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in 2010 with funding from
State of Indiana through the Indiana State Library
http://www.archive.org/details/abrahamlincolnde00grub
Germania
Yugend Biblistheh.
Alrıfım E N incoh,
der große Staatsmann und edle
Menſchenfreund.
Eine biographilche Skizze
von
A. W. Grube.
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Wlilwankee.
Verlag von Geo. Brumder.
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6 ie Vereinigten Staaten von Nordamerika ſind
2 jetzt ein Reich, das vom atlantiſchen bis zum
ſtillen Ozean ſich erſtreckend und die ganze Mitte
des nordamerikaniſchen Kontinents einnehmend, zu den
größten und bedeutendſten Staatsweſen des Erdeurunds
zählt, deſſen Länderumfang den von England, Frankreich,
Deutſchland und Oeſterreich zuſammengenommen noch
vier Mal übertrifft, deſſen Einwohnerzahl (gegenwärtig
über 50 Millionen ſtark) mit ſtaunenswerther Raſchheit
zunimmt und deſſen Kraft ſelbſt während des letzten
Bürgerkrieges, wo der Norden mit dem Süden blutig
rang und die Exiſtenz der Union auf dem Spiele ſtand,
noch ſo groß war, daß weder England noch Frankreich es
wagten, den Südſtaaten offenen Beiſtand zu leiſten, ob—
wohl ihnen deren Losreißung und die Sprengung der
Vnion höchſt erwünſcht geweſen wäre.
N Zwei Männer, die zu den edelſten und beſten ge—
hören, welche die Geſchichte zu nennen hat, ſtrahlen in
— 6 — .
unvergänglichem Glanze als Gründer, Erretter und Er—
halter dieſes großmächtigen Freiſtaats: George
Waſhington und Abraham Lincoln. Wenn
es erlaubt iſt, von einzelnen großen Männern zu ſagen,
daß in ihnen die Tugend ihres Volkes ſich vereinige, ſo
darf man auch wohl von Waſhington ſagen, er habe die
Republik der Vereinigten Staaten gegründet, und von
Lincoln, er habe ſie gerettet.
So verſchiedenartig beide große Männer in ihrer
äußeren Erſcheinung nicht blos, ſondern auch in ihrer
Begabung waren, ſo gleichartig waren ſie doch nicht nur
in ihrer politiſchen Geſinnung, ſondern im ganzen Kern
ihres Weſens, in dem, was den Menſchen groß und be—
deutend macht.
Waſhington war ohne Zweifel die reicher ausge—
ſtattete Natur; er war ebenſo groß als Kriegs-, wie als
Staatsmann, ein tapferer Soldat, ein ausgezeichneter
Heerführer, unerſchöpflich in Hilfsmitteln und wohl durch—
dachten Bewegungen, um ſich in einem langen Verthei—
digungskriege mit unzulänglichen Kräften einem ſtärkeren
Feinde gegenüber zu behaupten. Von feurigem Tempe⸗
rament, war er ſchnell im Handeln, im Ergreifen des
günſtigen Augenblicks, und doch wieder kühl und beſonnen
im Ueberlegen, maßvoll und ruhig im Befehlen und
Lenken. So mangelhaft auch die Schulbildung noch zu
jener Zeit in Amerika war und auch zu Lincolns Zeit
noch blieb, ſo ſtanden dem jungen Waſhington doch
reichere Bildungsmittel zu Gebot als dem Knaben
ER
Lincoln, und feine Familienverhältniſſe wirkten günſtiger
auf ſeine geiſtige Entwicklung. Lincoln hingegen, der
arme Hinterwäldler, der, ſobald er Arme und Beine ge—
brauchen konnte, in den Wald hinauswandern und mit
dem Vater um die Wette die Axt des Holzfällers
ſchwingen mußte, der arme Lincoln mußte es für ein
hohes Glück erachten, als es ihm gelungen war, Leſen
und Schreiben zu erlernen und ſich ein paar Bücher zu
verſchaffen, und er hatte es bis zu ſeinem neunzehnten
Lebensjahr nur erſt zum Flößerknecht (Flachbootsmann)
gebracht. Waſhington mußte auch im Schweiße ſeines
Augeſichts arbeiten und hat als Feldmeſſer ſich ſein Brod
treu und redlich verdient, aber Lincoln durfte ſich mit
noch größerem Recht einen self made man nennen, der
Alles aus ſich ſelber machen mußte und mit ſeltener Vir—
tuoſität gemacht hat. Wie ſo mancher von Geldmitteln
entblößte Einwanderer, der nach Amerika nichts
mitbringt als arbeitsluſtige Hände und einen geſunden
Verſtand, der es ſich nicht verdrießen laſſen darf, Kutſcher
und Gärtner, Handelsmann und Lehrer zu werden, wie
es ſich eben ſchicken will, ſo hat auch Lincoln, der geborne
Amerikaner, eine ganze Reihe von Berufsarten und
Lebensſtellungen durchgemacht, bis er an's Ziel gelangte,
vom Holzfäller und Flachbootsführer zum Krämer, Feld—
meſſer und Hauptmann der Freiwilligen — in welcher
Stellung er ſattſam erkannte, daß er gar kein militä—
riſches Talent beſaß — weiter zum Poſtmeiſter und
endlich zum Advokaten. Mit ſeiner Stellung als
—
„Rechtsanwalt“ hatte er feinen wahren Beruf erreicht,
da reifte ſchnell ſein redneriſches und ſtaatsmänniſches
Talent, da hatte er Gelegenheit in aller Fülle, jenen
Adel der Geſinnung zu offenbaren, den er mit dem
großen Waſhington theilte, jene reine und hohe Be—
geiſterung für Recht und Gerechtigkeit, die rein menſch—
liche Theilnahme für die Unterdrückten und Schwachen,
aber auch den ſittlichen Muth und die unbeugſame Feſtig—
keit den ungerechten Machthabern gegenüber, endlich die
vollkommenſte Uneigennützigkeit, Unbeſtechlichkeit und
Rechtlichkeit, die auch keinen Strohhalm breit vom Wege
der Pflicht und Ehre abwich. Längſt, bevor er zur
höchſten Würde emporſtieg, welche ein Bürger der Ver—
einigten Staaten erreichen kann, ward ihm der ſchönſte
und ehrenvollſte Beiname zu Theil, in welchem das Volk
kurz und gut den Werth und das Weſen des verehrten
Mannes zuſammenfaßte; man nannte ihn den „ehrlichen
Abe.“ “) Viermal ward er in die geſetzgebende Verſamm—
lung von Illinois gewählt, dann in das Abgeordneten—
haus zum Kongreß, ſchließlich zum Präſidenten der
Union. Als er im Drange der Nothwendigkeit gleich
Waſhington mit unbeſchränkter Macht bekleidet ward, da
bewährte er ſich auch wie Waſhington als der gewiſſen—
hafteſte Staatsbürger gegenüber dem Geſetz, da blieb er
der „ehrliche Abe.“ In dieſer Fflichttreue, Redlichkeit
*) Honest Abe. „Abe“ iſt die zärtliche Verkleinerungs⸗
form des Vornamens „Abraham.“
—
und unbedingten Hingabe an das Staatsganze ſtehen
beide Helden Schulter an Schulter. Sie ſtanden beide
in den hochgehenden Wogen des Kampfes wie uner—
ſchütterliche Felſen; auf beiden ruhte der Segen der
Elaubenstreue und Sittenſtrenge ihrer proteſtantiſchen
Vorfahren, die ihr geſundes, praktiſches Chriſtenthum
in die neue Welt hinübergerettet hatten und deren Frei—
heitsſinn in der Gottesfurcht wurzelte.
Beide kämpften für die von ihnen als richtig erfann-
ten Grundſätze der Freiheit. Und weil ſie ſich nichts da—
von wollten abmarkten und abwendig machen laſſen, ſo
wurden ſie beide gezwungen, als rechte Männer fir das,
was ſite als richtig erkannt hatten, einzu reten, ja zum
äußerſten Kampf gedrängt. So wenig es anfangs
Lincoln in den Sinn gekommen war, die Sclaverei mit
Stumpf und Stiel auszurotten, wie er in ſeiner Milde
und Verſöhnlichkeit immer darauf bedacht war, mit den
Südſtaaten ein billiges Abkommen zu treffen und dem,
was ſie nun einmal im Beſitz hatten, Rechnung zu
tragen; wie er aber, als die Sklavenſtaaten mit unver-
ſöhnlichem Haß gegen den Norden darauf ausgingen, ſich
loszureißen und die ſo ſchwer errungene Einheit der
großen Republik zu zertrümmern, nun auch das äußerſte
aufbot — und das war die Befreiung der farbigen Race
aus der Sklaverei — um die Republik zu retten: ſo ging
auch Waſhington Schritt vor Schritt gegen das tyranniſch
gewordene Mutterland vor, das ſeine amerikaniſchen Kolo—
nien beſteuern wollte, ohne ihnen das Recht einzuräumen,
— 10 —
über ihre Beſteuerung durch Abgeordnete aus dem eigenen
Volke mitzureden und abzuſtimmen. Noch im Jahre 1774,
kaum ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung, ſchrieb
Waſhington an den Hauptmann Mackenzie: „Man macht
Sie glauben, das Volk von Maſſachuſſets ſei ein Volk von
Rebellen, die ſich für die Unabhängigkeit erhoben haben,
und was weiß ich? Erlauben Sie mir, lieber Freund,
Ihnen zu ſagen, daß Sie im Irrthum, im groben Irr⸗
thum ſind. Ich kann Ihnen als Thatſache bezeugen, die
Unabhängigkeit iſt weder der Wunſch noch das Intereſſe
dieſer Kolonie oder einer andern auf dem Kontinent,
weder im Einzelnen noch im Ganzen. Aber zugleich
können Sie darauf rechnen, daß keine von ihnen ſich je
die Vernichtung ihrer Privilegien, jener koſtbaren Rechte,
gefallen laſſen wird, die für das Glück jedes freien
Staates weſentlich ſind und ohne welche Freiheit, Eigen—
thum und Leben jeder Sicherheit entbehren.“ Und
Lincoln, als er vor dem verſammelten Volle beim feier—
lichen Antritt ſeines Präſidentenamtes auf dem Kapitol
zu Waſhington (5. März 1861) ſeine Rede hielt, ſprach
ſich alſo aus: „Das Volk des Südens ſcheint zu befürch—
ten, daß ſein Eigenthum, ſein Friede und ſeine perſönliche
Sicherheit gefährdet werden. Für dieſe Furcht giebt es
keinen vernünftigen Grund. In Allem habe ich geſagt
und wiederhole es jetzt, daß ich nicht die geringſte Abſicht
habe, weder direkt noch indirekt, der Sklaverei, wo ſie
einmal zur Zeit beſteht, entgegenzutreten.“ Er durfte
mit gutem Gewiſſen ſo reden.
BER
Lincoln war nicht jo glücklich wie Waſhington, der
nach dem thatenreichſten Leben fein Daſein harmoniſch
vollendete und von der ganzen Nation verehrt, im Hin—
blick auf die ſegensreichen Früchte ſeines Wirkens ſterben
konnte. Lincoln aber war glücklicher, denn ihm ward
vergönnt für die Sache der Freiheit, der Einheit und
Größe ſeines Vaterlandes, den Märtyrertod zu leiden.
Ward er auch in einem Moment hinweggenommen, wo
er dem Staate noch ſehr nothwendig war, ſo hatte er den
Triumph des Nordens, der für die Einheit der Union
kämpfte, erlebt, jo war doch der ſchreckliche Bürgerkrieg glück—
lich geendet und manche trübe und verwirrende Scene
welche die Befreiung der Neger im Gefolge hatte, wurde
ſeinen Augen entzogen.
Auch darin möchten wir ein höchſt glückliches und
beneidenswerthes Loos erkennen, daß, was den eigent—
lichen Nerv des amerikaniſchen Volkes bildet, nämlich
die Arbeit, von Lincoln in allen Stufen, von der
unterſten bis zur oberſten, durchgemacht wurde; daß die
Arbeit, wie ſie dem Manne Selbſtändigkeit und Freiheit
giebt, das Familienleben ſchützt, den Keim für politiſche
Unabhängigkeit rege erhält, in Abraham Lincoln ſich
im reinſten Adel darſtellte. Die Vereinigten Staaten,
die alle Racen und Bildungsgrade der verſchiedenſten
Menſch! neigenthümlichkeiten in ſich aufnehmen, die ſo
viel Unreines und Böſes auch mit in den Kauf neh-
men müſſen, ſind einem gewaltigen Schmelztiegel zu
vergleichen, in welchem mancherlei Metalle und
Miſchungen zuſammengeſchmolzen werden, darin es
ſchäumt und in Blaſen aufſteigt, und in dem trüben
Schaum nichts Gutes ſich bilden zu können ſcheint. Aber
weſſen Blick von der Oberfläche in die Tiefe dringt,
der weiß auch, daß ſich da ein großer Läuterungsprozeß
vollzieht und ein geſunder, reiner Kern im Innern vor⸗
handen iſt. Dieſe Reinigung und Läuterung vollzieht
ſich aber durch die Arbeit, welche in keinem
Lande der Erde ſo wie in den Vereinigten Staaten für
den Mann zur Nothwendigkeit wird und nirgend
anders ſo wie in den Vereinigten Staaten ſein Adels—
brief iſt. Bei allem Schwindel und Humbug, bei allem
Rennen und Jagen nach Geld und Erwerb, zwingt
doch ſchließlich das Geſetz der Arbeit die Geſetzesverächter
zur Ordnung und führt das lockere Geſindel hin zur
Stetigkeit und Würde einer bürgerlichen Exiſtenz.
Dieſer Adel nun des arbeitenden nordamerikaniſchen
Volkes, das in der Arbeit auch ſeine ſittliche Erhebung
findet, iſt in Abraham Lincoln verkörpert in all ſeiner
Glorie erſchienen. Mit allen Kräften zu ſtreben und
zu ringen nach Verbeſſerung der eigenen Lage, raſtlos
zu ſtreben nach Fortbildung und Veredlung, damit der
Einzelne ein würdiges Glied des ſtaatlichen Gemeinwe—
ſens ſei, das war Lincolns Leben und Streben von
einer Jugen an, und als Staatsmann und Volksredner
kam er immer wieder darauf zurück, wenn er auch dieſen
Grundgedanken nicht immer ſo ſcharf ausſprach, wie es
z. B. in einer Rede vom Februar und in einem Briefe
Be
vom Mai 1859*) geſchah, wo er ihn treffend fo zu⸗
ſammenfaßte: N
„Nach meiner Anſchauung, ſo, wie ich den Geiſt
unſerer ſtaatlichen Einrichtungen verſtehe, können die—
ſelben nur den Zweck haben, die Erhebung des
Menſchen zu fördern; und in dieſem Sinne bin ich
gegen alles feindlich geſinnt, was auf Erniedrigung unſe—
res Geſchlechtes abzielen könnte. Hätte der Allmächtige
eine Sorte Menſchen, die nur eſſen und nicht arbeiten
ſollen, erzeugen wollen, ſo würde er ihnen ſicherlich keine
Hände, ſondern nur einen Mund gegeben haben.“ Weil
für ihn nur die Arbeit Werth hatte, welche zu
einer unabhängigen Stellung im ſtaatlichen und gefell-
ſchaftlichen Leben führt, jo mußte ihm auch alle Sklaven—
arbeit als etwas Unſittliches und Ungerechtes, als ein
an der Menſchennatur begangenes Unrecht erſcheinen,
und über dieſe ſeine Anſicht ſprach er ſich ſchon als Abge—
ordneter frei genug aus. „Zwar bin ich“, ſagte er unter
Anderem „mit den Fürſprechern der Sklaverei darin ein—
verſtanden, daß es manche Punkte giebt, in denen die
Neger uns Weißen nicht gleich ſtehen, jedenfalls nicht in
Betreff der Hautfarbe und vielleicht auch nicht in Rück⸗
ſicht einzelner Geiſtesgaben des Herzens und Verſtandes.
Aber in dem natürlichen Rechte, ſein Brod, das er mit
eigenen Händen verdient, ohne die Erlaubniß Anderer zu
) Vergleiche den Schluß unſerer Selzze.
N
eſſen, ſteht uns der Neger gewiß gleich und nicht minder
unſeren Gegnern, wie jedem Menſchen in der Welt.“ 5
Der erſte amerikaniſche Lincoln war aller Wahr—
ſcheinlichkeit nach ein Gefährte des muthigen William
Pe. , der zur Sekte der Quäker gehörte, geweſen. Arm
zwar und ohne einflußreiche Familienverbindungen be—
wahrten die Lincolns ſich in gleichem Maße den chriſtlichen
wie den Freiheitsſinn; in ihrer mühevollen Exiſtenz als
Farmer, die, was ſie verzehren wollten, ſich ſelber bauen
mußten, wählten ſie ſelbſtändig den Schauplatz wie die
Art ihrer Thätigkeit und fühlten ſich in ihrer Arbeits—
tüchtigkeit als freie Söhne eines freien Landes. Einer
der Urgroßväter war von Penſylvanien nach Virginien
ausgewandert; Abraham, der Großvater Lincolns, wan⸗
derte im Jahre 1780 nach dem damals noch ſehr öden
Kentucky, hatte jedoch kaum ſeine Hütte gebaut und das
nöthige Feld urbar gemacht, als er (1784) von Indianern
überfallen und getödtet wurde. Nun zerſtreute ſich die
Familie abermals, Thomas, der jüngſte Sohn, blieb mit
der Mutter allein zurück, mußte von früher Kindheit an
herumwandern, um ſein Brod zu verdienen und kam auch
zu ſeinem Oheim Iſaak, auf deſſen Farm er ein Jahr
lang arbeitete. Im 28. Lebensjahre kehrte er nach
Kentucky zurück und verheirathete ſich (1806) mit der
gleichfalls in Virginien geborenen Nancy Hanks und ließ
ſich mit ſeinem jungen Weibe im damaligen Hardin
County (jetzt Larne County genannt) nieder. Dort ward
ihnen am 12. Februar 1809 ein Sohn geboren, der zu
ze Meat
Ehren des Großvaters Abraham genannt wurde. Er
war das zweitgeborene Kind, die (einzige) Schweſter
war zwei Jahr älter und nach ihm kam noch ein Bruder,
der aber in zarter Kindheit ſtarb.
Beide Eltern Abe's gehörten zur Secte der Bap—
tiſten und beſonders Frau Nancy war eine Chriſtin, die
viel in der Bibel las und ſie dem heranwachſenden Abe
auch gut zu erklären und an's Herz zu legen verſtand.
Auch ein klares, geſundes Urtheil wird der Mutter nach—
gerühmt. Der Vater war einfach und ſchlicht, ein fleißiger
Arbeiter, unabhängig in ſeinem Sinn, doch ohne alle
Schulbildung. Er konnte nur nothdürftig leſen; zum
Erlernen der Schreibkunſt hatte er weder Zeit noch Ge—
legenheit gefunden. Beſtändiger Kampf mit der Wildniß
des Urwaldes, Tag für Tag mühevolle Arbeit zur
Erringung der Mittel für des Lebens Unterhalt, das war
des Vaters Thomas Lebensaufgabe von ſeiner Geburt
bis zum Grabe.
Abe hatte ſomit ſchon in den Kinderſchuhen Gelegen—
heit, den Kampf um's Daſein nicht nur zu beobachten,
ſondern ſelber mitzumachen. In den erſten Jahren konnte
er dem Vater freilich nicht viel helfen, aber es erwachte
in ihm die Luſt, bald ſelber die Axt in die Hand nehmen zu
können und daneben auch das Leſen zu erlernen. Der
höchſte Wunſch des munteren kleinen Jungen war, der
frommen Mutter es gleichthun zu können, welche ſo ſchön
aus der heiligen Schrift vorlas und des Sonntags die
Kapitel ſo verſtändig erklärte. „Wann werde ich einmal
— 16 —
ſo gelehrt ſein?“ fragte er ſich oft mit kindlicher Sehn⸗
ſucht. Einſtweilen ward ihm vergönnt, die nicht allzu—
weit entfernte Schule des Nachbars Kaleb Hazel beſuchen
zu dürfen, in der er's bis zum Buchſtabiren brachte.
Kaum hatte Abe fein ſiebentes Jahr überſchritten,
als der in der Seele des Vaters Thomas lang genährte
Entſchluß zur Ausführung kam, nach dem ſüdlichen
Indiana auszuwandern. In Kentucky war das Sklaven—
weſen eingedrungen und das drückte auf die freien weißen
Arbeiter, die nicht ſo geachtet waren, wie in den nördlichen
Staaten. Außerdem herrſchte eine große Verwirrung in den
Land⸗ oder Beſitztiteln, ſo daß es dem wackeren Thomas
auf der von ihm bebauten Erde keine Ruhe ließ und er
ſich entſchloß, weiter im Nordweſten jenſeits des Ohio
eine neue Wohnftätte zu ſuchen. Ein Blockhaus und ein
paar Maisfelder laſſen ſich leichter verlaſſen als ein Land»
gut in Europa, das von Vätern auf Kind und Kindes—
kinder vererbt mit dem Menſchengeſchlecht ſozuſagen
verwachſen iſt; er verkaufte ſeine kleine Beſitzung für 10
Fäſſer Branntwein und 20 Dollars in Silber. Deß—
gleichen wurde alles Geräth, deſſen Transport zu unbe—
quem war, veräußert, und dann ward von den meilenweit
zerſtreuten Nachbarn Abſchied genommen. 5
Es war ein ſchöner Herbſttag, das reiche Laub des
Urwaldes glänzte in tauſend Farben, die Nebel zerſtreuten
ſich vor den Strahlen der Sonne, die am blauen Himmel
in prächtigem Glanz heraufſtieg. Vor dem ſtillen Block—
hauſe hielt ein geräumiger, doch ziemlich plumper, vier⸗
TEE
rädriger Wagen, vorn offen, aber mit einem gewölbten
Zeltdache verſehen. Bettzeug, Küchengeräth, Lebensmittel
und was ſonſt das allernöthigſte war, das hatte der
Innenraum aufgenommen. Voll Gottvertrauens, doch
innerlich gebeugt, da ein Bruſtleiden die Frau Nancy
ſchon ſehr geſchwächt hatte und ihr kein langes Leben ver—
ſprach, ſtieg die Mutter mit der Tochter ein; die Männer,
nachdem ſie die Ochſen vorgeſpannt und hinten am
Wagen die milchgebende Kuh befeſtigt hatten, gingen
neben her, Abe voll Freude und Zuverſicht, geſpannt
auf das Neue, das er zu ſehen und zu erleben im Be—
griffe ſtand.
Oft genug mußte Vater Thomas mit der Axt voran-
gehen, um das Geſtrüpp zu ſäubern, oder junge Bäume,
die im Wege ſtanden, abzuhauen. Dem Knaben lag es
ob, mit der Peitſche das Ochſengeſpann fleißig anzutreiben.
Die Reiſe war beſchwerlich genug und ging langſam von
Statten; doch die amerikaniſche Zähigkeit und Anſtellig—
keit half alle Hinderniſſe beſiegen und glücklich ward der
Ohioſtrom erreicht, der breit und voll ſeine glitzernden
Wogen dahinrollt. Der Knabe klatſchte vor Entzücken in
die Hände, als er den herrlichen Strom erblickte, Vater
Thomas aber fand keine Zeit, ſich des Naturbildes zu
freuen, ſondern richtete ſeinen Blick alsbald auf das jenſei—
tige Fährhaus und rief aus voller Bruſt hinüber. Nicht
lange darauf bewegten ſich einige Männer drüben an den
Gebäuden und eine Fähre ſtieß vom jenſeitigen Ufer ab.
Die ſtutzigen, u a wollten nicht auf das
Igd. Bibl. 3. 2
— 8 ae
ſchwankende Fahrzeug, und es war ein Stück Arbeit, das
Geſpann mit dem Wagen an Bord zu bringen. Endlich
konnte ſich die Fähre wieder in Bewegung ſetzen, Mutter
und Tochter ſaßen wieder unter dem Leinwanddache,
während Vater Tom vor den Ochſen ſtand, ſie dann und
wann durch Streicheln beruhigend, zugleich aber auch mit
den Fährmännern eine Unterhaltung beginnend, um von
ihnen Näheres über Spencer Connty, das fortan die
Heimath der Familie werden ſollte, zu erfahren.
In Thompſons Ferry, ſo hieß die einſam am Ufer
des Ohio gelegene Beſitzung des Fährmanns, ward Nacht—
quartier beſtellt, und da mit der Wirthſchaft auch ein
Kramladen verbunden war, ſo konnte Vater Lincoln aller—
lei Einkäufe für ſeine Hauswirthſchaft machen. Sein Abe
war entzückt über das mancherlei Neue, das er in dem
Laden erblickte, beſonders zog eine Wage mit ihren Ge—
wichten die Wißbegierde des Knaben an, der zum erſtenmal
ein ſolches Inſtrument erblickte, das in den einfachen
Haushalt der väterlichen Blockhütte noch nicht den Weg
gefunden hatte.
| Das Ziel der Reiſe wurde glücklich erreicht und aber—
mals ſahen ſich die guten Leute in der Einſamkeit des
Waldes, der ſchwere Arbeit von ihnen forderte. Die
Nachbarn halfen beim Bau der Blockhütte und der erſten
Einrichtung der Fenz getreulich mit, und der Knabe Lincoln
blieb dem Vater ſtets zur Seite und arbeitete mit ihm wie
ein Alter. Ehe der Winter ins Land kam, war ſchon die
kleine Wirthſchaft ordentlich im Gange und im nächſten
Jahre ward ſchon eine recht ergiebige Maisernte gehalten,
der Viehſtand mit einigen Stück Rindern und Schweinen
vermehrt und das Ackerland anſehnlich erweitert. Aber
den fortwährenden Anſtrengungen war die zartgebaute
Frau Nancy nicht gewachſen; ſie ward bleicher und matter
und im nächſtfolgenden Jahr (1818) ſchloß ſie ihre Augen
für immer.
Es war ein harter Schlag, der den Vater und die
Kinder traf, der aber auch nicht ohne Segen für den
jungen Lincoln blieb, denn er ward ernſter, ſein Gemüth
richtete ſich auf ein Höheres, das Bild ſeiner frommen
Mutter ſtand lebendig vor ſeiner Seele und eifrig wieder—
holte er manchen Bibelſpruch, den ihn die fromme Mutter
gelehrt hatte. Den Vater aber ſuchte er durch doppelten
Fleiß zu erfreuen und dieſer fand in ſeinem Abe die
beſte Stütze. |
In den wenigen Ruheſtunden, die ihr vergönnt
waren, hatte die gute Mutter ihren lernbegierigen Sohn,
ſo gut ſie es vermochte, im Leſen der Bibel und des
Katechismus geübt, ihn auch die Anfangsgründe der
Schreibkunſt zu lernen geſucht. Dieſe Nachhilfe fiel nun
weg. Doch zum Glück für Abe hatte nicht allzuweit von
der Anſiedlung der Lincolns Maſter Dorſey eine Schule
errichtet, in welcher die hoffnungsvollen jungen Hinter—
wäldler zuſammenkamen, um ihre derben Fäuſte für die
Schreibkunſt gelenkig machen zu laſſen und die in Spencer
County noch wenig verbreitete Kunſt des Leſens gedruckter
Bücher zu erlernen. Abe überflügelte bald alle ſeine
ODER
Kameraden und ward wegen feines frommen Sinnes,
ſeiner Aufrichtigkeit und Lernluſt bald der Liebling ſeines
neuen Lehrers. Und ein ſehr bezeichnender Characterzug
aus dieſer Schulzeit des Knaben iſt es, daß er, wenn die
ziemlich wilden Schulgenoſſen nach Hauſe gingen und
unterwegs in Streit geriethen, den Friedensſtifter machte,
obſchon er keineswegs der älteſte war, und die größten
Buben nahmen auch ſeine Vermittelung bereitwillig an.
Das ſtetige Arbeiten in freier Luft hatte den ohnehin
langarmigen und langbeinigen Burſchen ſehr in die Länge
wachſen laſſen und zugleich ſeine Muskelkraft geſtählt.
Aber der Geiſt entwickelte ſich ebenſo kräftig und der
Knabe bekam einen wahren Heißhunger nach Büchern,
die natürlich unter den naturwüchſigen Anſiedlern ſeltene
Schätze waren. Wie ſtrahlten eines Abends die Augen
Abe's vor Freude, als der Vater heimkehrte, ein ſorgfältig
eingewickeltes Päckchen in der Hand, mit vielſagendem
Blick ſeinen Sohn betrachtend, der es ahnte, daß ein
werthvolles Geſchenk ſeiner wartete. Langſam und feier-
lich wickelte der Vater das unſcheinbare Tuch ab und ein
Buch kam zum Vorſchein, des Knaben liebſtes Spielzeug.
