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Full text of "Abraham Lincoln, der grosse Staatsmann und edle Menschenfreund : eine biographische Skizze"

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Digitized by the Internet Archive 
in 2010 with funding from 
State of Indiana through the Indiana State Library 


http://www.archive.org/details/abrahamlincolnde00grub 


Germania 


Yugend Biblistheh. 


Alrıfım E N incoh, 


der große Staatsmann und edle 
Menſchenfreund. 


Eine biographilche Skizze 


von 


A. W. Grube. 
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Wlilwankee. 
Verlag von Geo. Brumder. 
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6 ie Vereinigten Staaten von Nordamerika ſind 
2 jetzt ein Reich, das vom atlantiſchen bis zum 
ſtillen Ozean ſich erſtreckend und die ganze Mitte 
des nordamerikaniſchen Kontinents einnehmend, zu den 
größten und bedeutendſten Staatsweſen des Erdeurunds 
zählt, deſſen Länderumfang den von England, Frankreich, 
Deutſchland und Oeſterreich zuſammengenommen noch 
vier Mal übertrifft, deſſen Einwohnerzahl (gegenwärtig 
über 50 Millionen ſtark) mit ſtaunenswerther Raſchheit 
zunimmt und deſſen Kraft ſelbſt während des letzten 
Bürgerkrieges, wo der Norden mit dem Süden blutig 
rang und die Exiſtenz der Union auf dem Spiele ſtand, 
noch ſo groß war, daß weder England noch Frankreich es 
wagten, den Südſtaaten offenen Beiſtand zu leiſten, ob— 
wohl ihnen deren Losreißung und die Sprengung der 
Vnion höchſt erwünſcht geweſen wäre. 
N Zwei Männer, die zu den edelſten und beſten ge— 
hören, welche die Geſchichte zu nennen hat, ſtrahlen in 


— 6 — . 


unvergänglichem Glanze als Gründer, Erretter und Er— 
halter dieſes großmächtigen Freiſtaats: George 
Waſhington und Abraham Lincoln. Wenn 
es erlaubt iſt, von einzelnen großen Männern zu ſagen, 
daß in ihnen die Tugend ihres Volkes ſich vereinige, ſo 
darf man auch wohl von Waſhington ſagen, er habe die 
Republik der Vereinigten Staaten gegründet, und von 
Lincoln, er habe ſie gerettet. 

So verſchiedenartig beide große Männer in ihrer 
äußeren Erſcheinung nicht blos, ſondern auch in ihrer 
Begabung waren, ſo gleichartig waren ſie doch nicht nur 
in ihrer politiſchen Geſinnung, ſondern im ganzen Kern 
ihres Weſens, in dem, was den Menſchen groß und be— 
deutend macht. 

Waſhington war ohne Zweifel die reicher ausge— 
ſtattete Natur; er war ebenſo groß als Kriegs-, wie als 
Staatsmann, ein tapferer Soldat, ein ausgezeichneter 
Heerführer, unerſchöpflich in Hilfsmitteln und wohl durch— 
dachten Bewegungen, um ſich in einem langen Verthei— 
digungskriege mit unzulänglichen Kräften einem ſtärkeren 
Feinde gegenüber zu behaupten. Von feurigem Tempe⸗ 
rament, war er ſchnell im Handeln, im Ergreifen des 
günſtigen Augenblicks, und doch wieder kühl und beſonnen 
im Ueberlegen, maßvoll und ruhig im Befehlen und 
Lenken. So mangelhaft auch die Schulbildung noch zu 
jener Zeit in Amerika war und auch zu Lincolns Zeit 
noch blieb, ſo ſtanden dem jungen Waſhington doch 
reichere Bildungsmittel zu Gebot als dem Knaben 


ER 


Lincoln, und feine Familienverhältniſſe wirkten günſtiger 
auf ſeine geiſtige Entwicklung. Lincoln hingegen, der 
arme Hinterwäldler, der, ſobald er Arme und Beine ge— 
brauchen konnte, in den Wald hinauswandern und mit 
dem Vater um die Wette die Axt des Holzfällers 
ſchwingen mußte, der arme Lincoln mußte es für ein 
hohes Glück erachten, als es ihm gelungen war, Leſen 
und Schreiben zu erlernen und ſich ein paar Bücher zu 
verſchaffen, und er hatte es bis zu ſeinem neunzehnten 
Lebensjahr nur erſt zum Flößerknecht (Flachbootsmann) 
gebracht. Waſhington mußte auch im Schweiße ſeines 
Augeſichts arbeiten und hat als Feldmeſſer ſich ſein Brod 
treu und redlich verdient, aber Lincoln durfte ſich mit 
noch größerem Recht einen self made man nennen, der 
Alles aus ſich ſelber machen mußte und mit ſeltener Vir— 
tuoſität gemacht hat. Wie ſo mancher von Geldmitteln 
entblößte Einwanderer, der nach Amerika nichts 
mitbringt als arbeitsluſtige Hände und einen geſunden 
Verſtand, der es ſich nicht verdrießen laſſen darf, Kutſcher 
und Gärtner, Handelsmann und Lehrer zu werden, wie 
es ſich eben ſchicken will, ſo hat auch Lincoln, der geborne 
Amerikaner, eine ganze Reihe von Berufsarten und 
Lebensſtellungen durchgemacht, bis er an's Ziel gelangte, 
vom Holzfäller und Flachbootsführer zum Krämer, Feld— 
meſſer und Hauptmann der Freiwilligen — in welcher 
Stellung er ſattſam erkannte, daß er gar kein militä— 
riſches Talent beſaß — weiter zum Poſtmeiſter und 
endlich zum Advokaten. Mit ſeiner Stellung als 


— 


„Rechtsanwalt“ hatte er feinen wahren Beruf erreicht, 
da reifte ſchnell ſein redneriſches und ſtaatsmänniſches 
Talent, da hatte er Gelegenheit in aller Fülle, jenen 
Adel der Geſinnung zu offenbaren, den er mit dem 
großen Waſhington theilte, jene reine und hohe Be— 
geiſterung für Recht und Gerechtigkeit, die rein menſch— 
liche Theilnahme für die Unterdrückten und Schwachen, 
aber auch den ſittlichen Muth und die unbeugſame Feſtig— 
keit den ungerechten Machthabern gegenüber, endlich die 
vollkommenſte Uneigennützigkeit, Unbeſtechlichkeit und 
Rechtlichkeit, die auch keinen Strohhalm breit vom Wege 
der Pflicht und Ehre abwich. Längſt, bevor er zur 
höchſten Würde emporſtieg, welche ein Bürger der Ver— 
einigten Staaten erreichen kann, ward ihm der ſchönſte 
und ehrenvollſte Beiname zu Theil, in welchem das Volk 
kurz und gut den Werth und das Weſen des verehrten 
Mannes zuſammenfaßte; man nannte ihn den „ehrlichen 
Abe.“ “) Viermal ward er in die geſetzgebende Verſamm— 
lung von Illinois gewählt, dann in das Abgeordneten— 
haus zum Kongreß, ſchließlich zum Präſidenten der 
Union. Als er im Drange der Nothwendigkeit gleich 
Waſhington mit unbeſchränkter Macht bekleidet ward, da 
bewährte er ſich auch wie Waſhington als der gewiſſen— 
hafteſte Staatsbürger gegenüber dem Geſetz, da blieb er 
der „ehrliche Abe.“ In dieſer Fflichttreue, Redlichkeit 


*) Honest Abe. „Abe“ iſt die zärtliche Verkleinerungs⸗ 
form des Vornamens „Abraham.“ 


— 


und unbedingten Hingabe an das Staatsganze ſtehen 
beide Helden Schulter an Schulter. Sie ſtanden beide 
in den hochgehenden Wogen des Kampfes wie uner— 
ſchütterliche Felſen; auf beiden ruhte der Segen der 
Elaubenstreue und Sittenſtrenge ihrer proteſtantiſchen 
Vorfahren, die ihr geſundes, praktiſches Chriſtenthum 
in die neue Welt hinübergerettet hatten und deren Frei— 
heitsſinn in der Gottesfurcht wurzelte. 
Beide kämpften für die von ihnen als richtig erfann- 
ten Grundſätze der Freiheit. Und weil ſie ſich nichts da— 
von wollten abmarkten und abwendig machen laſſen, ſo 
wurden ſie beide gezwungen, als rechte Männer fir das, 
was ſite als richtig erkannt hatten, einzu reten, ja zum 
äußerſten Kampf gedrängt. So wenig es anfangs 
Lincoln in den Sinn gekommen war, die Sclaverei mit 
Stumpf und Stiel auszurotten, wie er in ſeiner Milde 
und Verſöhnlichkeit immer darauf bedacht war, mit den 
Südſtaaten ein billiges Abkommen zu treffen und dem, 
was ſie nun einmal im Beſitz hatten, Rechnung zu 
tragen; wie er aber, als die Sklavenſtaaten mit unver- 
ſöhnlichem Haß gegen den Norden darauf ausgingen, ſich 
loszureißen und die ſo ſchwer errungene Einheit der 
großen Republik zu zertrümmern, nun auch das äußerſte 
aufbot — und das war die Befreiung der farbigen Race 
aus der Sklaverei — um die Republik zu retten: ſo ging 
auch Waſhington Schritt vor Schritt gegen das tyranniſch 
gewordene Mutterland vor, das ſeine amerikaniſchen Kolo— 
nien beſteuern wollte, ohne ihnen das Recht einzuräumen, 


— 10 — 


über ihre Beſteuerung durch Abgeordnete aus dem eigenen 
Volke mitzureden und abzuſtimmen. Noch im Jahre 1774, 
kaum ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung, ſchrieb 
Waſhington an den Hauptmann Mackenzie: „Man macht 
Sie glauben, das Volk von Maſſachuſſets ſei ein Volk von 
Rebellen, die ſich für die Unabhängigkeit erhoben haben, 
und was weiß ich? Erlauben Sie mir, lieber Freund, 
Ihnen zu ſagen, daß Sie im Irrthum, im groben Irr⸗ 
thum ſind. Ich kann Ihnen als Thatſache bezeugen, die 
Unabhängigkeit iſt weder der Wunſch noch das Intereſſe 
dieſer Kolonie oder einer andern auf dem Kontinent, 
weder im Einzelnen noch im Ganzen. Aber zugleich 
können Sie darauf rechnen, daß keine von ihnen ſich je 
die Vernichtung ihrer Privilegien, jener koſtbaren Rechte, 
gefallen laſſen wird, die für das Glück jedes freien 
Staates weſentlich ſind und ohne welche Freiheit, Eigen— 
thum und Leben jeder Sicherheit entbehren.“ Und 
Lincoln, als er vor dem verſammelten Volle beim feier— 
lichen Antritt ſeines Präſidentenamtes auf dem Kapitol 
zu Waſhington (5. März 1861) ſeine Rede hielt, ſprach 
ſich alſo aus: „Das Volk des Südens ſcheint zu befürch— 
ten, daß ſein Eigenthum, ſein Friede und ſeine perſönliche 
Sicherheit gefährdet werden. Für dieſe Furcht giebt es 
keinen vernünftigen Grund. In Allem habe ich geſagt 
und wiederhole es jetzt, daß ich nicht die geringſte Abſicht 
habe, weder direkt noch indirekt, der Sklaverei, wo ſie 
einmal zur Zeit beſteht, entgegenzutreten.“ Er durfte 
mit gutem Gewiſſen ſo reden. 


BER 


Lincoln war nicht jo glücklich wie Waſhington, der 
nach dem thatenreichſten Leben fein Daſein harmoniſch 
vollendete und von der ganzen Nation verehrt, im Hin— 
blick auf die ſegensreichen Früchte ſeines Wirkens ſterben 
konnte. Lincoln aber war glücklicher, denn ihm ward 
vergönnt für die Sache der Freiheit, der Einheit und 
Größe ſeines Vaterlandes, den Märtyrertod zu leiden. 
Ward er auch in einem Moment hinweggenommen, wo 
er dem Staate noch ſehr nothwendig war, ſo hatte er den 
Triumph des Nordens, der für die Einheit der Union 
kämpfte, erlebt, jo war doch der ſchreckliche Bürgerkrieg glück— 
lich geendet und manche trübe und verwirrende Scene 
welche die Befreiung der Neger im Gefolge hatte, wurde 
ſeinen Augen entzogen. 

Auch darin möchten wir ein höchſt glückliches und 
beneidenswerthes Loos erkennen, daß, was den eigent— 
lichen Nerv des amerikaniſchen Volkes bildet, nämlich 
die Arbeit, von Lincoln in allen Stufen, von der 
unterſten bis zur oberſten, durchgemacht wurde; daß die 
Arbeit, wie ſie dem Manne Selbſtändigkeit und Freiheit 
giebt, das Familienleben ſchützt, den Keim für politiſche 
Unabhängigkeit rege erhält, in Abraham Lincoln ſich 
im reinſten Adel darſtellte. Die Vereinigten Staaten, 
die alle Racen und Bildungsgrade der verſchiedenſten 
Menſch! neigenthümlichkeiten in ſich aufnehmen, die ſo 
viel Unreines und Böſes auch mit in den Kauf neh- 
men müſſen, ſind einem gewaltigen Schmelztiegel zu 
vergleichen, in welchem mancherlei Metalle und 


Miſchungen zuſammengeſchmolzen werden, darin es 
ſchäumt und in Blaſen aufſteigt, und in dem trüben 
Schaum nichts Gutes ſich bilden zu können ſcheint. Aber 
weſſen Blick von der Oberfläche in die Tiefe dringt, 
der weiß auch, daß ſich da ein großer Läuterungsprozeß 


vollzieht und ein geſunder, reiner Kern im Innern vor⸗ 


handen iſt. Dieſe Reinigung und Läuterung vollzieht 
ſich aber durch die Arbeit, welche in keinem 
Lande der Erde ſo wie in den Vereinigten Staaten für 
den Mann zur Nothwendigkeit wird und nirgend 
anders ſo wie in den Vereinigten Staaten ſein Adels— 
brief iſt. Bei allem Schwindel und Humbug, bei allem 
Rennen und Jagen nach Geld und Erwerb, zwingt 
doch ſchließlich das Geſetz der Arbeit die Geſetzesverächter 
zur Ordnung und führt das lockere Geſindel hin zur 
Stetigkeit und Würde einer bürgerlichen Exiſtenz. 
Dieſer Adel nun des arbeitenden nordamerikaniſchen 
Volkes, das in der Arbeit auch ſeine ſittliche Erhebung 
findet, iſt in Abraham Lincoln verkörpert in all ſeiner 
Glorie erſchienen. Mit allen Kräften zu ſtreben und 
zu ringen nach Verbeſſerung der eigenen Lage, raſtlos 
zu ſtreben nach Fortbildung und Veredlung, damit der 
Einzelne ein würdiges Glied des ſtaatlichen Gemeinwe— 
ſens ſei, das war Lincolns Leben und Streben von 
einer Jugen an, und als Staatsmann und Volksredner 
kam er immer wieder darauf zurück, wenn er auch dieſen 
Grundgedanken nicht immer ſo ſcharf ausſprach, wie es 
z. B. in einer Rede vom Februar und in einem Briefe 


Be 


vom Mai 1859*) geſchah, wo er ihn treffend fo zu⸗ 
ſammenfaßte: N 


„Nach meiner Anſchauung, ſo, wie ich den Geiſt 
unſerer ſtaatlichen Einrichtungen verſtehe, können die— 
ſelben nur den Zweck haben, die Erhebung des 
Menſchen zu fördern; und in dieſem Sinne bin ich 
gegen alles feindlich geſinnt, was auf Erniedrigung unſe— 
res Geſchlechtes abzielen könnte. Hätte der Allmächtige 
eine Sorte Menſchen, die nur eſſen und nicht arbeiten 
ſollen, erzeugen wollen, ſo würde er ihnen ſicherlich keine 
Hände, ſondern nur einen Mund gegeben haben.“ Weil 
für ihn nur die Arbeit Werth hatte, welche zu 
einer unabhängigen Stellung im ſtaatlichen und gefell- 
ſchaftlichen Leben führt, jo mußte ihm auch alle Sklaven— 
arbeit als etwas Unſittliches und Ungerechtes, als ein 
an der Menſchennatur begangenes Unrecht erſcheinen, 
und über dieſe ſeine Anſicht ſprach er ſich ſchon als Abge— 
ordneter frei genug aus. „Zwar bin ich“, ſagte er unter 
Anderem „mit den Fürſprechern der Sklaverei darin ein— 
verſtanden, daß es manche Punkte giebt, in denen die 
Neger uns Weißen nicht gleich ſtehen, jedenfalls nicht in 
Betreff der Hautfarbe und vielleicht auch nicht in Rück⸗ 
ſicht einzelner Geiſtesgaben des Herzens und Verſtandes. 
Aber in dem natürlichen Rechte, ſein Brod, das er mit 

eigenen Händen verdient, ohne die Erlaubniß Anderer zu 


) Vergleiche den Schluß unſerer Selzze. 


N 


eſſen, ſteht uns der Neger gewiß gleich und nicht minder 
unſeren Gegnern, wie jedem Menſchen in der Welt.“ 5 

Der erſte amerikaniſche Lincoln war aller Wahr— 
ſcheinlichkeit nach ein Gefährte des muthigen William 
Pe. , der zur Sekte der Quäker gehörte, geweſen. Arm 
zwar und ohne einflußreiche Familienverbindungen be— 
wahrten die Lincolns ſich in gleichem Maße den chriſtlichen 
wie den Freiheitsſinn; in ihrer mühevollen Exiſtenz als 
Farmer, die, was ſie verzehren wollten, ſich ſelber bauen 
mußten, wählten ſie ſelbſtändig den Schauplatz wie die 
Art ihrer Thätigkeit und fühlten ſich in ihrer Arbeits— 
tüchtigkeit als freie Söhne eines freien Landes. Einer 
der Urgroßväter war von Penſylvanien nach Virginien 
ausgewandert; Abraham, der Großvater Lincolns, wan⸗ 
derte im Jahre 1780 nach dem damals noch ſehr öden 
Kentucky, hatte jedoch kaum ſeine Hütte gebaut und das 
nöthige Feld urbar gemacht, als er (1784) von Indianern 
überfallen und getödtet wurde. Nun zerſtreute ſich die 
Familie abermals, Thomas, der jüngſte Sohn, blieb mit 
der Mutter allein zurück, mußte von früher Kindheit an 
herumwandern, um ſein Brod zu verdienen und kam auch 
zu ſeinem Oheim Iſaak, auf deſſen Farm er ein Jahr 
lang arbeitete. Im 28. Lebensjahre kehrte er nach 
Kentucky zurück und verheirathete ſich (1806) mit der 
gleichfalls in Virginien geborenen Nancy Hanks und ließ 
ſich mit ſeinem jungen Weibe im damaligen Hardin 
County (jetzt Larne County genannt) nieder. Dort ward 
ihnen am 12. Februar 1809 ein Sohn geboren, der zu 


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Ehren des Großvaters Abraham genannt wurde. Er 
war das zweitgeborene Kind, die (einzige) Schweſter 
war zwei Jahr älter und nach ihm kam noch ein Bruder, 
der aber in zarter Kindheit ſtarb. 

Beide Eltern Abe's gehörten zur Secte der Bap— 
tiſten und beſonders Frau Nancy war eine Chriſtin, die 
viel in der Bibel las und ſie dem heranwachſenden Abe 
auch gut zu erklären und an's Herz zu legen verſtand. 
Auch ein klares, geſundes Urtheil wird der Mutter nach— 
gerühmt. Der Vater war einfach und ſchlicht, ein fleißiger 
Arbeiter, unabhängig in ſeinem Sinn, doch ohne alle 
Schulbildung. Er konnte nur nothdürftig leſen; zum 
Erlernen der Schreibkunſt hatte er weder Zeit noch Ge— 
legenheit gefunden. Beſtändiger Kampf mit der Wildniß 
des Urwaldes, Tag für Tag mühevolle Arbeit zur 
Erringung der Mittel für des Lebens Unterhalt, das war 
des Vaters Thomas Lebensaufgabe von ſeiner Geburt 
bis zum Grabe. 

Abe hatte ſomit ſchon in den Kinderſchuhen Gelegen— 
heit, den Kampf um's Daſein nicht nur zu beobachten, 
ſondern ſelber mitzumachen. In den erſten Jahren konnte 
er dem Vater freilich nicht viel helfen, aber es erwachte 
in ihm die Luſt, bald ſelber die Axt in die Hand nehmen zu 
können und daneben auch das Leſen zu erlernen. Der 
höchſte Wunſch des munteren kleinen Jungen war, der 
frommen Mutter es gleichthun zu können, welche ſo ſchön 
aus der heiligen Schrift vorlas und des Sonntags die 
Kapitel ſo verſtändig erklärte. „Wann werde ich einmal 


— 16 — 


ſo gelehrt ſein?“ fragte er ſich oft mit kindlicher Sehn⸗ 
ſucht. Einſtweilen ward ihm vergönnt, die nicht allzu— 
weit entfernte Schule des Nachbars Kaleb Hazel beſuchen 
zu dürfen, in der er's bis zum Buchſtabiren brachte. 
Kaum hatte Abe fein ſiebentes Jahr überſchritten, 
als der in der Seele des Vaters Thomas lang genährte 
Entſchluß zur Ausführung kam, nach dem ſüdlichen 
Indiana auszuwandern. In Kentucky war das Sklaven— 
weſen eingedrungen und das drückte auf die freien weißen 
Arbeiter, die nicht ſo geachtet waren, wie in den nördlichen 
Staaten. Außerdem herrſchte eine große Verwirrung in den 
Land⸗ oder Beſitztiteln, ſo daß es dem wackeren Thomas 
auf der von ihm bebauten Erde keine Ruhe ließ und er 
ſich entſchloß, weiter im Nordweſten jenſeits des Ohio 
eine neue Wohnftätte zu ſuchen. Ein Blockhaus und ein 
paar Maisfelder laſſen ſich leichter verlaſſen als ein Land» 
gut in Europa, das von Vätern auf Kind und Kindes— 
kinder vererbt mit dem Menſchengeſchlecht ſozuſagen 
verwachſen iſt; er verkaufte ſeine kleine Beſitzung für 10 
Fäſſer Branntwein und 20 Dollars in Silber. Deß— 
gleichen wurde alles Geräth, deſſen Transport zu unbe— 
quem war, veräußert, und dann ward von den meilenweit 
zerſtreuten Nachbarn Abſchied genommen. 5 
Es war ein ſchöner Herbſttag, das reiche Laub des 
Urwaldes glänzte in tauſend Farben, die Nebel zerſtreuten 
ſich vor den Strahlen der Sonne, die am blauen Himmel 
in prächtigem Glanz heraufſtieg. Vor dem ſtillen Block— 
hauſe hielt ein geräumiger, doch ziemlich plumper, vier⸗ 


TEE 


rädriger Wagen, vorn offen, aber mit einem gewölbten 
Zeltdache verſehen. Bettzeug, Küchengeräth, Lebensmittel 
und was ſonſt das allernöthigſte war, das hatte der 
Innenraum aufgenommen. Voll Gottvertrauens, doch 
innerlich gebeugt, da ein Bruſtleiden die Frau Nancy 
ſchon ſehr geſchwächt hatte und ihr kein langes Leben ver— 
ſprach, ſtieg die Mutter mit der Tochter ein; die Männer, 
nachdem ſie die Ochſen vorgeſpannt und hinten am 
Wagen die milchgebende Kuh befeſtigt hatten, gingen 
neben her, Abe voll Freude und Zuverſicht, geſpannt 
auf das Neue, das er zu ſehen und zu erleben im Be— 
griffe ſtand. 

Oft genug mußte Vater Thomas mit der Axt voran- 
gehen, um das Geſtrüpp zu ſäubern, oder junge Bäume, 
die im Wege ſtanden, abzuhauen. Dem Knaben lag es 
ob, mit der Peitſche das Ochſengeſpann fleißig anzutreiben. 
Die Reiſe war beſchwerlich genug und ging langſam von 
Statten; doch die amerikaniſche Zähigkeit und Anſtellig— 

keit half alle Hinderniſſe beſiegen und glücklich ward der 
Ohioſtrom erreicht, der breit und voll ſeine glitzernden 
Wogen dahinrollt. Der Knabe klatſchte vor Entzücken in 
die Hände, als er den herrlichen Strom erblickte, Vater 
Thomas aber fand keine Zeit, ſich des Naturbildes zu 
freuen, ſondern richtete ſeinen Blick alsbald auf das jenſei— 
tige Fährhaus und rief aus voller Bruſt hinüber. Nicht 
lange darauf bewegten ſich einige Männer drüben an den 
Gebäuden und eine Fähre ſtieß vom jenſeitigen Ufer ab. 
Die ſtutzigen, u a wollten nicht auf das 
Igd. Bibl. 3. 2 


— 8 ae 


ſchwankende Fahrzeug, und es war ein Stück Arbeit, das 
Geſpann mit dem Wagen an Bord zu bringen. Endlich 
konnte ſich die Fähre wieder in Bewegung ſetzen, Mutter 
und Tochter ſaßen wieder unter dem Leinwanddache, 
während Vater Tom vor den Ochſen ſtand, ſie dann und 
wann durch Streicheln beruhigend, zugleich aber auch mit 
den Fährmännern eine Unterhaltung beginnend, um von 
ihnen Näheres über Spencer Connty, das fortan die 
Heimath der Familie werden ſollte, zu erfahren. 

In Thompſons Ferry, ſo hieß die einſam am Ufer 
des Ohio gelegene Beſitzung des Fährmanns, ward Nacht— 
quartier beſtellt, und da mit der Wirthſchaft auch ein 
Kramladen verbunden war, ſo konnte Vater Lincoln aller— 
lei Einkäufe für ſeine Hauswirthſchaft machen. Sein Abe 
war entzückt über das mancherlei Neue, das er in dem 
Laden erblickte, beſonders zog eine Wage mit ihren Ge— 
wichten die Wißbegierde des Knaben an, der zum erſtenmal 
ein ſolches Inſtrument erblickte, das in den einfachen 
Haushalt der väterlichen Blockhütte noch nicht den Weg 
gefunden hatte. 
| Das Ziel der Reiſe wurde glücklich erreicht und aber— 
mals ſahen ſich die guten Leute in der Einſamkeit des 
Waldes, der ſchwere Arbeit von ihnen forderte. Die 
Nachbarn halfen beim Bau der Blockhütte und der erſten 
Einrichtung der Fenz getreulich mit, und der Knabe Lincoln 
blieb dem Vater ſtets zur Seite und arbeitete mit ihm wie 
ein Alter. Ehe der Winter ins Land kam, war ſchon die 
kleine Wirthſchaft ordentlich im Gange und im nächſten 


Jahre ward ſchon eine recht ergiebige Maisernte gehalten, 
der Viehſtand mit einigen Stück Rindern und Schweinen 
vermehrt und das Ackerland anſehnlich erweitert. Aber 
den fortwährenden Anſtrengungen war die zartgebaute 
Frau Nancy nicht gewachſen; ſie ward bleicher und matter 
und im nächſtfolgenden Jahr (1818) ſchloß ſie ihre Augen 
für immer. 

Es war ein harter Schlag, der den Vater und die 
Kinder traf, der aber auch nicht ohne Segen für den 
jungen Lincoln blieb, denn er ward ernſter, ſein Gemüth 
richtete ſich auf ein Höheres, das Bild ſeiner frommen 
Mutter ſtand lebendig vor ſeiner Seele und eifrig wieder— 
holte er manchen Bibelſpruch, den ihn die fromme Mutter 
gelehrt hatte. Den Vater aber ſuchte er durch doppelten 
Fleiß zu erfreuen und dieſer fand in ſeinem Abe die 
beſte Stütze. | 

In den wenigen Ruheſtunden, die ihr vergönnt 
waren, hatte die gute Mutter ihren lernbegierigen Sohn, 
ſo gut ſie es vermochte, im Leſen der Bibel und des 
Katechismus geübt, ihn auch die Anfangsgründe der 
Schreibkunſt zu lernen geſucht. Dieſe Nachhilfe fiel nun 
weg. Doch zum Glück für Abe hatte nicht allzuweit von 
der Anſiedlung der Lincolns Maſter Dorſey eine Schule 
errichtet, in welcher die hoffnungsvollen jungen Hinter— 
wäldler zuſammenkamen, um ihre derben Fäuſte für die 
Schreibkunſt gelenkig machen zu laſſen und die in Spencer 
County noch wenig verbreitete Kunſt des Leſens gedruckter 
Bücher zu erlernen. Abe überflügelte bald alle ſeine 


ODER 


Kameraden und ward wegen feines frommen Sinnes, 
ſeiner Aufrichtigkeit und Lernluſt bald der Liebling ſeines 
neuen Lehrers. Und ein ſehr bezeichnender Characterzug 
aus dieſer Schulzeit des Knaben iſt es, daß er, wenn die 
ziemlich wilden Schulgenoſſen nach Hauſe gingen und 
unterwegs in Streit geriethen, den Friedensſtifter machte, 
obſchon er keineswegs der älteſte war, und die größten 
Buben nahmen auch ſeine Vermittelung bereitwillig an. 
Das ſtetige Arbeiten in freier Luft hatte den ohnehin 
langarmigen und langbeinigen Burſchen ſehr in die Länge 
wachſen laſſen und zugleich ſeine Muskelkraft geſtählt. 
Aber der Geiſt entwickelte ſich ebenſo kräftig und der 
Knabe bekam einen wahren Heißhunger nach Büchern, 
die natürlich unter den naturwüchſigen Anſiedlern ſeltene 
Schätze waren. Wie ſtrahlten eines Abends die Augen 
Abe's vor Freude, als der Vater heimkehrte, ein ſorgfältig 
eingewickeltes Päckchen in der Hand, mit vielſagendem 
Blick ſeinen Sohn betrachtend, der es ahnte, daß ein 
werthvolles Geſchenk ſeiner wartete. Langſam und feier- 
lich wickelte der Vater das unſcheinbare Tuch ab und ein 
Buch kam zum Vorſchein, des Knaben liebſtes Spielzeug. 
Es war das berühmte Erbauungsbuch von Bunyan „des 
Pilgers Erdenwallen“ (Pilgrim's Progress), ein ſehr 
ernſtes, gedankenvolles Werk, für die Jugend weniger als 
für ein reiferes Alter berechnet. Doch der Wald und die 
Einſamkeit, in welcher Lincoln lebte, ſtimmten zu den 
Gemälden in Bunyans Buche und verfehlten nicht ihres 
Eindrucks auf den ernſten; ſtrebſamen Geiſt des Knaben. 


