, Jerkend, Chotan)
bildeten seit 1228 den gröfseren Theil der Staten des Tschagatai.(!) Im
selben Jahre, ein Jahrzehent nach Einverleibung aller dieser Länder in
das mongolische Weltreich, wurde ein Karachatajer hohen Ranges Stamm-
herr einer eigenen Dynastie in Kerman, die aber von den persischen Mon-
golen abhängig ward und bis 1306 fortvegetirte.
Bei dem osttürkischen Schriftsteller Abulgafi (er lebte im 17. Jahr-
hundert) geschieht der Karachatajer an mancher Stelle Erwähnung. Es
mufs aber hier erinnert werden, dafs der sonst eben so gelehrte als tapfere
Sultan von Charefm in der Erdbeschreibung nicht sehr beschlagen war, und
dafs sein "Türkenstammbaum’ erst um Tschinggis-Chans Zeit einen geschicht-
lichen Charakter erhält. Vor Tschinggis-Chan ist Alles ein Gewebe von
Sagen, ohne schärfere Völkertrennung, und die verworrensten Begriffe von
Ländern, wohin der Islam nicht gedrungen ist, kundgebend. Schon Oguf,
der uralte mythische Welteroberer, dem selbst Egypten und Syrien unter-
('‘) Man hüte sich, das Wort Chatai als Bestandtheil dieses mongolischen Namens zu be-
trachten. Der Sohn des großsen Tschinggis war von “weilser Farbe benannt, die Symbol
des Adels und Ruhmes ist: tschaga weils; taı begabt. So bedeutet tschagalachu weils
machen und rühmen, preisen. Im Türkischen hat man Kl 55» sein Antlitz ist weils (er
ist mit Ehre, mit Sieg gekrönt) und eines Angesicht weils machen «X#) 5 (ihm Ehre
anthun, ihn feiern).
Philos. -histor. Kl. 1849. Sss
506 Scsortrt:
liegen müssen, (1) bemeistert sich bei unserm Abulgafi eines Reiches Kara-
chatai, nachdem China und Tibet bezwungen sind. “Karachatai’ — so sagt
er (S. 12 der kafaner Ausgabe) — “ist ebenfalls ein grofses Land. Die Ein-
gebornen sind von Gesicht so schwarz wie die Hindus. Es dehnt sich zwi-
schen Hindustan und China (so!) und am Rande des Weltmeers
aus. Dem Lande Tangut liegt es zur Winterzeit in der Gegend wo die
Sonne aufgeht, zur Sommerzeit aber im Kuschluk.
Es versetzt also unser Verfasser das fragliche Land entweder in das
südwestliche China, oder nach Hinterindien. Die türkischen Worte wssil
an als Wull sn (ls u ll us Ss erlauben keine an-
dere Deutung. (?) Aller Wahrscheinlichkeit nach fufst diese erschreckliche
Translocation auf einer Verwechslung mit Karadschang (dem Karazan
des Marco Polo), wie die mongolischen Eroberer Chinas einen Theil von
Jün-nan, also der südwestlichsten Provinz des Landes, benannten. Der
Name Karadschang war dem chinesischen Namen U-Man d.i. “schwarze
Südbarbaren’, nachgebildet; denn es wird ausdrücklich gesagt, dafs ein Theil
der Eingebornen dieser Gegend von schwarzer Farbe gewesen. (?)
Die Hauptstelle über Abkunft und frühere Schicksale der Karachata-
jer finden wir S. 29-30 der kafaner Ausgabe. Daselbst sagt der ehrwür-
dige Sultan: “Es giebt zweierlei Chatai, von denen das eine Karachatai heifst.
Einst entzweiten sich viele Chatajer mit ihrem Fürsten, wanderten aus und
kamen zunächst ins Land der Kirgifen, wo sie als Fremde räuberisch an-
gegriffen wurden. Von dort zogen sie weiter nach Idil, bauten eine Stadt,
besäten und bevölkerten das Land. Verarmte und hungernde Leute aus
allen Gegenden liefsen sich unter ihnen nieder, und so wurden sie ein Volk
von 40000 Familien. Um jene Zeit entstand ein grofses Reich Dschurd-
(') Der Verf. des Dschihännumä läßst (S. 370 der in Constantinopel gedruckten Aus-
gabe) den Ogul im Westen nicht über Buchara hinauskommen. Auch unterwirft er bei ihm
nur die von Mogul und Tatar abgeleiteten Völker, nicht die Chinesen und Tibeter.
(2) (rs kuschluk ist die Mitte zwischen Sonnenaufgang und Mittag. Karachatai
sollte den Tangutern (Tibetern) in derjenigen Himmelsgegend liegen, wo die Sonne im Win-
ter aufgeht, im Sommer aber schon das Kuschluk einnimmt, also im Südosten.
(3) Hier existirte einst das Reich Ta-li, an welches der heutige Distriet Ta-li-fu noch
erinnert. Vergl. Ritters Erdkunde, Asien, B. III, S. 733 und 741-744.
Das Reich Karachalai oder Si-Liao. 807
.schit, dessen König den von Chatai (!) überwand und tödtete und seine
Staten an sich rifs. Da flüchtete ein Grofser des erschlagenen Königs, Nuschi
Taifu, (2) um 513 (1119-20 u. Z.) mit vielen Gefährten und vielem Volke
ins Kirgifenland und von dort zu den Chatajern von Idil. Er war ein klu-
ger und weiser Mann, dessen Ruf nach einigen Jahren überall hin sich ver-
breitet hatte. Nun gab es in der Stadt Balasgun einen Chan vom Stamme
Afrasiab, seines Namens Iek. In den Umgebungen jener Stadt hausten
viele (nomadische) Türken, besonders vom Stamme Kangly, welche das
Land verwüsteten und die Erndten aufzehrten. Ilek schickte einen Gesand-
ten an den aus Chatai gekommenen Grofsen (in Idil), sprach ihn um Hülfe
an, und gelobte, ihm dafür sein Reich abzutreten. Der Beg aus Chatai
folgte dieser Einladung, übernahm die Herrschaft, und machte den (bishe-
rigen) Chan Ilek zu seinem Minister. Darauf legte er sich den Namen
Kurchan bei, was in der Chatajersprache grofser Padischah bedeutet.
Er eroberte Andedschan (Fergana), und zwang Samarkand zu jährlichem
Tribute. Einen seiner Feldherren, Namens Arif, schickte er gegen Urgendsch,
dessen König Afif (Atsy[?) einer der Charefm-Schahe, in Gefangenschaft
gerieth (?), und erst nachdem er zu jährlichem Tribute von 20000 Gold-
stücken sich verpflichtet hatte, seine Freiheit wieder erhielt. Dieser Schah
zahlte die angelobte Summe so lange er lebte, desgleichen sein Sohn und
Nachfolger. Der Sohn (?) des letzteren aber, Sultan Muhammed, stellte
den Tribut ein und benahm sich feindselig. (*) — Sultan Sandschar überzog
den Kurchan einmal mit Krieg, erlitt aber eine solche Niederlage, dafs sein
ganzes Heer aufgerieben ward und er selbst nach Merw (in Chorasan) flie-
hen mulste.
(‘) Nicht Karachatai, wie fälschlich im Texte steht.
(2) Andere Lesart Nusi Taigir, oder Taigir-ili.
(3) In dieser skizzenhaften Erzählung ist Mehreres falsch. — Den Atsy[ von Charelm
(1127-55) zu bekriegen, hatten die Karachatajer keine Veranlassung; er wurde als aufrühri-
scher Statthalter von Sultan Sandschar gezüchtigt. Sein Nachfolger Il-Arslan (bis 1172)
kämpfte unglücklich mit den Karachatajern, die einen seiner Feldherren gefangen nahmen.
Nach ihm rangen seine zwei Söhne, Mahmud und Tagasch, letzterer von Karachatai unter-
stützt, lange mit einander um die Herrschaft, bis der Letztere Meister blieb. Ihm folgte 1200
sein Sohn Alaeddin Muhammed, der Erste welcher die Karachatajer in ihrem eigentlich-
sten Gebiete angriff. Er starb 1220 auf seiner Flucht vor den Mongolen.
Sss?
508 ScHort:
In der ausgezogenen grofsen Stelle bedarf vieles einer Erläuterung.
Wie ist zuvörderst der Name Chatai entstanden und was meinen die
Schriftsteller Asiens damit? Dieser Name ist, wie Chitai oder Kitai,
blofse Verderbung von Ki-tan, wie bei den Chinesen ein barbarisches Volk
aus Norden heilst, das von Anfang des 10ten bis Anfang des 12ten Jahrhun-
derts einen ansehnlichen Theil Nordchinas besessen. Ob diese Kitan mit
gröfserem Rechte den mongolischen oder den tungusischen Stämmen beizu-
zählen, ist eine Frage die nicht hierher gehört, auch wegen zu dürftiger
Sprachproben wohl nie Erledigung finden wird. Seitdem dieses Volk auf
chinesischem Boden geherrscht, ist sein Name bei vielen Asiaten auf Nord-
china, bei Mongolen und Russen sogar auf das ganze Land China bis zum
südlichen Ocean, übergegangen. (!) Muhammedanische Schriftsteller ver-
stehen unter Chatai die nördlichen Theile Chinas; allein sie halten den Na-
men für einheimisch und lassen den Riesenstrom Jang-tsfe-kiang die Scheide
zweier ganz verschiedenen Staten und Völker (Chatai und Tschin) sein. So
noch Hadschi Chalfa, der osmanische Polyhistor des 17ten Jahrhunderts,
in seiner “Weltschau’. Die zu diesem Werke gehörende Karte von Chatai,
zu welchem State hier auch die sogenannte ‘Grofse Tartarei’ geschlagen ist,
zeugt von grofser Verwirrung. Ein Karachatai erwähnt Hadschi Chalfa, als
zu Chatai gehörend, und verweist es richtig in den fernen Nordwesten,
aber sonst meldet er von diesem Reiche nichts.
Abulgafi berichtet, wie wir gesehen haben, über zwei Auswanderungen
von Chatajern. Die erste ist ohne Zeitbestimmung; in beiden aber schlagen die
Wanderer gleiche Richtung ein. Unter dem Kirgifenlande sind hier die alten
Stammsitze dieses Volkes (zwischen der Selenga und dem oberen Jenisej) zu
verstehen, in deren Bestimmung chinesische und westasiatische Berichte auffal-
lend einklingen. Das A. Idil unseres Gewährsmannes hat man gewifs in der
heutigen Sungarei zu suchen, von welcher auch Tarbagatai (s. w.u.) einen Theil
ausmacht. Ma-tuan-lin gedenkt in seinem Wen-hien tung kao (Buch 344,
Bl. 14-15) eines sehr viele Stämme zählenden, zu den nordischen Barbaren
(') Die mongol. Form Kitat ist Mehrzahl von Kitan.— Mit demselben Rechte, womit
die Chinesen, oder ein Theil derselben, Kitajer und Catajer genannt werden, könnte man
z.B. unsere Niederländer Spanier nennen, weil sie eine Zeitlang unter spanischer Herr-
schaft gestanden.
Das Reich Karachatai oder Si- Liao. 509
gerechneten Volkes Tie-le oder Til, (1) von welchem ein Hauptstamm
BE J) 9 Fa d.i. im Südwesten des Goldberges (Altai) ge-
wohnt habe, womit sehr wohl das heutige Tarbagatai gemeint sein kann.
Dschurdschit oder Dschurdsche, bei den Chinesen ’Su-tschin,
’Su-tsche, hiefs ein tungusischer, mit den heutigen Mandschu nahe ver-
wandter Stamm, der seinen Herrschersitz über den Trümmern des Kitan-
reiches aufschlug, und dessen Kaiser die goldnen (Altun-Chan) der West-
asiaten sind. (?) Diese Katastrophe hatte eine (zweite?) Auswanderung von
Chatajern (Ki-tan) zur Folge, über deren Gewifsheit kein Zweifel obwalten
kann, da sie auch von den Chinesen erzählt wird. Diese lassen einen Kitan
aus fürstlichem Geschlechte, seines Namens Je-liu-ta-schi, im Jahre 1125
durch die Schamo entfliehen. Ihre Schriftsteller aus der mongolischen
Periode geben über das Land, wo die Flüchtlinge sich niedergelassen, keine
nähere Auskunft. (?) In späteren Quellen wird es Au > E 2
Ki-rh-tu-man d.i. Kirtuman (jetzt Tarbagatai) genannt. Dort hätten
—
(1) Die Wohnsitze der Til begannen (nach Matuanlin a. a. O.) gegen Abend v9
Vice, ER. l
VER EZ. d.i. östlich vom Westmeere (Kaspischen See) und erstreckten sich
Br p
de 247: x 02 in ununterbrochener Folge bis gegen den Altai hin, also
ALTE ae ge bis geg
über die Steppen von Kyptschak oder der heutigen Kirgil-Kaifaken. — Die Til leben noch
fort in dem tatarischen Namen der Wolga (Itil, Itel, Adyl), welchen auch die alte Residenz
der Chafaren in der Gegend des heutigen Astrachan geführt hat. — Die grolse ehemalige Aus-
dehnung des Namens im Osten macht es ganz unnöthig, anzunehmen, dals die ausgewander-
ten Chatajer bis in die Nachbarschaft der Wolga gezogen seien.
(2) Die Kaiser dieses Volkes besalsen das ganze nördliche China (bis zum Jang-tsle-kiang).
Sie regierten von 1115 bis ins 13. Jahrhundert, und nannten ihre Dynastie chinesisch >
Kin die Goldne. Von den Mongolen wurden sie nach vieljährigem Kampfe vernichtet.
(2) Das Ki-tan-kuo-tschi (s. w.u.) und das Kin-kuo-tschi (B. 14. Bl. 1), beide
noch aus den letzten Decennien des 12. Jahrhunderts, wissen nur die Scha-mo, bei ihnen
Scha-tsfe, zu nennen. Vergl. was ich in meiner Abhandlung “ Älteste Nachrichten von
Mongolen und Tataren über diese beiden Geschichtswerke gesagt habe.
