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Full text of "Albert Zacher. Im Lande Des Erdbebens Vom Vesuv Zum Aetna"

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INN 


10022464 





THE LIBRARIES 


COLUMBIA UNIVERSITY 


GENERAL LIBRARY 





OTTO HARRASSOW: 5; 


BUCHHANDLUNG | 


Fa Lande des Erdbebens 
Dom Vesuv zum Aetna 


Land und Leute in Sizilien und Calabrien 
Die vulkaniſchen Rataftrophen von 1905—1908 
Zerftörung von Meſſina und Neggio 


von 


Dr. Albert Zacher 





Zulius Hoffmann Verlag in Stuttgart 
MCMIX 


Published the Ist of March 1909 
Privilege of copyright in the 
United States reserved under 
the Act approved March 34 1905 


by Julius Hoffmann - Stuttgart 


Monotypesatz und Druck der Chr. Belserschen Bachdruckerei, Stuttgart 





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Sana 


Vorwort. 


OD ieſes Buch iſt eine Sammlung und Erweiterung meiner in 
den letten Jahren an Ort und Stelle geſchriebenen Aufläte 
“ber die vulfanifchen KRataftrophen im Erdbebengebiet Süditaliens. 
Schon feit langem legte mir ein großer Teil der deutichen „Ge- 
meinde der Stalienfreunde” den Gedanten nahe, meine Eindrüde, 
die ich ald Radfahrer, Wagenbummiler, Fußwanderer, Automobilift 
jeit 1893 in Stalien gewonnen, m Buchform zu jammeln. Und 
jegt, mo die Augen der ganzen Welt auf Meſſina und Neggio ge- 
richtet find, bat man mich, zunächſt die Erdbebenzone zu behandeln, 
zumal ich auch Gelegenheit gehabt hätte, im Jahre 1906 einige 
Schilderungen über die Bejuveruption zu liefern, die vielfach gefielen. 

Auch wies man darauf hin, daß meine Auffaffung von Land 
und Leuten als die eines Mannes, den ftändiger Aufenthalt in feiner 
zweiten Heimat Rom, den auch feine Berufspflicht zum Kenner 
gemacht hätten, wertvoller wäre, als die eines noch fo gelehrten 
Paflanterı. | 

Die letzte ungeheuerliche Kataftrophe, die mich wiederum nach 
Sizilien, wiederum nach Kalabrien führte, gab mir von neuem 
Gelegenheit, Augenblidsbilder und Bleiftiftifizzen zu jchaffen, die 
wert fein dürften, weiteren reifen zugänglich gemacht zu werden. 

Ich müßte nun eigentlich noch eine Rechtfertigung jchreiben, 
um die Anordnung meines Stoffes zu begründen; denn ich geftehe 
offen, dag vorliegende Buch erfcheint auf den erften Blick als ein 
funterbuntes Mofait, doch brachte die „Frankfurter Zeitung” am 
15. Januar dieſes jahres einen zujammenfaflenden Artikel über 


m 


IV Vorwort 


den legten Erobebenichreden, der beſſer, als ich es vermöchte, Die 
Notwendigkeit darlegt, warum im folgenden 
jo vielvon Mafia, Kamorra, Brigantaggioufm,, 
ja auh vom Nafismus die Rede ift. 

Darin heißt e3 unter anderem: 

Die nächte Folge der Erdbeben-Kataftrophe in 
Süditalien war unter allen Betroffenen eine grenzenlofe Verwirrung. 
Das war natürlich) und erflärlih. Wir Kulturmenfchen können uns 
ſchwer vorftellen, wie e3 ift, wenn alle gefjellichaftlichen und ftant- 
lihen Beziehungen plöglich aufhören und alle Verbindungen mit 
einem Schlage durchichnitten find: feine Wohnung, feine Nahrung, 
feine Behörden, Teine Polizei, fein Militär, feine Eifenbahn, Tein 
Telegraph, fein Telephon, aljo auch fein Mittel, die Not fofort nach 
außen zu melden; dazu Feine Möglichkeit, die Toten zu begraben, 
die Verlegten zu pflegen, die noch lebenden Verſchütteten aufzu- 
juchen, der Meeresflut, dem Brand, dem Regen, der Kälte zu 
wehren. Alles ftand ftill; fein Organ der Gemeinfchaft fungierte 
mehr, und die am eriten helfend einzugreifen berufen geweſen wären, 
Soldaten und Polizisten lagen felbft tot oder Hilflog unter den Trüm- 
mern. Bei emem ſolchen Zuftand ift viel begreiflich, aber freilich 
nicht alles. 

Am Abend des 28. Dezember 1908, zwölf Stunden nad) dem 
Hauptitoße, war die Kataftrophe inihren Hauptzügen ſowohl in Neapel 
wie in Rom befannt. Man mußte, da Meſſina und Reggio zerjtört 
waren. Neapel ijt das Zentrum der Flotte, Rom das Zentrum 
der Militärorganifation. Warum hat man nicht fofort die gejamte 
Militär- und Marinemacht mit allen ihren Werkzeugen und Vorräten 
aufgeboten und nad) den Unglüdsjtätten geworfen? Die Ent- 
Ihuldigung, die das Publikum hatte, das die ungeheuerlichen Mel- 
dungen im Anfang gar nicht glauben wollte, kann für die Behörden 
nicht gelten; fie fannten den Umfang des Unglüds und mußten 
fofort die umfaſſendſten Maßregeln ergreifen. 


Vorwort V 


Man hat das Erdbeben und feine Verwüſtungen mit einem 
unglüdlichen Krieg verglichen. Der Vergleich geht tiefer ala nur auf 
die Verlufte. Erdbeben und Vullan⸗Ausbrüche find für Stalien 
Dinge, auf die e3 fich gerade jo vorbereiten muß, wie auf einen großen 
Krieg; fie find die Feinde, gegen die Italien mindeftens gerade fo 
gerüftet fein muß, mie gegen irgend einen auswärtigen Feind. Das 
hat man bisher, troß aller Mahnungen und Warnungen, verjäumt; 
es muß jetzt nachgeholt werden. 

Die italienifhe Regierung kann auf mil 
dernde Umftände Anſpruch madhen Das Men- 
Ihenmaterial, mit dem fie zu arbeiten hat, 
ift nit das befte. Namentlich nicht im Süden. Die Be- 
völferung von Kalabrien und Sizilien ift ein ethnifches Gemiſch, 
in dem feit dreitaufend Jahren alle möglichen Völker, Phönizier, 
Karthager, Griechen, Araber, Römer, Goten, Yongobarden, Nor- 
mannen, Albanefen, Franzojen und Spanier einen Blutbeitrag 
abgelegt und einen Bodenſatz hinterlaſſen haben. Dad Grund- 
element ift afrikaniſch und nach Afrika meift auch der Charafter. 
Diefer Eharalter ift ungebändigter Individualismus und Egoismus. 
Eine vielfundertjährige Mißregierung weltlicher und geifllicher 
Herrſcher Hat daran natürlich nicht? gebeifert, jondern eher ver 
ſchlechtert. Das Gefühl der Solidarität ift gering und höchſtens, 
wie Mafia und Kamorra beweilen, in der Richtung zum Böſen 
entwidelt. Die Religion ift diefelbe wie vor zweitaufend Jahren; 
damals wurden die Lolalgötter verehrt, heute find es die Lofal- 
heiligen, denen in derjelben Weife der ganze Kultus dient. Die 
Kirchen ftroten von Gold und Ylitter, die Bevöllerung von Aber- 
glauben und Unbildung. Die fünfzig Jahre piemontefiicher Herr- 
ſchaft haben nicht viel ändern können; die Zeit war zu kurz, um ein 
Übel, das fo tief fißt, gründlich zu befeitigen. Auch haben die Nord⸗ 
italiener Mühe genug, fich jelber des Eindringens jüditalienijcher 
Sitten und Unfitten zu erwehren. Die Betrachtung diejes Ichlechten 


VI Vorwort 





Charakters der ſüdlichen Bevölkerung hat ſchon manchem aufrichtigen 
Freunde Italiens die Freude an dem ſchönen Lande vergällt. Glad⸗ 
ſtone hat einmal geſagt: „Italien wäre ein herrliches Land, wenn es 
nicht von Italienern bewohnt wäre!“ Damit hat er insbeſondere 
die Bevölkerung des ehemaligen Königreichs Neapel im Auge ge- 
Habt. . Selbft Staliener haben im Unmut über die Zuftände im 
Süden ich zu ungewöhnlich fcharfen Worten veranlaßt gefehen. 
Der Volkswirt und Sozialpolitifer Niceforo 
hat einmal gefagt: „Es könnte Stalien fein 
größeres Glück widerfahren, al3 wenn eine 
Tage3 das ganze Land füdblih von Rom mit. 
ſamt Sizilien in das Mittelmeer verfinten 
würde.” Wer derlei Hußerungen für übertrieben hält, der über- 
denke, was er da und dort von der Haltung eines Teils der Talabrefi- 
ihen und fizilianifhen Bevölferung während der lebten Tage 
gelejen hat: daß die Leute, die hätten retten Tönnen, die Hände in 
den Schoß legten und müßig zufahen, wie die Fremden retteten; 
daß die Bootsführer ftreiften und dadurch die Verbringung von 
Lebensmitteln an das Land unmöglich machten; daß in den Städten 
und Ortfchaften, die vom Erdbeben verjchont blieben, mit glänzenden 
Prozeſſionen Freudenfefte für glüdliche Errettung gefeiert wurden, 
während zehn Kilometer davon dag graufigfte Elend herrichte, daß 
fofort ein Abſchaum der Bevölkerung auftauchte, der plünderte, 
taubte und den Leichen die Finger famt den goldenen Ringen 
abichnitt, und daß man dieſes Gejindel3 nur dadurch Herr werben 
fonnte, daß man das Standrecht proflamierte und Majjen-Er- 
ihiegungen vornahm; daß die ungefährdete Bevölkerung aus dem 
Innern mit Wagen herbeilam, um Beute zu machen und an dem 
Unglüd der Landsleute fich zu bereichern, endlich daß unter den 
geretteten Städten fofort ein erbitterter Kampf um die Erbichaft 
der untergegangenen Städte ausgebrochen ift. Es ift ein unendlich 
traurige Bild, das fich ‚da entfchleiert hat. Die Kataftrophe hat 


Vorwort VII 


nicht bloß ungeheuren Schaden geſtiftet, ſie hat auch alle ſozialen 
Bande gelöſt und die beſtialiſchen Rudimente der Menſchennatur 
wieder einmal in voller Nacktheit ans Licht gebracht. Selbſtver⸗ 
ſtändlich darf und ſoll nicht über die ganze Bevölkerung der Stab 
gebrochen werden; einzelne rührende Handlungen der Uneigen- 
nügigfeit und de3 Opfermuts, die aus den Freifen der unteren 
Bollsflaffen berichtet werden, liefern den Beweis, daß auch in 
Sizilien der Kern der Bepölferung ein guter ift; er muß nur forg- 
fältig herausentmwidelt und gepflegt werden. Darum foll auch nicht 
die Bevölkerung im ganzen büßen, was ein Heiner Teil oder einzelne 
verbrochen haben, und die unſchuldigen Unglüdlichen follen nicht 
entgelten, was die Schurken unter ihren Landsleuten fich zu Schulden 
fommen ließen. Aber hier erwächſt der italienifchen Regierung eine 
Aufgabe, die beinahe noch größer ift, al3 die, das Land vor Erdbeben 
zu fchüten, nämlich die Rettung des Volles aus Roheit und fittlicher 
Berwahrlofung. Im richtiger Erkenntnis der Sachlage hat bereits 
Profeffor Portis in der „Tribuna” gejagt, was da unten vor allem 
nottue, fei eine gute olksichule, welche die dämmernden Geijter 
wachrüttle.” 


Rom, im Februar 1909. Dr. Albert Zader. 


Snhalts-erzeichnis. 


Seite 
Borwort. . . BE ee ha ar ae SE 
Sizilien (land und Zeute) 1 
Der Brigantaggio - -. - > 2 2 2 nr nn. 16 
Die Mofa . . » ee A a 21 
Das Erbbeben in Kalabrien 1906. 
Bon Neapel nad Reggio Ealabria . . I a De ie 28 
Die Kataftrophe vom 8. ai 105. 2... 33 
Epilog . . . -» : — — 89 
Die Veſuveruption 1906. 
Land und Leute. 91 
Kamorra . . u 92 
Die Eruption des Veſuvs im April 1906 20.00. .107 
Sn der Alche des Veſuvs . . ne. 118 
Eine Frühjahrsreife in Sizilien. 
Bon Meifina nah Palermo . . .». . 2137 
Sn ben maboniihen Bergen - - - : 2 2 02 .....149 
Der Prozeß Nafi . a ee ei. 69 
Trapani, bie Baterftadt Rafs de ED ans ie > ID 
Der Triumph Nafis . . re AI 
Das Erdbeben in Kalabrien 1907. 
Der Stromboli . . 2202000. . 184 
Das Erdbeben vom 23. Dftober 107 22.222020 188 
Das Elend im kalabriſchen Erdbebengebit . . . . 1% 
Der „Heros Kalabriend”, Mufolino . . . . . .. 19 
Eine Erdbebenenquäte . . . re 5 198 
Das Erdbeben vom 28. Degember 1908 ee ol 
Bon Rom nad Palermo . . ’ 222.206 
Das tote Meifina . . Ge an 6066 
Das tote Reggio Galabria . ee ec ee LO 
Die Überlebenden über Meifina . 2 = 2222.26 
Wie ih nit nah Meifina lm . . . . 2 20. 281 
Auf der Rüdfahrt von Catania -. -. » 2 2 20. 244 
Der wiſſenſchaftliche Beriht . - > 2 2 0 202 .. 248 
Politiſche Stimmungsbilter -. - . 2» 2 2600 
Bon Palermo nad Neapel - -. » .» 2 2 02 en. 254 
Meitere Hindernifie . Be ee. >20 
Auf der Fahrt nad) Meffina — ee BIO 
Ein Gang durch das zerftörte meffina ——27 
Bon Meſſina nach Neapel... u a ei er 282 
An der Unglüdstüfte Kalabriens . - 2202... 286 
Bon Bagnara nad Billa San Giovanni . > +}; 
Schluß. 


Sn dem zerſtörten Reggio Calabra . . . . . . 302 
EBIEDG ou er au ee en re A ee 


Namen 


A. 
Acireale 2835, 241, 243, 
Aetna, 139, 247, 249. 
Alfani, Bater 38, 189. 
Alpromonte 51, 196, 305. 


B. 