SEN 


Bald darauſ hatte er eine zweite Ueberraſchung; er bekam 
Aeſop's Fabeln, welche ihm die gute Nachbarin, Frau 
Brune, zum Leſen überließ und die er beſſer verſtand. 
Mit Freuden las er das Buch einmal, zweimal und kehrte 
immer wieder zu demſelben zurück. Die Thiere, denen 
der Dichter menſchliche Sprache geliehen, ergötzten ihn, 
aber auch die geſunde Moral, die ſie lehrten, fanden ſeinen 
Beifall. In der ſchlagenden, kernhaften Kürze des Aus— 
drucks, in der treffenden Bildlichkeit und der volksthüm— 
lichen Weisheit, welche die Reden des Präſidenten Lincoln 
auszeichneten, kann man den Bibelkundigen und Freund 
Aeſop'ſcher Fabellehre unſchwer erkennen. 

Vater Tom freute ſich des Lerneifers ſeines Sohnes 
und der guten Lernanlagen deſſelben. Doch das hatte er 
nicht erwartet, daß der Knabe, welcher in den Wochentagen 
mit den Händen arbeiten mußte und faſt keine Stunde zu 
anderen Beſchäftigungen übrig hatte, in kurzer Zeit nicht 
nur die mechaniſche Fertigkeit des Schreibens erlernte, 
ſondern auch im Stande war, ſeine Gedanken zu Papier 
zu bringen und einen ordentlichen Brief zu ſchreiben. 
Mutter Nancy war beerdigt worden, die Nachbarn hatten 
ihr die letzte Ehre erwieſen und an ihrem Grabe gebetet, 
noch war kein Geiſtlicher erſchienen, das Grab einzuweihen 
und die Trauerrede zu halten. Nur einige Male im 
Jahr, mitunter auch wohl erſt im Verlauf mehrerer Jahre 
geſchah es, daß ein Prediger durch die Gegend reiste und 
dann die mitunter ſchon erwachſenen Kinder taufte und 


nachträglich auch die Begräbnißrede hielt. Nun geſchah 


— — 


es, daß neun Monate nach dem Tode der guten Frau 
Lincoln Paſtor Elkins ſeine Rundreiſe in dem fernen 
Weſten machte. Sobald dieß in Spencer County ruchbar 
ward, ſetzte ſich Abe hin und ſchrieb ohne Wiſſen des Vaters 
einen rührenden und eindringlichen Brief an den Mann, 
er möchte doch kommen und der ſeligen Mutter die letzte 
Ehre erweiſen. Als der Brief fertig war und der Vater 
von ſeiner Arbeit nach Hauſe kam, las ihm der über ſeine 
erſte ſchriftſtelleriſche Arbeit hocherfreute Sohn das Schrift- 
ſtück vor und mit Thränen der Rührung umarmte der 
Vater ſeinen lieben Abe. 

Als der Paſtor am nächſten Sonntage erſchien und 
ſich zu dem ſchmuckloſen Grabe der Frau Nancy Lincoln 
verfügt hatte, wo die verſammelten Nachbarn bereits ſeiner 
warteten, da eröffnete der würdige Mann ſeine Feierlich— 
keit damit, daß er den ſchönen Brief des Knaben laut 
vorlas und mit eindringlichen Worten deſſen Kindesliebe 
pries. Kein Auge blieb trocken, und als darauf eine 
glaubenswarme und erhebende Leichenpredigt folgte, da 
ward allen Anweſenden der ſtille Wald zu einem Tempel 
Gottes und die einfache Todtenfeier zu einem heiligen 
Feſte. 

Nach beendigtem Gottesdienſte ward der junge 
Lincoln von Allen geprieſen und geherzt, und ſein Ruhm 
verbreitete ſich fortan viele Meilen weit in der Umgegend, 
ſo daß mancher ehrliche Hinterwäldler, der des Schreibens 
unkundig war, wenn er einen ordentlichen Brief zu Papier 
gebracht wiſſen wollte, ſich nach Thomas Lincolns Block— 


ET EEE 


haus verfügte und den gelehrten Maſter Abe erſuchte, den 
Brief aufzuſetzen. 

Mit ſeiner Schweſter Sarah in edlem Wetteifer be— 
mühte ſich Abe, auch im Hauſe manches Geſchäft zu über— 
nehmen und den Verluſt der guten Mutter dem Vater 
weniger fühlbar zu machen. Aber die Kräfte des jungen 
Mädchens reichten nicht aus, die Laſt der Wirthſchaft zu 
übernehmen, und ſo entſchloß ſich Vater Thomas zu einer 
zweiten Heirath. Seine Wahl war eine gute; er führte 
den Kindern in der Wittfrau Sally Johnſton aus Eliza— 
bethtown in Kentucky eine zweite Mutter zu, die eine 
würdige Stellvertreterin war, ſich der weiteren Erziehung 
Abrahams mit großer Liebe unterzog, wie ſie auch ihrer 
Stieftochter Sarah mit zarter Schonung ihrer bereits 
ſchwankenden Geſundheit nur die leichteren Arbeiten 
übertrug. 

Mr. Dorſey, der in der Gegend ſeine Rechnung nicht 
gefunden hatte, war wieder fortgezogen, doch war an ſeine 
Stelle Mr. Crawfurd getreten und verſuchte ſeine Schul— 
meiſterkunſt an der hinterwäldleriſchen Jugend. Ihn 
beſuchte der junge Lincoln, wenn es die Arbeit geſtattete. 
Im Leſen, Schreiben und Rechnen hatte er, ſo wenig er 
ſich damit beſchäftigen konnte, gute Fortſchritte gemacht, 
und ſeine Bibliothek war um ein wichtiges Buch reicher 
geworden, das die ahnende Seele des jungen Arbeiter— 
Studenten mit dem vortrefflichen Hochbilde füllte; es war 
das „Leben Waſhingtons“. Noch eine Biographie hatte 
ihm Mutter Sally gekauft, das „Leben Henry Clay's“, 


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eines damals hochgeehrten Staatsmannes, mit deſſen 
Gerechtigkeitsliebe und milder Geſinnung der Knabe ganz 
ſympathiſirte. An dieſen Büchern lernte der künftige 
Rechtsgelehrte und Staatsmann ſchon früh ſein großes 
Vaterland lieben und deſſen eigenthümliche Verhältniſſe 
verſtehen. Kaum hatte er den Henry Clay vollendet, ſo 
hörte er von einem ſeiner Mitſchüler, Herr Crawfurd be— 
ſitze eine Lebensbeſchreibung Waſhingtons, die noch weit 
vorzüglicher ſei als die, welche er ſelber beſaß. Sogleich 
begab er ſich in die Wohnung ſeines Lehrers und bat den— 
ſelben treuherzig um das Leben Waſhingtons von Ramſay. 
Das Buch ward ihm gern geliehen und frohlockend trug 
er ſeinen Schatz nach Hauſe. Jedes freie Stündchen ward 
dem Buche gewidmet, das er auch mit hinaus auf ſein 
Arbeitsfeld nahm. Er barg es in einem hohlen Baum- 
ſtamm, um es gleich beim Zuhauſegehen zur Hand zu 
haben. Aber, o weh! eines Tages nach einem heftigen 
Regenguſſe fand er ſein Kleinod, das er ſicher geborgen 
zu haben vermeinte, völlig durchnäßt und voller Flecken. 
Vor allem legte er das Buch in die Sonne, um es zu 
trocknen; daun verſuchte er die Flecken zu tilgen, das 
wollte ihm jedoch nicht gelingen. Da nahn er das Buch, 
begab ſich geraden Weges zu Herrn Crawfurd und legte 
dieſem voll Zerknirſchung ein offenes Geſtändniß ab. 
War ſein Lehrer ſchon über dieſe treuherzige Weiſe des 
jungen Lincoln erfreut, ſo ward er noch mehr zum Wohl— 
wollen geſtimmt, als derſelbe hinzufügte: „Erſetzen muß 
ich Euch das Buch, Herr. Geld habe ich aber keins, dafür⸗ 


S 
kann ich aber arbeiten; gebt mir etwas zu thun!“ Herr 
Crawfurd, um den Burſchen weiter zu prüfen, legte fein 
Geſicht in ernſte Falten und erwiderte: „An Arbeit fehlt 
es nie; ich nehme dein Anerbieten an. Willſt du für 
mich Futter ſchneiden?“ „Gern“, rief Abe hocherfreut, 
„wann ſoll ich anfangen?“ — „Gleich morgen!“ — Und 
der junge Mann erſchien am andern Morgen mit Tages— 
anbruch, mähete mit den Schnittern um die Wette ſo 
fleißig, daß ihm der Schweiß über die Wangen lief. So 
arbeitete er drei volle Tage, bis die Schuld getilgt war. 
Am Abend des dritten Tages trat Mr. Crawfurd lächelnd 
zu ihm hin und überreichte ihm den Ramſay. „Behalte 
das Buch, mein Junge,“ ſprach er, „du haſt es redlich 
verdient, und ſei jederzeit ſo ehrlich, wie du es jetzt ge— 
weſen biſt!“ 

So verfloſſen dem guten Abe die Jugendjahre unter 
harter Arbeit und zeitweiligen geiſtigen Genüſſen, welche 
ihm ſein kleiner Bücherſchatz gewährte. Eine — freilich 
ziemlich mangelhafte — Ueberſetzung des Plutarch, der ſo 
meiſterhaft die Helden und Staatsmänner des Alterthums 
geſchildert, gewährte ihm auch hohen Genuß; er las alles 
mehrere Mal und kehrte zu ſeinen Büchern wie zu lieben 
Freunden zurück. Unſere jetzigen Kinder werden ſchon 
mit Büchern überſchüttet, wenn ſie kaum laufen können, 
ſie gewöhnen ſich, durch den Ueberfluß abgeſtumpft, bald 
an das bloße Nippen und Naſchen, und von dem vertrau- 

ten Umgange mit einem lieben Buche iſt kaum noch die 
Rede. Und weil es am rechten Hunger nach geiſtiger 


28 


Speiſe fehlt, iſt dann auch die Verdauung und Aneignung 
des Inhalts der Bücher ſehr mangelhaft. Da war der 
Sohn des Urwaldes bei aller mangelhaften Schulbildung 
doch beſſer daran; er verwandelte ſeine geiſtigen Schätze 
in Fleiſch und Blut, lernte daran ſelber denken und 
forſchen und lebte ſich in die Bücher ein. Und daß ſeine 
wenigen Bücher ſo vortreffliche waren, ſolche, die von 
einem ſachkundigen Erzieher gar nicht beſſer hätten aus— 
gewählt werden können, das war für die Bildung des 
Knaben ein nicht geringes Glück. Sein ſcheiubarer 
Mangel ward ihm zum wirklichen Reichth eim. 

Das Leben und Arbeiten in freier Luft hatte die 
körperliche Entwickelung ſehr gefördert. Als er in ſein 
achtzehntes Jahr getreten war, überragte er ſelbſt die 
größten Männer der Anſiedlung um ein Anſehnliches. 
Schön und einnehmend war ſeine Erſcheinung nicht; an 
den langen Armen ſaßen ein paar rieſige Fäuſte und die 
Füße waren gleichfalls ſehr groß und breit. Sein dunkles 
Haar ſtand ſtruppig in die Höhe, der Mund war breit 
und die Bockenknochen ſtanden hervor; hager und mus— 
kulös war der ganze Leib. Nur die hohe Stirn und das 
glänzende, durchdringende Auge verrieth, daß in dem 
äußerlich jo ungeſchlachten Körper ein feiner und reichbe⸗ 
gabter Geiſt ſeine Werkſtätte hatte. 

Meiſt ſtill und in ſich gekehrt konnte der junge 
Lincoln doch mitunter ſehr ſpaßhaft und luſtig ſein, ein 
trockner Humor ſtand ihm jederzeit zu Gebot. Viel Um— 
gang mit Altersgenoſſen hatte er nicht und an rohen 


— . — 


Späßen fand er keinen Gefallen. Auch durch ſeine 
Mäßigkeit war er ausgezeichnet; geiſtige Getränke kamen 
nie über ſeine Lippen. Als tüchtiger Arbeiter in der 
ganzen Nachbarſchaft bekannt, rief man ihn zu Hilfe, 
wenn es etwas Größeres zu thun gab, etwa ein Block— 
haus gebaut werden ſollte, und ſtets war er zur Hilfe bereit 
und die ſtärkſten Bäume ſanken unter den gewaltigen 
Hieben ſeiner Axt. 

Schweſter Sarah war unterdeſſen Frau Grißby ge— 
worden und fühlte ſich glücklich. Doch bei ihrer erſten 
Niederkunft verlor ſie nebſt ihrem Kinde das Leben. Das 
war abermals ein harter Verluſt für den Bruder, der, bei 
dem einförmigen Leben in der Waldeinſamkeit, mitunter 
recht ſchwermüthige Augenblicke hatte. So gern und 
fleißig er auch arbeitete, ſo ermüdend wurde ihm doch zu— 
letzt die mechaniſche Arbeit. Er ſehnte ſich nach einer 
Auffriſchung des Gemüths, nach einer Veränderung ſeiner 
Lage; es trieb ihn hinaus in's Weite. Da erſchien zur 
glücklichen Stunde Bill Pitt, ein Schulkamerad aus 
Kentucky, der in der Gegend Geſchäfte hatte und ſich nach 
einem Bootsmann umſah, welcher mit ihm nach New— 
Orleans fahren ſollte. Die beiden Pitt's, Vater und 
Sohn, hatten ſich nicht weit von Thompſons Ferry eine 
Blockhütte gebaut, trieben Fiſcherei, zimmerten Flöße und 
führten Holz, Korn und Lebensmittel aller Art von Zeit 
zu Zeit den Fluß hinunter. | 

Dieſe Bootsleute und Stromſchiffer, auch Hafen- 
männer genaunt, waren, beſonders in früheren Zeiten, 


Ba 


als die Flüſſe noch nicht von Dampfſchiffen befahren 
wurden, die Frachtfuhrleute des Weſtens, der Ohio und 
Miſſiſſippi ihre großen Heerſtraßen, auf denen ſie bis 
nach New-Orleans fuhren, um zu den Pflanzungen des 
Südens die Waaren und Lebensmittel des Nordweſtens 
zu führen und in klingende Silbermünze umzuſetzen. 
Stromabwärts war die Fahrt eine Luſt, obwohl es un- 
ausgeſetzte Anſtrengung galt, das Floß in gehöriger Ent— 
fernung vom Ufer zu halten, vor den ſchwimmenden 
Baumſtämmen, die ſich ſtellenweiſe aufſtaueten, vorbei 
und gut durch die Stromſchnellen zu führen. Stroms 
aufwärts mußte aber das Boot vermittelſt der 
Hakenſtangen auf beſchwerliche Weiſe geſchoben werden, 
wenn der Wind ungünſtig war und keine Segel aufge— 
ſetzt werden konnten. Dann verzichtete man lieber auf 
die Rückfahrt des Flachboots, verkaufte dieſes ſammt der 
ganzen Holzladung und fuhr auf dem Dampfboote ſtrom— 
befuhr. 

Nachdem ſie um den Lohn eins geworden waren — 
zehn Dollars im Monat und die Beköſtigung — ging es 
an die Ausrüſtung des Flachbootes, an welcher der ehr— 
liche Abraham rüſtig mithalf, zu großer Freude des alten 
Pitt, der ſich glücklich ſchätzte, daß ſein Sohn einen ſo 
tüchtigen Gehülfen angeworben hatte. Der kurz zuvor 
noch ſo träumeriſche und ſchwermüthige Abe war wie um— 
gewandelt; daß er den großen, prächtigen Miſſiſſippi bes 
fahren und die große Stadt an der Mündung deſſelben 


A. eh 


kennen lernen follte, das hatte er ſich noch vor wenigen 
Wochen noch nicht träumen laſſen — er war voller luſtiger 
Einfälle und arbeitete mit einer Energie und mit einem 
Geſchick, daß ſeine Gefährten darob erſtaunten. 
Nachdem nun das Boot gehörig mit behauenen Holz— 
ſtämmen, mit Fäſſern und Säcken angefüllt war, fuhren 
die beiden kräftigen jungen Männer den breiten vollen 
Ohio hinunter in den noch viel breiteren und volleren 
Miſſiſſippi, den „Vater der Gewäſſer“ hinein. Eine 
üppige Waldwildniß faßte beide Ufer ein, hochſtämmige 
Cypreſſen, Lebenseichen, Hickorie- und Cottonbäume mit 
Schlingpflanzen wie eingeſponnen, ſpiegelten ſich in der 
Fluth des Rieſenſtromes; hier und da öffnete ſich die 
Lichtung und zeigte dem überraſchten Blick einen grünen 
Teppich, mit ſchillernden Blumen geſchmückt, die keines 
Menſchen Hand berühren ſollte. Brach die Nacht herein, 
ſo befeſtigten die Fahrmänner ihr Boot am Ufer und 
gingen zum Uebernachten an's Feſtland, oder machten ſich 
auch wohl ihr einfaches Lager auf dem Floß ſelber zurecht, 
wenn am Ufer keine günſtige Stelle zu finden war. Denn 
an feuchten und ſumpfigen Uferſtrecken, durch die Ueber— 
ſchwemmungen des Stromes unwegſam gemacht, fehlte es 
auch nicht. Nur hier und da unterbrach ein kleiner Ort, 
der auf größere Zunahme wartete, oder eine Gruppe von 
Blockhäuſern die noch ungebändigte wilde Natur. Aber 
einförmig war die Fahrt keineswegs. Bald brauſte ein 
Dampfboot vorüber, bald ſah man in der Ferne ein 
weißes Segel, das ſich ſtromaufwärts näherte, bald begeg⸗ 


1 


nete man anderen Flößen und Flachbooten und die 


Schiffsleute riefen ſich die üblichen Fragen zu: „Wo 
kommt ihr her? Wohin des Wegs? Was für Ladung?“ 

Tage auf Tage vergingen; und da nicht immer gutes 
Wetter iſt, ſo folgten auf ſonnenhelle, ruhige Tage auch 
Ungewitter und ſchwere Regengüſſe, welche die Bootsleute 
bis auf die Haut durchnäßten, und das Fahrzeug ward 
mitunter von den ſtürmiſch aufgeregten Wellen auf- und 
niedergeſchleudert, als ſollte es in die Tiefe hinabgedrückt 
werden. Dann brannte wieder tropiſche Sonnengluth 
auf ihre halbnackten Glieder und badete ſie in Schweiß. 
Je mehr ſie ſich ihrem Beſtimmungsorte näherten, deſto 
heißer und ſchwüler ward die Luft. Endlich erblickten ſie 
auf der Oſtſeite des Stromes, an der ſie ſich beſtändig 
hielten, von zierlichen Baumgruppen umgeben, ſchön ge— 
baute Verandas, den Reichen von New-Orleans gehörend, 
die ſich dahin flüchteten, wenn das gelbe Fieber in der 
„Crescent-City“ wüthete. Aber ſie waren noch lange 
nicht am Ende ihrer Fahrt und ſollten zuvor noch ein 
gefährliches Abenteuer beſtehen. 

Die Nacht war hereingebrochen und auf die Gluth— 
hitze des Tages folgte eine Abkühlung der Luft, daß es die 
beiden jungen Männer fror, und das kleine Feuer, das 
ſie angezündet hatten, um ſich ihr Nachteſſen zu bereiten, 
ihnen ſehr behaglich war. Dann, nachdem ſie ihre frugale 
Mahlzeit verzehrt hatten, löſchten ſie die Kohlen ſorg— 
fältig aus und ſuchten, in ihre Wolldecken gehüllt, auf dem 
Flachboote zwiſchen den Fäſſern ihr Nachtlager. 


Bill Pitt, von des Tages Laſt und Hitze erſchöpft, 
ſchlief ſogleich ein; ſein Gefährte ſtarrte in den naßkalten 
Nebeldunſt hinein und konnte trotz der einförmigen Muſik 
des Plätſcherns der Wellen, die an das Flachboot ſchlugen, 
noch nicht die erſehnte Ruhe finden. Endlich ſchloſſen 
ſich auch ſeine Augenlider, doch plötzlich ſchreckte er empor, 
er hatte vom Ufer her ein Geräuſch vernommen, als 
nahten ſich Menſchen. Schnell ſtieß er ſeinen Gefährten 

an, der ſich die ſchlaftrunkenen Augen rieb, doch bald 
merkte, wer da war. „Niggers!“ flüſterte er. „Wer da?“ 
rief Lincoln mit Stentorſtimme. Ein Fllüſtern ließ ſich 
vernehmen und bald ſahen die beiden Jünglinge im Licht 
des aufgegangenen Mondes vier ſchwarze Geſtalten, die 
ſich dem Boote näherten. „Ould niggar, beg for charity, 
Massa!“ k) riefen fie in ihrem Neger-Engliſch. Es waren 
von den Pflanzungen entlaufene Neger, welche es auf einen 
Ueberfall abgeſehen hatten und ſich des Flachbootes be— 
mächtigen wollten. Schnell hatte Abe die Holzaxt er— 
griffen und im Augenblick ſtand Bill, ein ſchwers Ruder 
in den Händen, neben ſeinem Freunde. Die ſchwarzen 
Kerle, mit kurzen Meſſern und langen ſchweren Knütteln 
bewaffnet, warfen ſich, nachdem ſie erſt ſtill das Waſſer 
durchwatet hatten, mit einem wilden Schrei auf das 
Flachboot; Bill fühlte ſeine linke Schulter von einem 
heftigen Schlage getroffen, und Abe, einen vordringenden 
Burſchen zurückwerfend, etwas wie eine Meſſerklinge vor 


) Alte Neger, bitten um eine milde Gabe, Herr! 


— 34 — 


ſeinen Augen blinken und fühlte einen ſtechenden Schmerz 
an ſeiner Stirn. Doch er blieb beſonnen in der Gefahr, 
ſchwang mit mächtiger Fauſt ſeine Axt auf den nächſten 
Negerſchädel und der Getroffene ſtürzte kopfüber und laut— 
los in den Strom. Bill arbeitete ebenſo wacker und führte 
mit feinem Ruder kräftige Schläge auf die Andringenden, 
welche heulend zurückwichen. Dann ſprangen ihnen die 
tapferen Hinterwäldler nach an's Ufer, die Räuber aber 
waren verſchwunden. Bill fühlte an Armen und Schultern 
die Nachwehen der Negerkeulen, Abe wiſchte ſich das Blut 
von Stirn und Wangen; fie hatten ruhmvoll das Schlacht⸗ 
feld behauptet. Doch hielten ſie es für gerathen, das 
Tau zu löſen und ihr Boot eine gute Strecke weiter 
hinabzufahren. 1 

Noch 140 engliſche Meilen waren bis zum Ziel zu⸗ 
rückzulegen. Endlich lag die langerſehnte Stadt, weithin 
an dem halbmondförmigen Kai ſich ſtreckend, ) vor den 
erſtaunten Blicken da! Obwohl New-Orleans dazumal 
erſt 50,000 Einwohner zählte und die großen Staatsge— 
bäude und Hotels, die durch Dampf getriebenen Baum— 
wollpreſſen, die Granitbekleidungen der Dämme, all' das, 
was heutzutage die Miſſiſſippiſtadt ſo ſehenswerth macht, 
noch nicht vorhanden war: jo bildete fie doch ſchon damals 
den wichtigſten Stapelplatz der Union nach New-York, 
und bot einen Anblick des bewegteſten Lebens und der 
bunteſten Völkermiſchung dar. Da drängten chineſiſche 


*) Deshalb die „Halbmondſtadt“ od. Crescent City genannt. 


N IE 


Arbeiter an norwegiſchen Matroſen vorüber, der Yankee 


des Nordens traf mit dem Engländer, der Afrikaner mit 


dem Deutſchen, der Mexikaner mit dem Oſtindier zuſam— 
men, und Trupps von ſchnatternden und ſchreienden 
Negern durchzogen das Gewühl der Geſchäftsleute, hier 
auf ihren Schultern, dort auf kleinen Wagen die Waaren— 
ballen transportirend. Die neuen Parkanlagen, welche 
ſpäter ganze Stadttheile bilden ſollten, die reizenden, 
bereits zu Straßenlinien ſich gruppirenden Villen, mit 
Rückwänden, Balkonen und einem Unterbau von Granit⸗ 
quadern erſchien den erſtaunten Hinterwäldlern, deren 
Auge nur an kleine, dürftige Blockhäuſer gewöhnt 
war, wie lauter Paläſte, und die tropiſche Blumenpracht 
und üppige Vegetation der Gärten wirkte faſt berauſchend 
auf den einfachen Sinn Abraham Lincolns. Es war ihm, 
als ſei er plötzlich in eine Zauberwelt verſetzt. 

Doch ein echter Yankee kommt nicht leicht außer 
Faſſung und vergießt niemals das Geſchäft. Vor Allem 
galt es, das Flachboot durch das Gewirre großer und 
kleiner Fahrzeuge, Barken, Jollen, Waarenſchuten, 
Dampfer, Segelſchiffe, gut durchzubringen und an einem 
paſſenden Orte des Hafens anzulegen. Dann, als dieß 
gelungen war, ſahen ſich die jungen Hinterwäldler nach 
Käufern für ihre Waaren um und brachten auch dieſe zu 


8 annehmbaren Preiſen an den Mann. Zuletzt blieb ihnen 


R EV ; „ 


nur das Flachboot übrig, auf welchem ſie den Miſſiſſippi 


herabgeſchwommen waren und welches ſtromaufwärts zu— 
rückzubringen ſich nicht der Mae lohnte. Auch für Bei 
Igd.⸗Bibl. 3. 


— 34 — 


fand ih ein Käufer und nun hatten die beiden Voots⸗ 
männer ihre Börſen voll ſilberner Dollars. Ihre Aufgabe 
war gelöst. 

In einem der Boardinghäuſer, die unfern des 
Hafens lagen, ward nun von ihnen ein kleines Zimmer 
gemiethet, da ſie noch einige Zeit in New-Orleans bleiben 
wollten, um ſich alle Merkwürdigkeiten wohl anzuſehen. 
Der alte Pitt hatte ihnen den Rath gegeben, vor den 
Gamblers und Rowdies, dem Gaunervolk, das den uner— 
fahrenen Fremden das Geld aus der Taſche lockt, ſich 
wohl in Acht zu nehmen, überhaupt vor den Leuten nicht 
viel Geld ſehen zu laſſen. So kauften ſie ſich denn Leder— 
gürtel, um ihr Silber am Leibe tragen zu können, und 
ſteckten nur weniges Geld in die Taſchen. Die Theater, 
Tanzſäle, Spielhöhlen und Stätten des Laſters ließen 
ſie unbeſucht; das Gewirr der Menſchen und der breiten 
und ſchmalen Straßen gab ihnen Unterhaltung genug; 
der Marktplatz zumal, auf dem Alles zu finden war, was 
die ſüdliche Zone zu bieten vermag, köſtliche Früchte, 
Gemüſe, Fiſche, Blumen in den bunteſten, glänzendſten 
Farben. 

Sie gingen weiter und kamen vor ein ſtattliches 
Haus, bei welchem ihre Schritte durch ein Gedränge von 
Menſchen gehemmt wurden, die alle hinein wollten. „Was 
mag dort vorgehen?“ ſprach Abe zu Bill, „iſt's ein öffent⸗ 
liches Gebäude, eine Börſe oder was ſonſt?“ „Treten wir 
ein,“ meinte Bill, „und ſehen wir, was es giebt.“ Die 
beiden Hinterwäldler bahnten ſich durch den Menſchen⸗ 


r — 35 — 


knäuel einen Weg, arbeiteten ſich durch einen Hausgang 
und kamen endlich in eine große halbrunde Halle. Auf der 
einen Seite befand ſich ein langer Bar (Schenktiſch), hinter 
welchem von Tellern, Eßwaaren und Liqueurflaſchen umge— 
ben ein aufgedunſener Wirth ſaß, das Geld einſtreichend, das 
ihm die ſchwarzen aufwartenden Kellnerburſchen aus dem 
Saal überbrachten. Im Hintergrunde war eine Tribüne 
errichtet, vor derſelben ſtanden die Unglücklichen, welche 
hier verhandelt werden ſollten, Männer,, Weiber und 
Kinder, alle mit einer Nummer verſehen. Der Auktiona— 
tor der Sklavenhändler ſtand auf der Plattform und 
wenn er eine Nummer ausgerufen hatte, mußte der 
Träger derſelben zu ihm hinaufſteigen und ſich von den 
Kaufliebhabern betaſten und unterſuchen laſſen. Auch 
gedruckte Verzeichniſſe wurden herumgereicht, auf welchen 
die Namen und das Alter und Geſchlecht der zu ver— 
kaufenden Sklaven verzeichnet waren. Außer den breit— 
ſchultrigen Pflanzern, welche die Mehrzahl der Käufer 
bildeten, waren auch viele unbetheiligte Zuſchauer anwe— 
ſend, denen es nur um das Schauſpiel zu thun war. 
„Einige halbtrunkene Kerle ſprangen auf die Bühne, um 
den dort aufgeſtellten Frauenzimmern ſchamloſe Reden 
in's Ohr zu lallen oder derbe Flüche auszuſtoßen. 

Der ſtreng ſittliche, reine und unverdorbene Abraham 
Lincoln ſah dieß ihm ganz neue Schauſpiel mit einem 
innerlichen Schauder. Sein theilnehmender Blick ruhete 
auf der Reihe der noch des Verkaufs harrenden Sklaven, 
von denen viele wie empfindungslos in den Saal hinein⸗ 


. 