510 Scsort:
die Auswanderer einen Stat 9 i$ Si-Liao d.i. westliche Liao ge-
gründet, (1) der vier Oberhäupter zählte und nach Einigen 76, nach Ande-
ren 82 Jahre fortbestand, bis der Naiman-Fürst Kiu-tschu-liu (Kütschlük)
ihn zerstörte. Um ihre "wohlerworbenen Rechte auf die Herrschaft in China
nicht verjähren zu lassen, gaben die kaiserlichen Exulanten ihren Regierun-
gen noch die herkömmlichen chinesischen Prädicate und jeder Nachfolger
seinem Vorgänger einen posthumen chinesischen Ehrennamen.
Nuschi Taifu, wie der Je-liu-ta-schi der chinesischen Quellen bei
Abulgafi heifst, ist wahrscheinlich kein Name, sondern ein chinesischer
Amitstitel dieser fürstlichen Person gewesen. (?) Der Name SiLiao für den
von ihm gegründeten Stat ist, wie es scheint, nicht in die asiatischen Abend-
länder gedrungen, aber die Thaten und Schicksale dieser Kaiser werden von
Arabern, Persern und späteren Chinesen im Ganzen so übereinstimmend
erzählt, (°) dafs einige chronologische Disharmonie dagegen kaum in Be-
tracht kommt. Weiter unten wird sich übrigens zeigen, dafs auch der Name
Schwarz-Kitan den Chinesen bekannt geworden.
Der in Balasgun, einer Stadt des Landes Kaschgar, residirende Fürst,
welcher jenen chatajischen Grofsen aus Idil berief und ihm freiwillig sein
Reich abtrat, wird ein Nachkomme des Afrasiab genannt, jenes mythischen
Beherrschers Turaniens, der im Schahname des Firdusi eine so bedeutende
Rolle spielt. Damit bezeichnet ihn Abulgafi als einen Türken und zwar
(') Die Kitan in China hatten ihre Dynastie Liao genannt, nach einem Flusse in
der heutigen Mandschurei, an welchem ihre Oberhäupter zuerst den Kaisertitel sich beilegten.
(2) Sehr nahe liegt nui sle tä fü d.i. Magnat der innern Geschäfte, grolser Hofbeamter.
(3) Von den (obendrein südchinesischen) Verfassern des Ki-tan kuo tschi und Ta Kin kuo
tschi darf man hinsichtlich der Si Liao noch keine groflse Belehrung erwarten. Diese kann-
ten ihre Verhältnilse zu anderen Staten gar nicht, zu den Kin sehr wenig. Im letzteren
Werke (Buch 14) wird gesagt, die Kin hätten an den Grenzen gegen die Si Liao Kriegsco-
R Iw
lonien angelegt EA *] Er d.i. um sie zu entkräften, wobei es denn auch Kämpfe
gegeben; eine Unterwerfung sei aber nicht möglich gewesen. Mehr und Besseres liefern
das Kang-mu, Hung-kien lu und Li tai ki sle, Vergl. Deguignes Histoire des Huns
etc., Band II, S. 252. ff.
Das Reich Karachatai oder $i-Liao. 511
von edelstem Geschlechte. Es war der letzte jener Ilek-Chane, die (1004)
das Samanidenreich zerstört hatten. — Dieser sefshafte Türkenfürst verzwei-
felte daran, eines türkischen Wandervolkes, der Kangly, sich entledigen
zu können. Hammer bemerkt in der Einleitung zu seiner Geschichte des
Osmanischen Reiches: die Hek-Chane von Karachatai (?) hätten sich der
Gufen (zu deren Stämmen auch die Kumanen und Kangly gehörten) als
Grenzwachen bedient und ihnen dafür jährliche Bezahlung gegeben. “Der
Vorgänger Kurchans (so!), Arslan-Chan, entzweite sich mit ihnen und
wollte sie ausrotten. Unter seinem Nachfolger aber, dem Besieger
des Sultans Sandschar, wurden sie steuerbar und verbreiteten sich in
Turkistan.’
Ilek Arslan ist in jedem Falle der Ilek Abulgafis, welcher jenen cha-
tajischen Grofsen, den Hammer schlechthin seinen Nachfolger nennt, gegen
die Kangly ins Land berief. Kurchan, was übrigens kein Name, sondern
ein blofser Titel war, den alle Fürsten von Karachatai führten, erklärt
Berefin in einer Anmerkung zu dem von ihm edirten Scheibani-name
(1849) mit Volks-Chan, Xans napoaa. (!) — Der Name Kitan mit oder
ohne schwarz vorher, kann nicht früher als unter dem ersten der Kurchane
auf das östliche Turkistan übertragen worden sein; und wenn also die Ileke,
die ja Türken und keine Kitan waren, in Hammers Quellen schon Chane
von ‘Karachatai” heilsen, so bedeutet dies nur, dafs sie über ein Land
herrschten, welches nachmals Karachatai betitelt ward.
Was Abulgafi von Erfolgen der Kurchane wider die Schahe von
Charefm (2) erzählt, ist, mit den Nachrichten, welche Daguignes (Histoire
(') Herr Berdfin sagt (npumbu. 63), nach Hervorhebung des Unterschiedes dieses Titels
von OS} Kürken, was Schwiegersohn bedeutet: Kurchan sei schon vor Tschinggis ein
Oberhaupt mehrerer Stämme (irbero.akuxe maei) betitelt worden. Nach Kowalewskis gro-
fsem mongolischen Wörterbuche (S. 2636) bedeutet kür oder küre Volkshaufen, Reiterbri-
gade, und mit ulus Volk zusammen, das ganze Volk. — Einige Beachtung verdient übrigens
Be
dafs im Ta Kin kuo tschi (Buch 7, Bl. 5) beiläufig bemerkt wird, die Kitan hätten auch ne
Er Kao-li geheilsen, was für Kaur oder Kur stehen kann.
(2) Diese waren schon seit 1048 Statthalter der Seldschuken -Sultane gewesen. Sie erhoben
sich erst seit dem Tode des Sandschar (1157), d.h. mit der Auflösung des östlichen Seldschuken-
staates, zu einer grolsen Macht, die bald nach Karachatai durch die Mongolen gebrochen ward.
512 ScHort
des Huns, Bd. II, S. 255ff.) giebt, verglichen, sehr dürftig und ungenau.
Die erste Veranlassung zum Kriege mit Sandschar war (nach Mirchond),
dafs Magnaten dieses seldschukischen Fürsten in ihrem Gebieter Argwohn
gegen die Absichten derjenigen Karachatajer weckten, die im Gebiete von
Samarkand Wohnsitze genommen hatten und von Sandschars Statthaltern
gedrückt wurden. Der grofsmächtige Sultan befahl, diesen Leuten ihre
Heerden wegzunehmen. Darob erschrocken, erboten sich die Karachatajer
zu einem ansehnlichen jährlichen Tribute an grofsem und kleinem Vieh;
ihre Vorgesetzten aber flohen insgeheim zu dem Kurchan, “einem Fürsten
von wachsender Macht unter denen Turkistans,’ stellten ihm vor, Sandschar
sei wegen seiner Alterschwäche jetzt ein ungefährlicher Feind, und ermun-
terten ihn zu der Schlacht (1140) die für 'Sandschar so unglücklich endete,
dafs sein ganzer früherer Ruhm in Vergessenheit gerieth. Übrigens verfolgte
der Kurchan die errungenen Vortheile gegen Chorasan nicht weiter, und
seit ihrem Siege von 1140 geschieht der Karachatajer in Mirchonds Ge-
schichte der Seldschukiden keine Erwähnung mehr. (!)
Das östliche Turkistan hat den Karachatajern etwa ein Jahrzehend
vor dem Untergang dieses States noch in grofser Ausdehnung gehorcht.
Abulgafi erzählt (S. 50-51) die im Jahre 1209 erfolgte freiwillige Unterwer-
fung des Volkes Uigur unter Tschinggis-Chans Oberherrschaft. Der König
dieses Landes, Idikut, war damals, so heifst esausdrücklich, dem Kurchan
von Karachatai unterthan, der einen tyrannischen Steuervogt ins Uiguren-
land geschickt hatie. (?) Die Chinesen berichten diese Unterwerfung eben-
falls, (3) thun aber keiner damaligen Abhängigkeit der Uigur von einem an-
deren Volke Erwähnung.
(') Chinesischen Angaben zufolge könnte weder Jeliutaschi, der schon 1136 gestorben
sein soll, noch sein Sohn, der angeblich bis 1142 unter Vormundschaft einer Reichsverweserin
stand, den Sieg über Sandschar erkämpft haben. Dies ist die auffallendste und am schwersten
auszugleichende chronologische Differenz zwischen den Quellen aus Ost und West.
(E)E oensaaor Dos ES) el NEJA FR! gl ae 5 tb>1, PR) E50)
rl US ud (u Jet us a,b 5 (ed
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(@) Juan sle lui pien. Bd. 1, Bl. 4.
Das Reich Karachatai oder Si-Liao. 513
Wir kommen nun zur entfernteren Veranlassung des Unterganges von
Karachatai. Bei Abulgafi heifst es (S. 50): Kütschlük (zu deutsch, kraftbe-
gabt), Sohn des letzten Chanes der Naiman, (!) habe sich, zufolge einer
letzten, am Irtysch erlittenen Niederlage, nach Karachatai in Turkistan ge-
rettet. Das Weitere, was S. 51-55 zerstreut gemeldet wird, fasse ich so zu-
sammen: Tschinggis war nach dem Falle der Nordresidenz des Goldnen Chans
im Begriffe, die noch unbezwungenen Gebiete Nordchinas zu erobern, als er
plötzlich Kunde erhielt, dafs Kütschlük mit dem Kurchan, der ihn ehren-
voll empfangen und ihm sogar (S. 50) seine Tochter zum Weibe gegeben,
zerfallen sei, ihm sein Reich entrissen und sich selbst als Padischah habe aus-
rufen lassen. Sehr viele dem Tschinggis feindliche Mongolen und Tataren
hatten um diesen Desperado sich geschart. Tschinggis erkannte sogleich,
welch furchtbares Gewitter in seinem Rücken aufstieg; er verschob weitere
Unternehmungen gegen die Kin, und schickte einen seiner trefflichsten Feld-
herren wider Karachatai oder vielmehr wider dessen Usurpator, der geschla-
gen wurde und nach Badakschan floh, aber durch einen Zufall entdeckt und
getödtet ward.
In dem Juan sfe lui pien, einer 1699 gedruckten Geschichte der
Mongolen in China, lesen wir (Buch 1, Bl. 3-4), Kiu-tschu-liü sei
im Jahre 1206 an den Flufs Je-rh-ti-schi d.i. Irtysch, geflohen, habe
daselbst 1208 eine neue Niederlage erlitten, und nun ‘bei den Kitan’ ein
Asyl gesucht. Die letzte Bekämpfung des fürstlichen Flüchtlings, in deren
Folge das bisherige Karachatai (1218) ein Theil des mongolischen Welt-
reichs wurde, übergeht dieses Werk auffallender Weise mit Stillschweigen;
dagegen berichtet es über die Zerstörung des Charefmischen Reiches, wel-
che erst nach dieser Katastrophe erfolgte.
Andere chinesische Quellen lassen den Naimanfürsten, dessen Flucht
ihnen unbekannt, schon 1201 das Reich Si-Liao zerstören. Diese Angabe
widerspricht den meisten übrigen und verrückt aufserdem die ganze chrono-
logische Folge der Thaten des Tschinggis-Chan. So lesen wir im Kang-
kien der königl. Bibliothek (B. 84, Bl. 2) unter dem ersten der Jahre Kia-
tai des Sung-Kaisers Ning-tsung, d.i. 1201: "Tschi-lu-ku, König der Si
(') Diesen halte Tschinggis im Jahre 1206 auls Haupt geschlagen, dann gefangen und
getödtet.
Philos.- histor. Kl. 1849. ARdeir
514 SceHkorr:
Liao, zog auf die Jagd. Da legte Kiu-tschu-liu, König der Naiman,
achttausend Bewaffnete in einen Hinterhalt, nahm den Tschi-lu-ku gefangen
und trat in den Besitz seines Reiches. Er ehrte seinen Gefangenen mit dem
Titel Tai schäng hoang d.i. hocherhabener Kaiser (!); dieser starb je-
doch plötzlich und das Haus der Liao endete mitihm.’ Man sieht, dafs hier
nur eine abgerissene Scene des grolsen und blutigen Kampfes zwischen dem
greisen Tschiluk von Karachatai und seinem, mit Alaeddin von Charefm
verbündeten Schwiegersohne — freilich diejenige Scene, welche die Kata-
strophe darstellt, an unsern Blicken vorübergeht. Die ausführliche Erzäh-
lung lese man bei Deguignes, B. II, S. 268 ff.
Wenn das Juan sfe lui pien unsern flüchtigen Abenteurer ‘zu den Ki-
tan fliehen läfst, so sind natürlich die SiLiao gemeint. Dafs aber auch der
Name Schwarz-Kitan zu den Chinesen gedrungen, dies kann ich aus zwei
Stellen zweier sehr verschiedenen Werke darthun. Die vom ‘Menschen’ han-
delnde Abtheilung des zu Anfang unseres 17. Jahrhunderts erschienenen ency-
clopädischen Werkes San-tsai tu-hoei zeigtuns (Buch 13, Bl. 6) einen vor
seinem gelagerten Pferde am Boden kauernden Reiter, in anscheinend mit
Pelz verbrämtem Turban (?) und Oberkleide. | Darüber liest man einige er-
klärende Worte mit der Überschrift ‘He Ki-tan’. Dem bekannten Natio-
“ U “ ® .
nalnamen ist 2» he’ vorgesetzt, was schwarz bedeutet. Die Erklärung
a %)
lautet: “dieses Land hat befestigte Städte und ist wohl bevölkert. Die
N Kin-sin (Leute der Kin) reisten zu Pferde dahin. Man mufs
ein Jahr lang reiten, um (von dort) bis Ing-tien-fu(!) zu kommen.