Bagnara 32, 272, 287, 292 ff. 


Barzini 54. 
Battipaglia 29. 
Belcrebi 262, 267. 
Boscotrecafe 109, 111. 
Bove Marino 191. 


€. 


Ealtagirone 6. 
Ealtanifetta 163, 164. 
Ganitello 272, 299. 
Carondas 213. 
Baftrogiovanni 164, 222. 
Catania 228 ff, 238, 251. 
Catanzaro 31, 41, 44. 
Catona 82, 240. 

Grataia 239. 

Gefalü 140. 

Eonnaught, Herzog 304. 
Eofenza 87. 

Erifpi, Francesko 146, 158. 


D. 
Dino, iſola di 31, 286. 


Empedokles 157, 162. 
Erbbebenenquäte 197. 


und Sachregiiter. 


F. 
Fazzari, Achille 82, 87, 289. 
Felice De, Giuffrida 24, 201, 218, 251. 
Ferruzzano 189. 


G. 
Gallico 303. 
Garibaldi 51, 139, 146, 215, 289. 
Gelon 150. 
Gerace 188. 
Gioja Tauro 291. 
Giolitti 263, 268. 
Girgenti 157, ff. 
Goethe 141, 203. - 

8. 
Herculanum 29, 108. 
Himera 150. 

8. 


Kamorra 92 ff. 
Krupp, Affaire 174. 


2. 


Zombrofo 11, 88. 
Rottofpiel 91. 


Mafia 21, 152, 246. 
Malagobi 54. 
Martirana 47. 
Mazza, General 268, 285. 
Meſſina 38, 137, 200 ff, 209 ff, 278 ff., 
814 ff. | 
Milazzo 189. | 


Namen und Sachregiſter. 


XI 








Monreale 147. 

Monteleone 31, 50 ff, 69, 289. 
Murat 81. 

Mufolino 51, 190, 194 ff. 
Mythologie des Erdbeben? 239. 


Nafi 168, 169 ff., 199, 218, 246. 
Neapel 14, 90 ff., 261. 

Nicaftro 41, 47. 

Nicotera 31, 290. 

Rocera dei Pagani 29. 
Notarbartolo 21, 153. 


D. 


Omertä 4, 17, 169. 
Oppibo 38, 188. 
Ottajano 115, 131. 


». 
Paeſtum 29, 36. 
Pagani 29. 


Balermo 14, 141 ff., 215, 248, 754. 


Balizzolo 21, 153, 246. 


Balmi 32, 80, 272, 285, 291, 292. 


Barohelia 81, 33, 72, 73 ff., 187. 
Baulus, Apoſtel 214. 

Bellour 24. 

Bifocopio 58, 59. 

Pizzo 31, 83, 50, 71, 86, 289. 
Pompeji 29, 108. 

Portici 29, 121. 


N. 


Reggio Calabria 201, 218 ff., 283, 305 ff. 


Relina 28, 108. 
Robert Guiscard 29, 38. 
Rometta 139, 218. 


®. 
Salomone 17 ff. 
Galerno 29, 86. 
San Donato, di Herzog 102, 105, 106. 
San Giovanni 273. 
San Giuſeppe 113. 
San Gregorio 54. 
San Gebaftiano 111, 115. 
Santa Caterina 32, 305. 
Sant Eufemia 81, 38, 47. 
Sant Eufemia Aipromonte 195, 287. 
Sant Onofrio 64, 
Saporito 174, 182. 
Scarfoglio 98, 132, 285. 
Schiller 137. 
Scilla 32, 272, 299. 
Scylla und Charybdis 240, 310. 
Serao, Matilda 98 ff., 104, 132. 
Seume 161. 
Gila, Gebirge 43, 68. 
Stefanoront 61. 
Stromboli 184, 271. 
Sybaris 37, 43. 


T. 


Taormina 138, 139, 237, 

Termini Imereſe 140, 149, 153. 

Torre Annunziata 111, 112, 114, 119. 
Torre del Greco 28, 125 ff. 

Trapani 168, 175 ff., 179. 

Tropen 31, 76 ff., 79, 289. 


B. 
Veſuv 107. 
Billari, Paſquale 14, 165. 
Billa San Giovanni 32, 300, 301. 


3. 
Bammarö 57. 
Banarbelli 172. 


Sizilien, Land und Leute. 


K eine andere Inſel Europas hat in den letzten Jahrzehnten ſo 
viel von ſich reden gemacht als Sizilien. Die Revolution 
bon 1848, der Zug der Taufend von Marfala, der Aufitand der 
„Fasci“ im Anfang der neunziger Jahre, Haben zahlreiche Meifter- 
werke gejchichtlicher, politifcher und nationalöfonomifcher Literatur 
gezeitigt. Goethe Hat die Inſel gefehen und gefchildert und 
nad) ihm haben Hunderte und Taufende von feinen Land3leuten 
ebenfalls eine fizilianifche Reife getan und — gefchrieben, ja die 
Cavalleria rusticana bat ihren Triumphzug um die Welt gemacht 
— und doc tritt ein Sizilianer auf, der den Mut hat, zu erklären: 
„Das wirkliche Sizilien ift zum größten Teile noch unediert.“ 
Und diefer Mann ift der Unterſtaatsſekretär Georgio Urcoleo. 
In Mailand hielt er einen Vortrag, der 1898 in Buchform erfchienen 
ift und den Titel hat „Palermo e la coltura in Sicilia“. Trotz 
dieſes Titel3 gibt das Buch aber etwas andre und gerade dag, 
was biöher allen Büchern über Sizilien gefehlt hat: den Schlüffel 
nämli zum Verſtändnis von Sizilien. Es fei deshalb jedem 
Sizilienfahrer als Neifebegleiter empfohlen. Und mer nicht nach 
Sizilien reifen kann, erbaue fich wenigſtens an der geiſtvollen Form 
des Büchleins, dem reichen Inhalt und fei es auch nur darum, um 
zu fehen, wie ganz ander geiftreiche Leute in Italien Bücher fchreiben 
als in den Ländern des Nordend. Was Arcoleo auf ſechsundachtzig 
Ceiten fagt, hätte für ein ehrenmwertes Mitglied einer germanijchen 
Bader: Im Lande bes Erbbebens. 1 


2 Sizilien, Land und Leute 


Bildungsgemeinjchaft mit Fug und Necht Stoff zu einem vier- 
bändigen Opus gegeben — die Kommentare und Anhänge nicht 
mitgerechnet. 

Im Eingange feines Werkleind berührt Arcoleo die Schwierig- 
feiten in der Beurteilung Siziliend. Der Nationalölonom, der 
in Beiten der Kriſis kommt, macht nur Diagnofen, der vifionär 
entzüdte Landſchaftsſchwärmer fieht nur Schönheit, der Archäologe 
und Künftler nur Kunft. Sizilien fpottet eben jeder Klaffifikation 
und ift nur dem verjtändlich, der nach neuer Methode die gejamte 
Entwidlungsgefchichte der Inſel, und zwar auf allen Gebieten 
verfolgt. Arcoleo beginnt dann das Vöolkergemiſch zu ſchil— 
dern, das ſich heute auf der ſchönen Inſel tummelt, indem er geologiſch 
bon den oberſten Schichten bis zu den unterſten und älteften vor- 
dringt, und ftellt al3 Ergebnis feiner Forſchung das Geſetz auf, daß 
niemals eine Verſchmelzung ftattfand, daß zwar jedes Individuum 
in Sizilien in fich die griechifch-phönizifch-arabifch-normannifche Blut- 
mifhung in Leib und Seele verrät, daß aber trotzdem das alte 
ſikuliſche Clement das ganze fiziliiche Leben durchdringt. Hierauf 
Ihildert er in wahrhaft Haffiicher Profa, Inapp, wie in Aphorismen, 
die einzelnen Perioden der fizilianiihen Geſchichte. Wahrhaft 
verblüffend find dabei feine Vergleiche zwilchen den einzelnen 
Nationen, die in Sizilien einander folgten, dabei aber immer 
geiftvoll und überzeugend. Gewiſſe Beziehungen, Ereignijfe, Cha- 
taftereigentümlichkeiten, die und der Gejchichtäunterricht nicht nur 
auf dem Gymnaſium — denn den kennt man ja — fondern auf der 
Hochſchule dunkel gelaffen, erhellt una Arcoleo wie mit Blißfeuer. 
Leſenswert vor allem, beſonders für den gewiſſenhaften Bildungs- 
durft verftändiger Reiſender find die geradezu entzüdenden Gtellen 
über den Unterfchied zwifchen der griehifchen Kunft in Gizi- 
lien und im Mutterlande, fowie fpäter bei der normannifchen 
Periode die Unterfchiede zwiſchen germanifch-gotifcher Kunft und der 
jizilianisch-arabifchen Gotik; im einzelnen belegt der Verfafjer feine 


Gizilien, Land und Leute 3 


Urteile durch eine Schilderung der Ba ne der Architektur 
Palermos. 

Der Raum geſtattet nicht, ausführlicher zu werden, doch ſei 
noch auf die meiſterliche Geſchichte de normanniſchen Periode 
hingewieſen. Im letzten Teile ſpricht Arcoleo mehr im Detail vom 
Charakter des Volkes. Lieſt man feine Analyſe des ſizilianiſchen 
Volksliedes, ſo verſteht man viele Geſchehniſſe aus der ſogenannten 
Brigantenchronik. „Sn der Poeſie des Volksgeſangs lernt man ein 
neues Gizilien Tennen, eine neue poetiſch analphabetiiche Welt, 
die ihren eigenen Himmel, ihre eigene Erde und ihr eigenes Meer 
bat, die mit gleichem Stolze Verbrechen und Tugend bejingt. Ihr 
Gewiſſen ift eingelullt in einen Traum von Aberglauben, Mythen 
und Märchen, ihre Helden find Heilige und Banditen; ihre Märtyrer 
entittammen dem Kloſter oder der Galeere, die Religion ijt ein 
Gemiſch von Bibel und Koran, Heiligenlegende und Mythologie.” 

Den Buftand Siziliens im Anfang d. 19. Jahrhunderts fchildert 
der Verfafjer wie folgt: „Seine andere Negion Italiens hat während 
dieſes Jahrhunderts folche tiefgreifende Wandlungen durchmachen 
müſſen, wie Sizilien, umſomehr, aß fehr viele in anderen Ländern 
jich betätigende Außerungen de3 öffentlichen und privaten Lebens 
kaum enttoidelt waren. Hier überquellende Lebenskraft, mie auf jung- 
fräulicdem Ader, dort Dürre wie auf ausgebeutetem Grumd, Die 
Phantafie glühend und ungezügelt, ſcharf, aber ungeduldig die Ur- 
teilöftaft, die Beobachtungsgabe für das Tatſächliche kaum entwidelt, 
die Wiſſenſchaft pompös und abſtrakt, die Sprache arm und nur 
vom Buch genährt; die ee des Staates, des Waterlandes, der 
Freiheit nicht vorhanden, das Recht verwechſelt mit dem Vorrecht, 
und die Rebellion mit Notwehr uſw.“ 

Die heutige Geſellſchaft in Sizilien ſtellt ſich Arcoleo 
alſo dar: „So verſchieden die Natur in Sizilien iſt, ſo verſchieden iſt 
auch die Bevölkerung; ein Teil derſelben lebt modern, denkt aber in 
den Anſchauungen des vorigen Jahrhunderts, alles lebt neben⸗ 

1* 


4 Gizilien, Land und Leute 


einander, in einem Augenblid der Begeifterung können fich die ver- 
Ichiedenen Bevölkerungsgruppen einen, aber auch nur einen Augen⸗ 
blidt, und dann fallen fie wieder auseinander. Überall Diffonanzen, 
wenig bleibende, gemeinjame Noten. Unter diefen vor allem: die 
unterwürfige Verehrung der Kraft, der Geiſt der Hierardjie in 
den Gedanken, Gefühlen, im Leben, die Hhpertrophie des Ichs, 
der Peſſimismus, das inftinktive Verallgemeinern im Urteil, die 
Übertreibung der Bhantafie, Die ftürmifche Propaganda zur Rebellion, 
die wieder ausgeglichen wird Durch die Unfähigkeit zum Aufbau. Der 
Kultus der Kraft entitammt der Natur Siziliend. Der große Vena, 
die Erdbeben, der Bronzehimmel, der feinen Tropfen Regen |pendet, 
da3 Latifundium, der Scirocco, die überreihe Vegetation, der 
Schreden der Bergwerke, alles predigt von Kraft .... Und diefe 
Anbetung der Kraft fchafft Die Übertreibung der Legenden, von den 
Byflopen angefangen bi3 zum Zuge der Taufend von Marjala.” 

Aus diefer Kraftverehrung entipringt dann ferner die Selbit- 
überjchäßung der Sizilianer, wie an mehreren draftiichen Beifpielen 
gezeigt wird. Wie aus der Natur die Kraftanbetung, fo entjprang 
aus der Geichichte der Mangel des Gleichgemwicht3 im Volkscharakter. 
Wenn die GSizilianer heute untuhige Köpfe, Unzufriedene, Ver⸗ 
ſchwörer uſw. find, jo iſt das nur eine Folge der Invaſionen, der 
Fremdherrichaft, des Feudalismus. Die Sizilianer find im Tempera⸗ 
ment, wie ihr Aetna, euer im Innern, Schnee auf dem Haupt. 
Daher auch oft der plößliche Übergang von Gefühlserplofion zu 
fühler Überlegung. „In einem Mefferbuell wird einer verwundet, 
der fieht den SKarabiniere kommen, gleich Inüpft er jeinen Rod zu, 
umarmt feinen Feind, um ihn zu retten, und fällt tot hin. Das ift 
Cavalleria rusticana, welche alle Leiden Siziliens erklärt, ſowohl 
die „omertä“ (f.u.) wie die „mafia“ und die langen, erfolglofen 
Prozeſſe.“ 

An einer anderen Stelle erörtert der Verfaſſer die Wirkung des 
Feudalismus. Der Feudalismus ſteckt dem Sizilianer im 


Sizilien: Feudalismus 5 


Blute, er äußert fich überall in der Sprache: da3 Bauernweib jagt 
„Ihr“ zum Mann, der Sohn nennt den Vater „Excellenza“, der 
Bauer fagt „Don“ zu jedem, der einen Hut trägt; in den Gefühlen: 
die Eigenliebe, die ich ſelbſt genügt, ſteht Höher als die Liebe, die 
lich nach einem andern Wefen jehnt; der fchmweigende, ſtolze Ver⸗ 
zicht auf eine Geſte fteht höher als die gejprochene Injurie, eine 
Bluttat adelt, denn fie zeugt von Mut, Betrug ift unanftändig, weil 
er im Dunkeln jchleicht, da3 Volksevangelium preift nur zwei Tugen- 
den, die Dankbarkeit und die Vendetta. Der Feudalismus prägt 
jich aber auch im Standesunterfchied aus: An der Spite der Gefell- 
ichaft Steht ver Mann mit Mantel und Schwert, oder der Mann mit 
Mitra und Stola, ganz wie in Indien, dann der „Herr“, der von 
feinen Renten lebt, dann der, den die Feder ernährt, ganz zu unterft, 
verachtet und geſchmäht, kommen die Arbeiter. Auch dieFamilie 
iſt feudal geordnet, die Frau fteht auf einer niederen Stufe, fie it 
die Untergebene des Manned, wie der Boden Eigentum des 
Feudalherrn. 