ſtierten, als ginge der Vorgang ihnen gar nichts an. 
Einige waren echte Aethiopier von der Schwärze des 
Ebenholzes, andere zeigten eine broncefarbene Haut, bis 
zum lichteren, weißbraunen Teint. Einige junge Mädchen 
waren nicht dunkler als manche Farmerstochter von 
Louiſiana, ſie waren zu Stubenmädchen für reiche Fami— 
lien der Crescent City beſtimmt. Aber auch eine ganz 
weiße Frauensperſon von etwa vierzig Jahren fand ſich 
unter der zu veyſteigernden Menſchenwaare; ernſt und in 
ſich verſunken ſtand ſie da, ihre Mienen zeigten einen edlen 
Ausdruck des Schmerzes, ihre zarten, kleinen Hände deu— 
teten auf keine harte Arbeit. 

„Nummero ſieben!“ rief der Verſteigerer. „Jenny 
Hawkins, 42 Jahre alt, gut erzogen, wird eine vortreffliche 
Wirthſchafterin abgeben!“ 

Ein gutmüthiger Pflanzer erzählte den Umſtehenden, 
die ſoeben Aufgerufene ſei die Geliebte, man könne ſagen 
die Gattin ſeines Nachbars geweſen, der ihr einen Frei— 
brief ausſtellen wollte, aber durch ſeinen plötzlichen Tod 
daran gehindert ward. Sie habe einen Sohn, der ſei 
frei und ſiudire in New-Vorf, aber er jet nicht legitim und 
habe deßhalb auch keinen Anſpruch auf die Mutter. Dieſe 
hatte ihren Sohn mit Schmerz erwartet, in der Hoffnung, 
er werde Mittel gefunden haben, ſie aus der Sklaverei 
zu befreien. Als nun ihre Nummer aufgerufen ward, 
rührte ſich die arme Frau nicht von der Stelle. Zornig 
ſchrie der Auktionator: „Gott ... ., wenn ich Euch 
nicht ſogleich Beine machen werde!“ Der gute Abe ballte 


a 


feine Fäuſte und zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe. 
„Ruhig, um Gotteswillen ruhig!“ flüſterte Bill und er— 
griff die Hand ſeines Freundes. Da hörte man einen 
Aufſchrei, ein junger Mann drängte ſich ungeſtüm durch 
die Menge. „Mutter!“ ſchrie er und umſchlang das 
arme Weib, das ſoeben die Stufen der Plattform 
hinanſtieg. 

Ein Durcheinander von Stimmen und Ausrufen er⸗ 
füllte in dieſem Augenblicke den Saal; einige herzloſe 
Menſchen lachten laut auf, andere freuten ſich und riefen 
Beifall. Der Auctionator aber trennte die Mutter von 
ihrem Sohne, der die nahezu 1400 engliſchen Meilen 
in fliegender Haſt zurückgelegt hatte und noch zu rechter 
Zeit angekommen war. 

„Ich biete auf meine Mutter!“ rief er mit leiden⸗ 
ſchaftlicher Stimme in den Saal hinein. „Ein Schuft, 
der gegen ihn bietet,“ tönte es hier und da aus dem Kreiſe. 
Doch nun trat ein gemein ausſehender Menſch mit auf— 
gedunſenem Geſicht und wildem Trotz in den Mienen 
hervor und ſchrie trotzig: „Ich werde bieten, und wer mir 
entgegentritt, den ſchieße ich nieder!“ Ein Murmeln lief 
durch die Menge, doch Keiner hatte den Muth, dem rohen 
Menſchen die Spitze zu bieten. „Das iſt Jefferſon 
Stevens — hieß es — der Todfeind des Verſtorbenen, 
der Millionär! Arme Jenny!“ 

Die Auktion begann. „Viertauſend Dollars!“ 
ſtammelte der Sohn; er hatte die größte Summe genannt; 
über die er verfügen konnte. Da ſchickte ſich der Pflanzer 


en 


Stevens an, ihn zu überbieten, aber nun entſtand großer 
Tumult; der beſſer geſinute Theil der Anweſenden, von 
edlem Unwillen ergriffen, ſtürzte ſich auf den rohen 
Menſchen, und ehe ſich's derſelbe verſah, war er bei den 
Schultern gepackt, durch den Saal geſchleift und aus der 
Thür hinausgeworfen. Der Hammer des Auctionators 
fiel dröhnend dreimal nieder — der Sohn hatte die Mut— 
ter erworben und jubelnd lagen ſich beide in den Armen. 

Der gute Abe athmete auf, als ſei eine Laſt von 
ſeinem Herzen genommen. „Gott ſei Dank!“ rief er und 
Thränen rannen über ſein hageres Geſicht. Tief erſchüt— 
tert verließ er mit ſeinem Freunde das Haus; ein Abſcheu 
vor dieſer „häuslichen Einrichtung“ des Südens hatte ſich 
ſeiner Seele bemächtigt. 

Die beiden jungen Männer bezahlten einen Platz 
auf dem Dampfboote und kehrten wohlbehalten in ihre 
Heimath zurück. Die Kunde von der treuen Pflichter— 
füllung und kraftvollen Bewältigung aller Hinderniſſe 
verbreitete ſich in der Nachbarſchaft und wandte ſchon 
jetzt dem jungen Lincoln das Vertrauen ſeiner Mit— 
bürger zu. 


2. 


Der Unternehmungsgeiſt und Trieb in's Weite, der 
tief im angelſächſiſchen Weſen ſteckt, iſt in amerikaniſcher 
Luft zu voller Entwicklung gelangt. Wie es die euro— 
päiſche Menſchheit im Mittelalter Jahrhunderte nach dem 
fernen Oſten zog, ſo zieht es in unſerer Zeit die Menſchen 


von Europa nach Amerika, den Amerikaner des Oſtens 


aber nach dem fernen Weſten. Auch der gute Thomas 


Lincoln, obſchon er ziemlich weit nach Weſten vorge— 
drungen war, wollte noch weiter nach Weſten. Der 
Staat Illinois mit ſeinem fruchtbaren Prairieboden und 
ergiebigen Flußniederungen dünkte ihm das Land zu ſein, 
wo „Milch und Honig fließt,“ und wenn man davon 
erzählte, kam ihm der Gedanke nicht aus dem Sinn, 
dorthin überzuſiedeln. Seine zweite Frau hatte zwei ſtatt⸗ 
liche Töchter mitgebracht, die hatten geheirathet und die 
beiden Schwiegerſöhne waren tüchtige Arbeiter. So 
fehlte es für die neue Auſiedlung nicht an kräftigen 
Händen. 

Abraham Lincoln war mit dem Plane des Vaters 
nicht einverſtanden, doch als guter Sohn fügte er ſich 
und übernahm willig einen Ochſenwagen zur Führung. 
Im März 1830 ſetzte ſich die Geſellſchaft, welche mit den 


Kindern 12 Perſonen zählte, in Bewegung, und in 14 


Tagen war der Weg bis nach Decatur in Illinois, das 
damals nur erſt ein kleines Oertchen war, zurückge— 
legt. Etwa zehn engliſche Meilen weſtlich von Decatur, 


an der nördlichen Seite des Sangamonfluſſes, ward das 


neue Blockhaus errichtet, an einer freundlichen Stelle, wo 
der Waldſaum das Prairieland berührte. 

Mit gewohnter Rährigkeit und Rüſtigkeit ſchwang 
Abe die Axt und in erſtaunlich kurzer Friſt hatte er 
Pfähle und Fenzriegel für die Umzäunung von zehn 
Morgen Landes herbeigeſchafft. Es ward geackert und 


geſäet, und in dem neuen, nicht allzu geräumigen Block 
hauſe richtete man ſich ein, ſo gut es gehen wollte. Doch 
es kamen ſchwere Heimſuchungen über die Familie; im 
Herbſt das Fieber, das die Männer ſo abmattete, daß ſie 
nur nothdürftig das Feld beſtellen konnten, und dann 
ſtellte ſich ein ungewöhnlich ſtrenger und anhaltender 
Winter ein. Bis zu Manneshöhe bedeckten die Schnee— 
maſſen das Land und an ſeiner Oberfläche bekam das 
Schneefeld eine faſt undurchdringliche Eiskruſte. Der 
Verkehr ward gehemmt, ſelbſt die größeren Ortſchaften 
geriethen in Noth, die vielen einzeln gelegenen F Farm⸗ 
häuſer und Blockhütten aber, welche nur mit ihrem Dach 
aus dem Schnee hervorſahen, wurden dem bitterſten 
Mangel preisgegeben und ihre Bewohner mußten am 
Hungertuche nagen. Da erwies ſich der wackere Abraham 
abermals als ein Schutzengel für die Seinen. Er ging 
im heftigſten. Schneegeſtöber auf die Jagd, um friſches 
Fleiſch zu ſchaffen; obwohl er kein tüchtiger Schütze war, 
erſetzte doch ſein Eifer und ſeine Ausdauer ſeine Geſchick— 
lichteit. Dann unternahm er mit ſeinen Schwägern 
lange beſchwerliche Reiſen, um Brod und andere noth— 
wendigen Lebensbedürfniſſe herbeizuſchaffen, und ſo kam 
denn der Frühling des Jahres 1831 heran, der die 
Familie wegen der Ueberſchwemmungen zwar auch noch 
ängſtigte, aber bald der Noth ein Ende machte. 

Ein unerwarteter Beſuch, den John Hanks, der mit 
der verſtorbenen Mutter Nancy, die auch eine geborene 
Hanks geweſen, nahe verwandt war, der Familie Lincoln 


— ge 


abftattete, galt dem Abraham. Dieſer follte wieder ein 
Flachboot nach New-Orleans hinunterfahren, das ein Mr. 
Offult in Springfield ausrüſten wollte. Im Hauſe ſeines 
Vaters, der ſchon wieder mit Auswanderungsplänen um— 
ging, konnte er nicht für immer bleiben. Abraham war 
im letzten Februar mündig geworden und durfte frei 
über ſich ſelbſt verfügen. So war ihm der Antrag ſeines 
Vetters Hanks ganz willkommen und er nahm Abſchied 
von den Seinen, mit ſchwerem Herzen freilich, denn er 
hatte aufgehört, ein Glied des väterlichen Hauſes zu ſein. 
Die Segeuswünſche des Vaters und der Mutter Sally 
begleiteten ihn auf ſeine neue Wander chaft. 

Die Reiſe nach New-Orleans ging wieder glücklich 
von ſtatten, doch in der Halbmondſtadt traf er's diesmal 
nicht ſo glücklich, wie bei ſeinem erſten Beſuch, denn es 
wüthete dort das gelbe Fieber, die Geſchäfte begannen zu 
ſtocken, in den Straßen wehte eine verpeſtete Sumpfluft 
und wer nicht nothwendig ausgehen mußte 4 der blieb 
daheim. Die, welche ſich in den Straßen begegneten, 
gingen in weiten Bogen um einander herum, aus Furcht 
vor der Anſteckung. Nur Leichenwagen ſah man auf den 
Straßen. Aber die Menſchen ſtarben ſo ſchnell und in 
ſo großer Anzahl, daß es faſt zur Unmöglichkeit wurde, alle 
zu beerdigen. Viele Leichen ſah man ſchon auf dem Quais 
und Trottoirs regen und Lincoln ſtürzte faſt über eine 
ſolche, als er eines Abends in ſein Logierhaus ſich begeben 
wollte. Ein Neger, dem die Hand fehlte — wenn ein 
Sklave ſich an ſeinem Herrn vergriff, ward ihm die Hand 


abgehauen — brachte ihm eine Laterne und bei deren 
Schein ſah er, daß fünf Leichen auf dem Trottoir lagen. 
Dank ſeiner gefunden Konſtitution kam er mit einen leich— 
ten Fieber davon und ſeine Waaren nebſt dem Flachboote 
brachte er abermals recht gut an den Mann und ſchon im 
Juni ſtand er wieder vor Mr. Offult in Springfield, der 
mit dem erlangten Gewinn ſehr zufrieden war. Nachdem 
er Mifier Lincoln den bedungenen Lohn ausgezahlt hatte, 
machte er ihm das Anerbieten, ob er nicht als Gehilfe in 
den von Ofſult zu New-Salam errichteten Kramladen 
eintreten wolle? „Sehr gern!“ war die Antwort. 

Abe wanderte alſo nach New-Salem, wo ſein neuer 
Dienſtherr einen Kramladen nebſt einer Kornmühle beſaß. 
Seine neue Reſidenz war ein armſeliges kleines Haus mit 
halbblinden Fenſtern und einem ſo morſchen Gebälk, daß 
man dachte, es müßte jeden Augenblick zuſammenſtürzen. 
Laden und Vorrathskammer waren ein paar Bretterver— 
ſchläge mit Haus⸗ und Ackergeräthe, Zucker und Kaffee, 
Kleidern, Stiefeln und Nägeln wohl verſehen. An der 
Waage fehlte es natürlich auch nicht und das Inſtrument, 
bei deſſen erſtem Anblick der Knabe in Entzücken gerieth, 
ſollte nun von dem Manne gehandhabt werden. Und dieſer 
Mann war höchlich befriedigt, daß er nun ſchon eine ſo 
hohe Staffel im geſellſchaftlichen Leben erſtiegen hatte, daß 
er ein Storekeeper geworden war. 

Man darf die Stellung des Krämers in einem 
Dorfe oder einer kleinen Stadt nicht allzu gering anſchla— 
gen. Er empfängt die Beſuche von Leuten aller Art aus 


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dem Orte und der ganzen Umgegend, und da es eine 
ebenſo angenehme Sache iſt, Neuigkeiten mitzutheilen 
und auszutauſchen, als Waaren einzukaufen, ſo erfährt er 
immer aus erſter Hand, was ſich da und dort ereignet 
hat und wird mit Land und Leuten bald vertraut. Die 
kleine Zugabe von einem Gläschen Whisky, welche 
damals noch üblich war, erhöhte nicht wenig die Beweg— 
lichkeit der Zunge, und der Verkaufsladen bildete einen 
Vereinigungspunkt für die Männer, die über Handel und 
Wandel, über Staats- und Gemeindeangelegenheiten ſich 
unterhielten, auch wohl ein Geſchäft abſchloſſen und von 
dem Kandidaten redeten, den ſie für die nächſte Legislatur 
(geſetzgebende Verſammlung) wählen wollten. 

So war ſein neues Amt als Storekeeper dem Abra— 
ham Lincoln ſehr erſprießlich als Vorſtudium für den 
künftigen Staatsmann. Die rieſig große, knorrige und 
eckige Erſcheinung Abes hatte nicht verfehlt, in Salem 


Aufſehen zu erregen. Das leutſelige Weſen des Krämer— 


rieſen, ſeine Fertigkeit, den Käufern allerlei witzige Ge— 
ſchichten zu erzählen, und die Gewiſſenhaftigkeit, mit wel— 
cher er Jedem reichlich das Seine abwog und maß, das 
brachte ihm vielen Zuſpruch. Aber zum Vortheil des 
Mr. Offult war dieſe Freigebigkeit, die lieber zu viel als 
zu wenig gab, nicht. Der ehrliche Lincoln war kein ſpecu— 
lirender Geſchäftsmann, er verſtand es nicht, durch An— 
preiſen ſeiner Waare Abſatz zu verſchaffen, auf Concur— 
renten zu ſchelten — er war mit einem Worte kein Krämer- 
und Geldmenſch. Das Geſchäft wollte keinen Aufſchwung 


— 4 — 


gewinnen und gerieth, da der Eigenthümer ohnehin kein 
Kapital zur Verfügung hatte, in mißliche Umſtände. 

Während Lincoln mit dem Gedanken umging, ſeine 
Stelle zu kündigen, befreiten ihn ſeine Mitbürger, deren 
volles Vertrauen er im vollſten Maße bereits gewonnen 
hatte, aus ſeiner Verlegenheit — ſie wählten ihn zu 
ihrem Hauptmann für den bevorſtehenden Feldzug gegen 
die Indianer, welche unter Anführung des „ſchwarzen 
Falken“ (Black Hawk), wie der tapfere Häuptling genannt 
wurde, in Wisconſin und Illinois eingefallen waren. 
Die Indianer ſollten, ſo erzählte man übertreibend — 
alle vereinzelten Niederlaſſungen umzingelt, in Brand 
geſteckt, das Vieh fortgetrieben, Männer, Weiber und 
Kinder niedergemacht und ſkalpirt haben. Die Milizen 
wurden aufgeboten und New-Salem ſtellte auch feine 
Kompagnie. Der große, luſtige, kluge Abraham Lincoln 
ſollte der Anführer ſein, der freilich von militäriſchen 
Dingen noch weniger verſtand als von Krämerkünſten, 
aber als echter Amerikaner den neuen Ehrenpoſten mit 
dem Vorſatz annahm, daß ſeine zu thun, um ihn würdig 
zu behaupten. 

Er ſetzte alſo einen betreßten, dreieckigen Offiziershut 
auf ſein ſtruppiges Haar, ſchnallte einen alten, halbver- 
roſteten Degen um und rückte mit ſeiner Schaar, um ſie 
vor Allem ein wenig einzuüben, auf den Dorfplatz. 
„Right face, left face, right, leſt, right, leſt! Halt! 
Attention, Gentlemen!“ Und dabei Trommelwirbel 
und Pfeifen, als ſei es auf das Zerſpringen des Trommel⸗ 


lg ee 


fells in den Ohren der Bewohner Nem-Salems abgeſehen. 
Die „Freiwilligen“ hatten ſich bewaffnet, ſo gut es gehen 
wollte; da es an Flinten fehlte, hatten einige der 
Tapferen ſich mit Heugabeln, alten verroſteten Säbeln 
und derben Knütteln bewehrt, und da Eſſen und Trinken 
den menſchlichen Leib erhält, fehlte keinem der Schnapp— 
ſack mit Proviant, und die meiſten Milizmänner, welche 
ihren Blutdurſt zuvor mit der Schnapsflaſche zu löſchen 
ſich vorgeſetzt hatten, trugen ihre Whiskyflaſchen an einer 
Schnur, die um den Hals gehängt war, und bei jeder 
Bewegung des Mannes klopfte ſie, bald zärtlich, bald un— 
wirſch auf den Bauch ihres Trägers. Es geſchah den 
vom Kriegs- und Soldatenweſen ſo weit abgekommenen 
Republikanern nicht ſelten, daß ſie rechts und links ver— 
wechſelten, daß die Glieder wie bei einem zerſchnittenen 
Regenwurm ſich löſten und nach verfchiedenen Seiten 
auseinanderfuhren, ja, daß auch der Kapitän mit dem 
Dreimaſter ſelbſt in Verlegenheit war, ob er rechts oder 
links kommandiren ſollte. In ſein Kommando redete 
auch wohl Gevatter Hinz und Kunz hinein und es ent— 
ſpann ſich eine gemüthliche Unterhaltung, über der man 
das Exerciren ganz vergaß. Die komiſchen Auftritte 
machten den ohnehin gut gelaunten Kapitän nur noch 
luſtiger, und mit ſeinem guten Humor brachte er ſchließlich 
doch wieder Alles in's rechte Geleis. Daß, wenn dieſe 
Hinterwäldlerſchaar mit den Rothhäuten zuſammengekom— 
men wäre, fie tüchtig darauf losgeſchlagen und geſchoſſen 
hätte, iſt ohne Zweifel. Aber als ſie nun in einem abge⸗ 


— 6 — 


legenen Poſten im Walde Halt zu machen kommandirt 
wurde, da zeigte ſich weder bei Tag noch bei Nacht auch nur 
ein einziger Indianer, und die Miliz von New-Salem 
hatte ſich nur im geduldigen Warten, im Hungern und 
Durſten — denn die Ration wurde mit jedem Tage 
geringer — und im Kampfe mit den Muskito's geübt. 

Als Lincoln im Kongreß 1848 auf ſeinen Feldzug 
von 1832 zu ſprechen kam, äußerte er ſich in ſeiner humori— 
ſtiſchen Weiſe alſo: 

„Halten Sie mich, meine Herren, für einen Kriegs— 
helden? Im Black-Hawk⸗Kriege freilich habe ich gefochten, 
geblutet und bin entronnen. Doch mein Schwert habe 
ich nicht zerbrochen, denn ich hatte keins zu brechen, aber 
einſt verbog ich eine Muskete. Als General Caß ſein 
Schwert zerbrach, that er es, wie mir ſcheint, aus Ver— 
zweiflung; als ich meine Muskete verbog, geſchah es nur 
aus Zufall. Wenn General Caß es mir im Heidelbeer— 
pflücken zuvorthat, jo übertraf ich ihn in räuberiſchen An⸗ 
fällen auf wilde Zwiebeln. Wenn er einen lebendigen, 
ſtreitbaren Indianer ſah, dann ſah er jedenfalls mehr als 
ich; ich meinerſeits hatte wohl manches blutige Gefecht, 
aber nur mit Muskitos, und wenn ich auch nie wegen 
Blutverluſtes in Ohnmacht ſank, ſo paſſirte es mir zu⸗ 
weilen doch beinahe — aus Hunger.“ 

Wenn aber Lincoln auf ſeiner kurzen kriegeriſchen 
Laufbahn keine Gelegenheit fand, ſich auszuzeichnen, ſo 
hatte ſein Anſehen und ſein Ruf bei ſeinen Mitbürgern 
doch bedeutend gewonnen, und ſeine Erwählung zum 


— \. 


Kapitän durfte ihn mit gerechtem Stolze erfüllen, wie fie 
ihm denn auch die Nothwendigkeit fühlbar machte, ſich 
noch weiter in der geſellſchaftlichen Stellung emporzuar— 
beiten. „Mit Ausnahme eines Jahres“, äußerte ſich 
ſpäter der ehrliche Abraham, „hat mich nie der Hoch— 
muthsteufel gepackt. Damals bildete ich mir, offenherzig 
geſtanden, etwas oder richtiger ſehr viel auf meine großen 
Hände ein, die ich ſpäter mit ganz andern Empfindungen 
betrachten lernte. Die langen Arme, welche ſich an den 
Händen befanden, kamen mir ganz unſchätzbar vor. Kein 
Hunderttauſend-Dollars- Mann kann ſeine Papiere mit 
größerer Zärtlichkeit, mit zufriedenerem Stolze betrachten, 
als ich auf meine Arme blickte. Der Kopf ſchwirrte mir 
von Plänen; allein ich muß geſtehen, daß bei dieſen Plänen 
die Arme und Hände ſtets die eigentliche Grundlage aus— 
machten. Vom Shopkeeper-Gehilfen gedachte ich mich 
bald zum Shopkeeper (Kaufmann) empor zu arbeiten — 
eine glänzende Ausſicht mit unbeſtimmten Vorſtellungen 
vom Anſprechen des Benefit (beim Bankerott) im Hinter- 
grunde. Arme und Hände waren dann wieder mein 
Troſt, der Anfang und das Ende meiner Träume. Der 
„ſchwarze Falke“ machte aus dem Ladendiener einen 
Kapitän, ich will nicht ſagen, daß ich expreß vom Black 
Hawk mein Patent erhielt, aber ich hatte doch, gleich unje= 
ren Feldherrn, mir vom Black Hawk ein Stück Ruhm — 
eine Art von Skalp — herabgeſchunden. Kapitän iſt ein 
merkwürdiges Wort. Ein Kapitän kann doch kein Laden- 
diener werden, wenn er ſeiner alten Kompagniemannſchaft 


a 


gegenüber auf Hochherzigkeit, „Pluck“, Anſpruch erheben 
will. Und ſo iſt's denn der Hochmuthsteufel, der mich 
wie der Engel des Habakuk beim Kopfe nahm und mir 
zeigte, daß mein Daumen und meine beiden rechten Vor— 
derfinger ſich mit dem Reſte der rechten und mit der gan— 
zen linken Hand zu meſſen vermöchten und daß, Alles 
richtig gerechnet, meine Zunge ſchwerer wiegen könne als 
meine beiden langen Arme. Wen aber der Teufel einmal 
gepackt hat, den läßt er ſobald nicht wieder los. Er zeigte 
mit dem Daumen über die Schulter, daß in der Kom— 
pagnie, die von den böſen Engeln Kuthriel und Dalziel 
(Habſucht und Ergeiz) kommandirt wird, noch ein Plätz— 
chen als Freiwilliger offen gelaſſen ſei. Ich warf den 
Ladendiener unter den Ladentiſch und ging als hoffnungs— 
voller Rechtsgelehrter von dannen. Meine Lieutenants 
waren faſt alle Advokaten geworden, und ihr Kapitän 
zeigte, ſo hoffe ich, daß er noch immer würdig ſei, die 
wackeren Jungen zu kommandiren.“ 

So ſehr Lincoln nach ſeinem innerſten Weſen zum 
Rechtsanwalt berufen war, ſo erging es doch ihm, wie ſo 
vielen anderen großen Männern vor und nach ihm, — 
die liebe Noth trieb ihn auf den Weg, der ſchließlich zum 
Ziele führte und der beſte war. Es waren die Schulden, 
die er gemacht hatte und die er als ehrlicher Mann be— 
zahlen wollte, aber mit bloßer Handarbeit und Tagelöhnen 
nicht tilgen konnte, welche ihm den Gedanken nahe legten, 
ſich einer Beſchäftigung zuzuwenden, die ihm ſo viel ein⸗ 
brächte, daß er einen Theil des Erworbenen zurücklegen 


könnte. Und fo ftellte ſich der Beruf des Advokaten als 
das glänzende Ziel vor ſeine Seele, dem er zuſteuern 
müſſe. 

Als er nach ſeinem dreimonatlichen Feldzuge nach 
New⸗Salem zurückkehrte, war eben Wahlbewegung für 
die geſetzgebende Verſammlung des Staates Illinois. 
Seine Mitbürger, wie ſie den klugen und charakterfeſten 
Abraham Lincoln durch Erwählung zum Hauptmann der 
Miliz geehrt hatten, wollten ihn auch für die Legislatur 
zum Abgeordneten erwählen; er erhielt von 274 Stimmen 
nicht weniger als 267. Lincoln war für den milden 
verſöhnlichen Staatsmann Heinrich Clay, der auf Seiten 
der Whigs ſtand; hatte er doch ſchon als Knabe deſſen 
Lebensbeſchreibung mit hoher Freude geleſen und den 
verehrten Mann in ſein Herz geſchloſſen! Aber die De— 
mokraten, welche damals noch Hand in Hand mit den 
Sklavenbeſitzern der Südſtaaten gingen, hatten auch in 
Illinois noch das Uebergewicht und es ward in den anderen 
Wahlbezirken der demokratiſch geſinnte General Jackſon 
durchgeſetzt. 

Was nun beginnen? Mit der Art das Hinterwäldler 
Farmerleben fortſetzen, das wollte und konnte er nicht. 
Da bot ihm ein früherer Bekannter von ihm die Theil— 
haberſchaft an einem Krämergeſchäft an, das derſelbe in 
New⸗Salem zu gründen im Begriffe ſtand; Verluſt und 
Gewinn ſollte zwiſchen beiden Aſſocies gleich getheilt 
werden. Der arme Schlucker hatte aber alle ſeine 
Waarenvorräthe er und hoffte, durch Abraham 

Jad.⸗Bibl. 3. 4 


— 50 — 


Lincoln fein Geſchäft empor zu bringen. Zu dieſem 
Zweck wollte er auch einen Branntweinſchank eröffnen, 
was Lincoln, ein ſtrenger Anhänger des Enthaltſamkeits— 
prinzips, der weder geiſtige Getränke genoß noch Tabak 
rauchte, entſchieden verweigerte. Der Aſſocie übernahm 
am Ende den alleinigen Betrieb des Kramladens, der 
aber bald geſchloſſen werden mußte. Der arme Abraham 
verlor dabei nicht nur alle ſeine Erſparniſſe, ſondern 
wurde auch für eine Schuldenlaſt von 1100 Dollars ver- 
antwortlich. 

Das Unglück, weit entfernt, ihn muthlos zu machen, 
regte alle feine Kräfte auf. Hatte er doch in den Bio— 
graphien Plutarchs, in den Lebensbeſchreibungen Waſhing⸗ 
tons und Benjamin Franklins das Hochbild von Mäns 
nern angeſchaut, die auch mit des Lebens Noth und Wider- 
wärtigkeiten hatten kämpfen müſſen! Hatte doch der ge= 
feierte Held Waſhington ſich auch erſt durch geraume Zeit 
hin als Feldmeſſer ſein Brod verdienen müſſen und wie 
ſauer waren dem wackeren Franklin die Lehrjahre gewor— 
den! Daß Lincoln, nachdem er als Hauptmann bei ſeinen 
Mitbürgern ſo viel Achtung genoſſen und als Abgeordne— 
ter zu wirken für würdig erachtet worden war, ſich mit 
einem abgetragenen Anzuge behelfen mußte, der immer 
fadenſcheiniger wurde; daß er bei aller Mäßigkeit und 
Einſchränkung oft nicht wußte, woher ihm das tägliche 
Brod kommen und wohin er ſein Haupt legen ſollte; das 
war hart genug. Aber ſein Gottvertrauen hielt ihn 
aufrecht und es täuſchte ihn nicht. 


— 51 — 


Zunächſt ward ihm die Poſtmeiſterſtelle von New» 
Salem verliehen. Das war freilich ein ſehr unbedeuten— 
der Poſten, der wenig einbrachte, aber doch das Gute hatte, 
daß er ſeinen Inhaber mit vielen Leuten in Berührung 
brachte, ihm manchen Freund erwarb, auch Zeit genug 
ließ, um durch Selbſtſtudien ſich fortzubilden. Von einem 
Advokaten der Nachbarſchaft lieh er ſich juriſtiſche Bücher 
— denn zum Ankauf der Bücher fehlte ihm das Geld, — 
und um ſeinem Gönner, der vielleicht dieſe Werke den 
Tag über ſelber brauchen mußte, nicht beſchwerlich zu 
fallen, holte er das Buch am Abend, las und ſchrieb daraus 
bis tief in die Nacht hinein und brachte es am andern 
Morgen dem Eigenthümer wieder zurück. Auch durch 
fleißiges Leſen der Zeitungen, die er als Poſtmeiſter aus 
erſter Hand bekam, wußte er ſeine juriſtiſchen und poli— 
tiſchen Kenntniſſe zu erweitern und ſich fortzubilden. 
Schon damals ward ſein ſtets praktiſcher Rath und 
treffendes Urtheil vom Volke ſehr geſucht, und ſtatt zu 
einem Advokaten zu gehen, kamen viele zu dem Poſtmeiſter 
Lincoln, um in verwickelten Streitigkeiten oder ſchwierigen 
Rechtsfällen ſeinen ehrlichen Rath zu vernehmen. 