In dem mehrerwähnten Juan sfe lui pien geschieht unter den auswär-
tigen Ländern (Buch 42, Bl. 53) ebenfalls eines He Ki-tan Erwähnung.
Der Compilator bemerkt nicht, dafs es mit dem Kitan (ohne "schwarz’
vorher) identisch sei, wo er (s. oben) den letzten Naiman-Fürsten Zuflucht
finden läfst. Er sagt nur, es heifse auch Ki-li-man. Dieser Name könnte
die bestmögliche chinesische Umschreibung des Namens Kirman oder Ker-
(') So hiefs unter der Dynastie Ming, in deren letzten Zeiten obiges Werk erschien,
das heutige Kiang-ning-fu, auch Nan-king d.i. “die südliche Residenz’ genannt,
Das Reich Karachatai oder Si-Liao. 315
man sein, () und in diesem Falle hätten wir hier ein Zeugnifs, dafs auch
die spätere karachatajische Dynastie in Persien den Chinesen bekannt gewor-
den. (?) Allein das Kang-kien und chinesische Quellen die Deguignes
benutzt hat, schreiben auch Ki-li-man wo unbezweifelt Kirtuman ge-
meint ist.
Noch sei erwähnt, dafs nach Abulgafi viele “Karachatajer” mit den
Heeren des letzten Altan-Chans wider die Mongolen stritten. So heifst es
S.53: als der Altan-Chan nach seiner südlichen Residenz (dem heutigen
Kai-fung-fu in Ho-nan) aufgebrochen sei, habe er unterwegs einen karacha-
tajischen Heerführer ‘um kleinen Vergehens willen’ hinrichten lassen. Aus
Rache dafür hätten einige Karachatajer die Heerden seines, als Befehlshaber
der nördlichen Residenz zurückgebliebenen Sohnes geraubt und dem Heere
der Mongolen sich angeschlossen. Auf derselben Seite ist weiter zu lesen:
die meisten Karachatajer (im Heere des Altan-Chan) seien zu den beiden
Feldherren übergegangen, die Tschinggis zu Eroberung der nördlichen Hof-
stadt abschickte, und mit ihnen gegen diese Stadt gezogen.
Dies Alles geschah vor der Vernichtung des States Karachatai durch
die Mongolen. Da dieser Stat niemals von den "Goldnen’ abhängig gewesen
und man die Karachatajer in ihrem Heere schwerlich für Miethstruppen
von dorther zu halten hat: so sind sie wohl Nachkommen derjenigen Kitan
gewesen deren Väter nicht ausgewandert, also unter der Herrschaft des
Altan-Chans geblieben waren. Wohl möglich, dafs gewilse Stämme der Na-
tion bereits vor ihrer theilweisen Emigration sich ‘schwarze Kitan’ genannt.
(‘) Hadschi Chalfa sagt (S. 256 seiner Weltschau), das k in OL laute mit e und mit
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(2) Vergl. Dschihannuma S. 261. Einer von diesen Vasallen der mongolischen Ilchane
war derjenige ‘Fürst von Karachatai', dessen in Hammers Geschichte des Osmanischen Reiches
(B. 1, S. 149) beiläufig gedacht wird.
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 29. Juni 1848.]
I.
Zur Kritik der historischen Memoiren von Pöllnitz.
M.: könnte zweifeln, ob Untersuchungen über Schriftsteller wie Pöllnitz
einer Akademie vorgelegt zu werden verdienen. Sagt er doch selbst in der
Vorrede zu seinen Lettres et M&moires 1737: ein Gelehrter lese entweder
solche Bagatellen nicht oder würdige sie keiner Kritik.
Auch dürfte es vielleicht nicht rathsam sein, diese frühere Schrift,
wiewohl sie einiges Gute enthält, ernstlich zu erörtern: so voll ist sie zu-
gleich von Selbstbekenntnissen, die doch nicht tief genug gehen, um psy-
chologisches Interesse einzuflöfsen, von flüchtigen Schilderungen, bei denen
Lob und Tadel sehr absichtlich sind, schlüpfrigen Abenteuern. Eine an-
dere Bewandtnifs aber hat es mit den Memoires pour servir a ['histoire des
quatre derniers Souverains de la maison de Brandebourg, die lange nach
dem Tode des Verfassers im Jahre 1791 wenn gleich nicht ganz vollstän-
dig erschienen sind. Bei diesem Buche nimmt Pöllnitz eine sehr historische
‚und wissenschaftliche Miene an; es hat eine gewisse Anerkennung gefunden,
ist von Gelehrten gelesen, benutzt worden, und eine Kritik desselben ist
nicht allein zulässig, sondern erforderlich.
Wird man sich schon bei jedem historischen Buche das Maafs seiner
Glaubwürdigkeit zu vergegenwärtigen suchen, so ist dies doppelt Pflicht,
wenn ein Mann, welcher Königen und Fürsten nahe stand, über sie das
518 RıAınee:
Wort nimmt und zwar, wie Pöllnitz, mit der ausdrücklichen Versicherung,
dafs er sagen wolle, was er gesehen und gehört habe.
Pöllnitz hat als Kammerjunker in Friedrichs I. Diensten gestanden; aber
er war erst achtzehn Jahr alt, als er im Jahre 1710, einer Unachtsamkeit
wegen gescholten sich entschlofs, den Hof zu verlassen und sich auf Reisen
zu begeben. Vorübergehend ist er zweimal, 1713 und 1718 in Berlin er-
schienen; sonst hat er das ganze Vierteljahrhundert von 1710 bis 1735 im
Auslande zugebracht. Dann kehrte er zurück, zunächst um Gundling zu
ersetzen, a blieb seitdem in nanniaigipen Beziehungen zu der damaligel
und der folgenden Regierung.
Wenn nun seine historischen Memoiren hauptsächlich über die Epo-
che Friedrich Wilhelm’s I. benutzt worden sind, bei welcher auch wir ste-
hen bleiben werden, so kann man nicht sagen, dafs er sie eigentlich mit
erlebt habe. Die Zeiten seiner Abwesenheit sind eben die, in welchen
dieser Fürst als Kronprinz und als König am thätigsten gewesen ist: im
Jahre 1735 war die Kraft desselben durch schwere Krankheiten eigentlich
schon gebrochen,
Wie sollte namentlich von den Staatsereignissen, den momentanen
Beziehungen, die einen Tag nach dem andern beherrschen, aber dann so-
fort wieder vergessen zu werden pflegen, bei dem so spät Gekommenen eine
ursprüngliche ihm eigenthümliche Kenntnifs vorausgesetzt werden können.
Er ist darüber ziemlich ausführlich; die Nachrichten über den Utrechter
Frieden 1713, die Eroberung von Pommern im Nordischen Krieg 1715,
die Verbindung mit Rufsland 1718, über das Bündnifs von Hannover
1725, den Wusterhauser Vertrag und die Verbindung mit dem Kaiser 1726,
die Polnisch -Französischen Irrungen von 1733 erfüllen einen grofsen
Theil seines Buches. Fragen wir aber, woher er die Kunde davon nahm,
so kostet es nicht viele Mühe zu sehen, dafs er sie aus ganz nahe gelegenen
Schriften zog.
Im Jahre 1741 sind in Holland zwei französische Lebensbeschreibungen
Friedrich Wilhelms erschienen, die eine von La-Martiniere, (a la Haye chez
Adr. Moetjens) die andere von Mauvillon (Amsterdam Arkstee); diese hat
Pöllnitz vor sich genommen und mehr als nur zu Grunde gelegt. Betrachten
wir einen jener Punkte nach dem anderen.
Zur Kritik Preufsischer Memoiren.
519
1. Die Erzählung vom Utrechter Frieden (II, 16.) hat Pöllnitz aus
La Martiniere I, 64.
Pöllnitz.
Cependant le comte de Zinzendorff, -- ne
pouvoit se r&soudre A un demembrement qu'il
savait etre desagreable A son maitre. Les An-
glois, pour le determiner, lui declarerent, que
si dans vingt-quatre heures il ne signait pas
la cession d’une partie, ils dtaient autorises A
Cette
menace ebranla le Comte: il signa le traite
faire c@der le haut quartier au roi.
le 2 Avril, bien persuad@ que l’Empereur
ne le ratifieroit pas; comme en effet la veri-
table cession ne se fit qu’ä Rastadt l’annde
suiyante.
La Martiniere.
Le Comte de Sinzendorff ne pouvait se
resoudre A un d@membrement qui ne pouvait
etre que tres desagr@able A S. Maj. Imperiale,
pour la quelle il negociait ..... Les Anglois
l’embarasserent en lui declarant que si dans
vingt-quatre heures il ne signait point la ces-
sion d’une partie, ils &taient autorises a faire
ceder tout le haut quartier au roi de Prusse.
Il ne recula plus, cette menace l’£branla et il
signa le 2 d’Avril le traite, bien qu'il fat per-
suade, que S. M. I. ne le ratifieroit point;
comme en eflet, la v@ritable cession ne se fit
qu’a Radstadt l’annee suivante.
Man könnte fragen, ob die Schriftsteller nicht vielmehr beide aus
einer gemeinschaftlichen Quelle schöpften. Die originale Nachricht findet
sich bei Lamberty VIII. 45, aus welchem La Martiniere einen Auszug für
Leser gemacht hat, die den Grund der Dinge nicht zu wissen begehren;
diesen Auszug aber hat Pöllnitz mit wenigen Abänderungen wörtlich beibe-
halten. Was S. 21 von der Ursache, wefshalb nicht am 12ten, sondern
am 41ten abgeschlossen wurde, erzählt wird, ist auf dieselbe Weise aus La
Martiniere 71, der es aus Lamberty VIII. 71 genommen hat.
2. Bei den Irrungen mit Schweden hat Pöllnitz nicht eigentlich den-
selben Autor copirt, sondern eine Urkunde, die bei ihm vorkommt, die
Preufsische Relation. Man könnte an sich Nichts dagegen haben, wenn er
es nur sagte; aber er giebt die Worte der Relation als seine eigenen, so
dafs die Darstellung sich historischer ausnimmt, als sie ist. Hierauf wendet
sich Pöllnitz zu Mauyillon. Die Erzählung von dem Angriff der Schweden
auf die Verschanzungen der Preufsen auf der Insel Rügen (S. 41) ist fast
wörtlich aus Mauvillon (285); mit dessen Worten schildert er die ausneh-
mende Übereinstimmung der Könige (P. 52, M. 206), so wie die bescheidene
Rückkehr Friedrich Wilhelms nach Berlin.
3. Bei dem Verhältnifs mit Rufsland kehrt Pöllnitz zu La Martiniere
zurück und beobachtet ganz dasselbe Verfahren, nur dafs er einige anstöfsige
Anekdoten einflicht, die man auch anderweit kannte. Ich will in einer
520 RıAınee:
Note die Worte anführen, weil sie auf das Verhältnifs des Preufsischen und
Russischen Militärs einiges Licht werfen. (*)
4. Der Vertrag von Hannover ward unter anderm durch die religiösen
Unruhen in Polen veranlalst. Indem Pöllnitz diese erzählt, combinirt er
seine beiden Gewährsmänner; er beginnt mit einem Auszug aus Mauvillon
über die allgemeinen Verhältnisse, die Hauptsache erzählt er dann nach La
Martiniere; einige Abweichungen wie wenn er den Schaden der Jesuiten auf
180,000 G. schätzen läfst, während sein Autor nur von 30620 G. weils, sind
wohl blofse Willkührlichkeiten. |
Über den Tractat von Hannover selbst geht Pöllnitz leichter hinweg,
indem er persönliche Angelegenheiten zur Esche bringt; bei den eigentlich
politischen folgt er meistens La Martiniere. Aus dessen Buche (II, 61) ist
sein Bericht über die Accession von Holland ziemlich wörtlich, nur dafs es bei
ihm undeutlich wird, ob Preufsen sich weigerte, die ganze Accessionsacte
zu unterschreiben, oder blofs einen Artikel: was dort keinem Zweifel unter-
liegt. Wie La Martiniere verbindet auch Pöllnitz hiermit die Unterhand-
lungen Friedrich W ilhelms mit Kaiserin Cathatina I, die im August 1726 zu
einem Vertrage führten.
(*) Pöllnitz 55.
Le czar, en change de tous ces dons, pro-
mit au roi de recruter tous les ans le regiment
des grands Grenadiers de cent hommes d’une
taille extraordinairement haute; et enyiron six
mois apres on en vit arriver cent cinquante A
Potsdam et m&me apres la mort du czar Pierre I
l’Imperatrice Catherine, qui lui avait suceed&,
continua d’en envoyer. Elle y trouya cet avan-
tage, que le roi lui envoya de temps en temps
des bas- offhiciers et des soldats Russiens, qui
apres avoir passe quelques anndes ä son ser-
vice, retournoient dans leur patrie et instrui-
soient les soldats de leur nation. Mais un
profit plus solide que les recrues des grands
Grenadiers, ce fut le commerce que les deux
monarques £tablirent entre leurs sujets.
I
‚La Martiniere 280.
u : i
Le Ei a son tour, promit au Roi de
reeruter töus les ans le rögiment des grands
Grenadiers de cent hommes d’une taille ex-
traordinairement haute, et environ six mois
Potsdam; jet m&me apres la mort du cezar
apres onen vit arriver cent cinquante A
Pierre I la cour de Russie continua d’en en-
voyer. Elle y a trouv& cet avantage, que la
cour de Prusse lui renvoyoit de tems en tems
des bas Officiers et des soldats Russiens, qui,
apres avoir et@ six ou sept ans A son service,
retournoient dans leur patrie bien exerces,
bien diseiplines et capables d’instruire d’au-
ires soldats.
les recrues des grands Grenadiers, ce fut le
Mais un profit plus solide que
commerce que l’amiti€ des deux Monarques
Etablit/entre les pays Prussiens et ceux de la
Grande-Russie.