Zum Schluß folgt ein Vergleich zwiſchen der normänniſch⸗ 
ſächſiſchen Inſel und der Inſel Sizilien, der ebenfall3 fchöne Neu- 
heiten bringt. Dann Tonftatiert der Verfafler, daß es Neu-Stalien 
noch nicht gelungen ift, Sizilien moraliſch zu erobem, ja noch nicht 
einmal kennen zu lernen, aber er endigt mit dem troftreichen Augblid, 
daß Sizilien nach der griechiichen und normännischen Blüte eine 
dritte erleben wird, umſomehr al, wie er jcherzhaft Hinzufügt, 
Sizilien mohl das einzige Land in Europa fei, das feine Deladenten 
und libermenfchen habe. 

Eine Variation des hier angefchlagenen Themas findet fich in 
der römischen Zeitung „Popolo Romano”, wo Profeſſor Giu- 
jeppe Settimo Adamo, ein Vollblutjizilianer, im Herbft 
1896 eindringliche Bemerkungen über die Mißwirtſchaft in Sizilien 
macht. Er beginnt mit dem Betrugsprozeß Martinez. In ganz 
Stalien habe man ausgerufen: „Uber wie? Der Kommendatore 


6 Eizilien: Gemeindevermaltung 





Martinez? Unmöglich! Ein Mann, der felbft Vermögen hat! 
Ein Mann, der das Vertrauen Palermo’3 bejaß, deſſen Unterfchrift 
in allen Banken bares Geld vorftellte!" In Sizilien aber fei man 
ruhig gewejen, und warum? Zur Antwort greift er zwei Fälle 
aus der Bourbonenzeit heraus: In Comifo, einer Stadt von 
12 000 Einwohnern, fand ſich im Jahre 1836 in der Stadtrechnung 
ein FYehlbetrag von 12750 Lire oder, wie es damals hieß, von 
1000 Unzen. Die Stadträte, damals die „Dekurionen”, beſchloſſen 
darauf folgende Tagesordnung: „Das Dekurionat nimmt Alt von 
dem Fehlen der 1000 Unzen, da es aber weiß, daß die Ehrenhaftig- 
keit des Kaſſiers über jeden Verdacht erhaben ift, fo geht e3 zu dem 
Schluffe über, daß die befagten Unzen auf irgend eine Weife ent- 
wendet fein müfjen.” In Caltagirone bejikt die Gemeinde 
viele Güter und Lehen. Bor 1860 benußte fie die Einkünfte, um 
damit zurüdgegangene adlige Familien finanziell aufzufrifchen, 
und zwar in der einfachen Weife, daß fie ein Mitglied folcher ver- 
armten Familien zum Bürgermeifter wählte. Nach folder Wahl 
belebten ſich auf einmal wieder die leeren Ställe der reftaurierten 
Familie; auch ihre Staatskaroſſen ſah man wieder. Kein Wunder, 
daß unter ſotanen Umftänden manche reiche Familie mit dem Kleide 
der Armut Eofettierte. „Kann man fi) wundern,” jagt der Ver⸗ 
falfer, „daß Die Leute in Sizilien fteptifch wurden? Diefe Erbfchaft 
an Steptizismus macht auch, daß Sizilien dem neuen Vizekönig 
Codronchi nicht traut; denn mie viele. Vizekönige und Tönigliche 
Kommiſſäre hat es nicht ſchon im Laufe diefes Jahrhunderts ge- 
ſehen?“ Zwar fei in Palermo etwas geichehen, aber Palermo 
ſei noch lange nicht Sizilien. Er molle deshalb dem illuftren Thera- 
peuthen Codronchi eine Diagnofe unterbreiten, geſtützt auf das 
Gutachten dreier Ärzte. Der „Popolo Romano” fage: „Alle Städte 
Siziliens haben, anftatt für Straßenbau und Hygiene zu forgen, 
nur an den Bau von Lurustheatern und Prachtrathäufern gedacht. 
Der zweite Arzt, Herr Ymbriani geheißen, erfläre: In Palermo 


Sizilien: Gemeimdevermwaltung 7 


erhebe fich jchon die traurige Klage. Aber von mem? Bon den 
Großgrundbefigern, die ihre Einkünfte in fremden Hauptjtädten 
und fremden Spielbanken verzehrten. Der dritte, Abgeordneter 
Damiani, füge hinzu: „Die fizilianifche Frage ift nur eine Frage 
der Landwirtſchaft und des Landbaus.“ Dieje drei Gutachten geben 
da3 wahre Bild. Zur näheren Illuſtration erzählt Profeſſor Adamo 
folgendes. Sn 3. (Provinz Siracufa), einem Städtlein von 18 000 
Einwohnern, fanden die Stabtväter eines Tages im Jahre 1880, 
daß fie nicht ſchön genug hauften. Bi3 zum Jahre 1866 waren fie 
zwar mit einer Mietwohnung, beftehend aus vier Zimmern und 
einem Salon ausgelommen, nach 1870 waren fie, als die geiftlichen 
Güter eingezogen wurden, in ein Klofter umgezogen, da3 allein im 
eriten Stode fechzig- Zimmer aufwies, aber trotzdem bejchlofjen fie, 
daß da3 Klofter abgebrochen und an feine Stelle ein Mumizipalpalaft 
bon jeltener ‘Pracht errichtet werden folle. Der Voranſchlag belief 
ſich auf 900 000 Lite, die wirklichen Koften auf — mer weiß? Und 
diefe unglaubliche Koftenüberfchreitung rührte daher, weil es den 
dreißig Stadtpätern, um das Anfehen der Stadt zu heben, plößlich 
einfiel, in den neuen Palaſt ein „Eönigliches Abjteigequartier” hinein 
zu bauen. Zwar ift die Ausficht, daß der König je nad) 3. komme, 
jehr gering, aber im Staat3-Lerilon der Provinz jteht doch jet 
hinter dem Namen der Stadt eingeflammert: „KRöniglicher Balaft“. 
Man denke! Eine andere Gemeinde, F., 1800 Seelen reich, gab 
für den Bau ihres Theater3 eine Million aus. Die Einweihungs- 
feftlichfeit brachte noch ein kleines Gejchäft, dank dem Zufchuß, den 
der Gemeinderat für diefes eine Mal bemilligte; dann aber fand 
ſich fein Theater-Unternehmer mehr, der fein Geld riskieren wollte, 
und jeit zwanzig Jahren fteht das Theater leer. An diejer Theater- 
krankheit aber leiden faft alle Städte Siziliens. Die Herren Regenten 
der ſizilianiſchen Gemeinden haben eben einen Kopf mit großen 
een. So unterhielt fich der Verfafjer eines Tags mit dem Bürger- 
meifter einer der drei größten Städte der Inſel über den Theater- 


8 Sizilien: Latifundien 


neubau und äußerte, er habe gehört, daß der Voranjchlag fich auf 
drei Millionen belaufe.. Mit großer Entrüftung fchaute ihn der 
Herr Bürgermeifter an und meinte wegwerfend: „Sie haben wohl 
den Voranfchlag für die Vorhalle gemeint!" Wie recht Hat alfo 
Macchiavelli, wenn er fagt: „In Sizilien ift große Tüchtigfeit in den 
Gliedern, wenn jie nur nicht bei den Häuptern fehlte!" „Wozu 
gebe e3 denn Präfekten?“ fage das Publitum. Herr Adamo ant- 
mortet: Um nicht? zu tun; denn in all den Jahren, die feit 1860 
verfloffen, fei eg noch feinem Präfelten eingefallen, der Baumut 
der Gemeinden zu fteuern. Aber feit jener Zeit fei es auch noch 
feinem Präfelten eingefallen, die von Wilhelm II. in diefem Früh⸗ 
jahr in Gizilien angewandte Neifemethode nachzuahmen. Seit 
ſechsunddreißig Jahren, jo lange aljo Neuitalien in Sizilien herrſcht, 
jei e8 noch feinem Präfekten von Siracuſa in den Sinn gelommen, 
jeinen Amtzfi zu verlaffen! Und doch nenne Cavour die Präfelten 
die VBormünder ihrer Provinz. Rudini habe einmal gejagt, dag 
Unglüd von Sizilien füme vom Regenmangel ber; in Udine in Bene» 
zien fielen jährlich 153 Zentimeter Regen, in Caltanijetta aber nur 
49 Zentimeter. Warum hätten aber Rudini und feine Präfelten 
niemal3 mit den Bürgermeiltern Giziliend beraten, wie diefem 
Mangel abzuhelfen jei? Die Mlten hätten e3 doch gefonnt und 
hätten Sizilien zur Kornkammer Roms gejchaffen, und dies durch die 
einfachen Mittel, daß fie durch große Taljperren künſtliche Seen 
errichteten, bon dieſen aus überall Bewäſſerungskanäle zogen, die 
üppige Wiefen jchufen, aljo große Viehzucht ermöglichten, die 
ihrerjeit3 wieder die nötigen Dungftoffe für die Acker lieferten, 
fo zwar, daß eine viermalige Ernte möglich war, und die Viehzucht 
Siziliend im Mtertume [prichwörtlic) wurde. Die Schuld für die 
Vernachläſſigung Siziliens trifft aber, fo jagt der Verfaſſer, nicht 
nur die Verwaltung, fondern auch die Ratifundienbefiger, 
die ihre Einkünfte im Auslande verzehren, anftatt fie zur Verbefjerung 
des Boden3 zu verwenden. So verzehre der Herzog M. jährlid) 


Sizilien: Latifundien 9 


eine Million Lire, die ihm feine Großpächter für die Erlaubnis, die 
armen Bauern ausfaugen zu dürfen, jährlich zahlen, in — Paris. 
Nun könne man freilich einwenden, der Herr M. könne mit feinem 
Gelde machen, was er wolle, die Frage fei aber, ob e3 fich wirklich 
um fein Geld handle. Die Güter des Herzogs M. gehörten nämlich 
bi3 zum Ende des vorigen Jahrhundert der Heinen Stadt %. Die 
guten Bürger diefer Stadt empfanden e3 aber höchſt unangenehm, 
daß die Sarazenen alljährlich mit der Maienfonne ins Land kamen 
und alle bewegliche Habe und Frauen und Kinder fortichleppten, 
und, um fi) zu retten, übertrugen fie ihr großes Gemeindegut an 
‚den dermaligen Herzog M., der zum Entgelte die Stadt mit Mauern 
und Gräben umziehen follte. Der edle Herzog nahm die Güter — 
und baute ein einziges Feſtungstor, fo daß die Stadt unbeſchützt 
war wie zuvor. Vergebens prozeſſierten fie gegen den herzoglichen 
Gauner, aber diejer gehörte zum Hofe. Auch das Jahr 1860 brachte 
feine Anderung; der damalige Herzog gab zwar den kleinſten Zeil 
heraus, aber den Löwenanteil behielt er. Der jetige Herzog M. 
iit aber feine Ausnahme, was die hohen Nentenbezüge betrifft. 
Fürft ©. erhält jedes Jahr, nachdem feine Großpächter fich genügend 
bedacht Haben, 600 000 Lire, Marchefe C. 400 000 und Baron D. 
300 000 Fire. Nun zählt der Verfaſſer im einzelnen die Schäden 
der Latifundien auf, die zum Zeil jchon befannt find; neu ift nur, 
daß er das Zunehmen der Wölfe dem Umftande zufchreibt, daß 
die Großjunfer zu viel Gebiet brach Tiegen laſſen, aber allen Wolfs- 
jägern, die fi die Prämie von 25 Lire verdienen wollen, den Zu- 
tritt zu ihrem Territorium verbieten. Weiter jchildert er, wie die 
Großjunker jedes Geſuch von Genoffenichaften, die einen Teil der 
Bracjländer zur Bebauung ankaufen wollen, abfchlagen, und wie 
oft die Eifenbahnen nach den Wünjchen der Latifundienbefiker 
gebaut werden, jo daß die Züge leer bleiben, während volkreiche 
Gemeinden abfeit3 liegen müfjen. Bezeichnend für die Herren 
Sroßgrundbefiter jeien auch zwei Briefe, die der Marcheje C. und 


10 ‚Sizilien: Adel 





der Herzog X. ihren Bächtern fchrieben und in denen diefe Höchlich 
dafür belobt wurden, weil fie den Afterpächtern die Pacht erhöht 
hätten; der Herzog ftreicht aber jährlich 300 000 Lire und der Marchefe 
200 000 Lire ein. Und wie benehme ſich da3 Volk gegenüber diefen 
Feudalen? So fragt der Berfaffer und gibt die wenig tröftliche Ant- 
wort, daß es jich der Heldentaten feiner Adligen gar noch freue, 
ja fie fogar in Volksliedern verherrliche. So höre man jet noch viel 
auf dem Lande die Gefchichte vom Herzog, der die Zelte fchließen 
ließ, und vom Savaliere N., der nicht gemechlelt haben mollte. Als 
einjt die Bourbonen in Palermo refidierten, zur Zeit des berühmten 
Rofalienfeftes, kam ein Franzofe zum Herzog di M. und bot ihm 
ein Diamantenhalsband fiir 200 000 Lire an. Der Herzog fchidte 
den Mann zur Königin, dieje aber antwortete, fie bejige nicht Geld 
genug für eine folche Ausgabe. Darauf Taufte der Herzog den 
Schmud, teilte ihn in zwei Teile und ſchmückte mit den Hälften die 
beiden erſten Pferde feines Vierundzwanzigerzuges, mit dem er 
ar Galatagen Corſo fuhr. Königin Carolina rächte fich, indem fie 
Tags darauf auf dem meltberühmten Rofalienmarfte den Ber- 
ſchwender bat, für den neugeborenen Kronprinzen ein Spielzeug 
zu faufen. Der Herzog, der fich nicht lumpen laſſen wollte, rief aus: 
„Man ſoll die Zelte ſchließen,“ und ſchenkte fo alle Waren, die zum 
Kaufe ausgeboten waren, der Königin. Diefer tolle Streich ruinieret 
ihn; denn der Rofalienmarlt von damals war einer der größten 
Europas. Cavaliere N. reifte einft in Spanien umher, und ver- 
geudete während feines Madrider Aufenthalt von zwanzig Tagen 
Dauer ein Vermögen, weil er alles, was er faufte, ſogar eine Taſſe 
Kaffee, mit einem Goldftüd zahlte und dabei erflärte: „Sizilianifche 
Cavaliere laſſen ſich nichtE herausgeben.” An andrer Stelle erzählt 
der Verfaſſer von einer Heinen Stadt, in der nur Adelige wohnen, 
von denen die reichen freilich meift im Auslande weilen, die armen 
aber im Hidalgoftolze darben und — betteln. Schließlich geißelt 
der Verfaffer das Unwesen der fogenannten Reifefommiffionen, 