Glücklicherweiſe dauerte es nicht lange, bis ſich dem 
braven Manne eine Gelegenheit darbot, um Geld zu ver— 
dienen und die Gläubiger befriedigen zu können. Dieſe 
waren zwar durchaus nicht ungeduldig geworden, ſie hat— 
ten zu Lincolns Redlichkeit das beſte Vertrauen, aber dem 
Schuldner fiel es immer ſchwerer auf's Herz, wenn er 
einem ſeiner Gläubiger begegnete. In ganz Illinois 


I EB 


herrſchte damals eine wahre Leidenſchaft, Stadt- und 
Landgrundſtücke zu vermeſſen und auszuweiſen. Eine 
Vermeſſungsgeſellſchaft hatte an dem Centralpunkte 
Chicago ihren Sitz und machte von dort aus ſehr gute 
Geſchäfte. Nach allen Richtungen hin wurden Baupläne 
für neu zu gründende Städte und Ortſchaften abgeſteckt 
und zum Verkauf ausgeboten. Der damalige Landver— 
meſſungschef von Sangamon-County, John Calhoun, 
der einige Jahre ſpäter in dem Streit über die Kanſas— 
Angelegenheit eine ſo hervorragende Rolle ſpielte, machte 
unſerm Lincoln den Vorſchlag, die Vermeſſungen für 
feinen Diſtrikt zu übernehmen. Der rüſtige, arbeitsluftige - 
Hinterwäldler erklärte ſich ſogleich bereit dazu, obwohl 
er nichts von der Mathematik und Feldmeßkunſt verſtand. 
Er verſchaffte ſich alſo die nöthigen Bücher, um ſich in 
das neue Fach hineinzuſtudiren, nahm Kompaß und 
Meßkette und zog hinaus in's Freie, um ſein Werk zu 
beginnen. 

Die Arbeit war viel ſchwerer und mühſeliger, als er 
fie ſich vorgeſtellt hatte, denn es mußten die unwirthbarſten, 
wildeſten Gegenden durchzogen werden; oft ging's durch 
bodenloſe Sümpfe oder durch angeſchwollene Waldbäche, 
oder es mußte auf einem Flecke Halt gemacht werden, wo 
ein Heer von Muskito's auf Geſicht und Hände ſtürzte und 
alle Thätigkeit zu hemmen drohte. Nicht immer war 
ein Blockhaus in der Nähe, das für die Nacht einen ge— 
ſchützten Lagerplatz bot, dann ward unter dem offenen 
Himmelszelt das Nachtlager gehalten. Die zähe Natur 


EN RM 


Lincolns war jedoch allen Wechſelfällen gewachſen und da 
ſeine Arbeit gut bezahlt ward, ſo ließ er nicht nach und 
hatte nach Jahresfriſt die Genugthuung, alle ſeine Schul— 
den bezahlt zu ſehen. Nun konnte er wieder als unab— 
hängiger Mann in New-Salem erſcheinen, konnte freier 
ſein Haupt erheben und miethete ſich als ſogenannter 
„Boarder“ bei einer Familie ein, wo er Koſt und Logis 
zahlte. 

Seine Vermeſſungsarbeiten ſetzte er fort, und dieſe 
entfernten ihn mitunter Wochen lang von ſeinem Wohn— 
orte. Auch das Rechtsſtudium ward eifrig fortgeſetzt und 
jeder freie Augenblick mit dem Leſen juriſtiſcher Bücher 
ausgefüllt. Das ſtille häusliche Leben bei Miſter Cameron, 
deſſen Koſtgänger er war, gefiel ihm; als er aber durch 
Cameron mit deſſen Geſchäftsgenoſſen, Miſter Rutledge, 
bekannt geworden war, und den ſehr gemüthlichen Fami— 
lienkreis dieſes Mannes näher kennen gelernt hatte, zögerte 
er nicht, ſich bei den Rutledge's einzuniſten. Der Magnet, 
der ihn gewaltig anzog, war wohl nicht Herr oder Frau 
Rutledge, ſondern Anna, die ſchöne Tochter des Hauſes, 
die mit tugendſamer Häuslichkeit einen feinen, gebildeten 
Geiſt und ein edles Herz vereinte, jo daß auch dem wacke— 
ren Abe das Herz aufging, wenn er ſich mit ihr unterhielt. 
Je mehr ſich beide junge Leute kennen lernten, deſto 
inniger wurde das Band, das ihre Herzen umſchlang. 
Miß Anna hatte ſich durch das äußere rauhe und linkiſche 
Weſen Abe's nicht über deſſen tieferen Gehalt und Werth 
täuſchen laſſen, und fühlte ſich ſympathiſch zu ihm hinge⸗ 


— 7 


zogen. In der treuen Seele Lincolns, der bis jetzt fo 
ſehr mit Arbeit und eigener Ausbildung beſchäftigt gewe— 
ſen war, daß er an Frauenliebe gar nicht gedacht hatte, 
ſchlug die edelſte Neigung ſchnell tiefe Wurzeln. Aber dies 
Verhältniß nahm bald ein trauriges Ende. Miß Anna 
hatte ſich vor längerer Zeit mit einem jungen Schotten 
verlobt, der nach New-York gewandert war und fein 
Wort hatte von ſich hören laſſen. Sie glaubte ſich von 
ihm vergeſſen und verlaſſen und ſchloß mit dem von ihr 
hochrerehrten Lincoln den Herzensbund. Da kam aber 
ein Brief von dem Schotten, der nicht unehrenhaft ge— 
handelt hatte, ſondern von einer ſchweren Krankheit heim— 
geſucht worden war. Leichenblaß und mit verweinten 
Augen trat das ſchöne Mädchen zu Abe und ſtammelte: 
„Wir müſſen entſagen, Abe!“ Und als der beſtürzte 
Mann das Nähere erfahren, ſprach er auch: „Wir müſſen 
entſagen!“ „Aber ich werde, das fühle ich jetzt, ihm ebenſo 
wenig angehören als Dir“, fuhr Anna fort, indem ſie die 
Hand auf das zuckende Herz preßte, „ich werde bald 
ſterben!“ Lincoln ſuchte dem Mädchen die Todesgedanken 
auszureden. Aber vergeblich. Sie zog bald ſtill auf eine 
einſame Farm weſtlich von New-Salem gelegen und ſank 
dort in's fruhe fühle Grab. So endete die Jugendliebe 
Lincolns. 

In einem Leben, das bis zum letzten Athemzuge Ar— 
beit und Kampf und Wirken nach außen war, mochte ich 
dieſen Zug aus der Gemuthswelt des edlen Mannes nicht 
übergehen. 


5 


Abraham Lincolns Stern war im Aufſteigen be⸗ 
griffen; er erhob ſich immer höher und glänzender. Noch 
hatte er nicht die Advokatenwürde erlangt und kaum ſein 
fünfundzwanzigſtes Lebensjahr zurückgelegt, als er ſchon 
zum Abgeordneten für den geſetzgebenden Körper ſeines 
Staates erwählt wurde und zwar mit einer größeren 
Majorität von Stimmen, als je ein Candidat erhalten 
hatte. Mit ihm wurde ſein Freund, Major John F. 
Stuart, damals ein bekannter Advokat, gewählt. Da er 
zuvor erſt ſelber hören, prüfen, ſich Einſicht verſchaffen 
wollte, ehe er zum Reden ſich anſchickte, ſo begnügte er ſich 
während der erſten Seſſion mit einer beobachtenden Rolle, 
folgte ſehr aufmerkſam den Debatten, miſchte ſich aber 
ſelber nicht in den Kampf. Die Mehrzahl der Geſetzge— 
ber von Illinois hatten Großes von Lincoln erwartet 
und ſtimmten nun ihre Meinung von ſeinen Fähigkeiten 
herab. Nur einige wenige ſcharfblickende Männer ließen 


ſich nicht irre machen in ihrer Schätzung der geiſtigen 


Fähigkeiten Lincolns. Als dann der berühmte politiſche 


Agitator Stephen A. Douglas von Vermont nach Illinois 
herüberkam und mit keinem anderen als mit Abraham 
Lincoln in freundſchaftliche Verbindung trat, überraſchte 
das die Freunde wie die Gegner des jungen Mannes. 
Im Jahr 1836 fühlte ſich Lincoln ſtark genug, die 
Prüfung als Rechtsanwalt beſtehen zu können, und im 
Herbſt dieſes Jahres ward ihm die Advokaten-Licenz aus⸗ 
gefertigt. Im April des folgenden Jahres ſiedelte er 
nach Springfield, dem Hauptorte des Staates Illinois 


— 56 — 


über und ward von ſeinem Freunde Stuart als Partner 
in deſſen Bureau aufgenommen. Bald zeigte ſich's daß 
er ein Advokat erſten Ranges war, der mit gründlicher 
Kenntniß des amerikaniſchen Rechtsweſens eine überzeu- 
gende Kraft der Darſtellung verband und die verwor⸗ 
renſten und ſchwierigſten Fragen auch für den einfachſten 
Menſchenverſtand ſchnell zu entwirren und klar zu machen 
verſtand, beſonders geſucht war Lincoln als Vertheidiger 
bei den Sitzungen des Schwurgerichtes, er übernahm 
aber auch nur die Vertheidigung einer Sache, von deren 
Gerechtigkeit er überzeugt war. Mit ſpitzfindigen Reden 
und Sachwalterkünſten eine ſchlechte Sache zu vertheidigen 
und aus ſchwarz weiß, aus links rechts zu machen, das 
war ihm zuwider. 

Unter vielen Rechtsfällen möge nur der folgende, 
welcher allerdings auch zu den ausgezeichnetſten gehörte, 
hier eine Stelle finden. 

Eines Tages, da Lincoln in den Zeitungen blätterte, 
fand er unter der Tageschronik eine Notiz, daß ein ge— 
wiſſer Armſtrong, der älteſte Sohn und die einzige Stütze 
einer armen Wittwe, die auf einer kleinen Farm nächſt 
Petersburg lebe, während eines Camp-Meetings und bei 
einer Nachts ſtattgehabten Schlägerei ergriffen und feſt— 
genommen worden ſei, da man ihn nicht ohne Grund 
beſchuldige, einen jungen Mann ermordet zu haben, der 
bei der Rauferei ſein Leben eingebüßt hatte. 

Rechtsanwalt Lincoln gerieth in große Aufregung. 
„Armſtrong“ — „kleine Farm bei Petersburg“ — das 


— 57 — 


war die Familie, die ihn als Jüngling gaſtfrei aufgenom⸗ 


Studien begonnen hatte! Er hatte den Sohn wohl als 
einen etwas leichtſinnigen Menſchen kennen gelernt, aber 
als einen Verbrecher konnte er ihn ſich nicht denken. Da 
Springfield der County-Sitz war, ſo mußte der arme 
junge Mann jedenfalls dahin abgeliefert werden und die 
Jury über ihn aburtheilen. Der edle Lincoln erkundigte 
ſich ſogleich näher nach der Sache, erfuhr, daß demnächſt 
eine Schwurgerichtsſitzung ſtattfinden werde, und daß eine 
kurze Vorunterſuchung vor dem Friedensrichter die Schuld 
des jungen Armſtrong ſo gut wie erwieſen erſcheinen laſſe, 
da der Angeklagte nichts Stichhaltiges wider die Aus— 


ſagen ſeines Anklägers vorzubringen vermochte. 


Lincoln erwirkte ſich deu Zutritt zum County⸗ 
gefängniſſe, wo der Gefangene ſaß. Trauriges Wieder— 
ſehen eines alten Bekannten! Er fand den jungen Arm— 
ſtrong verſtört und tief gebeugt; er betheuerte aber feſt und 


eindringlich ſeine Unſchuld. Nachdem ſich Lincoln den 


ganzen Vorgang genau hatte erzählen laſſen und ver⸗ 


ſchiedene Fragen an den jungen Mann geſtellt hatte, kam 


er zur Ueberzeugzung, daß man denſelben fälſchlicher Weiſe 
der Verbrechens beſchuldige. Doch das falſche Zeugniß 
zu entkräften, ſchien faſt unmöglich. N 

Die Zeitungen nahmen alle gegen den Angeklagten 
Partei; die abſurdeſten Gerüchte aus ſeinem früheren 


Leben, die auf einen jähzornigen, rohen Character 


ſchließen laſſen jollien, wurden in Umlauf gejegı und jo 


— 58 — 5 


die Menge gegen den vermeintlichen Mörder zu wirklicher 
Wuth aufgeſtachelt. Seine Verurtheilung ſchien Allen 
im Voraus gewiß. 

Unter ſolchen Umſtänden traute Lincoln der Jury 
von Springfield keine unbeſangene Prüfung des Falls zu 
und das Erſte, was er mit richtiger Würdigung der Ver— 
hältniſſe that, war, daß er die ganze Gerichtsverhand— 
lung in ein anderes County verlegte und eine ſoge— 
nannte change of venue erwirkte. Die Verhandlung 
wurde vertagt und der Gefangene von Springfield nach 
Taylorsville transportirt. Dann arbeitete Lincoln in 
aller Stille ſeine Vertheidigungsrede aus. 

Die Stunde des „Trials“ erſchien, welche über Leben 
oder Tod des Gefangenen entſcheiden ſollte. Das 
Courthaus (der Gerichtshof) war ſchon ſtundenlang vom 
Publikum belagert worden. Endlich ward der Saal ges 
öffnet; der Richter, die Männer der Jury, der öffentliche 
Ankläger (Prosecuting attorney), die Zeugen und der 
Vertheidiger des Angeklagten nahmen ihre Sitze ein und 
die Gerichtsſchreiber legten ihre Protokollpapiere zurecht 
und ſpitzten die Federn. 

Die alte unglückliche Mutter Armſtrongs war auch 


erſchienen, der Verhandlung, die gegen ihren Sohn ges 


führt ward, beizuwohnen. Bleich und kummervoll, vom 
Schmerz niedergebeugt, ſaß ſie auf einer der vorderſten 
Bänke, die Hände gefaltet, nur die Lippen regend im 
ſtillen Gebet. Nun ward der Gefangene vom Sheriff 
und deſſen Untergebenen in den Saal geführt und Aller 


— 59 — 


Blicke waren auf den jungen Mann gerichtet, der zwar in 
tiefer Niedergeſchlagenheit und ſehr ermattet einherging, 
aber doch gar nicht wie ein Verbrecher ausſah. „O mein 
Gott!“ rief die arme Mutter; der unglückliche Sohn 
erblaßte noch mehr, als er ſie ſah, er regte die Lippen, 
doch kein Laut kam über dieſelben; er wankte unſicher 
auf ſeinen Platz. 


Die Verhandlung begann. Der öffentliche Kläger 
erhob ſich und trug die Anklage vor. Dann ging's an's 
Zeugenverhör. Derjenige Burſche, deſſen Zeugniß am 
beſchwerendſten lautete, war ein blaſſer, hagerer Menſch 
mit unſtetem Blick und ſehr gemeinen Zügen. Er war ein 
Kamerad des Erſchlagenen geweſen, hatte ſich aber gegen 
Armſtrong ſtets feindlich bewieſen. Mit gehäſſigem Eifer 
betheuerte er, daß er mit eigenen Augen geſehen habe, 
wie der junge Armſtrong ſich mit einem Meſſer auf den 
Getödteten geſtürzt habe. 

Abraham Lincoln hatte bis dahin ganz ruhig und 
ſcheinbar theilnahmslos dageſeſſen. Nun aber richtete er 
ſeine Fragen an dieſen Hauptzeugen. 

„Ihr ſeid von den ſoeben vernommenen drei Zeugen 
der einzige, der das ſah, ſoviel ich weiß.“ 

„Ja, Sir. Ich war im Handgemenge unmittelbar 
neben beiden!“ 

„Um welche Stunde ſaht Ihr es.“ 

„Zwiſchen halb zehn und zehn Uhr, Sir!“ erwiderte 
der Zeuge trotzig. 


„Ja, ja, um zehn Uhr,“ bemerkte Lincoln trocken. 
„Aber da war es ja völlig finſter!“ 
dein, Sir! der Mond ſchien fo hell, daß ich hätte 
eine Zeitung leſen können!“ war die Antwort. 

„So, ſo!“ Lincoln machte keine weitere Bemerkung 
und begann nun ſeine Vertheidigungsrede. Er hob vor 
Allem hervor, daß der Angeklagte wohl etwas leichtſinniger 
Natur, aber niemals ſchlecht geweſen ſei, wie ſolches durch 
vollgültige Zeugniſſe auch feſtgeſtellt worden. Mit ein- 
ſchneidender Schärfe ging er dann auf die Widerſprüche 
ein, die ſich in den verſchiedenen Zeugenangaben zeigten 
und von Niemand beachtet worden waren, nun aber allen 
Anweſenden einleuchteten. Indem er das Gewebe einer 
teufliſchen Bosheit in der Anklage bloslegte, ward ſeine 
Rede immer gewaltiger und der falſche Hauptzeuge wurde 
ſichtlich davon getroffen. Zwar ſuchte er ſeine Verlegen— 
heit unter einem finſteren, trotzigen Blicke zu verbergen, 
aber er wurde blaſſer, während des jungen Armſtrongs 
Wangen wieder Farbe bekamen. Als aber Lincoln ſchließ— 
lich einen Kalender aus der Taſche zog und nachwies, daß 
an jenem Tage oder Abende der Mond um zehn Uhr noch 
gar nicht habe ſcheinen können, weil er erſt um Mitter⸗ 
nacht aufgegangen ſei, da ward die ganze Verſammlung 
tief ergriffen, Beſtürzung malte ſich auf dem Geſicht des 
frechen Zeugen und Jeder war von des Angeklagten Un⸗ 
ſchuld überzeugt. 

Die Geſchworenen zogen ſich nur kurze Zeit zurück; 
bald erſchienen ſie wieder und ertlärten: Nicht ſchuldig! 


„ 


Die begeiſterte Menge empfing dieſen Spruch mit Jubel⸗ 
geſchrei. Mutter Armſtrong ſchwankte zu ihrem Sohn, 
die zitternden Arme ihm entgegenſtreckend; ſprachlos, 
vom Glück überwältigt, ſank er an die Mutterbruſt und 
Lincoln feierte eine der ſchönſten Stunden ſeines Lebens. 
Beſcheiden hatte er ſich in eine Ecke des Saales zurückge— 
zogen und ſtand am Fenſter, durch das die untergehende 
Sonne ihr Purpurlicht goß; ihre Strahlen verklärten 
die hohe Stirn des Mannes, der im Bewußtſein eine gute 
That vollbracht zu haben, in ruhiger Würde ſich den Lob— 
preiſungen der Menge entzog. Der junge Armſtrong eilte 
zu ſeinem Befreier und war ſo ergriffen von Dankbarkeit, 
daß er nicht die rechten Worte finden konnte. Ueber 
Lincolns Geſicht ging ein mildes, zufriedenes Lächeln; er 
ſtellte ſeinen Schützling an's Fenſter, zeigte ihm die in 
roſiger Glut ſchwimmende Sonne und ſprach: „Seht, die 
Sonne iſt noch nicht untergegangen und Ihr ſeid frei!“ 
Zu ſeiner Mutter hatte er am Morgen dieſes Tages ge— 
ſagt, daß er ihr den Sohn noch vor Sonnenuntergang 
zurückgeben werde. 

Lincolns Ruhm als Sachwalter ſtieg mit jedem neuen 
Rechtsfall, den er übernahm, und er mußte oft weite 
Reiſen in die Umgegend machen, weil man ſeiner Hilfe 
in ſchwierigen Prozeſſen nicht entbehren mochte. Wer 
Freude am Schaffen und Wirken hat und für ſeinen 
Thätigkeitstrieb den rechten Kreis findet, der iſt glücklich. 
Lincoln fühlte ſich in der „Blumenſtadt“ (wie man 
Springfield auch wohl nannte) um ſo glücklicher, als er 


dort im Haufe des Doktors Todd eine junge Tochter 
fand, die er bald die ſeine nennen durfte. Es war die 
ſchöne, fiebenzehnjährige Miß Mary, welche dem zweiund— 
reichte und ihm fortan eine Häuslichkeit bereitete, in der 
er ſich wohl fühlte, und nach allen Anſtrengungen und 
Arbeiten ſeines Berufes die befie Erholung fand. 

Viel freie Stunden waren dem ſtrebſamen Manne 
freilich nicht beſcheert, denn noch ehe er die Advokaten— 
Licenz erhalten hatte, ward er im Jahre 1836 ſchon zum 
zweiten Mal in die Legislatur gewählt. Sein Redetalent 
war in den Parteikämpfen unſchätzbar und dazu kam ſeine 
Begeiſterung für Wahrheit und Recht, die ſich Jedem 
fühlbar machte, der ihn ſah und hörte und ſelbſt jeinen- 
Gegnern gewaltig erſchien. Er führte den geraden 
Schwerthieb des Wortes, und wenn er auch in ſchonender 
Weiſe dieß und jenes nur verblümt oder in witziger An— 
ſpielung zu ſagen beliebte, ſo traf er doch ſtets in's 
Schwarze und war des Erfolges gewiß. 

Als er in New-Salem zum zweiten Male in die 
Legislatur gewählt werden ſollte, ſuchte ihm Oberſt Allen 
dadurch entgegenzuwirken, daß er Abe's politiſche Geſin— 
nung und Aufrichtigkeit verdächtigte. Darauf ſchrieb dieſer 
folgenden Brief: 

New⸗ Salem, 21. Juni 1836. 
Werther Oberſt! 

Es iſt zu meiner Kenntniß gelangt, daß Sie während 

meiner Abweſenheit von hier letzte Woche durch unſern 


RER RR 


Ort gekommen ſind und öffentlich erklärt haben, Sie ſeien 
im Beſitze einer Thatſache oder von Thatſachen, welche, 
wenn das Publikum ſie erfahren würde, N. W. Edwards 
und meine Ausſichten für die kommende Wahl vernichten 
müßten; daß Sie aber aus Wohlwollen für uns darüber 
ſchweigen würden! 

Niemand hat des Wohlwollens mehr bedurft, als 
ich, und Wenige mögen im Allgemeinen weniger abgeneigt 
geweſen ſein, es entgegenzunehmen; aber in dieſem Falle 
würde ein Wohlwollen gegen mich eine Ungerechtigkeit 
gegen das Publikum fein und daher muß ich um Entſchul— 
digung bitten, wenn ich es hiermit ablehne. Daß ich einſt 
das Vertrauen des Volkes von Sangamon-County be- 
ſaß, iſt hinreichend klar, und hätte ich ſeither etwas be- 
gangen, ſei es vorſätzlich oder unvorſätzlich, das, wenn 
enthüllt, mich dieſes Vertrauens unwürdig machen müßte, 
ſo wäre derjenige, dem ſolche Fakta bekannt ſind und 

der ſie verſchweigt, ein Verräther an der Sache ſeines 
Landes. 

Ich befinde mich durchaus nicht in der Lage, auch 
nur ahnen zu können, welches Faktum oder welche Fakta, 
ſeien dieſe beſtimmt oder muthmaßlich, Sie haben andeu⸗ 
ten wollen. Aber meine Meinung von Ihrer Wahrheits— 
liebe wird mir auch nicht einen Augenblick geſtatten, zu 
zweifeln, daß Sie wenigſtens glauben, was ſie ſagen. Die 
perſönliche Rückſicht, welche Sie mir bezeugt haben, iſt 
mir ſchmeichel haft; doch hoffe ich, daß Sie nach reiflicher 
Ueberlegung das öffentliche Intereſſe als die höchſte 


— 


Rückſicht betrachten und ſich daher entſchließen werden, 
ſelbſt das Schlimmſte über mich ergehen zu laſſen. 

Ich gebe Ihnen hiermit die Verſicherung, daß eine 
redliche Darlegung von Thatſachen Ihrerſeits, ſo ſehr ſie 
mich auch herabwürdigen möge, dennoch nicht die Bande 
unſerer perſönlichen Freundſchaft lockern werde. 

Ich wünſche eine Antwort auf dieſes Schreiben und 
es ſteht Ihnen frei, beides zu veröffentlichen, wenn es 


Ihnen beliebt. 
Hochachtungsvollſt 
Dem Oberſt Robert Allen. A. Lincoln. 


Im Jahre 1838 und 1840 ward Lincoln abermals 
gewählt und zum „Sprecher“ ernannt; er galt bereits für 
die bedeutendſte politiſche Perſönlichkeit in Illinois, und 
ſeine Partei, die Whigs, folgten ihm mit unbedingtem 
Zutrauen auf Tritt und Schritt. Die Whigs verlangten 
eine kräftige Centralgewalt, die Demokraten hingegen 
ſtrebten nach Decentraliſation, d. h. ſie wollten die Einzel— 
ſtaaten mit größter Machtfülle und möglichſt vielen Be— 
fugniſſen ausrüſten, und da dieſes hauptſächlich im 
Intereſſe der ſüdlichen Sklavenſtaaten lag, welche bekannt— 
lich die Sklaverei als ihre eigene „häusliche Angelegenheit“ 
betrachteten, in die der Norden nichts hineinzureden habe, 
und über die auch der Nationalkongreß nicht entſcheiden 
dürfe, ſo war der ganze Süden demokratiſch geſinnt. 
Aber auch im Nordweſten der Union und namentlich in 
Illinois zählte die demokratiſche Partei viele Anhänger. 


BIETER 


und bei ihrem heftigen, rückſichtsloſen Vorgehen hatten die 
Whigs und Republikaner einen harten Stand. 

Lincoln, nachdem er in den erſten vierziger Jahren 
ſich ganz ſeinem Berufs- und Familienleben hingegeben 
hatte, trat 1844 wieder in die Schranken des politiſchen 
Kampfplatzes. Es war eine neue Präſidentenwahl aus- 
geſchrieben; die Sklavenbarone des Südens im Verein 
mit den Demokraten des Nordens boten alle Mittel auf, 
ihren Candidaten, J. Knox Polk, durchzuſetzen, und 
wie es ihnen bei faſt allen früheren Wahlen gelungen war, 
gelang es ihnen auch diesmal. Die Whigpartei hatte ihr 
Auge auf ihren treuen und edlen Anhänger Henry 
Clay geworfen, den berühmten Kentucky-Staatsmann, 
der ſchon im Jahre 1830 zu Gunſten einer ſtarken Cen⸗ 
tralregierung, ſowie eines Schutzzollſyſtems aufgetreten 
war, das die Induſtrie der Nordſtaaten England gegen— 
über ſicher ſtellen ſollte, aber den Südſtaaten, die keine 
Induſtrie zu ſchützen brauchten und ſo billig wie möglich 


einkaufen wollten, verhaßt war. Henry Clay ward ſeines 


milden, verſöhnlichen Charakters willen ſelbſt von den 
gemäßigten Demokraten hoch geachtet; ſeine Anhänger 
legten ſich ſtolz den Namen Clay-Männer bei, und 
Abraham Lincoln, der ſchon als Knabe das Leben 
H. Clay's mit Begeiſterung geleſen hatte, hing ihm voll 
Verehrung an. Es galt nun, Clay gegen Polk in die 
Schranken zu führen und die öffentliche Meinung für die 
Whigpartei zu bearbeiten, und Lincoln entſchloß ſich auf 
das inſtändige Bitten ſeiner politiſchen Freunde, den 
Igd.⸗Bibl. 3 5 


BR 


Staat Illinois nach allen Richtun zen zu bereiſen, un an 
öffentlichen Orten oder in ausdrücklich berufenen Wahl— 
verſammlungen zu Gunſten Henry Clay's Reden zu hal— 
ten. Mit gewohnter Gründlichkeit und Klarheit jegre 
er die Grundſätze auseinander, auf den die Politik 
H. Clay's beruhte; er gewann zahlreiche Anhänger für 
ſeinen Candidaten, aber noch waren die Demokraten in 
Illinois zu ſtark und Lincoln merkte bald, daß er noch nicht 
durchzudringen im Stande ſei. Vier, ja ſechs Stunden 
lang faßte er auf dem Baumſtumpen (die übliche Redner— 
tribüne im Weſten) Poſto, machte lange Tagemärſche 
und ließ ſich keine Mühe verdrießen. Dann zog er über 
den Wabaſhfluß in ſeine frühere Heimath Indiana und 
fand auch da vielen Beifall. Doch der Zweck ward nicht 
erreicht, denn Polk erhielt 1,335,834 Stimmen und Clay 
nur 1,297,033. Der redneriſche Feldzug Lincolns war 
aber keineswegs unfruchtbar geweſen; er hatte die Partei 
geſtärkt und Lincolns große politiſche Befähigung und f 
redneriſche Kraft in den weiteſten Kreiſen berühmt gemacht. 
Wiederholt hatte der Demokrat John Calhoun, der 
Illinois durchzog, um für Polk zu werben, vor der mäch— 
tigen Beredſamkeit Abraham Lincolus die Segel ſtreichen 
müſſen, und doch war Calhoun einer der tüchtigſten Ned» 
ner ſeiner Partei. 