Es war das berühmte Erbauungsbuch von Bunyan „des
Pilgers Erdenwallen“ (Pilgrim's Progress), ein ſehr
ernſtes, gedankenvolles Werk, für die Jugend weniger als
für ein reiferes Alter berechnet. Doch der Wald und die
Einſamkeit, in welcher Lincoln lebte, ſtimmten zu den
Gemälden in Bunyans Buche und verfehlten nicht ihres
Eindrucks auf den ernſten; ſtrebſamen Geiſt des Knaben.
SEN
Bald darauſ hatte er eine zweite Ueberraſchung; er bekam
Aeſop's Fabeln, welche ihm die gute Nachbarin, Frau
Brune, zum Leſen überließ und die er beſſer verſtand.
Mit Freuden las er das Buch einmal, zweimal und kehrte
immer wieder zu demſelben zurück. Die Thiere, denen
der Dichter menſchliche Sprache geliehen, ergötzten ihn,
aber auch die geſunde Moral, die ſie lehrten, fanden ſeinen
Beifall. In der ſchlagenden, kernhaften Kürze des Aus—
drucks, in der treffenden Bildlichkeit und der volksthüm—
lichen Weisheit, welche die Reden des Präſidenten Lincoln
auszeichneten, kann man den Bibelkundigen und Freund
Aeſop'ſcher Fabellehre unſchwer erkennen.
Vater Tom freute ſich des Lerneifers ſeines Sohnes
und der guten Lernanlagen deſſelben. Doch das hatte er
nicht erwartet, daß der Knabe, welcher in den Wochentagen
mit den Händen arbeiten mußte und faſt keine Stunde zu
anderen Beſchäftigungen übrig hatte, in kurzer Zeit nicht
nur die mechaniſche Fertigkeit des Schreibens erlernte,
ſondern auch im Stande war, ſeine Gedanken zu Papier
zu bringen und einen ordentlichen Brief zu ſchreiben.
Mutter Nancy war beerdigt worden, die Nachbarn hatten
ihr die letzte Ehre erwieſen und an ihrem Grabe gebetet,
noch war kein Geiſtlicher erſchienen, das Grab einzuweihen
und die Trauerrede zu halten. Nur einige Male im
Jahr, mitunter auch wohl erſt im Verlauf mehrerer Jahre
geſchah es, daß ein Prediger durch die Gegend reiste und
dann die mitunter ſchon erwachſenen Kinder taufte und
nachträglich auch die Begräbnißrede hielt. Nun geſchah
— —
es, daß neun Monate nach dem Tode der guten Frau
Lincoln Paſtor Elkins ſeine Rundreiſe in dem fernen
Weſten machte. Sobald dieß in Spencer County ruchbar
ward, ſetzte ſich Abe hin und ſchrieb ohne Wiſſen des Vaters
einen rührenden und eindringlichen Brief an den Mann,
er möchte doch kommen und der ſeligen Mutter die letzte
Ehre erweiſen. Als der Brief fertig war und der Vater
von ſeiner Arbeit nach Hauſe kam, las ihm der über ſeine
erſte ſchriftſtelleriſche Arbeit hocherfreute Sohn das Schrift-
ſtück vor und mit Thränen der Rührung umarmte der
Vater ſeinen lieben Abe.
Als der Paſtor am nächſten Sonntage erſchien und
ſich zu dem ſchmuckloſen Grabe der Frau Nancy Lincoln
verfügt hatte, wo die verſammelten Nachbarn bereits ſeiner
warteten, da eröffnete der würdige Mann ſeine Feierlich—
keit damit, daß er den ſchönen Brief des Knaben laut
vorlas und mit eindringlichen Worten deſſen Kindesliebe
pries. Kein Auge blieb trocken, und als darauf eine
glaubenswarme und erhebende Leichenpredigt folgte, da
ward allen Anweſenden der ſtille Wald zu einem Tempel
Gottes und die einfache Todtenfeier zu einem heiligen
Feſte.
Nach beendigtem Gottesdienſte ward der junge
Lincoln von Allen geprieſen und geherzt, und ſein Ruhm
verbreitete ſich fortan viele Meilen weit in der Umgegend,
ſo daß mancher ehrliche Hinterwäldler, der des Schreibens
unkundig war, wenn er einen ordentlichen Brief zu Papier
gebracht wiſſen wollte, ſich nach Thomas Lincolns Block—
ET EEE
haus verfügte und den gelehrten Maſter Abe erſuchte, den
Brief aufzuſetzen.
Mit ſeiner Schweſter Sarah in edlem Wetteifer be—
mühte ſich Abe, auch im Hauſe manches Geſchäft zu über—
nehmen und den Verluſt der guten Mutter dem Vater
weniger fühlbar zu machen. Aber die Kräfte des jungen
Mädchens reichten nicht aus, die Laſt der Wirthſchaft zu
übernehmen, und ſo entſchloß ſich Vater Thomas zu einer
zweiten Heirath. Seine Wahl war eine gute; er führte
den Kindern in der Wittfrau Sally Johnſton aus Eliza—
bethtown in Kentucky eine zweite Mutter zu, die eine
würdige Stellvertreterin war, ſich der weiteren Erziehung
Abrahams mit großer Liebe unterzog, wie ſie auch ihrer
Stieftochter Sarah mit zarter Schonung ihrer bereits
ſchwankenden Geſundheit nur die leichteren Arbeiten
übertrug.
Mr. Dorſey, der in der Gegend ſeine Rechnung nicht
gefunden hatte, war wieder fortgezogen, doch war an ſeine
Stelle Mr. Crawfurd getreten und verſuchte ſeine Schul—
meiſterkunſt an der hinterwäldleriſchen Jugend. Ihn
beſuchte der junge Lincoln, wenn es die Arbeit geſtattete.
Im Leſen, Schreiben und Rechnen hatte er, ſo wenig er
ſich damit beſchäftigen konnte, gute Fortſchritte gemacht,
und ſeine Bibliothek war um ein wichtiges Buch reicher
geworden, das die ahnende Seele des jungen Arbeiter—
Studenten mit dem vortrefflichen Hochbilde füllte; es war
das „Leben Waſhingtons“. Noch eine Biographie hatte
ihm Mutter Sally gekauft, das „Leben Henry Clay's“,
Sr ae Fe
eines damals hochgeehrten Staatsmannes, mit deſſen
Gerechtigkeitsliebe und milder Geſinnung der Knabe ganz
ſympathiſirte. An dieſen Büchern lernte der künftige
Rechtsgelehrte und Staatsmann ſchon früh ſein großes
Vaterland lieben und deſſen eigenthümliche Verhältniſſe
verſtehen. Kaum hatte er den Henry Clay vollendet, ſo
hörte er von einem ſeiner Mitſchüler, Herr Crawfurd be—
ſitze eine Lebensbeſchreibung Waſhingtons, die noch weit
vorzüglicher ſei als die, welche er ſelber beſaß. Sogleich
begab er ſich in die Wohnung ſeines Lehrers und bat den—
ſelben treuherzig um das Leben Waſhingtons von Ramſay.
Das Buch ward ihm gern geliehen und frohlockend trug
er ſeinen Schatz nach Hauſe. Jedes freie Stündchen ward
dem Buche gewidmet, das er auch mit hinaus auf ſein
Arbeitsfeld nahm. Er barg es in einem hohlen Baum-
ſtamm, um es gleich beim Zuhauſegehen zur Hand zu
haben. Aber, o weh! eines Tages nach einem heftigen
Regenguſſe fand er ſein Kleinod, das er ſicher geborgen
zu haben vermeinte, völlig durchnäßt und voller Flecken.
Vor allem legte er das Buch in die Sonne, um es zu
trocknen; daun verſuchte er die Flecken zu tilgen, das
wollte ihm jedoch nicht gelingen. Da nahn er das Buch,
begab ſich geraden Weges zu Herrn Crawfurd und legte
dieſem voll Zerknirſchung ein offenes Geſtändniß ab.
War ſein Lehrer ſchon über dieſe treuherzige Weiſe des
jungen Lincoln erfreut, ſo ward er noch mehr zum Wohl—
wollen geſtimmt, als derſelbe hinzufügte: „Erſetzen muß
ich Euch das Buch, Herr. Geld habe ich aber keins, dafür⸗
S
kann ich aber arbeiten; gebt mir etwas zu thun!“ Herr
Crawfurd, um den Burſchen weiter zu prüfen, legte fein
Geſicht in ernſte Falten und erwiderte: „An Arbeit fehlt
es nie; ich nehme dein Anerbieten an. Willſt du für
mich Futter ſchneiden?“ „Gern“, rief Abe hocherfreut,
„wann ſoll ich anfangen?“ — „Gleich morgen!“ — Und
der junge Mann erſchien am andern Morgen mit Tages—
anbruch, mähete mit den Schnittern um die Wette ſo
fleißig, daß ihm der Schweiß über die Wangen lief. So
arbeitete er drei volle Tage, bis die Schuld getilgt war.
Am Abend des dritten Tages trat Mr. Crawfurd lächelnd
zu ihm hin und überreichte ihm den Ramſay. „Behalte
das Buch, mein Junge,“ ſprach er, „du haſt es redlich
verdient, und ſei jederzeit ſo ehrlich, wie du es jetzt ge—
weſen biſt!“
So verfloſſen dem guten Abe die Jugendjahre unter
harter Arbeit und zeitweiligen geiſtigen Genüſſen, welche
ihm ſein kleiner Bücherſchatz gewährte. Eine — freilich
ziemlich mangelhafte — Ueberſetzung des Plutarch, der ſo
meiſterhaft die Helden und Staatsmänner des Alterthums
geſchildert, gewährte ihm auch hohen Genuß; er las alles
mehrere Mal und kehrte zu ſeinen Büchern wie zu lieben
Freunden zurück. Unſere jetzigen Kinder werden ſchon
mit Büchern überſchüttet, wenn ſie kaum laufen können,
ſie gewöhnen ſich, durch den Ueberfluß abgeſtumpft, bald
an das bloße Nippen und Naſchen, und von dem vertrau-
ten Umgange mit einem lieben Buche iſt kaum noch die
Rede. Und weil es am rechten Hunger nach geiſtiger
28
Speiſe fehlt, iſt dann auch die Verdauung und Aneignung
des Inhalts der Bücher ſehr mangelhaft. Da war der
Sohn des Urwaldes bei aller mangelhaften Schulbildung
doch beſſer daran; er verwandelte ſeine geiſtigen Schätze
in Fleiſch und Blut, lernte daran ſelber denken und
forſchen und lebte ſich in die Bücher ein. Und daß ſeine
wenigen Bücher ſo vortreffliche waren, ſolche, die von
einem ſachkundigen Erzieher gar nicht beſſer hätten aus—
gewählt werden können, das war für die Bildung des
Knaben ein nicht geringes Glück. Sein ſcheiubarer
Mangel ward ihm zum wirklichen Reichth eim.
Das Leben und Arbeiten in freier Luft hatte die
körperliche Entwickelung ſehr gefördert. Als er in ſein
achtzehntes Jahr getreten war, überragte er ſelbſt die
größten Männer der Anſiedlung um ein Anſehnliches.
Schön und einnehmend war ſeine Erſcheinung nicht; an
den langen Armen ſaßen ein paar rieſige Fäuſte und die
Füße waren gleichfalls ſehr groß und breit. Sein dunkles
Haar ſtand ſtruppig in die Höhe, der Mund war breit
und die Bockenknochen ſtanden hervor; hager und mus—
kulös war der ganze Leib. Nur die hohe Stirn und das
glänzende, durchdringende Auge verrieth, daß in dem
äußerlich jo ungeſchlachten Körper ein feiner und reichbe⸗
gabter Geiſt ſeine Werkſtätte hatte.
Meiſt ſtill und in ſich gekehrt konnte der junge
Lincoln doch mitunter ſehr ſpaßhaft und luſtig ſein, ein
trockner Humor ſtand ihm jederzeit zu Gebot. Viel Um—
gang mit Altersgenoſſen hatte er nicht und an rohen
— . —
Späßen fand er keinen Gefallen. Auch durch ſeine
Mäßigkeit war er ausgezeichnet; geiſtige Getränke kamen
nie über ſeine Lippen. Als tüchtiger Arbeiter in der
ganzen Nachbarſchaft bekannt, rief man ihn zu Hilfe,
wenn es etwas Größeres zu thun gab, etwa ein Block—
haus gebaut werden ſollte, und ſtets war er zur Hilfe bereit
und die ſtärkſten Bäume ſanken unter den gewaltigen
Hieben ſeiner Axt.
Schweſter Sarah war unterdeſſen Frau Grißby ge—
worden und fühlte ſich glücklich. Doch bei ihrer erſten
Niederkunft verlor ſie nebſt ihrem Kinde das Leben. Das
war abermals ein harter Verluſt für den Bruder, der, bei
dem einförmigen Leben in der Waldeinſamkeit, mitunter
recht ſchwermüthige Augenblicke hatte. So gern und
fleißig er auch arbeitete, ſo ermüdend wurde ihm doch zu—
letzt die mechaniſche Arbeit. Er ſehnte ſich nach einer
Auffriſchung des Gemüths, nach einer Veränderung ſeiner
Lage; es trieb ihn hinaus in's Weite. Da erſchien zur
glücklichen Stunde Bill Pitt, ein Schulkamerad aus
Kentucky, der in der Gegend Geſchäfte hatte und ſich nach
einem Bootsmann umſah, welcher mit ihm nach New—
Orleans fahren ſollte. Die beiden Pitt's, Vater und
Sohn, hatten ſich nicht weit von Thompſons Ferry eine
Blockhütte gebaut, trieben Fiſcherei, zimmerten Flöße und
führten Holz, Korn und Lebensmittel aller Art von Zeit
zu Zeit den Fluß hinunter. |
Dieſe Bootsleute und Stromſchiffer, auch Hafen-
männer genaunt, waren, beſonders in früheren Zeiten,
Ba
als die Flüſſe noch nicht von Dampfſchiffen befahren
wurden, die Frachtfuhrleute des Weſtens, der Ohio und
Miſſiſſippi ihre großen Heerſtraßen, auf denen ſie bis
nach New-Orleans fuhren, um zu den Pflanzungen des
Südens die Waaren und Lebensmittel des Nordweſtens
zu führen und in klingende Silbermünze umzuſetzen.
Stromabwärts war die Fahrt eine Luſt, obwohl es un-
ausgeſetzte Anſtrengung galt, das Floß in gehöriger Ent—
fernung vom Ufer zu halten, vor den ſchwimmenden
Baumſtämmen, die ſich ſtellenweiſe aufſtaueten, vorbei
und gut durch die Stromſchnellen zu führen. Stroms
aufwärts mußte aber das Boot vermittelſt der
Hakenſtangen auf beſchwerliche Weiſe geſchoben werden,
wenn der Wind ungünſtig war und keine Segel aufge—
ſetzt werden konnten. Dann verzichtete man lieber auf
die Rückfahrt des Flachboots, verkaufte dieſes ſammt der
ganzen Holzladung und fuhr auf dem Dampfboote ſtrom—
befuhr.
Nachdem ſie um den Lohn eins geworden waren —
zehn Dollars im Monat und die Beköſtigung — ging es
an die Ausrüſtung des Flachbootes, an welcher der ehr—
liche Abraham rüſtig mithalf, zu großer Freude des alten
Pitt, der ſich glücklich ſchätzte, daß ſein Sohn einen ſo
tüchtigen Gehülfen angeworben hatte. Der kurz zuvor
noch ſo träumeriſche und ſchwermüthige Abe war wie um—
gewandelt; daß er den großen, prächtigen Miſſiſſippi bes
fahren und die große Stadt an der Mündung deſſelben
A. eh
kennen lernen follte, das hatte er ſich noch vor wenigen
Wochen noch nicht träumen laſſen — er war voller luſtiger
Einfälle und arbeitete mit einer Energie und mit einem
Geſchick, daß ſeine Gefährten darob erſtaunten.
Nachdem nun das Boot gehörig mit behauenen Holz—
ſtämmen, mit Fäſſern und Säcken angefüllt war, fuhren
die beiden kräftigen jungen Männer den breiten vollen
Ohio hinunter in den noch viel breiteren und volleren
Miſſiſſippi, den „Vater der Gewäſſer“ hinein. Eine
üppige Waldwildniß faßte beide Ufer ein, hochſtämmige
Cypreſſen, Lebenseichen, Hickorie- und Cottonbäume mit
Schlingpflanzen wie eingeſponnen, ſpiegelten ſich in der
Fluth des Rieſenſtromes; hier und da öffnete ſich die
Lichtung und zeigte dem überraſchten Blick einen grünen
Teppich, mit ſchillernden Blumen geſchmückt, die keines
Menſchen Hand berühren ſollte. Brach die Nacht herein,
ſo befeſtigten die Fahrmänner ihr Boot am Ufer und
gingen zum Uebernachten an's Feſtland, oder machten ſich
auch wohl ihr einfaches Lager auf dem Floß ſelber zurecht,
wenn am Ufer keine günſtige Stelle zu finden war. Denn
an feuchten und ſumpfigen Uferſtrecken, durch die Ueber—
ſchwemmungen des Stromes unwegſam gemacht, fehlte es
auch nicht. Nur hier und da unterbrach ein kleiner Ort,
der auf größere Zunahme wartete, oder eine Gruppe von
Blockhäuſern die noch ungebändigte wilde Natur. Aber
einförmig war die Fahrt keineswegs. Bald brauſte ein
Dampfboot vorüber, bald ſah man in der Ferne ein
weißes Segel, das ſich ſtromaufwärts näherte, bald begeg⸗
1
nete man anderen Flößen und Flachbooten und die
Schiffsleute riefen ſich die üblichen Fragen zu: „Wo
kommt ihr her? Wohin des Wegs? Was für Ladung?“
Tage auf Tage vergingen; und da nicht immer gutes
Wetter iſt, ſo folgten auf ſonnenhelle, ruhige Tage auch
Ungewitter und ſchwere Regengüſſe, welche die Bootsleute
bis auf die Haut durchnäßten, und das Fahrzeug ward
mitunter von den ſtürmiſch aufgeregten Wellen auf- und
niedergeſchleudert, als ſollte es in die Tiefe hinabgedrückt
werden. Dann brannte wieder tropiſche Sonnengluth
auf ihre halbnackten Glieder und badete ſie in Schweiß.
Je mehr ſie ſich ihrem Beſtimmungsorte näherten, deſto
heißer und ſchwüler ward die Luft. Endlich erblickten ſie
auf der Oſtſeite des Stromes, an der ſie ſich beſtändig
hielten, von zierlichen Baumgruppen umgeben, ſchön ge—
baute Verandas, den Reichen von New-Orleans gehörend,
die ſich dahin flüchteten, wenn das gelbe Fieber in der
„Crescent-City“ wüthete. Aber ſie waren noch lange
nicht am Ende ihrer Fahrt und ſollten zuvor noch ein
gefährliches Abenteuer beſtehen.
Die Nacht war hereingebrochen und auf die Gluth—
hitze des Tages folgte eine Abkühlung der Luft, daß es die
beiden jungen Männer fror, und das kleine Feuer, das
ſie angezündet hatten, um ſich ihr Nachteſſen zu bereiten,
ihnen ſehr behaglich war. Dann, nachdem ſie ihre frugale
Mahlzeit verzehrt hatten, löſchten ſie die Kohlen ſorg—
fältig aus und ſuchten, in ihre Wolldecken gehüllt, auf dem
Flachboote zwiſchen den Fäſſern ihr Nachtlager.
Bill Pitt, von des Tages Laſt und Hitze erſchöpft,
ſchlief ſogleich ein; ſein Gefährte ſtarrte in den naßkalten
Nebeldunſt hinein und konnte trotz der einförmigen Muſik
des Plätſcherns der Wellen, die an das Flachboot ſchlugen,
noch nicht die erſehnte Ruhe finden. Endlich ſchloſſen
ſich auch ſeine Augenlider, doch plötzlich ſchreckte er empor,
er hatte vom Ufer her ein Geräuſch vernommen, als
nahten ſich Menſchen. Schnell ſtieß er ſeinen Gefährten
an, der ſich die ſchlaftrunkenen Augen rieb, doch bald
merkte, wer da war. „Niggers!“ flüſterte er. „Wer da?“
rief Lincoln mit Stentorſtimme. Ein Fllüſtern ließ ſich
vernehmen und bald ſahen die beiden Jünglinge im Licht
des aufgegangenen Mondes vier ſchwarze Geſtalten, die
ſich dem Boote näherten. „Ould niggar, beg for charity,
Massa!“ k) riefen fie in ihrem Neger-Engliſch. Es waren
von den Pflanzungen entlaufene Neger, welche es auf einen
Ueberfall abgeſehen hatten und ſich des Flachbootes be—
mächtigen wollten. Schnell hatte Abe die Holzaxt er—
griffen und im Augenblick ſtand Bill, ein ſchwers Ruder
in den Händen, neben ſeinem Freunde. Die ſchwarzen
Kerle, mit kurzen Meſſern und langen ſchweren Knütteln
bewaffnet, warfen ſich, nachdem ſie erſt ſtill das Waſſer
durchwatet hatten, mit einem wilden Schrei auf das
Flachboot; Bill fühlte ſeine linke Schulter von einem
heftigen Schlage getroffen, und Abe, einen vordringenden
Burſchen zurückwerfend, etwas wie eine Meſſerklinge vor
) Alte Neger, bitten um eine milde Gabe, Herr!
— 34 —
ſeinen Augen blinken und fühlte einen ſtechenden Schmerz
an ſeiner Stirn. Doch er blieb beſonnen in der Gefahr,
ſchwang mit mächtiger Fauſt ſeine Axt auf den nächſten
Negerſchädel und der Getroffene ſtürzte kopfüber und laut—
los in den Strom. Bill arbeitete ebenſo wacker und führte
mit feinem Ruder kräftige Schläge auf die Andringenden,
welche heulend zurückwichen. Dann ſprangen ihnen die
tapferen Hinterwäldler nach an's Ufer, die Räuber aber
waren verſchwunden. Bill fühlte an Armen und Schultern
die Nachwehen der Negerkeulen, Abe wiſchte ſich das Blut
von Stirn und Wangen; fie hatten ruhmvoll das Schlacht⸗
feld behauptet. Doch hielten ſie es für gerathen, das
Tau zu löſen und ihr Boot eine gute Strecke weiter
hinabzufahren. 1
Noch 140 engliſche Meilen waren bis zum Ziel zu⸗
rückzulegen. Endlich lag die langerſehnte Stadt, weithin
an dem halbmondförmigen Kai ſich ſtreckend, ) vor den
erſtaunten Blicken da! Obwohl New-Orleans dazumal
erſt 50,000 Einwohner zählte und die großen Staatsge—
bäude und Hotels, die durch Dampf getriebenen Baum—
wollpreſſen, die Granitbekleidungen der Dämme, all' das,
was heutzutage die Miſſiſſippiſtadt ſo ſehenswerth macht,
noch nicht vorhanden war: jo bildete fie doch ſchon damals
den wichtigſten Stapelplatz der Union nach New-York,
und bot einen Anblick des bewegteſten Lebens und der
bunteſten Völkermiſchung dar. Da drängten chineſiſche
*) Deshalb die „Halbmondſtadt“ od. Crescent City genannt.
N IE
Arbeiter an norwegiſchen Matroſen vorüber, der Yankee
des Nordens traf mit dem Engländer, der Afrikaner mit
dem Deutſchen, der Mexikaner mit dem Oſtindier zuſam—
men, und Trupps von ſchnatternden und ſchreienden
Negern durchzogen das Gewühl der Geſchäftsleute, hier
auf ihren Schultern, dort auf kleinen Wagen die Waaren—
ballen transportirend. Die neuen Parkanlagen, welche
ſpäter ganze Stadttheile bilden ſollten, die reizenden,
bereits zu Straßenlinien ſich gruppirenden Villen, mit
Rückwänden, Balkonen und einem Unterbau von Granit⸗
quadern erſchien den erſtaunten Hinterwäldlern, deren
Auge nur an kleine, dürftige Blockhäuſer gewöhnt
war, wie lauter Paläſte, und die tropiſche Blumenpracht
und üppige Vegetation der Gärten wirkte faſt berauſchend
auf den einfachen Sinn Abraham Lincolns. Es war ihm,
als ſei er plötzlich in eine Zauberwelt verſetzt.
Doch ein echter Yankee kommt nicht leicht außer
Faſſung und vergießt niemals das Geſchäft. Vor Allem
galt es, das Flachboot durch das Gewirre großer und
kleiner Fahrzeuge, Barken, Jollen, Waarenſchuten,
Dampfer, Segelſchiffe, gut durchzubringen und an einem
paſſenden Orte des Hafens anzulegen. Dann, als dieß
gelungen war, ſahen ſich die jungen Hinterwäldler nach
Käufern für ihre Waaren um und brachten auch dieſe zu
8 annehmbaren Preiſen an den Mann. Zuletzt blieb ihnen
R EV ; „
nur das Flachboot übrig, auf welchem ſie den Miſſiſſippi
herabgeſchwommen waren und welches ſtromaufwärts zu—
rückzubringen ſich nicht der Mae lohnte. Auch für Bei
Igd.⸗Bibl. 3.
— 34 —
fand ih ein Käufer und nun hatten die beiden Voots⸗
männer ihre Börſen voll ſilberner Dollars. Ihre Aufgabe
war gelöst.
In einem der Boardinghäuſer, die unfern des
Hafens lagen, ward nun von ihnen ein kleines Zimmer
gemiethet, da ſie noch einige Zeit in New-Orleans bleiben
wollten, um ſich alle Merkwürdigkeiten wohl anzuſehen.
Der alte Pitt hatte ihnen den Rath gegeben, vor den
Gamblers und Rowdies, dem Gaunervolk, das den uner—
fahrenen Fremden das Geld aus der Taſche lockt, ſich
wohl in Acht zu nehmen, überhaupt vor den Leuten nicht
viel Geld ſehen zu laſſen. So kauften ſie ſich denn Leder—
gürtel, um ihr Silber am Leibe tragen zu können, und
ſteckten nur weniges Geld in die Taſchen. Die Theater,
Tanzſäle, Spielhöhlen und Stätten des Laſters ließen
ſie unbeſucht; das Gewirr der Menſchen und der breiten
und ſchmalen Straßen gab ihnen Unterhaltung genug;
der Marktplatz zumal, auf dem Alles zu finden war, was
die ſüdliche Zone zu bieten vermag, köſtliche Früchte,
Gemüſe, Fiſche, Blumen in den bunteſten, glänzendſten
Farben.
Sie gingen weiter und kamen vor ein ſtattliches
Haus, bei welchem ihre Schritte durch ein Gedränge von
Menſchen gehemmt wurden, die alle hinein wollten. „Was
mag dort vorgehen?“ ſprach Abe zu Bill, „iſt's ein öffent⸗
liches Gebäude, eine Börſe oder was ſonſt?“ „Treten wir
ein,“ meinte Bill, „und ſehen wir, was es giebt.“ Die
beiden Hinterwäldler bahnten ſich durch den Menſchen⸗
r — 35 —
knäuel einen Weg, arbeiteten ſich durch einen Hausgang
und kamen endlich in eine große halbrunde Halle. Auf der
einen Seite befand ſich ein langer Bar (Schenktiſch), hinter
welchem von Tellern, Eßwaaren und Liqueurflaſchen umge—
ben ein aufgedunſener Wirth ſaß, das Geld einſtreichend, das
ihm die ſchwarzen aufwartenden Kellnerburſchen aus dem
Saal überbrachten. Im Hintergrunde war eine Tribüne
errichtet, vor derſelben ſtanden die Unglücklichen, welche
hier verhandelt werden ſollten, Männer,, Weiber und
Kinder, alle mit einer Nummer verſehen. Der Auktiona—
tor der Sklavenhändler ſtand auf der Plattform und
wenn er eine Nummer ausgerufen hatte, mußte der
Träger derſelben zu ihm hinaufſteigen und ſich von den
Kaufliebhabern betaſten und unterſuchen laſſen. Auch
gedruckte Verzeichniſſe wurden herumgereicht, auf welchen
die Namen und das Alter und Geſchlecht der zu ver—
kaufenden Sklaven verzeichnet waren. Außer den breit—
ſchultrigen Pflanzern, welche die Mehrzahl der Käufer
bildeten, waren auch viele unbetheiligte Zuſchauer anwe—
ſend, denen es nur um das Schauſpiel zu thun war.
„Einige halbtrunkene Kerle ſprangen auf die Bühne, um
den dort aufgeſtellten Frauenzimmern ſchamloſe Reden
in's Ohr zu lallen oder derbe Flüche auszuſtoßen.
Der ſtreng ſittliche, reine und unverdorbene Abraham
Lincoln ſah dieß ihm ganz neue Schauſpiel mit einem
innerlichen Schauder. Sein theilnehmender Blick ruhete
auf der Reihe der noch des Verkaufs harrenden Sklaven,
von denen viele wie empfindungslos in den Saal hinein⸗
.