Sizilien: Verbrechen 11 


die unter allen Miniſterien gleich geiwefen wären; die Herren Ab- 
geordneten kämen in der Hauptftadt an, würden von den Behörden 
empfangen, teilten zum nächſten Ort, um wieder von den Behörden 
bewirtet zu werden, und fo ginge e3 fort von Empfang zu Empfang; 
vor lauter befradten Stadtpätern und Beamten fähen fie aber die 
Bauern nicht und berichteten dann in langen, auf Koſten des Staates 
gedrudten und nie gelefenen Berichten dem Parlament, daß alles Un- 
heil in Sizilien von der „mafia‘“ und dem brigantaggio“ herrühre. 
Woher aber die Briganten kämen, das fähen die Herren nicht ein, und 
e3 ſei doch nicht3 natürlicher; der ehrliche Bauer würde nämlich nur 
dann ein Brigant, wenn fein Gebet „Unfer täglich Brot gib ung heute” 
unerhört bliebe, und höre fofort auf, Brigant zu fein, wenn man 
ihm die Flinte gegen eine Hade vertaufche, an der etwas Land 
hänge, da3 ihm Brot verjprehe. So habe wenigitens Kardinal 
Alberoni in Spanien da3 Räuberunmefen ausgerottet. 

Mit ähnlich düsteren Farben malt der im Vorwort genannte 
Soziologe Alfredo Niceforo, der Ende der neunziger Jahre 
ein Buch erfcheinen Tieß mit dem Titel: „Das barbariſche 
Ktalien”.* Das Buch geht aus von dem Sabe Lombrofo3: 
„Italia € una, ma non è unificata“, und beweiſt dann in einer 
Reihe von fejjelnden Aufſätzen die Wahrheit, daß Italien in zwei 
verichiedene Länder, da3 europäiſche Italien mit einer modernen 
Kultur, und Halbafrifa mit einer ataviftischen Kultur zerfällt. Schon 
allein die Statiftif beweiſt ven Unterfchied; im Norden überwiegen 
bei den Verbrechen die Fälle der modernen Kriminalität, im Süden 
die der ataviftiichen. So zeigt die Verbrecherftatiftif Italiens im 
Sabre 18% für Gewalttaten: Mord, Überfall, Raub x. folgendes 
Berhältnis: Norditalien 142,67, Mittelitalien 279,86, Süditalien 
aber 460,49 Fälle, auf je 100 000 Einwohner. Beſonders charal- 
teriſtiſch für den Süden find die drei Verbrecherformen: brigan- 


*) L’Italia barbara contemporanea von Alfredo Niceforo. 
Remo Sandron, Editore. Milano. 


12 Sizilien: Verbrechen 


taggio, mafia, camorra. In Sizilien und Sardinien wird Der 
brigantaggio in denjelben Formen getrieben wie bei den Urvölkern 
Afrikas, die Schweinfurt und Livingſtone childern, und namentlich 
gleichen die „bardanas“ der Sardinier den Razziad der Abeſſynier 
und Gallas. Eine ganze Bande überfällt eine Herde und hoher 
Ruhm erwächſt dem, der die meilten Toten erzielt. In milder 
Kampfesgier werfen fich die Angreifer auf die Hirten, und über die 
toten Kameraden fteigend, rufen fie fich gegenfeitig anfeuernd zu: 
„Corraggio! Sopra su mortu su bibul“ (Mut, auf den Toten 
pflanze fich der Lebende auf!) Niceforo vergleicht die ſardiniſche 
Räuberei mit der theffaliichen und geht dann zur „mafia‘ über. 
Nach ihm entipringt die fizilianifche mafia dem noch immer nicht 
ausgeitorbenen feudalen Geifte, dem im arabiichen Blute Tiegenden 
Sinn für Unabhängigkeit und der mittelalterlihen Schwärmerei 
für Ritterlichleit. In Sizilien hat fich nichts geändert; wie für 
die mittelalterlichen Barone die Geſetze des Kaiſers nicht eriftierten, 
jo gibt e3 für den heutigen mafioso fein Geſetz der Zentralregierung. 
Und da3 begreift man, wenn man in3 innere der Inſel zieht. Die 
Karren der Bauern find mit Bildern der Heldentaten der alten Ritter 
geſchmückt und jedes Bild hat feine Überfchrift, wie: „Karl der Große 
und feine Ritter”, „Roland in Roncesvalles”, „Der Zmweilampf Oli⸗ 
vier3” uſw.; ſelbſt in den größeren Städten fieht man in den Volks⸗ 
quartieren die alten Rhapſoden, die „cantastorie“, welche dem 
gierig Taufchenden Volle die „Chronik Turpins“, den „Orlando 
Furiofo” von Arioft und andere Rittergefchichten vortragen. An den 
feudalen Geift des Sizilianischen Volles erinmert auch die blumen- 
reiche Sprache der Unterwürfigkeit, die das Volk gegen die „capeddi“ 
(Hüte-Herren) anwendet und die einen Vergleich mit der Sprach⸗ 
weiſe der Stämme im Imnern Afrikas zuläßt. Auch der Jargon 
ber „mafia‘“ hat Ähnlichkeiten mit dem Jargon der Sudanneger. 
An die Kultur der Neger erinnert ferner die Tätowierung der gehei- 
men Geſellſchaften Siziliens ſowie die Einmweihungszeremonien, die 


Sizilien: Die Frauen 13 


Beremonie der Blutsbrüderichaft, die Meifertänze zc. der „mafiosi“. 
Diefer niederen Kulturftufe entipricht auch das moralifche Bewußt⸗ 
jein des Volles. „Malandrino“ (Raubmörder) ift in Sizilien ein 
Chrentitel, er beweilt, daß fein Träger ein Mann ift, der im Bewußt⸗ 
fein feiner Stärke vor nicht3 Furcht hat, am wenigſten vor der Yuftiz. 
Der Stärke beugt jich der Sizilianer immer; Tann e3 uns da wunder⸗ 
nehmen, wenn Sizilien für Mord und Totfchlag die höchſte ftatiftiiche 
Biffer aufmeift? So hat Girgenti 60,97 Morde gegen Bergamo 
hoch im Norden mit 3,06; für Raub und Erpreffung weiſt Girgenti 
55,32 Fälle auf 100 000 Einwohner auf, während Bergamo nur 
2,62 fennt. Je ſtärker natürlich ein Sizilianer ift, deſto dreifter ift er, 
und jo wird jeder Präfekt abgejebt oder verſetzt, der es je wagen 
jollte, einem Latifundienbejiter, der feine Taufende von Arbeitern 
hungern läßt, zur Rede zu ftellen. Der Herr Baron ift eben fo mächtig, 
daß auch die Minifter nachgeben müſſen. Niceforo teilt darüber 
recht niedliche Anefooten mit. Leſenswert ijt auch die Befchreibung 
der fizilianifchen Haremd. Kein Fremder wird jemal3 bei Tiſche 
Frau und Töchter feines Gaftgeber jehen dürfen, und diejenigen 
vornehmen Gizilianer gelten ſchon als vorurteilöfrei, die ihren 
Damen erlauben, nach dem Ejjen fich kurz dem Gafte vorzuftellen, 
damit ſich dieſer, wie der Berfaffer fatirifch bemerkt, davon überzeugen 
kann, wie ungebildet felbft die vornehmften Gizilianerinnen find. 
Überhaupt die Bildung! Niceforo gibt einige hübfche Schilderungen, 
wie e3 in den fizilianifchen Gymnaſien ausfieht und bei den Adeligen, 
die wie jpanifche Hidalgos Pomp nad) außen treiben. Das Bolt 
aber verjinkt im Fraffeften Aberglauben. So verſchwand, um nur 
ein Beijpiel anzuführen, am 3. September 18% in Mefjina ein Kind 
von bier Jahren. Bauern aus der Umgegend hatten es geraubt und 
den Geiltern geopfert, um einen Schab zu finden. Dem Aber- 
glauben entipricht die Grauſamkeit der Gizilianer und auch der 
Neapolitaner, wie fie ſich in den legten fünfzig Jahren gelegentlich 
der Aufitände und Unruhen beiviefen hat. So boten 1866 die Weiber 


14 Sizilien: Verſchwendungsſucht 


bon Mifilmeri in den Straßen da3 Fleiſch der getöteten Gendarmen 
mit den Rufen aus: „A sei grana la carni du surdatul A otto 
chidda du carabinieril“ (Für ſechs grana da3 Fleiſch des Sol- 
daten. Für acht das des Karabiniere).” 

Sollte jemand glauben, daß diefe Schilderungen übertrieben 
jeien, jo führe ich al3 Kronzeugen noch Staliens größten Hiftorifer 
auf, Pasquale Villari, der in feinem Buche „Sizilien und 
der Sozialismus” u. a. alfo fchreibt: „Die Gemeindeverwaltungen 
Siziliens find eine Quelle der graufamjten Ungerechtigfeiten, der 
mwildeiten Leidenschaften. Was die Gizilianer darüber erzählen, da3 
ließe fich zu emer Ilias der Schmerzen zufammenftellen. Wir 
haben diejen Krebsſchaden von den Bourbonen geerbt, und er ſchlägt 
in diejer oder in anderer Form den größten Teil Süditaliend, mo 
die Rechte der Armen weniger al3 irgendwo geachtet werden. Kann 
man fich beifpieläweife etwas Beſchämenderes denten, al was in 
Neapel mit der vielberufenen „Ausweidung“ (sventramento) 
geihah? Wie find die vom Staate geichenkten Hundert Millionen 
verwendet worden? Prachthäufer ſchoſſen aus dem Boden herbor 
und ihre Mietzinje ſanken, die Hütten der Armen hingegen wurden 
zerjtört, ohne erfeßt zu werden; ihre Zahl ward geringer, die Mieten 
stiegen und mit ihnen die fürchterliche Überfüllung, der Schmuß, 
das Elend. Auf ihren Ruinen erhebt ſich goldgleißend die Galleria 
Umberto I. Und in Palermo? Tat es wirklich Not, nach dem 
Baue des Politeama vierzehn Millionen an das Operntheater zu 
verſchwenden, während man ich gleichzeitig eine Unterftüung für 
da3 Krankenhaus erbetteln muß, meil e3 außerftande ift, feine 
Kranken zu ernähren? Sm Galtanijetta gab man eine Million für 
ein Präfektur-Gebäude aus, da3 für Florenz zu groß wäre. In 
einer andern Stadt erhöhte man die Mahliteuer um 30 000 Xire, 
um ein Theater zu bauen. In Sizilien, wo faft alle Bauern in ge- 
ichloffenen Städten eben, ift die Verzehrungsfteuer die Haupt- 
ertragsquelle für diefe, und die für den Armen unerläßlichiten 


Sizilien: ©teuereintreibung 15 


Lebensmittel find am fchmwerften belajtet. Die Steuereintreibung 
it unmenjchlichen und Habgierigen Pächtern anvertraut, die den 
Armen bedrüden, den Reichen aber, den fie fürchten und auf defjen 
Gunſt fie zählen, verjchonen. Ein Gizilianer, der aud) ein 
tüchtiger Lehrer ift, erzählte eines Tages: „In meiner Vaterſtadt 
zahlt die am Ruder ftehende Partei feine Verzehrungsfteuer. Bor 
furzem wollte ein Bürger die Torftener nicht entrichten, weil er 
der Freund des Finanzaſſeſſors fei. Man begleitete ihn ind Ge- 
meindehaug, wo er erfannt wurde, und er zahlte nicht! Die Gegen- 
partei hütet jich, Dagegen Verwahrung einzulegen; denn fie handelt, 
zur Macht gelangt, nach demfelben Richtmaß. Der Arme aber 
zahlt und zahlt und verblutet." Dffiziere erzählten, daß fie, und 
nicht in Sizilien allein, die Torwachen zur Annahme der ſchuldigen 
Steuern zwingen mußten. Die Wachen fagten: „Sie find Major 
und haben daher das Recht, nicht zu zahlen." Das war einmal fo 
der Brauch, und die Wachen glaubten, daß e3 dabei bleiben müffe. 
Kommt aber ein Bauer mit zwei Broten and Tor, und hat er, wie 
e3 gewöhnlich der Fall ift, fein Geld, um den Steuerpächter zu 
befriedigen, jo wird ihm das Brot unbarmherzig abgenommen, und 
er darf. Hungern. Und ein Präfekt, den Villari fragte, warum 
er diefen entjeglichen Übeln nicht irgendwie fteuere, antwortete 
offenherzig: „Wie foll ich es tun? Wo finde ich die Zeit dazu? Bon 
früh bis fpät bin ich von Abgeordneten, Senatoren, Gemeinde- und 
Provinzialräten und Großmwählern umſchwärmt und belagert. Wenn 
ich fie nicht empfange, laſſen fie mich — ſtrafweiſe? — verjegen. 
Alles, was die Wohlfahrt des Landes berührt, wird vernachläfligt. 
Alles ſpitzt ſich politifch zu, und eben darum ift unfere Politik Die denk⸗ 
bar ſchlechteſte.“ So der Präfelt. Ein beicheidener Tiichlermeifter 
bon PBartirico faßte aber fein Urteil wie folgt zufammen: „Hier jpielt 
der Präfekt nicht ven Präfekten, der Bürgermeifter nicht den Bürger- 
meifter, der Gemeinderat nicht den Gemeinderat, der Lehrer nicht 
den Lehrer. Das Volk ſehnt fich nach Gerechtigkeit und kann ie 


16 Sizilien: Brigantentum 





nicht erlangen.” Was Wunder, wenn die Leute die Gebuld verlieren 
und zum Aufruhr fchreiten oder — Räuber werden? 