Im Jahre 1846 ward Lincoln zum Abgeordneten in 
den Kongreß der Vereinigten Staaten gewählt und nahm 
im folgenden Jahre ſeinen Sitz im Repräſentantenhauſe zu 
Waſhington ein. Dort erklärte er, daß er am Grundge⸗ 


ſetz der Union, das die Sklavenfrage offen gelaffen und 
ſie als Angelegenheit der Einzelſtaaten ſtillſchweigend frei 
gelaſſen habe, nichts geändert wiſſen wolle, und was die 
Weisheit der Väter beſchloſſen habe, das müſſe von den 
Nachkommen in Ehren gehalten werden. Aber — und 
damit trat er den nord- und ſüdſtaatlichen Heißſpornen 
gegenüber — daraus dürfe Niemand folgern, daß den 
neu hinzugekommenen Staaten die Sklaverei aufge— 
drungen werden müſſe. Er erklärte ſich gegen die An— 
nexion von Texas und den wegen derſelben entbrannten 
Krieg mit Mexico, den er als einen ungerechten verur— 
theilte. Da aber ſeine Stimme nicht durchdrang, war er 
wieder patriotiſch genug, nicht mit ſeinen Parteigenoſſen 
zu ſtimmen, welche einen Akt der Rache ausüben wollten, 
indem ſie den Kriegsmännern, die ſich an dieſem Kriege 
betheiligt hatten, den Sold vorenthielten. Er war für 
reichliche Beſchafſung der Mittel, damit die braven 
Unionsſoldaten nicht verkürzt würden, dagegen ſtimmte er 
für das ‚Wilmot Proviſo,“ das dem Präſidenten für die 
Bewilligung der geforderten Summe die Verpflichtung 
auferlegte, die Sklaverei von dem neu angeſchloſſenen 
(annektirten) Gebiete fern zu halten. Wilmot, Nepräfen- 
tant für Pennſylvanien, hatte nämlich den Antrag geſtellt, 
daß die Sklaverei in den neu erworbenen oder aufgenom— 
menen Staaten und Territorien der Union auf immer 
verboten werden ſollte. Dieſer Antrag wirkte recht eigent— 
lich als der chemiſch-wirkſame Stoff, der die bisherige 
Parteimiſchung zerſetzte. Es bildete ſich die Partei der 


SE ER 


freesoilers oder Freibodenmänner, die ſich gleichmäßig 
gegen alle direkten und indirekten Freunde der Sklaverei 
erklärte und den Humanismus auf ihre Fahnen ſchrieb. 
Im Jahre 1848 ward ein neuer Präſident gewählt; 
die Freeſoilers machten Martin van Buren zu ihrem 
Candidaten, die Whigs aber, auf deren Seite Lincoln 
war, ſtimmten für General Taylor, der auch im Süden 
beliebt war. Lincoln hatte noch immer eine verſöhnliche 
Politik im Auge, während der Süden nicht Einen Schritt 
that, um den Norden zu verſöhnen. Das zeigte ſich wieder 
im Streite wegen Californien. California war, ſo lange 
es zu Mexico gehörte, das wilde, von Indianerhorden 
durchzogene, unwegſame und unbebaute Land geblieben. 
Seine reichen Goldminen, von denen die Mexicaner 
nichts geahnt, und die auch, wenn ſie dieſelben gekannt 
hätten, ſchwerlich von ihnen wären ausgebeutet worden, 
waren den auf Entdeckungen begierigen Bewohnern der 
Vereinigten Staaten nicht entgangen. Mit reißender 
Schnelligkeit hatten ſich Tauſende von Yankee's, aber auch 
Tauſende von Irländern, Schweizern und Deutſchen an 
den californiſchen Flüſſen und in den von hohen Gebirgen 
eingeſchloſſenen Thälern des neuen Landes zuſammenge— 
funden und ſich da angeſiedelt. So kam es, daß Califor⸗ 
nien ſchon im Jahre 1848 eine hinlängliche Einwohnerzahl 
beſaß, um als freier Staat in die Union aufgenommen 
werden zu können. Die Südſtaaten aber widerſetzten ſich 
dieſem Eintritt. Und warum? Weil die Union gerade 
jetzt aus 15 freien und 15 Sklavenſtaaten beſtand. Wäre 


69 


nun das freie Californien dazu gekommen, ſo hätten die 
freien Staaten im Senat das Uebergewicht gehabt. Dieſe 
Widerſetzlichkeit war eine Auflehnung gegen das ſoge— 
nannte Miſſouri-Kompromiß. 

Im Jahre 1820 wäre es faſt auch ſchon zum Bürger- 
kriege gekommen, weil der Süden darauf beſtand, daß der 
neue Staat Miſſouri, obwol er ſeiner Lage nach zum 
Norden gehörte, zum Sklavenſtaat erklärt wurde. Der 
Zank wurde nothdürftig beigelegt durch das Uebereinkom— 
men, „daß im ganzen von Frankreich abgetretenen Territo— 
rium Louiſiana nördlich vom 36 0 30 nördl. Br. an, mit 
Ausnahme des jetzt zu bildenden Staates Miſſouri, 
Sklaverei für immer verboten ſein ſoll.“ 

Californien lag nun mit ſeinem nördlichen Theile 
weit nördlicher als 36 0. Doch was kümmerte das die 
Sklavenbarone des Südens? Wurde doch Texas, die von 
Mexico losgeriſſene Provinz, gleichfalls zum Sklavenſtaate 
gemacht, trotz dem Widerſpruch der Nordſtaaten. 

Um den Streit über Californien beizulegen, ſchlug 
Henry Clay folgenden Kompromiß vor: 

1. Californien tritt als freier Staat in die Union. 

2. Die Sklaverei darf auf die von Mexico erlangten 
Länder ausgedehnt werden. 

3. Für die Gefangennahme entlaufener Sklaven iſt 
ein ſtrenges Geſetz zu erlaſſen. 

Die ſklavenfreundlichen Staaten des Nordens hielten 
ſich nicht für verpflichtet, die entlaufenen Sklaven den 
ſüdlichen Staaten wieder auszuliefern, und auch 


— ge 


darüber entſtand bitterer Streit. Nun ſollte Punkt 2 
und 3 den Süden beſchwichtigen, damit dieſer nichts gegen 
Punkt 1 unternehmen möchte. Die feindſelige Spannung 
der Gemüther hatte jedoch eine zu große Höhe erreicht, 
als daß ſolche Kompromiſſe etwas helfen konnten. Die 
demokratiſche Partei, je mehr ihr die gewaltſame Politik 
gelang, war um ſo übermüthiger und der neue Präſident 
Franklin Pierce (1853 bis 1857) leiſtete ihrem 
Treiben allen Vorſchub. 

Lincoln, nachdem er ſich von ſeiner zweijährigen 
Wirkſamkeit als Abgeordneter in Waſhington wieder in 
ſein Privatleben zu Springfield zurückgezogen hatte, ward 
für die Stelle eines Gouverneurs von Illinois auserſehen; 
er ſchlug dieſe Wahl aus, um für den großen Kampf, den 
er herankommen ſah, freie Hand zu behalten. 

Und ſchon das Jahr 1854 führte ihn wieder auf den 
politiſchen Kampfplatz. Stephen A. Douglas, der frühere 
Genoſſe Lincolns, der ſich wie dieſer aus niederem 
Stande emporgearbeitet hatte, eine ſehr gewandte Rede 
und einnehmende Perſönlichkeit beſaß, aber an die ſittliche 
Höhe Lincolns nicht entfernt hinreichte, vielmehr ein eitler, 
aalglatter Politiker war, der es mit dem Süden hielt und 
es doch auch mit dem Norden nicht verderben wollte — 
ſuchte die Beſtimmung des Miſſouri-Kompromiſſes, 
nach welcher in dem Gebiete nördlich vom 36 0 30° die 
Sklaverei für immer ausgeſchloſſen „leiben ſolle, zu ver⸗ 
nichten durch die Kanſas-Nebraska-Bill. Da nämlich 
die beiden Gebiete Kanſas und Nebraska nur von Anſied— 


Br ie 


a AN 


lern des Nordens bevölkert worden waren und man vor— 
ausſehen konnte, daß ſie in nächſter Zeit ſich als freie 
Staaten organiſiren würden, ſo machte Senator Douglas 
den Vorſchlag, daß jene beiden Territorien als Sklaven— 
territorien zu behandeln ſeien, ohne Rückſicht auf 
die Stimme der Bewohner ſelbſt. Dieſer 
wiederum allem Geſetz Hohn ſprechende Vorſchlag paſſirte 
ſchnell beide Häuſer und wurde durch die Unterzeichnung 
des Präſidenten Geſetz. 

Obwohl Kanſas eine ganz freie Bevölkerung hatte, 
ſo hinderte das den gewaltthätigen Süden keineswegs, 
alsbald jen en Kongreßbeſchluß durchzuſühren. Eine be— 
waffnete Bande von Sklavenbeſitzern aus Miſſouri drang 
in Kanſas ein, vertrieb die freien Anſiedler und erklärte 
das Gebiet zum Sklavenſtaat. Nachdem dies Treiben 
eine Zeit lang gewährt, riß dem Norden doch die Geduld, 
er ſandte nun auch ſeinerſeits bewaffnete Schaaren den 
Bedrängten zu Hilfe, welche die frechen Eindringlinge 
vertrieben und die alten freien Einrichtungen wieder her— 
ſtellten. Erſt am 29. Januar 1861 aber, als die Rebellion 
des Südens ſchon im Gange war, trat Kanſas als freier 
Staat in die Union ein. 

Lincolns unermüdliche Thätigkeit ging nun zunächſt 
dahin, daß ſich die republikaniſche Partei im Staate 
Illinois, die ſich zerſplittert hatte, wieder zuſammenfand, 
und er brachte es dahin, daß dieſe zum erſten Mal der 
demokratiſchen Partei entgegen für die neue Legislatur 
1855 einen republikaniſchen Senator wählte. Wie wenig 


— ee 


es ihm ſelber um Befriedigung feines Ehrgeizes zu thun 
war, zeigte er dadurch, daß, obwohl alle anti-demokra⸗ 
tiſchen Mitglieder der Legislatur für Lincoln ſtimmten, 


er die Wahl von ſich ab auf Trumbull lenkte, den 


die demokratiſchen Gegner von Douglas zu ihrem Candi⸗ 
daten beſtimmt hatten. Einige ſeiner Freunde weinten 
wie Kinder, als ſie, von Lincoln ſelbſt aufgefordert, ihren 
Liebling aufgeben und Trumbull wählen helfen ſollten. 

Die neue republikaniſche Partei hatte ſich zum Ziel 
geſetzt, die Macht der Bundesregierung und die Rechte der 
Einzelßtaaten in's rechte Verhältniß zu bringen, d. h. fie 
wollte die Bundesregierung befähigen, im Intereſſe der 
Erhaltung der ganzen Republik das Uebergewicht der 
Sklavenſtaaten zu beſeitigen und die weitere Ausbreitung 
der Sklaverei zu verhindern. Auch gegen die kriegeriſche 
Angriffspolitik, die Cuba, Mexico und Centralamerika 
annektiren wollte, erklärte ſich die republikaniſche Partei. 
Unter dem Präſidenten Pierce war bereits ein Frei— 
ſchaarenzug unter Anführung Walkers nach Nicaragua in 
Centralamerika unternommen worden, mit der Abſicht, 
dort ein ſüdliches Sklavenreich zu gründen. Der Zug 
nahm aber ein klägliches Ende. 

Im Jahre 1856 war die republikaniſche Partei 
bereits jo erſtarkt, daß fie für die neue Präſidentenwahl 
dem Candidaten der Demokraten, James Buchanan, den 
Oberſt Fremont entgegenſtellen konnte. Liucoln war bei 
dieſem Wahlfeldzuge unermüdlich, um ſeiner Partei den 
Sieg zu verſchaffen; doch der Süden hatte alle von der 


1 8 


un 


Regierung abhängigen Stellen mit feinen Geſchöpfen be⸗ 
ſetzt, und die Furcht vor einer Sprengung der Union, 
womit die Sklavenſtaaten drohten, brachte die Republi— 
kaner um einen großen Theil der Stimmen in den nörd— 
lichen Staaten, ſo daß der Demokrat Buchanan, der 
in Allem dem Süden zu Willen war, im Jahre 1857 den 
Präſidentenſtuhl beſteigen konnte. 

Bis zu welcher Unbotmäßigkeit, Rohheit und Frech— 
heit das Selbſtgefühl der Männer des Südens ausgeartet 
war, zeigte ſich in dem von ihnen im Jahre 1856 auf den 
braven Senator Sumner von New-Pork verübten 
Attentat. Sumner, zugleich Gelehrter, Schriftſteller und 
Staatsmann, war ein unerſchrockener Vorkämpfer für die 
gute Sache der Freiheit und des Geſetzes; er ging voran, 
mit der mündlichen und ſchriftlichen Rede das ausſprechend, 
was die Edelgeſinnten zum Theil erkannt hatten, aber 
nicht laut zu jagen wagten, — daß der große Kampf be= 
vorſtehe, den Uebermuth des Südens zu brechen. Sein 
Princip, das ſpäter von Lincoln und dem ganzen Norden 
angenommen wurde, faßte er in dem Satze zuſammen: 
Sklaverei iſt Sektenſache, Freiheit Na⸗ 
tionalſache. In einer Rede, die er im Kongreß zu 
Waſhington gehalten, hatte er das unlautere und geſetz⸗ 
loſe Weſen der Sklaverei auf das ſchärfſte gegeißelt. Auf 
ſolchen Freimuth hatten die Sklavenbarone keine andere 
Antwort als Mord und brutale Gewalt. Als Sumner 
während einer Sitzungspauſe im Senatszimmer ruhig 
am Pulte ſchrieb, wurde er plötzlich von zwei Männern 


. 


des Südens überfallen, die mit Stockſchlägen ſo lange 
auf ihn einhieben, bis er in ſeinem Blute ſchwimmend auf 
der Erde lag. Es wurde nachher erwieſen, daß dieſe 
Ruchloſen, falls man ihnen Widerſtand geleiſtet hätte, ihr 
Opfer erſchoſſen haben würden. Es währte ganzer vier 
Jahre, bis der Senator Sumner wieder im Stande war, im 
Senate zu erſcheinen. Mit Todesverachtung und muthiger 
Folgerichtigkeit ſchleuderte er in ſeiner erſten Rede wie- 
derum ſeine vernichtenden Blitze gegen das Ungeheuer 
der Sklaverei. 

Im Jahre 1858 ging der Termin der Senatorſchaft 
von Donglas zu Ende und es wurden Neuwahlen vorge— 
nommen. Lincoln wurde in der Staatsconvention der 
Republikaner zu Springfield als der Kandidat für den 
Unions⸗Senat aufgeſtellt, Douglas ſah der Wiederernen— 
nung von Seiten der Demokraten entgegen. Kaum war 
der letztere von Waſhington nach Illinois zurückgekehrt, 
als er auch ſchon ſeine Rundreiſe antrat, um ſich beim 
Volke wegen der Nebraska -Bill zu rechtfertigen und 
nebenbei den Grundſätzen Lincolns und der republikaniſchen 
Partei entgegenzuarbeiten. Lincoln redete aber ſo ge— 
waltig, daß der „kleine Rieſe des Weſtens,“ wie man den 
Senator Douglas nannte, nicht vor ihm aufkommen 
konnte. In der am 17. Juni zu Springfield gehaltenen 
Rede ſprach er die prophetiſchen Worte: „Ein Haus, das 
in ſich ſelber getheilt iſt, kann nicht beſtehen. Ich glaube, 
daß dieſe Union nicht auf die Dauer halb als Sklaverei, 
halb als freies Land möglich iſt. Ich erwarte nicht, daß 


RR 

die Union getheilt werde, ich erwarte nicht, daß das Haus 
zuſammenſtürzen werde; aber ich erwarte, daß es auf- 
hören werde, getheilt zu ſein. Eins von beiden wird es 
ganz gewiß werden. Entweder müſſen die Gegner der 
Sklaverei ihrer Verbreitung Einhalt thun und ſie in eine 
ſolche Lage bringen, daß die öffentliche Meinung ſich mit 
dem Glauben beruhigt, dieſe gehe ihrem endlichen Auf— 
hören entgegen, oder ihre Vertheidiger werden ſie vor— 
wärts drängen, bis fie in allen Staaten gleich geſetzlich 
ſein wird, in den alten, wie in den neuen, im Norden wie 
im Süden.“ 

Dieſe Worte griff Douglas an, indem er Lincoln 
beſchuldigte, er wolle durch ſeine Gleichmacherel den Süden 
zum Kriege und Abfall zwingen. Er behauptete, daß es 
weder wünſchenswerth noch möglich ſei, Gleichförmigkeit 
in den Lokal-Inſtitutionen und häuslichen Einrichtungen 
der verſchiedenen Staaten der Union zu haben. Die 
Gründer der Regierung hätten niemals eine ſolche Gleich— 
förmigkeit bezweckt, ſie hätten wohl gewußt, daß die Ge— 
ſetze und häuslichen Einrichtungen, welche für die Granit— 
hügel von New⸗Hampſhire paßten, ſich nicht für die Reis— 
pflanzungen Süd⸗Carolina's eigneten. „Ich glaube“, 
ſagte er, „daß mein Freund Miſter Lincoln die großen 
Prinzipien, auf denen unſer Staatsgebäude ruht, ganz 
und gar mißverſtanden hat. Gleichheit in den Lokal- und 
Domeſtikalgeſetzen würde nicht nur für die Staatenrechte 
deſtructiv (zerſtörend) ſein, ſondern auch für Staats- 
ſouveränetät, für perſönliche Freiheit und individuelle 


— 76 — 3 


Selbſtbeſtimmung. Gleichförmigkeit iſt die Mutter des 
Deſpotismus in der ganzen Welt; dies gilt nicht nur von 
der Politik, ſondern auch von der Religion.“ 

Mit ſolchen Gemeinplätzen, welche die liberale 
Maske vornahmen, ſuchte der gewandte Redner den in 
der That freiſinnigen, liberalen und humanen Lincoln 
in ein ſchiefes Licht zu ſtellen. Er griff dann ferner deſſen 
Aeußerung über die Dred-Scott-Angelegenheit an. 

Der Militärarzt Emerſon hatte nämlich im Jahre 


1835 ſeinen in Miſſouri geborenen Sklaven Dred Scott, 


nach Illinois mitgenommen und vier Jahre ſpäter nach 
dem Territorium Minneſota. Dort hatte er ihn mit einer 
von einem Offizier erhandelten Sklavin verheirathet und 
war mit dieſem Ehepaar nach einiger Zeit wieder nach 


Miſſouri zurückgekehrt, wo Dred Scott, ſein Weib und 


die inzwiſchen erzeugten beiden Kinder in den Beſitz eines 
Miſter Anderſon übergingen. Viele Jahre ſpäter gelangte 
Dred Scott zu der Kenntniß, daß ein Sklave frei ſei, jo- 
bald er von ſeinem Eigenthümer in einen freien Staat 
mitgenommen werde. Dred Scott wendete ſich nun an 
den Gerichtshof des Staates Miſſouri, um für ſich und 
ſeine Familie die Freiheit zu erwirken. Der Urtheils— 
ſpruch gewährte ihm dieſelbe, das Obergericht aber kaſſirte 
das Urtheil und der Prozeß ging nun vor das oberſte 
Bundesgericht der Vereinigten Staaten, das ganz im 
Sinne des Obergerichts von Miſſouri entſchied. 

Da Lincoln dieſe Entfcheidung getadelt hatte, nahm 
Douglas abermals die Maske der Geſetzlichkeit vor mit 


ur 


— 1 


der Behauptung, daß Jeder ſich dem Ausſpruche des 
oberſten Bundesgerichts zu fügen habe. Lincoln hatte 
geſagt, daß eine ſolche Entſcheidung die Neger für immer 
davon ausſchließe, Bürger der Vereinigten Staaten wer- 
den zu können, und Douglas entgegnete darauf: „Ich bin 
jo frei, zu jagen, daß die Regierung der Vereinigten Staa - 
ten nur für weiße Menſchen eingeſetzt ward.“ 

Schon am folgenden Tage beantwortete Lincoln in 
Chicago dieſe Rede ſeines Gegners. Nachdem er den 
Satz: „Ein in ſich getheiltes Haus ꝛc.“ wiederholt hatte, 
fragte er: N 

„Was iſt in dieſem Paragraph enthalten, das dem 
Richter Douglas als eine politiſche Ketzerei erſcheint? Ich 
habe weder behauptet, daß die häuslichen und Staatsein⸗ 
richtungen der ganzen Union gleichzuſtellen ſeien, noch 
ſtrebe ich dahin, daß der Süden den Norden mit Krieg 
überziehe. Ich weiß es wohl, daß dieſe Regierung 82 
Jahre lang beſtand, trotzdem, daß in der einen Hälfte 
des Landes die Sklaverei, in der andern die Freiheit 
waltete. Ich glaube aber, daß es deshalb geſchah, weil 
die öffentliche Meinung überzeugt war, die Sklaverei ſei 
in eine Lage gebracht, in welcher ſie ihrem endlichen 
Untergange entgegengehe. Ich habe immer die 
Sklaverei ſo ſehr gehaßt, wie dies nur 
ein Abolitioniſt“)) thun kann, aber ich 


*) Schon Benjamin Franklin, der vorausſah, welches Un⸗ 
heil der Union mit dem Sklavenweſen drohete, ſtiftete einen 
Abolitionsverein, der die völlige Abſchaffung (Abolition) der 
Negerſklaven zum Zweck hatte. 


— 78 — 


verhielt mich ruhig, bis die neue Aera 
begann, der Ein führung der Nebraska⸗ 
Bill. . 

Kein Mann glaubt feſter an das Prinzip der Selbſt⸗ 
regierung als ich. Es iſt mein Glaube, daß jedes Indi— 
viduum von Natur berechtigt iſt, mit ſich und der 
Frucht ſeiner Arbeit zu thun, was ihm bes 
liebt, voraus zeſetzt, dies verſtoze nicht gegen die Rechte 
eines Anderen; daß auch jede Commune das Recht hat, 
zu thun was ihr beliebt, vorausgeſetzt, dies verſtoße 
nicht gegen die Rechte einer andern Com⸗ 
mune. Ich behauptete dies von jeher und gab als 
Illuſtration an, daß Illinois nicht das Recht habe, ſich 
in die Heidelbeergeſetze von Indiana, in die Auſternzeſetze 
von Virginia oder das Branntweingeſetz von Maine zu 
miſchen.“ 

Ueber den zweiten Angriffspunkt, der ſich auf Lincolns 
Aeußerung gegen die Entſcheidung in der Dred-Scott— 
Angelegenheit bezog, wies Lincoln vortrefflich nach, wie 
in der Auffaſſung von Douglas es deutlich ausgeſprochen 
werde, daß es ihm gleich ſei, ob für oder gegen die Skla⸗ 
verei geſtimmt werde, ſolche Geſinnung aber dahin führe, 
den Freiheitsſinn im Volke aus zurotten. „Die 
Argumente (Beweisgründe), welche man vorbringt, daß 
man nur ſo viel Zugeſtändniſſe der niederen Race machen 
ſolle, als dieſe zu ertragen im Stande ſei, ſind dieſelben, 
welche die Deſpoten jedes Zeitalters vorgebracht haben, 
um das Volk zu knechten. — Dieſe Argumente des Rich⸗ 


— — 


ters Donglas find dieſelbe alte Shlanze, welche ſpricht: 
Ihr arbeitet und ich eſſe, ihr habt die Mühe und ich will 
die Früchte davon genießen! Ich möchte gern wiſſen, wenn 
man einmal Ausnahmen von der alten Unabhängigkeits— 
erklärung: „„Alle Menſchen ſind gleich geboren,““ zu— 
laſſen will, wo man zuletzt aufhören wird? Wenn man 
ſagt, dieſe Erklärung habe keinen Bezug auf die Neger, 
weßhalb kann dann nicht ein Anderer ſagen, ſie habe auch 
keinen Bezug auf den Deutſchen? Wenn jene Unabhängig— 
keitserklärung nicht die Wahrheit iſt, ſo laßt uns das 
Geſetzbuch nehmen und ſie herausreißen. Wer wagt es, 
das zu thun? Wenn ſie nicht wahr iſt, reißen wir ſie 
heraus! (Zahlloſe Rufe: Nein, Nein!) So wollen wir 
denn feſt daran halten, feſt bei ihr ſtehen! (Donnernder 
Beifall.) In einer der Ermahnungen unſeres Heilandes 
heißt es: „Ihr ſollt vollkommen ſein, wie euer Vater im 
Himmel vollkommen iſt!“ Er ſtellte das als ein Muſter 
auf, und der, welcher am meiſten thut, jenes Muſter zu 
erreichen, erlangt den höchſten Grad ſittlicher Vollendung. 
So ſag' ich in Beziehung auf das Princip, daß alle 
Menſchen gleich geſchaffen ſind: laßt uns ihm ſo nahe als 
möglich kommen. Können wir nicht je dem 
Geſchöpfe die Freiheit geben, ſo wollen 
wir wenigſtens nichts thun, was ein an⸗ 
deres Weſen in Sklaverei bringt! (Stür⸗ 
miſcher Beifall.) So wenden wir denn dieſe Regierung 
in das Fahrwaſſer zurück, in welches die Gründer der 
Konſtitution ſie urſprünglich brachten: Laßt uns feſt bei⸗ 


— 


S 


einander ſtehen. Thun wir dies nicht, ſo werden wir 
nach jener Seite hin gedreht, wohin Richter Douglas 
ſtrebt, dieſe Nation zu einer allgemeinen Sklavennation 
zu machen.“ 

Dieſe Turniere wurden im Auguſt, September, bis 
in den Oktober hinein fortgeſetzt, das Volk ſtrömte maſſen— 
haft hinzu, die Zeitungen berichteten von den tief einſchnei⸗ 
denden Reden Lincolns, der wider den gewandten Douglas 
ſo mannhaft focht, und wenn auch Douglas der Stärke 
ſeiner Partei in der Legislatur“) es zu danken hatte, 
ſchließlich die Senatorwürde davon zu tragen, ſo war doch 
der moraliſche Sieg unzweifelhaft auf Seiten Abraham 
Lincolns, der vom Volke von Illinois nicht mehr anders 
als „honest old Abe,“ und da er jetzt in ſein fünfzigſtes 
Jahr getreten war, auch wohl nur „old Abe“ genannt 
wurde. 

Jetzt ließ ſich bereits vorausſehen, daß Lincoln der 
erſte und populärſte Mann. der Union werden mußte, wenn 
die Partei der Republikaner in gleichem Maße wie bisher 
Fortſchritte machte. Und dieſes geſchah, und zwar durch 
den maſſenhaften Hinzutritt der Deutſchen. Hier iſt der 
Ort, es zu jagen, daß erſt durch die Deutſchen die republi— 
kaniſche Partei die rechte Stärke gewann und daß für die 
Erwählung Lincolns zum Präſidenten der Union die 
Deutſchen den Ausſchlag gaben. 


*) Im Volle hatte Lincoln die Majorität: 126,000 Stim⸗ 
gegen 122,000 für Douglas. 


PN, alt 


Schon in den erſten Kämpfen gegen Douglas und 
die Nebraska-Bill, als man in Lincoln drang, er möge 
über die Fremdenfrage mit Stillſchweigen hinweggehen, 
um die Knownothings nicht zu reizen, hatte er ſich ent— 
ſchieden der Deutſchen angenommen. Bekanntlich nann— 
ten ſich „Knownothings“ (die von fremder Sprache und 
Eigenthümlichkeit „nichts“ wiſſen wollten) jene Stock— 
Amerikaner, welche eiferſüchtig auf das Anwachſen der 
deutſchen Bevölkerung, den „Fremden“ erſt nach 21 
jährigem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten das 
volle Bürgerrecht gewähren wollten. Die Republikaner 
fürchteten, die Knownothings könnten ihnen abtrünnig wer— 
den und wollten Zu zeſtändniſſe machen. Lincoln aber 
wollte von ſolchen Zugeſtändniſſen nichts wiſſen. „Wir 
müſſen ehrlich und offen mit unſerer Farbe heraus,“ ſprach 
er, „und nur durch rückhaltloſe Verkündigung unſerer 
Grundſätze können wir auf Unterſtützung rechnen. Die 
Adoptivbürger haben ein Recht, dies zu verlangen.“ Er 
drang mit ſeiner Anſicht durch und die Folge war, daß 
namentlich die deutſchen Bürger maſſenhaft in die Reihen 
der republikaniſchen Partei eintraten. Lincolns Vorgehen 
war um ſo weiſer, als die Knownothings keineswegs ſich 
von den Republikanern trennten. 


3. 
Die Präſidentſchaftszeit Buchznan's ging zu Ende, die 
Parteien rüſteten ſich zur neuen Präſidentenwahl. Der 
Präſident der Union wird nicht direkt durch das Volk er⸗ 
Igd.⸗Bibl. 3. 6 


Ale | 


wählt, fondern das Volk jedes Staates er wählt fo 
viel Elektoren als er Repräſentanten in den Kongreß 
ſchickt. Die Geſammtzahl dieſer Elektoren belief ſich auf 
303, davon kamen auf die 18 freien Staaten 183 
Stimmen, auf die 15 Sklavenſtaaten 120. Das abſolute 
Mehr war ſomit 152. 