ſtierten, als ginge der Vorgang ihnen gar nichts an.
Einige waren echte Aethiopier von der Schwärze des
Ebenholzes, andere zeigten eine broncefarbene Haut, bis
zum lichteren, weißbraunen Teint. Einige junge Mädchen
waren nicht dunkler als manche Farmerstochter von
Louiſiana, ſie waren zu Stubenmädchen für reiche Fami—
lien der Crescent City beſtimmt. Aber auch eine ganz
weiße Frauensperſon von etwa vierzig Jahren fand ſich
unter der zu veyſteigernden Menſchenwaare; ernſt und in
ſich verſunken ſtand ſie da, ihre Mienen zeigten einen edlen
Ausdruck des Schmerzes, ihre zarten, kleinen Hände deu—
teten auf keine harte Arbeit.
„Nummero ſieben!“ rief der Verſteigerer. „Jenny
Hawkins, 42 Jahre alt, gut erzogen, wird eine vortreffliche
Wirthſchafterin abgeben!“
Ein gutmüthiger Pflanzer erzählte den Umſtehenden,
die ſoeben Aufgerufene ſei die Geliebte, man könne ſagen
die Gattin ſeines Nachbars geweſen, der ihr einen Frei—
brief ausſtellen wollte, aber durch ſeinen plötzlichen Tod
daran gehindert ward. Sie habe einen Sohn, der ſei
frei und ſiudire in New-Vorf, aber er jet nicht legitim und
habe deßhalb auch keinen Anſpruch auf die Mutter. Dieſe
hatte ihren Sohn mit Schmerz erwartet, in der Hoffnung,
er werde Mittel gefunden haben, ſie aus der Sklaverei
zu befreien. Als nun ihre Nummer aufgerufen ward,
rührte ſich die arme Frau nicht von der Stelle. Zornig
ſchrie der Auktionator: „Gott ... ., wenn ich Euch
nicht ſogleich Beine machen werde!“ Der gute Abe ballte
a
feine Fäuſte und zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe.
„Ruhig, um Gotteswillen ruhig!“ flüſterte Bill und er—
griff die Hand ſeines Freundes. Da hörte man einen
Aufſchrei, ein junger Mann drängte ſich ungeſtüm durch
die Menge. „Mutter!“ ſchrie er und umſchlang das
arme Weib, das ſoeben die Stufen der Plattform
hinanſtieg.
Ein Durcheinander von Stimmen und Ausrufen er⸗
füllte in dieſem Augenblicke den Saal; einige herzloſe
Menſchen lachten laut auf, andere freuten ſich und riefen
Beifall. Der Auctionator aber trennte die Mutter von
ihrem Sohne, der die nahezu 1400 engliſchen Meilen
in fliegender Haſt zurückgelegt hatte und noch zu rechter
Zeit angekommen war.
„Ich biete auf meine Mutter!“ rief er mit leiden⸗
ſchaftlicher Stimme in den Saal hinein. „Ein Schuft,
der gegen ihn bietet,“ tönte es hier und da aus dem Kreiſe.
Doch nun trat ein gemein ausſehender Menſch mit auf—
gedunſenem Geſicht und wildem Trotz in den Mienen
hervor und ſchrie trotzig: „Ich werde bieten, und wer mir
entgegentritt, den ſchieße ich nieder!“ Ein Murmeln lief
durch die Menge, doch Keiner hatte den Muth, dem rohen
Menſchen die Spitze zu bieten. „Das iſt Jefferſon
Stevens — hieß es — der Todfeind des Verſtorbenen,
der Millionär! Arme Jenny!“
Die Auktion begann. „Viertauſend Dollars!“
ſtammelte der Sohn; er hatte die größte Summe genannt;
über die er verfügen konnte. Da ſchickte ſich der Pflanzer
en
Stevens an, ihn zu überbieten, aber nun entſtand großer
Tumult; der beſſer geſinute Theil der Anweſenden, von
edlem Unwillen ergriffen, ſtürzte ſich auf den rohen
Menſchen, und ehe ſich's derſelbe verſah, war er bei den
Schultern gepackt, durch den Saal geſchleift und aus der
Thür hinausgeworfen. Der Hammer des Auctionators
fiel dröhnend dreimal nieder — der Sohn hatte die Mut—
ter erworben und jubelnd lagen ſich beide in den Armen.
Der gute Abe athmete auf, als ſei eine Laſt von
ſeinem Herzen genommen. „Gott ſei Dank!“ rief er und
Thränen rannen über ſein hageres Geſicht. Tief erſchüt—
tert verließ er mit ſeinem Freunde das Haus; ein Abſcheu
vor dieſer „häuslichen Einrichtung“ des Südens hatte ſich
ſeiner Seele bemächtigt.
Die beiden jungen Männer bezahlten einen Platz
auf dem Dampfboote und kehrten wohlbehalten in ihre
Heimath zurück. Die Kunde von der treuen Pflichter—
füllung und kraftvollen Bewältigung aller Hinderniſſe
verbreitete ſich in der Nachbarſchaft und wandte ſchon
jetzt dem jungen Lincoln das Vertrauen ſeiner Mit—
bürger zu.
2.
Der Unternehmungsgeiſt und Trieb in's Weite, der
tief im angelſächſiſchen Weſen ſteckt, iſt in amerikaniſcher
Luft zu voller Entwicklung gelangt. Wie es die euro—
päiſche Menſchheit im Mittelalter Jahrhunderte nach dem
fernen Oſten zog, ſo zieht es in unſerer Zeit die Menſchen
von Europa nach Amerika, den Amerikaner des Oſtens
aber nach dem fernen Weſten. Auch der gute Thomas
Lincoln, obſchon er ziemlich weit nach Weſten vorge—
drungen war, wollte noch weiter nach Weſten. Der
Staat Illinois mit ſeinem fruchtbaren Prairieboden und
ergiebigen Flußniederungen dünkte ihm das Land zu ſein,
wo „Milch und Honig fließt,“ und wenn man davon
erzählte, kam ihm der Gedanke nicht aus dem Sinn,
dorthin überzuſiedeln. Seine zweite Frau hatte zwei ſtatt⸗
liche Töchter mitgebracht, die hatten geheirathet und die
beiden Schwiegerſöhne waren tüchtige Arbeiter. So
fehlte es für die neue Auſiedlung nicht an kräftigen
Händen.
Abraham Lincoln war mit dem Plane des Vaters
nicht einverſtanden, doch als guter Sohn fügte er ſich
und übernahm willig einen Ochſenwagen zur Führung.
Im März 1830 ſetzte ſich die Geſellſchaft, welche mit den
Kindern 12 Perſonen zählte, in Bewegung, und in 14
Tagen war der Weg bis nach Decatur in Illinois, das
damals nur erſt ein kleines Oertchen war, zurückge—
legt. Etwa zehn engliſche Meilen weſtlich von Decatur,
an der nördlichen Seite des Sangamonfluſſes, ward das
neue Blockhaus errichtet, an einer freundlichen Stelle, wo
der Waldſaum das Prairieland berührte.
Mit gewohnter Rährigkeit und Rüſtigkeit ſchwang
Abe die Axt und in erſtaunlich kurzer Friſt hatte er
Pfähle und Fenzriegel für die Umzäunung von zehn
Morgen Landes herbeigeſchafft. Es ward geackert und
geſäet, und in dem neuen, nicht allzu geräumigen Block
hauſe richtete man ſich ein, ſo gut es gehen wollte. Doch
es kamen ſchwere Heimſuchungen über die Familie; im
Herbſt das Fieber, das die Männer ſo abmattete, daß ſie
nur nothdürftig das Feld beſtellen konnten, und dann
ſtellte ſich ein ungewöhnlich ſtrenger und anhaltender
Winter ein. Bis zu Manneshöhe bedeckten die Schnee—
maſſen das Land und an ſeiner Oberfläche bekam das
Schneefeld eine faſt undurchdringliche Eiskruſte. Der
Verkehr ward gehemmt, ſelbſt die größeren Ortſchaften
geriethen in Noth, die vielen einzeln gelegenen F Farm⸗
häuſer und Blockhütten aber, welche nur mit ihrem Dach
aus dem Schnee hervorſahen, wurden dem bitterſten
Mangel preisgegeben und ihre Bewohner mußten am
Hungertuche nagen. Da erwies ſich der wackere Abraham
abermals als ein Schutzengel für die Seinen. Er ging
im heftigſten. Schneegeſtöber auf die Jagd, um friſches
Fleiſch zu ſchaffen; obwohl er kein tüchtiger Schütze war,
erſetzte doch ſein Eifer und ſeine Ausdauer ſeine Geſchick—
lichteit. Dann unternahm er mit ſeinen Schwägern
lange beſchwerliche Reiſen, um Brod und andere noth—
wendigen Lebensbedürfniſſe herbeizuſchaffen, und ſo kam
denn der Frühling des Jahres 1831 heran, der die
Familie wegen der Ueberſchwemmungen zwar auch noch
ängſtigte, aber bald der Noth ein Ende machte.
Ein unerwarteter Beſuch, den John Hanks, der mit
der verſtorbenen Mutter Nancy, die auch eine geborene
Hanks geweſen, nahe verwandt war, der Familie Lincoln
— ge
abftattete, galt dem Abraham. Dieſer follte wieder ein
Flachboot nach New-Orleans hinunterfahren, das ein Mr.
Offult in Springfield ausrüſten wollte. Im Hauſe ſeines
Vaters, der ſchon wieder mit Auswanderungsplänen um—
ging, konnte er nicht für immer bleiben. Abraham war
im letzten Februar mündig geworden und durfte frei
über ſich ſelbſt verfügen. So war ihm der Antrag ſeines
Vetters Hanks ganz willkommen und er nahm Abſchied
von den Seinen, mit ſchwerem Herzen freilich, denn er
hatte aufgehört, ein Glied des väterlichen Hauſes zu ſein.
Die Segeuswünſche des Vaters und der Mutter Sally
begleiteten ihn auf ſeine neue Wander chaft.
Die Reiſe nach New-Orleans ging wieder glücklich
von ſtatten, doch in der Halbmondſtadt traf er's diesmal
nicht ſo glücklich, wie bei ſeinem erſten Beſuch, denn es
wüthete dort das gelbe Fieber, die Geſchäfte begannen zu
ſtocken, in den Straßen wehte eine verpeſtete Sumpfluft
und wer nicht nothwendig ausgehen mußte 4 der blieb
daheim. Die, welche ſich in den Straßen begegneten,
gingen in weiten Bogen um einander herum, aus Furcht
vor der Anſteckung. Nur Leichenwagen ſah man auf den
Straßen. Aber die Menſchen ſtarben ſo ſchnell und in
ſo großer Anzahl, daß es faſt zur Unmöglichkeit wurde, alle
zu beerdigen. Viele Leichen ſah man ſchon auf dem Quais
und Trottoirs regen und Lincoln ſtürzte faſt über eine
ſolche, als er eines Abends in ſein Logierhaus ſich begeben
wollte. Ein Neger, dem die Hand fehlte — wenn ein
Sklave ſich an ſeinem Herrn vergriff, ward ihm die Hand
abgehauen — brachte ihm eine Laterne und bei deren
Schein ſah er, daß fünf Leichen auf dem Trottoir lagen.
Dank ſeiner gefunden Konſtitution kam er mit einen leich—
ten Fieber davon und ſeine Waaren nebſt dem Flachboote
brachte er abermals recht gut an den Mann und ſchon im
Juni ſtand er wieder vor Mr. Offult in Springfield, der
mit dem erlangten Gewinn ſehr zufrieden war. Nachdem
er Mifier Lincoln den bedungenen Lohn ausgezahlt hatte,
machte er ihm das Anerbieten, ob er nicht als Gehilfe in
den von Ofſult zu New-Salam errichteten Kramladen
eintreten wolle? „Sehr gern!“ war die Antwort.
Abe wanderte alſo nach New-Salem, wo ſein neuer
Dienſtherr einen Kramladen nebſt einer Kornmühle beſaß.
Seine neue Reſidenz war ein armſeliges kleines Haus mit
halbblinden Fenſtern und einem ſo morſchen Gebälk, daß
man dachte, es müßte jeden Augenblick zuſammenſtürzen.
Laden und Vorrathskammer waren ein paar Bretterver—
ſchläge mit Haus⸗ und Ackergeräthe, Zucker und Kaffee,
Kleidern, Stiefeln und Nägeln wohl verſehen. An der
Waage fehlte es natürlich auch nicht und das Inſtrument,
bei deſſen erſtem Anblick der Knabe in Entzücken gerieth,
ſollte nun von dem Manne gehandhabt werden. Und dieſer
Mann war höchlich befriedigt, daß er nun ſchon eine ſo
hohe Staffel im geſellſchaftlichen Leben erſtiegen hatte, daß
er ein Storekeeper geworden war.
Man darf die Stellung des Krämers in einem
Dorfe oder einer kleinen Stadt nicht allzu gering anſchla—
gen. Er empfängt die Beſuche von Leuten aller Art aus
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ge
dem Orte und der ganzen Umgegend, und da es eine
ebenſo angenehme Sache iſt, Neuigkeiten mitzutheilen
und auszutauſchen, als Waaren einzukaufen, ſo erfährt er
immer aus erſter Hand, was ſich da und dort ereignet
hat und wird mit Land und Leuten bald vertraut. Die
kleine Zugabe von einem Gläschen Whisky, welche
damals noch üblich war, erhöhte nicht wenig die Beweg—
lichkeit der Zunge, und der Verkaufsladen bildete einen
Vereinigungspunkt für die Männer, die über Handel und
Wandel, über Staats- und Gemeindeangelegenheiten ſich
unterhielten, auch wohl ein Geſchäft abſchloſſen und von
dem Kandidaten redeten, den ſie für die nächſte Legislatur
(geſetzgebende Verſammlung) wählen wollten.
So war ſein neues Amt als Storekeeper dem Abra—
ham Lincoln ſehr erſprießlich als Vorſtudium für den
künftigen Staatsmann. Die rieſig große, knorrige und
eckige Erſcheinung Abes hatte nicht verfehlt, in Salem
Aufſehen zu erregen. Das leutſelige Weſen des Krämer—
rieſen, ſeine Fertigkeit, den Käufern allerlei witzige Ge—
ſchichten zu erzählen, und die Gewiſſenhaftigkeit, mit wel—
cher er Jedem reichlich das Seine abwog und maß, das
brachte ihm vielen Zuſpruch. Aber zum Vortheil des
Mr. Offult war dieſe Freigebigkeit, die lieber zu viel als
zu wenig gab, nicht. Der ehrliche Lincoln war kein ſpecu—
lirender Geſchäftsmann, er verſtand es nicht, durch An—
preiſen ſeiner Waare Abſatz zu verſchaffen, auf Concur—
renten zu ſchelten — er war mit einem Worte kein Krämer-
und Geldmenſch. Das Geſchäft wollte keinen Aufſchwung
— 4 —
gewinnen und gerieth, da der Eigenthümer ohnehin kein
Kapital zur Verfügung hatte, in mißliche Umſtände.
Während Lincoln mit dem Gedanken umging, ſeine
Stelle zu kündigen, befreiten ihn ſeine Mitbürger, deren
volles Vertrauen er im vollſten Maße bereits gewonnen
hatte, aus ſeiner Verlegenheit — ſie wählten ihn zu
ihrem Hauptmann für den bevorſtehenden Feldzug gegen
die Indianer, welche unter Anführung des „ſchwarzen
Falken“ (Black Hawk), wie der tapfere Häuptling genannt
wurde, in Wisconſin und Illinois eingefallen waren.
Die Indianer ſollten, ſo erzählte man übertreibend —
alle vereinzelten Niederlaſſungen umzingelt, in Brand
geſteckt, das Vieh fortgetrieben, Männer, Weiber und
Kinder niedergemacht und ſkalpirt haben. Die Milizen
wurden aufgeboten und New-Salem ſtellte auch feine
Kompagnie. Der große, luſtige, kluge Abraham Lincoln
ſollte der Anführer ſein, der freilich von militäriſchen
Dingen noch weniger verſtand als von Krämerkünſten,
aber als echter Amerikaner den neuen Ehrenpoſten mit
dem Vorſatz annahm, daß ſeine zu thun, um ihn würdig
zu behaupten.
Er ſetzte alſo einen betreßten, dreieckigen Offiziershut
auf ſein ſtruppiges Haar, ſchnallte einen alten, halbver-
roſteten Degen um und rückte mit ſeiner Schaar, um ſie
vor Allem ein wenig einzuüben, auf den Dorfplatz.
„Right face, left face, right, leſt, right, leſt! Halt!
Attention, Gentlemen!“ Und dabei Trommelwirbel
und Pfeifen, als ſei es auf das Zerſpringen des Trommel⸗
lg ee
fells in den Ohren der Bewohner Nem-Salems abgeſehen.
Die „Freiwilligen“ hatten ſich bewaffnet, ſo gut es gehen
wollte; da es an Flinten fehlte, hatten einige der
Tapferen ſich mit Heugabeln, alten verroſteten Säbeln
und derben Knütteln bewehrt, und da Eſſen und Trinken
den menſchlichen Leib erhält, fehlte keinem der Schnapp—
ſack mit Proviant, und die meiſten Milizmänner, welche
ihren Blutdurſt zuvor mit der Schnapsflaſche zu löſchen
ſich vorgeſetzt hatten, trugen ihre Whiskyflaſchen an einer
Schnur, die um den Hals gehängt war, und bei jeder
Bewegung des Mannes klopfte ſie, bald zärtlich, bald un—
wirſch auf den Bauch ihres Trägers. Es geſchah den
vom Kriegs- und Soldatenweſen ſo weit abgekommenen
Republikanern nicht ſelten, daß ſie rechts und links ver—
wechſelten, daß die Glieder wie bei einem zerſchnittenen
Regenwurm ſich löſten und nach verfchiedenen Seiten
auseinanderfuhren, ja, daß auch der Kapitän mit dem
Dreimaſter ſelbſt in Verlegenheit war, ob er rechts oder
links kommandiren ſollte. In ſein Kommando redete
auch wohl Gevatter Hinz und Kunz hinein und es ent—
ſpann ſich eine gemüthliche Unterhaltung, über der man
das Exerciren ganz vergaß. Die komiſchen Auftritte
machten den ohnehin gut gelaunten Kapitän nur noch
luſtiger, und mit ſeinem guten Humor brachte er ſchließlich
doch wieder Alles in's rechte Geleis. Daß, wenn dieſe
Hinterwäldlerſchaar mit den Rothhäuten zuſammengekom—
men wäre, fie tüchtig darauf losgeſchlagen und geſchoſſen
hätte, iſt ohne Zweifel. Aber als ſie nun in einem abge⸗
— 6 —
legenen Poſten im Walde Halt zu machen kommandirt
wurde, da zeigte ſich weder bei Tag noch bei Nacht auch nur
ein einziger Indianer, und die Miliz von New-Salem
hatte ſich nur im geduldigen Warten, im Hungern und
Durſten — denn die Ration wurde mit jedem Tage
geringer — und im Kampfe mit den Muskito's geübt.
Als Lincoln im Kongreß 1848 auf ſeinen Feldzug
von 1832 zu ſprechen kam, äußerte er ſich in ſeiner humori—
ſtiſchen Weiſe alſo:
„Halten Sie mich, meine Herren, für einen Kriegs—
helden? Im Black-Hawk⸗Kriege freilich habe ich gefochten,
geblutet und bin entronnen. Doch mein Schwert habe
ich nicht zerbrochen, denn ich hatte keins zu brechen, aber
einſt verbog ich eine Muskete. Als General Caß ſein
Schwert zerbrach, that er es, wie mir ſcheint, aus Ver—
zweiflung; als ich meine Muskete verbog, geſchah es nur
aus Zufall. Wenn General Caß es mir im Heidelbeer—
pflücken zuvorthat, jo übertraf ich ihn in räuberiſchen An⸗
fällen auf wilde Zwiebeln. Wenn er einen lebendigen,
ſtreitbaren Indianer ſah, dann ſah er jedenfalls mehr als
ich; ich meinerſeits hatte wohl manches blutige Gefecht,
aber nur mit Muskitos, und wenn ich auch nie wegen
Blutverluſtes in Ohnmacht ſank, ſo paſſirte es mir zu⸗
weilen doch beinahe — aus Hunger.“
Wenn aber Lincoln auf ſeiner kurzen kriegeriſchen
Laufbahn keine Gelegenheit fand, ſich auszuzeichnen, ſo
hatte ſein Anſehen und ſein Ruf bei ſeinen Mitbürgern
doch bedeutend gewonnen, und ſeine Erwählung zum
— \.
Kapitän durfte ihn mit gerechtem Stolze erfüllen, wie fie
ihm denn auch die Nothwendigkeit fühlbar machte, ſich
noch weiter in der geſellſchaftlichen Stellung emporzuar—
beiten. „Mit Ausnahme eines Jahres“, äußerte ſich
ſpäter der ehrliche Abraham, „hat mich nie der Hoch—
muthsteufel gepackt. Damals bildete ich mir, offenherzig
geſtanden, etwas oder richtiger ſehr viel auf meine großen
Hände ein, die ich ſpäter mit ganz andern Empfindungen
betrachten lernte. Die langen Arme, welche ſich an den
Händen befanden, kamen mir ganz unſchätzbar vor. Kein
Hunderttauſend-Dollars- Mann kann ſeine Papiere mit
größerer Zärtlichkeit, mit zufriedenerem Stolze betrachten,
als ich auf meine Arme blickte. Der Kopf ſchwirrte mir
von Plänen; allein ich muß geſtehen, daß bei dieſen Plänen
die Arme und Hände ſtets die eigentliche Grundlage aus—
machten. Vom Shopkeeper-Gehilfen gedachte ich mich
bald zum Shopkeeper (Kaufmann) empor zu arbeiten —
eine glänzende Ausſicht mit unbeſtimmten Vorſtellungen
vom Anſprechen des Benefit (beim Bankerott) im Hinter-
grunde. Arme und Hände waren dann wieder mein
Troſt, der Anfang und das Ende meiner Träume. Der
„ſchwarze Falke“ machte aus dem Ladendiener einen
Kapitän, ich will nicht ſagen, daß ich expreß vom Black
Hawk mein Patent erhielt, aber ich hatte doch, gleich unje=
ren Feldherrn, mir vom Black Hawk ein Stück Ruhm —
eine Art von Skalp — herabgeſchunden. Kapitän iſt ein
merkwürdiges Wort. Ein Kapitän kann doch kein Laden-
diener werden, wenn er ſeiner alten Kompagniemannſchaft
a
gegenüber auf Hochherzigkeit, „Pluck“, Anſpruch erheben
will. Und ſo iſt's denn der Hochmuthsteufel, der mich
wie der Engel des Habakuk beim Kopfe nahm und mir
zeigte, daß mein Daumen und meine beiden rechten Vor—
derfinger ſich mit dem Reſte der rechten und mit der gan—
zen linken Hand zu meſſen vermöchten und daß, Alles
richtig gerechnet, meine Zunge ſchwerer wiegen könne als
meine beiden langen Arme. Wen aber der Teufel einmal
gepackt hat, den läßt er ſobald nicht wieder los. Er zeigte
mit dem Daumen über die Schulter, daß in der Kom—
pagnie, die von den böſen Engeln Kuthriel und Dalziel
(Habſucht und Ergeiz) kommandirt wird, noch ein Plätz—
chen als Freiwilliger offen gelaſſen ſei. Ich warf den
Ladendiener unter den Ladentiſch und ging als hoffnungs—
voller Rechtsgelehrter von dannen. Meine Lieutenants
waren faſt alle Advokaten geworden, und ihr Kapitän
zeigte, ſo hoffe ich, daß er noch immer würdig ſei, die
wackeren Jungen zu kommandiren.“
So ſehr Lincoln nach ſeinem innerſten Weſen zum
Rechtsanwalt berufen war, ſo erging es doch ihm, wie ſo
vielen anderen großen Männern vor und nach ihm, —
die liebe Noth trieb ihn auf den Weg, der ſchließlich zum
Ziele führte und der beſte war. Es waren die Schulden,
die er gemacht hatte und die er als ehrlicher Mann be—
zahlen wollte, aber mit bloßer Handarbeit und Tagelöhnen
nicht tilgen konnte, welche ihm den Gedanken nahe legten,
ſich einer Beſchäftigung zuzuwenden, die ihm ſo viel ein⸗
brächte, daß er einen Theil des Erworbenen zurücklegen
könnte. Und fo ftellte ſich der Beruf des Advokaten als
das glänzende Ziel vor ſeine Seele, dem er zuſteuern
müſſe.
Als er nach ſeinem dreimonatlichen Feldzuge nach
New⸗Salem zurückkehrte, war eben Wahlbewegung für
die geſetzgebende Verſammlung des Staates Illinois.
Seine Mitbürger, wie ſie den klugen und charakterfeſten
Abraham Lincoln durch Erwählung zum Hauptmann der
Miliz geehrt hatten, wollten ihn auch für die Legislatur
zum Abgeordneten erwählen; er erhielt von 274 Stimmen
nicht weniger als 267. Lincoln war für den milden
verſöhnlichen Staatsmann Heinrich Clay, der auf Seiten
der Whigs ſtand; hatte er doch ſchon als Knabe deſſen
Lebensbeſchreibung mit hoher Freude geleſen und den
verehrten Mann in ſein Herz geſchloſſen! Aber die De—
mokraten, welche damals noch Hand in Hand mit den
Sklavenbeſitzern der Südſtaaten gingen, hatten auch in
Illinois noch das Uebergewicht und es ward in den anderen
Wahlbezirken der demokratiſch geſinnte General Jackſon
durchgeſetzt.
Was nun beginnen? Mit der Art das Hinterwäldler
Farmerleben fortſetzen, das wollte und konnte er nicht.
Da bot ihm ein früherer Bekannter von ihm die Theil—
haberſchaft an einem Krämergeſchäft an, das derſelbe in
New⸗Salem zu gründen im Begriffe ſtand; Verluſt und
Gewinn ſollte zwiſchen beiden Aſſocies gleich getheilt
werden. Der arme Schlucker hatte aber alle ſeine
Waarenvorräthe er und hoffte, durch Abraham
Jad.⸗Bibl. 3. 4
— 50 —
Lincoln fein Geſchäft empor zu bringen. Zu dieſem
Zweck wollte er auch einen Branntweinſchank eröffnen,
was Lincoln, ein ſtrenger Anhänger des Enthaltſamkeits—
prinzips, der weder geiſtige Getränke genoß noch Tabak
rauchte, entſchieden verweigerte. Der Aſſocie übernahm
am Ende den alleinigen Betrieb des Kramladens, der
aber bald geſchloſſen werden mußte. Der arme Abraham
verlor dabei nicht nur alle ſeine Erſparniſſe, ſondern
wurde auch für eine Schuldenlaſt von 1100 Dollars ver-
antwortlich.
Das Unglück, weit entfernt, ihn muthlos zu machen,
regte alle feine Kräfte auf. Hatte er doch in den Bio—
graphien Plutarchs, in den Lebensbeſchreibungen Waſhing⸗
tons und Benjamin Franklins das Hochbild von Mäns
nern angeſchaut, die auch mit des Lebens Noth und Wider-
wärtigkeiten hatten kämpfen müſſen! Hatte doch der ge=
feierte Held Waſhington ſich auch erſt durch geraume Zeit
hin als Feldmeſſer ſein Brod verdienen müſſen und wie
ſauer waren dem wackeren Franklin die Lehrjahre gewor—
den! Daß Lincoln, nachdem er als Hauptmann bei ſeinen
Mitbürgern ſo viel Achtung genoſſen und als Abgeordne—
ter zu wirken für würdig erachtet worden war, ſich mit
einem abgetragenen Anzuge behelfen mußte, der immer
fadenſcheiniger wurde; daß er bei aller Mäßigkeit und
Einſchränkung oft nicht wußte, woher ihm das tägliche
Brod kommen und wohin er ſein Haupt legen ſollte; das
war hart genug. Aber ſein Gottvertrauen hielt ihn
aufrecht und es täuſchte ihn nicht.
— 51 —
Zunächſt ward ihm die Poſtmeiſterſtelle von New»
Salem verliehen. Das war freilich ein ſehr unbedeuten—
der Poſten, der wenig einbrachte, aber doch das Gute hatte,
daß er ſeinen Inhaber mit vielen Leuten in Berührung
brachte, ihm manchen Freund erwarb, auch Zeit genug
ließ, um durch Selbſtſtudien ſich fortzubilden. Von einem
Advokaten der Nachbarſchaft lieh er ſich juriſtiſche Bücher
— denn zum Ankauf der Bücher fehlte ihm das Geld, —
und um ſeinem Gönner, der vielleicht dieſe Werke den
Tag über ſelber brauchen mußte, nicht beſchwerlich zu
fallen, holte er das Buch am Abend, las und ſchrieb daraus
bis tief in die Nacht hinein und brachte es am andern
Morgen dem Eigenthümer wieder zurück. Auch durch
fleißiges Leſen der Zeitungen, die er als Poſtmeiſter aus
erſter Hand bekam, wußte er ſeine juriſtiſchen und poli—
tiſchen Kenntniſſe zu erweitern und ſich fortzubilden.