Billari hat auch den wundeften Punkt der italienifchen Sozial- 
reform berührt. Es iſt der Umstand, daß die Beamten nicht die 
Organe eine3 weiſen und gerechten Staatswillens, fondern nur die 
politifchen Agenten des jeweiligen Minifteriums find. 


Der Brigantaggio. 


Aus all diefen Schilderungen erklärt e3 fich, marum das Übel 
de3 Brigantentum3 im Süden unausrottbar ift, oder nur, dank 
der Eifenbahn, langſam verſchwindet. 

Auch aus Sizilien ift der Brigantaggio noch nicht verſchwunden, 
wenn er auch, wenigſtens vorläufig, an Macht bedeutend eingebüßt 
hat. Bor zwanzig Jahren etwa beberrjchten drei Räuberbanden, 
deren Mitglieder beritten waren, das Zentrum der Inſel. Die lebte 
Bande, diejenige von San Mauro, beftand bloß aus elf Männern, 
bon denen 1896 acht getötet oder gefangen worden find. Der Haupt- 
mann dieſer Bande, Melchiore Sandino, ein Bauer aus San Mauro 
ſchlug fi am 15. Mai 1889 in die Büjche, nachdem er vier Morde 
begangen hatte. Im Laufe eine Jahres ſammelte er um fich die 
Genoſſen Rinaldi, Ortolano, Caroli, di Paola, Botindari, Leonarda, 
Scialobbo, Mazzola, Giaconia und PBupillo, alle au der Gegend 
von San Marco. Die Bande bildete fich fchnell und ficher, und 
begann ihre Operationen. Binnen zwei Jahren hatte fie, um nur 
die Schwerften Verbrechen zu nennen, zwanzig Morde verübt. Dan 
kann aljo nicht fagen, daß fie untätig war. Das Motiv der Ber- 
brechen war fajt immer die vendetta, die Rache, die Rache für ein 
erlittene3 Unrecht. In Sizilien liebt man e3 im allgemeinen, ſich 
felbft Gerechtigkeit zu fchaffen. Die Vorfchrift des Chriftentums, 
die linfe Wange darzubieten, wenn man einen Schlag auf die rechte 
Wange erhalten hat, ift ein moralifcher Nonjens auf der jchönen Inſel; 


Sizilien: Vendetta 17 





bei den Sizilianern ift der Haß ebenfo lang und dauerhaft wie die 
Liebe. 

Damit hängt auch eine andere Eigenfchaft der Gizilianer zu- 
jammen: die omertä, das Schweigen vor dem Richter. Ohnehin 
bat der Sizilianer da3 Sprichwort: La virita si dici a lu cunfisuri 
e no ad autri, man jagt die Wahrheit dem Beichtvater, aber fonft 
niemandem. Es iſt aber nicht bloß der Grundfaß, da der Tote tot 
ift und daß man dem Lebenden helfen muß, nicht bloß die Wildheit 
des Charafter3 und die Unbildung oder die Furcht, für einen Angeber 
gehalten und als folcher behandelt zu werden, wenn man in Sizilien 
die Juſtiz nicht aufflärt, fondern die von den Kindern mit der Milch 
eingejaugte Lehre des Schweigens über alles, was man gejehen Hat, 
zielt einzig darauf, fich jelbjt die Möglichkeit der Wiedervergeltung 
borzubehalten. Der Sizilianer, im Gefühl einer gewiſſen Eiferfucht, 
will nicht, daß ein anderer, und felbft wenn e3 das Geſetz wäre, die 
Beleidigung ftrafe, die ihm angetan worden ift. Daher die allgemeine 
Erfahrung, daß Leute, die beftohlen, mißhandelt, gejtochen worden 
jind, auch die nächſten Verwandten des Opfers eine Mordes 
den Täter durch ihr Schweigen verteidigen, was einzig in der Abficht 
geichieht, jich felbft und allein an ihm zu rächen. Und diefe Rache 
kommt früher oder fpäter ficher; nur reden darf man nicht von ihr. 

Bumeilen freilich vergreift fich die Rache und trifft einen Un- 
jchuldigen. Der fchredlichite dieſer irrtümlichen Racheakte ift wohl 
jener, der an einem gewiſſen Antonio Rinaldi, einem Bauern aus 
San Mauro, verübt worden it. Diejen Rinaldi hielten die Räuber 
für einen Spion; er follte über ihre Operationen den Sarabinieri 
einige3 verraten haben. Die Räuber raubten nun Rinaldi feinen 
zwölfjährigen Sohn, fägten ihm bei lebendigem Leibe langſam den 
Kopf ab und riffen ihm das Herz aus. 

Bezeichnend iſt ferner, daß gerade zur Zeit der SKata- 
ſtrophe von Meſſina und Reggio die italienischen Gerichte fich noch 
mit dem „lebten Räuber Siziliens“ Salomone, beichäftigten. 

Zacher: Im Lande bed Erbbebens. 2 


18 Sizilien: Brigant Salomone 


Am 19. November 1908 begann der zweite Prozeß gegen ihn in 
Perugia, ein Prozeß, der am 20. Januar 1909 noch nicht beendet mar. 

Die Geſchichte Salomones ift ſehr einfach, troßdem aber fehr 
intereffant. Im Jahre 1893 entftanden, wie befannt, in Gizilien 
die fozialiftiichen Arbeiterbüinde (Fasci dei Lavoratori), die merf- 
würdigerweiſe monarchiſtiſch waren, da fie fich nicht gegen den 
Staat, fondern gegen die Landbarone richteten, die die ſchöne Inſel 
jeit Sahrhunderten ausgebeutet hatten. Auch in Salomones Vater- 
jtadt bildete fich ein joldher Bund unter dem Vorſitz eines gewiſſen 
Advokaten Bonfirraro. Um ihn fcharten ich alle Unterdrüdten und 
Notleidvenden, auch) der intelligente Bauer Giufeppe Salomone. Er 
war damals achtzehn Jahre alt und glühte vor Begeifterung. Seit 
20 Sahren herrichte in dem Städtchen ein Dorfpafcha, der Bürger- 
meifter Benedetto Giordano, der e3 fogar fertig gebracht Hat, einen 
feiner Anhänger zum Abgeoröneten wählen zu laſſen, um in Rom 
bei der Bentralregierung einen mächtigen Profurator zu haben. 
Gegen ihn arbeitete Salomone als den Hauptunterdrüder des 
Volles. Sein Chef Bonfirarro blieb fiegreich, wurde Bürgermeifter 
und gewann auch da3 politiiche Mandat für einen Gefinnung?- 
genoffen. Der ganze Haß des Erbürgermeifters trifft nun Salomone, 
er denunziert ihn den Gendarmen mehrere Male ala Übeltäter, aber 
immer wird der fälſchlich Angeklagte freigejprochen. Schließlich 
wird Salomone gar beichuldigt, einen Raubanfall verübt zu haben; 
er erflärt wieder, daß er unjchuldig ſei und zur Zeit des Verbrechens 
zu Bette gelegen habe, — tut nichts, fein Feind bringt jo viele Gegen- 
zeugen bei, daß er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird, die 
er zuerjt in Sinigallia abbüßt. 

Salomone führt ſich gut, beteuert aber feine Unſchuld nicht nur 
mündlich, fondern auch dadurch, daß er feine Memoiren jchreibt, 
durch die er die Königliche Gnade zu erhalten hofft. Als er fich in 
feiner Hoffnung getäuscht fieht, geſteht er offen, daß er fich num ſelbſt 
Gerechtigkeit Durch Rache an feinem Feinde verjchaffen werde. Sein 


Sizilien: Brigant Salomone 19 


Haß fteigert jich, als er ſchließlich, um alle gejeglichen Mittel zu ver- 
fudhen, mehrere Male die Reviſion feines Prozeſſes verlangt, die 
ihm aber ebenfo oft abgeichlagen wird, meil die Gericht3behörden 
echt bureaukratiſch ſich nur auf die Gutachten ded Giordano ſtützen, 
der mittlerweile wieder Bürgermeijter geworden ift. 

Sm Gefängnis hält nun Salomone nur noch der Gedanke an 
feine Mutter aufrecht, die nie an ihm gezmweifelt hat. Doch das 
Unglüd will, daß er durch Die Schuld der Behörden einen Tag länger 
im Gefängnis bleibt, und daß er bei der Heimkehr die Mutter nicht 
mehr fieht; denn fie war gerade einen Tag vorher geftorben. Kann 
man fich da wundern, daß in der primitiven Geele des Unglücklichen 
jih der Gedanke immer mehr feftjegt, daß der Staat den Armen 
feine Gerechtigkeit zuteil werden läßt? Nun geht alles feinen folge- 
richtigen Gang. Salomone erichießt den Bürgermeifter und etabliert 
fich nach allen Regeln der Tradition al3 Brigant (si da alla cam- 
pagna, wie der terminus technicus heißt). 

Aber Salomone ift fein Räuber wie die andern, die zu feiner 
Beit in Sizilien tätig find, 3. B. Turrisciano und Nobili. Diefe find 
wirklich Degenerierte, Die aus reiner Mordluft töten. So ſchoß 
Nobili einft einen Bauer auf dem elde, der ihm nie etwas zuleide 
getan hatte, einfach nieder, um ein neues Gewehr zu probieren. 
Salomone aber erwies ſich als der legendariſche Brigant, alfo als 
der Rächer feiner Ehre und Schüger der Bedrängten. Oft fchidte 
er Nahrungsmittel an arme Bauern oder Geld, wenn er hörte, daß 
der Gerichtöpollzieher kommen werde. Die Mittel dazu aber nahm 
er al3 Monarch der Campagna dadurd), daß er für die Gutsbeſitzer 
ſeines Gebiets eine progrefjive Einkommenſteuer einführte, wodurch 
et fie unter feinen Schuß ftellte. Auch fchonte er, wo er konnte, die 
Gendarmen, weil fie für die Ungerechtigfeiten. ihrer Vorgeſetzten 
nicht verantwortlich wären, wie er jagte. Er ftrafte nur diejenigen, 
die ohne ftantlichen Auftrag Jagd auf ihn machten. Der Opfer aber 
waren noch zwei, außer Dem Bürgermeifter. Da er auch darauf 

9% 


20 Sizilien: Brigant Salomone 


hielt, daß ihn die öffentliche Meinung nicht falich beurteilte, fo 
berichtete er jelbft über jede feiner Erpeditionen an die Zeitungen; 
er war in feinen vielen Mußeftunden ein literarifcher Mann gewor⸗ 
den, der fogar Dante Göttliche Komödie auswendig gelernt 
hatte, von der ihm die Hölle am beiten gefiel, weil in ihr der 
Dichter auch diejenigen beftraft, die die weltliche Juſtiz verjchont 
batte. | 
Bor zwei Jahren wird Salomone durch Zufall gefangen, man 
macht ihm den Prozeß, gleichzeitig mehreren andern, die feine Mit- 
ſchuldigen gemwefen fein follen. Doch Salomone ift ein Ehrenmann, 
der alle Schuld vor den Geſchworenen von Ealtanifetta auf fich nimmt 
und konſequent leugnet, Mitarbeiter gehabt zu haben. Außerdem 
enthüllt er, daß ihm, während er noch unbeſchränkter Herrfcher feines 
Gebietes war, von einem Erabgeoröneten, der durch. Verdächtigung 
der Sozialiſten wieder gewählt werben wollte, Hunderttaufend Lire 
angeboten wurden, wenn er nach Amerika auswandern und in einem 
Briefe erflären würde, daß er den Bürgermeilter auf Anftiften des 
Sozialiſtenführers Bonfirarro getötet Habe. Aber Salomone be- 
drohte den Vermittler, der ihm dies Angebot machte, mit dem Tode, 
weil ein Brigant niemals Unjchuldige anklagt. Der Prozeß in 
Caltanijetta mußte aus Gründen der öffentlichen Sicherheit abge- 
brochen werden und wurde auf das Feitland verlegt. Sicherlich 
werden die Geſchworenen von Perugia Salomone verurteilen. 
Darüber macht fich diefer auch Feine Illuſionen; aber er will nur das 
eine, daß die öffentliche Meinung ihn nicht für einen Banditen halte, 
fondern daß fie ihm glaube, wenn er jagt, daß er jeinen Bürger- 
meifter nur getötet habe, weil ihn diefer durch falſches Zeugnis 
ing Gefängnis brachte und ihm obendrein auch noch die Geliebte 
abipenjtig machte. Zu diefem Zwecke hat er auch die mit 
feinem Gelbitporträt gejchmüdte Gejchichte feines Lebens in Verſe 
gebracht. | | 


Sizilien: Mafia 21 





Die Mafia. 


Was it die Mafia? Deutichland hat es bis zum Jahre 1893 
nicht gewußt. Aber ald damals der Direktor der „Banca di Sicilia“, 
Notarbartolo im Eifenbahnzuge erdolcht und auf die Schienen 
geworfen wurde, kam eine Flut von Brofchüren und Büchern über 
diefe Geheimgefellichaft heraus, die auch in Deutichland Aufmerf- 
famfeit erregte. Als dann aber die gerichtliche Unterfuchung ich 
jahrelang refultatlos hinjchleppte, verlor die Mafia bei und wieder 
an aktuellem Smtereffe, zumal der Kondukteur und die Schaffner des 
BZuge3, in dem der Direktor der fiziliichen Staatsbank gefahren war, 
wegen Mangel? an Beweiſen freigelajlen werden mußten. Das 
Intereſſe belebte fich wieder, al3 die Entlaffenen im Juli 1897 von 
neuem verhaftet wurden, weil die Polizei unterdefjen neue Bemeije 
befchafft, und unter anderem die „Alibi“ aufgededt hatte, welche ſehr 
geichiet gefertigt worden waren, indem nämlich Mafiagenoſſen in 
Tunis und auf dem italienifchen Feitlande unter dem Namen der 
zur Tat Beltimmten Briefe abgeſchickt Hatten. 