Die Wahlmänner von Illinois tagten in Decatur 
und auch Lincoln verfügte ſich dahin. Mit großer Be— 
geiſterung ward er in der Delegatenverſammlung begrüßt. 
Dies war am 10. Mai 1860. Während man Lincoln 
bewillkommte, erſchien ein alter Graukopf von Macon 
County, der bat, auch einen Beitrag zur Convention 
liefern zu dürfen. Es war Niemand anders, als der uns 
ſchon bekannte John Hanks, mit welchem Abe einſt die 
Axt geſchwungen hatte. Er trug zwei alte, verwitterte 
Fenzriegel, zwiſchen denen eine Fihne befeſtigt war, und 
pflanzte ſie in der Verſammlung vor der Rednerbühne auf. 
Lang anhaltender Jubel erſcholl, denn dieſe mit Fahne 
geſchmückten Fenzriegel trugen folgende Inſchrift: 

„Abraham Lincoln, 
der Fenzriegel-Candidat, 
zum Präſidenten im Jahre 1860. 
Zwei Fenzriegel von den 3000, welche im Jahre 
1830 angefertigt wurden von John Hinks und Abraham 


Lincoln — deſſen Vater der erſte Pionier von Macon 
County war.“ 


— 


Mit Begeiſterung ward old Abe herbeigerufen, zu 
beſtätigen, daß dieſe Fenzriegel von ihm behauen worden 
ſeien. „Ei!“ — rief er in ſeiner trockenen, humoriſtiſchen 
Weiſe, nachdem er die beiden Riegel eine Zeit lang be— 
trachtet hatte, „ich habe freilich vor etwa 30 Jahren hier 
ganz in der Nähe von Decatur am Sangamonfluſſe unſer 
Blockhaus bauen und Fenzriegel ſpalten helfen, — ob 
dieſe da von jenen ſind, das will ich nicht gerade be— 
ſchwören, ſo viel aber iſt gewiß, daß ich noch nach jener 
Zeit viele ſolcher Riegel behauen habe und noch beſſere, 
als die da ſind!“ Von neuem brach der Jubel aus und 
wollte nicht enden; es war eine ſchöne Huldigung, dem 
ſchlichten, aus dem arbeitenden Volke hervorgegangenen 
Manne dargebracht, der nun bald zum oberſten Lenker 
des Landes erkoren werden ſollte. 

Er ging indeſſen ruhig nach Springfield zurück, um 
abzuwarten, was die am 16. Mai in Chicago zuſammen⸗ 
tretende große republikaniſche National-Convention be— 
ſchließen würde. Mit Ausnahme von den beiden Caro— 
lina's, Alabama, Georgia, Miſſiſſippi, Florida und 
Louiſiana hatten alle übrigen Staaten der Union ihre 
Abgeordneten geſchickt; ein großes Gebäude, der „Wigwam“ 
genannt, war eigens für die Zuſammenkunft der Delegaten 
erbaut worden. Der Zudrang des vor dem Hauſe ver— 
ſammelten Volkes war ungeheuer. Die zweite Ballo— 
tirung ſchwankte nur noch zwiſchen Seward und Lincoln. 
Jedes von der Plattform des Chicago-Wahlhauſes ver— 
kündete Votum ward ſogleich nach Springfield telegraphirt. 


— > pen 


Auf das Ergebniß des dritten Ballots war nun Alles ge⸗ 
ſpannt; das Telegraphenamt in Chicago war ununter— 
brochen thätig und im Telegraphenbureau von Springfield 
natürlich großer Zudrang. Lincoln, äußerlich ganz ruhig, 
aber innerlich gewiß ebenſo erregt wie das ganze Volk, 
hatte ſich auf die Arbeitsſtube der Redaktion des Staats- 
Journals zurückgezogen; da ſtürzte ein Knabe zu ihm 
hinein, den der Telegrapheninſpector ſandte; er ſchwenkte 
ein Zettelchen in ſeiner Rechten, das er haſtig dem Miſter 
Lincoln überreichte. Dieſer brauchte nicht erſt lange zu 
leſen, denn ſchon drängte das Volk, glückwünſchend und 
jubelnd, dem kleinen Burſchen nach. Eine Zeit lang ſtand 


der beſcheidene Mann und blickte ſtaunend und gedanken- 


voll auf den kleinen Zettel, dann ſagte er ruhig: „Ich 
habe zu Hauſe eine kleine Frau, die möchte das wohl Hosen 
Ich will hingehen und ihr's jagen!“ 

Lincoln war nun erſt Präſidentſchaftskandidat, noch 
nicht Präſident; aber ſeine ſchließliche Ernennung war 
doch ſehr wahrſcheinlich. Mit Blitzesſchnelle verbreitete ſich 
die Kunde durch die ganze Union; ſie erregte im Süden 
Verdruß und Zorn, im Norden Begeiſterung. In großen 


und kleinen Städten wurden Meetings abgehalten, welche 


ihre Zuſtimmung zur erfolgten Wahl ausdrückten; in 
New⸗York und vielen anderen Orten ertönte Kanonen⸗ 
donner. Die Bewohner Springfields ſchwelgten in Wonne; 
ihre „Blumenſtadt“ ward zum Mekka, wohin nun aus 
allen Gegenden die Anhänger und Freunde derjenigen 
Grundſätze pilgerten, welche Abraham Lincoln vertrat. 


* 


Selbſtverſtändlich hatte ſich ein Comite der National- 
Convention von Chicago ſofort nach Springfield verfügt; 
von Muſikbanden und dem Jauchzen des Volkes begleitet, 
begab ſich daſſelbe in die Wohnung Abe's. Als die Herren 
an das von einem zierlichen Holzgitter umgebene Wohn— 
haus des Gefeierten herantraten, erblickten ſie zwei hübſche 
Knaben, die höflich grüßend an der Gartenthür ſtanden. 
Herr Evarts von New-Pork wendete ſich an den größeren 
und fragte: „Sind Sie ein Sohn von Miſter Lincoln?“ 
„Ja, Sir!“ war die freudige Antwort. „Dann ſchütteln 
wir einander die Hand!“ fuhr Evarts fort und mehrere 
andere Herren folgten ſeinem Beiſpiel. Als dies der 
jüngere Bruder ſah, richtete er ſich ſo hoch er konnte auf 
und rief mit kindlichem Selbſtgefühl, das dem kleinen 
Burſchen allerliebſt zu Geſicht ſtand: „Ich bin auch ein 
Lincoln!“ Lachend gab man man auch dem kleinen, ener— 
giſchen Sohn ſeines Vaters die Hand. 


Den Ernſt des wichtigen Augenblicks tief in ſeiner 
Seele fühlend, ohne alles eitle Wortgepränge, beantwor— 
tete der würdige Candidat die Anſprache des Präſidenten 
des Comite und drückte dann allen Mitgliedern des— 
ſelben herzhaft die Hand. Da ſtand er denn auch dem 
Richter Kelly gegenüber, einem der längſten Männer der 
Union. Abe und Kelly prüften einander mit lächelndem 
Blick und der erſtere, ſo feierlich ihm auch zu Muthe war, 


konnte doch nicht umhin, dieſes unerwartete Zuſammen— 


treffen zweier Rieſen ſehr komiſch zu finden. 


— 86 — 


„Was iſt Ihre Höhe?“ fragte er humoriſtiſch mit 
den Augen blinzelnd. 

„Sechs Fuß, zwei!“ antwortete Kelly; „und die 
Ihrige, Miſter Lincoln?“ 

„Sechs Fuß, vier!“ erwiderte dieſer ſchmunzelnd. 

„Dann beugt ſich Pennſylvanien vor Illinois!“ rief 
Richter Kelly und fügte mit Innigkeit hinzu: „Mein 
theurer Mann, ſeit Jahren ſehnt ſich mein Herz nach einem 
Präſidenten, zu dem ih emporblicken könnte, und ich 
habe ihn nun endlich in einem Lande gefunden, wo wir 
nichts als „kleine Rieſen“ ) zu finden glaubten.“ 

Der 6. November des Jahres 1860 war der Tag 
der endgiltigen Wahl und Abraham Lincoln blieb Sieger 
mit dem entſchiedenſten Mehr. Sein bisheriger Neben— 
buhler Douglas hatte nur 12 Stimmen; Bell, der joge- 
nannten Unionspartei angehörig, ein farbloſes Mittelding 
zwiſchen Demokraten und Republikanern 39; Breckenridge, 
Vicepräſident unter Vuchanans Präſidium 72, Lincoln 
aber 180. 

Am 11. Februar des Jahres 1861 verließ er Spring— 
field, um die Präſidentſchaft anzutreten. Eine große 
Menge gab ihm das Geleit. Als er in den Wagon der 
Eiſenbahn ſtieg, ſprach er tiefbewegt: „Meine Freunde, 
ich allein kann wiſſen, wie ſehr mich dieſe Trennung 
ſchmerzt. Dieſer Bevölkerung verdanke ich Alles, was 
ich bin. Hier habe ich länger als ein Vierteljahrhundert 


*) Anſpielung auf den Demokraten Douglas. | 


535 


gelebt; hier ſind meine Kinder geboren, hier liegt eines 
derſelben begraben. Wann werde ich Euch wiederſehen? 
Ich weiß es nicht. Es iſt mir eine Aufgabe zugefallen, 
wie ſie ſo groß und ausgedehnt vielleicht ſeit den Tagen 
Waſhingtons keinem Menſchen zugefallen iſt. Nie hätte 
er ſie erfüllt, ohne die göttliche Vorſehung, an die er 
jederzeit glaubte. Demſelben allmächtigen Gott übergebe 
ich mich auch und vertraue auch ſeiner Hilfe; auch hoffe 
ich, daß Ihr, meine Freunde, mir dieſe Hilfe erbeten 
werdet, ohne welche ich nichts bin und mit welcher allein 
mir der Erfolg gewiß iſt! Und nun, meine Freunde, lebt 
wohl!“ 

Die ganze Fahrt bis nach Waſhington glich einem 
Triumphzuge. An allen Bahnſtationen jubelten ihm 
Hunderte und Tauſende entgegen, und wo Muſikbanden 
zu haben waren, mußten dieſe aufſpielen; es wurden 
Kanonen ge löst, die Fahnen wehten luſtig von den 
Triumphbögen, die Beamten und Würdenträger hielten 
Anſprachen, die vom neuen Präſidenten mit vielem Takt 
beantwortet wurden. Ueber den politiſchen Weg, den er 
einzuſchlagen gedachte, äußerte er ſich ſo zurückhaltend wie 
möglich; er wollte die Partei des Südens auf keine Weiſe 
reizen. Auf der Nord-Oſt-Station benutzte Abe die Ge- 
legenheit, dem Volke zu erklären, daß der Backenbart, den 
er ſich hatte wachſen laſſen, ſeine Exiſtenz den Rathſchlä— 
gen eines jungen Mädchens des Ortes verdankte, welche 
ihm ſolche in einem freundlichen Briefe mitgetheilt hatte. 
Er würde die ſchöne Schreiberin gern begrüßen, falls ſie 


— — 


anweſend ſei in der Verſammlung, welche die Güte gehabt, 
ihn zu empfangen. Und ſiehe! aus dem Gedränge tritt 
eine junge Dame hervor, ſie wird von der jubelnden 
Menge bis zum Präſidenten geleitet und von dieſem 
ritterlich geküßt. 


Glücklich gelangte Lincoln nach Philadelphia — denn 
die Männer des Südens hatten ihm auf dieſem Wege 
nachgeſtellt — um dort, wie er verſprochen hatte, in der 
Unabhängigkeitshalle die Nationalflagge auf's Neue auf- 
zurichten. Es war eine erhebende Feier, als im Moment, 
da der Mann, welcher als ein neuer ſtarker Hort der Re— 
publik erſchienen war, unter Glockengeläut und Kanonen⸗ 
donner die Flagge hißte. Bei dieſer Feier ſprach er unter 
Anderem dieſe denkwürdigen Worte: 


„Ich habe mich oft gefragt, welches große Prinzip 
oder welche große Idee es wäre, die unſern Staatenver— 
band ſo lange zuſammengehalten hat. Es war etwas in 
der Unabhängigkeitserklärung, was die Freiheit nicht blos 
dem Volke dieſes Landes, ſondern der Welt die Anwärt- 
ſchaft auf Freiheit für alle Zeiten gab. Es war das darin 
ausgeſprochene Verſprechen, daß zur rechten Zeit die Laſt 
von den Schultern aller Menſchen genommen werden und 
daß alle gleiche Anſprüche auf das Leben haben ſollten. 
Nun, meine Freunde, kann unſer Land auf dieſer Grund— 
lage gerettet werden? Wenn dies möglich wäre, ſo will 
ich mich für den glücklichſten Mann der Welt halten, falls 
ich es retten kann. Doch wenn unſer Land uur mit Ver⸗ 


— 


leugnung dieſes Grundſatzes gerettet werden könnte, ſo 
will ich gleich erklären, daß ich lieber auf der Stelle er⸗ 
mordet werden möchte, als davon abzulaſſen.“ 

Unerwartet (nach dem Reiſeplan ſollte er erſt 12 
Stunden ſpäter eintreffen) langte der Präſident ſchon früh 
am 23. Februar in Waſhington an. Man hatte ihn ge— 
warnt, auf ſeiner Hut zu ſein; ſchon auf der Toledo- und 
Weſtbahn hatte man einen Verſuch gemacht, den Zug zu 
entgleiſen, auf der Station Cincinnati war eine Hand- 
granate im Wagen des Präſidenten entdeckt worden, in 
Baltimore war ein Complott zum Zwecke der Ermordung 
des Präfidenten angezettelt worden, — darum fuhr er 
denn verkleidet in einem Extrazuge und langte ſo zeitig 
und in aller Stille in der Bundeshauptſtadt an. 

Am 4. März 1861 fand die Feier der Einweihung 
ſtatt. Durch Senator Baker ward der neue Präſident 
dem vor dem Kapitol verſammelten Volke vorgeſtellt, das 
ihn jubelnd begrüßte. Die übliche Anrede, mit welcher 
der Präſident ſein Amt eröffnete, war mild und verſöhn⸗ 
lich, aber auch feſt und entſchieden. „Ich habe nicht die 
geringſte Abſicht,“ ſo äußerte ſich Lincoln, „der Sklaverei, 
wo fie einmal beſteht, entgegenzutreten. Ich glaube nicht, 
daß mir ein Eingriff in dieſer Beziehung zuſtände.“ Aber 
zugleich wies er darauf hin, daß ein Staatsvertrag, wie 
derjenige, auf welchem die Vereinigten Staaten ruheten, 
nur durch die Zuſtimmung Aller, nicht aber nach der 
Willkür Einzelner, vernichtet werden könne. „Daher be- 
trachte ich,“ ſagte Lincoln, „kraft der Konſtitution und 


„5 


Geſetze, die Union für ungetheilt und werde 
mich deßhalb bemühen, wie die Konſtitution les mir aus- 


drücklich zur Pflicht macht, ſo gut ich kann, die Geſetze der 


Union treu und redlich in allen Staaten zur Ausfüh- 
rung zu bringen. Dies iſt meine Pflicht und ich werde ſie 
thun, bis mein geſetzlicher Herr — das amerikaniſche 
Volk — fie nicht mehr verlangt oder das Gegentheil ge— 
bietet. Ich hoffe, daß dies nicht als eine Drohung ange— 
ſehen wird, ſondern nur als die beſtimmt ausgedrückte 
Abſicht der Union, ſich auf geſetzmäßige Weiſe zu verthei⸗ 
digen und zu erhalten.“ 

Nachdem die Rede verleſen war, legte der Präſident 
ſeinen Amtseid ab und dann begann er ſeine ſchwere 
Amtsthätigkeit mit Säuberung des Kabinets. Er ernannte 
vor Allem den diplomatiſch umſichtigen, erfahrenen und 
treuen Seward zum Staatsſekretär, Chaſe zum 
Schatzſekretär, Cameron zum Sekretär des Kriegs. 
Das frühere Kabinet hatte nur aus Südmännern beſtan⸗ 
den, die ſammt und ſonders im Intereſſe einer Zertrüm— 
merung der Union handelten. Buchanan war ohne genü- 
gende moraliſche Kraft und überdies der Politik der Skla— 
venſtaaten ſtets hold geweſen. Er hatte die Mitglieder des 
Kabinets ſchalten und walten laſſen. Nicht nur, daß der 
Schatzſekretär (Finanzminiſter) Cobb, ein Sklavenhalter 
aus Georgia, den Schatz, welchen er in gutem Stande 
angetreten, völlig leer hinterließ, er hatte die ſechs 
Millionen Dollars, welche fehlten, nur im Intereſſe der 
ſüdſtgatlichen Rellion verbraucht, die ſchon längſt vorbe— 


— 91 — 


reitet war. Die Sendung von Zollgeldern, die aus dem 
Süden nach Waſhington überbracht werden ſollten, hatte 
er geradezu verhindert. Floyd, der Kriegsſekretär, hatte 
die Arſenale der Nordſtaaten geleert und die Waffenvor— 
räthe den Arſenalen der Südſtaaten überliefert. Er 
widerſetzte ſich dem Antrag, die Beſatzungen des Fort 
Sumter und der anderen im Süden gelegenen Forts zu 
verſtärken. Um vor der Präſidentenwahl ſo viel als 
möglich dem Norden die Waffen zu entziehen und dem 
Süden zukommen zu laſſen, wurden auf eine einzige 
ſchriftliche Ordre im Jahre 1859 115,000 Gewehre nach 
dem Süden transportirt. Schon am 17. Dezember 1860 
hatte Süd⸗Carolina den Reigen der Rebellion eröffnet 
und durch den Gouverneur erklären laſſen, „daß es feſt 
beſchloſſen habe, ſich von der Union zu trennen, weil in 
der kürzlich ſtattgehabten Wahl des Präſidenten und 
Vicepräſidenten der Norden die Wahl nach ſolchen Prin— 
zipien ausgeführt habe, daß es nicht länger für die Bürger 
von Süd⸗Carolina ſicher ſei, in der Union zu verharren.“ 
Auf einer geheimen Verſammlung am 5. Januar 1860, 
welcher viele der Senatoren des Südens beiwohnten, 
wurde ausgemacht, daß jeder ſüdliche Staat ſich ſo ſchnell 
als möglich von der Union trennen ſollte, die Senatoren 
und Mitglieder des Kongreſſes ſollten aber jo lange wie 
möglich im Senat und Kongreß zu Waſhington bleiben, 
um alle gegen die Südſtaaten in Vorſchlag gebrachten 
Maßregeln zu vereiteln. So folgten dem Beiſpiele 
Süd⸗Carolina's ſchnell nacheinander die Staaten Miſſiſ⸗ 


. 
ſippi, Alabama, Florida, Louiſiana und Texas und con⸗ 
ſtituirten ſich als neuer Staatenbund unter dem Namen 
der con föderirten Staaten von Amerika. 
Zum 4. Februar 1861 ward nach Montgomery eine ſüd⸗ 
liche National-Verſammlung berufen, am 18. d. M. eine 
proviſoriſche Verfaſſung feſtgeſetzt und der talentvolle 
Staatsmann Jefferſon Davis aus Miſſiſſippi 
zum Präſidenten erwählt. Bald traten noch vier Süd— 
ſtaaten (Virginien, Tenneſſee, Georgia und Arkanſas) zu 
der neuen Konföderation, welche nun 11 Staaten um- 
faßte. Die Bevölkerung dieſes Südbundes war dem 
Norden gegenüber freilich ſehr gering: 5 Millionen 
Weiße und 34 Millionen Sklaven, während 23 Norditaa- 
ten 223 Millionen Weiße und ? Million Sklaven zählten. 
Wegen dieſer geringen Ziffer hielt der Norden einen 
Krieg mit dem Süden für nicht ſehr gefährlich und hatte 
ſich in Unterſchätzung des Gegners allzuſehr der Ruhe 
überlaſſen. Bald ſollte er aus ſeiner ſtolzen Sicherheit 
aufgerüttelt werden. 

Zunächſt wollte man die vereinzelten Forts über⸗ 
rumpeln. Im Fort Sumter am Hafen von Charleston 
kommandirte der wackere Major Anderſon ſeine geringe 
Beſatzung von 70 Mann; er hielt ſich tapfer gegen den 
General Beauregard, der ihn mit Uebermacht angriff, es 
fehlte ihm aber an Munition. Das Dampfſchiff Star of 
the West ſollte ihm Verſtärkung bringen; es fuhr am 9. 
Januar 1861 im Hafen von Charleston ein, ward aber 
alsbald mit einem Kugelhagel von den feindlichen Batte⸗ 


— 


Be 


— 93 — 


rien überſchüttet und kehrte mit dem zerſchoſſenen Sternen— 
banner nach New-Nork zurück. Am 13. April mußte ſich 
Fort Sumter ergeben. 

Nun ging ein Schrei der Entrüſtung durch die Nord— 
ſtaaten. Lincolns Ruf zu den Waffen fand williges Ge— 
hör; der Präſident hatte 75,000 Mann ausgeſchrieben; 
doch bis die einzelnen Regimenter gerüſtet und vereinigt 
waren, bedurfte es mehrerer Wochen und ſchon ſprachen 
die Konföderirten davon, nach Waſhington zu marſchiren, 
wo man nicht mehr als 600 Mann zur Vertheidigung 
hatte. Es fehlte den Nordſtaaten an Allem, an kriegsge— 
übter Mannſchaft, an tüchtigen Offizieren (welche der 
Süden in reichſtem Maße beſaß), an Kriegsmaterial. 
Ganz beſonders fehlte es dem Norden an Artillerie und 
Kavallerie. Dazu kam, daß Jefferſon Davis, der als 
General den mexikaniſchen Feldzug mitgemacht hatte, 
großes Organiſationstalent beſaß, während Abraham 
Lincoln vom Kriegsweſen nichts verſtand und ſich auf ſeine 
Generale verlaſſen mußte. So mußte wohl kommen, was 
nun geſchah. 

Kampfluſtig war die erſte Unionsarmee nach Virginia 
eingerückt, aber von ſtrenger Disciplin und durchgreifender 
Militärorganiſation wollten die guten Yankees nicht viel 
wiſſen, in der Meinung, daß ihre Begeiſterung für eine 
gute und gerechte Sache auch den Sieg herbeiführen werde. 
Am Flüßchen Bull's Run, das ſteile bewaldete Rän⸗ 
der hat, trafen fie den Feind, der ſeine Stellung vortreff- 
lich gewählt hatte. Präſident Davis kommandirte ſelbſt, 


7 


unter ihm Johnſton und Beauregard. Der Unionsgeneral 
M'Dowell griff muthig an, erlitt jedoch eine vollſtändige 
Niederlage. Und auf dem Rückzuge ward ſein Heer von 
einem ſolchen Schrecken erfaßt, daß es ſich in wilder Flucht 
auflöste und einzelne ungeordnete Haufen nach Waſhing— 
ton ſtürzten (19. Juli 1861). Nur die Brigade Blenker, 
die aus Deutſchen beſtand, zog ſich geordnet über den 
Potomac zurück. 

Dieſe erſte de war ein harter Schlag und 
zugleich eine heilſame Lehre für den Norden, der nun erſt 
die Unzulänglichkeit ſeiner Rüſtungen klar erkannte. 
Lincoln rief 500,000 Mann Freiwillige zu den Waffen; 
begeiſtert ward dem Rufe des Präſidenten entſprochen. 
General M'Clellan erhielt den Oberbefehl nnd ſtellte ſich 
nun die Aufgabe, die ſämmtlichen Häfen der Südſtaaten 
zu blokiren, dann ſich des Miſſiſſippi und der übrigen 
Ströme des Weſtens zu bemächtigen, endlich Richmond zu 
nehmen, nach welcher Stadt die Konföderirten den Sitz 
ihrer Regierung verlegt hatten. M'Clellan begann die 
Organiſation der Heereskörper mit ruhiger Strenge und 
Feſtigkeit und erwarb ſich dadurch ein großes Verdienſt 
um die Union; aber ſeinen kühn vordringenden, raſch ent— 
ſchloſſenen Gegnern gegenüber zeigte er ſich dann zu lang— 
ſam und bedächtig. 

Inzwiſchen mehrten ſich die Schwierigkeiten, mit 
denen Lincoln zu kämpfen hatte, von Tage zu Tage. Die 
von ihm vorgeſchlagenen Finanzmaßregeln fanden im 
Senat eine ſtarte Oppoſition, und bald nachher drohete ein 


— 95 —ͤ— 


Zerwürfniß mit den europäiſchen Mächten England und 


Frankreich. Er mußte ſich zu dem ſchweren Opfer ver— 
ſtehen, für jetzt allen Nationalſtolz niederzuhalten und 
jenen Mächten lieber nachzugeben, als ihnen einen Vor— 
wand zum Beginn von Feindſeligkeiten zu geben, denen 
für den Augenblick die Union nicht gewachſen war. 
England wie Frankreich, auf die wachſende Macht 
der Vereinigten Staaten eiferſüchtig, beſtärkten die Süd— 
ſtaaten in ihrem Abfall, und dieſe hatten in Folge einer 
geheimen Verabredung zwei Kommiſſäre, die Herren 
Maſon und Slidell, mit entſprechenden Vollmachten ver— 
ſehen, auf dem engliſchen Poſtpacketdampfer Trent abge— 
ſandt, um in Europa eine Neutralitätserklärung in Betreff 
der Blokade zu erwirken. Kapitän Wilkes, der Befehls— 
haber des Unions-Kriegsſchiffes „San Jazinto“ war von 
der Reiſe der beiden Kommiſſäre unterrichtet worden, 
machte auf den Poſtdampfer Jagd und nahm die geſuchten 
Paſſagiere (die ſich in Damenkleider geſteckt hatten) ge— 
fangen. Die engliſche Regierung erblickte in dieſem Ge— 
waltakte eine Neutralitätsverletzung und forderte Genug— 
thuung. Abraham Lincoln gab dieſe und ließ ſich von 
dem Geſchrei der Heißſporne nicht irre machen. Er 
erklärte die Handlungsweiſe des Kapitän Wilkes für 
eigenmächtig und lieferte die beiden Gefangenen aus. 
Mit derſelben weiſen Mäßigung ließ er vorläufig den 
Kaiſer Napoleon gewähren, der ein Kaiſerthum Mexiko 
unter dem öſterreichiſchen Erzherzog Maximilian aufrich— 
tete, in der Ueberzeugung, es ſei beſſer, bis zu ſpäterer, 


„ 


günſtigerer Zeit die Sache zu vertagen, als auf einmal 
alle Schwierigkeiten beſeitigen zu wollen. 

Nachdem man Tag und Nacht die Rüſtungen fortge⸗ 
ſetzt hatte und zwar mit gleichem Eifer im Norden wie im 
Süden, ward im folgenden Jahre (1862) auch der Kampf 
mit ſteigender Erbitterung fortgeſetzt, ohne nach der 
einen oder andern Seite eine Entſcheidung zu bringen. 
M'Clellan hatte vom Präſidenten, als dem oberſten 
Kriegsherrn, wiederholt die Mahnung zum Vorrücken er— 
halten, ſich jedoch ſtets über die noch immer mangelhafte 
Organiſation der Bundestruppen beklagt; erſt im März 
entſchloß er ſich zum Vorgehen, als bereits der kluge und 
in ſeinen ſtrategiſchen Bewegungen höchſt gewandte 
General Lee ſeinen Vortheil wahrgenommen hatte. Der 
Feldzug gegen Richmond (im März) mißglückte. Beſſer 
gelang in dieſem Monat der Kampf zu Waſſer. Im 
Februar war eine Unionsflottille gegen die Häfen am 
Golf von Mexiko, namentlich gegen New-Orleans, entſen⸗ 
det worden. An dem Beſitz von New-Orleans, dem 
größten Handelsplatz und Geldmarkt des Südens, war 
viel gelegen. Doch ehe fie in den Miſſifſippi eindringen 
konnte, ſollt ſie erſt einen harten Strauß beſtehen. Es 
war am 9. März. Die Unionsflotte hatte zunächſt Char⸗ 
leston und die übrigen Seeſtädte der Südſtaaten blokirt. 
Zwei Fregatten, drei Dampfer und eine Eskadre kleiner 
Fahrzeuge befanden ſich zum Schutze von Monroe un⸗ 
fern dieſer Bundesfeſte auf der Rhede von den Hampton⸗ 
Roads. . 


9 


Plötzlich ertönte ein Allarmſchuß von der Wache des 
Cumberland und man ſieht die Flotille der Rebellen 
nahen, in ihrer Mitte ein ſeltſames Fahrzeug mit ſchrägem 
Dach und langem ſtählernem Widder. Das ſchwarze 
Ungethüm hält ſeinen Schiffsraum ganz unter Waſſer; 
ſtill und unheimlich bewegt es ſich ſchnell genug vorwärts 
und ſteuert gerade auf die ſchöne, ſtolze Fregatte, Cumber— 
land‘ zu. Dieſe feuert ihre ganze Breitſeite auf den An⸗ 
greifer ab; die Kanonenkugeln prallen aber von deſſen 
eiſernen Wänden ab wie Erbſen, die man auf eine Stein— 
platte wirft. In vollem Lauf rennt der Merrimac 
— ſo heißt das neue Widderſchiff — auf die Fregatte und 
bringt ihr mit ſeinem Spieß eine furchtbare Wunde bei. 
Gleich einem Widder, der zum zweiten Mal ausholt, 
weicht der Merrimac eine Strecke zurück und ſtößt dann 
wieder auf die Fregatte, die abermals ein weites, tiefes 
Loch erhält. Der erſte gewaltige Schuß, den der Marrimac 
auf das Holzſchiff abgefeuert hat, fegt ſechs Matroſen vom 
Deck, der zweite zerſplittert den Hauptmaſt. Die Fregatte 
ſinkt, die Mannſchaft muß ſich ergeben. Nun ſegelt der 
Marrimac auf den, Congreß' los; die Mannſchaft ergiebt 
ſich. Daſſelbe Schickſal erfährt darauf die Fregatte 
Minnejota‘. Da erſcheint als Retter in der Noth ein 
don dem genialen Ericſon aus Schweden erbautes Eiſen— 
ſchiff, das noch mehr Waſſerpaß iſt, kleiner als der Mer— 
rimac, mit flachem Boden und ſpitzen Enden. Nur ein 
um ſich ſelbſt ſich drehender Thurm mit zwei ſchweren 
Geſchützen, welche Kugeln von zwei Centnern ſchleudern, 

Igd.⸗Bibl. 8. 7 


a er 


ragt über die Waſſerfläche empor. Ein Schuß auf den 
Merrimac erſchüttert dieſen bis zum unterſten Kiel. Die 
Ungethüme fahren auf einander; der Monitor aber 
— ſo heißt das eiſerne Schiff der Union — iſt unver— 
wundbar und ſetzt ſeinem Gegner ſo zu, daß dieſer das 
Weite ſuchen muß. Die Unionsflotte iſt gerettet. 