Schon damals ward ſein ſtets praktiſcher Rath und
treffendes Urtheil vom Volke ſehr geſucht, und ſtatt zu
einem Advokaten zu gehen, kamen viele zu dem Poſtmeiſter
Lincoln, um in verwickelten Streitigkeiten oder ſchwierigen
Rechtsfällen ſeinen ehrlichen Rath zu vernehmen.
Glücklicherweiſe dauerte es nicht lange, bis ſich dem
braven Manne eine Gelegenheit darbot, um Geld zu ver—
dienen und die Gläubiger befriedigen zu können. Dieſe
waren zwar durchaus nicht ungeduldig geworden, ſie hat—
ten zu Lincolns Redlichkeit das beſte Vertrauen, aber dem
Schuldner fiel es immer ſchwerer auf's Herz, wenn er
einem ſeiner Gläubiger begegnete. In ganz Illinois
I EB
herrſchte damals eine wahre Leidenſchaft, Stadt- und
Landgrundſtücke zu vermeſſen und auszuweiſen. Eine
Vermeſſungsgeſellſchaft hatte an dem Centralpunkte
Chicago ihren Sitz und machte von dort aus ſehr gute
Geſchäfte. Nach allen Richtungen hin wurden Baupläne
für neu zu gründende Städte und Ortſchaften abgeſteckt
und zum Verkauf ausgeboten. Der damalige Landver—
meſſungschef von Sangamon-County, John Calhoun,
der einige Jahre ſpäter in dem Streit über die Kanſas—
Angelegenheit eine ſo hervorragende Rolle ſpielte, machte
unſerm Lincoln den Vorſchlag, die Vermeſſungen für
feinen Diſtrikt zu übernehmen. Der rüſtige, arbeitsluftige -
Hinterwäldler erklärte ſich ſogleich bereit dazu, obwohl
er nichts von der Mathematik und Feldmeßkunſt verſtand.
Er verſchaffte ſich alſo die nöthigen Bücher, um ſich in
das neue Fach hineinzuſtudiren, nahm Kompaß und
Meßkette und zog hinaus in's Freie, um ſein Werk zu
beginnen.
Die Arbeit war viel ſchwerer und mühſeliger, als er
fie ſich vorgeſtellt hatte, denn es mußten die unwirthbarſten,
wildeſten Gegenden durchzogen werden; oft ging's durch
bodenloſe Sümpfe oder durch angeſchwollene Waldbäche,
oder es mußte auf einem Flecke Halt gemacht werden, wo
ein Heer von Muskito's auf Geſicht und Hände ſtürzte und
alle Thätigkeit zu hemmen drohte. Nicht immer war
ein Blockhaus in der Nähe, das für die Nacht einen ge—
ſchützten Lagerplatz bot, dann ward unter dem offenen
Himmelszelt das Nachtlager gehalten. Die zähe Natur
EN RM
Lincolns war jedoch allen Wechſelfällen gewachſen und da
ſeine Arbeit gut bezahlt ward, ſo ließ er nicht nach und
hatte nach Jahresfriſt die Genugthuung, alle ſeine Schul—
den bezahlt zu ſehen. Nun konnte er wieder als unab—
hängiger Mann in New-Salem erſcheinen, konnte freier
ſein Haupt erheben und miethete ſich als ſogenannter
„Boarder“ bei einer Familie ein, wo er Koſt und Logis
zahlte.
Seine Vermeſſungsarbeiten ſetzte er fort, und dieſe
entfernten ihn mitunter Wochen lang von ſeinem Wohn—
orte. Auch das Rechtsſtudium ward eifrig fortgeſetzt und
jeder freie Augenblick mit dem Leſen juriſtiſcher Bücher
ausgefüllt. Das ſtille häusliche Leben bei Miſter Cameron,
deſſen Koſtgänger er war, gefiel ihm; als er aber durch
Cameron mit deſſen Geſchäftsgenoſſen, Miſter Rutledge,
bekannt geworden war, und den ſehr gemüthlichen Fami—
lienkreis dieſes Mannes näher kennen gelernt hatte, zögerte
er nicht, ſich bei den Rutledge's einzuniſten. Der Magnet,
der ihn gewaltig anzog, war wohl nicht Herr oder Frau
Rutledge, ſondern Anna, die ſchöne Tochter des Hauſes,
die mit tugendſamer Häuslichkeit einen feinen, gebildeten
Geiſt und ein edles Herz vereinte, jo daß auch dem wacke—
ren Abe das Herz aufging, wenn er ſich mit ihr unterhielt.
Je mehr ſich beide junge Leute kennen lernten, deſto
inniger wurde das Band, das ihre Herzen umſchlang.
Miß Anna hatte ſich durch das äußere rauhe und linkiſche
Weſen Abe's nicht über deſſen tieferen Gehalt und Werth
täuſchen laſſen, und fühlte ſich ſympathiſch zu ihm hinge⸗
— 7
zogen. In der treuen Seele Lincolns, der bis jetzt fo
ſehr mit Arbeit und eigener Ausbildung beſchäftigt gewe—
ſen war, daß er an Frauenliebe gar nicht gedacht hatte,
ſchlug die edelſte Neigung ſchnell tiefe Wurzeln. Aber dies
Verhältniß nahm bald ein trauriges Ende. Miß Anna
hatte ſich vor längerer Zeit mit einem jungen Schotten
verlobt, der nach New-York gewandert war und fein
Wort hatte von ſich hören laſſen. Sie glaubte ſich von
ihm vergeſſen und verlaſſen und ſchloß mit dem von ihr
hochrerehrten Lincoln den Herzensbund. Da kam aber
ein Brief von dem Schotten, der nicht unehrenhaft ge—
handelt hatte, ſondern von einer ſchweren Krankheit heim—
geſucht worden war. Leichenblaß und mit verweinten
Augen trat das ſchöne Mädchen zu Abe und ſtammelte:
„Wir müſſen entſagen, Abe!“ Und als der beſtürzte
Mann das Nähere erfahren, ſprach er auch: „Wir müſſen
entſagen!“ „Aber ich werde, das fühle ich jetzt, ihm ebenſo
wenig angehören als Dir“, fuhr Anna fort, indem ſie die
Hand auf das zuckende Herz preßte, „ich werde bald
ſterben!“ Lincoln ſuchte dem Mädchen die Todesgedanken
auszureden. Aber vergeblich. Sie zog bald ſtill auf eine
einſame Farm weſtlich von New-Salem gelegen und ſank
dort in's fruhe fühle Grab. So endete die Jugendliebe
Lincolns.
In einem Leben, das bis zum letzten Athemzuge Ar—
beit und Kampf und Wirken nach außen war, mochte ich
dieſen Zug aus der Gemuthswelt des edlen Mannes nicht
übergehen.
5
Abraham Lincolns Stern war im Aufſteigen be⸗
griffen; er erhob ſich immer höher und glänzender. Noch
hatte er nicht die Advokatenwürde erlangt und kaum ſein
fünfundzwanzigſtes Lebensjahr zurückgelegt, als er ſchon
zum Abgeordneten für den geſetzgebenden Körper ſeines
Staates erwählt wurde und zwar mit einer größeren
Majorität von Stimmen, als je ein Candidat erhalten
hatte. Mit ihm wurde ſein Freund, Major John F.
Stuart, damals ein bekannter Advokat, gewählt. Da er
zuvor erſt ſelber hören, prüfen, ſich Einſicht verſchaffen
wollte, ehe er zum Reden ſich anſchickte, ſo begnügte er ſich
während der erſten Seſſion mit einer beobachtenden Rolle,
folgte ſehr aufmerkſam den Debatten, miſchte ſich aber
ſelber nicht in den Kampf. Die Mehrzahl der Geſetzge—
ber von Illinois hatten Großes von Lincoln erwartet
und ſtimmten nun ihre Meinung von ſeinen Fähigkeiten
herab. Nur einige wenige ſcharfblickende Männer ließen
ſich nicht irre machen in ihrer Schätzung der geiſtigen
Fähigkeiten Lincolns. Als dann der berühmte politiſche
Agitator Stephen A. Douglas von Vermont nach Illinois
herüberkam und mit keinem anderen als mit Abraham
Lincoln in freundſchaftliche Verbindung trat, überraſchte
das die Freunde wie die Gegner des jungen Mannes.
Im Jahr 1836 fühlte ſich Lincoln ſtark genug, die
Prüfung als Rechtsanwalt beſtehen zu können, und im
Herbſt dieſes Jahres ward ihm die Advokaten-Licenz aus⸗
gefertigt. Im April des folgenden Jahres ſiedelte er
nach Springfield, dem Hauptorte des Staates Illinois
— 56 —
über und ward von ſeinem Freunde Stuart als Partner
in deſſen Bureau aufgenommen. Bald zeigte ſich's daß
er ein Advokat erſten Ranges war, der mit gründlicher
Kenntniß des amerikaniſchen Rechtsweſens eine überzeu-
gende Kraft der Darſtellung verband und die verwor⸗
renſten und ſchwierigſten Fragen auch für den einfachſten
Menſchenverſtand ſchnell zu entwirren und klar zu machen
verſtand, beſonders geſucht war Lincoln als Vertheidiger
bei den Sitzungen des Schwurgerichtes, er übernahm
aber auch nur die Vertheidigung einer Sache, von deren
Gerechtigkeit er überzeugt war. Mit ſpitzfindigen Reden
und Sachwalterkünſten eine ſchlechte Sache zu vertheidigen
und aus ſchwarz weiß, aus links rechts zu machen, das
war ihm zuwider.
Unter vielen Rechtsfällen möge nur der folgende,
welcher allerdings auch zu den ausgezeichnetſten gehörte,
hier eine Stelle finden.
Eines Tages, da Lincoln in den Zeitungen blätterte,
fand er unter der Tageschronik eine Notiz, daß ein ge—
wiſſer Armſtrong, der älteſte Sohn und die einzige Stütze
einer armen Wittwe, die auf einer kleinen Farm nächſt
Petersburg lebe, während eines Camp-Meetings und bei
einer Nachts ſtattgehabten Schlägerei ergriffen und feſt—
genommen worden ſei, da man ihn nicht ohne Grund
beſchuldige, einen jungen Mann ermordet zu haben, der
bei der Rauferei ſein Leben eingebüßt hatte.
Rechtsanwalt Lincoln gerieth in große Aufregung.
„Armſtrong“ — „kleine Farm bei Petersburg“ — das
— 57 —
war die Familie, die ihn als Jüngling gaſtfrei aufgenom⸗
Studien begonnen hatte! Er hatte den Sohn wohl als
einen etwas leichtſinnigen Menſchen kennen gelernt, aber
als einen Verbrecher konnte er ihn ſich nicht denken. Da
Springfield der County-Sitz war, ſo mußte der arme
junge Mann jedenfalls dahin abgeliefert werden und die
Jury über ihn aburtheilen. Der edle Lincoln erkundigte
ſich ſogleich näher nach der Sache, erfuhr, daß demnächſt
eine Schwurgerichtsſitzung ſtattfinden werde, und daß eine
kurze Vorunterſuchung vor dem Friedensrichter die Schuld
des jungen Armſtrong ſo gut wie erwieſen erſcheinen laſſe,
da der Angeklagte nichts Stichhaltiges wider die Aus—
ſagen ſeines Anklägers vorzubringen vermochte.
Lincoln erwirkte ſich deu Zutritt zum County⸗
gefängniſſe, wo der Gefangene ſaß. Trauriges Wieder—
ſehen eines alten Bekannten! Er fand den jungen Arm—
ſtrong verſtört und tief gebeugt; er betheuerte aber feſt und
eindringlich ſeine Unſchuld. Nachdem ſich Lincoln den
ganzen Vorgang genau hatte erzählen laſſen und ver⸗
ſchiedene Fragen an den jungen Mann geſtellt hatte, kam
er zur Ueberzeugzung, daß man denſelben fälſchlicher Weiſe
der Verbrechens beſchuldige. Doch das falſche Zeugniß
zu entkräften, ſchien faſt unmöglich. N
Die Zeitungen nahmen alle gegen den Angeklagten
Partei; die abſurdeſten Gerüchte aus ſeinem früheren
Leben, die auf einen jähzornigen, rohen Character
ſchließen laſſen jollien, wurden in Umlauf gejegı und jo
— 58 — 5
die Menge gegen den vermeintlichen Mörder zu wirklicher
Wuth aufgeſtachelt. Seine Verurtheilung ſchien Allen
im Voraus gewiß.
Unter ſolchen Umſtänden traute Lincoln der Jury
von Springfield keine unbeſangene Prüfung des Falls zu
und das Erſte, was er mit richtiger Würdigung der Ver—
hältniſſe that, war, daß er die ganze Gerichtsverhand—
lung in ein anderes County verlegte und eine ſoge—
nannte change of venue erwirkte. Die Verhandlung
wurde vertagt und der Gefangene von Springfield nach
Taylorsville transportirt. Dann arbeitete Lincoln in
aller Stille ſeine Vertheidigungsrede aus.
Die Stunde des „Trials“ erſchien, welche über Leben
oder Tod des Gefangenen entſcheiden ſollte. Das
Courthaus (der Gerichtshof) war ſchon ſtundenlang vom
Publikum belagert worden. Endlich ward der Saal ges
öffnet; der Richter, die Männer der Jury, der öffentliche
Ankläger (Prosecuting attorney), die Zeugen und der
Vertheidiger des Angeklagten nahmen ihre Sitze ein und
die Gerichtsſchreiber legten ihre Protokollpapiere zurecht
und ſpitzten die Federn.
Die alte unglückliche Mutter Armſtrongs war auch
erſchienen, der Verhandlung, die gegen ihren Sohn ges
führt ward, beizuwohnen. Bleich und kummervoll, vom
Schmerz niedergebeugt, ſaß ſie auf einer der vorderſten
Bänke, die Hände gefaltet, nur die Lippen regend im
ſtillen Gebet. Nun ward der Gefangene vom Sheriff
und deſſen Untergebenen in den Saal geführt und Aller
— 59 —
Blicke waren auf den jungen Mann gerichtet, der zwar in
tiefer Niedergeſchlagenheit und ſehr ermattet einherging,
aber doch gar nicht wie ein Verbrecher ausſah. „O mein
Gott!“ rief die arme Mutter; der unglückliche Sohn
erblaßte noch mehr, als er ſie ſah, er regte die Lippen,
doch kein Laut kam über dieſelben; er wankte unſicher
auf ſeinen Platz.
Die Verhandlung begann. Der öffentliche Kläger
erhob ſich und trug die Anklage vor. Dann ging's an's
Zeugenverhör. Derjenige Burſche, deſſen Zeugniß am
beſchwerendſten lautete, war ein blaſſer, hagerer Menſch
mit unſtetem Blick und ſehr gemeinen Zügen. Er war ein
Kamerad des Erſchlagenen geweſen, hatte ſich aber gegen
Armſtrong ſtets feindlich bewieſen. Mit gehäſſigem Eifer
betheuerte er, daß er mit eigenen Augen geſehen habe,
wie der junge Armſtrong ſich mit einem Meſſer auf den
Getödteten geſtürzt habe.
Abraham Lincoln hatte bis dahin ganz ruhig und
ſcheinbar theilnahmslos dageſeſſen. Nun aber richtete er
ſeine Fragen an dieſen Hauptzeugen.
„Ihr ſeid von den ſoeben vernommenen drei Zeugen
der einzige, der das ſah, ſoviel ich weiß.“
„Ja, Sir. Ich war im Handgemenge unmittelbar
neben beiden!“
„Um welche Stunde ſaht Ihr es.“
„Zwiſchen halb zehn und zehn Uhr, Sir!“ erwiderte
der Zeuge trotzig.
„Ja, ja, um zehn Uhr,“ bemerkte Lincoln trocken.
„Aber da war es ja völlig finſter!“
dein, Sir! der Mond ſchien fo hell, daß ich hätte
eine Zeitung leſen können!“ war die Antwort.
„So, ſo!“ Lincoln machte keine weitere Bemerkung
und begann nun ſeine Vertheidigungsrede. Er hob vor
Allem hervor, daß der Angeklagte wohl etwas leichtſinniger
Natur, aber niemals ſchlecht geweſen ſei, wie ſolches durch
vollgültige Zeugniſſe auch feſtgeſtellt worden. Mit ein-
ſchneidender Schärfe ging er dann auf die Widerſprüche
ein, die ſich in den verſchiedenen Zeugenangaben zeigten
und von Niemand beachtet worden waren, nun aber allen
Anweſenden einleuchteten. Indem er das Gewebe einer
teufliſchen Bosheit in der Anklage bloslegte, ward ſeine
Rede immer gewaltiger und der falſche Hauptzeuge wurde
ſichtlich davon getroffen. Zwar ſuchte er ſeine Verlegen—
heit unter einem finſteren, trotzigen Blicke zu verbergen,
aber er wurde blaſſer, während des jungen Armſtrongs
Wangen wieder Farbe bekamen. Als aber Lincoln ſchließ—
lich einen Kalender aus der Taſche zog und nachwies, daß
an jenem Tage oder Abende der Mond um zehn Uhr noch
gar nicht habe ſcheinen können, weil er erſt um Mitter⸗
nacht aufgegangen ſei, da ward die ganze Verſammlung
tief ergriffen, Beſtürzung malte ſich auf dem Geſicht des
frechen Zeugen und Jeder war von des Angeklagten Un⸗
ſchuld überzeugt.
Die Geſchworenen zogen ſich nur kurze Zeit zurück;
bald erſchienen ſie wieder und ertlärten: Nicht ſchuldig!
„
Die begeiſterte Menge empfing dieſen Spruch mit Jubel⸗
geſchrei. Mutter Armſtrong ſchwankte zu ihrem Sohn,
die zitternden Arme ihm entgegenſtreckend; ſprachlos,
vom Glück überwältigt, ſank er an die Mutterbruſt und
Lincoln feierte eine der ſchönſten Stunden ſeines Lebens.
Beſcheiden hatte er ſich in eine Ecke des Saales zurückge—
zogen und ſtand am Fenſter, durch das die untergehende
Sonne ihr Purpurlicht goß; ihre Strahlen verklärten
die hohe Stirn des Mannes, der im Bewußtſein eine gute
That vollbracht zu haben, in ruhiger Würde ſich den Lob—
preiſungen der Menge entzog. Der junge Armſtrong eilte
zu ſeinem Befreier und war ſo ergriffen von Dankbarkeit,
daß er nicht die rechten Worte finden konnte. Ueber
Lincolns Geſicht ging ein mildes, zufriedenes Lächeln; er
ſtellte ſeinen Schützling an's Fenſter, zeigte ihm die in
roſiger Glut ſchwimmende Sonne und ſprach: „Seht, die
Sonne iſt noch nicht untergegangen und Ihr ſeid frei!“
Zu ſeiner Mutter hatte er am Morgen dieſes Tages ge—
ſagt, daß er ihr den Sohn noch vor Sonnenuntergang
zurückgeben werde.
Lincolns Ruhm als Sachwalter ſtieg mit jedem neuen
Rechtsfall, den er übernahm, und er mußte oft weite
Reiſen in die Umgegend machen, weil man ſeiner Hilfe
in ſchwierigen Prozeſſen nicht entbehren mochte. Wer
Freude am Schaffen und Wirken hat und für ſeinen
Thätigkeitstrieb den rechten Kreis findet, der iſt glücklich.
Lincoln fühlte ſich in der „Blumenſtadt“ (wie man
Springfield auch wohl nannte) um ſo glücklicher, als er
dort im Haufe des Doktors Todd eine junge Tochter
fand, die er bald die ſeine nennen durfte. Es war die
ſchöne, fiebenzehnjährige Miß Mary, welche dem zweiund—
reichte und ihm fortan eine Häuslichkeit bereitete, in der
er ſich wohl fühlte, und nach allen Anſtrengungen und
Arbeiten ſeines Berufes die befie Erholung fand.
Viel freie Stunden waren dem ſtrebſamen Manne
freilich nicht beſcheert, denn noch ehe er die Advokaten—
Licenz erhalten hatte, ward er im Jahre 1836 ſchon zum
zweiten Mal in die Legislatur gewählt. Sein Redetalent
war in den Parteikämpfen unſchätzbar und dazu kam ſeine
Begeiſterung für Wahrheit und Recht, die ſich Jedem
fühlbar machte, der ihn ſah und hörte und ſelbſt jeinen-
Gegnern gewaltig erſchien. Er führte den geraden
Schwerthieb des Wortes, und wenn er auch in ſchonender
Weiſe dieß und jenes nur verblümt oder in witziger An—
ſpielung zu ſagen beliebte, ſo traf er doch ſtets in's
Schwarze und war des Erfolges gewiß.
Als er in New-Salem zum zweiten Male in die
Legislatur gewählt werden ſollte, ſuchte ihm Oberſt Allen
dadurch entgegenzuwirken, daß er Abe's politiſche Geſin—
nung und Aufrichtigkeit verdächtigte. Darauf ſchrieb dieſer
folgenden Brief:
New⸗ Salem, 21. Juni 1836.
Werther Oberſt!
Es iſt zu meiner Kenntniß gelangt, daß Sie während
meiner Abweſenheit von hier letzte Woche durch unſern
RER RR
Ort gekommen ſind und öffentlich erklärt haben, Sie ſeien
im Beſitze einer Thatſache oder von Thatſachen, welche,
wenn das Publikum ſie erfahren würde, N. W. Edwards
und meine Ausſichten für die kommende Wahl vernichten
müßten; daß Sie aber aus Wohlwollen für uns darüber
ſchweigen würden!
Niemand hat des Wohlwollens mehr bedurft, als
ich, und Wenige mögen im Allgemeinen weniger abgeneigt
geweſen ſein, es entgegenzunehmen; aber in dieſem Falle
würde ein Wohlwollen gegen mich eine Ungerechtigkeit
gegen das Publikum fein und daher muß ich um Entſchul—
digung bitten, wenn ich es hiermit ablehne. Daß ich einſt
das Vertrauen des Volkes von Sangamon-County be-
ſaß, iſt hinreichend klar, und hätte ich ſeither etwas be-
gangen, ſei es vorſätzlich oder unvorſätzlich, das, wenn
enthüllt, mich dieſes Vertrauens unwürdig machen müßte,
ſo wäre derjenige, dem ſolche Fakta bekannt ſind und
der ſie verſchweigt, ein Verräther an der Sache ſeines
Landes.
Ich befinde mich durchaus nicht in der Lage, auch
nur ahnen zu können, welches Faktum oder welche Fakta,
ſeien dieſe beſtimmt oder muthmaßlich, Sie haben andeu⸗
ten wollen. Aber meine Meinung von Ihrer Wahrheits—
liebe wird mir auch nicht einen Augenblick geſtatten, zu
zweifeln, daß Sie wenigſtens glauben, was ſie ſagen. Die
perſönliche Rückſicht, welche Sie mir bezeugt haben, iſt
mir ſchmeichel haft; doch hoffe ich, daß Sie nach reiflicher
Ueberlegung das öffentliche Intereſſe als die höchſte
—
Rückſicht betrachten und ſich daher entſchließen werden,
ſelbſt das Schlimmſte über mich ergehen zu laſſen.
Ich gebe Ihnen hiermit die Verſicherung, daß eine
redliche Darlegung von Thatſachen Ihrerſeits, ſo ſehr ſie
mich auch herabwürdigen möge, dennoch nicht die Bande
unſerer perſönlichen Freundſchaft lockern werde.
Ich wünſche eine Antwort auf dieſes Schreiben und
es ſteht Ihnen frei, beides zu veröffentlichen, wenn es
Ihnen beliebt.
Hochachtungsvollſt
Dem Oberſt Robert Allen. A. Lincoln.
Im Jahre 1838 und 1840 ward Lincoln abermals
gewählt und zum „Sprecher“ ernannt; er galt bereits für
die bedeutendſte politiſche Perſönlichkeit in Illinois, und
ſeine Partei, die Whigs, folgten ihm mit unbedingtem
Zutrauen auf Tritt und Schritt. Die Whigs verlangten
eine kräftige Centralgewalt, die Demokraten hingegen
ſtrebten nach Decentraliſation, d. h. ſie wollten die Einzel—
ſtaaten mit größter Machtfülle und möglichſt vielen Be—
fugniſſen ausrüſten, und da dieſes hauptſächlich im
Intereſſe der ſüdlichen Sklavenſtaaten lag, welche bekannt—
lich die Sklaverei als ihre eigene „häusliche Angelegenheit“
betrachteten, in die der Norden nichts hineinzureden habe,
und über die auch der Nationalkongreß nicht entſcheiden
dürfe, ſo war der ganze Süden demokratiſch geſinnt.
Aber auch im Nordweſten der Union und namentlich in
Illinois zählte die demokratiſche Partei viele Anhänger.
BIETER
und bei ihrem heftigen, rückſichtsloſen Vorgehen hatten die
Whigs und Republikaner einen harten Stand.
Lincoln, nachdem er in den erſten vierziger Jahren
ſich ganz ſeinem Berufs- und Familienleben hingegeben
hatte, trat 1844 wieder in die Schranken des politiſchen
Kampfplatzes. Es war eine neue Präſidentenwahl aus-
geſchrieben; die Sklavenbarone des Südens im Verein
mit den Demokraten des Nordens boten alle Mittel auf,
ihren Candidaten, J. Knox Polk, durchzuſetzen, und
wie es ihnen bei faſt allen früheren Wahlen gelungen war,
gelang es ihnen auch diesmal. Die Whigpartei hatte ihr
Auge auf ihren treuen und edlen Anhänger Henry
Clay geworfen, den berühmten Kentucky-Staatsmann,
der ſchon im Jahre 1830 zu Gunſten einer ſtarken Cen⸗
tralregierung, ſowie eines Schutzzollſyſtems aufgetreten
war, das die Induſtrie der Nordſtaaten England gegen—
über ſicher ſtellen ſollte, aber den Südſtaaten, die keine
Induſtrie zu ſchützen brauchten und ſo billig wie möglich
einkaufen wollten, verhaßt war. Henry Clay ward ſeines
milden, verſöhnlichen Charakters willen ſelbſt von den
gemäßigten Demokraten hoch geachtet; ſeine Anhänger
legten ſich ſtolz den Namen Clay-Männer bei, und
Abraham Lincoln, der ſchon als Knabe das Leben
H. Clay's mit Begeiſterung geleſen hatte, hing ihm voll
Verehrung an. Es galt nun, Clay gegen Polk in die
Schranken zu führen und die öffentliche Meinung für die
Whigpartei zu bearbeiten, und Lincoln entſchloß ſich auf
das inſtändige Bitten ſeiner politiſchen Freunde, den
Igd.⸗Bibl. 3 5
BR
Staat Illinois nach allen Richtun zen zu bereiſen, un an
öffentlichen Orten oder in ausdrücklich berufenen Wahl—
verſammlungen zu Gunſten Henry Clay's Reden zu hal—
ten. Mit gewohnter Gründlichkeit und Klarheit jegre
er die Grundſätze auseinander, auf den die Politik
H. Clay's beruhte; er gewann zahlreiche Anhänger für
ſeinen Candidaten, aber noch waren die Demokraten in
Illinois zu ſtark und Lincoln merkte bald, daß er noch nicht
durchzudringen im Stande ſei. Vier, ja ſechs Stunden
lang faßte er auf dem Baumſtumpen (die übliche Redner—
tribüne im Weſten) Poſto, machte lange Tagemärſche
und ließ ſich keine Mühe verdrießen. Dann zog er über
den Wabaſhfluß in ſeine frühere Heimath Indiana und
fand auch da vielen Beifall. Doch der Zweck ward nicht
erreicht, denn Polk erhielt 1,335,834 Stimmen und Clay
nur 1,297,033. Der redneriſche Feldzug Lincolns war
aber keineswegs unfruchtbar geweſen; er hatte die Partei
geſtärkt und Lincolns große politiſche Befähigung und f
redneriſche Kraft in den weiteſten Kreiſen berühmt gemacht.
Wiederholt hatte der Demokrat John Calhoun, der
Illinois durchzog, um für Polk zu werben, vor der mäch—
tigen Beredſamkeit Abraham Lincolus die Segel ſtreichen
müſſen, und doch war Calhoun einer der tüchtigſten Ned»
ner ſeiner Partei.