Es kam zu einem Prozeffe, der abgebrochen und zu neuer Ver⸗ 
handlung nad) Mailand verwiejen wurde, weil fich herausgejtellt 
hatte, daß der „König von Palermo”, der Abgeordnete 
Palizzolo, der Anftiftung des Mordes dringend verdächtig jchien. 

Mittlerweile hatte die „Mafia“ Anfang 1898 wieder von id) 
reden gemacht, weil neue „faits et gestes““ von ihr bekannt gewor⸗ 
den. Geit dem 24. Dftober 1897 waren nämlich zwei Kutſcher aus 
Palermo, Giufeppe Caruſo und Vincenzo Io Porto verſchwunden, 
und dag war um jo auffallender, al3 am 12. Oktober der Bäder 
Angelo Tuttilmondo und der Wirt Francesco d'Alba ebenfalls 
ſpurlos verſchwunden waren. Am 5. November nun fam eine Zoll- 
patrouille an dem Gute Lagana in der Nähe des Seehoſpizes vorbei, 
als fie einen penetranten Geruch ſpürten. Sie gingen über die 
Wieſen zu einer Hippenartigen Anhöhe aus Kalfitein und entberkten 


22 Sizilien: Mafia 


eine Tropfiteinhöhle, an deren Ende fich ein dreißig Meter tiefer 
Brunnen befand. Diefem Brummen entjtammte der Geruch. Die 
Polizei erfchien und holte drei Leichen aus dem Schacht, die als die 
Leichen von dreien der Verſchwundenen relognosziert wurden. Wo 
der vierte Vermißte, der Wirt d'Alba hingekommen, konnte nicht auf» 
geflärt werden. Die fizilianifchen Blätter waren einig, daß es ſich 
hier um eine Hinrichtung durch die „.mafia“ Handle, und R. Gianelli 
Schrieb darauf in feinem Buche „La Sicilia e il commissariato 
civile“: „Die mafia ift die unfaßbare vielformige Vereinigung von 
Perfonen jeder Art zu dem Zwecke genofjenjchaftlicher Unterjtügung, 
wenn e3 fich darum handelt, Geſetz und Moral einen Streich zu 
fpielen, zum Beifpiel, wenn e3 gilt, einen Raubmord, eine Entfüh- 
rung, eine Erpreffung auszuführen, oder die Lebensmittelpreiſe zu 
jteigern und hochzuhalten, oder ein Tejtament zu fäljchen, oder gar 
den Gang eines Kriminalprozefjes zu hemmen — unlängjt fpielte 
in einer großen Stadt Giziliens ein Prozeß gegen eine ganze Jury, 
die fich Hatte kaufen laſſen — fchließlich auch darum, die eigenen 
Genoſſen in einflußreiche Ämter und Wahllörper hineinzubringen. 
Ihren Urſprung verdankt diejer Geheimbund der Zeit der höchiten 
Unfreiheit der Sizilianer, alſo der Zeit, al3 Sarazenen- und Junker⸗ 
herrſchaft am feftejten begründet war. Weil damals das Volk beim 
Richter fein Gehör fand, ja fich durch Anrufung des Gericht? noch 
feine Not verjchärfte, jo griff e3 eben zur Selbithilfe. Heute aber ift 
die mafia nur noch eine Verbrechergenofjenschaft, zu der ſowohl der 
Berbrecher von Profeſſion, wie der Brigant in ven Bergen als auch 
der Salonlömwe der feinen Gejellichaft gehört. Und daß dieſe Ge- 
noffenjchaft jo erfolgreich wirken kann, verdankt fie eben der Berbrei- 
tung in allen Geſellſchaftsſchichten, ſowie aud) der Furcht, die das 
fizilianifche Volk vor ihr hat. So kommt es, daß, wenn Sizilien auch 
die größte Zahl von Verbrechen aufzumeijen hat, e3 zum Ausgleich 
jich auch der größten Zahl von Freifprüchen rühmen darf." Wie die 
‚mafia arbeitet, dafür. liefert R. Gianelli jehr hübjche Anefooten, 


Sizilien: Mafia 23 


Eines Tages erhielt ein fizilianischer Baron einen Erprefjungsbrief, 
dem bald andere folgten. Als kluger Mann wandte er ſich nicht an 
die Polizei, fondern ging zu einem Herrn der „Gefellichaft”, einem 
„signore“, von dem er wußte, daß man ihn für ein Mitglied der 
mafia halte. Diefer gab ihm einen Empfehlungsbrief an einen 
Amtsrichter im Gebirge, und diejer war jo freundlich, dem Gevatter 
Pfarrer eines Nachbarort3 zu fchreiben, er möge den Überbringer 
des Briefes, wie einen „Bruder” bedienen und — der Pfarrer tat 
auch, wie ihm geheißen, er ftelfte nämlich den Schußflehenden drei 
berühmten Brigantenchef3 vor; diefe übernahmen das Patronat 
über ihn — und feit der Zeit hatte der Herr Baron über fein Beläfti- 
gungen mehr zu Hagen. Viel ungemütlicher erging es dem in 
Sizilien jehr befannten Baron Aprigo. Eines Tages erichienen 
auf feinem Gute, am hellen Mittag, ſechs falſche Karabinieri und 
verhafteten ihn vom Felde weg in Gegenwart feiner Verwalter und 
Arbeiter. Die Familie wurde benachrichtigt, daß die Enthaftung 
120 000 Lire Eoften würde, und dies Löſegeld wurde auch bezahlt. 
Cinige Wochen ſpäter wurden die vermeintlichen Karabinieri ver- 
haftet, und man fand bei ihnen auch die Abrechnung für die Verteilung 
des Löſegeldes. Die ſechs Pſeudokarabinieri hatten jeder 2000 Lire 
erhalten, 8000 Lire waren zur Beichaffung der Uniformen und Aus- 
rüftungen und als Trinkgeld an Kleinere Hehler verbraucht worden, 
wohin aber der Reit von 100 000 Lire geraten war, iſt nie entdedt 
worden. 

Sm Dezember 1899 beſchäftigte die mafia auch die Politik. Die 
Verhandlungen im Mailänder Prozeſſe hatten die Verdachtsgründe 
gegen den Abgeordneten Palizzolo jo verftärkt, daß der Prozeß 
Notarbartolo dem Gerichtsfaal entzogen und wegen des Problems 
der Abgeordnetenimmunität der Politif überwiejen werden mußte. 
Seit Monaten drehte ſich das ganze politische Intereſſe um den 
Gegenſatz zwilchen Nord und Süd, und gerade als der Kampf der 
geographijch-politifchen Gegenſätze am jchärfiten wurde, erreichte 


24 Sizilien: Fall Palizzolo 


auch der Prozeß Notarbartolo den Höhepunkt. Die öffentliche 
Meinung ftand vor der verblüffenden Tatfache, daß ein Menfch, 
den 1893 ganz Palermo als den Anftifter eines Mordes betrachtete, 
unbehelligt Abgeoröneter bleiben konnte, und e3 entmwidelte fich all- 
mäblich wieder die „Moralität3-Hochflut”, wie fie 1893 zur Zeit des 
Banca Romanaſtandals beobachtet wurde. Der Minifter Pelloug 
mußte aljo, wenn die Oppofition nicht eine furchtbare Waffe gegen 
ihn ſchwingen follte, allen parlamentarijchen Rüdfichten zum Troß, 
durch die fich feine Vorgänger beeinflujfen ließen, energifch gegen 
die Mafia in Sizilien und gegen deren gefürchtetes Haupt Palizzolo 
borgehen. Und wie er vorging, das verdient alle Anerkennung. 

Es ſcheint, daß Pellour den Fall Paligzolo benubte, um ſich 
mit einem Schlage Gottesfrieden vor der Oppofition zu fchaffen. 
Er ließ durch feine Leute zuerft verbreiten, daß er entichloffen fei, 
beim geringften Verſuch die Obftruftion zu erneuern, ſofort die 
Kammer aufzulöfen, jelbft auf die Gefahr Hin, daß Neumahlen 
im Dezember, aljo im ungünftigften Monate, ftattfinden follten. 
Dadurch gewann er alle Abgeordnete, denen ihr Mandat lieb ift, 
nicht nur bei der Mafje der Ja⸗Abgeordneten, fondern auch auf 
der Linken. Zudem fuchte Pellour alles Hinmwegzunehmen, mag, 
um mit den italienischen Ordnungsparteien zu reden, geeignet ift, 
die „radikale Deklamation” zu fördern. 

Den Hauptichlag führte der Premierminifter Pellour am 
8. Dezember 1899. Die Sozialiften hatten fchon begonnen, fid als 
die einzigen mutigen Vertreter der Moral aufzufpielen, und der 
feurige Abg. de Yelice hatte durch feine große Nede gegen 
Catilina-PBalizzolo Schon feine frühere Popularität wieder gewonnen. 
Es mußte aljo etwas getan werden. Und was Pellour tat, zeugt 
von großer Gefchidlichkeit. Palizzolo trat jo dreift in Palermo auf, 
daß der Verdacht entftehen mußte, der Geheimbund habe feine Flucht 
ichon organifiert, fall der Staatsanwalt bei der Kammer feine 
Auslieferung beantragen werde. Schon vor vierzehn Tagen Hatte 


Sizilien: Fall Palizzolo 25 


daher Pellour die Überwachung des gefährlichen „Königs von 
Palermo” befohlen. Auch die große Schwierigkeit, die darin befteht, 
daß ein Abgeordneter nur dann ausgeliefert werden kann, wenn die 
„prova specifica“ gegen ihn vorliegt, hatte Pellour in aller Stille 
überwunden. Wie, das iſt noch unbelannt. Genug, der erſte Staats⸗ 
anwalt von Palermo, im Gefühl der Sicherheit, daß dieſes Mal die 
Regierung ihn dede, verfchaffte fich die Ichlagenden Beweiſe, wie 
ed in eingeweihten Kreifen heißt, daß Palizzolo ein Bankräuber 
war, und daß, follte er nicht ruiniert werden, der Direktor der Bank 
von Gizilien verſchwinden mußte. Nun konnte der erfte Staats- 
anwalt Eojenza vorgehen. Am 6. Dezember fchrieb diefer von 
Palermo an den Suftizminifter und bat um die ftrafrechtliche Ver⸗ 
folgung Palizzolos. Trotz der Mafia war es möglich, Died Schreiben 
geheim zu halten. Am Morgen des achten erhielt Cofenza von Rom 
aus telegraphiſche Empfangsbeftätigung, zugleich aber auch der 
Volizeidireltor von Palermo Anweiſung, von drei Uhr ab Fein 
einzige Telegramm vom Feillande nad) Sizilien durchgehen und 
zugleich da3 Haus Palizzolos umftellen zu laffen. Palizzolo hatte 
keine Ahnung; morgens machte er einen Spaziergang und erklärte 
ment immer, daß niemand wagen würde, ihn zu verfolgen, da man 
feine Enthüllungen fürchte. Nacjmittags kehrte er ebenfo ficher und 
ahnungslos nad) Haufe zurüd. Nach drei Uhr präfentierte der 
Suftizminifter dem Kammerpräfidenten den Antrag des eriten Staats⸗ 
anwalts von Palermo, und nun entwidelte ſich Schlag auf Schlag 
eine tragifche Szene. Abgeordneter Sonnino empfahl die Dring- 
Yichleit der Beratung des Auglieferungsantrages, und zu aller Er- 
Staunen tat Pelloux desgleichen mit den Worten: „Wenn heute noch 
die Auslieferung beichloffen wird, kann ich die Verhaftung garan- 
tieren!” Die Bureaux der Kammer traten zufammen und, obgleich 
der Brief des Palermitaner Staatsanwalt3 die „prova specifica“ 
nicht andeutete, alſo ein Yormfehler vorlag, mußten Doch die Freunde 
des Premierminifterd alle DOpponenten mit dem Hinweiſe zu be 


26 Sizilien: Fall Palizzolo 


ihwichtigen, daß gegenüber einem Geheimbund Ausnahmemaß- 
regeln geboten feien. Raſch wurde nun die Angelegenheit erledigt. 
Bor fieben Uhr war fchon der Befehl zur Verhaftung Palizzolos 
in den Händen des Polizeidireftors von Palermo. Um halb acht Uhr 
trat ein Polizeikommiſſar in das Schlafzimmer Palizzolos, der ſchon 
im Bette lag und mit feinen Schweitern und Brüdern plauderte, 
und jagte: „Die Polizeidirektion wünſcht Sie zu ſprechen!“ Palizzolo, 
der gar nicht an die Möglichkeit einer Verhaftung dachte, fagte gleich- 
gültig: „Gut, ich komme gleich." Da erſchien ein Polizeiinſpektor, 
und jet erjt begriff der aus allen Himmeln der Macht geftürzte 
Mann die Wirklichkeit. Cr erblaßte und fragte: „Hat die Kammer 
mid) auägeliefert? Haben Sie fchon den Haftbefehl?” und auf die 
bejahende Antwort der Polizeibeamten brad er in ein erjchütterndes 
Schluchzen aus. Dann nahm er Abjchied von feinen Schmeftern 
und einem der Brüder, der Artilleriemajor ift, und bejtieg den 
geichloffenen Wagen, der ihn zum Gefängnis brachte. Dem Duäftor 
erklärte er dort, daß er hoffe, in Palermo ſelbſt gerichtet zu werden, 
denn außerhalb der Inſel würden troß feiner Unschuld feine Feinde 
über ihn teiumphieren. Erſt um achteinhalb Uhr wurde der tele- 
graphiiche Dienjt mit dem Feltlande wieder aufgenommen, fo daß 
die Einwohner von Palermo erft in [päter Nacht von den Kammer⸗ 
ereigniffen und der Verhaftung Palizzolos erfuhren. 

Palizzolo jaß lange in Unterfuchungshaft, erft am 23. Oftober 
1%00 wurde er durch Gerichtöbejchluß vor die Geſchworenen ver- 
wieſen, zunächit wegen Mitjchuld an dem Morde eines Mafiagenoffen, 
Miceli, dann am 18. November wegen Anftiftung zur Ermordung 
des Bankdirektors Notarbartolo. Am 9. Juli 1%01 erft begann 
der Prozeß gegen ihn und zwar in Bologna, weil man den Ge- 
Ihmorenen von Palermo nicht getraut hatte. Wieder verging 
geraume Zeit. Über ein Jahr. Palizzolo wurde 31. Juli 1903 mit 
zwei Genoſſen zu dreißig Jahren Zuchthaus verurteilt. Doch damit 
mar die Affäre noch nicht zu Ende. Palizzolo legte Berufung ein, 


Sizilien: Fall Palizzolo 27 


und am 28. Sanuar 1903 verfügte der Kaſſationshof in Rom, daß 
‚der Prozeß von Bologna als null und nichtig zu betrachten und ein 
neuer vor den Geſchworenen in Florenz zu eröffnen wäre. Auch 
diefer Prozeß zog fich fehr in die Länge, vermehrte die Koften des 
Falls, den die Staatskaſſe zu tragen hatte, um weitere Hundert- 
taufende von Lire und — endete zu allgemeiner Verwunderung 
mit der Freiſprechung Palizzolos. Diefer hielt ſich darauf ganz 
dem öffentlichen Leben fern, erjt Anfang 1908 machte er wieder von 
ih reden, alß er nach Nordamerika ging, um ſich dort nach berühmten 
Muftern durch eine Vorlefungstournee Geld zu machen. 