Einige Wochen nach dem Duell dieſer Eiſenſchiffe — 
deren Erſcheinen eine neue Aera im Seekriege eröffnete — 
mußte ſich New-Orleans den Unionstruppen ergeben. 
Am Charfreitag begann die furchtbare Beſchießung, Die- 
mehrere Tage dauerte, während gleichzeitig ein Angriff 
der Landungstruppen unter Butler vorbereitet ward. 


Dem General Fremont war die Aufgabe geworden, 
in Weſt⸗Virginia zu operiren, dem General Sherman in 
Süd⸗, Burnſide in Nord-Carolina. Des letzteren Yeld- 
zug gelang; auch bei Wincheſter ward ein Sieg erfochten. 
Dann aber erlitten die Unioniſten im Shenandoah-Thale 
eine furchtbare Niederlage und in den Sumpfgegenden 
des Chickahominy-Fluſſes, wo M' dClellans Heerſäule 
Stellung genommen hatte und nun in aller Eile den 
Rückzug antreten mußte, erlitt auch deſſen Heer eine blu— 
tige Schlappe nach der andern. Der Regierung zu 
Waſhington blieb nun keine andere Wahl, als alle in der 
Nähe befindlichen Truppen in und um Waſhington zu— 
ſammenzuziehen. Im September beſtand M’Clellan 
abermals den Kampf mit dem unter deu Generalen Lee 
und Jackſon über den Potomacfluß in Maryland vorge— 


EEE 
| 


3 


drungenen Heere der Conförderirten. Dieſe Schlacht bei 
Sharpsburg (16. September 1862) war eine der 
blutigſten des ſchrecklichen Krieges; ſie währte 14 Stunden; 
die Unionstruppen verloren 14,000 Mann, die Confö— 
derirten 12,000 Mann, ohne daß eine Entſcheidung erfolgt 
wäre. Zwar zog ſich Lee über den Potomac zurück, aber 
M'dClellan verfolgte ihn nicht, ſondern begnügte ſich damit, 
die Grenze von Maryland gegen neue Einfälle zu decken. 
Die Waſhingtoner Regierung ſandte ihm gemeſſene Be— 
fehle, den Potomac zu überſchreiten und die Offenſive zu 
ergreifen; widerwillig gehorchte der General, verſchob 
jedoch abermals den Angriff, weil er noch zu ſehr ge— 
ſchwächt ſei, und dieſe vierzig Tage der Unthätigkeit ihres 
Gegners benutzten die Feinde vortrefflich zu ihrer Stär— 
kung. Nun gab Präſident Lincoln der allgemeinen Er- 
bitterung über M'Clellans ſchwankende und zaudernde 
Kriegsführung nach und entzog ihm den Oberbefehl über 
die Potomac-Armee, den nun General Burnſide erhielt. 
Dieſer ſchickte ſich an, bei Fredericksburg den Fluß Rappa⸗ 
hannok zu überſchreiten, um durch raſches Vorgehen auf 
Richmond ſeinen Gegner Lee zum Rückzug zu zwingen. 
Lee hatte jedoch auf den Höhen von Fredericksburg eine 
ſehr gut gewählte Stellung genommen, und als Burnſide 
dennoch den Angriff wagte, ward er mit einem Verluſt 
von 13,000 Mann geſchlagen und mußte ſich wieder über 
den Rappahannol zurückziehen. 7 
Gegen ſolche Niederlagen wollten die Erfolge, welche 


General Graut auf dem weſtlichen Kriegsſchauplatze errang 


— 100 — 


and General Roſecranz am mittleren Teneſſee durch den 
Sieg bei Murfreesborough (30. Dezember) nicht viel be— 
ſagen; hatte doch auch der letztere Sieg mit einem Verluſt 
oon 11,500 Mann erkauft werden müſſen! 

Lincoln aber ließ ſich im feſten Gange, den er ſich in 
ſeiner Politik vorgezeichnet, weder durch Siege noch durch 
Niederlagen irre machen, obwohl ihn die ungeheuren 
Opfer an Menſchenleben, welche dieſer Bürgerkrieg forderte, 
tief in der Seele ſchmerzten. In ſchweren Stunden 
wandte er ſich im Gebet nach oben und holte ſich von dort 
her neue Zuverſicht. Ein theures Glied ſeiner Familie, 
ſein hoffnungsvoller zwölfjähriger Sohn William, war 
ihm auch durch den Tod entriſſen worden, und als er eines 
Tages in ſeinem Shakespeare geleſen, trat er mit dem 
Buche in der Hand zum Oberſt Le Grand B. Cannon, 
der mit ihm arbeitete und wiederholte die ſoeben geleſene 
Stelle („König Johann“) mit tiefer Rührung und kum— 
mervollem Blicke: 

„Und, Vater Kardinal, ich hört' Euch ſagen, 

Daß wir im Jenſeits wiederfinden, was wir liebten, 
Iſt's wahr, dann ſeh ich meinen Knaben wieder! —“ 
Und mit zitternder Stimme, während ſeine Lippen kaum 
merklich zuckten, ſetzte er hinzu, auf den Gefährten blickend: 
„Oberſt, träumten Sie je von einem verlorenen Freunde, 
waren Sie ſich bewußt, ſüße Zwiegeſpräche mit ihm zu 
halten, und durchdrang Sie doch wieder zugleich die trübe 
Gewißheit, daß Alles nur ein Traum ſei? — So träume 
ich von meinem Knaben Willie!“ — Und die Thränen 


— 101 — 


rannen dem ſtarken Manne über das hagere, kummer⸗ 
volle Geſicht. 

In trüber, niedergedrückter Stimmung mußte Lin⸗ 
coln das Jahr 1862 beſchließen. Nicht nur waren alle 
Hoffnungen auf baldige Niederwerfung der Rebellen ver— 
nichtet worden, auch das Parteigetriebe und die fortwäh— 
rende Oppoſition innerhalb der Nordſtaaten bereitete dem 
Präſidenten viele Noth und Kümmerniß. Drei tonan⸗ 
gebende Staaten, New-York, Ohio und Pennſylvanien 
hatten im Herbſt 1862 ihre Abgeordneten für Waſhington 
in regierungsfeindlichem Sinne gewählt, die Demokraten 
aber hatten ſich in zwei Parteien geſpalten, in die Kriegs— 
und Friedensdemokraten, welche letztere der Volkswitz 
„Kupferköpfe“ (copperheads) nannte. Dieſe copperheads, 
welche nach guter Spießbürger Art den Frieden um jeden 
Preis wollten, ſchrieen bei jeder energiſchen Maßregel 
Lincolns, daß er ſeine Befugniſſe überſchreite und ſich 
Alleinherrſchaft anmaße; die Kriegsdemokraten und ein 
Theil der Republikaner ſchoben auf den Präſidenten und 
deſſen Kriegsſekretär alle Schuld, wenn die Feldherrn 
ſchlecht operirten oder geſchlagen wurden. Lincoln, zum 
Aeußerſten entſchloſſen, um die Union zu retten, hatte in 
ſeiner Proklamation vom 22. September 1862 den con- 
föderirten Staaten angekündigt, daß er ihnen eine hun— 
derttägige Friſt zur Rückkehr in die Union bewilligen 
wolle; falls aber dieſe unbenutzt bleibe, werde er am 1. 
Januar 1863 die Befreiung ſämmtlicher Sklaven in den 
conföderirten Staaten verfügen. Und wenige Tage nach⸗ 


— 12 — 


her hatte er die Habeas Corpus-Akte aufgehoben, um 
den Umtrieben der Abtrünnigen bei den Demokraten des 
Nordens ein Ende zu machen.) 8 

Solche durchgreifende Maßregeln mochten wohl 
manchem amerikaniſchen Freiheitsmann wie Deſpotismus 
erſcheinen und doch waren fie im Drange der Verhältniſſe 
geboten, wenn durch zügelloſe Freiheit die Freiheit ſelber 
nicht zu Grunde gehen ſollte. 

So erließ denn Lincoln am Neujahrstage 1863, wie 
er es bereits den Südſtaaten im verwichenen Herbſt ange— 
kündigt hatte, die Proklamation, daß alle im Feindeslande 
befindlichen Sklaven fortan frei fein ſollten. Jenen Skla⸗ 
venſtaaten, die auf Seite des Nordens ſtanden — Miſſourie, 
Kentucky, Maryland — wurde die Botmäßigkeit über die 
Sklaven gelaſſen, weil der Präſident ſeine Proklamation 
als eine rein kriegeriſche Maßregel betrachtet wiſſen 
wollte, derſelbe aber auch vorausſah, daß genannte Staa= 
ten freiwillig zur Sklavenemancipation ſich entſchließen 
würden. 8 | 
Um die Geldmittel zur Fortſetzung des Krieges zu 
ſchaffen, ward der Finanzminiſter vom Congreß zu einer 
6⸗procentigen Anleihe von 900 Millionen Dollars er— 
mächtigt, ferner zur Ausgabe von 400 Millionen verzins— 


*) Nach der ſogenannten Habeas Corpns-Akte darf kein 
Bürger an ers als durch einen gejeslichen Befehl des Richters 
verha tet werden. Dieſer gerichtliche Vorgang erfordert aber 
Zeit, während der in aufgeregten Zeiten ſich Mancher der Ver— 
haftung entziehen kann, der gegen die Regierung agirt. 


— 103 — 


licher Schatzſcheine und zur Vermehrung des Papier- 
geldes. Auch ward dem Präſidenten das Recht einge— 
räumt, für den Land- und Seedienſt der Union Neger an- 
zuwerben — eine Maßregel, die um ſo wichtiger war, als 
man die durch Schlachten und Krankheiten eingebüßten 
Truppen auf 175,000 Mann, und den durch Deſertionen 
erlittenen Verluſt auf 125,000 Mann (im Ganzeu alſo 
300,000 Mann Verluſt) ſchätzen mußte. Dazu kam, daß 
mit dem Monat Juni des Jahres 1863 die Dienſtzeit 
von 130 Regimentern zu Ende ging, und da der erſte 
Enthuſiasmus vorüber war, nicht zu erwarten ſtand, daß 
ſich dieſelben zu einer nochmaligen Anwerbung würden be— 
reit finden laſſen. Die weißen Soldaten hatten freilich 
einen Widerwillen gegen die ihnen aufgedrungene Waffen» 
brüderſchaft der Schwarzen, und Ende des Jahres 1863 
zählte die Union nur 35,000 bewaffnete Neger; doch am 
Ende des Jahres 1865 ſchon über 100,000, weil die An— 
werbung der Weißen immer ſchwieriger wurde. 

Beides, die Verkündigung der Sklaven-Emancipation 
wie das Geſetz der Negerbewaffnung erregte bei den Con— 
föderirten die tiefſte Erbitterung. Gewiß wäre es vom 
Standpunkte einer weiſen Staatskunſt und ſelbſt vom 
Standpunkte der Humanität rathſamer geweſen, die halb 
thieriſche, durch die Sklaverei tief herabgedrückte Neger— 
race erſt durch allmähliche Uebergänge für die Freiheit 
vorzubereiten, als ſo plötzlich die rohe Naturkraft dieſer 
Menſchen zu entfeſſeln. Aber Lincoln war ja gerade 
durch den Uebermuth und Scharfſinn des Südens an einer 


— 104 — 


ruhigen Entwickelung feiner Staatskunſt gehindert, er war 
durch den Bürgerkrieg zu dieſer gewaltſamen Maßregel 
gezwungen worden. War die Sklaverei eine der Haupt⸗ 
urſachen geweſen, weßhalb die Südſtaaten den Krieg be— 
gonnen hatten, ſo war fortan die Aufhebung der 
Sklaverei das Hauptziel des Krieges für die Anhänger 
der Union. 

Zunächſt freilich erfüllten ſich die von Lincoln und 
ſeinen Freunden an die Negerbefreiung geknüpften Hoff- 
nungen nur zum geringen Theile. Denn das Anſehen 
der Sklavenbeſitzer war zu tief gewurzelt, und zum Ruhme 
der Mehrzahl derſelben ſei es geſagt, ſie waren ihren 
Sklaven durchaus nicht ſo grauſame Herren geweſen, daß 
dieſe nun plötzlich gegen ihre Herrſchaft ſich hätten erheben 
ſollen. Auch wurden viele Sklaven von der Grenze tiefer 
in's Innere der conföderirten Staaten geſchickt, wo ſie von 
Lincolns Proklamation gar nichts erfuhren. 

Die Generale des Südens kämpften auch im Jahre 
1863 mit vielem Glück und Geſchick; der Kampf wurde 
noch hartnäckiger und blutiger, da die Schlachten ſich auf 
mehrere Tage ausdehnten und meiſt mit der Erſchöpfung 
beider Theile endeteu. General Burnſide hatte den Ober— 
befehl über die Potomac-Armee an Hooker abtreten müſſen; 
dieſer gedachte abermals Lee's Stellung bei Fredericksburg 
zu umgehen und ward abermals bei dem Gehöfte Chan— 
cellorsville, weſtlich vom Schauplatz der vorjährigen 
Schlacht, geſchlagen. Die Schlacht dauerte vom 2. bis 
4. Mai, und in dem neuntägigen Feldzuge hatte General 


— 105 — 


Hooker nicht weniger als 17,000 Mann und 120 Geſchütze 
verloren. Doch ſein Nachfolger im Kommando, General 
Meade, wetzte die Scharte in der dreitägigen Schlacht 
von Gettysburg (I. bis 3. Juli) wieder aus, freilich mit 
ſchwerem Verluſt; die Unioniſten verloren 33,000 Mann, 
die Conföderirten 28,000! Gleichzeitig mit dem bei Get— 
tysburg erfochtenen Siege liefen vom Weſten des Kriegs— 
ſchauplatzes erfreuliche Nachrichten ein: Vicks burg und 
Port Hudſon waren nach hartnäckiger Gegenwehr 


erſtürmt worden, jenes vom General Grant, dieſes vom 


General Banks. Und mit der Schlacht bei Chatta— 
nooga (23. bis 26. September), welche Hooker gewann, 
ſchloß das Jahr 1863 doch günſtig für den Norden, der 
nun den Staat Tenneſſee und das ganze Miſſiſſippigebiet 
in ſeine Gewalt bekommen und die Blokade der feindlichen 
Seehäfen überall durchgeſetzt hatte. 

Als im Dezember d. J. der Friedhof von Gettysburg 
eingeweiht wurde, ließ ſich's der Präſident nicht nehmen, 
mit ſeinem Kabinet der Feier beizuwohnen. Eine anſehn— 
liche Militärmacht und eine zahlloſe Menschenmenge hatte 
ſich ernſt und trauernd um die friſchen Gräber verſammelt, 
der ehrwürdige Edw. Everett weihte den Grund ein in 
eindringlicher, frommer Rede, dann erhob Abraham 
Lincoln ſeine klare, weithin tönende Stimme und ſprach 
folgende denkwürdige Worte: „Siebenundachtzig Jahre 
ſind verfloſſen, da gründeten unſere Väter auf dieſem 
Feſtlande eine neue, zu Freiheit und Gleichheit geſchaffene 


Nation. Wir führen jetzt einen großen Bürgerkrieg, der 


— 


— 106 — 


Welt zu zeigen, daß dieſes und jedes nach ſolchen Grund— 
ſätzen in's Daſein gerufene Volk dauernde Lebensfähigkeit 
habe. Wir ſtehen hier auf einem großen Schlachtfelde 
des ſchrecklichen Krieges und ſind gekommen, einen Theil 
deſſelben als letztes Aſyl derer zu weihen, die hier ihr 
Leben opferten, damit die Nation am Leben bleibe. Pflicht 
und Pietät gebieten es uns. Doch in tieferer Bedeutung 
vermögen wir dieſe Stätte weder zu weihen noch zu 
heiligen. Sie iſt bereits geweiht von jenen Tapferen, die 
— lebend oder todt — hier gekämpft haben, und es ſteht 
nicht in unſerer Macht, dieſe Weihe zu vermehren oder zu 
vermindern. Vielmehr iſt es an uns, den Lebenden, hier 
eine Weihe zu empfangen zur Vollendung des Werkes 
das jene ſo heldenmüthig gefördert haben — wir ſollten 
jene Einſegnung empfangen, auf daß wir im Hinblick auf 
die Gräber unſerer verehrten Todten unſere Begeiſterung 
mehren für die Sache, welcher ſie zum Opfer gefallen ſind, 
daß wir es aus Herzensgrund bekennen, unſere Todten 
ſeien nicht vergeblich geſtorben und die Nation werde, 
will's Gott, die Geburt der Freiheit von Neuem erleben, 
und die Regierung des Volkes durch das Volk und für 
das Volk werde nimmer von der Erde verſchwinden.“ 
Im Dezember des Jahres 1863 erließ Lincoln, um 
nichts zu verſäumen, was möglicher Weiſe die Südſtaaten 
beruhigen könnte, eine Proklamation, welche den Rebellen 
eine allgemeine Amneſtie verhieß, falls ſie ſich bereit er— 
klären würden, die Waffen zu ſtrecken. Wie zu erwarten 
ſtand, ward ſolche Zumuthung mit Hohn zurückgewieſen. 


* 


— 107 — 


So ward denn das Jahr 1864 mit neuen Kämpfen 
begonnen, und daß die leitenden Perſönlichkeiten des Sü— 
dens die höchſte Energie entwickelten, um ihrer Sache den 
Sieg zu verſchaffen, muß zu ihrem Ruhm anerkannt 
werden. Aber dieſe Energie ging allmählich in wilden 
Terrorismus über und nur das Schreckensregiment hielt 
noch die conföderirten Staaten zuſammen. Schon machte 
ſich der Mangel an Kriegsmannſchaft fühlbar, und um die 
Lücken zu füllen, führte man die Conſcription für alle 
Altersklaſſen von 18 bis 50 Jahren durch, zwang die Re— 
gimenter, die ihre Zeit abgedient hatten, weiter zu dienen, 
und dieſe Maßregel bewirkte, daß die Zahl der Ausreißer 
mit jeder Woche ſich vermehrte. Auch die Geldquellen 
drohten zu verſiegen. 

Für den Norden hingegen trat dadurch eine entſchei— 
dende Wendung zum Beſſern ein, daß die Regierung nicht 
mehr die Operationen wie bisher zu zerſplittern Willens 
war, und den Oberbefehl in die Hände des ausgezeichneten 
Generals Ulyſſes Grant legte, der am 9. März von Lin— 
coln die Beſtallung als Generallieutenant der Armee 
der Vereinigten Staaten erhielt. Nun gewann Alles an 
Einheit und Plan. Grant zog die Truppen auf den ent— 
ſcheidenden Punkten zuſammen und ſetzte ſeinen kühn ent— 
worfenen Plan mit bewundernswerther Ausdauer in's 
Werk: die Ueberwältiguug der Armee des General Lee 
und die Einnahme von Richmond durch die Potomacarmee 
in Verbindung mit einer neu gebildeten, die ſich unter 
General Sherman bei Chattanooga ſammeln ſollte; 


— 108 — 


Durchbruch des feindlichen Centrums durch die Unions⸗ 
heere von Georgien in die bisher vom Krieg verſchont 
gebliebenen Staaten am Golf von Mexiko, Zerſtörung 
der Eiſenbahnen und militäriſchen Etabliſſements. Indem 
ſo der Feind in die Mitte genommen und zerdrückt wurde, 
ſchnitt man ihm zugleich alle Zufuhr ab und entzog ihm 
die Mittel des Krieges. 

Entſchloſſen überſchritt Grant mit der Potomac⸗ 
Armee den Rapidan, rückte trotz der heftigen Angriffe des 
Feindes vor, bis Lee, der ſein großes Feldherrntalent 
abermals bewährte, in einer dicht bewachſenen Wildniß, 
wo mit Artillerie und Kavallerie nichts ausgerichtet wer— 
den konnte, ihn zur Schlacht zwang. Die Flintenkugeln 
fielen wie Hagel in die Reihen beider Gegner, Tauſende 
wurden auf beiden Seiten hingeopfert, ohne daß die 
Schlacht eine Entſcheidung herbeiführte. Grant verlor 
25,000 Mann, Lee 18,000 Mann! Vom 5. bis 12. Mai 
war faſt ununterbrochen gekämpft worden. Um ſeine 
Verluſte zu decken, zog Grant die Beſatzungen der nördlich 
vom Potomac gelegenen Plätze an ſich und ging ſchon am 
18. Mai wieder zum Angriff über. Nach harten Kämpfen 
zwang er die Conföderirten durch Umgehung ihres rechten 
Flügels, ihre Stellung bei Spotſylvania aufzugeben, und 
durch einen zweiten Flankenmarſch, ihre befeſtigte Stellung 
zwiſchen North- und South-Anna zu verlaſſen. Unter 
endloſen, hartnäckigen Gefechten gelangte er bis vor Pe- 
tersburg, im Süden von Richmond, der Rebellenhaupt— 
ſtadt, hier hatte ſich aber Lee ſo ſtark verſchanzt, daß er 


— 


— 109 — 


nutzlos das Blut ſeiner Krieger opferte, und am 18. Juni 
mit großem Verluſt zurückgeſchlagen ward. Dadurch er— 
muthigt, wagte Lee noch einmal die Offenſive, ließ 25,000 
Mann durch das Shenandoahthal in Maryland einrücken 
und drang nach Washington vor. Die Reiter des Corps 
von Breckenridge wagten ſich bis an den Fluß der benach— 
barten Feſtungen und Lincoln ſah von ſeinem Landhauſe 
die Wohnung eines Freundes in Flammen aufgehen. Es 
war das letzte Aufflackern des ſüdſtaatlichen Kriegsglückes. 
Grant ſandte einen Theil ſeiner Truppen an den Potomac 
und als noch überdieß General Sheridan ſich mit ſeinem 
Heer von 30,000 Mann bei Wincheſter aufſtellte, mußten 
die Conföderirten Maryland räumen. 

Die zweite Hauptaufgabe, welche ſich Grant geſtellt 
hatte, war, wie oben erwähnt, in das Innere Georgiens 
vorzudringen, und die ſeit dem Beginn des Krieges errich— 
teten Fabriken und Militär-Etabliſſements zu zerſtören. 
Sie ward vom General Sherman glänzend gelöst. Er 
trieb Johnſton von den Keneſawbergen herab, drang ſieg— 
cich bis Atlanta vor, dem Knotenpunkt der Eiſenbahnen, 
der mit beſonderer Sorgfalt durch ſtarke Forts geſchützt 
war. Die Regierung von Richmond übertrug an John— 
ſtons Stelle dem unternehmenden General Hood das 
Kommando, der mit Sherman wacker um den Beſitz der 
Eiſenbahnen kämpfte. Sherman hatte ſich bald überzeugt, 
daß ein direkter Angriff auf die Befeſtigungen von 
zweifelhaftem Erfolg ſein würde; ſo griff er mit richtigem 
Takt zum anderen Mittel, er zerſtörte die Eiſenbahnen 


— 
— 


— 110 — 
(nach Montgomery und Macon führend), die ſüdlich von 


Atlanta ſich vereinigen, und ſobald Hood dies erfuhr, 


räumte er (am 1. September) Atlanta, ſprengte ſämmtliche 
Pulvermagazine in die Luft, ließ die noch vorhandenen 83 
Eiſenbahnwaggons mit Munition beladen und anzünden, 


die Lokomotiven aber dadurch zerſtören, daß man ſie mit 


voller Dampfkraft gegen einander trieb. 


Mit dem Fall von Atlanta war die Rebellion im 


ganzen Weſten zu Boden geworfen. Hood umging nun 
in weitem Bogen Atlanta und warf ſich in den Rücken 
Shermans, der dem General Thomas einen Theil ſeiner 
Truppenmacht überließ, um den Feind aufzuhalten und zu 
täuſchen, mit ſeinem Hauptheere aber (60,000 Mann), das 


er der leichteren Verpflegung wegen in zwei Säulen ges 


theilt hatte, plötzlich in die Berge North-Georgias abbog 
und jenen außerordentlich kühnen Streifzug durch feind— 
liche Gebiete und eine wilde Natur mit größter Schnellig— 
keit ausführte, der ihm ein ehrenvolles Gedächtniß in der 
Kriegsgeſchichte aller Zeiten ſichert. Er zerſtörte hinter 
ſich alle Eiſenbahnen, leitete das Heer ſo geheimnißvoll, 
daß nichts über deſſen Bewegungen verlautete, und wäh— 
rend man in der Union voll ängſtlicher Spannung hin— 
und herrieth, was aus Sherman und ſeinen Tapferen 
geworden ſein möchte, erſchien er wie durch ein Wunder 
im Dezember vor Savannah (an der atlantiſchen Küſte), 
eroberte die Stadt und vertrieb den General Harden, der 
ſich auf Charleston zurückzog, 


— 111 — 


Indem Generallieutenant Grant durch die Belage— 
rung von Petersburg und die Beſetzung des ganzen 
Terrains die Verbindung Richmonds und des Rebellen— 
heeres mit dem Süden abſchnitt, unterband er recht eigent— 
lich die Schlagadern des feindlichen Landes, deſſen Kopf 

tihmond, deſſen Herz Atlanta war. 

Nicht minder wichtig jedoch als dieſe Feldzüge war 
die Wiedererwählung Lincolns (kam 8. November 1864) 
zum Präſidenten der Vereinigten Staaten. Der Kandidat 
der demokratiſchen Partei war MecClellan. Wäre dieſer 
Präſident geworden, ſo würde in kurzer Zeit den Süd— 
ſtaaten ein ſehr billiger Friede gewährt worden ſein und 
die alte Wirthſchaft hätte auf's Neue begonnen. Die 
Republikaner hielten aber gut zuſammen und honest old 
Abe wurde mit einer Majorität von 400,000 Stimmen 
auf neue vier Jahre zum oberſten Lenker der Union 
erwählt. 

Dieſe Wiederwahl Lincolns war für den Süden ein 
Schlag, der noch furchtbarer war als einige verlorene 
Schlachten; ſie bedeutete kräftige Fortſetzung des Krieges, 
unbedingte Unterwerfung des Südens, Aufhebung aller 
Sklaverei; ſie bedeutete aber auch kräftige Aufrechterhal— 
tung von Geſetz und Ordnung durch alle Staaten der 
Union. In ſeiner Rede, die er beim Antritt ſeiner zweiten 
Amtsperiode hielt, ſagte er am Schluß: „Mit Haß gegen 
Niemand, mit Nachſicht gegen Alle, mit unerſchütterlichem 
Glauben an das Recht, wie Gott es uns erkennen läßt, 
laßt uns vorwärts ſtreben, das Werk zu vollenden, das 


— 12 — 


wir begonnen haben. Laßt uns bemüht ſein, die Wunden 
der Nation zu heilen, laßt uns für Jene ſorgen, welche 
des Kampfes Hitze ertragen, für ihre Wittwen und 
Waiſen; laßt uns Alles verſuchen, was einen gerechten, 
dauernden Frieden unter uns ſelbſt und mit allen Nationen 
ſichern kann!“ 

Den Südmännern ſank nun der Muth. Es war 
vorauszuſehen, daß nach dem Fall Sa vannah's auch 
Charleston nicht lange mehr zu halten ſei, daß die ſieg— 
reichen Heere der Union bald zuſammenrücken und Lee's 
geringe Streitkräfte erdrücken würden. Doch erhob 
Jefferſon Davis mit ſeinen Getreuen noch trotzig genug 
das Haupt, als er im Janur 1865 erklärte, daß er geneigt 
ſei, Unterhandlungen zwiſchen „beiden Ländern“ anzu— 
knüpfen, worauf ihn Lincoln bedeuten ließ, daß es ſich 
nur um die Vereinbarung des Volkes im gemeinſa— 
men Vaterlande handeln und von einer Unab— 
hängigkeit der Südſtaaten gar keine Rede ſein könne. Er 
verlangte vor Allem Rückkehr in die Union und Unter- 
werfung unter ihre Geſetze. 

Der Krieg mußte alſo fortgeſetzt werden, und in dem 
Kriegsrathe, der unter Lincolns Vorſitz ſtattfand, ward 
feſtgeſetzt, daß Sherman von Savannah aus nach Süd— 
Carolina vordringen, Charleston durch Abſchneiden aller 
Hilfsmittel zur Uebergabe nöthigen, dann Nord-Carolina 
durchziehen und ſich mit Grants Streitmacht vereinigen 
ſolle, um mit Uebermacht das Heer Lee's zu vernichten. 
Dieſer Plan ward ausgeführt; Lee zog alle vorhandenen 


S 


— 113 — 


Truppenkräfte an ſich; Columbia, Charleston, Georges 
town, Kingſton und andere wichtige Plätze in beiden Ca— 
rolina's wurden eiligſt geräumt. Lee, in immer engere 
Kreiſe eingeſchloſſen, ſetzte den Widerſtand nur noch fort 
in der Hoffnung, unter den Waffen leichtere Friedensbe— 
dingungen und eine vollſtändigere Amneſtie zu erhalten. 
Grant mit der Potomac-Armee, der nach ſo manchem 
Mißgeſchick die Ehre vorbehalten war, die Entſcheidung 
herbeizuführen, rückte ihm auf den Leib; er verſuchte, das 
Centrum Grants zu durchbrechen, ward aber zurückge— 
ſchlagen, und Grant ließ nun alle Verſchanzungen von 
Petersburg gleichzeitig angreifen. Die fünftägige Schlacht 
bei Petersburg (29. März bis 2. April) entſchied den Fall 
der Stadt; Lee zog in der Nacht vom 2. auf den 3. April 
ab und räumte auch Richmond, zündete die ſüdſtaatliche 
Regierungsſtadt an, ſprengte ſeine Pulvermagazine und 
Panzerſchiffe in die Luft und ſuchte mit dem Reſt ſeiner 
Truppen nach Burkesville zu entkommen. 

Der Hauptſitz der Rebellion war ein Trümmerhaufen 
geworden, die Union nach vier blutigen, ſchweren Jahren 
wieder erobert. In beiden Städten wurden die einziehen— 
den Unionstruppen von der meiſt aus Negern beſtehenden 
Bevölkerung mit Jubel empfangen; man gönnte den 
ſchwarzen Regimentern den Triumph, zuerſt in Richmond 
einzuziehen, ihren General Weitzel an der Spitze, der zum 
Stadtkommandanten ernannt wurde. Grant aber zog 
den flüchtigen Rebellentruppen nach, um dem „ 
mit Einem Schlage ein Ende zu machen. 