Im Jahre 1846 ward Lincoln zum Abgeordneten in
den Kongreß der Vereinigten Staaten gewählt und nahm
im folgenden Jahre ſeinen Sitz im Repräſentantenhauſe zu
Waſhington ein. Dort erklärte er, daß er am Grundge⸗
ſetz der Union, das die Sklavenfrage offen gelaffen und
ſie als Angelegenheit der Einzelſtaaten ſtillſchweigend frei
gelaſſen habe, nichts geändert wiſſen wolle, und was die
Weisheit der Väter beſchloſſen habe, das müſſe von den
Nachkommen in Ehren gehalten werden. Aber — und
damit trat er den nord- und ſüdſtaatlichen Heißſpornen
gegenüber — daraus dürfe Niemand folgern, daß den
neu hinzugekommenen Staaten die Sklaverei aufge—
drungen werden müſſe. Er erklärte ſich gegen die An—
nexion von Texas und den wegen derſelben entbrannten
Krieg mit Mexico, den er als einen ungerechten verur—
theilte. Da aber ſeine Stimme nicht durchdrang, war er
wieder patriotiſch genug, nicht mit ſeinen Parteigenoſſen
zu ſtimmen, welche einen Akt der Rache ausüben wollten,
indem ſie den Kriegsmännern, die ſich an dieſem Kriege
betheiligt hatten, den Sold vorenthielten. Er war für
reichliche Beſchafſung der Mittel, damit die braven
Unionsſoldaten nicht verkürzt würden, dagegen ſtimmte er
für das ‚Wilmot Proviſo,“ das dem Präſidenten für die
Bewilligung der geforderten Summe die Verpflichtung
auferlegte, die Sklaverei von dem neu angeſchloſſenen
(annektirten) Gebiete fern zu halten. Wilmot, Nepräfen-
tant für Pennſylvanien, hatte nämlich den Antrag geſtellt,
daß die Sklaverei in den neu erworbenen oder aufgenom—
menen Staaten und Territorien der Union auf immer
verboten werden ſollte. Dieſer Antrag wirkte recht eigent—
lich als der chemiſch-wirkſame Stoff, der die bisherige
Parteimiſchung zerſetzte. Es bildete ſich die Partei der
SE ER
freesoilers oder Freibodenmänner, die ſich gleichmäßig
gegen alle direkten und indirekten Freunde der Sklaverei
erklärte und den Humanismus auf ihre Fahnen ſchrieb.
Im Jahre 1848 ward ein neuer Präſident gewählt;
die Freeſoilers machten Martin van Buren zu ihrem
Candidaten, die Whigs aber, auf deren Seite Lincoln
war, ſtimmten für General Taylor, der auch im Süden
beliebt war. Lincoln hatte noch immer eine verſöhnliche
Politik im Auge, während der Süden nicht Einen Schritt
that, um den Norden zu verſöhnen. Das zeigte ſich wieder
im Streite wegen Californien. California war, ſo lange
es zu Mexico gehörte, das wilde, von Indianerhorden
durchzogene, unwegſame und unbebaute Land geblieben.
Seine reichen Goldminen, von denen die Mexicaner
nichts geahnt, und die auch, wenn ſie dieſelben gekannt
hätten, ſchwerlich von ihnen wären ausgebeutet worden,
waren den auf Entdeckungen begierigen Bewohnern der
Vereinigten Staaten nicht entgangen. Mit reißender
Schnelligkeit hatten ſich Tauſende von Yankee's, aber auch
Tauſende von Irländern, Schweizern und Deutſchen an
den californiſchen Flüſſen und in den von hohen Gebirgen
eingeſchloſſenen Thälern des neuen Landes zuſammenge—
funden und ſich da angeſiedelt. So kam es, daß Califor⸗
nien ſchon im Jahre 1848 eine hinlängliche Einwohnerzahl
beſaß, um als freier Staat in die Union aufgenommen
werden zu können. Die Südſtaaten aber widerſetzten ſich
dieſem Eintritt. Und warum? Weil die Union gerade
jetzt aus 15 freien und 15 Sklavenſtaaten beſtand. Wäre
69
nun das freie Californien dazu gekommen, ſo hätten die
freien Staaten im Senat das Uebergewicht gehabt. Dieſe
Widerſetzlichkeit war eine Auflehnung gegen das ſoge—
nannte Miſſouri-Kompromiß.
Im Jahre 1820 wäre es faſt auch ſchon zum Bürger-
kriege gekommen, weil der Süden darauf beſtand, daß der
neue Staat Miſſouri, obwol er ſeiner Lage nach zum
Norden gehörte, zum Sklavenſtaat erklärt wurde. Der
Zank wurde nothdürftig beigelegt durch das Uebereinkom—
men, „daß im ganzen von Frankreich abgetretenen Territo—
rium Louiſiana nördlich vom 36 0 30 nördl. Br. an, mit
Ausnahme des jetzt zu bildenden Staates Miſſouri,
Sklaverei für immer verboten ſein ſoll.“
Californien lag nun mit ſeinem nördlichen Theile
weit nördlicher als 36 0. Doch was kümmerte das die
Sklavenbarone des Südens? Wurde doch Texas, die von
Mexico losgeriſſene Provinz, gleichfalls zum Sklavenſtaate
gemacht, trotz dem Widerſpruch der Nordſtaaten.
Um den Streit über Californien beizulegen, ſchlug
Henry Clay folgenden Kompromiß vor:
1. Californien tritt als freier Staat in die Union.
2. Die Sklaverei darf auf die von Mexico erlangten
Länder ausgedehnt werden.
3. Für die Gefangennahme entlaufener Sklaven iſt
ein ſtrenges Geſetz zu erlaſſen.
Die ſklavenfreundlichen Staaten des Nordens hielten
ſich nicht für verpflichtet, die entlaufenen Sklaven den
ſüdlichen Staaten wieder auszuliefern, und auch
— ge
darüber entſtand bitterer Streit. Nun ſollte Punkt 2
und 3 den Süden beſchwichtigen, damit dieſer nichts gegen
Punkt 1 unternehmen möchte. Die feindſelige Spannung
der Gemüther hatte jedoch eine zu große Höhe erreicht,
als daß ſolche Kompromiſſe etwas helfen konnten. Die
demokratiſche Partei, je mehr ihr die gewaltſame Politik
gelang, war um ſo übermüthiger und der neue Präſident
Franklin Pierce (1853 bis 1857) leiſtete ihrem
Treiben allen Vorſchub.
Lincoln, nachdem er ſich von ſeiner zweijährigen
Wirkſamkeit als Abgeordneter in Waſhington wieder in
ſein Privatleben zu Springfield zurückgezogen hatte, ward
für die Stelle eines Gouverneurs von Illinois auserſehen;
er ſchlug dieſe Wahl aus, um für den großen Kampf, den
er herankommen ſah, freie Hand zu behalten.
Und ſchon das Jahr 1854 führte ihn wieder auf den
politiſchen Kampfplatz. Stephen A. Douglas, der frühere
Genoſſe Lincolns, der ſich wie dieſer aus niederem
Stande emporgearbeitet hatte, eine ſehr gewandte Rede
und einnehmende Perſönlichkeit beſaß, aber an die ſittliche
Höhe Lincolns nicht entfernt hinreichte, vielmehr ein eitler,
aalglatter Politiker war, der es mit dem Süden hielt und
es doch auch mit dem Norden nicht verderben wollte —
ſuchte die Beſtimmung des Miſſouri-Kompromiſſes,
nach welcher in dem Gebiete nördlich vom 36 0 30° die
Sklaverei für immer ausgeſchloſſen „leiben ſolle, zu ver⸗
nichten durch die Kanſas-Nebraska-Bill. Da nämlich
die beiden Gebiete Kanſas und Nebraska nur von Anſied—
Br ie
a AN
lern des Nordens bevölkert worden waren und man vor—
ausſehen konnte, daß ſie in nächſter Zeit ſich als freie
Staaten organiſiren würden, ſo machte Senator Douglas
den Vorſchlag, daß jene beiden Territorien als Sklaven—
territorien zu behandeln ſeien, ohne Rückſicht auf
die Stimme der Bewohner ſelbſt. Dieſer
wiederum allem Geſetz Hohn ſprechende Vorſchlag paſſirte
ſchnell beide Häuſer und wurde durch die Unterzeichnung
des Präſidenten Geſetz.
Obwohl Kanſas eine ganz freie Bevölkerung hatte,
ſo hinderte das den gewaltthätigen Süden keineswegs,
alsbald jen en Kongreßbeſchluß durchzuſühren. Eine be—
waffnete Bande von Sklavenbeſitzern aus Miſſouri drang
in Kanſas ein, vertrieb die freien Anſiedler und erklärte
das Gebiet zum Sklavenſtaat. Nachdem dies Treiben
eine Zeit lang gewährt, riß dem Norden doch die Geduld,
er ſandte nun auch ſeinerſeits bewaffnete Schaaren den
Bedrängten zu Hilfe, welche die frechen Eindringlinge
vertrieben und die alten freien Einrichtungen wieder her—
ſtellten. Erſt am 29. Januar 1861 aber, als die Rebellion
des Südens ſchon im Gange war, trat Kanſas als freier
Staat in die Union ein.
Lincolns unermüdliche Thätigkeit ging nun zunächſt
dahin, daß ſich die republikaniſche Partei im Staate
Illinois, die ſich zerſplittert hatte, wieder zuſammenfand,
und er brachte es dahin, daß dieſe zum erſten Mal der
demokratiſchen Partei entgegen für die neue Legislatur
1855 einen republikaniſchen Senator wählte. Wie wenig
— ee
es ihm ſelber um Befriedigung feines Ehrgeizes zu thun
war, zeigte er dadurch, daß, obwohl alle anti-demokra⸗
tiſchen Mitglieder der Legislatur für Lincoln ſtimmten,
er die Wahl von ſich ab auf Trumbull lenkte, den
die demokratiſchen Gegner von Douglas zu ihrem Candi⸗
daten beſtimmt hatten. Einige ſeiner Freunde weinten
wie Kinder, als ſie, von Lincoln ſelbſt aufgefordert, ihren
Liebling aufgeben und Trumbull wählen helfen ſollten.
Die neue republikaniſche Partei hatte ſich zum Ziel
geſetzt, die Macht der Bundesregierung und die Rechte der
Einzelßtaaten in's rechte Verhältniß zu bringen, d. h. fie
wollte die Bundesregierung befähigen, im Intereſſe der
Erhaltung der ganzen Republik das Uebergewicht der
Sklavenſtaaten zu beſeitigen und die weitere Ausbreitung
der Sklaverei zu verhindern. Auch gegen die kriegeriſche
Angriffspolitik, die Cuba, Mexico und Centralamerika
annektiren wollte, erklärte ſich die republikaniſche Partei.
Unter dem Präſidenten Pierce war bereits ein Frei—
ſchaarenzug unter Anführung Walkers nach Nicaragua in
Centralamerika unternommen worden, mit der Abſicht,
dort ein ſüdliches Sklavenreich zu gründen. Der Zug
nahm aber ein klägliches Ende.
Im Jahre 1856 war die republikaniſche Partei
bereits jo erſtarkt, daß fie für die neue Präſidentenwahl
dem Candidaten der Demokraten, James Buchanan, den
Oberſt Fremont entgegenſtellen konnte. Liucoln war bei
dieſem Wahlfeldzuge unermüdlich, um ſeiner Partei den
Sieg zu verſchaffen; doch der Süden hatte alle von der
1 8
un
Regierung abhängigen Stellen mit feinen Geſchöpfen be⸗
ſetzt, und die Furcht vor einer Sprengung der Union,
womit die Sklavenſtaaten drohten, brachte die Republi—
kaner um einen großen Theil der Stimmen in den nörd—
lichen Staaten, ſo daß der Demokrat Buchanan, der
in Allem dem Süden zu Willen war, im Jahre 1857 den
Präſidentenſtuhl beſteigen konnte.
Bis zu welcher Unbotmäßigkeit, Rohheit und Frech—
heit das Selbſtgefühl der Männer des Südens ausgeartet
war, zeigte ſich in dem von ihnen im Jahre 1856 auf den
braven Senator Sumner von New-Pork verübten
Attentat. Sumner, zugleich Gelehrter, Schriftſteller und
Staatsmann, war ein unerſchrockener Vorkämpfer für die
gute Sache der Freiheit und des Geſetzes; er ging voran,
mit der mündlichen und ſchriftlichen Rede das ausſprechend,
was die Edelgeſinnten zum Theil erkannt hatten, aber
nicht laut zu jagen wagten, — daß der große Kampf be=
vorſtehe, den Uebermuth des Südens zu brechen. Sein
Princip, das ſpäter von Lincoln und dem ganzen Norden
angenommen wurde, faßte er in dem Satze zuſammen:
Sklaverei iſt Sektenſache, Freiheit Na⸗
tionalſache. In einer Rede, die er im Kongreß zu
Waſhington gehalten, hatte er das unlautere und geſetz⸗
loſe Weſen der Sklaverei auf das ſchärfſte gegeißelt. Auf
ſolchen Freimuth hatten die Sklavenbarone keine andere
Antwort als Mord und brutale Gewalt. Als Sumner
während einer Sitzungspauſe im Senatszimmer ruhig
am Pulte ſchrieb, wurde er plötzlich von zwei Männern
.
des Südens überfallen, die mit Stockſchlägen ſo lange
auf ihn einhieben, bis er in ſeinem Blute ſchwimmend auf
der Erde lag. Es wurde nachher erwieſen, daß dieſe
Ruchloſen, falls man ihnen Widerſtand geleiſtet hätte, ihr
Opfer erſchoſſen haben würden. Es währte ganzer vier
Jahre, bis der Senator Sumner wieder im Stande war, im
Senate zu erſcheinen. Mit Todesverachtung und muthiger
Folgerichtigkeit ſchleuderte er in ſeiner erſten Rede wie-
derum ſeine vernichtenden Blitze gegen das Ungeheuer
der Sklaverei.
Im Jahre 1858 ging der Termin der Senatorſchaft
von Donglas zu Ende und es wurden Neuwahlen vorge—
nommen. Lincoln wurde in der Staatsconvention der
Republikaner zu Springfield als der Kandidat für den
Unions⸗Senat aufgeſtellt, Douglas ſah der Wiederernen—
nung von Seiten der Demokraten entgegen. Kaum war
der letztere von Waſhington nach Illinois zurückgekehrt,
als er auch ſchon ſeine Rundreiſe antrat, um ſich beim
Volke wegen der Nebraska -Bill zu rechtfertigen und
nebenbei den Grundſätzen Lincolns und der republikaniſchen
Partei entgegenzuarbeiten. Lincoln redete aber ſo ge—
waltig, daß der „kleine Rieſe des Weſtens,“ wie man den
Senator Douglas nannte, nicht vor ihm aufkommen
konnte. In der am 17. Juni zu Springfield gehaltenen
Rede ſprach er die prophetiſchen Worte: „Ein Haus, das
in ſich ſelber getheilt iſt, kann nicht beſtehen. Ich glaube,
daß dieſe Union nicht auf die Dauer halb als Sklaverei,
halb als freies Land möglich iſt. Ich erwarte nicht, daß
RR
die Union getheilt werde, ich erwarte nicht, daß das Haus
zuſammenſtürzen werde; aber ich erwarte, daß es auf-
hören werde, getheilt zu ſein. Eins von beiden wird es
ganz gewiß werden. Entweder müſſen die Gegner der
Sklaverei ihrer Verbreitung Einhalt thun und ſie in eine
ſolche Lage bringen, daß die öffentliche Meinung ſich mit
dem Glauben beruhigt, dieſe gehe ihrem endlichen Auf—
hören entgegen, oder ihre Vertheidiger werden ſie vor—
wärts drängen, bis fie in allen Staaten gleich geſetzlich
ſein wird, in den alten, wie in den neuen, im Norden wie
im Süden.“
Dieſe Worte griff Douglas an, indem er Lincoln
beſchuldigte, er wolle durch ſeine Gleichmacherel den Süden
zum Kriege und Abfall zwingen. Er behauptete, daß es
weder wünſchenswerth noch möglich ſei, Gleichförmigkeit
in den Lokal-Inſtitutionen und häuslichen Einrichtungen
der verſchiedenen Staaten der Union zu haben. Die
Gründer der Regierung hätten niemals eine ſolche Gleich—
förmigkeit bezweckt, ſie hätten wohl gewußt, daß die Ge—
ſetze und häuslichen Einrichtungen, welche für die Granit—
hügel von New⸗Hampſhire paßten, ſich nicht für die Reis—
pflanzungen Süd⸗Carolina's eigneten. „Ich glaube“,
ſagte er, „daß mein Freund Miſter Lincoln die großen
Prinzipien, auf denen unſer Staatsgebäude ruht, ganz
und gar mißverſtanden hat. Gleichheit in den Lokal- und
Domeſtikalgeſetzen würde nicht nur für die Staatenrechte
deſtructiv (zerſtörend) ſein, ſondern auch für Staats-
ſouveränetät, für perſönliche Freiheit und individuelle
— 76 — 3
Selbſtbeſtimmung. Gleichförmigkeit iſt die Mutter des
Deſpotismus in der ganzen Welt; dies gilt nicht nur von
der Politik, ſondern auch von der Religion.“
Mit ſolchen Gemeinplätzen, welche die liberale
Maske vornahmen, ſuchte der gewandte Redner den in
der That freiſinnigen, liberalen und humanen Lincoln
in ein ſchiefes Licht zu ſtellen. Er griff dann ferner deſſen
Aeußerung über die Dred-Scott-Angelegenheit an.
Der Militärarzt Emerſon hatte nämlich im Jahre
1835 ſeinen in Miſſouri geborenen Sklaven Dred Scott,
nach Illinois mitgenommen und vier Jahre ſpäter nach
dem Territorium Minneſota. Dort hatte er ihn mit einer
von einem Offizier erhandelten Sklavin verheirathet und
war mit dieſem Ehepaar nach einiger Zeit wieder nach
Miſſouri zurückgekehrt, wo Dred Scott, ſein Weib und
die inzwiſchen erzeugten beiden Kinder in den Beſitz eines
Miſter Anderſon übergingen. Viele Jahre ſpäter gelangte
Dred Scott zu der Kenntniß, daß ein Sklave frei ſei, jo-
bald er von ſeinem Eigenthümer in einen freien Staat
mitgenommen werde. Dred Scott wendete ſich nun an
den Gerichtshof des Staates Miſſouri, um für ſich und
ſeine Familie die Freiheit zu erwirken. Der Urtheils—
ſpruch gewährte ihm dieſelbe, das Obergericht aber kaſſirte
das Urtheil und der Prozeß ging nun vor das oberſte
Bundesgericht der Vereinigten Staaten, das ganz im
Sinne des Obergerichts von Miſſouri entſchied.
Da Lincoln dieſe Entfcheidung getadelt hatte, nahm
Douglas abermals die Maske der Geſetzlichkeit vor mit
ur
— 1
der Behauptung, daß Jeder ſich dem Ausſpruche des
oberſten Bundesgerichts zu fügen habe. Lincoln hatte
geſagt, daß eine ſolche Entſcheidung die Neger für immer
davon ausſchließe, Bürger der Vereinigten Staaten wer-
den zu können, und Douglas entgegnete darauf: „Ich bin
jo frei, zu jagen, daß die Regierung der Vereinigten Staa -
ten nur für weiße Menſchen eingeſetzt ward.“
Schon am folgenden Tage beantwortete Lincoln in
Chicago dieſe Rede ſeines Gegners. Nachdem er den
Satz: „Ein in ſich getheiltes Haus ꝛc.“ wiederholt hatte,
fragte er: N
„Was iſt in dieſem Paragraph enthalten, das dem
Richter Douglas als eine politiſche Ketzerei erſcheint? Ich
habe weder behauptet, daß die häuslichen und Staatsein⸗
richtungen der ganzen Union gleichzuſtellen ſeien, noch
ſtrebe ich dahin, daß der Süden den Norden mit Krieg
überziehe. Ich weiß es wohl, daß dieſe Regierung 82
Jahre lang beſtand, trotzdem, daß in der einen Hälfte
des Landes die Sklaverei, in der andern die Freiheit
waltete. Ich glaube aber, daß es deshalb geſchah, weil
die öffentliche Meinung überzeugt war, die Sklaverei ſei
in eine Lage gebracht, in welcher ſie ihrem endlichen
Untergange entgegengehe. Ich habe immer die
Sklaverei ſo ſehr gehaßt, wie dies nur
ein Abolitioniſt“)) thun kann, aber ich
*) Schon Benjamin Franklin, der vorausſah, welches Un⸗
heil der Union mit dem Sklavenweſen drohete, ſtiftete einen
Abolitionsverein, der die völlige Abſchaffung (Abolition) der
Negerſklaven zum Zweck hatte.
— 78 —
verhielt mich ruhig, bis die neue Aera
begann, der Ein führung der Nebraska⸗
Bill. .
Kein Mann glaubt feſter an das Prinzip der Selbſt⸗
regierung als ich. Es iſt mein Glaube, daß jedes Indi—
viduum von Natur berechtigt iſt, mit ſich und der
Frucht ſeiner Arbeit zu thun, was ihm bes
liebt, voraus zeſetzt, dies verſtoze nicht gegen die Rechte
eines Anderen; daß auch jede Commune das Recht hat,
zu thun was ihr beliebt, vorausgeſetzt, dies verſtoße
nicht gegen die Rechte einer andern Com⸗
mune. Ich behauptete dies von jeher und gab als
Illuſtration an, daß Illinois nicht das Recht habe, ſich
in die Heidelbeergeſetze von Indiana, in die Auſternzeſetze
von Virginia oder das Branntweingeſetz von Maine zu
miſchen.“
Ueber den zweiten Angriffspunkt, der ſich auf Lincolns
Aeußerung gegen die Entſcheidung in der Dred-Scott—
Angelegenheit bezog, wies Lincoln vortrefflich nach, wie
in der Auffaſſung von Douglas es deutlich ausgeſprochen
werde, daß es ihm gleich ſei, ob für oder gegen die Skla⸗
verei geſtimmt werde, ſolche Geſinnung aber dahin führe,
den Freiheitsſinn im Volke aus zurotten. „Die
Argumente (Beweisgründe), welche man vorbringt, daß
man nur ſo viel Zugeſtändniſſe der niederen Race machen
ſolle, als dieſe zu ertragen im Stande ſei, ſind dieſelben,
welche die Deſpoten jedes Zeitalters vorgebracht haben,
um das Volk zu knechten. — Dieſe Argumente des Rich⸗
— —
ters Donglas find dieſelbe alte Shlanze, welche ſpricht:
Ihr arbeitet und ich eſſe, ihr habt die Mühe und ich will
die Früchte davon genießen! Ich möchte gern wiſſen, wenn
man einmal Ausnahmen von der alten Unabhängigkeits—
erklärung: „„Alle Menſchen ſind gleich geboren,““ zu—
laſſen will, wo man zuletzt aufhören wird? Wenn man
ſagt, dieſe Erklärung habe keinen Bezug auf die Neger,
weßhalb kann dann nicht ein Anderer ſagen, ſie habe auch
keinen Bezug auf den Deutſchen? Wenn jene Unabhängig—
keitserklärung nicht die Wahrheit iſt, ſo laßt uns das
Geſetzbuch nehmen und ſie herausreißen. Wer wagt es,
das zu thun? Wenn ſie nicht wahr iſt, reißen wir ſie
heraus! (Zahlloſe Rufe: Nein, Nein!) So wollen wir
denn feſt daran halten, feſt bei ihr ſtehen! (Donnernder
Beifall.) In einer der Ermahnungen unſeres Heilandes
heißt es: „Ihr ſollt vollkommen ſein, wie euer Vater im
Himmel vollkommen iſt!“ Er ſtellte das als ein Muſter
auf, und der, welcher am meiſten thut, jenes Muſter zu
erreichen, erlangt den höchſten Grad ſittlicher Vollendung.
So ſag' ich in Beziehung auf das Princip, daß alle
Menſchen gleich geſchaffen ſind: laßt uns ihm ſo nahe als
möglich kommen. Können wir nicht je dem
Geſchöpfe die Freiheit geben, ſo wollen
wir wenigſtens nichts thun, was ein an⸗
deres Weſen in Sklaverei bringt! (Stür⸗
miſcher Beifall.) So wenden wir denn dieſe Regierung
in das Fahrwaſſer zurück, in welches die Gründer der
Konſtitution ſie urſprünglich brachten: Laßt uns feſt bei⸗
—
S
einander ſtehen. Thun wir dies nicht, ſo werden wir
nach jener Seite hin gedreht, wohin Richter Douglas
ſtrebt, dieſe Nation zu einer allgemeinen Sklavennation
zu machen.“
Dieſe Turniere wurden im Auguſt, September, bis
in den Oktober hinein fortgeſetzt, das Volk ſtrömte maſſen—
haft hinzu, die Zeitungen berichteten von den tief einſchnei⸗
denden Reden Lincolns, der wider den gewandten Douglas
ſo mannhaft focht, und wenn auch Douglas der Stärke
ſeiner Partei in der Legislatur“) es zu danken hatte,
ſchließlich die Senatorwürde davon zu tragen, ſo war doch
der moraliſche Sieg unzweifelhaft auf Seiten Abraham
Lincolns, der vom Volke von Illinois nicht mehr anders
als „honest old Abe,“ und da er jetzt in ſein fünfzigſtes
Jahr getreten war, auch wohl nur „old Abe“ genannt
wurde.
Jetzt ließ ſich bereits vorausſehen, daß Lincoln der
erſte und populärſte Mann. der Union werden mußte, wenn
die Partei der Republikaner in gleichem Maße wie bisher
Fortſchritte machte. Und dieſes geſchah, und zwar durch
den maſſenhaften Hinzutritt der Deutſchen. Hier iſt der
Ort, es zu jagen, daß erſt durch die Deutſchen die republi—
kaniſche Partei die rechte Stärke gewann und daß für die
Erwählung Lincolns zum Präſidenten der Union die
Deutſchen den Ausſchlag gaben.
*) Im Volle hatte Lincoln die Majorität: 126,000 Stim⸗
gegen 122,000 für Douglas.
PN, alt
Schon in den erſten Kämpfen gegen Douglas und
die Nebraska-Bill, als man in Lincoln drang, er möge
über die Fremdenfrage mit Stillſchweigen hinweggehen,
um die Knownothings nicht zu reizen, hatte er ſich ent—
ſchieden der Deutſchen angenommen. Bekanntlich nann—
ten ſich „Knownothings“ (die von fremder Sprache und
Eigenthümlichkeit „nichts“ wiſſen wollten) jene Stock—
Amerikaner, welche eiferſüchtig auf das Anwachſen der
deutſchen Bevölkerung, den „Fremden“ erſt nach 21
jährigem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten das
volle Bürgerrecht gewähren wollten. Die Republikaner
fürchteten, die Knownothings könnten ihnen abtrünnig wer—
den und wollten Zu zeſtändniſſe machen. Lincoln aber
wollte von ſolchen Zugeſtändniſſen nichts wiſſen. „Wir
müſſen ehrlich und offen mit unſerer Farbe heraus,“ ſprach
er, „und nur durch rückhaltloſe Verkündigung unſerer
Grundſätze können wir auf Unterſtützung rechnen. Die
Adoptivbürger haben ein Recht, dies zu verlangen.“ Er
drang mit ſeiner Anſicht durch und die Folge war, daß
namentlich die deutſchen Bürger maſſenhaft in die Reihen
der republikaniſchen Partei eintraten. Lincolns Vorgehen
war um ſo weiſer, als die Knownothings keineswegs ſich
von den Republikanern trennten.
3.
Die Präſidentſchaftszeit Buchznan's ging zu Ende, die
Parteien rüſteten ſich zur neuen Präſidentenwahl. Der
Präſident der Union wird nicht direkt durch das Volk er⸗
Igd.⸗Bibl. 3. 6
Ale |
wählt, fondern das Volk jedes Staates er wählt fo
viel Elektoren als er Repräſentanten in den Kongreß
ſchickt. Die Geſammtzahl dieſer Elektoren belief ſich auf
303, davon kamen auf die 18 freien Staaten 183
Stimmen, auf die 15 Sklavenſtaaten 120. Das abſolute
Mehr war ſomit 152.
Die Wahlmänner von Illinois tagten in Decatur
und auch Lincoln verfügte ſich dahin. Mit großer Be—
geiſterung ward er in der Delegatenverſammlung begrüßt.
Dies war am 10. Mai 1860. Während man Lincoln
bewillkommte, erſchien ein alter Graukopf von Macon
County, der bat, auch einen Beitrag zur Convention
liefern zu dürfen. Es war Niemand anders, als der uns
ſchon bekannte John Hanks, mit welchem Abe einſt die
Axt geſchwungen hatte. Er trug zwei alte, verwitterte
Fenzriegel, zwiſchen denen eine Fihne befeſtigt war, und
pflanzte ſie in der Verſammlung vor der Rednerbühne auf.
Lang anhaltender Jubel erſcholl, denn dieſe mit Fahne
geſchmückten Fenzriegel trugen folgende Inſchrift:
„Abraham Lincoln,
der Fenzriegel-Candidat,
zum Präſidenten im Jahre 1860.