Das Erdbeben in Ralabrien 
vom 8. September 1905. 





Von Neapel nach Reggio Calabria. 


ur Orientierung de Leſers dürfte e3 fich empfehlen, einen kurzen 
3 Blid auf Die Gegend zu werfen, die der Schauplat der lebten 
ſeismiſchen Bewegungen mar, namentlich) 1894, 1905, 1907 und 
1908/1%9, auch aus dem Grunde, weil der Strom der Touriften, 
der ſich nad) Sizilien ergießt, entweder zu Schiffe von Neapel aus 
feinem Ziele zuftrebt, oder, fall er den Landweg vorzieht, meift 
von diefem jchönen Küſtenſtrich nicht? zu fehen befommt, denn der 
einzige Schnellzug fährt nur nachts. Und doch verdient das von 
der europäiichen Kultur noch unbeledte Talabrijche Geftade einen 
Beſuch aller derer, die für mild romantische Landfchaftspracht und 
urmwüchlige3 Vollstum Intereſſe haben. Freilich müſſen fich ſolche 
Freunde der Natur und des Folklore jchon einige Tage Zeit nehmen 
und dürfen auch nicht erbojen, wenn jie in den Talabrefiichen Fels⸗ 
neftern nicht allen Komfort finden, den Berlin, Paris, Rom zu 
bieten gewohnt find. 

Die Eifenbahnitrede von Neapel nad) Reggio Ealabria ift 473km 
lang. Schon nad) dem achten Kilometer, bei Bortici, dem Schau- 
plab der Oper „Die Stumme”, wird man daran erinnert, daß die 
Fahrt in uraltes Erdbebengebiet führt; denn die Stadt ift ebenfo wie 
das nahe Refina auf der Stätte des alten Herculanum aufgebaut. 
Die Bahn läuft nun eine ziemliche Strede dem Meere entlang und 
durchbricht den Lavaſtrom von 1794, der 650 m breit und 12 m tief 
if. Bei dem 12, km erreichen wir Torre del Greco, da 


Kalabrien: Nach Reggio 29 


auf der Lava Steht, die e3 1631 verjchüttete. Es wurde fpäter noch 
oftmal3 vom tüdifchen Veſuv heimgejucht, jo 1737, 1794 und 1861. 
Dazwiſchen litt e8 noch unter dem Eröbeben von 1857. Km 24 
Pompeji, die berühmte tote Stadt. 31 km Angriffmit - 
dem Schloß und Park des Principe D’Angri. Hier lag das berühmte 
Schlachtfeld, mo 553 n. Chr. Narjes mit feinen Byzantinern den 
legten König der Dftgoten, Teja3 fchlug umd tötete. Bei km 35 
folgt Bagani, das jedem frommen Katholiten gefallen dürfte, 
da in feiner Hauptlirche die Reliquien des Moraliſten, des Heiligen 
Alfonfo von Liguori (1696—1787), verehrt werden. Die Eifenbahn 
rüdt immer mehr landeinwärts von der Halbinfel Sorrent ab. Bei 
km 37 berührt fie die alte Stadt Nocera dei Bagani, in 
dejlen Kaſtell Elena, die Witwe des Hohenſtaufenkönigs Manfred, 
der von Carl von Anjou 1266 in der Schlacht von Benevent um Leben 
und Thron gebracht worden war, als Gefangene ftarb. Zehn Kilo- 
meter weiter grüßt das 300 m hoch gelegene Tourijtenzentrum 
Cava dei Tirreni, dad auch durch ein weltberühmtes Bene- 
diktinerklofter bekannt ift. Nun rajt der Zug in jähen Windungen 
zum Golf von Salerno hinunter, zur ſchönen Stadt gleichen 
Namens, die nicht nur dadurd) berühmt ift, daß in ihr Gregor VII, 
der Feind des deutfchen Kaifer3 Heinrich IV, im Eril ftarb, als ihn 
der Normannenherzog Robert Guiscard aus Nom vertrieben hatte, 
ſondern auch durch feine Ürztefchule, die das ganze Mittelalter hin⸗ 
durch eine große Rolle pielte. 

Hinter Salerno kommen wir in öde Steppe, wo Büffel und 
Rinder meiden und die verheerende Malaria hauſt. In Batti«- 
paglia (73 km) gibt es längeren Aufenthalt, da hier die Bahn 
nach Brindifi und Tarent abzweigt. Einundzwanzig Kilometer 
jüdficher grüßen die Tempel von Ba ejtum, bis wohin die meiften 
Neifenden vordringen, die längeren Aufenthalt in Neapel zu machen 
pflegen. Dieſe Tempel übertreffen bekanntlich an Schönheit alle 
andren, die aus den Tagen der Antike noch in Stalien ragen, und 


30 Kalabrien: Landichaftspracht 





Nebenbuhler haben fie nur in den Tempeln von Athen. Paeftum, 
oder wie e3 urjprünglich hieß, Pofeidonia, war fechshundert vor 
Chriſtus von Sybaris am jonischen Meere gegründet worden und 
ging 273 dv. Chr. in die Hände der Römer über. Schon in den erſten 
Beiten des römischen Kaiferreich3 begann die Verſumpfung feines 
Gebiets, jo daß die Malaria um fich griff, und die Stadt, deren 
Roſenpracht Dvid, Virgil, Martial befangen, begann zu verfallen. 
Im neunten Sahrhundert plünderten fie die Sarazenen, und im 
elften Robert Guiscard, der noch viele herrliche Statuen und Säulen 
vorfand und fortichleppte. 
Km 103. Agropoli. Wieder eine griechiſche Stadt, wie 
ſchon ihr Name beſagt. Über ihr thronen die Ruinen eines mächtigen 
Kaſtells. Die Bahn verläßt wiederum das Meer, um den Monte 
Stella (1130 m) zu umgehen, und nun folgt Tunnel auf Tunnel. 
Erſt in Caſal Velino (km 127) berührt fie wieder den Strand, 
der von nun an ftarf dem Liguriens zwilchen Genua und Spezia — 
auch, was die vielen Tunnel anbetrifft — ähnelt. Km 140 fommt 
da3 von Strabon erwähnte Promontorium Piruti, jebt mit dem 
Ort Pisciotta, deſſen alte Kaſtellruine an die Zeiten erinnert, 
wo Sich die Kalabreſen gegen die Emfälle der Korjaren und faraze- 
niſchen Flibuftier Hinter feſten Mauern jchügen mußten. Die Be- 
völferung, die vom Fifchfang und Olbau Iebt, zeigt noch alte, pitto- 
resfe Landestradht. Städtlein, Felönefter, Bergftröme, Schluchten, 
Viadukte, ſchöne Keine Meerbufen, entzüden nun in raſchem Auf- 
einander das Auge des Reiſenden. 170 km kommt wieder ein 
größerer Ort, Bolicaftro, der auch vielen Sturm im wilden 
Mittelalter erlebte, dann Sa pri (180 km), wo 1859 der berühmte 
Putſchverſuch Pisacanes fcheiterte, der ein Jahr vor Garibaldi den 
Thron der neapolitanischen Bourbons umftürzen wollte. | 
Die Berge rüden jet auf eine Strede von 150 Kilometern dichter 
und fchroffer an das Meer heran, fo daß die Bahn = " an era 
lichen Kunjtbauten. 


Kalabrien: Blaue Grotten 3 


Landichaftliche Pracht erften Ranges, aud) bizarren Charakters, 
bietet vor allem Praia D’Ajeta mit der vorgelagerten Inſel 
Dino (isola di Dino), die einem geftrandeten Rieſenwalfiſch 
gleicht. Sie hat jchönere blaue Grotten als die von Capri, aber fie 
liegt auch zu fern ab vom Weltverfehr. Die erjte, Freisrund, wird 
. von einer natürlichen Kuppel überdacht, die 30 m im Durchmefler 
hat. Auf Hundertundvierzig Stufen fteigt man zur zweiten, die 
ebenfalls Freisförmig ift und einen Umfang von 168 m hat. In 
ber dritten, zu der man auf jechzehn breiten Stufen gelangt, findet 
man eine Kapelle mit drei Altären, die 1326 ein Handelskapitän 
aus Ragufa errichtete. Durch natürliche Offnungen an der Dede 
erhalten die von feltfamen Stalaktiten gefüllten Grotten ihr Licht. 

Nach) einem Dubend von Städtchen empfängt una bei km 274 
Paola, das in feiner malerifhen Lage an Aſſiſi ermnert. Wir 
fommen nach dem eigentlichen Kalabrien und zwar in die Provinz 
Catanzaro. Hier wurde der Stifter des Ordens der Minimi, einer 
Abart der Franziskaner, San Franzesco di Paola geboren, dem 
zu Ehren auch über der Stadt noch ein berühmtes Klofter ragt. 

Kaleidoffopifch drängt num ein Städtchen das andere, bis Der 
ftilfe Golf von Sant Eufemia erglänzt mit der Station gleichen 
Namens, an der die Querbahn nah Catanzaro und dem 
jonifhen Meere abgeht. 

357 km Piz30, malerifch gelegen und Hiftorifch eine Größe; 
denn in feinem alten Schloffe endete Murat, Napoleons Marjchall 
und König von Neapel, 1815 durch Erſchießung. Drei Kilometer 
weiter fchimmert aus einer Höhe von 50 m Monteleone aus 
dichtem Waldrahmen hervor, gebildet von Olbäumen und Kaftanien. 
Das große Erdbeben von 1783 zerftörte feine Kirchen und Paläfte, 
ſowie da3 alte Trußfaftell, das der Normannenherzog Roger errichtet 
hatte. 
wis Über Briatico, Barghelia,Tropeaund$oppolo 
führt und dann der Zug nad Nicotera, das fi) wiederum 


32 Kalabrien: Charybdis 





einer jehr jchönen, hohen Lage erfreut, ſowie eines ewigen Früh- 
ling. Es folgt Gioja Tauro, mwo die Provinz Reggio 
Calabria beginnt, und dann die Wald- und Palmenſtadt 
PBalmi, wo fchon tropiiches Klima herricht, wie die vielen Baum- 
wollplantagen beweiſen. Es ift eine jehr junge Stadt im Vergleich 
zu ihren Nachbarinmen; denn fie wurde erſt im flinfzehnten Jahr⸗ 
hundert erbaut. Charakteriftiich ift ihr Hauptplag, von dem acht 
mit Prachthäuſern beftandene Straßen ausgehen. In der Nähe 
liegt der ausſichtsreiche Monte Elia (580 m), und öſtlich das Städt- 
chen Oppido, das 1783 Zentrum des fürchterlichen Erdbebens 
war, das außer Palmi die ganze Ealabrifche Küfte, ja auch Meffina 
zeritörte. | 

Der Zug windet fich langſam bis Bagnara (441 km), einer 
Stadt, die ganz orientalifchen Charakter zeigt, wegen ihrer weißen, 
flachdachigen Häufer. Sie ift ſtark industriell, da fie Wachs⸗ und 
Alkoholfabriken hat. Die Pracht der Vegetation fteigt jebt von Kilo⸗ 
meter zu Silometer, überall erblidt man Orangenbäume und 
Opuntienkaktus (indische Feige), dazwiſchen folgen aud) Steppen und 
Geröllgalden. Dann kommen wir in Haffiiche Gefilde, die Vater 
Homer bejang, nad) Scilla, dem fchönften Städtchen an diefer 
Küfte. (Schlla und Charybdis ſ. u) Km 452 erfcheint die Meerenge 
von Mefjina bei Billa San Giovanni, dejjen Umgebung 
ein Zaubergarten zu fein fcheint. Auch es ift ſehr rege in Handel 
und Induſtrie, da es feine Lage — e3 ift Meſſina am nächiten ge- 
legen — auszunugen verjtand. Bald kommt Catona, das in der 
antifen Mythologie des Erdbebens eine Rolle fpielt, und nad 
Santa Caterina, Reggio Salabria, die Stadt, deren 
Untergang am 28. Dezember 1908 noch jet alle fühlenden Menichen 
erichauern läßt. 


Kalabrien: Erobebengeichichte 33 


Die Rataftrophe vom 8. September 1905. 


Rom, 9. September 1905. 


Wiederum wurde Kalabrien, das „Haffifche Land der Erdbeben“, 
von einer Erdbeben-Kataſtrophe betroffen. Wie groß 
fie ift und mie hoch ſich die Zahl der Verlufte an Menfchen beläuft, 
ift noch nicht abzufehen, da die Verkehrsverhältniſſe in dem ftarf 
vernachläfligten Lande an und für fich fchon zu wünschen übrig laſſen 
und der telegraphiiche Dienft durch Unterbrechung vieler Linien 
geitört iſt. Dazu kommt, daß in den Heinen Bergneftern oft auch 
die Männer fehlen, die imjtande wären, irgend welchen Bericht 
abzufaffen. Bis jetzt heißt es, daß mehrere Städte und Dörfer 
vollftändig zerftört und 400 Menjchen getötet feien. 