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 521
5. Der Eingang zu der Verhandlung mit Österreich 157 (la cour
de Vienne avoit te d’abord — rompre la chaine,) ist wörtlich aus La Mar-
tiniere II, 68. Dann aber findet sich eine Schilderung des Grafen Secken-
dorf, die man bei einem den Dingen und Personen ferne stehenden Autor
nicht suchen darf: Seckendorf sei roh und schmutzig geizig gewesen;
er habe so viel gelogen, dafs er den Gebrauch der Wahrheit nicht mehr
gekannt; in ihm sei die Seele eines Wucherers in der Gestalt zuweilen ei-
nes Offiziers, zuweilen eines Diplomaten erschienen. So pflegt Pöllnitz
nicht zu schildern: man erkennt darin den kräftigen Pinsel König Fried-
richs II; in den Memoires de Brandebourg findet man die ganze Stelle. (M.
A. p. 157.) „Il etoit d’un interet sordide, ses manieres &toient grossieres et
rustres, le mensonge lui etoit si habituel, qu’il en avoit perdu l'usage de la
verite; c’etoit läme d’un usurier qui passait tantöt dans le corps d’un mili-
taire tantöt dans celui d’un negociateur.” Doch scheint es, als habe Pöll-
nitz die Stelle erst nachträglich eingelegt, indem er kurz vorher verschie-
dene falsche Angaben macht, wo Friedrich bereits das Richtigere mittheilt.
Einige Anekdoten flicht er noch ein, dann kehrt er zu seinen alten Ge-
währsmännern zurück. Aus Mauvillon nimmt er, wie die Worte: „Endroit
sensible -- - le trait€ ne derogeoit pas a celui de Hannoyre” zeigen, was dieser
über den angeblichen Tractat von Wusterhausen sagt; es kümmeri ihn we-
nig, dafs La Martiniere die Ächtheit desselben aus guten Gründen bezwei-
felt hatte. In der That ist ein Vertrag zu Wusterhausen geschlossen worden,
nur nicht dieser. Von dem bei weitem wichtigeren geheimen Tractat von
Berlin hat Pöllnitz keine Ahnung, da seine Quellen schweigen. Über
alles Folgende, die Irrungen mit Hannover, das Lager von Mühlberg, die
Reise des Königs von Preufsen nach Böhmen, die Errichtung der pragmati-
schen Sanction nimmt er die Nachrichten und oft auch die Reflexionen sei-
ner Quellen herüber; nur dafs er einige Namen berichtigt, einige neue Notizen
beibringt. Selbst die Aufnahme der Salzburger, über die sich ihm so leicht
bessere Kunde dargeboten hätte, erzählt er mit den Worten Mauvillons und
La Martinieres.
6. Die Untersuchung verliert nun schon ihr Interesse, wir müssen aber
doch hinzufügen dafs alles was Pöllnitz, auf die Polnische Angelegenheit kom-
mend, (S.280.) von den Schwierigkeiten sagt, welche der König August Il. bei
der Besetzung von Stellen gefunden habe, von der Absicht desselben, Säch-
Philos. - histor. Kl. 1849. Uuu
5223 Rıanee:
sische Cürassiere einrücken zu lassen, „pour appuyer les bien intentionnes
et mettre les mutins A la raison”, den Gegenanstalten des Primas, wie des
Wiener Hofes, dem erträglich guten Gange des einberufenen Reichstages,
eben auch aus La Martiniere stammt.
Dann flicht Pöllnitz eine Anekdote über die Zusammenkunft Grumb-
kow’s und August II in Crossen ein, wo sie sich durch übermäfsiges Trin-
ken beide zu Grunde gerichtet haben sollen, die sich auch bei Friedrich
findet, der sie jedoch pikanter erzählt.
Gleich darauf kehrt er zu seinem vornehmsten Gewährsmann La Mar-
tiniere zurück. Das Merkwürdigste ist, dafs man einmal den verdorbenen
Text von Pöllnitz aus seiner Quelle verbessern kann. Seite 347 erzählt er
von zwei Holländern, die durch Preufsische Werber auf Polnischem Gebiet
weggenommen worden, worüber sich der Holländische Gesandte beim Kö-
nig von Polen beklagt habe. Er fährt dann fort: „Ces enröleurs n’y etaient
point en etat d’en faire justice, de sorte que cela ne servit qu’ä faire prendre
des mesures plus rigoureuses pour l’avenir;” was, wie man sieht, ohne Sinn
ist. Es fehlen ein paar Worte, die man bei La Martiniere suchen mußs,
wo es S. 333. heifst. „Ces enröleurs n’y Etvient plus, et le roi de
Pologne n’etait point en etat d’en faire Justice. Cela tout au plus servit
a prendre des mesures plus vigoureuses pour l’avenir.”
So verhält es sich mit der Darstellung derStaatshandlungen in diesem
Buche: überall sind fremde Nachrichten ohne Nachdenken abgeschrieben.
Gehen wir von den öffentlichen auf die persönlichen Angelegenheiten
des Königs über, die einen zweiten Hauptbestandtheil dieser Memoiren bilden,
so sollte man glauben, dafs Pöllnitz wenigstens hierüber authentisch und
original sein müsste. Beim Jahre 1729 spricht'er einmal sehr ausführlich
über die Gesundheitsumstände seines Fürsten und entschuldigt sich, dafs
er es thut. Worüber sollte ein Kammerherr' des Königs aber besser un-
terrichtet sein?, Man erstaunt wenn man dennoch bemerkt, dafs die
ganze Stelle ebenfalls aus La Martiniere entnommen ist. (*) Auch ein
(‘) Pöllnitz 190. La Martiniere 111.
Il avoit eu trois ans auparavant quelques Il avoit eu trois ans auparavant quelques
symptömes de goutte; cependant comme ils symptömes qui sembloient annoncer la goutte;
n’avoient pas &t@ violens et que depuis ce cependant, comme ils n’ayoient pas Et& violens
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 923
zweiter Krankheitsanfall des Königs im Herbst 1734, unmittelbar vor der
Rückkunft Pöllnitzens an den Hof, wird mit den Worten La Martinieres
erzählt. Die Ankunft des Fürsten in Potsdam „dans un &tat deplorable”;
dafs die Krankheit eine „goutte remontee, accompagnde de eirconstances
qui firent appr&hender pour lui” gewesen (La M. hat: desesp6rer du retablis-
sement du roi,) — dafs aber die gute Natur des Königs, unterstützt von den
Arzten, namentlich Hofmann, der aus Halle berufen worden, die Gicht
wieder „herabsteigen” machte; — alles diefs wufste und berichtet schon La
Martiniere; Pöllnitz fügt nur noch den Namen des Leibarztes Ellert hinzu
und läfst weg, dafs der Kronprinz fortwährend um seinen Vater gewesen sei.
Einige Bemerkungen über die innere Regierung, die man dem Verfas-
ser wohl zutrauen könnte, z. B. 154, über die Geschwindigkeit, mit welcher
der König seine Reisen machte und die fortwährende Furcht, welche die Be-
amten hatten, von einem plötzlichen Besuch überrascht zu werden, oder über
die nach dem Bedürfnifs abgestuften Steuernachläfse, zu denen sich Fried-
rich Wilhelm 1721 entschlofs, sind aus La Martiniere; ebenso, was bei der
Ernennung eines neuen Directeurs der Refugie’s vorging (Pöll. 70. La Mart,
344.) und die meisten Berliner Localereignisse. Denn auch diese dürfen
nicht fehlen, so wenig der Einsturz des Petrithurmes, als das Auffliegen
eines Pulverthurms (August 1720.). Das Letzte erzählt Pöllnitz nach
Mauvillon und characterisiisch ist eine Veränderung des Textes, die er
dabei anbringt. Mauvillon wiederholt aus einem Deutschen Autor, dafs
der König, der eben hatte dahin gehen wollen, durch seinen guten En-
gel davon abgehalten worden sei: das wollte der aufgeklärte Pöllnitz doch
nicht schreiben: er verwandelt den guten Engel in: „quelque affaire, qui
lui survint.”
Nach alle Dem sind denn diese Memoiren eines Kammerherrn, die so
viel Selbsterfahrenes enthalten sollten, grofsentheils nur Copie zweier Hol-
ländischer Autoren mit einigen Veränderungen. Das Verfahren des Verfas-
sers scheint gewesen zu sein, dafs er in den beiden Büchern, die ihm brauch-
bar scheinenden Stellen anstrich, zusammenschreiben liefs, und sie dann
temps-lä il n’en avoit ressenti aucune suite, et que depuis ce temps-lä il n’en avoit point
il ne soupgonnoit plus rien de pareil etc. ressenti latteinte, il ne soupgonnoit plus rien
de pareil etc.
Uuu?2
5924 Rank:
überarbeitete. Die meisten Correcturen, die er anbringt, sind Sprachver-
besserungen, hauptsächlich zu dem Zweck gemacht, allzugrofses Detail
zu vermeiden, eine gewisse Würde des Ausdrucks zu behaupten; andere
betreffen die Sache; und sind dann recht erwünscht. Einiges hat er in der
That besser erkundet als seine beiden Vorgänger und an der Stelle ihrer
Erzählungen eingeschaltet; aber daneben läfst er ihre Übergänge die nun
nicht mehr passen, ruhig stehen. |
Ich denke, dafs es hauptsächlich Geldbedürfnifs war, was den Autor
dazu vermochte, seine Arbeit zu unternehmen.
Er überreichte sein Werk wohl abgeschrieben der Königin Mutter und
den Prinzen des Hauses, und liefs sich dafür belohnen. In ihren Bibliothe-
ken hat man die Abschriften gefunden, von denen dann eine gedruckt wor-
den ist.
Es gehört nicht unmittelbar zur Untersuchung über Pöllnitz, aber
einmal auf diesem Gebiete, können wir die Frage nicht abweisen, woher die
beiden Holländischen Autoren ihre Nachrichten haben. Wir brauchen auch
hier nicht weit zu suchen. Sie sind beide überhaupt nur durch Compila-
tionen namhaft, welche sie im Solde holländisdher Buchhändler ausarbeite-
ten. Die vornehmste Quelle des einen und des andern ist die Lebensbeschrei-
bung Friedrich Wilhelms I von Fafsmann, die schon 1735 erschienen war.
Wählen wir zur Betrachtung die Jahre 1718-20, so finden wir bei
Fafsmann nachstehende Reihefolge: 1. M&motial der Refugie’s nach dem
Tode von Dönhof; 2. Revocationsedikt für die wegen des Kriegsdienstes
austretenden Unterthanen; 3. Schlofsdiebstahl; 4. Erkrankung des Königs an
den Kinderblattern; 5. Ausgleichung mit Hessen-Homburg; 6. Beprereiin
gegen die Karkelikehe Bieackion in der Pfala;uf. euer des Clement;
8. Nachricht vom Tode Carls XII.;, 9. Brand im Schlosse: 10. Revue zu
Tempelhof; 11. Eröffnung der Magazine in theuren Zeiten, wodurch der
Wucher („derer Kornhändler, welche zu solchen Zeiten die Armuth recht zu
schinden pflegen”,) verhindert worden; 12. Schanung der Russen in Meklen-
burg, und Irrungen mit Polen wegen des Planes, Ourland an den Markgra-
fen von Brandenburg-Schwedt zu bringen; 13) Sorge für die Französin
Refugie’s; 14. Friede mit Schweden.
So hat auch Mauvillon I. 325.: 1. Memorial der Refugie’s, aus dem
Deutschen zurück übersetzt; 2. Revocationsedikt im Auszug; 3. Schlofsdieb-
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 525
stahl; 4. Erkrankung des Königs an den Kinderblattern; 5. Ausgleichung
mit Hessen-Homburg (mit den Worten Fafsmanns); 6. Repressalien gegen
die Pfälzischen Catholiken (mit Zusätzen); 7. Tod Carls XII. (etwas verän-
dert); 8. Abenteuer des Clement nach Fafsmann ; 9. Revüe bei Tempelhof
mit der Schilderung des Profossen ganz nach Fafsmann; 10. Öffnung der
Magazine. 11. Irrungen mit Polen, mit den von Falsmann mitgetheilten
Actenstücken. 12. Friede mit Schweden.
La Martiniere hält sich in der Anordnung etwas freier: er beginnt sein
viertes Buch mit dem Excerpt über die Refugie’s, hat 2. das Revocations-
edikt; 3. den Schlofsdiebstahl; 4. Erkrankung des Königs; 5. Repressalien
gegen die Pfalz; 6. Abenteuer des Clement ganz nach Fafsmann, mit den
Fehlern, die Mauvillon corrigirt hatte. 7. Eingeschaltete Erwähnung eines
Schriftwechsels über Holstein; 8. Tod Carls XII, mit einer Bemerkung von
Fafsmann. 9. Eröffnung der Magazine aus Fafsmann (on öta A l’avidite des
marchands de grains le moyen de s’enrichir aux depens d’une multitude affa-
mee); 10. Russisch-Polnische Irrungen ebenfalls mit Erwähnung Meklen-
burg’s wie bei Falsmann und die gewechselten Aktenstücke. 11. Sorge für
die Refugie’s. 12. Friede mit Schweden. Er hat einiges auch für ihn zu Unbe-
deutende von dem Schlofsbrand, der Ausgleichung mit Homburg und der Re-
vüe bei Tempelhof weggelassen, sonst das Meiste excerpirend oder überse-
izend, herübergenommen, ohne sich doch viel um die Sache selbst zu küm-
mern; man fragt z. B. vergebens, wer nun eigentlich, da die Refugie’s wäh-
len sollten, aber dem König selbst die Wahl anheimstellten, das Departement
erhielt.
Dürfte man nicht sagen, dafs der alte Falsmann im Grunde der Ur-
heber aller dieser Bücher sei? Wenigstens ein guter Theil derselben stammt
von ihm her, und die Grundlage hat er gegeben.
Wir müssen nun aber einen Schritt weiter ihun und uns nach den
Quellen Fafsmanns umsehen.
Ich finde zunächst eine, die recht gut und zuverläfsig ist. Unter
Friedrich Wilhelm I. erschien und zwar mit Genehmhaltung der Societät
der Wissenschaften jährlich ein historisch-geographischer Calender, dem
Mittheilungen aus der alten Weltgeschichte und zugleich Aufzeichnungen
aus der neuen beigegeben waren: wo man denn auch Preufsen nicht vergafs.