Zwei Fenzriegel von den 3000, welche im Jahre
1830 angefertigt wurden von John Hinks und Abraham
Lincoln — deſſen Vater der erſte Pionier von Macon
County war.“
—
Mit Begeiſterung ward old Abe herbeigerufen, zu
beſtätigen, daß dieſe Fenzriegel von ihm behauen worden
ſeien. „Ei!“ — rief er in ſeiner trockenen, humoriſtiſchen
Weiſe, nachdem er die beiden Riegel eine Zeit lang be—
trachtet hatte, „ich habe freilich vor etwa 30 Jahren hier
ganz in der Nähe von Decatur am Sangamonfluſſe unſer
Blockhaus bauen und Fenzriegel ſpalten helfen, — ob
dieſe da von jenen ſind, das will ich nicht gerade be—
ſchwören, ſo viel aber iſt gewiß, daß ich noch nach jener
Zeit viele ſolcher Riegel behauen habe und noch beſſere,
als die da ſind!“ Von neuem brach der Jubel aus und
wollte nicht enden; es war eine ſchöne Huldigung, dem
ſchlichten, aus dem arbeitenden Volke hervorgegangenen
Manne dargebracht, der nun bald zum oberſten Lenker
des Landes erkoren werden ſollte.
Er ging indeſſen ruhig nach Springfield zurück, um
abzuwarten, was die am 16. Mai in Chicago zuſammen⸗
tretende große republikaniſche National-Convention be—
ſchließen würde. Mit Ausnahme von den beiden Caro—
lina's, Alabama, Georgia, Miſſiſſippi, Florida und
Louiſiana hatten alle übrigen Staaten der Union ihre
Abgeordneten geſchickt; ein großes Gebäude, der „Wigwam“
genannt, war eigens für die Zuſammenkunft der Delegaten
erbaut worden. Der Zudrang des vor dem Hauſe ver—
ſammelten Volkes war ungeheuer. Die zweite Ballo—
tirung ſchwankte nur noch zwiſchen Seward und Lincoln.
Jedes von der Plattform des Chicago-Wahlhauſes ver—
kündete Votum ward ſogleich nach Springfield telegraphirt.
— > pen
Auf das Ergebniß des dritten Ballots war nun Alles ge⸗
ſpannt; das Telegraphenamt in Chicago war ununter—
brochen thätig und im Telegraphenbureau von Springfield
natürlich großer Zudrang. Lincoln, äußerlich ganz ruhig,
aber innerlich gewiß ebenſo erregt wie das ganze Volk,
hatte ſich auf die Arbeitsſtube der Redaktion des Staats-
Journals zurückgezogen; da ſtürzte ein Knabe zu ihm
hinein, den der Telegrapheninſpector ſandte; er ſchwenkte
ein Zettelchen in ſeiner Rechten, das er haſtig dem Miſter
Lincoln überreichte. Dieſer brauchte nicht erſt lange zu
leſen, denn ſchon drängte das Volk, glückwünſchend und
jubelnd, dem kleinen Burſchen nach. Eine Zeit lang ſtand
der beſcheidene Mann und blickte ſtaunend und gedanken-
voll auf den kleinen Zettel, dann ſagte er ruhig: „Ich
habe zu Hauſe eine kleine Frau, die möchte das wohl Hosen
Ich will hingehen und ihr's jagen!“
Lincoln war nun erſt Präſidentſchaftskandidat, noch
nicht Präſident; aber ſeine ſchließliche Ernennung war
doch ſehr wahrſcheinlich. Mit Blitzesſchnelle verbreitete ſich
die Kunde durch die ganze Union; ſie erregte im Süden
Verdruß und Zorn, im Norden Begeiſterung. In großen
und kleinen Städten wurden Meetings abgehalten, welche
ihre Zuſtimmung zur erfolgten Wahl ausdrückten; in
New⸗York und vielen anderen Orten ertönte Kanonen⸗
donner. Die Bewohner Springfields ſchwelgten in Wonne;
ihre „Blumenſtadt“ ward zum Mekka, wohin nun aus
allen Gegenden die Anhänger und Freunde derjenigen
Grundſätze pilgerten, welche Abraham Lincoln vertrat.
*
Selbſtverſtändlich hatte ſich ein Comite der National-
Convention von Chicago ſofort nach Springfield verfügt;
von Muſikbanden und dem Jauchzen des Volkes begleitet,
begab ſich daſſelbe in die Wohnung Abe's. Als die Herren
an das von einem zierlichen Holzgitter umgebene Wohn—
haus des Gefeierten herantraten, erblickten ſie zwei hübſche
Knaben, die höflich grüßend an der Gartenthür ſtanden.
Herr Evarts von New-Pork wendete ſich an den größeren
und fragte: „Sind Sie ein Sohn von Miſter Lincoln?“
„Ja, Sir!“ war die freudige Antwort. „Dann ſchütteln
wir einander die Hand!“ fuhr Evarts fort und mehrere
andere Herren folgten ſeinem Beiſpiel. Als dies der
jüngere Bruder ſah, richtete er ſich ſo hoch er konnte auf
und rief mit kindlichem Selbſtgefühl, das dem kleinen
Burſchen allerliebſt zu Geſicht ſtand: „Ich bin auch ein
Lincoln!“ Lachend gab man man auch dem kleinen, ener—
giſchen Sohn ſeines Vaters die Hand.
Den Ernſt des wichtigen Augenblicks tief in ſeiner
Seele fühlend, ohne alles eitle Wortgepränge, beantwor—
tete der würdige Candidat die Anſprache des Präſidenten
des Comite und drückte dann allen Mitgliedern des—
ſelben herzhaft die Hand. Da ſtand er denn auch dem
Richter Kelly gegenüber, einem der längſten Männer der
Union. Abe und Kelly prüften einander mit lächelndem
Blick und der erſtere, ſo feierlich ihm auch zu Muthe war,
konnte doch nicht umhin, dieſes unerwartete Zuſammen—
treffen zweier Rieſen ſehr komiſch zu finden.
— 86 —
„Was iſt Ihre Höhe?“ fragte er humoriſtiſch mit
den Augen blinzelnd.
„Sechs Fuß, zwei!“ antwortete Kelly; „und die
Ihrige, Miſter Lincoln?“
„Sechs Fuß, vier!“ erwiderte dieſer ſchmunzelnd.
„Dann beugt ſich Pennſylvanien vor Illinois!“ rief
Richter Kelly und fügte mit Innigkeit hinzu: „Mein
theurer Mann, ſeit Jahren ſehnt ſich mein Herz nach einem
Präſidenten, zu dem ih emporblicken könnte, und ich
habe ihn nun endlich in einem Lande gefunden, wo wir
nichts als „kleine Rieſen“ ) zu finden glaubten.“
Der 6. November des Jahres 1860 war der Tag
der endgiltigen Wahl und Abraham Lincoln blieb Sieger
mit dem entſchiedenſten Mehr. Sein bisheriger Neben—
buhler Douglas hatte nur 12 Stimmen; Bell, der joge-
nannten Unionspartei angehörig, ein farbloſes Mittelding
zwiſchen Demokraten und Republikanern 39; Breckenridge,
Vicepräſident unter Vuchanans Präſidium 72, Lincoln
aber 180.
Am 11. Februar des Jahres 1861 verließ er Spring—
field, um die Präſidentſchaft anzutreten. Eine große
Menge gab ihm das Geleit. Als er in den Wagon der
Eiſenbahn ſtieg, ſprach er tiefbewegt: „Meine Freunde,
ich allein kann wiſſen, wie ſehr mich dieſe Trennung
ſchmerzt. Dieſer Bevölkerung verdanke ich Alles, was
ich bin. Hier habe ich länger als ein Vierteljahrhundert
*) Anſpielung auf den Demokraten Douglas. |
535
gelebt; hier ſind meine Kinder geboren, hier liegt eines
derſelben begraben. Wann werde ich Euch wiederſehen?
Ich weiß es nicht. Es iſt mir eine Aufgabe zugefallen,
wie ſie ſo groß und ausgedehnt vielleicht ſeit den Tagen
Waſhingtons keinem Menſchen zugefallen iſt. Nie hätte
er ſie erfüllt, ohne die göttliche Vorſehung, an die er
jederzeit glaubte. Demſelben allmächtigen Gott übergebe
ich mich auch und vertraue auch ſeiner Hilfe; auch hoffe
ich, daß Ihr, meine Freunde, mir dieſe Hilfe erbeten
werdet, ohne welche ich nichts bin und mit welcher allein
mir der Erfolg gewiß iſt! Und nun, meine Freunde, lebt
wohl!“
Die ganze Fahrt bis nach Waſhington glich einem
Triumphzuge. An allen Bahnſtationen jubelten ihm
Hunderte und Tauſende entgegen, und wo Muſikbanden
zu haben waren, mußten dieſe aufſpielen; es wurden
Kanonen ge löst, die Fahnen wehten luſtig von den
Triumphbögen, die Beamten und Würdenträger hielten
Anſprachen, die vom neuen Präſidenten mit vielem Takt
beantwortet wurden. Ueber den politiſchen Weg, den er
einzuſchlagen gedachte, äußerte er ſich ſo zurückhaltend wie
möglich; er wollte die Partei des Südens auf keine Weiſe
reizen. Auf der Nord-Oſt-Station benutzte Abe die Ge-
legenheit, dem Volke zu erklären, daß der Backenbart, den
er ſich hatte wachſen laſſen, ſeine Exiſtenz den Rathſchlä—
gen eines jungen Mädchens des Ortes verdankte, welche
ihm ſolche in einem freundlichen Briefe mitgetheilt hatte.
Er würde die ſchöne Schreiberin gern begrüßen, falls ſie
— —
anweſend ſei in der Verſammlung, welche die Güte gehabt,
ihn zu empfangen. Und ſiehe! aus dem Gedränge tritt
eine junge Dame hervor, ſie wird von der jubelnden
Menge bis zum Präſidenten geleitet und von dieſem
ritterlich geküßt.
Glücklich gelangte Lincoln nach Philadelphia — denn
die Männer des Südens hatten ihm auf dieſem Wege
nachgeſtellt — um dort, wie er verſprochen hatte, in der
Unabhängigkeitshalle die Nationalflagge auf's Neue auf-
zurichten. Es war eine erhebende Feier, als im Moment,
da der Mann, welcher als ein neuer ſtarker Hort der Re—
publik erſchienen war, unter Glockengeläut und Kanonen⸗
donner die Flagge hißte. Bei dieſer Feier ſprach er unter
Anderem dieſe denkwürdigen Worte:
„Ich habe mich oft gefragt, welches große Prinzip
oder welche große Idee es wäre, die unſern Staatenver—
band ſo lange zuſammengehalten hat. Es war etwas in
der Unabhängigkeitserklärung, was die Freiheit nicht blos
dem Volke dieſes Landes, ſondern der Welt die Anwärt-
ſchaft auf Freiheit für alle Zeiten gab. Es war das darin
ausgeſprochene Verſprechen, daß zur rechten Zeit die Laſt
von den Schultern aller Menſchen genommen werden und
daß alle gleiche Anſprüche auf das Leben haben ſollten.
Nun, meine Freunde, kann unſer Land auf dieſer Grund—
lage gerettet werden? Wenn dies möglich wäre, ſo will
ich mich für den glücklichſten Mann der Welt halten, falls
ich es retten kann. Doch wenn unſer Land uur mit Ver⸗
—
leugnung dieſes Grundſatzes gerettet werden könnte, ſo
will ich gleich erklären, daß ich lieber auf der Stelle er⸗
mordet werden möchte, als davon abzulaſſen.“
Unerwartet (nach dem Reiſeplan ſollte er erſt 12
Stunden ſpäter eintreffen) langte der Präſident ſchon früh
am 23. Februar in Waſhington an. Man hatte ihn ge—
warnt, auf ſeiner Hut zu ſein; ſchon auf der Toledo- und
Weſtbahn hatte man einen Verſuch gemacht, den Zug zu
entgleiſen, auf der Station Cincinnati war eine Hand-
granate im Wagen des Präſidenten entdeckt worden, in
Baltimore war ein Complott zum Zwecke der Ermordung
des Präfidenten angezettelt worden, — darum fuhr er
denn verkleidet in einem Extrazuge und langte ſo zeitig
und in aller Stille in der Bundeshauptſtadt an.
Am 4. März 1861 fand die Feier der Einweihung
ſtatt. Durch Senator Baker ward der neue Präſident
dem vor dem Kapitol verſammelten Volke vorgeſtellt, das
ihn jubelnd begrüßte. Die übliche Anrede, mit welcher
der Präſident ſein Amt eröffnete, war mild und verſöhn⸗
lich, aber auch feſt und entſchieden. „Ich habe nicht die
geringſte Abſicht,“ ſo äußerte ſich Lincoln, „der Sklaverei,
wo fie einmal beſteht, entgegenzutreten. Ich glaube nicht,
daß mir ein Eingriff in dieſer Beziehung zuſtände.“ Aber
zugleich wies er darauf hin, daß ein Staatsvertrag, wie
derjenige, auf welchem die Vereinigten Staaten ruheten,
nur durch die Zuſtimmung Aller, nicht aber nach der
Willkür Einzelner, vernichtet werden könne. „Daher be-
trachte ich,“ ſagte Lincoln, „kraft der Konſtitution und
„5
Geſetze, die Union für ungetheilt und werde
mich deßhalb bemühen, wie die Konſtitution les mir aus-
drücklich zur Pflicht macht, ſo gut ich kann, die Geſetze der
Union treu und redlich in allen Staaten zur Ausfüh-
rung zu bringen. Dies iſt meine Pflicht und ich werde ſie
thun, bis mein geſetzlicher Herr — das amerikaniſche
Volk — fie nicht mehr verlangt oder das Gegentheil ge—
bietet. Ich hoffe, daß dies nicht als eine Drohung ange—
ſehen wird, ſondern nur als die beſtimmt ausgedrückte
Abſicht der Union, ſich auf geſetzmäßige Weiſe zu verthei⸗
digen und zu erhalten.“
Nachdem die Rede verleſen war, legte der Präſident
ſeinen Amtseid ab und dann begann er ſeine ſchwere
Amtsthätigkeit mit Säuberung des Kabinets. Er ernannte
vor Allem den diplomatiſch umſichtigen, erfahrenen und
treuen Seward zum Staatsſekretär, Chaſe zum
Schatzſekretär, Cameron zum Sekretär des Kriegs.
Das frühere Kabinet hatte nur aus Südmännern beſtan⸗
den, die ſammt und ſonders im Intereſſe einer Zertrüm—
merung der Union handelten. Buchanan war ohne genü-
gende moraliſche Kraft und überdies der Politik der Skla—
venſtaaten ſtets hold geweſen. Er hatte die Mitglieder des
Kabinets ſchalten und walten laſſen. Nicht nur, daß der
Schatzſekretär (Finanzminiſter) Cobb, ein Sklavenhalter
aus Georgia, den Schatz, welchen er in gutem Stande
angetreten, völlig leer hinterließ, er hatte die ſechs
Millionen Dollars, welche fehlten, nur im Intereſſe der
ſüdſtgatlichen Rellion verbraucht, die ſchon längſt vorbe—
— 91 —
reitet war. Die Sendung von Zollgeldern, die aus dem
Süden nach Waſhington überbracht werden ſollten, hatte
er geradezu verhindert. Floyd, der Kriegsſekretär, hatte
die Arſenale der Nordſtaaten geleert und die Waffenvor—
räthe den Arſenalen der Südſtaaten überliefert. Er
widerſetzte ſich dem Antrag, die Beſatzungen des Fort
Sumter und der anderen im Süden gelegenen Forts zu
verſtärken. Um vor der Präſidentenwahl ſo viel als
möglich dem Norden die Waffen zu entziehen und dem
Süden zukommen zu laſſen, wurden auf eine einzige
ſchriftliche Ordre im Jahre 1859 115,000 Gewehre nach
dem Süden transportirt. Schon am 17. Dezember 1860
hatte Süd⸗Carolina den Reigen der Rebellion eröffnet
und durch den Gouverneur erklären laſſen, „daß es feſt
beſchloſſen habe, ſich von der Union zu trennen, weil in
der kürzlich ſtattgehabten Wahl des Präſidenten und
Vicepräſidenten der Norden die Wahl nach ſolchen Prin—
zipien ausgeführt habe, daß es nicht länger für die Bürger
von Süd⸗Carolina ſicher ſei, in der Union zu verharren.“
Auf einer geheimen Verſammlung am 5. Januar 1860,
welcher viele der Senatoren des Südens beiwohnten,
wurde ausgemacht, daß jeder ſüdliche Staat ſich ſo ſchnell
als möglich von der Union trennen ſollte, die Senatoren
und Mitglieder des Kongreſſes ſollten aber jo lange wie
möglich im Senat und Kongreß zu Waſhington bleiben,
um alle gegen die Südſtaaten in Vorſchlag gebrachten
Maßregeln zu vereiteln. So folgten dem Beiſpiele
Süd⸗Carolina's ſchnell nacheinander die Staaten Miſſiſ⸗
.
ſippi, Alabama, Florida, Louiſiana und Texas und con⸗
ſtituirten ſich als neuer Staatenbund unter dem Namen
der con föderirten Staaten von Amerika.
Zum 4. Februar 1861 ward nach Montgomery eine ſüd⸗
liche National-Verſammlung berufen, am 18. d. M. eine
proviſoriſche Verfaſſung feſtgeſetzt und der talentvolle
Staatsmann Jefferſon Davis aus Miſſiſſippi
zum Präſidenten erwählt. Bald traten noch vier Süd—
ſtaaten (Virginien, Tenneſſee, Georgia und Arkanſas) zu
der neuen Konföderation, welche nun 11 Staaten um-
faßte. Die Bevölkerung dieſes Südbundes war dem
Norden gegenüber freilich ſehr gering: 5 Millionen
Weiße und 34 Millionen Sklaven, während 23 Norditaa-
ten 223 Millionen Weiße und ? Million Sklaven zählten.
Wegen dieſer geringen Ziffer hielt der Norden einen
Krieg mit dem Süden für nicht ſehr gefährlich und hatte
ſich in Unterſchätzung des Gegners allzuſehr der Ruhe
überlaſſen. Bald ſollte er aus ſeiner ſtolzen Sicherheit
aufgerüttelt werden.
Zunächſt wollte man die vereinzelten Forts über⸗
rumpeln. Im Fort Sumter am Hafen von Charleston
kommandirte der wackere Major Anderſon ſeine geringe
Beſatzung von 70 Mann; er hielt ſich tapfer gegen den
General Beauregard, der ihn mit Uebermacht angriff, es
fehlte ihm aber an Munition. Das Dampfſchiff Star of
the West ſollte ihm Verſtärkung bringen; es fuhr am 9.
Januar 1861 im Hafen von Charleston ein, ward aber
alsbald mit einem Kugelhagel von den feindlichen Batte⸗
—
Be
— 93 —
rien überſchüttet und kehrte mit dem zerſchoſſenen Sternen—
banner nach New-Nork zurück. Am 13. April mußte ſich
Fort Sumter ergeben.
Nun ging ein Schrei der Entrüſtung durch die Nord—
ſtaaten. Lincolns Ruf zu den Waffen fand williges Ge—
hör; der Präſident hatte 75,000 Mann ausgeſchrieben;
doch bis die einzelnen Regimenter gerüſtet und vereinigt
waren, bedurfte es mehrerer Wochen und ſchon ſprachen
die Konföderirten davon, nach Waſhington zu marſchiren,
wo man nicht mehr als 600 Mann zur Vertheidigung
hatte. Es fehlte den Nordſtaaten an Allem, an kriegsge—
übter Mannſchaft, an tüchtigen Offizieren (welche der
Süden in reichſtem Maße beſaß), an Kriegsmaterial.
Ganz beſonders fehlte es dem Norden an Artillerie und
Kavallerie. Dazu kam, daß Jefferſon Davis, der als
General den mexikaniſchen Feldzug mitgemacht hatte,
großes Organiſationstalent beſaß, während Abraham
Lincoln vom Kriegsweſen nichts verſtand und ſich auf ſeine
Generale verlaſſen mußte. So mußte wohl kommen, was
nun geſchah.
Kampfluſtig war die erſte Unionsarmee nach Virginia
eingerückt, aber von ſtrenger Disciplin und durchgreifender
Militärorganiſation wollten die guten Yankees nicht viel
wiſſen, in der Meinung, daß ihre Begeiſterung für eine
gute und gerechte Sache auch den Sieg herbeiführen werde.
Am Flüßchen Bull's Run, das ſteile bewaldete Rän⸗
der hat, trafen fie den Feind, der ſeine Stellung vortreff-
lich gewählt hatte. Präſident Davis kommandirte ſelbſt,
7
unter ihm Johnſton und Beauregard. Der Unionsgeneral
M'Dowell griff muthig an, erlitt jedoch eine vollſtändige
Niederlage. Und auf dem Rückzuge ward ſein Heer von
einem ſolchen Schrecken erfaßt, daß es ſich in wilder Flucht
auflöste und einzelne ungeordnete Haufen nach Waſhing—
ton ſtürzten (19. Juli 1861). Nur die Brigade Blenker,
die aus Deutſchen beſtand, zog ſich geordnet über den
Potomac zurück.
Dieſe erſte de war ein harter Schlag und
zugleich eine heilſame Lehre für den Norden, der nun erſt
die Unzulänglichkeit ſeiner Rüſtungen klar erkannte.
Lincoln rief 500,000 Mann Freiwillige zu den Waffen;
begeiſtert ward dem Rufe des Präſidenten entſprochen.
General M'Clellan erhielt den Oberbefehl nnd ſtellte ſich
nun die Aufgabe, die ſämmtlichen Häfen der Südſtaaten
zu blokiren, dann ſich des Miſſiſſippi und der übrigen
Ströme des Weſtens zu bemächtigen, endlich Richmond zu
nehmen, nach welcher Stadt die Konföderirten den Sitz
ihrer Regierung verlegt hatten. M'Clellan begann die
Organiſation der Heereskörper mit ruhiger Strenge und
Feſtigkeit und erwarb ſich dadurch ein großes Verdienſt
um die Union; aber ſeinen kühn vordringenden, raſch ent—
ſchloſſenen Gegnern gegenüber zeigte er ſich dann zu lang—
ſam und bedächtig.
Inzwiſchen mehrten ſich die Schwierigkeiten, mit
denen Lincoln zu kämpfen hatte, von Tage zu Tage. Die
von ihm vorgeſchlagenen Finanzmaßregeln fanden im
Senat eine ſtarte Oppoſition, und bald nachher drohete ein
— 95 —ͤ—
Zerwürfniß mit den europäiſchen Mächten England und
Frankreich. Er mußte ſich zu dem ſchweren Opfer ver—
ſtehen, für jetzt allen Nationalſtolz niederzuhalten und
jenen Mächten lieber nachzugeben, als ihnen einen Vor—
wand zum Beginn von Feindſeligkeiten zu geben, denen
für den Augenblick die Union nicht gewachſen war.
England wie Frankreich, auf die wachſende Macht
der Vereinigten Staaten eiferſüchtig, beſtärkten die Süd—
ſtaaten in ihrem Abfall, und dieſe hatten in Folge einer
geheimen Verabredung zwei Kommiſſäre, die Herren
Maſon und Slidell, mit entſprechenden Vollmachten ver—
ſehen, auf dem engliſchen Poſtpacketdampfer Trent abge—
ſandt, um in Europa eine Neutralitätserklärung in Betreff
der Blokade zu erwirken. Kapitän Wilkes, der Befehls—
haber des Unions-Kriegsſchiffes „San Jazinto“ war von
der Reiſe der beiden Kommiſſäre unterrichtet worden,
machte auf den Poſtdampfer Jagd und nahm die geſuchten
Paſſagiere (die ſich in Damenkleider geſteckt hatten) ge—
fangen. Die engliſche Regierung erblickte in dieſem Ge—
waltakte eine Neutralitätsverletzung und forderte Genug—
thuung. Abraham Lincoln gab dieſe und ließ ſich von
dem Geſchrei der Heißſporne nicht irre machen. Er
erklärte die Handlungsweiſe des Kapitän Wilkes für
eigenmächtig und lieferte die beiden Gefangenen aus.
Mit derſelben weiſen Mäßigung ließ er vorläufig den
Kaiſer Napoleon gewähren, der ein Kaiſerthum Mexiko
unter dem öſterreichiſchen Erzherzog Maximilian aufrich—
tete, in der Ueberzeugung, es ſei beſſer, bis zu ſpäterer,
„
günſtigerer Zeit die Sache zu vertagen, als auf einmal
alle Schwierigkeiten beſeitigen zu wollen.
Nachdem man Tag und Nacht die Rüſtungen fortge⸗
ſetzt hatte und zwar mit gleichem Eifer im Norden wie im
Süden, ward im folgenden Jahre (1862) auch der Kampf
mit ſteigender Erbitterung fortgeſetzt, ohne nach der
einen oder andern Seite eine Entſcheidung zu bringen.
M'Clellan hatte vom Präſidenten, als dem oberſten
Kriegsherrn, wiederholt die Mahnung zum Vorrücken er—
halten, ſich jedoch ſtets über die noch immer mangelhafte
Organiſation der Bundestruppen beklagt; erſt im März
entſchloß er ſich zum Vorgehen, als bereits der kluge und
in ſeinen ſtrategiſchen Bewegungen höchſt gewandte
General Lee ſeinen Vortheil wahrgenommen hatte. Der
Feldzug gegen Richmond (im März) mißglückte. Beſſer
gelang in dieſem Monat der Kampf zu Waſſer. Im
Februar war eine Unionsflottille gegen die Häfen am
Golf von Mexiko, namentlich gegen New-Orleans, entſen⸗
det worden. An dem Beſitz von New-Orleans, dem
größten Handelsplatz und Geldmarkt des Südens, war
viel gelegen. Doch ehe fie in den Miſſifſippi eindringen
konnte, ſollt ſie erſt einen harten Strauß beſtehen. Es
war am 9. März. Die Unionsflotte hatte zunächſt Char⸗
leston und die übrigen Seeſtädte der Südſtaaten blokirt.
Zwei Fregatten, drei Dampfer und eine Eskadre kleiner
Fahrzeuge befanden ſich zum Schutze von Monroe un⸗
fern dieſer Bundesfeſte auf der Rhede von den Hampton⸗
Roads. .
9
Plötzlich ertönte ein Allarmſchuß von der Wache des
Cumberland und man ſieht die Flotille der Rebellen
nahen, in ihrer Mitte ein ſeltſames Fahrzeug mit ſchrägem
Dach und langem ſtählernem Widder. Das ſchwarze
Ungethüm hält ſeinen Schiffsraum ganz unter Waſſer;
ſtill und unheimlich bewegt es ſich ſchnell genug vorwärts
und ſteuert gerade auf die ſchöne, ſtolze Fregatte, Cumber—
land‘ zu. Dieſe feuert ihre ganze Breitſeite auf den An⸗
greifer ab; die Kanonenkugeln prallen aber von deſſen
eiſernen Wänden ab wie Erbſen, die man auf eine Stein—
platte wirft. In vollem Lauf rennt der Merrimac
— ſo heißt das neue Widderſchiff — auf die Fregatte und
bringt ihr mit ſeinem Spieß eine furchtbare Wunde bei.
Gleich einem Widder, der zum zweiten Mal ausholt,
weicht der Merrimac eine Strecke zurück und ſtößt dann
wieder auf die Fregatte, die abermals ein weites, tiefes
Loch erhält. Der erſte gewaltige Schuß, den der Marrimac
auf das Holzſchiff abgefeuert hat, fegt ſechs Matroſen vom
Deck, der zweite zerſplittert den Hauptmaſt. Die Fregatte
ſinkt, die Mannſchaft muß ſich ergeben. Nun ſegelt der
Marrimac auf den, Congreß' los; die Mannſchaft ergiebt
ſich. Daſſelbe Schickſal erfährt darauf die Fregatte
Minnejota‘. Da erſcheint als Retter in der Noth ein
don dem genialen Ericſon aus Schweden erbautes Eiſen—
ſchiff, das noch mehr Waſſerpaß iſt, kleiner als der Mer—
rimac, mit flachem Boden und ſpitzen Enden. Nur ein
um ſich ſelbſt ſich drehender Thurm mit zwei ſchweren
Geſchützen, welche Kugeln von zwei Centnern ſchleudern,
Igd.⸗Bibl. 8. 7
a er
ragt über die Waſſerfläche empor. Ein Schuß auf den
Merrimac erſchüttert dieſen bis zum unterſten Kiel. Die
Ungethüme fahren auf einander; der Monitor aber
— ſo heißt das eiſerne Schiff der Union — iſt unver—
wundbar und ſetzt ſeinem Gegner ſo zu, daß dieſer das
Weite ſuchen muß. Die Unionsflotte iſt gerettet.
Einige Wochen nach dem Duell dieſer Eiſenſchiffe —
deren Erſcheinen eine neue Aera im Seekriege eröffnete —
mußte ſich New-Orleans den Unionstruppen ergeben.