Igd.⸗Bibl. 8. —— 5 


— 114 — 


Präſident Lincoln hatte während des Kampfes in 
City⸗Point (unweit Petersburg am Jamesfluſſe gelegen) 
verweilt und von dort aus ſeine Depeſchen an den Kriegs— 
ſekretär Stanton nach Waſhington gerichtet. Am Tage 
nach der Einnahme von Richmond oegab auch er ſich dahin; 
er zog nicht im Triumphzuge ein, nicht mit Muſik und 
Fahnen und von ſiegreichen Kriegsſchaaren begleitet, ſon— 
dern mit ſeinem Söhnchen an der Hand (Robert, der 
älteſte, war als Hauptmann im Stabe Grants mit dem 
Heere weiter gezogen), nur vom Admiral Porter geleitet, 
von deſſen Schiffe aus er auf einem Boote ſich nach Rich— 
mond rudern ließ. Nur von den wenigen mit Karabinern 
bewaffneten Seeleuten gefolgt, die ihn zur Stadt geru— 
dert hatten, machte er zu Fuß feinen Rundgang und rich— 
tete ſeine Schritte nach dem Hauptquartier des Generals 
Weitzel, der das Haus des entflohenen Jefferſon Davis 
in Beſitz genommen hatte. Doch unterwegs ward er er— 
kannt, blitzſchnell verbreitete ſich die Kunde durch die Stadt: 
der Präſident iſt gekommen, old Abe iſt da! Und nun 
erhob ſich unter der ſchwarzen und farbigen Bevölkerung 
ein Jubelgeſchrei, die Männer ſanken in die Knie nnd 
vergoſſen Freudenthränen, die Weiber hielten jauchzend 
ihre Kinder in die Höhe, um ihnen Vater Lincoln zu zei⸗ 
gen, und das Gedränge ward ſo groß, daß der Präſident 
kaum von der Stelle konnte. 

Lee's Armee war in voller Auflöſung begriffen, und 
nachdem ſchon ſein letzter Verſuch, durch Sheridans Korps 
ſich einen Weg nach Lynchburg zu bahnen, mißlungen 


— 15 — 


war, bat er (am 9. April) um eine perfünliche Zuſammen⸗ 
kunft mit Grant. Sie ward ihm gewährt und die Kapi— 
tulation abgeſchloſſen unter ſo milden Bedingungen, als 
er ſie in ſeiner verzweifelten Lage kaum hatte hoffen können. 
Nur die Waffen niederlegen und auseinandergehen! — 
mehr wurde nicht verlangt. Lee's Beiſpiel folgte General 
Johnſton in Nord-Carolina. Damit war ein Krieg be— 
endigt, der mehr als eine halbe Million ſtreitbarer Män— 
ner hinweggerafft hatte — 325,000 Mann Unionstrup⸗ 
pen, 200,000 Conföderirte! 

Als Lincoln nach Waſhington zurückkehrte, ging ein 
grenzenloſer Jubel durch die Regierungsſtadt und von 
einem Staat zum andern. Alle guten Bürger fühlten es 
und ſprachen es laut aus, daß ohne den ebenſo ehrlichen 
als feſten Präſidenten der Sieg nicht errungen worden 
wäre. Hatte er Strenge walten laſſen müſſen, ſo war 
doch dieſe nie ohne Milde geweſen, und ſeine wahrhaft 
chriſtliche Geſinnung bewies er jetzt in glänzendſter Weiſe, 
daß er auch ſeinen erbittertſten Feinden gegenüber keine 
Härte, keinen Groll walten ließ. Er hatte ſeinen Gene— 
ralen die größte Schonung des Feindes zur Pflicht gemacht 
und nun, nachdem der Sieg vollſtändig errungen war, 


verzichtete er darauf, die flüchtigen Leiter der Rebellion 


gefangen nehmen zu laſſen. General Sherman hatte 
wiederholt angefragt, wie er ſich verhalten ſolle, im Falle 
man der Machthaber von Richmond, namentlich des Prä— 
ſidenten Jefferſon Davis ſich bemächtigen würde. „Ich 
will Ihnen was ſagen“, erwiderte Lincoln, „hinten im 


et 


— 116 — 


Bezirk Sangamon lebte ein alter Mäßigkeitsprediger, der 
es mit der Lehre und Ausübung der Enthaltſamkeit ſehr 
ſtreng nahm. Eines Tages, nachdem er bei großer Hitze 
einen langen Ritt gemacht, kehrte er im Hauſe eines 
Freundes ein, der ihm eine Limonade bereitete. Während 
der Freund das milde Getränk miſchte, fragte er ein— 
ſchmeichelnd ſeinen Gaſt, ob dieſer nicht ein kleines halbes 
Tröpfchen von etwas Stärkerm darin haben möchte, damit 
er nach dem heißen Ritt die erſchlafften Nerven ein wenig 
ſtärke. „Nein!“ ſagte der Mäßigkeitsapoſtel, „ich bin aus 
Prinzip dagegen. Aber — fügte er dann mit einem 
ſchmachtenden Blick auf die daneben ſtehende Flaſche 
hinzu — wenn Sie es ſo machen könnten, daß ohne mein 
Wiſſen ein Tröpfchen hineinfiele, ſo denke ich, es würde 
mir nicht gerade ſehr wehe thun.“ — „Sehen Sie, 
General!“ ſchloß Lincoln, „meine Pflicht iſt es, die Flucht 
von Jefferſon Davis zu verhindern, aber wenn Sie es ſo 
machen und ihn ohne mein Wiſſen entfliehen laſſen könn— 
ten, ſo denke ich, es würde mir nicht ſehr wehe thun!“ 
Doch ſeinen Feinden war der edle Mann nur um ſo 
verhaßter, als und weil er ein herzensguter Mann war. 
Dieſelben Anführer der Empörung, die Lincoln ſo groß— 
müthig ſchonte, ſchmiedeten Rachepläne und bildeten ein 
Komplott, den Präſidenten meuchlings zu morden. Mit 
ihm ſollten zugleich Grant, der Kriegsminiſter Stanton, 
der Staatsminiſter Seward fallen. Hatten ſie mit Ge— 
walt im offenen Felde nichts ausrichten können, jo woll- 
ten ſie es nun mit der Hinterliſt verſuchen. Waren die 


— 117 — 


Häupter der republikaniſchen Partei gefallen, dann hoff— 
ten ſie in der allgemeinen Verwirrung wieder die de— 
mokratiſche Partei obenauf zu ſehen und ihre Pläne auf 
Umwegen doch noch in Ausführung bringen zu können. 
Menſchen, die für eine ſchlechte Sache kämpfen, machen 
ſich auch über die ſchlechten Mittel, die ſie in Anwendung 
bringen, kein Gewiſſen. Schon im Januar konnte man 
in der Selma Dispatch, einem im Staate Alabama heraus- 
gegebenen Blatte, folgende Anzeige leſen: | 
„Eine Million Dollars werden verlangt, um bis 
zum 1. März den Frieden zu erlangen. — Wenn die. 
Bürger der ſüdlichen Conföderation mir eine Million 
in barem Gelde oder gutem Papier liefern wollen, 
ſo werde ich Abraham Lincoln, William H. Seward 
und Andrew Johnſon bis zum 1. März ermorden 
laſſen. Dies wird uns zum Frieden verhelfen 
und die Welt überzeugen, daß Tyrannen in 
einem freien Lande nicht leben können. 
Wenn dies nicht ausgeführt wird, ſo wird nichts re— 
clamirt werden, mit Ausnahme einer Summe von 
50,000 Dollars, die vorausbezahlt werden muß und 
die nothwendig iſt, um drei Schurken zu erſchlagen. 
Ich ſelbſt werde 1000 Dollar zu dieſem patriotiſchen 
Werke beiſteuern. Jeder, der ſich an dieſem Werke 
betheiligen will, ſchreibe unter P. O. Box X Cahaba, 
Alabama. Dezember 1, 1864.“ 
Seine Freunde hatten den Präſidenten wiederholt ge— 
warnt, auf ſeiner Hut zu ſein und für die Sicherſtellung 


— 118 — 


ſeiner Perſon größere Sorge zu tragen. Als ihm ein 
Mitglied ſeines Kabinets bemerklich machte, daß in der 
großen Unionshauptſtadt Waſhington ſich leicht von den 
Rebellen gedungene Meuchelmörder verbergen könnten, 
öffnete der Präſident ein Pult und zog ein Pack Briefe 
hervor. „Da ſehen Sie — ſprach er — eine Anzahl 
Drohbriefe, von denen jeder mir die Ermordung in Aus— 
ſicht ſtellt. Ich müßte ſehr nervös und aufgeregt ſein, 
wenn ich über dieſen Gegenſtand lange nachdenken wollte. 
Auch habe ich alle Gedanken mit folgender Erwägung 
abgewieſen: Der Gelegenheiten, mich zu morden, giebt es 
ſo viele, daß, wenn Verräther wirklich mit ſolchen Ge— 
danken umgingen, ich bei dem beſten Willen einem ſolchen 
Schickſal nicht entrinnen könnte. Was ſoll ich mir daher 
ganz unnütze Sorgen machen?“ 

Es war am 14. April, dem Charfreitag des Jahres 
1865, am ſelben Tage als vor vier Jahren das Sternen— 
banner der Union auf Fort Sumter geſunken war, als in 
Waſhington die Nachricht eintraf, die Nationalflagge ſei 
wieder aufgehißt worden. Allgemeine Freude herrſchte 
in Waſhington und auch Lincoln war heiter geſtimmt. Er 
hatte mit ſeinem Sohne Robert gefrühſtückt und ſich von 
ihm, der ſoeben vom Schlachtfelde zurückgekehrt war, alle 
Einzelheiten der letzten Kämpfe bis zur Kapitulation Lee's 
erzählen laſſen. Um 11 Uhr hatte eine Kabinetsſitzung 
ſtattgefunden, an der ſich General Grant betheiligte; man 
hatte ſich bald über die Grundſätze geeinigt, nach denen 
die Regierung vorgehen müſſe, um die tiefen Wunden des 


55 


Landes zu heilen und die geſetzliche Ordnung wieder her⸗ 
zuſtellen. Nach der Mittagstafel unterhielt ſich der Prä— 
ſident ſehr eingehend mit einer Deputation von Bürgern 
aus Illinois, und Abends empfing er noch Herrn Colfax, 
den Sprecher des Repräſentantenhauſes und Herrn Aſh— 
man, den Vorſitzenden bei der Chicago-Convention von 
1860. Man ſprach über Lincolns Ausflug nach Rich— 
mond, und einer der Anweſenden machte die Bemerkung, 
daß die Anweſenheit des Präſidenten in der Hauptſtadt 
der Rebellion doch für deſſen Leben hätte gefährlich werden 
können. Lincoln gab ſcherzend zu, daß auch er ſich würde 


beunruhigt haben, wenn unter den obwaltenden Um— 
9 


ſtänden ein Anderer als Präſident nach Richmond ge— 
gangen wäre; für ſich ſelber ſei er jedoch gar nicht beſorgt 
geweſen. 

Für den Abend war der Präſident und General 
Grant in's Theater geladen worden. Zu bedauern iſt, 
daß in Amerika die ſchöne chriſtliche Sitte, das Theater 
am Charfreitag zu ſchließen, nicht vorherrſcht. Obwohl 
Miſtres Lincoln etwas leidend und nicht für den Be— 
ſuch des Theaters geſtimmt war, wollte der Präſident 
doch, da man ſchon in den Zeitungen ſeinen Beſuch gemel— 
det hatte und das über die Siegesnachrichten froh erregte 
Publikum vorausſichtlich zahlreich verſammelt ſein würde, 
ſein Erſcheinen nicht ablehnen. Er lud Herrn Colfax 
ein, ihn zu begleiten, dieſer lehnte ab. Grant hatte ſeine 


Abreiſe zur Armee beſchleunigt, und ſo fuhr denn der 


Präſident mit jeiner Gemahlin gegen 8 Abends allein 


—: 120: 


vom Weißen Haufe*) ab und ließ vor dem Haufe des Se⸗ 
nators Harris halten, um Fräulein Clara Harris und 
deren Stiefbruder Major Rathbone abzuholen. 


Man hatte für den Präſidenten und ſeine Geſellſchaft 
eine Proſceniumsloge erſten Ranges, die im zweiten Stocke 
lag, reſervirt und vorn mit dem Sternenbanner ge— 
ſchmückt. Hinter dieſer Loge lief ein dunkler Korridor, 
deſſen Wand einen ſpitzen Winkel mit einer der Thüren 
bildete, welche in die Doppelloge führten. Dort hatte 
ſich ein kräftiger junger Mann aufgeſtellt, mit Sporen an 
den Stiefeln und keineswegs in der Toilette, die man für 
das Theater wählt. Er hatte mit großem Scharfſinn 
ſeine Vorſichtsmaßregeln genommen, durch ein zuvor in 
die Logenthür gebohrtes Loch geſehen, daß der Präſident 
in einem Schaukelſtuhle zunächſt dem Orcheſter ſaß, neben 
ihm ſeine Gemahlin, Fräulein Harris in der Ecke, zu— 
nächſt der Bühne der Major Rathbone, auf dem Divan 
an der Hinterwand. 


Das Stück, welches geſpielt wurde, hieß: „Unſer 
amerikaniſcher Vetter.“ Während die Zuſchauer ihre 
Aufmerkſamkeit auf die Bühne richteten, trat der genannte 
ruchloſe Menſch — es war der Schauſpieler Wilkes Booth, 
ein fanatiſcher Anhänger der ſüdſtaatlichen Partei — in 
die leiſe geöffnete Thür der Loge, ſchloß ſie ſchnell, ging 


*) So heißt das aus weißem Marmor erbaute Haus in 
Waſhington, worin der Präſident ſeine Wohnung hat. 


— 


— 121 


keck vor, zog ſein ſcharf geladenes Piſtol und ſchoß ſicher 
und feſt zielend dem arglos daſitzenden Präſidenten durch's 
Hinterhaupt. Ein Mal noch hob das Opfer des Mörders 
ſein Haupt, dann ſank es und die Augen ſchloſſen ſich, ob— 
wohl der kräftige Mann noch athmete. 

Major Rathbone, der ſich nach dem Piſtolenknall 
umſah und im Pulverrauch einen Mann ſtehen ſah, ſprang 
ſchnell entſchloſſen auf dieſen ein und packte ihn; Booth 
aber warf die Piſtole fort, zog ein ſtarkes Bowiemeſſer 
und führte einen Stoß auf die Bruſt ſeines Angreifers. 
Dieſer parirte den Stoß mit ſeinem Arm, der eine tiefe 
Wunde erhielt. Nun ſprang Booth nach der Brüſtung 
der Loge und obwohl ihn Rathbone abermals am Rocke 
feſtzuhalten ſuchte, ſchwang er ſich hinauf und rief, ſein 
Meſſer ſchwingend: „Nache für den Süden!“ Dann ſprang 
er mit einem Satze auf die Bühne hinab, verwickelte ſich 
jedoch mit einem Sporn in das Unionsbanner, von dem 
er ein Stück abriß, ſo daß er unten angelangt zu Boden 
ſtürzte. Der Fuß hatte ſich verrenkt; das hinderte ihn 
jedoch nicht, ſchnell wieder auf die Beine zu kommen. Er 
ſchwang abermals ſein blutiges Meſſer und recitirte in 
theatraliſchem Pathos den Wahlſpruch des Staates Vir— 
gin ien: „Sic semper tyrannis!“ (So geſchehe allen 
Tyrannen allezeit!) Da er mit allen Thüren und Gängen 
der Bühne genau bekannt war, gelang es ihm ſchnell zu 
entkommen. Draußen ſtand ſchon ein geſatteltes Pferd, 
das ein Knabe hielt. Er beſtieg's und ſpreugte in der 
Dunkelheit davon. 


— 122 — 


Die Aufregung und Verwirrung im Theater war 
unbeſchreiblich; ſie ward noch geſteigert durch die Nachricht, 
daß auch Seward ermordet worden ſei. Ein fremder 
Menſch war bewaffnet in deſſen Krankenzimmer gedrungen 
— denn der Staatsſekretär hatte bei einer unglücklichen 
Ausfahrt Arm und Kinnlade gebrochen und lag ſchwer 
darnieder — hatte Alle, die ſich ihm entgegenſtellten, nie= 
dergeſchlagen und dann dem in ſeinem Bette liegenden 
Kranken mehrere Stiche in den Hals verſetzt, die zum 
Glück nicht tödtlich waren und nur einen ſtarken Blutver⸗ 
luſt zur Folge hatten. 

Die Kugel, welche das Leben des Präſidenten raubte 
war vom linken Schläfenbein, das ſie durchbrach, nach 
dem rechten Ohr vorgedrungen; das Blut ſtrömte aus der 
Wunde, es floß aber auch Gehirnmaſſe aus und Hilfe war 
unmöglich. Man brachte den tödtlich Verwundeten in ein 
nahes Privathaus, das Volk lagerte vor der Thür, bis 
zum letzten Augenblick ſich der Hoffnung hingebend, es ſei 
doch vielleicht noch Rettung möglich. Lincoln hatte auf 
der Stelle das Bewußtſein verloren und gewann es nicht 
wieder; ſeine Bruſt hob ſich einige Mal, dann athmete er 
leiſe fort, bis ſich ohne Zuckungen und Röcheln am andern 
Morgen um halb acht Uhr die Seele von ihrer ſterblichen 
Hülle löste. Der Jammer der Seinen, die Thränen, 
deren ſich auch die feſteſten Männer nicht erwehren konnten 
die an ſeinem Lager ſtanden, das Wehklagen des Volkes, 
das ſeinen Präſidenten wie einen Vater geliebt hatte, boten 
erſchütternde Scenen dar. Nie iſt wohl der Jubel ei nes 


ee FD 


Volkes auf fo ſchnelle und ſchmähliche Weiſe in tiefſte 
Trauer verwandelt worden, als es am Charfreitage 1865 
zu Waſhington geſchah, und ſchwerlich iſt je ein Fürſt 
von ſeinem Volke mit ſo aufrichtigen und heißen Thränen 
beweint worden, als dies bei der Kunde vom Tode Abra- 
ham Lincolns, des aus dem Volke hervorgegangenen erſten 
Beamten des Volkes geſchah. Die Trauerkunde durchlief 
die ganze Union, die Weiber und Kinder der Schwarzen 
zogen heulend und ſchluchzend durch die Straßen, und die 
Neger klagten, bange vor der Zukunft, daß ihr Vater ge- 
mordet ſei. Selbſt in den Südſtaaten ward die Trauer: 
kunde nicht ohne tiefe Erſchütterung vernommen, denn ob 
auch dort alle Bande der Ordnung und des Geſetzes ge— 
löst waren, jo gab es doch noch menschliche Herzen genug, 
welche ihre edleren Gefühle nicht im Parteienhaß erſtickt 
hatten. 

Abraham Lincoln hatte erſt ſein 57. Jahr begonnen, 
als ihn die Kugel des Verruchten traf; es war im zweiten 
Mo at ſeiner zweiten Präſidentſchaft. In der Reihe der 
Präſidenten war er der ſechszehnte. 

Nachdem der geliebte Todte einbalſamirt worden war, 
ſtellte man ihn im Paradebett auf prachtvollem Katafalk 
im Bundespalaſt aus. Tauſende von weißen und ſchwar— 
zen Männern und Frauen drängten ſich herzu, um noch 
einmal das Antlitz des Vaters der Nation zu ſehen. Die 
Leiche ſollte in Springfield ruhen, wo der Hingeſchiedene 
ſein Daheim gegründet und ſich ſo wohl gefühlt hatte. 
Der Trauerzug bewegte ſich durch alle Staaten und 


— 124 — 


Städte, die der neu erwählte Präſident vor nicht langer 


Zeit, vom Jubelgeſchrei des Volkes begrüßt, durchzogen 
hatte. Wiederum wurden, ſobald der Leichenzug anlangte, 
Glocken geläutet und Kanonen gelöst, aber diesmal waren 
es Trauertöne, welche in das Schluchzen und Klagen der 
Menge ſich miſchten. 

Der reizend gelegene Oakwood-Kirchhof zu Spring— 
field empfing die ſterblichen Reſte und ward fortan der 
Wallfahrtsort eines treuen, dankbaren Volkes. Ein ſchö— 
nes Denkmal iſt dem großen Mann 1868 zu Waſhington 
vor dem Weißen Hauſe errichtet worden. 


= 5 = 


Was ein Mann wie Abraham Lincoln zu bedeuten 
hat, das wird erſt im Lauf der Zeiten offenbar, wenn das, 
wofür der Held lebte und litt, ſtrebte und ſtarb, ſich aus 
dem trüben Gährungsprozeſſe einer Uebergangsepoche ge— 
läutert, klar und rein hervorgearbeitet hat. Daß der 
Wohlſtand vieler Tauſender Bürger der Südſtaaten zer— 
rüttet, daß von der Wirkſamkeit der Kirche und Schule in 
dieſem Theile der Union nicht mehr die Rede und demzu— 
folge eine Verwilderung eingetreten war, die erſt durch 
viele Friedensjahre bewältigt werden kann; daß auch in 
den Nordſtaaten durch den Bürgerkrieg Alles gelockert, 
Schwindel und Betrug, Beſtechung und Heuchelei obenauf 
gekommen war, daß endlich die plötzlich befreiten Neger 
von demüthigen Arbeitsſklaven zu Bürgern und Verthei— 
digern des Vaterlandes emporgehoben, hier und da aus 


— 125 — 


der Freiheit ſchnell zur Frechheit übergingen, und mit fol= 
datiſchem Uebermuth und der Rohheit ihrer Race ihre 
weißen Mitbürger ſchreckend, kein erfreuliches Bild dar— 
boten; daß Tauſende von Negerfamilien zu Grunde gingen, 
weil ſie nicht arbeiten wollten und nicht mehr von ihren 
weißen Herren gepflegt wurden; dieſe dunklen Schatten 
ſtehen unheimlich genug hinter dem lichten Charakterbilde 
des edlen Lincoln und wir dürfen unſern Blick nicht davon 
abwenden. Man hat gefragt, ob Lincoln, wenn er leben 


geblieben wäre, auch im Stande geweſen ſein würde, die 


ungeheuren Aufgaben, die ſich nun dem Präſidenten der 
Union aufdrängen, zu löſen? Und Viele haben mit einem 
bedenklichen Nein geantwortet. 

Nun freilich, alles Unebene eben zu machen, alle 
Probleme zu löſen, die ſchwarze Race mit Einem Ruck in 
das rechte Verhältniß zur weißen zu bringen, das hätte kein 
dem Irrthum unterworfener Sterblicher vermocht. Aber 
daß Abraham Lincoln in ſeiner ſittlichen Reinheit und 
Hoheit, in ſeiner milden Geſinnung und Menſchenfreund— 
lichkeit in Verbindung mit ſeiner unbeugſamen Feſtigkeit 
und Selbſtändigkeit der rechte Mann geweſen wäre, in die 
zerrütteten Verhältniſſe der Republik ordnend und neuge— 
ſtaltend einzugreifen, das wird wohl Niemand bezweifeln. 

Solche Helden und Herolde der Freiheit wie 
Waſhington und Lincoln haben nicht für ihre Zeit, ſie 
haben für alle Zeiten gelebt, der Geſchichte ihrer Zeit ihr 


Gepräge aufgedrückt, gleichwie fie ihr Leben zu einem vor⸗ 


leuchtenden erhoben und läuterten. 


Wir haben ſchon oben erwähnt, wie Lincoln die Deutſchen 
in der Union ſich zu Freunden machte; er wußte, daß ſie 
frei von Selbſtſucht und nationalem Dünkel die großen 
Gedanken der Freiheit und Gleichberechtigung der 
Menſchen zur Freiheit am reinſten erfaßten. Das hat er 
unter Anderem in zwei herrlichen Briefen an unſern 
deutſchen Landsmann Dr. Th. Caniſius, ſpäter nordameri- 
kaniſcher Konſul in Wien, ausgeſprochen, der in Spring— 
field mit ihm perſönlich bekannt wurde und ſich die Freund— 
ſchaft des großen Mannes gewann. 

Der erſte Brief bezieht ſich auf ein vom Staate 
Maſſachuſetts zu Gunſten der „Nativiſten“ oder „Know— 
nothings“ geſtelltes Amendement und charakteriſirt den 
Schreiber deſſen gleich vortheilhaft durch die Entſchieden— 
heit und Mäßigung, mit der er den vorliegenden Fall auf— 
faßt und in's rechte Licht ſetzt: Er lautet: 

„Springfield, 17. Mai 1859. 
Herrn Dr. Theodor Caniſius. 
Werther Herr! 

Ihren Brief, in welchem Sie für ſich ſelbſt und andere 
Bürger deutſcher Abkunft fragen, ob ich für oder gegen die 
Kouſtitutionstlauſel bin, in Bezug naturaliſirter Bürger die 
kurzlich von Maſſachuſetes angen mmen wurde, und ob ich für 
oder gegen eine Fuſion*) der Republikaner und anderer Oppo— 
ſitions-Elemente für die Wahlcampagne von 1860 bin, habe ich 
erbüngaſſachnſetts iſt ein ſouveräner und unabhängiger Staat, 
und ich bin nicht befugt, denſelven für das, was er thut, zurecht— 


zuweiſen. Wenn man jedoch aus dem, was derſelbe gethan, 
einen Schluß zu ziehen jucht, was ich thun wurde, jo kann ich 


* Verbindung verſchiedener Parteien. 


— 


a 


wohl, ohne unbeſcheiden zu fein, mich ausſprechen. Ich fage 
deshalb, daß ich jo wie ich die Maſſachuſetts-Clauſel veritehe, 
gegen die Annahme derſelben bin, ſowohh in Illi⸗ 
nois als an irgend einem andern Orte, wo ich das Recht habe, 
ihr entgegenzutreten. Indemi h den Geiſtunſerer Institutionen 
ſo verſtehe, daß derſelbe die Erhebung der Menſchen 
anſtrebt, bin ich Alem entgegen, was zur Erniedrigung derſel— 
ben beiträgt. Es iſt ziemlich allgemein bekannt, daß ich die 
unterdrückte Lage der Neger bemitleide, ich wurde folglich ganz 
merkwürdig inkonſequent ſein, wenn ich irgend eine Maßregel 
begünſtigen könnte, welche die Tendenz hat, die beſtehenden 
Rechte weißer Männer zu beeinträchtigen, wenn ſie auch 
in einem andern Land- geboren ſind oder eine andere Sprache 
ſprechen als die meinige. 

Was nun die Sache einer Fuſion anbelangt, ſo bin ich für 
eine ſolche, wenn dies auf republitaniſchen Grundſätzen gethan 
werden kann; doch unter keiner andern Bedingung bin 
ich dafür. Eine Fuſion unter andern Bedingungen würde 
eben o lächerlich als prinziplos Sein. Es würde dad rch der 
ganze Norden verloren gehen während der gemeinſame Feind 
doch noch den ganzen Süden für ſich gewinnen würde. 

ie Frage, in Bezug auf Männer, iſt eine verſchiedene. Es 
befinden ſich gute und patriotiſche Männer und fähige Staats 
männer im Süden, die ich mit Freuden unkerſtützen würde, 
wenn ſie ſich auf den Boden republikaniſcher Grundſätze ſtellten; 
aber ich bin dagegen, daß das republikaniſche Banner auch nur 
um ein Haar b eit geſenkt wird. 

Ich habe dies in Eile geſchrieben, aber ich glaube, daß es 
Ihre Fragen im Weſentlichen beantwortet. 

Ihr ergebener Abraham Lincoln. 


Am 4. Juli 1858 feierten die deutſchen Republikaner 
Chicagos in Wrights Grove den Tag der Unabhängig— 
keitserklärung der Vereinigten Staaten in ganz beſonders 
feierlicher Weiſe, da ihnen von den Damen der 7. Ward 
eine prachtvoll geſtickte Fahne überreicht wurde. Lincoln 
wurde von dem Comite eingeladen, dem Feſte beizu— 
wohnen; da ihn aber anderweitige Engagements abhielten, 


— 128 — 
der Einladung Folge zu leiſten, ſo ſchrieb er dem Comite 
folgenden Brief: 
„Springfield, 30. Juni 1858. 


Meine Herren! Ihr gütiger Brief, der mich einladet, Ihrer 
Feier des Jahrestages der amerikaniſchen Unabhängig eit bei— 
zuwohnen, die am 4. jtatıfindet, und bei welcher Gelegenheit den 
deutſchen Republikanern der 7. Ward Ihrer Stadt ein Banner 
überreicht werden ſoll, iſt mir zugekommen. Ich bedauere er- 
klären zu müſſen, daß meine Engagements derart ſind, daß ich 
nicht bei Ihnen ſein kann. Ich habe mehrere Einladungen 
vorher erhalten, die ich alle abzulehnen gezwungen war, bis 
auf eine, die mir einen einzigen Tag von meiner Zeit fortneh— 
men wird. Ihrem Feſte beizuwohnen würde wenigſtens vier 
erfordern. : 

Ich ſende Ihnen einen Toaſt: 


Unſere deutſchen Mitbürger — ſtets der Frei⸗ 
heit, der Union und der Conſtitution treu treu 
der Freiheit, nicht aus Selbſtſucht, ſon dern 
aus Prinzip — nicht für jpecielle Klaſſen von 
Menſchen, ſondern für alle Menſchen; treu der 
Union und der Conſtitution, als die beſten 
Mittel, jene Freiheit zu fördern — Hoch! 

Ihr gehorſamer Diener A. Lincoln.“ 


Das ſind zwei werthvolle Andenken, und Verfaſſer 
glaubt, ſeine biographiſche Skizze nicht beſſer ſchließen zu 
können, als mit der Mittheilung dieſer Briefe. 


—— men — 
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