Diese Aufzeichnungen hät nun Fafsmann in einigen Jahren in sein Buch ein-
526 RıAınkee:
geschaltet, z. B. bei dem Jahre 1731 die Einführung des Markgrafen Carl
als Herrenmeister, ganz wie sie in dem Calender des Jahres 1731 unter
dem Titel: Fortsetzung der neuen Weltgeschichte, Preufsen, enthalten ist.
Alles, was vom Preufsischen Hofe in dem Jahre 1733 gemeldet wird, ist
in dem Calender für das Jahr 1735 enthalten; Fafsmann vermehrt nur
überall die Curialien. Wenn der Calender z. B. sagt: „Der König rei-
sete nach Preufsen und nahm die Litthauischen Amter in Augenschein,”
so heifst es bei Fafsmann: „Des Königs Majestät thaten eine Reise nach
Preufsen und nahmen dort die Litthauischen Ämter in hohen Augen-
schein.” Nicht überall aber wo man es erwarten sollte, finde ich diesen
Calender benutzt; Fafsmann scheint nur die zuletzt erschienenen Jahr-
gänge vor sich gehabt zu haben.
Anderes nahm er aus einem damals viel gelesenen und verbreiteten
Journal der Europäischen Fama. Eigentlich ist Alles, was Fafsmann vom
Jahre 1720 angiebt, aus dem 235sten und dem 239sten Heft der Fama ge-
nommen: das Ediet zu Gunsten der Refugie's, — die Hinrichtung Ole-
ments und seiner Mitschuldigen; nur dafs Falsmann, der der Execution bei-
wohnte, aus eigener Erinnerung einige kleine Nebenumstände hinzugefügt
hat, — die Einstellung der Religionsrepressalien in Minden wörtlich, — eben
so die Reise nach dem Haag — die Explosion des Pulverthurms mit kleinen
Zusätzen — die Reise nach Hannover nur mit Abänderung einiger Ausdrü-
cke — diese aus den erstgenannten; aus dem zweiten Heft von S. 976. an
aber Folgendes: die Collecte für die Garnisonkirche, wobei Fafsmann nur
die persönliche Theilnahme des Königs etwas mehr hervorhebt; — das Ge-
setz gegen die Hehler — die Audienz des Schwedischen Gesandten, — die
Werbeirrungen in der Mark; („bei welcher Gelegenheit,” sagt der eine,
„Mancher mit blutigem Kopfe nach Hause gekommen”; der andere: „bei wel-
cher Gelegenheit Mancher mit blutigem Kopfe nach Hause gegangen.”)— Reise
nach Pommern. Meistens hat Fafsmann einige Zusätze und Einschaltungen;
häufig besteht sein Text eben nur aus den Worten, die schon in der Fama
zu lesen waren. Aus der nemlichen Sammlung hat er auch zuweilen die
Aktenstücke, die den zweiten Theil seines Buches ausfüllen, genommen,
unter anderm die im Jahre 1719 zwischen Preußen und Polen gewechselten
Schriften, in derselben Reihenfolge, in directer oder indirecter Fassung, wie
sie dort (Heft 231.) mitgetheilt sind.
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 597
Und so tritt nun folgende Genesis dieser Preufsischen Geschichten
hervor.
Wir sehen zuerst einen Autor, der sein Buch aus den Nachrichten,
die er in Journalen und Calendern findet, zusammenstellt. Er hat den Vor-
theil im Land gewesen zu sein, und zeigt eine gewisse Vorliebe, eine apo-
logetische Tendenz, aber an eigentlicher Kunde fehlt es ihm ganz. Seine
Politik geht nicht über Das hinaus, was bei einem Gespräche an der Wirths-
tafel vorkommen konnte. Diese Compilation legen nun ein paar Tages-
schriftsteller zu Grunde, im Solde von Holländischen Buchhändlern,
die einen Stoff der Zeit bearbeitet zu sehen wünschen; aber Männer von
einem gewissen Talent, welche manches Neue hinzufügen, und dem rohen
Material die in dem Reiche der europäischen Literatur gebräuchliche Form
geben. Deren Arbeit macht sich ein Hofmann zu eigen; unter dem
Vorgeben, Denkwürdigkeiten zu verfassen, schreibt er ihre Bücher eigent-
lich nur eines um das andere ab, indem er die Documente wegläfst, oder
umarbeitet, das Ungleichartige verwischt und dem Ganzen durch eigene Zu-
sätze wieder eine neue Farbe giebt. So bringt er den alten Stoff, der nie-
mals verifieirt oder durchgearbeitet ist, vor das Publicum einer gewählten
Gesellschaft. Nun gewinnt derselbe Credit und geht in die Geschichtsbü-
cher und die allgemeinen Anschauungen über.
Werfen wir noch einen Blick auf die Einschaltungen und Zusätze,
mit welchen Pöllnitz den überkommenen Stoff ergänzt.
Einige sind recht brauchbar z. B. der Abschnitt über Clement, nicht
über seine Anfänge und Betrügereien, wo alles ebenfalls Copie ist, aber
über seine persönlichen Beziehungen zum König, und seinen Procels;
da haben dem Verfasser bessere Nachrichten zu Gebote gestanden. Die
meisten aber aus der Zeit, wo er nicht in Berlin war, haben wenig Werth
und tragen das Gepräge des Hörensagens.
Wenn er über die erste Zusammenkunft Seckendorf’s mit dem Kö-
nig berichtet, so hat es bei ihm den Anschein, als habe Friedrich Wil-
helm den Grafen noch gar nicht gekannt, und erst durch Andere auf ihn
aufmerksam gemacht werden müssen. Er kannte ihn aber längst persön-
lich, und stand mit ihm in Briefwechsel. Die Unterhaltung nahm einen
ganz anderen Verlauf als Pöllnitz angiebt; Seckendorf brauchte nicht mit der
Gewandtheit, die ihm hier zugeschrieben wird, auf seinen Gegenstand hin-
528 RıAneke:
zulenken, der König kam ihm gleich mit seinen veränderten Gesinnungen
entgegen. Genug ganz falsch ist es nicht, was Pöllnitz erzählt, aber für
wahr kann es nicht gelten.
Auch damals war Pöllnitz noch nicht anwesend, als die Entzweiung
Friedrich Wilhelms mit seinem Sohne eintrat, über die er sehr ausführlich
Bericht erstattet.
Der Augenschein lehrt, dafs Pöllnitz, der ungefähr ein Jahrzehend
nach der Markgräfin schrieb, die Erzählungen derselben nicht so geradezu
in sein Buch herübergenommen hat, aber er folgt ihr im Gange seiner Dar-
stellung nicht selten Schritt für Schritt und zuweilen copirt er sie eben-
falls. Manche Ubereinstimmungen könnten zufällig sein und in der Sache
beruhen; bei andern aber läfst sich dies nicht denken. Wenn er z.B.
S. 209. den Jugendfreund Friedrich’s, Katt, als pockennarbig und überhaupt
nicht schön beschreibt, so könnte es ein Zufall sein, dafs er dies in den
Ausdrücken der Markgräfin thut; wenn er aber hinzufügt: „avec des soureils
epais qui lui donnoient une physionomie funeste,” so wie die Markgräfin
sagt S. 159. „deux soureils noirs lui couvroient presque les yeux; son regard
avoit quelque chose de funeste, qui lui presageoit son sort,” so mufs man
annehmen, dafs er die Worte der Markgräfin vor Augen hatte. Ebenso ist
die weitere Schilderung von Pöllnitz „libertin al’exces, il affectoit de n’avoir
point de religion, et donnoit dans la debauche)outree” eine Wiederholung
dessen, was die Markgräfin sagt: „il faisoit !esprit fort et poussoit le liber-
tinage A lexces;” Pöllnitz schildert manche Persönlichkeit Anders als die
Markgräfin, bei Katt aber, den er wahrscheinlich nie gesehen, copirt er die
Grundzüge ihrer Beschreibung. Das Auffallendste ist, dafs in den beiden
Werken manche Dinge auf eine gleiche Weise unrichtig dargestellt werden,
z.B. die Audienz von Hotham. |
Wenn Pöllnitz einmal sagt: „je tiens de Madame la Margrave de
Bareuth etc.”, so ist das wohl nur eine Form des Ausdrucks; die Ähnlich-
keit der Erzählungen ist so stark, dafs sie schwerlich auf mündlichen Mit-
theilungen beruhen kann. Ein und das andere Mal coincidiren sie ganz.
Pöllnitz 230. Mem. de Baireuth 239.
Il demanda d’un ton menagant, pourquoi il Il interrogea mon frere et lui demanda
avoit voulu deserter. — Parceque vous m’avez d’un fon furieux, pour quoi il avoit voulu
traite jusqu’ ici, non comme votre fils, mais deserter. (ce sont ses propres expressions
Jusq ’ ’
Zur Kritik Preufsischer Memoiren.
comme un esclave”, — r&pondit le Prince. —
„ Vous etes un läche deserteur”, reprit le Roi,
„qui n’avez ni coeur, nı honneur”. — „len
ai autant que vous,” repliqua le Prince, et „je
n’ai voulu faire, que ce que vous m’avez dit
929
„Parceque,” lui r@pondit il d’un ton ferme,
„vous ne m’avez pas trait@ comme votre fils,
mais comme un vil esclave”. — „Vous n’etes
done qu’un läche deserteur,” reprit le roi,
„qui n’a point d’honneur”. — „Ten ai autant
souvent ue vous feriez, si vous &liez ä ma
E} ’
place.”
que vous,” lui repartit le prince Royal; „je
n’ai fait que ce que vous m’avez dit cent fois,
que vous feriez, si vous @tiez A ma place”.
Eine so völlige Gleichförmigkeit der Erzählung scheint mir unmög-
lich, wo nicht ein Autor den andern vor Augen hat. Wenn daneben man-
nichfaltige Abweichungen vorkommen, so mag das damit zusammenhängen,
dafs es von dem Werke der Markgräfin mehrere von einander verschiedene
Redactionen giebt.
Nach alle Dem könnte es scheinen, als würde man keinen Verlust
zu beklagen haben, wenn man die Memoiren von Pöllnitz ganz aus der Reihe
Brandenburgischer Denkmäler ausstriche. Das ist jedoch meine Meinung
5
mit nichten.
Der Fehler
von Pöllnitz war, dafs er eine Geschichte zu verfassen unternahm, wozu
Niemand sollte mehr schreiben wollen, als was er weiß.
es ihm an eigentlicher Befähigung fehlte. Sehr wohl befähigt war er dage-
gen, Memoiren über den Preufsischen Hof in der Zeit, die er sah und dort
mit durchlebte, zu schreiben: was sich in seinem Buche auf diese späteren
Jahre bezieht, ist lesenswürdig und gröfstentheils original.
Schon die Geschichte der Theilnahme Friedrich Wilhelms I. an dem
Rheinischen Feldzuge hat eigenthümliche Züge; noch charakteristischer sind
einige andere, wie die Äufserungen des Königs über sein Verhältnifs zu Hol-
land, sein Betragen beim Tode Grumbkow’s, die der Verfasser aus persönli-
cher Kenntnifs mittheilt; unläugbaren Werth hat der Bericht über König Sta-
nislaus von Polen, seine Flucht aus Danzig, seine Aufnahme in Berlin, wo-
bei Pöllnitz selbst der Ceremonienmeister gewesen ist; auch die Notizen über
die Bauten zu Berlin unter Derschau, über die Thaten und Leiden des famo-
sen Eckart sind willkommen; die Nachrichten über den Zustand Friedrich
Wilhelms in seinen letzten Tagen mit denen das Buch schliefst, verdienen
die Berücksichtigung, die sie gefunden haben.
Philos-histor Kl. 1849. Xxx
530 Rıneke:
Wenn man diefs bemerkt, so wird man um so begieriger, die Auf-
zeichnungen zu sehen, die Pöllnitz noch über Friedrich II. hinterlassen hat.
Pöllnitz hat Friedrich II. im ersten Augenblicke seiner Regierung be-
sucht, als ihm das Glasenappsche Regiment unter seinem Fenster ein Lebe-
hoch rief, und an seiner ersten Hofhaltuug einen gewissen Antheil gehabt.
Nur auf diese ersten Tage beziehen sich seine Aufzeichnungen; sie sind
ohne Vorliebe und tragen das Gepräge des unmittelbaren Eindruckes, wir
besitzen sie noch in der eignen Handschrift, des Verfassers.
Zur Kritik Preufsischer Menaisen. 531
I.
Über die Glaubwürdigkeit der Memoiren der Markgräfın
von Baireuth,
Alle Mängel der früheren Literatur über Friedrich Wilhelm I. sollten
dadurch gehoben und ausgeglichen scheinen, dafs eine geistreiche Frau, seine
Tochter, die Markgräfin Friederike Wilhelmine von Baireuth Denkwürdig-
keiten hinterlassen hat, die sich über seinen Hof, seine Familie und seine
Regierung mit grofser Ausführlichkeit verbreiten. Seitdem die Memoiren
der Markgräfin erschienen sind, haben sie in der That die historische Auf-
fassung beherrscht. Die gelungene Skizze, welche Friedrich II. selbst von
der Regierung seines Vorgängers entworfen hat, ist von dieser das Geheim-
nifs der Familie preisgebenden anschaulichen Schilderung in den Hintergrund
gedrängt worden. Wenn er den Vater gelobt hat, so rechnet man ihm diefs
als eine Art von Grofsmuth an, da er von demselben persönlich mifshandelt
worden ist; der Markgräfin weils man Dank, dafs sie keine Rücksicht genom-
men, Niemand geschont hat, weder den Vater, noch die Mutter, hier und da
auch den Bruder nicht; ein treues Bild jener Persönlichkeiten glaubt man
vor sich zu haben.
Und ein Glück, wenn es sich so verhält, wenn diese Memoiren wirk-
lich eine zuverlässige Kunde über eine so wichtige Epoche darbieten. Aber
ohne Prüfung dürfte man es nicht annehmen: auch die Erzählungen einer
Tochter über ihren Vater können nicht ohne Weiteres als Wahrheit gelten.