Am Charfreitag begann die furchtbare Beſchießung, Die-
mehrere Tage dauerte, während gleichzeitig ein Angriff
der Landungstruppen unter Butler vorbereitet ward.
Dem General Fremont war die Aufgabe geworden,
in Weſt⸗Virginia zu operiren, dem General Sherman in
Süd⸗, Burnſide in Nord-Carolina. Des letzteren Yeld-
zug gelang; auch bei Wincheſter ward ein Sieg erfochten.
Dann aber erlitten die Unioniſten im Shenandoah-Thale
eine furchtbare Niederlage und in den Sumpfgegenden
des Chickahominy-Fluſſes, wo M' dClellans Heerſäule
Stellung genommen hatte und nun in aller Eile den
Rückzug antreten mußte, erlitt auch deſſen Heer eine blu—
tige Schlappe nach der andern. Der Regierung zu
Waſhington blieb nun keine andere Wahl, als alle in der
Nähe befindlichen Truppen in und um Waſhington zu—
ſammenzuziehen. Im September beſtand M’Clellan
abermals den Kampf mit dem unter deu Generalen Lee
und Jackſon über den Potomacfluß in Maryland vorge—
EEE
|
3
drungenen Heere der Conförderirten. Dieſe Schlacht bei
Sharpsburg (16. September 1862) war eine der
blutigſten des ſchrecklichen Krieges; ſie währte 14 Stunden;
die Unionstruppen verloren 14,000 Mann, die Confö—
derirten 12,000 Mann, ohne daß eine Entſcheidung erfolgt
wäre. Zwar zog ſich Lee über den Potomac zurück, aber
M'dClellan verfolgte ihn nicht, ſondern begnügte ſich damit,
die Grenze von Maryland gegen neue Einfälle zu decken.
Die Waſhingtoner Regierung ſandte ihm gemeſſene Be—
fehle, den Potomac zu überſchreiten und die Offenſive zu
ergreifen; widerwillig gehorchte der General, verſchob
jedoch abermals den Angriff, weil er noch zu ſehr ge—
ſchwächt ſei, und dieſe vierzig Tage der Unthätigkeit ihres
Gegners benutzten die Feinde vortrefflich zu ihrer Stär—
kung. Nun gab Präſident Lincoln der allgemeinen Er-
bitterung über M'Clellans ſchwankende und zaudernde
Kriegsführung nach und entzog ihm den Oberbefehl über
die Potomac-Armee, den nun General Burnſide erhielt.
Dieſer ſchickte ſich an, bei Fredericksburg den Fluß Rappa⸗
hannok zu überſchreiten, um durch raſches Vorgehen auf
Richmond ſeinen Gegner Lee zum Rückzug zu zwingen.
Lee hatte jedoch auf den Höhen von Fredericksburg eine
ſehr gut gewählte Stellung genommen, und als Burnſide
dennoch den Angriff wagte, ward er mit einem Verluſt
von 13,000 Mann geſchlagen und mußte ſich wieder über
den Rappahannol zurückziehen. 7
Gegen ſolche Niederlagen wollten die Erfolge, welche
General Graut auf dem weſtlichen Kriegsſchauplatze errang
— 100 —
and General Roſecranz am mittleren Teneſſee durch den
Sieg bei Murfreesborough (30. Dezember) nicht viel be—
ſagen; hatte doch auch der letztere Sieg mit einem Verluſt
oon 11,500 Mann erkauft werden müſſen!
Lincoln aber ließ ſich im feſten Gange, den er ſich in
ſeiner Politik vorgezeichnet, weder durch Siege noch durch
Niederlagen irre machen, obwohl ihn die ungeheuren
Opfer an Menſchenleben, welche dieſer Bürgerkrieg forderte,
tief in der Seele ſchmerzten. In ſchweren Stunden
wandte er ſich im Gebet nach oben und holte ſich von dort
her neue Zuverſicht. Ein theures Glied ſeiner Familie,
ſein hoffnungsvoller zwölfjähriger Sohn William, war
ihm auch durch den Tod entriſſen worden, und als er eines
Tages in ſeinem Shakespeare geleſen, trat er mit dem
Buche in der Hand zum Oberſt Le Grand B. Cannon,
der mit ihm arbeitete und wiederholte die ſoeben geleſene
Stelle („König Johann“) mit tiefer Rührung und kum—
mervollem Blicke:
„Und, Vater Kardinal, ich hört' Euch ſagen,
Daß wir im Jenſeits wiederfinden, was wir liebten,
Iſt's wahr, dann ſeh ich meinen Knaben wieder! —“
Und mit zitternder Stimme, während ſeine Lippen kaum
merklich zuckten, ſetzte er hinzu, auf den Gefährten blickend:
„Oberſt, träumten Sie je von einem verlorenen Freunde,
waren Sie ſich bewußt, ſüße Zwiegeſpräche mit ihm zu
halten, und durchdrang Sie doch wieder zugleich die trübe
Gewißheit, daß Alles nur ein Traum ſei? — So träume
ich von meinem Knaben Willie!“ — Und die Thränen
— 101 —
rannen dem ſtarken Manne über das hagere, kummer⸗
volle Geſicht.
In trüber, niedergedrückter Stimmung mußte Lin⸗
coln das Jahr 1862 beſchließen. Nicht nur waren alle
Hoffnungen auf baldige Niederwerfung der Rebellen ver—
nichtet worden, auch das Parteigetriebe und die fortwäh—
rende Oppoſition innerhalb der Nordſtaaten bereitete dem
Präſidenten viele Noth und Kümmerniß. Drei tonan⸗
gebende Staaten, New-York, Ohio und Pennſylvanien
hatten im Herbſt 1862 ihre Abgeordneten für Waſhington
in regierungsfeindlichem Sinne gewählt, die Demokraten
aber hatten ſich in zwei Parteien geſpalten, in die Kriegs—
und Friedensdemokraten, welche letztere der Volkswitz
„Kupferköpfe“ (copperheads) nannte. Dieſe copperheads,
welche nach guter Spießbürger Art den Frieden um jeden
Preis wollten, ſchrieen bei jeder energiſchen Maßregel
Lincolns, daß er ſeine Befugniſſe überſchreite und ſich
Alleinherrſchaft anmaße; die Kriegsdemokraten und ein
Theil der Republikaner ſchoben auf den Präſidenten und
deſſen Kriegsſekretär alle Schuld, wenn die Feldherrn
ſchlecht operirten oder geſchlagen wurden. Lincoln, zum
Aeußerſten entſchloſſen, um die Union zu retten, hatte in
ſeiner Proklamation vom 22. September 1862 den con-
föderirten Staaten angekündigt, daß er ihnen eine hun—
derttägige Friſt zur Rückkehr in die Union bewilligen
wolle; falls aber dieſe unbenutzt bleibe, werde er am 1.
Januar 1863 die Befreiung ſämmtlicher Sklaven in den
conföderirten Staaten verfügen. Und wenige Tage nach⸗
— 12 —
her hatte er die Habeas Corpus-Akte aufgehoben, um
den Umtrieben der Abtrünnigen bei den Demokraten des
Nordens ein Ende zu machen.) 8
Solche durchgreifende Maßregeln mochten wohl
manchem amerikaniſchen Freiheitsmann wie Deſpotismus
erſcheinen und doch waren fie im Drange der Verhältniſſe
geboten, wenn durch zügelloſe Freiheit die Freiheit ſelber
nicht zu Grunde gehen ſollte.
So erließ denn Lincoln am Neujahrstage 1863, wie
er es bereits den Südſtaaten im verwichenen Herbſt ange—
kündigt hatte, die Proklamation, daß alle im Feindeslande
befindlichen Sklaven fortan frei fein ſollten. Jenen Skla⸗
venſtaaten, die auf Seite des Nordens ſtanden — Miſſourie,
Kentucky, Maryland — wurde die Botmäßigkeit über die
Sklaven gelaſſen, weil der Präſident ſeine Proklamation
als eine rein kriegeriſche Maßregel betrachtet wiſſen
wollte, derſelbe aber auch vorausſah, daß genannte Staa=
ten freiwillig zur Sklavenemancipation ſich entſchließen
würden. 8 |
Um die Geldmittel zur Fortſetzung des Krieges zu
ſchaffen, ward der Finanzminiſter vom Congreß zu einer
6⸗procentigen Anleihe von 900 Millionen Dollars er—
mächtigt, ferner zur Ausgabe von 400 Millionen verzins—
*) Nach der ſogenannten Habeas Corpns-Akte darf kein
Bürger an ers als durch einen gejeslichen Befehl des Richters
verha tet werden. Dieſer gerichtliche Vorgang erfordert aber
Zeit, während der in aufgeregten Zeiten ſich Mancher der Ver—
haftung entziehen kann, der gegen die Regierung agirt.
— 103 —
licher Schatzſcheine und zur Vermehrung des Papier-
geldes. Auch ward dem Präſidenten das Recht einge—
räumt, für den Land- und Seedienſt der Union Neger an-
zuwerben — eine Maßregel, die um ſo wichtiger war, als
man die durch Schlachten und Krankheiten eingebüßten
Truppen auf 175,000 Mann, und den durch Deſertionen
erlittenen Verluſt auf 125,000 Mann (im Ganzeu alſo
300,000 Mann Verluſt) ſchätzen mußte. Dazu kam, daß
mit dem Monat Juni des Jahres 1863 die Dienſtzeit
von 130 Regimentern zu Ende ging, und da der erſte
Enthuſiasmus vorüber war, nicht zu erwarten ſtand, daß
ſich dieſelben zu einer nochmaligen Anwerbung würden be—
reit finden laſſen. Die weißen Soldaten hatten freilich
einen Widerwillen gegen die ihnen aufgedrungene Waffen»
brüderſchaft der Schwarzen, und Ende des Jahres 1863
zählte die Union nur 35,000 bewaffnete Neger; doch am
Ende des Jahres 1865 ſchon über 100,000, weil die An—
werbung der Weißen immer ſchwieriger wurde.
Beides, die Verkündigung der Sklaven-Emancipation
wie das Geſetz der Negerbewaffnung erregte bei den Con—
föderirten die tiefſte Erbitterung. Gewiß wäre es vom
Standpunkte einer weiſen Staatskunſt und ſelbſt vom
Standpunkte der Humanität rathſamer geweſen, die halb
thieriſche, durch die Sklaverei tief herabgedrückte Neger—
race erſt durch allmähliche Uebergänge für die Freiheit
vorzubereiten, als ſo plötzlich die rohe Naturkraft dieſer
Menſchen zu entfeſſeln. Aber Lincoln war ja gerade
durch den Uebermuth und Scharfſinn des Südens an einer
— 104 —
ruhigen Entwickelung feiner Staatskunſt gehindert, er war
durch den Bürgerkrieg zu dieſer gewaltſamen Maßregel
gezwungen worden. War die Sklaverei eine der Haupt⸗
urſachen geweſen, weßhalb die Südſtaaten den Krieg be—
gonnen hatten, ſo war fortan die Aufhebung der
Sklaverei das Hauptziel des Krieges für die Anhänger
der Union.
Zunächſt freilich erfüllten ſich die von Lincoln und
ſeinen Freunden an die Negerbefreiung geknüpften Hoff-
nungen nur zum geringen Theile. Denn das Anſehen
der Sklavenbeſitzer war zu tief gewurzelt, und zum Ruhme
der Mehrzahl derſelben ſei es geſagt, ſie waren ihren
Sklaven durchaus nicht ſo grauſame Herren geweſen, daß
dieſe nun plötzlich gegen ihre Herrſchaft ſich hätten erheben
ſollen. Auch wurden viele Sklaven von der Grenze tiefer
in's Innere der conföderirten Staaten geſchickt, wo ſie von
Lincolns Proklamation gar nichts erfuhren.
Die Generale des Südens kämpften auch im Jahre
1863 mit vielem Glück und Geſchick; der Kampf wurde
noch hartnäckiger und blutiger, da die Schlachten ſich auf
mehrere Tage ausdehnten und meiſt mit der Erſchöpfung
beider Theile endeteu. General Burnſide hatte den Ober—
befehl über die Potomac-Armee an Hooker abtreten müſſen;
dieſer gedachte abermals Lee's Stellung bei Fredericksburg
zu umgehen und ward abermals bei dem Gehöfte Chan—
cellorsville, weſtlich vom Schauplatz der vorjährigen
Schlacht, geſchlagen. Die Schlacht dauerte vom 2. bis
4. Mai, und in dem neuntägigen Feldzuge hatte General
— 105 —
Hooker nicht weniger als 17,000 Mann und 120 Geſchütze
verloren. Doch ſein Nachfolger im Kommando, General
Meade, wetzte die Scharte in der dreitägigen Schlacht
von Gettysburg (I. bis 3. Juli) wieder aus, freilich mit
ſchwerem Verluſt; die Unioniſten verloren 33,000 Mann,
die Conföderirten 28,000! Gleichzeitig mit dem bei Get—
tysburg erfochtenen Siege liefen vom Weſten des Kriegs—
ſchauplatzes erfreuliche Nachrichten ein: Vicks burg und
Port Hudſon waren nach hartnäckiger Gegenwehr
erſtürmt worden, jenes vom General Grant, dieſes vom
General Banks. Und mit der Schlacht bei Chatta—
nooga (23. bis 26. September), welche Hooker gewann,
ſchloß das Jahr 1863 doch günſtig für den Norden, der
nun den Staat Tenneſſee und das ganze Miſſiſſippigebiet
in ſeine Gewalt bekommen und die Blokade der feindlichen
Seehäfen überall durchgeſetzt hatte.
Als im Dezember d. J. der Friedhof von Gettysburg
eingeweiht wurde, ließ ſich's der Präſident nicht nehmen,
mit ſeinem Kabinet der Feier beizuwohnen. Eine anſehn—
liche Militärmacht und eine zahlloſe Menschenmenge hatte
ſich ernſt und trauernd um die friſchen Gräber verſammelt,
der ehrwürdige Edw. Everett weihte den Grund ein in
eindringlicher, frommer Rede, dann erhob Abraham
Lincoln ſeine klare, weithin tönende Stimme und ſprach
folgende denkwürdige Worte: „Siebenundachtzig Jahre
ſind verfloſſen, da gründeten unſere Väter auf dieſem
Feſtlande eine neue, zu Freiheit und Gleichheit geſchaffene
Nation. Wir führen jetzt einen großen Bürgerkrieg, der
—
— 106 —
Welt zu zeigen, daß dieſes und jedes nach ſolchen Grund—
ſätzen in's Daſein gerufene Volk dauernde Lebensfähigkeit
habe. Wir ſtehen hier auf einem großen Schlachtfelde
des ſchrecklichen Krieges und ſind gekommen, einen Theil
deſſelben als letztes Aſyl derer zu weihen, die hier ihr
Leben opferten, damit die Nation am Leben bleibe. Pflicht
und Pietät gebieten es uns. Doch in tieferer Bedeutung
vermögen wir dieſe Stätte weder zu weihen noch zu
heiligen. Sie iſt bereits geweiht von jenen Tapferen, die
— lebend oder todt — hier gekämpft haben, und es ſteht
nicht in unſerer Macht, dieſe Weihe zu vermehren oder zu
vermindern. Vielmehr iſt es an uns, den Lebenden, hier
eine Weihe zu empfangen zur Vollendung des Werkes
das jene ſo heldenmüthig gefördert haben — wir ſollten
jene Einſegnung empfangen, auf daß wir im Hinblick auf
die Gräber unſerer verehrten Todten unſere Begeiſterung
mehren für die Sache, welcher ſie zum Opfer gefallen ſind,
daß wir es aus Herzensgrund bekennen, unſere Todten
ſeien nicht vergeblich geſtorben und die Nation werde,
will's Gott, die Geburt der Freiheit von Neuem erleben,
und die Regierung des Volkes durch das Volk und für
das Volk werde nimmer von der Erde verſchwinden.“
Im Dezember des Jahres 1863 erließ Lincoln, um
nichts zu verſäumen, was möglicher Weiſe die Südſtaaten
beruhigen könnte, eine Proklamation, welche den Rebellen
eine allgemeine Amneſtie verhieß, falls ſie ſich bereit er—
klären würden, die Waffen zu ſtrecken. Wie zu erwarten
ſtand, ward ſolche Zumuthung mit Hohn zurückgewieſen.
*
— 107 —
So ward denn das Jahr 1864 mit neuen Kämpfen
begonnen, und daß die leitenden Perſönlichkeiten des Sü—
dens die höchſte Energie entwickelten, um ihrer Sache den
Sieg zu verſchaffen, muß zu ihrem Ruhm anerkannt
werden. Aber dieſe Energie ging allmählich in wilden
Terrorismus über und nur das Schreckensregiment hielt
noch die conföderirten Staaten zuſammen. Schon machte
ſich der Mangel an Kriegsmannſchaft fühlbar, und um die
Lücken zu füllen, führte man die Conſcription für alle
Altersklaſſen von 18 bis 50 Jahren durch, zwang die Re—
gimenter, die ihre Zeit abgedient hatten, weiter zu dienen,
und dieſe Maßregel bewirkte, daß die Zahl der Ausreißer
mit jeder Woche ſich vermehrte. Auch die Geldquellen
drohten zu verſiegen.
Für den Norden hingegen trat dadurch eine entſchei—
dende Wendung zum Beſſern ein, daß die Regierung nicht
mehr die Operationen wie bisher zu zerſplittern Willens
war, und den Oberbefehl in die Hände des ausgezeichneten
Generals Ulyſſes Grant legte, der am 9. März von Lin—
coln die Beſtallung als Generallieutenant der Armee
der Vereinigten Staaten erhielt. Nun gewann Alles an
Einheit und Plan. Grant zog die Truppen auf den ent—
ſcheidenden Punkten zuſammen und ſetzte ſeinen kühn ent—
worfenen Plan mit bewundernswerther Ausdauer in's
Werk: die Ueberwältiguug der Armee des General Lee
und die Einnahme von Richmond durch die Potomacarmee
in Verbindung mit einer neu gebildeten, die ſich unter
General Sherman bei Chattanooga ſammeln ſollte;
— 108 —
Durchbruch des feindlichen Centrums durch die Unions⸗
heere von Georgien in die bisher vom Krieg verſchont
gebliebenen Staaten am Golf von Mexiko, Zerſtörung
der Eiſenbahnen und militäriſchen Etabliſſements. Indem
ſo der Feind in die Mitte genommen und zerdrückt wurde,
ſchnitt man ihm zugleich alle Zufuhr ab und entzog ihm
die Mittel des Krieges.
Entſchloſſen überſchritt Grant mit der Potomac⸗
Armee den Rapidan, rückte trotz der heftigen Angriffe des
Feindes vor, bis Lee, der ſein großes Feldherrntalent
abermals bewährte, in einer dicht bewachſenen Wildniß,
wo mit Artillerie und Kavallerie nichts ausgerichtet wer—
den konnte, ihn zur Schlacht zwang. Die Flintenkugeln
fielen wie Hagel in die Reihen beider Gegner, Tauſende
wurden auf beiden Seiten hingeopfert, ohne daß die
Schlacht eine Entſcheidung herbeiführte. Grant verlor
25,000 Mann, Lee 18,000 Mann! Vom 5. bis 12. Mai
war faſt ununterbrochen gekämpft worden. Um ſeine
Verluſte zu decken, zog Grant die Beſatzungen der nördlich
vom Potomac gelegenen Plätze an ſich und ging ſchon am
18. Mai wieder zum Angriff über. Nach harten Kämpfen
zwang er die Conföderirten durch Umgehung ihres rechten
Flügels, ihre Stellung bei Spotſylvania aufzugeben, und
durch einen zweiten Flankenmarſch, ihre befeſtigte Stellung
zwiſchen North- und South-Anna zu verlaſſen. Unter
endloſen, hartnäckigen Gefechten gelangte er bis vor Pe-
tersburg, im Süden von Richmond, der Rebellenhaupt—
ſtadt, hier hatte ſich aber Lee ſo ſtark verſchanzt, daß er
—
— 109 —
nutzlos das Blut ſeiner Krieger opferte, und am 18. Juni
mit großem Verluſt zurückgeſchlagen ward. Dadurch er—
muthigt, wagte Lee noch einmal die Offenſive, ließ 25,000
Mann durch das Shenandoahthal in Maryland einrücken
und drang nach Washington vor. Die Reiter des Corps
von Breckenridge wagten ſich bis an den Fluß der benach—
barten Feſtungen und Lincoln ſah von ſeinem Landhauſe
die Wohnung eines Freundes in Flammen aufgehen. Es
war das letzte Aufflackern des ſüdſtaatlichen Kriegsglückes.
Grant ſandte einen Theil ſeiner Truppen an den Potomac
und als noch überdieß General Sheridan ſich mit ſeinem
Heer von 30,000 Mann bei Wincheſter aufſtellte, mußten
die Conföderirten Maryland räumen.
Die zweite Hauptaufgabe, welche ſich Grant geſtellt
hatte, war, wie oben erwähnt, in das Innere Georgiens
vorzudringen, und die ſeit dem Beginn des Krieges errich—
teten Fabriken und Militär-Etabliſſements zu zerſtören.
Sie ward vom General Sherman glänzend gelöst. Er
trieb Johnſton von den Keneſawbergen herab, drang ſieg—
cich bis Atlanta vor, dem Knotenpunkt der Eiſenbahnen,
der mit beſonderer Sorgfalt durch ſtarke Forts geſchützt
war. Die Regierung von Richmond übertrug an John—
ſtons Stelle dem unternehmenden General Hood das
Kommando, der mit Sherman wacker um den Beſitz der
Eiſenbahnen kämpfte. Sherman hatte ſich bald überzeugt,
daß ein direkter Angriff auf die Befeſtigungen von
zweifelhaftem Erfolg ſein würde; ſo griff er mit richtigem
Takt zum anderen Mittel, er zerſtörte die Eiſenbahnen
—
—
— 110 —
(nach Montgomery und Macon führend), die ſüdlich von
Atlanta ſich vereinigen, und ſobald Hood dies erfuhr,
räumte er (am 1. September) Atlanta, ſprengte ſämmtliche
Pulvermagazine in die Luft, ließ die noch vorhandenen 83
Eiſenbahnwaggons mit Munition beladen und anzünden,
die Lokomotiven aber dadurch zerſtören, daß man ſie mit
voller Dampfkraft gegen einander trieb.
Mit dem Fall von Atlanta war die Rebellion im
ganzen Weſten zu Boden geworfen. Hood umging nun
in weitem Bogen Atlanta und warf ſich in den Rücken
Shermans, der dem General Thomas einen Theil ſeiner
Truppenmacht überließ, um den Feind aufzuhalten und zu
täuſchen, mit ſeinem Hauptheere aber (60,000 Mann), das
er der leichteren Verpflegung wegen in zwei Säulen ges
theilt hatte, plötzlich in die Berge North-Georgias abbog
und jenen außerordentlich kühnen Streifzug durch feind—
liche Gebiete und eine wilde Natur mit größter Schnellig—
keit ausführte, der ihm ein ehrenvolles Gedächtniß in der
Kriegsgeſchichte aller Zeiten ſichert. Er zerſtörte hinter
ſich alle Eiſenbahnen, leitete das Heer ſo geheimnißvoll,
daß nichts über deſſen Bewegungen verlautete, und wäh—
rend man in der Union voll ängſtlicher Spannung hin—
und herrieth, was aus Sherman und ſeinen Tapferen
geworden ſein möchte, erſchien er wie durch ein Wunder
im Dezember vor Savannah (an der atlantiſchen Küſte),
eroberte die Stadt und vertrieb den General Harden, der
ſich auf Charleston zurückzog,
— 111 —
Indem Generallieutenant Grant durch die Belage—
rung von Petersburg und die Beſetzung des ganzen
Terrains die Verbindung Richmonds und des Rebellen—
heeres mit dem Süden abſchnitt, unterband er recht eigent—
lich die Schlagadern des feindlichen Landes, deſſen Kopf
tihmond, deſſen Herz Atlanta war.
Nicht minder wichtig jedoch als dieſe Feldzüge war
die Wiedererwählung Lincolns (kam 8. November 1864)
zum Präſidenten der Vereinigten Staaten. Der Kandidat
der demokratiſchen Partei war MecClellan. Wäre dieſer
Präſident geworden, ſo würde in kurzer Zeit den Süd—
ſtaaten ein ſehr billiger Friede gewährt worden ſein und
die alte Wirthſchaft hätte auf's Neue begonnen. Die
Republikaner hielten aber gut zuſammen und honest old
Abe wurde mit einer Majorität von 400,000 Stimmen
auf neue vier Jahre zum oberſten Lenker der Union
erwählt.
Dieſe Wiederwahl Lincolns war für den Süden ein
Schlag, der noch furchtbarer war als einige verlorene
Schlachten; ſie bedeutete kräftige Fortſetzung des Krieges,
unbedingte Unterwerfung des Südens, Aufhebung aller
Sklaverei; ſie bedeutete aber auch kräftige Aufrechterhal—
tung von Geſetz und Ordnung durch alle Staaten der
Union. In ſeiner Rede, die er beim Antritt ſeiner zweiten
Amtsperiode hielt, ſagte er am Schluß: „Mit Haß gegen
Niemand, mit Nachſicht gegen Alle, mit unerſchütterlichem
Glauben an das Recht, wie Gott es uns erkennen läßt,
laßt uns vorwärts ſtreben, das Werk zu vollenden, das
— 12 —
wir begonnen haben. Laßt uns bemüht ſein, die Wunden
der Nation zu heilen, laßt uns für Jene ſorgen, welche
des Kampfes Hitze ertragen, für ihre Wittwen und
Waiſen; laßt uns Alles verſuchen, was einen gerechten,
dauernden Frieden unter uns ſelbſt und mit allen Nationen
ſichern kann!“
Den Südmännern ſank nun der Muth. Es war
vorauszuſehen, daß nach dem Fall Sa vannah's auch
Charleston nicht lange mehr zu halten ſei, daß die ſieg—
reichen Heere der Union bald zuſammenrücken und Lee's
geringe Streitkräfte erdrücken würden. Doch erhob
Jefferſon Davis mit ſeinen Getreuen noch trotzig genug
das Haupt, als er im Janur 1865 erklärte, daß er geneigt
ſei, Unterhandlungen zwiſchen „beiden Ländern“ anzu—
knüpfen, worauf ihn Lincoln bedeuten ließ, daß es ſich
nur um die Vereinbarung des Volkes im gemeinſa—
men Vaterlande handeln und von einer Unab—
hängigkeit der Südſtaaten gar keine Rede ſein könne. Er
verlangte vor Allem Rückkehr in die Union und Unter-
werfung unter ihre Geſetze.
Der Krieg mußte alſo fortgeſetzt werden, und in dem
Kriegsrathe, der unter Lincolns Vorſitz ſtattfand, ward
feſtgeſetzt, daß Sherman von Savannah aus nach Süd—
Carolina vordringen, Charleston durch Abſchneiden aller
Hilfsmittel zur Uebergabe nöthigen, dann Nord-Carolina
durchziehen und ſich mit Grants Streitmacht vereinigen
ſolle, um mit Uebermacht das Heer Lee's zu vernichten.
Dieſer Plan ward ausgeführt; Lee zog alle vorhandenen
S
— 113 —
Truppenkräfte an ſich; Columbia, Charleston, Georges
town, Kingſton und andere wichtige Plätze in beiden Ca—
rolina's wurden eiligſt geräumt. Lee, in immer engere
Kreiſe eingeſchloſſen, ſetzte den Widerſtand nur noch fort
in der Hoffnung, unter den Waffen leichtere Friedensbe—
dingungen und eine vollſtändigere Amneſtie zu erhalten.
Grant mit der Potomac-Armee, der nach ſo manchem
Mißgeſchick die Ehre vorbehalten war, die Entſcheidung
herbeizuführen, rückte ihm auf den Leib; er verſuchte, das
Centrum Grants zu durchbrechen, ward aber zurückge—
ſchlagen, und Grant ließ nun alle Verſchanzungen von
Petersburg gleichzeitig angreifen. Die fünftägige Schlacht
bei Petersburg (29. März bis 2. April) entſchied den Fall
der Stadt; Lee zog in der Nacht vom 2. auf den 3. April
ab und räumte auch Richmond, zündete die ſüdſtaatliche
Regierungsſtadt an, ſprengte ſeine Pulvermagazine und
Panzerſchiffe in die Luft und ſuchte mit dem Reſt ſeiner
Truppen nach Burkesville zu entkommen.
Der Hauptſitz der Rebellion war ein Trümmerhaufen
geworden, die Union nach vier blutigen, ſchweren Jahren
wieder erobert. In beiden Städten wurden die einziehen—
den Unionstruppen von der meiſt aus Negern beſtehenden
Bevölkerung mit Jubel empfangen; man gönnte den
ſchwarzen Regimentern den Triumph, zuerſt in Richmond
einzuziehen, ihren General Weitzel an der Spitze, der zum
Stadtkommandanten ernannt wurde. Grant aber zog
den flüchtigen Rebellentruppen nach, um dem „
mit Einem Schlage ein Ende zu machen.