Unter gewöhnlichen Umständen würde man voraussetzen, dafs sie zu seinen
Gunsten eingenommen wäre: kann aber unter andern Verhältnissen nicht
auch das Gegentheil Statt finden? Wenn die Wünsche der Tochter nicht
befriedigt werden, die Charaktere sich abstofsen, kann sie nicht in eine Ver-
stimmung gerathen, welche sie ungerecht auch gegen ihre Familie macht? Eine
Prinzessin, welche häufig von den Dingen hört, ohne sie gründlich zu er-
Xxx?2
532 RAnwkKe:
fahren, von Allem, was ihren Ansprüchen entgegenläuft, persönlich gereizt
wird, kann an und für sich nicht als eine sichere Autorität in der Geschichte
betrachtet werden.
Treten wir an das vor uns liegende Werk näher heran, so stofsen wir
von vorn herein auf eine äufsere Schwierigkeit, die uns in eine nicht geringe
Verlegenheit setzt.
Die Memoiren der Markgräfin sind zuerst in einer Deutschen Über-
setzung, gleich darauf im Französischen Original erschienen, doch zeigt der
erste Blick, dafs diese beiden Veröffentlichungen nicht zuammenstimmen, die
Übersetzung auf einer eigenthümlichen und abweichenden Fassung beruht.
Aber überdiefs giebt es Abschriften, die weder mit der einen, noch der an-
deren, — noch auch untereinander selbst übereinstimmen. Unter fünf Co-
pien, die das königliche Staatsarchiv aufbewahrt, finden sich vier von ein-
ander abweichende. Die einzelnen Erzählungen sind an sich ungleich; und
in dieser Form bald auf die eine, bald auf die andere Weise an einander
gereiht, in einander geschoben; auf Übereinstimmung folgt Verschiedenheit,
auf Verschiedenheit Ubereinstimmung. |
Ich glaubte Anfangs, die Copien würden sich durch Auseinanderneh-
men und Zusammensetzen auf zwei Redactionen zurückbringen lassen: doch
ist dies, wenigstens in Bezug auf die Abfassung der einzelnen Abschnitte,
nicht möglich; obgleich wir nicht dafür stehen können, das Material vollstän-
dig vor uns zu haben, so trifft man doch Stellen, in denen vier verschiedene
Hände oder Fassungen erscheinen. So heifst es in der Erzählung über die be-
kannten Intriguen des Clement in einer ersten Redaction: „hätte er die Briefe
5
wäre Grumbkow verloren gewesen;” in der zweiten: „da er die verspro-
5 ) P
vorlegen können, zu deren Vorlegung er sich anheischig gemacht hatte, so
chenen Briefe nicht vorlegen konnte, so wurde Alles, was er vorbrachte, als
falsch betrachtet;” die dritte fügt hinzu, als ei mit Grumbkow confrontirt
worden sei, habe sich gezeigt, dafs er denselbenigar nicht einmal persönlich
kenne; in der vierten wird, wie bei Pöllnitz,'Jablonski erwähnt, der in
den früheren nicht vorkommt. Diesem Schwanken im Kleinen entspricht es
dann, dafs sich über die Hauptsache Nichts findef, was der Rede werth wäre.
Zuweilen sind die Abweichungen, wie eben hier, nur unbedeutend,
zuweilen aber sind sie wesentlich.
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 933
Nach der gedruckten Französischen Redaction z. B. macht die Köni-
gin Schulden im Spiel; Grumbkow vermuthet, dafs sie, um dieselben zu
bezahlen, ein paar kostbare Ohrringe, die sie von ihrem Gemahl zum Ge-
schenk bekommen hat, verpfändet habe und sagt diefs dem König; die Kö-
nigin aber zeigt ihm, dafs sie dieselben noch besitzt. (*) Eine an sich un-
wahrscheinliche Erzählung, deren Credit aber dadurch noch besonders er-
schüttert wird, dafs sie in der im Archiv mit No.3. bezeichneten handschriftli-
chen Copie unter sehr veränderter Gestalt vorkommt. Da ist der König schon
immer mifsvergnügt, dafs die Königin sich zu kostbar kleide; dennoch macht
erihr ein Geschenk mit ein paar Ohrringen, welche auf 26,000 Rihlr. ge-
schätzt werden, und die sie zu haben wünscht; Grumbkow sagt ihm, sie
habe dieselben nur gefordert, um damit ihre Schulden zu bezahlen, die er
jedoch nicht als Spielschulden bezeichnet. Kam es bei der ersten Erzäh-
lung hauptsächlich darauf an, auch diesen Fehler zur Sprache zu bringen?
So ist es an vielen Stellen: die Geschichten, wie sie in den verschiedenen
Texten erscheinen, haben eine grofse Ähnlichkeit unter einander, weichen
aber doch auch wieder erheblich von einander ab. Es ist, als wenn man
eine und dieselbe Anekdote von verschiedenen Erzählern vortragen hörte;
Einer glaubt sie immer besser zu wissen, als der Andere: Jeder schmückt
sie auf seine Weise aus.
Wir besitzen jetzt die autographe Handschrift der Markgräfin in den
aus ihren Briefen bekannten grofsen Schriftzügen, welche bei dem französi-
schen Drucke zu Grunde gelegt worden ist: sie setzt nicht allein dessen
Authentieität aufser allen Zweifel, sie ist besonders dadurch merkwürdig, dafs
man die Correcturen wahrnimmt, durch welche der Text, wie er vorliegt,
noch zuletzt zu Stande gekommen ist. Hie und da erscheinen gleichsam zwei
neue Redactionen neben einander; die letzten Veränderungen, von der Hand
der Markgräfin selbst, sind meistens in einem ihren Eltern ungünstigen Sinne
gemacht. Wenn es z.B. von der Königin Anfangs hiefs, sie sei eifersüch-
tig, ehrgeizig, argwöhnisch, so schien dies der Verfasserin späterhin nicht
genug. Der verbesserte Text lautet: ihr Ehrgeiz ist übermälsig, sie ist
(*) Die im Druck an dieser Stelle fehlenden Worte lauten: „ses pierreries pour lui prouver
la fausset@ des accusations;” sie sind defshalb ausgefallen, weil im Autograph die obere Zeile der
Seite abgerissen war, finden sich aber in einer früher genommenen Abschrift.
534 Rank
äufserst eifersüchtig, von argwöhnischem und rachsüchtigen Gemüth. Die
bekannte Stelle, in welcher das grofse Regiment als der Canal zur Gnade
Friedrich Wilhelms I. bezeichnet wird, ist nur erst zuletzt an den Rand ge-
schrieben. In dieser Art sind die meisten Veränderungen. Eine Schilde-
rung bemerkte ich, die von fremder Hand eingelegt ist und sich wörtlich in
anderen sonst abweichenden CGopien findet.
Ich will in eine Untersuchung des Verhältnisses der verschiedenen
Copien und Überarbeitungen nicht eingehen. Es liefse sich denken, dafs
der letzten definitiven Redaction, von der wir das Autograph übrig ha-
ben, andere vorhergingen, von denen man Abschriften nahm und von Hand
zu Hand gab. Vielleicht wurden mündliche Erzählungen einzeln aufge-
zeichnet und erst später, nicht ohne Willkür, zu einer umfassenden Darstel-
lung verbunden. Zuweilen sieht es aus, als sei von den verschiedenen Dar-
stellungen die eine die Umarbeitung, Ausschmückung der anderen.
Um wenigstens ein Beispiel hiervon zu geben, will ich die Abweichun-
gen der Darstellung über einen an sich sehr unbedeutenden Vorfall, über
den sich aber zufällig noch ein anderes Zeugnifs findet, zusammenstellen.
Bei einem Besuch in Charlottenburg im Jhhre 1723 wurde der König
Georg I. von England, nachdem man ein langes Abendessen gehalten, als
man aufstand, von einer Art von Ohnmacht betroffen. Wie man aus der
Erzählung des Sächsischen Residenten sieht, hatte Das nicht viel auf sich.
Die Schwäche, die davon herrührte, dafs der König vor Tafel nicht allein
sein konnte, ging auf der Stelle vorüber; der König konnte seine Tochter
in ihr Zimmer zurückführen; (*) dann begab er sith in das für ihn bestimmte;
er brauchte nur Ruhe.
(#) „Les Roys et la famille Royale souperent & huit ae il n’y eut que les deux Secre-
taires d’Etat et M. de Scott Envoy€ de S.M. Britannique, qui furent admis ä la table Royale,
tout le monde se dispersa dans d’autres apartements, ou les Dames se mirent ä leurs tables et
les Cavalliers aux leurs, suivant usage regu ici. |
Vers les deux heures que tout le monde £toit rentr& dans la grande salle, otı souperent
les Roys, S. M. Britannique se trouva mal; les Secretaires l’Etat furent les premiers, qui s’en
apergurent et en t@moignerent des inquietudes extraordigaires jusquä ce que la Reine s’en
apercevant proposa de se lever. Mais le Roy d’Angleterre ne füt pas plutöt debout qulil
commenga & chanceler et un moment apres il tomba Evanoui entre les bras de Leurs Majestes
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 535
Man kann sich darauf verlassen, dafs nichts weiter vorkam; welches
Interesse hätte Suhm haben können, die Sache anders zu erzählen, als sie
war? Er ist ohnehin als ein einfacher und zuverlässiger Mann bekannt.
In den Memoiren erscheint der Vorfall ganz anders und zwar, wenn
wir die Copien nachsehen, in drei verschiedenen Gestalten.
Nach der Redaction, die sich in der Berliner Handschrift no. 3. be-
findet, legte man den König auf die Erde, er blieb eine ganze lange Stunde
ohne Bewusstsein, man glaubte allgemein, sein Zufall sei ein Vorbote von
Apoplexie, die ganze Nacht befand er sich schlecht. (*)
In einer zweiten Redaction, welche bei der Deutschen Ausgabe be-
nutzt worden ist, wird der Anwesenheit der beiden Englischen Staatssekre-
täre bei der Tafel gedacht; der eine von diesen, Lord Townsend, bemerkt,
dafs der König sich unwohl fühlt, und läfst durch die Prinzessin die Kö-
nigin bitten, die Tafel aufzuheben; indem man endlich aufsteht, schwankt
der König und man sucht ihn vergebens aufrecht zu halten; „seine Perücke
fällt auf die eine, sein Hut auf die andere Seite; ’
?
er mufs eine Stunde auf
dem Boden liegen, ehe er wieder zu sich gebracht werden kann.
In der dritten endlich, der des Französischen Druckes, lesen wir die
Bemerkung, dafs Georg I. wahrscheinlich defshalb so stumm geblieben,
weil er sich des Sprüchworts erinnert habe, es sei besser zu schweigen, als
schlecht zu sprechen; der Staatssekretäre geschieht keine Erwähnung; der
König von England wird diefsmal vom König von Preufsen einen Augenblick
aufrecht gehalten; aber er fällt, die Perücke auf die eine, der Hut auf die
Prussiennes. L’alarme et la consternation füt grande, cependant le mal se passa in-
continent, n’etant qu’une faiblesse caus@e par la contrainte, ou il avait die, n’ayant pu se
trouver seul, avant de se mettre ä table. On envoya d’abord chercher le m£decin Stahl;
mais S. Maj. Britannique n’ayant besoin que de repos, ramena la Reine dans ses apartements
et se rendit dans ceux, qui lui avaient &t€ prepares.”
(*) Handschrift No. 3. S. 59.
„On se mit enfin ä table, ol ce Prince resta toujours muet. Il se trouva mal & la fın
du repas et tomba sur ses genow. On le coucha tout doucement A terre, oü il resta une
grosse heure sans sentiment. Les soins qu’on prit lui firent enfin revenir ses esprits. Le Roi
et la Reine se desolaient pendant ce temps; et bien des gens ont cru que cette attaque £tait un
avant-coureur d’apoplexie. Ils le prierent instamment de se relirer, mais il ne le voulut pas
et reconduisit la Reine dans son apartement. Il fut tres mal toute la nuit, ce qu’on apprit
sous main, mais cela ne l’empecha pas de reparaitre le lendemain.”
536 Rınks:
andere Seite, in seine Knie, er mufs die ganze Stunde auf dem Boden lie-
gen; doch läfst er sich auch dann noch nicht verhindern, die Königin in ihr
Zimmer zurück zu begleiten. (*) -
Wenn man annehmen dürfte, dafs diese verschiedenen Redactionen
alle von der Prinzessin selbst stammen, so würde sich gleichsam eine Stei-
gerung ihrer Phantasie und Neigung zur Afterrede wahrnehmen lassen; ich
habe darüber nicht einmal eine Vermuthung, die ich aussprechen möchte;
aber Das leuchtet ein, dafs wir uns hier nicht auf dem Boden ruhiger oder
naiver Mittheilung, sondern einer ziemlich schwankenden Erinnerung befin-
den, die, bewusst oder unbewusst, der Carikatur zuneigt.
Unter den Personen, die sie näher angehen, macht die Markgräfin kei-
nen Unterschied; sie schont ihren Grofsvater eben so wenig, wie ihren Va-
ter oder ihre Mutter. Man weifs, was nach den Berichten des zuverlässi-
gen Suhm bei jenem Hubertusfeste in Wusterhausen vorkam. Wie nimmt
sich das bei ihr so widerwärtig aus! Das aufwallende Gefühl, das jener
Scene eine wirkliche Bedeutung giebt, verschwindet; nur das Groteske der
Zustände bleibt übrig und rer in stark aufge tragenen Farben.
Wer kennt nicht solche Geister, die ee der Erschei-
nung hervorzuheben, eine beifsende Bemerkung anzubringen, durch keine
Rücksicht der Welt abgehalten werden können. |
Hier scheint es fast, als sei eine en Tendenz im Spiel: nicht
besser hat Mademoiselle de Montpensier ihren Vater und ihre Verwandten
behandelt; auch diefs war eine Prinzessin, die entfernt vom Hofe ihre Ein-
samkeit mit der Erinnerung an denselben erfüllt hatte: ihre Memoiren
wurden damals in ganz Europa gelesen.
Wir haben von der Markgräfin von Bairchth viele Briefe übrig, die
einen ganz anderen Eindruck machen, als das Bich; sie sind weniger leicht
und fliefsend geschrieben, — aber reicher an Gedanken, gedrungener, ein-
gehender.
Noch ein anderes Interesse bieten nun aber für unsere Untersuchung
diese Briefe dar, wo sie, was leider nicht so oft geschieht, als wir wünsch-
(*) Die erste Hand des Autographs hat sogar: „,ils lui firent toutes les instances imaginables,
pour le faire retirer.” In der Correctur ist die Verfasserin auf die Fassung der ersten Re-
daction, die ihr also wohl vorliegen musste, zurückgekommen.
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 837
ten, Ereignisse berühren, die auch in den Memoiren erscheinen. Da über
die meisten Vorfälle am Hofe keine andern Aufzeichnungen vorhanden sind,
an denen wir ihre Wahrhaftigkeit prüfen könnten, deren sich auch kaum
erwarten lassen, so mag sie denn über sich selber zeugen.
Ihre Denkwürdigkeiten über das Jahr 1732 eröffnet die Markgräfin
mit Erinnerungen, die einen traurigen Eindruck machen. Obgleich sie, längst
unwohl, den Tag vorher in der Kirche eine Ohnmacht gehabt, so habe die
Königin doch das Dreikönigsfest bei ihr begehen wollen; aber sehr traurig
sei dieses Fest ausgefallen; man habe gefürchtet, sie zu verlieren; (ils avoient
tous les larmes aux yeux). Sonderbar, da ihr Befinden doch nur als ein Zei-
chen ihres gesegneten Leibeszustandes angesehen wurde. Aber noch mehr
erstaunt man, wenn man ihre Briefe an Friedrich eröffnet; einen ganz ande-
ren Eindruck empfängt man da von dem Anfang dieses Jahres. Der erste er-
zählt von einem sehr angenehmen Feste bei der Königin; nachdem man die
Bohne gezogen, habe der Ball begonnen: um 10 Uhr das Souper, wo ein
Jeder durch ein prächtiges Geschenk überrascht worden sei; nachdem man
gegessen, getrunken und ausgelassen gewesen, habe der Ball noch einmal an-
gefangen. (*) Kein Zweifel dafs hier von zwei verschiedenen Festlichkeiten die
Rede ist; aber welch ein ganz anderes Bild von dem Leben am Hofe und
dem Verhalten der Königin geben die Briefe als die Memoiren, die nur das
Widerwärtige verzeichnen.
Die Markgräfin ging hierauf nach Baireuth, wo sie sich gleichsam in
der Sklaverei ihres Schwiegervaters fühlte, so dafs sie gegen Ende Juni,
hochschwanger wie sie war, nach Berlin zu reisen beschlofs.
Der Markgraf suchte sie abzuhalten, aber sie entschuldigte sich damit,
dafs sie ihr Wort dem Könige, ihrem Vater, gegeben habe und machte sich
auf nach Himmelskron. Hier stellt nach den Memoiren der Leibarzt des
Markgrafen vor, dafs die Reise unfehlbar ihren Tod zur Folge haben werde;
(*) La reine nous donna hier une fete charmante, on tira la feve avant souper et elle Echüt
ä la Growkow, le bal commenga gıi dura jusqu’ä 10 heures et on se mit a table, ou chacun fut
bien surpris, de trouyer sous sa serviette un present magnifique: apres avoir bien mang£, bien
bu et fait les foux, nous recommengames A danser, ce qui finit ä ı heure et demie qu’un chacun
se mit sous la direction de Morphe entre deux draps. Cestä moiä present de don-
ner la premiere fete: ensuite ce sera ma soeur Charlotte etc.
Philos. - histor. Kl. 1849. Yyy
538 RaneKe:
man möge ihr nur sogleich ihren Sarg mitgeben; diefs macht Eindruck auf
ihren Gemahl, und auch sie giebt den vernünftigen Gründen und Bitten nach;
sie beschliefsen zu bleiben.
Schlägt man die Briefe auf, so erscheint schon die ganze Lage in ver-
änderter Gestalt. Man sieht, dafs das Land, welches einen Erben von der
Prinzessin erwartete, über ihr Vorhaben abzureisen in Bewegung gerieth: mehr
als hundert Bittschriften dagegen gingen bei Hofe ein; man drohte selbst mit
einem Aufstande. Der alte Markgraf beschwor sie zurückzubleiben, er
ward blafs, indem er sprach, und zitterte; er sagte ihr, es würde sein Tod
sein, wenn sie gehe, aber sie blieb hartnäckig bei ihrer Absicht. Die Briefe
beweisen, dafs sie dieselbe nicht aus eigener Bewegung fahren liefs; sie gab
die Reise nur deshalb auf, weil ihr Vater sie unter diesen Umständen nicht
. bei sich sehen wollte. Der Markgraf hatte eine Stafette an den König ge-
schickt und Dieser war es, der ihr zu bleiben gebot. Hören wir ihre eige-
nen Worte.
„Himmeleron le 5 Juillet. I’homme ptopose et Dieu dispose, car
lors que je me voyais d&ja sur le point d’entreprendre l’heureux voyage, qui
devait me mettre sur le comble de ma joie, le Margrave s’ayisa d’envoyer
une Stafette au Roi pour le prier de me laisser ici et cela a mon insu. Dans
Vesperance qu’on lui refuseroit sa demande, je suis venu ici avec tout mon
bagage, pour y attendre les ordres, ce lieu €tani plus proche d’une lieue et
demie d’Hof que Baireuth. Mais jugez de mon desespoir lors que j’ai recu
ces ordres fatals, qui me prescrivirent de resterici; ils ont &t€ un coup de
foudre pour moi.”
Nach den Memoiren sollte man ihren dortigen Zustand für unerträg-
lich halten: sie habe dort bleiben müssen, sagt sie,,pour comble d’infortune:”
in den Briefen erzählt sie doch, dafs die Luft von Himmelskron ihr besser
bekomme, als die Baireuther, dafs man Alles thus, um sie zu trösten. „L’on
m’accable ici de caresses et le Margrave fait ce qu'il peut pour m’obliger.
Si je voulais accepter tous les presens que l’on mt veut faire, je le ruinerois,
lui etle pays.” Aber davon konnte in den Deukkürdigkeiten nicht die Rede
sein: wo die Absicht war, eine Laufbahn von Trübsalen (ma carriere d’ad-
versites) zu vergegenwärtigen.
Nach ihrer Niederkunft begab sie sich im Nov. 1732 wieder nach
Berlin: wie in ihren Memoiren ausführlich zu lesen ist. Indessen ein zu-
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 939
verläfsiges Tagebuch bilden diese nicht. Die Markgräfin erzählt, dafs sie,
am 16ten angekommen, von ihrer Mutter mit einer stolzen Kälte und sogar
mit Vorwürfen empfangen worden; den andern Abend sei der König ange-
langt, ihr aber nicht besser begegnet; den Tag darauf habe sie das Vergnü-
gen gehabt, ihren Bruder zu sehen „J’eus enfin le lendemain le plaisir de
voir mon frere.”— Es ist doch sehr auffallend, dafs sich aus den Briefen
ergiebt, dafs Friedrich im Laufe des November gar nicht, vielmehr erst nach
der Mitte December nach Berlin kam. Am 29. November schreibt sie ihm
klagend, sie sei nun schon 14 Tage in Berlin, ohne ihn gesehen zu haben:
„Pensez, il ya demain quinze jours que je suis ici et que je n’y ai point vu,
ce qui m’est plus cher que la vie.” Und nicht so unbedeutend ist das, wie es
scheinen könnte: in diese erste Zeit ihres Aufenthaltes verlegt sie mancherlei
merkwürdige Aufserungen, die nun zweifelhaft werden. Überhaupt stehen
Memoiren und Briefe oft in schneidendem Widerspruch. Nach den ersten
macht der König herbe Späfse über die Armuth seiner Tochter; auch er sei
ein armer Mann, er wolle ihr aber von Zeit zu Zeit 10 bis 12 Gulden geben:
die Königin solle ihr manchmal ein Kleid schenken, denn sie habe doch
kein Hemd auf dem Leibe. In einem Briefe vom 22. November an ihren
Bruder liest man dagegen: „Le Roi est fort gracieux envers moi, et m’en a
donn& une terre de 22,000 ecus;” das war doch so übel nicht. So zeigt sie
denn auch in den Briefen dieser Zeit eine heitere Stimmung: die Berliner
Komödie, die Actricen in prächligem und altväterischen Putze, wie Notre
Dame de Lorette, die Schauspieler, in deren Darstellung die Helden wie eben
so viele Narren erschienen, schildert sie auch hier mit der besten Laune.
Nach einiger Zeit aber traten Mifsverständnisse ein, der König fing
an, den jungen Markgrafen schlecht zu behandeln. Die widerliche Scene bei
Glasenapp erzählt sie in dem Briefe an ihren Bruder in etwas milderen Far-
ben, aber sehr ähnlich wie in den Memoiren; nur hätte sie da auch den Grund
des Unwillens, den ihr Vater gefafst hatte, angeben sollen. Aus einem Briefe
Friedrichs sieht man, dafs der junge Markgraf dem König zu viel sprach,
ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wer es war, mit dem er sprach; er be-
kümmerte sich nicht genug um sein Regiment und endlich, was Friedrich
jedoch nur umschreibend ausdrückt, er wollte Geld haben. Dadurch wird
das Betragen des Königs wenigstens erklärlich; in den Memoiren sieht
man nur einen halb unvernünftigen gewaltsamen Hausvater vor sich.
Yyy2
540 RAneke:
Auch die Königin erscheint in weniger ungünstigem Lichte in der Cor-
respondenz: nach einem Briefe vom 31. Januar war sie es gerade, durch
deren Vorstellungen das Betragen des Vaters verändert wurde. Das Übrige
that die Krankheit des Markgrafen und bald darauf erfolgten wieder kleine
Geschenke. Am 14. März schreibt die Prinzessin: „Le Roi est fort bien
a present avec le Margrave et lui fait bon accueil.”
In dem Buche musste nun einmal Alles ins Häfsliche gemalt werden.
Man erinnert sich der lächerlichen Figur, die der Herzog von Weimar darin
spielt; er erscheint vollkommen toll und thöricht; in den Briefen hat sie
ihn selbst in Schutz genommen.
Wohl wahr, dafs man auch in Briefen nicht immer Alles sagt, was man
später in Memoiren der Nachwelt mitzutheilen kein Bedenken trägt. Das gilt
doch aber nicht von Privatangelegenheiten wie diese, nicht von Briefen an
einen vertrauten Bruder, der selbst das Scherzhafte liebt. Wenn eine
spätere Aufzeichnung kleine Vorfälle des Lebens anders erzählt, als sie ur-
sprünglich mitgetheilt werden, so ist die Wahl nicht schwer. Denn leicht
verwischen sich die momentanen Verhältnisse im Gedächtniss, das von dem
allgemeinen Eindruck beherrscht wird. Auch solchen Geistern begegnet man
ja, denen es bei aller sonstigen Begabung unmäglich ist, die Ereignisse so
festzuhalten, wie sie sich zutragen. |
Wie die Sachen in den Briefen erscheinen, sind sie natürlich und las-
sen sich verstehen: wie sie in den Memoiren geschildert werden, sind sie
unerklärlich und abenteuerlich.
Dazu kommt aber, dafs die Markgräfin üker viele Dinge, welche sie
sehr nahe angingen, schlecht unterrichtet war.
Oft und ausführlich spricht sie von den Bewerbungen des Herzogs
Johann Adolf von Weifsenfels um ihre Hand: se hat nie erfahren, woran
diese scheiterten. Aus dem noch vorhandenen Briefwechsel ergiebt sich,
dafs ihre Mutter es war, welche der Sache dadurch ein Ende machte, dafs
sie sich an das Familienhaupt, den König von Polen, wandte; dieser Fürst
kam ihr hierin zu Hülfe, nicht etwa aus Eifersucht, die fern von ihm war,
sondern weil diese Verbindung einer Nebenlinie seines Hauses ein Ansehn
gegeben hätte, das ihm unbequem gewesen wäre.
Anderes behauptet sie zu wissen, was sich nicht so findet. Sie versi-
chert, dafs bei dem Aufenthalt ihres Grofsvaters in Charlottenburg ein Ver-
trag zu Stande gekommen sei (12. Oct. 1723), worin man eine Doppelhei-
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 541
rath zwischen den Kindern der beiden Häuser beschlossen habe. Ich sah
den Vertrag; er ist für die damaligen Verhältnisse von grofser Wichtigkeit,
von der Heirath steht jedoch kein Wort darin.
Sie erzählt beim Jahre 1729 und meint damit ein grofses Geheimnifs zu
eröffnen: der indefs auf den Thron gelangte König Georg II. von England habe
seinem Sohn Friedrich, welcher sich noch in Hannover aufhielt, befohlen, nach
Berlin zu gehen und sich mit ihr zu vermählen, dann würde er sich mit
demselben öffentlich entzweien können und einen Vorwand haben, ihn
nicht nach England kommen zu lassen, was das Parlament forderte; — durch
die Geschwätzigkeit ihrer Mutter sei jedoch dieser Plan ausgekommen und
dadurch verhindert worden. Wie chimärisch sieht ein so weit angeleg-
ter politischer Kunstgriff schon von vorn herein aus! Das einzige Wahre
daran ist, dafs sich Prinz Friedrich in eine gewisse Verbindung mit dem Ber-
liner Hofe zu setzen suchte: jedoch geschah das etwas früher; im Dezember
1728 war er bereits nach England berufen worden. Ganz unrichtig ist die
Voraussetzung, dafs Georg Il. mit dem Prinzen einverstanden gewesen sei.