Igd.⸗Bibl. 8. —— 5
— 114 —
Präſident Lincoln hatte während des Kampfes in
City⸗Point (unweit Petersburg am Jamesfluſſe gelegen)
verweilt und von dort aus ſeine Depeſchen an den Kriegs—
ſekretär Stanton nach Waſhington gerichtet. Am Tage
nach der Einnahme von Richmond oegab auch er ſich dahin;
er zog nicht im Triumphzuge ein, nicht mit Muſik und
Fahnen und von ſiegreichen Kriegsſchaaren begleitet, ſon—
dern mit ſeinem Söhnchen an der Hand (Robert, der
älteſte, war als Hauptmann im Stabe Grants mit dem
Heere weiter gezogen), nur vom Admiral Porter geleitet,
von deſſen Schiffe aus er auf einem Boote ſich nach Rich—
mond rudern ließ. Nur von den wenigen mit Karabinern
bewaffneten Seeleuten gefolgt, die ihn zur Stadt geru—
dert hatten, machte er zu Fuß feinen Rundgang und rich—
tete ſeine Schritte nach dem Hauptquartier des Generals
Weitzel, der das Haus des entflohenen Jefferſon Davis
in Beſitz genommen hatte. Doch unterwegs ward er er—
kannt, blitzſchnell verbreitete ſich die Kunde durch die Stadt:
der Präſident iſt gekommen, old Abe iſt da! Und nun
erhob ſich unter der ſchwarzen und farbigen Bevölkerung
ein Jubelgeſchrei, die Männer ſanken in die Knie nnd
vergoſſen Freudenthränen, die Weiber hielten jauchzend
ihre Kinder in die Höhe, um ihnen Vater Lincoln zu zei⸗
gen, und das Gedränge ward ſo groß, daß der Präſident
kaum von der Stelle konnte.
Lee's Armee war in voller Auflöſung begriffen, und
nachdem ſchon ſein letzter Verſuch, durch Sheridans Korps
ſich einen Weg nach Lynchburg zu bahnen, mißlungen
— 15 —
war, bat er (am 9. April) um eine perfünliche Zuſammen⸗
kunft mit Grant. Sie ward ihm gewährt und die Kapi—
tulation abgeſchloſſen unter ſo milden Bedingungen, als
er ſie in ſeiner verzweifelten Lage kaum hatte hoffen können.
Nur die Waffen niederlegen und auseinandergehen! —
mehr wurde nicht verlangt. Lee's Beiſpiel folgte General
Johnſton in Nord-Carolina. Damit war ein Krieg be—
endigt, der mehr als eine halbe Million ſtreitbarer Män—
ner hinweggerafft hatte — 325,000 Mann Unionstrup⸗
pen, 200,000 Conföderirte!
Als Lincoln nach Waſhington zurückkehrte, ging ein
grenzenloſer Jubel durch die Regierungsſtadt und von
einem Staat zum andern. Alle guten Bürger fühlten es
und ſprachen es laut aus, daß ohne den ebenſo ehrlichen
als feſten Präſidenten der Sieg nicht errungen worden
wäre. Hatte er Strenge walten laſſen müſſen, ſo war
doch dieſe nie ohne Milde geweſen, und ſeine wahrhaft
chriſtliche Geſinnung bewies er jetzt in glänzendſter Weiſe,
daß er auch ſeinen erbittertſten Feinden gegenüber keine
Härte, keinen Groll walten ließ. Er hatte ſeinen Gene—
ralen die größte Schonung des Feindes zur Pflicht gemacht
und nun, nachdem der Sieg vollſtändig errungen war,
verzichtete er darauf, die flüchtigen Leiter der Rebellion
gefangen nehmen zu laſſen. General Sherman hatte
wiederholt angefragt, wie er ſich verhalten ſolle, im Falle
man der Machthaber von Richmond, namentlich des Prä—
ſidenten Jefferſon Davis ſich bemächtigen würde. „Ich
will Ihnen was ſagen“, erwiderte Lincoln, „hinten im
et
— 116 —
Bezirk Sangamon lebte ein alter Mäßigkeitsprediger, der
es mit der Lehre und Ausübung der Enthaltſamkeit ſehr
ſtreng nahm. Eines Tages, nachdem er bei großer Hitze
einen langen Ritt gemacht, kehrte er im Hauſe eines
Freundes ein, der ihm eine Limonade bereitete. Während
der Freund das milde Getränk miſchte, fragte er ein—
ſchmeichelnd ſeinen Gaſt, ob dieſer nicht ein kleines halbes
Tröpfchen von etwas Stärkerm darin haben möchte, damit
er nach dem heißen Ritt die erſchlafften Nerven ein wenig
ſtärke. „Nein!“ ſagte der Mäßigkeitsapoſtel, „ich bin aus
Prinzip dagegen. Aber — fügte er dann mit einem
ſchmachtenden Blick auf die daneben ſtehende Flaſche
hinzu — wenn Sie es ſo machen könnten, daß ohne mein
Wiſſen ein Tröpfchen hineinfiele, ſo denke ich, es würde
mir nicht gerade ſehr wehe thun.“ — „Sehen Sie,
General!“ ſchloß Lincoln, „meine Pflicht iſt es, die Flucht
von Jefferſon Davis zu verhindern, aber wenn Sie es ſo
machen und ihn ohne mein Wiſſen entfliehen laſſen könn—
ten, ſo denke ich, es würde mir nicht ſehr wehe thun!“
Doch ſeinen Feinden war der edle Mann nur um ſo
verhaßter, als und weil er ein herzensguter Mann war.
Dieſelben Anführer der Empörung, die Lincoln ſo groß—
müthig ſchonte, ſchmiedeten Rachepläne und bildeten ein
Komplott, den Präſidenten meuchlings zu morden. Mit
ihm ſollten zugleich Grant, der Kriegsminiſter Stanton,
der Staatsminiſter Seward fallen. Hatten ſie mit Ge—
walt im offenen Felde nichts ausrichten können, jo woll-
ten ſie es nun mit der Hinterliſt verſuchen. Waren die
— 117 —
Häupter der republikaniſchen Partei gefallen, dann hoff—
ten ſie in der allgemeinen Verwirrung wieder die de—
mokratiſche Partei obenauf zu ſehen und ihre Pläne auf
Umwegen doch noch in Ausführung bringen zu können.
Menſchen, die für eine ſchlechte Sache kämpfen, machen
ſich auch über die ſchlechten Mittel, die ſie in Anwendung
bringen, kein Gewiſſen. Schon im Januar konnte man
in der Selma Dispatch, einem im Staate Alabama heraus-
gegebenen Blatte, folgende Anzeige leſen: |
„Eine Million Dollars werden verlangt, um bis
zum 1. März den Frieden zu erlangen. — Wenn die.
Bürger der ſüdlichen Conföderation mir eine Million
in barem Gelde oder gutem Papier liefern wollen,
ſo werde ich Abraham Lincoln, William H. Seward
und Andrew Johnſon bis zum 1. März ermorden
laſſen. Dies wird uns zum Frieden verhelfen
und die Welt überzeugen, daß Tyrannen in
einem freien Lande nicht leben können.
Wenn dies nicht ausgeführt wird, ſo wird nichts re—
clamirt werden, mit Ausnahme einer Summe von
50,000 Dollars, die vorausbezahlt werden muß und
die nothwendig iſt, um drei Schurken zu erſchlagen.
Ich ſelbſt werde 1000 Dollar zu dieſem patriotiſchen
Werke beiſteuern. Jeder, der ſich an dieſem Werke
betheiligen will, ſchreibe unter P. O. Box X Cahaba,
Alabama. Dezember 1, 1864.“
Seine Freunde hatten den Präſidenten wiederholt ge—
warnt, auf ſeiner Hut zu ſein und für die Sicherſtellung
— 118 —
ſeiner Perſon größere Sorge zu tragen. Als ihm ein
Mitglied ſeines Kabinets bemerklich machte, daß in der
großen Unionshauptſtadt Waſhington ſich leicht von den
Rebellen gedungene Meuchelmörder verbergen könnten,
öffnete der Präſident ein Pult und zog ein Pack Briefe
hervor. „Da ſehen Sie — ſprach er — eine Anzahl
Drohbriefe, von denen jeder mir die Ermordung in Aus—
ſicht ſtellt. Ich müßte ſehr nervös und aufgeregt ſein,
wenn ich über dieſen Gegenſtand lange nachdenken wollte.
Auch habe ich alle Gedanken mit folgender Erwägung
abgewieſen: Der Gelegenheiten, mich zu morden, giebt es
ſo viele, daß, wenn Verräther wirklich mit ſolchen Ge—
danken umgingen, ich bei dem beſten Willen einem ſolchen
Schickſal nicht entrinnen könnte. Was ſoll ich mir daher
ganz unnütze Sorgen machen?“
Es war am 14. April, dem Charfreitag des Jahres
1865, am ſelben Tage als vor vier Jahren das Sternen—
banner der Union auf Fort Sumter geſunken war, als in
Waſhington die Nachricht eintraf, die Nationalflagge ſei
wieder aufgehißt worden. Allgemeine Freude herrſchte
in Waſhington und auch Lincoln war heiter geſtimmt. Er
hatte mit ſeinem Sohne Robert gefrühſtückt und ſich von
ihm, der ſoeben vom Schlachtfelde zurückgekehrt war, alle
Einzelheiten der letzten Kämpfe bis zur Kapitulation Lee's
erzählen laſſen. Um 11 Uhr hatte eine Kabinetsſitzung
ſtattgefunden, an der ſich General Grant betheiligte; man
hatte ſich bald über die Grundſätze geeinigt, nach denen
die Regierung vorgehen müſſe, um die tiefen Wunden des
55
Landes zu heilen und die geſetzliche Ordnung wieder her⸗
zuſtellen. Nach der Mittagstafel unterhielt ſich der Prä—
ſident ſehr eingehend mit einer Deputation von Bürgern
aus Illinois, und Abends empfing er noch Herrn Colfax,
den Sprecher des Repräſentantenhauſes und Herrn Aſh—
man, den Vorſitzenden bei der Chicago-Convention von
1860. Man ſprach über Lincolns Ausflug nach Rich—
mond, und einer der Anweſenden machte die Bemerkung,
daß die Anweſenheit des Präſidenten in der Hauptſtadt
der Rebellion doch für deſſen Leben hätte gefährlich werden
können. Lincoln gab ſcherzend zu, daß auch er ſich würde
beunruhigt haben, wenn unter den obwaltenden Um—
9
ſtänden ein Anderer als Präſident nach Richmond ge—
gangen wäre; für ſich ſelber ſei er jedoch gar nicht beſorgt
geweſen.
Für den Abend war der Präſident und General
Grant in's Theater geladen worden. Zu bedauern iſt,
daß in Amerika die ſchöne chriſtliche Sitte, das Theater
am Charfreitag zu ſchließen, nicht vorherrſcht. Obwohl
Miſtres Lincoln etwas leidend und nicht für den Be—
ſuch des Theaters geſtimmt war, wollte der Präſident
doch, da man ſchon in den Zeitungen ſeinen Beſuch gemel—
det hatte und das über die Siegesnachrichten froh erregte
Publikum vorausſichtlich zahlreich verſammelt ſein würde,
ſein Erſcheinen nicht ablehnen. Er lud Herrn Colfax
ein, ihn zu begleiten, dieſer lehnte ab. Grant hatte ſeine
Abreiſe zur Armee beſchleunigt, und ſo fuhr denn der
Präſident mit jeiner Gemahlin gegen 8 Abends allein
—: 120:
vom Weißen Haufe*) ab und ließ vor dem Haufe des Se⸗
nators Harris halten, um Fräulein Clara Harris und
deren Stiefbruder Major Rathbone abzuholen.
Man hatte für den Präſidenten und ſeine Geſellſchaft
eine Proſceniumsloge erſten Ranges, die im zweiten Stocke
lag, reſervirt und vorn mit dem Sternenbanner ge—
ſchmückt. Hinter dieſer Loge lief ein dunkler Korridor,
deſſen Wand einen ſpitzen Winkel mit einer der Thüren
bildete, welche in die Doppelloge führten. Dort hatte
ſich ein kräftiger junger Mann aufgeſtellt, mit Sporen an
den Stiefeln und keineswegs in der Toilette, die man für
das Theater wählt. Er hatte mit großem Scharfſinn
ſeine Vorſichtsmaßregeln genommen, durch ein zuvor in
die Logenthür gebohrtes Loch geſehen, daß der Präſident
in einem Schaukelſtuhle zunächſt dem Orcheſter ſaß, neben
ihm ſeine Gemahlin, Fräulein Harris in der Ecke, zu—
nächſt der Bühne der Major Rathbone, auf dem Divan
an der Hinterwand.
Das Stück, welches geſpielt wurde, hieß: „Unſer
amerikaniſcher Vetter.“ Während die Zuſchauer ihre
Aufmerkſamkeit auf die Bühne richteten, trat der genannte
ruchloſe Menſch — es war der Schauſpieler Wilkes Booth,
ein fanatiſcher Anhänger der ſüdſtaatlichen Partei — in
die leiſe geöffnete Thür der Loge, ſchloß ſie ſchnell, ging
*) So heißt das aus weißem Marmor erbaute Haus in
Waſhington, worin der Präſident ſeine Wohnung hat.
—
— 121
keck vor, zog ſein ſcharf geladenes Piſtol und ſchoß ſicher
und feſt zielend dem arglos daſitzenden Präſidenten durch's
Hinterhaupt. Ein Mal noch hob das Opfer des Mörders
ſein Haupt, dann ſank es und die Augen ſchloſſen ſich, ob—
wohl der kräftige Mann noch athmete.
Major Rathbone, der ſich nach dem Piſtolenknall
umſah und im Pulverrauch einen Mann ſtehen ſah, ſprang
ſchnell entſchloſſen auf dieſen ein und packte ihn; Booth
aber warf die Piſtole fort, zog ein ſtarkes Bowiemeſſer
und führte einen Stoß auf die Bruſt ſeines Angreifers.
Dieſer parirte den Stoß mit ſeinem Arm, der eine tiefe
Wunde erhielt. Nun ſprang Booth nach der Brüſtung
der Loge und obwohl ihn Rathbone abermals am Rocke
feſtzuhalten ſuchte, ſchwang er ſich hinauf und rief, ſein
Meſſer ſchwingend: „Nache für den Süden!“ Dann ſprang
er mit einem Satze auf die Bühne hinab, verwickelte ſich
jedoch mit einem Sporn in das Unionsbanner, von dem
er ein Stück abriß, ſo daß er unten angelangt zu Boden
ſtürzte. Der Fuß hatte ſich verrenkt; das hinderte ihn
jedoch nicht, ſchnell wieder auf die Beine zu kommen. Er
ſchwang abermals ſein blutiges Meſſer und recitirte in
theatraliſchem Pathos den Wahlſpruch des Staates Vir—
gin ien: „Sic semper tyrannis!“ (So geſchehe allen
Tyrannen allezeit!) Da er mit allen Thüren und Gängen
der Bühne genau bekannt war, gelang es ihm ſchnell zu
entkommen. Draußen ſtand ſchon ein geſatteltes Pferd,
das ein Knabe hielt. Er beſtieg's und ſpreugte in der
Dunkelheit davon.
— 122 —
Die Aufregung und Verwirrung im Theater war
unbeſchreiblich; ſie ward noch geſteigert durch die Nachricht,
daß auch Seward ermordet worden ſei. Ein fremder
Menſch war bewaffnet in deſſen Krankenzimmer gedrungen
— denn der Staatsſekretär hatte bei einer unglücklichen
Ausfahrt Arm und Kinnlade gebrochen und lag ſchwer
darnieder — hatte Alle, die ſich ihm entgegenſtellten, nie=
dergeſchlagen und dann dem in ſeinem Bette liegenden
Kranken mehrere Stiche in den Hals verſetzt, die zum
Glück nicht tödtlich waren und nur einen ſtarken Blutver⸗
luſt zur Folge hatten.
Die Kugel, welche das Leben des Präſidenten raubte
war vom linken Schläfenbein, das ſie durchbrach, nach
dem rechten Ohr vorgedrungen; das Blut ſtrömte aus der
Wunde, es floß aber auch Gehirnmaſſe aus und Hilfe war
unmöglich. Man brachte den tödtlich Verwundeten in ein
nahes Privathaus, das Volk lagerte vor der Thür, bis
zum letzten Augenblick ſich der Hoffnung hingebend, es ſei
doch vielleicht noch Rettung möglich. Lincoln hatte auf
der Stelle das Bewußtſein verloren und gewann es nicht
wieder; ſeine Bruſt hob ſich einige Mal, dann athmete er
leiſe fort, bis ſich ohne Zuckungen und Röcheln am andern
Morgen um halb acht Uhr die Seele von ihrer ſterblichen
Hülle löste. Der Jammer der Seinen, die Thränen,
deren ſich auch die feſteſten Männer nicht erwehren konnten
die an ſeinem Lager ſtanden, das Wehklagen des Volkes,
das ſeinen Präſidenten wie einen Vater geliebt hatte, boten
erſchütternde Scenen dar. Nie iſt wohl der Jubel ei nes
ee FD
Volkes auf fo ſchnelle und ſchmähliche Weiſe in tiefſte
Trauer verwandelt worden, als es am Charfreitage 1865
zu Waſhington geſchah, und ſchwerlich iſt je ein Fürſt
von ſeinem Volke mit ſo aufrichtigen und heißen Thränen
beweint worden, als dies bei der Kunde vom Tode Abra-
ham Lincolns, des aus dem Volke hervorgegangenen erſten
Beamten des Volkes geſchah. Die Trauerkunde durchlief
die ganze Union, die Weiber und Kinder der Schwarzen
zogen heulend und ſchluchzend durch die Straßen, und die
Neger klagten, bange vor der Zukunft, daß ihr Vater ge-
mordet ſei. Selbſt in den Südſtaaten ward die Trauer:
kunde nicht ohne tiefe Erſchütterung vernommen, denn ob
auch dort alle Bande der Ordnung und des Geſetzes ge—
löst waren, jo gab es doch noch menschliche Herzen genug,
welche ihre edleren Gefühle nicht im Parteienhaß erſtickt
hatten.
Abraham Lincoln hatte erſt ſein 57. Jahr begonnen,
als ihn die Kugel des Verruchten traf; es war im zweiten
Mo at ſeiner zweiten Präſidentſchaft. In der Reihe der
Präſidenten war er der ſechszehnte.
Nachdem der geliebte Todte einbalſamirt worden war,
ſtellte man ihn im Paradebett auf prachtvollem Katafalk
im Bundespalaſt aus. Tauſende von weißen und ſchwar—
zen Männern und Frauen drängten ſich herzu, um noch
einmal das Antlitz des Vaters der Nation zu ſehen. Die
Leiche ſollte in Springfield ruhen, wo der Hingeſchiedene
ſein Daheim gegründet und ſich ſo wohl gefühlt hatte.
Der Trauerzug bewegte ſich durch alle Staaten und
— 124 —
Städte, die der neu erwählte Präſident vor nicht langer
Zeit, vom Jubelgeſchrei des Volkes begrüßt, durchzogen
hatte. Wiederum wurden, ſobald der Leichenzug anlangte,
Glocken geläutet und Kanonen gelöst, aber diesmal waren
es Trauertöne, welche in das Schluchzen und Klagen der
Menge ſich miſchten.
Der reizend gelegene Oakwood-Kirchhof zu Spring—
field empfing die ſterblichen Reſte und ward fortan der
Wallfahrtsort eines treuen, dankbaren Volkes. Ein ſchö—
nes Denkmal iſt dem großen Mann 1868 zu Waſhington
vor dem Weißen Hauſe errichtet worden.
= 5 =
Was ein Mann wie Abraham Lincoln zu bedeuten
hat, das wird erſt im Lauf der Zeiten offenbar, wenn das,
wofür der Held lebte und litt, ſtrebte und ſtarb, ſich aus
dem trüben Gährungsprozeſſe einer Uebergangsepoche ge—
läutert, klar und rein hervorgearbeitet hat. Daß der
Wohlſtand vieler Tauſender Bürger der Südſtaaten zer—
rüttet, daß von der Wirkſamkeit der Kirche und Schule in
dieſem Theile der Union nicht mehr die Rede und demzu—
folge eine Verwilderung eingetreten war, die erſt durch
viele Friedensjahre bewältigt werden kann; daß auch in
den Nordſtaaten durch den Bürgerkrieg Alles gelockert,
Schwindel und Betrug, Beſtechung und Heuchelei obenauf
gekommen war, daß endlich die plötzlich befreiten Neger
von demüthigen Arbeitsſklaven zu Bürgern und Verthei—
digern des Vaterlandes emporgehoben, hier und da aus
— 125 —
der Freiheit ſchnell zur Frechheit übergingen, und mit fol=
datiſchem Uebermuth und der Rohheit ihrer Race ihre
weißen Mitbürger ſchreckend, kein erfreuliches Bild dar—
boten; daß Tauſende von Negerfamilien zu Grunde gingen,
weil ſie nicht arbeiten wollten und nicht mehr von ihren
weißen Herren gepflegt wurden; dieſe dunklen Schatten
ſtehen unheimlich genug hinter dem lichten Charakterbilde
des edlen Lincoln und wir dürfen unſern Blick nicht davon
abwenden. Man hat gefragt, ob Lincoln, wenn er leben
geblieben wäre, auch im Stande geweſen ſein würde, die
ungeheuren Aufgaben, die ſich nun dem Präſidenten der
Union aufdrängen, zu löſen? Und Viele haben mit einem
bedenklichen Nein geantwortet.
Nun freilich, alles Unebene eben zu machen, alle
Probleme zu löſen, die ſchwarze Race mit Einem Ruck in
das rechte Verhältniß zur weißen zu bringen, das hätte kein
dem Irrthum unterworfener Sterblicher vermocht. Aber
daß Abraham Lincoln in ſeiner ſittlichen Reinheit und
Hoheit, in ſeiner milden Geſinnung und Menſchenfreund—
lichkeit in Verbindung mit ſeiner unbeugſamen Feſtigkeit
und Selbſtändigkeit der rechte Mann geweſen wäre, in die
zerrütteten Verhältniſſe der Republik ordnend und neuge—
ſtaltend einzugreifen, das wird wohl Niemand bezweifeln.
Solche Helden und Herolde der Freiheit wie
Waſhington und Lincoln haben nicht für ihre Zeit, ſie
haben für alle Zeiten gelebt, der Geſchichte ihrer Zeit ihr
Gepräge aufgedrückt, gleichwie fie ihr Leben zu einem vor⸗
leuchtenden erhoben und läuterten.
Wir haben ſchon oben erwähnt, wie Lincoln die Deutſchen
in der Union ſich zu Freunden machte; er wußte, daß ſie
frei von Selbſtſucht und nationalem Dünkel die großen
Gedanken der Freiheit und Gleichberechtigung der
Menſchen zur Freiheit am reinſten erfaßten. Das hat er
unter Anderem in zwei herrlichen Briefen an unſern
deutſchen Landsmann Dr. Th. Caniſius, ſpäter nordameri-
kaniſcher Konſul in Wien, ausgeſprochen, der in Spring—
field mit ihm perſönlich bekannt wurde und ſich die Freund—
ſchaft des großen Mannes gewann.
Der erſte Brief bezieht ſich auf ein vom Staate
Maſſachuſetts zu Gunſten der „Nativiſten“ oder „Know—
nothings“ geſtelltes Amendement und charakteriſirt den
Schreiber deſſen gleich vortheilhaft durch die Entſchieden—
heit und Mäßigung, mit der er den vorliegenden Fall auf—
faßt und in's rechte Licht ſetzt: Er lautet:
„Springfield, 17. Mai 1859.
Herrn Dr. Theodor Caniſius.
Werther Herr!
Ihren Brief, in welchem Sie für ſich ſelbſt und andere
Bürger deutſcher Abkunft fragen, ob ich für oder gegen die
Kouſtitutionstlauſel bin, in Bezug naturaliſirter Bürger die
kurzlich von Maſſachuſetes angen mmen wurde, und ob ich für
oder gegen eine Fuſion*) der Republikaner und anderer Oppo—
ſitions-Elemente für die Wahlcampagne von 1860 bin, habe ich
erbüngaſſachnſetts iſt ein ſouveräner und unabhängiger Staat,
und ich bin nicht befugt, denſelven für das, was er thut, zurecht—
zuweiſen. Wenn man jedoch aus dem, was derſelbe gethan,
einen Schluß zu ziehen jucht, was ich thun wurde, jo kann ich
* Verbindung verſchiedener Parteien.
—
a
wohl, ohne unbeſcheiden zu fein, mich ausſprechen. Ich fage
deshalb, daß ich jo wie ich die Maſſachuſetts-Clauſel veritehe,
gegen die Annahme derſelben bin, ſowohh in Illi⸗
nois als an irgend einem andern Orte, wo ich das Recht habe,
ihr entgegenzutreten. Indemi h den Geiſtunſerer Institutionen
ſo verſtehe, daß derſelbe die Erhebung der Menſchen
anſtrebt, bin ich Alem entgegen, was zur Erniedrigung derſel—
ben beiträgt. Es iſt ziemlich allgemein bekannt, daß ich die
unterdrückte Lage der Neger bemitleide, ich wurde folglich ganz
merkwürdig inkonſequent ſein, wenn ich irgend eine Maßregel
begünſtigen könnte, welche die Tendenz hat, die beſtehenden
Rechte weißer Männer zu beeinträchtigen, wenn ſie auch
in einem andern Land- geboren ſind oder eine andere Sprache
ſprechen als die meinige.
Was nun die Sache einer Fuſion anbelangt, ſo bin ich für
eine ſolche, wenn dies auf republitaniſchen Grundſätzen gethan
werden kann; doch unter keiner andern Bedingung bin
ich dafür. Eine Fuſion unter andern Bedingungen würde
eben o lächerlich als prinziplos Sein. Es würde dad rch der
ganze Norden verloren gehen während der gemeinſame Feind
doch noch den ganzen Süden für ſich gewinnen würde.
ie Frage, in Bezug auf Männer, iſt eine verſchiedene. Es
befinden ſich gute und patriotiſche Männer und fähige Staats
männer im Süden, die ich mit Freuden unkerſtützen würde,
wenn ſie ſich auf den Boden republikaniſcher Grundſätze ſtellten;
aber ich bin dagegen, daß das republikaniſche Banner auch nur
um ein Haar b eit geſenkt wird.
Ich habe dies in Eile geſchrieben, aber ich glaube, daß es
Ihre Fragen im Weſentlichen beantwortet.
Ihr ergebener Abraham Lincoln.
Am 4. Juli 1858 feierten die deutſchen Republikaner
Chicagos in Wrights Grove den Tag der Unabhängig—
keitserklärung der Vereinigten Staaten in ganz beſonders
feierlicher Weiſe, da ihnen von den Damen der 7. Ward
eine prachtvoll geſtickte Fahne überreicht wurde. Lincoln
wurde von dem Comite eingeladen, dem Feſte beizu—
wohnen; da ihn aber anderweitige Engagements abhielten,
— 128 —
der Einladung Folge zu leiſten, ſo ſchrieb er dem Comite
folgenden Brief:
„Springfield, 30. Juni 1858.
Meine Herren! Ihr gütiger Brief, der mich einladet, Ihrer
Feier des Jahrestages der amerikaniſchen Unabhängig eit bei—
zuwohnen, die am 4. jtatıfindet, und bei welcher Gelegenheit den
deutſchen Republikanern der 7. Ward Ihrer Stadt ein Banner
überreicht werden ſoll, iſt mir zugekommen. Ich bedauere er-
klären zu müſſen, daß meine Engagements derart ſind, daß ich
nicht bei Ihnen ſein kann. Ich habe mehrere Einladungen
vorher erhalten, die ich alle abzulehnen gezwungen war, bis
auf eine, die mir einen einzigen Tag von meiner Zeit fortneh—
men wird. Ihrem Feſte beizuwohnen würde wenigſtens vier
erfordern. :
Ich ſende Ihnen einen Toaſt:
Unſere deutſchen Mitbürger — ſtets der Frei⸗
heit, der Union und der Conſtitution treu treu
der Freiheit, nicht aus Selbſtſucht, ſon dern
aus Prinzip — nicht für jpecielle Klaſſen von
Menſchen, ſondern für alle Menſchen; treu der
Union und der Conſtitution, als die beſten
Mittel, jene Freiheit zu fördern — Hoch!
Ihr gehorſamer Diener A. Lincoln.“
Das ſind zwei werthvolle Andenken, und Verfaſſer
glaubt, ſeine biographiſche Skizze nicht beſſer ſchließen zu
können, als mit der Mittheilung dieſer Briefe.
—— men —
— een
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