Wäre derselbe nach Berlin gegangen, so würde eine einseitige Vermählung mit
ihr zu Stande gekommen sein: aber eben diefs war es, was der Englische
Hof nicht wollte und woraus sich auch die Nation nichts machte. Beide
wünschten eine Familienverbindung von politischer Bedeutung, um den Kö-
nig von Preufsen wieder in das Englische Interesse zu ziehen und diese sahen
sie nur in der doppelten Vermählung. Eine solche war es, welche der Engli-
sche Resident Du Bourgay ım 12. Dezember 1728 in Vorschlag brachte, wo-
rüber man in Berlin zu Rithe ging und welche König Friedrich Wilhelm 1.
im Anfang des Jahres 1729 eben darum verwarf, um sich nicht politisch
fesseln zu lassen. Von der eigentlichen Lage der Dinge weils die Prinzes-
sin nichts; die Erinnerunz an einzelne Vorfälle, die ihr zurückgeblieben
ist, combinirt sie auf eine ihr selbst vortheilhafte Art; immer mufs es aus-
sehen, als sei auf allen Seiten Nichts als Intrigue und Unbesonnenheit gewe-
sen und sie allein das unscauldige und grofsmüthige Opfer.
Es ist sonderbar, dals ihr keine Erinnerung von dem Einflusse geblie-
ben ist, den die Werbeir:zungen mit Hannover, in deren Folge die Un-
terhandlung eine Zeit lang unterbrochen wurde, auf ihre Angelegenheit
hatten; sie setzt dieselben ir das Jahr 1726: sie fielen aber erst 1729 vor,
und ihre Nachwirkung erfüllte noch die ersten Monate von 1730.
542 RıAank&Kke:
Über dieses Jahr, das für sie entscheidend wurde, spricht sie sehr aus-
führlich, doch ist ihre Kenntnifs Dessen, was wirklich vorgefallen, mangel-
haft und ihre Erinnerung verworren.
‚ Die Prinzessin schreibt die Sendung von Sir Charles Hotham nach
Berlin einer geheimen Mission ihres Englischen Sprachlehrers zu, die sie so
spät setzt, dafs sie die Ankunft Hotham’s nicht vor dem Mai annehmen
konnte; sie läfst dieselbe am 2. Mai erfolgen. In der That aber langte Ho-
tham schon einen Monat früher an; er hatte seine erste Audienz, wobei er
gleich mit seinen Anträgen hervortrat, bereits am 4. April. Jene ganze Mo-
üvirung zerfällt in Nichts.
Die Prinzessin behauptet, ihr Vater habe nach der Audienz bei Tafel
die Gesundheit seines Schwiegersohnes, des Prinzen von Wales, ausgebracht.
Wie läfst sich das von ihm denken, da er dem Gesandten befahl, kein Wort
zu sagen, bis er selbst nach Berlin komme; er hatte sich vielmehr ausgedacht,
wie er seine Tochter, wenn die Sache so weit sei, mit der Nachricht über-
raschen wollte. Es mag sein, dafs Etwas von dem Antrage verlauiete, dafs
man der Prinzessin mancherlei Schmeichelhaftes über ihre Zukunft sagte, aber
wie falsch ist es, wenn bei ihr Hotham den Köniz bittet, Stillschweigen zu
beobachten, da die Urkunden ergeben, dafs vielmehr der König den Gesand-
ten ersuchte, „stille zu sein.”
Manche Briefe, die sie mittheilt, stimmen so schlecht zu der wirkli-
chen Lage der Sache, dafs man an ihrer Ächtheit zu zweifeln anfängt z. B.
an dem Schreiben welches sie im Namen ihres Bruders an die Königin von
England richtete, und das Dieser ohne Widerrede unterzeichnet haben soll:
ihre Mutter kannte die Lage der Dinge zu gut, ım einen solchen Brief zu
billigen. Wahrscheinlich hatte sich ein Entwurf, den sie in ihrem Sinne
gemacht hat, in ihren Papieren erhalten, dem sie nach der Hand eine grö-
fsere Bedeutung beilegte, als ihm ursprünglich zukam.
Der Prinzessin zufolge machte der König von Preufsen den Antrag,
dafs sein Kronprinz bei der Vermählung Statthaiter von Hannover würde,
und im Feuer der ersten Berathung ist dem König wirklich dieser Gedanke
durch den Kopf gegangen; bei nochmaliger Erwigung hat er ihn jedoch ver-
worfen; die Actenstücke zeigen, dafs der förmliche Antrag von England
kam, der König von Preufsen ihn entschieden ron sich wies.
Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 843
Die Hauptbedingung wäre nach der Prinzessin gewesen, dafs der Kö-
nig Grumbkow, der mit Reichenbach Intriguen schmiede, entfernen sollte.
Die Wahrheit ist, dafs Hotham sich über Reichenbach beschwerte, dessen
Briefe beleidigende Unwahrheiten enthielten; der König willigte ein, ihn
zurückzuberufen; Grumbkows ist damals nicht erwähnt worden. Ich will
nicht in Abrede stellen, dafs die Absicht gleich anfangs auch gegen Grumb-
kow gerichtet war, aber sie trat noch nicht hervor; wie die Markgräfin die
Dinge vorstellt, haben sie sich nicht ereignet. Ihre Erzählung ist der späte
Wiederhall einer gleich von Anfang unrichtigen Auffassung.
Sie versichert, man habe für die Englische Prinzessin 100,000 Pfund
Mitgift versprochen und für die Preufsische keine Aussteuer haben wollen.
Da kannte sie den Englischen Hof schlecht; von der Aussteuer der Preufsi-
schen Prinzessin ist mehr die Rede, als von der der Englischen.
Sie scheint durch das Gefühl beherrscht zu sein, dafs das Glück,
einmal den Englischen Thron zu besteigen, ihr nahe stand; dafs es ihr
nicht zu Theil geworden ist, giebt sie denen Schuld, die mit dieser Sache
in Berührung gekommen sird, und hat sich dadurch gerächt, dafs sie ihnen
schlechten Ruf bei der Nachwelt gemacht hat.
Dafs diefs ihre Absicht gewesen sei, will ich nicht sagen: so ernsthaft
von der moralischen Seite darf man das Buch vielleicht gar nicht nehmen.
Die Markgräfin vor Baireuth ist eine von den Persönlichkeiten, in
denen sich die Sinnesweise des achtzehnten Jahrhunderts von der Denkart und
den Gewohnheiten der früheren Zeit losrifs. In wem aber wären diese so ab-
stofsend und gewaltsam erschienen, als in ihrem Vater und seiner Umgebung,
jenem Grumbkow, Anhalt, Seckendorf? Die Tochter war in allem ihren
Dichten und Trachten dem Vater entgegengesetzt und in diesem Widerspruch
hat sie ihr Buch geschrieben. Dafs auch in ihrer Sache Rücksichten des
Staates und der Politik eintreten konnten, davon hatte sie keine Ahnung;
nur auf den engen Umkreis persönlicher Angelegenheiten concentrirte sich
ihr Augenmerk. Ohne Zweifel war der Hof voll von Intrigue: auch sie
war deren oft beschuldig: worden: in einem ihrer Briefe sagt sie, man halte
sie für intriguant; aber sie irrte, wenn sie alles der Intrigue zuschrieb.
Indem sie aber Andere anklagt und sich vertheidigt, ergötzt sie sich zu-
gleich. Das von Anfang an nicht recht Gesehene, im Gedächtnifs Verwischte
trat ihr, als sie es sich w.eder vergegenwärtigte, in einer ihrem Widerwillen
544 Ranke: Zur Kritik Preufsischer Memoiren.
entsprechenden Gestalt vor den Geist. Gar oft mag sie in ihrem Kreise
die Scenen wiederholt und in ihre Auffassung sich noch mehr hineingeredet
haben; endlich schrieb sie dieselben nieder. So Viele giebt es, denen eben
schriftliche Afterrede das gröfste Vergnügen gewährt. Unmöglich könn-
ten ihre Erzählungen, denen eigene Erinnerung zu Grunde liegt, durch und
durch falsch sein; aber das Wahre ist allenthalben mit Falschem versetzt.
Man möchte bei Überlieferungen dieser Art den euripideischen Wunsch
wiederholen, dafs es zweierlei Ausdrucksweisen der Menschen geben sollte,
die eine für die Wahrheit, die andere für das Gegentheil. In diesem Bu-
che erkennt man allerdings den damaligen Preufsischen Hof und seine Mit-
glieder wieder: aber sie erscheinen nicht wie sie wirklich waren, im natürli-
chen Licht des Tages; sondern unter dem einseitigen Gesichtspunkte einer
geistreichen Prinzessin, die ihrer Verstimmung und ihrem carikirenden Ta-
lente freien Lauf läfst. Das Wahrste daran ist der Gegensatz der Persön-
lichkeiten selbst, in denen sich der Geist verschiedener Menschenalter dar-
stellt, und die hier in Einer Familie schroff aneinander treffen.
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Einige berichtigungen zu der abhandlung über
. 220
das verbrennen der leichen
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von herrn JACOB GRIMM.
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z. 14 zu lesen allvater für altvater.
.20 AA Ta uw.
Athenaeus IV p. 159 berichtet aus Chrysippus von einem geizhals,
der sich geld in den xıruv genäht hatte, za: &vduvra aurov ämısaglaı reis
oixeioıs Saar ourws, u TE nauravras, m TE Segareuravras. er wollte
weder verbrannt noch ausgekleidet sein, damit man des geldes nicht
gewahre.
. auch Macrobius Saturn. 2, 16: arbores quae inferum deorum aver-
tentiumque in tutela sunt, eas infelices nominant, alternum sanguinem,
filicem, ficum atrum — rubum sentesque, quibus portenta prodigia-
que mala comburi jubere oportet. vgl. Bergk monatsnamen p.49.50.
. was Lucrez 6,1275 ff sagt von mos sepulturae, humari, rogorum
exstructa ist alles aus Thucydides 2,52 entnommen und für den rö-
mischen brauch unerheblich.
nach inschriften: 0. Caesar Germanici Oaesaris filius hie crematus est.
Tiberius Caesar Germanici Caesaris filius hie crematus est.
es wird unterschieden humandi sepeliendi jus potestas, humatus se-
pultusve, vgl. sepelire urereve. Auch funus scheint wie fumus der
wurzel fu = dhu = hu zugehörig, also todtenverbrennung. Pott 1,211.
. Diodor sagt 5, 28, dafs die Gallier in die flamme des scheiterhaufens
geschriebne briefe an die verstorbnen zu werfen pflegten. auch mel-
det er, was zu Caesar 6,17 stimmt, dafs die missethäter in Gallien
alle fünf jahre auf solchen grofsen scheiterhaufen verbrannt wurden.
Strabo 4,198 nennt diesen scheiterhaufen »oAcrrev Xogrou nal Evruv.
z. 22. von den bigen. Lanz. 1540. gein den bigen. Lanz. 2337.
Philos.- histor. Kl. 1349. Zzz
546
Jacos Grimm: einige berichtigungen
s. 226 z. 8. entscheidend aber ist im salischen gesetz tit. 105 die überschrift
[777
.
no»
. 229
creodiba = chr£othiba (vorr. p. XLVI) leichenbrand.
bei den Sachsen, wie aus einer in Albrechts von Halberstadt gedicht
vorzunehmenden verbesserung des textes erhellt, hiefs im mittelalter
der scheiterhaufe räte, mhd. räze, was dem altfranz. re entspricht
und aus dem lat. crates abzuleiten ist. denn crates galt vom rogus
wie vom favus.
auf vorletzter zeile 1. folksagor och äfventyr.
z. 21 1. lamentatione absoluta.
.skr. auch äkäja rogus. smasäna locus in quo corpora mortua combu-
runtur vel sepeliuntur. Bopp 27° 354°.
in bezug auf die Hebraeer könnten zweifel obwalten, J.D. Michaelis
hat sogar de combustione et humatione mortuorum apud Hebraeos
(syntagma comment. 1,225) geschrieben. Es steht fest, dafs vor
Sauls zeiten kein todter verbrannt wurde, ja ein solcher brand für
die höchste strafe galt. hätte sich das seit dem beginn der königli-
chen herschaft in Israel geändert? nach 1 Sam. 31,12. 13 nahmen
die Jabesiten Sauls und seiner söhne verstümmelte leichen von der
mauer zu Bethsan, wohin die Philister sie gehängt hatten, und ver-
brannten sie zu Jabes. wahrscheinlich aber blofs um sie den feindli-
chen Philistern dadurch schnell zu entziehen. II chron. 16, 14 wird
bei des Assa begräbnis eines grolsen brandes gedacht und aus Il
chron. 21,19 erhellt, dafs es gewohnheit war verstorbnen königen
einen brand zu machen, worauf sich auch Jerem. 34,5 bezieht; allein
damit ist blofs anzünden von wolgerüchen gemeint, Josephus bell.
jud. 1.33,9 nennt bei des Herodes leichenbegängnis ausdrücklich
die dgwuarepogeı. gewöhnlich wird von allen königen des südlichen
und nördlichen reichs ausdrücklich angeführt, dafs und wo sie be-
graben, niemals dafs sie verbrannt wurden. Wenn die LXX in jener
stelle Jerem. 34,5 &#Aaurav schreiben, könnte man ein ursprüngli-
ches &xaurav mutmafsen, doch lesen schon cod. alex. und vatic. exAav-
rav, welches freie deutung des hebr. textes, nicht entstellung scheint.
Endlich ist Amos 6,10 zwar von einem verbrennen des todten die
rede, aber wol in pestzeit, wo man gezwungen war von der landes-
sitte abzuweichen. Man scheint also von den nachbarn her den lei-
zu der abhandlung über das verbrennen der leichen. 547
chenbrand gekannt und in besondern fällen ausnahmsweise geübt zu
haben. Nach dem exil kommt von einem verbrennen der leichen
bei den Juden gar nichts vor. Tacitus hist. 5,5 sagt von den Juden:
corpora condere, quam cremare, e more aegyptio, sie begruben, wie
die Aegypter, verbrannten nicht. Ich verdanke diese aufschlüsse
grofsentheils meinem freunde Bertheau in Göttingen.
s. 274 z. 11 1. zerbrennen f. verbrennen.
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