Die Kataftrophe brach, wie das furchtbare Erdbeben von Caſa⸗ 
micciola, mitten in der Nacht — um halb drei Uhr — auf die ahnungs⸗ 
Iofen Kalabreſer ein. Am meilten betroffen wurde Pizzo und 
Umgegend. Die Stadt Pizzo ift faft gänzlich zerftört. Dasfelbe 
gilt von den benachbarten Orten Parghelia, Sant Onofrio, Stefana- 
coni, Piscopio und Martirtana. Im letzteren Orte fielen alle Häufer 
ein, und die Zahl der unter den Trümmern Begrabenen wird ald 
jehr groß bezeichnet. Auch in&atanzaro richfere das Erdbeben 
großen Schaden an. Hier rebellierten, von Schrecken erfaßt, die 
Inſaſſen der Gefängniffe und Hojpitäler und konnten nur mit 
Mühe berubigt werden. Hart betroffen wurden in der Nähe Catan- 
zaros Borgia, Grifalco, Montauro, Dlivadi. Schwer litten auch 
Kicaftro und Reggio Calabria, Palmi, Coſenza. In Meffina, 
wo im Nu 60 000 Menjchen an den Strand und in die Yelder flüch⸗ 
teten und ſich ebenfalls die Gefangenen und Hojpitalfranfen empörten, 
ſcheint der Schreden größer gemwefen zu fein alö der Schaden. Privat- 
telegramme des „Giornale d'Italia“ aus Monteleone bei 
Pizzo melden: In Stefanaconi alle Häufer zerjtört; 100 Tote. In 
Piscopio alle Häufer zerjtört, 50 Tote. In Triparni Zerftörung aller 

Bader: Im Lande des Erdbebens. 3 


34 Kalabrien: Erdbebengeſchichte 


Häufer, 60 Tote. In San Gregorio 65 Tote. In Mileto 10 Tote 
und 200 Berwundete uſw. Das Beben dauerte fünfundzivanzig 
Gefunden. Einzelheiten über die Schredenäfzenen fehlen noch. Es 
werden auch von Pizzo allerlei „komiſche“ Zwiſchenfälle gemeldet. 
Viele Leute glaubten im erjten Schreden, Diebe feien ind Haus 
gebrochen und fchoflen mit Revolver; Brüder, die zufammen 
jchliefen, prügelten ſich durch, weil fie glaubten, der andere habe 
fie durch böfen Scherz gewedt. Auch von Fällen plöglicher Geiftes- 
ftörung wird berichtet. So ftürzte fich in Meſſina ein Priefter in 
völliger Geiftesumnachtung vom Balkon, ohne fich aber viel Schaden 
zu tun. 

Die Kataftrophe wird um fo fehmerzlicher empfunden, al 
ſich gerade jest Kalabrien in großen Hoffnungen wiegte. Dies 
herrliche Land, das feit einem Menfchenalter vom Norden Italiens 
ganz vergeflen wurde, und dag dazu durch den Krieg der Eifenbahn- 
gejellichaften litt, war in der leßten Zeit vom Eifenbahnminifter 
Ferrari bereift worden und hatte von ihm die feierliche Ver⸗ 
jiherung erhalten, daß die erjte Sorge der Negierung fein werde, 
die großen Städte des jonischen Meeres mit denen des tyrrheniſchen 
Meeres zu verbinden. Natürlich wird jetzt ganz Stalien wieder durch 
Geldſammlungen dem Eröbebengebiete beifpringen, wie es auch 
bei dem legten Erdbeben von 1894 geſchah. Dabei ift aber zu 
hoffen, daß fich nicht die Mißſtände wiederholen, die ſich damals 
zeigten und die zu einer parlamentarischen Enquete führten, durch 
welche arge Unterjchleife entdedt wurden. Wie weit damals die 
Korruption ging, zeigte fich auch darin, daß der römische Preffeverein 
ſich weigerte, die von ihm gejammelten Beiträge der Regierung 
auszufolgen und fir die Verteilung felbit forgte. 

Was die Erdbebengejhihte Kalabrien: am 
betrifft, da3 zwifchen den drei Vulkanen Veſuv, Stromboli, Atna 
liegt, jo wird als erſtes, Hiftorisch beglaubigte Erdbeben dad von 
626 verzeichnet. Aus dem Mittelalter fehlen Nachrichten. Aus der 


Kalabrien: Nach Catanzaro 35 


neueften Zeit find berühmt die Erdbeben von 1783 (5. Februar), 
da3 hundert Sekunden dauerte und 32000 Menfichen tötete, und 
dasjenige vom 26. Juli 1804. Das Erdbeben von 1894 betraf diejelbe 
Gegend mie die jebige, aljo das Gebiet von Reggio Calabria bis 
Palmi. Auch diejes wie dag jeige Erdbeben wurden durch eine 
höhere Tätigkeit de8 Stromboli = den lipariſchen — 
—— 
Catanzaro, 12. September 1905. 

Schon vor Jahren hatte ich das fchöne Land bejucht, von deſſen 
Elend jett die Welt ſpricht; doch immer blieb ic) an der Hüfte, die 
ich im Weften bid Reggio Calabria, im Often aber nur bis zur Gegend 
von Metaponto Termen lernte. Dieſes Mal ging die Reife auch ind 
Innere — des Erdbebenſchreckens wegen. Im Coupe 
ſaßen außer mir nur Amerifaner. Sie äußerten laut ihre Sehnjucht, 
den Befu zu fchauen, — naid, wie dieje Stalienfahrer nun einmal 
find. Auch ich war neugierig, den Feuerberg zu jehen, der gleich 
zeitig mit dem Erdbeben von Kalabrien eine neue, friſche Tätigkeit 
begonnen hatte. Hinter Averſa fah er ganz unfchuldig aus, wie 
ein Alter, der ruhig fein Pfeifchen ſchmaucht. Aber plötlich ſandte 
er wohl fünfzig Meter hoch eine dichte, fchmarze Rauchſäule 
auf, der eine weiße al Dualmbrodem-Bafis diente. Im nächſten 
Augenbiide war die Säule zur Form eines Rieſenſchneckenhauſes 
zulammengejunfen, dann glich fie einer phrygiſchen Mütze, die einen 
riejigen Freiheitsbaum krönte. Am Abend jah ich den Veſuv wieder. 
Er war ſchwarz, düſter. Links unter dem Hauptgipfel erglühte die 
Lada al unangenehmes Warnungsfignal in der Form einer 
tiefigen Zwei, zu der, von Rauchnebel umhüllt, immer neuer Glut⸗ 
ſtrom herunterfloß. Gleich darauf hatte die große „2" die Form 
einer Ellipfe angenommen. 

Auf dem Neapler Bahnhof Herrichte einiges Getümmel, aber 
wer da weiß, daß zu dem einzigen Schnellzug, der täglich Neapel 

38 


3 Kalabrien: Nach Satanzaro 





mit Reggio Salabria verbindet, jtet3 ein ärgerliches Drängen ftatt- 
findet, der vermochte nicht3 Beſonderes zu entdeden, was an das 
Erdbeben im Süden erinnert hätte, zumal um diefe Zeit nad) dem 
Ende des Manövers jedesmal viele Offiziere und Soldaten zu teilen 
pflegen. Erſt als ich auf der langen Fahrt dann und wann durch 
übermäßiges Gepfeife der Lokomotiven und das öftere brüsfe Halten 
de3 Zuges gemwedt wurde, merkte ich die Folgen der Kataftrophe. 
Die Eijenbahnlinie wurde nämlich zwar nirgends zerftört, jedoch fo 
ernftlich in Mitleidenfchaft gezogen, daß an vielen Stellen der Zug 
jich nur mit der größten Borficht und unter Beobachtung des weiſeſten 
Krähwinkler Zeitmaßes vorwärts taften durfte. Das ſetzte natürlich 
mehrjtündige Berjpätungen ab, die für einen ftärkungsbedürftigen 
Reiſenden recht mittelmäßig angenehm waren; denn wer fich auf 
die wenigen „Buffet3” an dieſer vermahrloften Strede verließ, der 
mar verlaffen. 

Das Erdbeben vergaß ich bald, als ich durch die Mondſchein⸗ 
landſchaft an Pom peji, an Cava Tirreni vorüberfuhr und 
von Vietri aus nach Salerno hinunterſauſte. Welche Pracht! 
Bas iſt Monte Carlo mit feinen üppig⸗eleganten Park- und Meer⸗ 
buchtwundern gegen Salerno, feinen Golf, gegen die amalfitanifche 
Küſte bei Vollmond! Die Stadt Robert Guiscards und Gregor VII 
lag bald hinter ung. Der Zug flog in verdoppelter Eile dahin, denn 
feine Lenker wußten, daß fie im Süden ein Schnedentempo ein- 
halten müßten, und ihre Baflagiere: Soldaten, Krankenſchweſtern, 
Singenieure, Beamte, Ärzte, hatten es doch eilig, zur Stätte des 
Elends zu kommen. 

Wieder vergeſſe ich das Erdbeben. Baeftum mit feinen von 
goldigem Nebel umfloffenen Tempeln mahnt an das herrliche Einft, 
an die Glorie von Großgriechenland! Bald naht die zerflüftete 
Küfte mit ihren Felskegeln, Felspyramiden, Buchten, Bergnejtern, 
Kaftellen und Wachttürmen. Wem das Glüd beichieden ift, dieje 
Reife bei Vollmond zu machen, der kann über Landſchaftspoeſie und 


Kalabrien: Eifenbahnen 37 





Raturromantik ein Wort mitreden. Und welche Sternenpracht erft! 
So phantaftifch, daß man kaum feinen Mugen traut. Ind das Meer! 
Blaufilbern leuchtet es herüber. 

Um vier Uhr morgens erreichen wir das amphitheatraliich auf- 
gebaute Paola (274 km ſüdlich von Neapel), eine Stadt, intereſ⸗ 
ſant für den Verkehrspolitiker. Sie wäre nämlich eigentlich der 
nädjfte Hafen für die Provinzhauptftadt Coſen za. Aber die 
Berge und die — Langfamleit in Stalien laſſen e3 nicht fo weit 
kommen. Noch erreicht man Cofenza von hier aus mit der Diligence, 
die zehn Stunden braucht, der bequeme Eifenbahnreifende jedoch, 
der in Neapel den Durchgangsmagen NapoliColenza beftiegen hat, 
fährt von Paola zunächſt 57 km füdlich, dann 47 km quer bis zum 
Sonischen Meer, hier 173 km nördlich bis Sibari, und von dort noch 
68 km ſüdweſtlich, ehe er Eofenza erreicht. — Ich verweile abjichtlich 
auf diefem Ummege von nur 345 (!) km, um ein Bild von den Ber- 
kehrsſchwierigkeiten in Kalabrien zu geben, unter denen der Hilfg- 
dienft jebt jo jämmerlich leidet. | 

Im Halbdunfel war in Paola vom Erdbebenfchred nichts zu 
bemerfen. Dazfelbe galt von FSiumefreddo (282 km), von 
dem die erjten Berichte jehr Schaudervofles hatten melden können, 
und von Amantea (289 km), wo vorgeftern noch die halbe 
Bevölkerung am Meerezufer kampiert haben follte. Sch fand aber 
den Strand menfchenleer. ErftinNoceraTirineje(313km), 
d. h. der Station, Denn das Städtchen liegt noch 7 km landeinwärts, 
zeigte fich mir der Schredeen des Erdbebens. Gegen den Fahrplan 
hielt der Zug hier. Plötzlich erfchienen auf einem Landungsdamm 
ein Dutzend ftiller, vertwahrlofter Menfchen und aus vier Eifenbahn- 
wagen, die auf einem Seitengeleije jtanden, verjchlafene Infanterie⸗ 
Offiziere und Soldaten. Aus einem Gepädiwagen wurden Dubende 
von Süden, die Brot enthielten, ausgemorfen. Gleich darauf kam 
von den Höhen eine Karawane von Eieltreibern und Karren. Lautlos 
gingen fie ans Aufladen. Eine Zeitlang dachte ich ang Ausfteigen, 


38 Kalabrien: PBrophezeihungen 





denn das Brot war für den Nachbarort von Nocera Tirinefe, Mar- 
tirana, beftimmt, der volljtändig zerftört wurde, ohne daß zum 
Glück viele Menjchenopfer zu beflagen wären. Aber der Stationschef 
riet mirab. „Wagen finden Sie nicht, und ein Pferd, mit dem allein 
Sie die lebte Strede aus Mangel einer guten Straße machen könnten, 
dürfte auch ſchwer aufzutreiben fein.” Unter diefen Umftänden 
beichloß ich zu warten und zunädjit; da wegen der Anweſenheit des 
Königs in Monteleone, dem Zentrum des Erdbebens, feine 
Unterkunft zu finden wäre, nad) der Hauptftadt der Provinz, Satam- 
zaro, durchzufahren, wo ich ficher offizielle Nachrichten über den 
Geſamtſchaden und Mittel zur Orientierung finden würde. 

Der Entichluß war weniger fchnell auzgeführt als gefaßt. Mit 
vierftündiger Berjpätung kamen wir in Sant-Eufemia 
(331 km von Neapel) am gleichnamigen Golfe an. — Acht Uhr 
morgend. Die in malerifcher, aber durch Sumpf und Fieber ver- 
pefteter Umgebung liegende Stadt hat ihren Namen von dem einft 
berühmten Benediktinerflofter zur Heiligen Eufemia, einer Stiftung 
von Robert Guiscard, die 1638 ein Opfer des Erdbebens wurde. 
Auch hier fiel mir die Stille auf; man glaubte gar nicht im lebhaften 
‚Stalien zu fein. Aber VBerwahrlofung und Schmuß überall. Die 
Hauptitation war verlajjen, da fie ſtark gelitten hat. Auch in der 
Nebenftation herrfchte ein tolles Durcheinander. Kein Schalter 

‚war offen, und die Billet- und Gepädabfertigung fand in einem 
Raume ftatt, der, weil am wenigſten beichädigt, einer Rumpel- 
Tammer glich, da man hier Möbel, Telegraphenpapierrollen, Tiſche, 
‚Stühle, Alten, Bücher kunterbunt durch- und aufeinandergeftapelt 
hatte. Die Ruhe der Beamten und Reiſenden — Einwohner der 
Stadt waren nicht vorhanden — erflärte fich durch die Marmnad- 
richten, die auf Grund eines faljch verftandenen interviews mit Dem 
Florentiner Seismologen Pater Alfani im Schmange waren. 
Diefer hatte nämlich vorausgefagt, daß fich noch viele Stöße ein- 
‚ftellen würden; er hatte freilich hinzugefebt, daß dieſe immer ſchwächer 


Kalabrien: Frauentracht 39 


werden würden. Das lebtere hatte ein Alarmiſt, der an ein Lofal- 
blatt von Catanzaro telegraphierte, auögelafjen, und fo,. nad) der 
alten Tradition, wonach jede Erdbeben fich dreimal wiederholt, 
glaubte da3 Bolt, daß eine neue Auflage des Unglüds jeden Augen- 
blid zu erwarten ſei. 

Bon hier aus geht es landeinwärts auf der Sekundärbahn nach 
dem jonijchen Meere. Die Kohle der italienischen Eifenbahnen ift 
fheußlich, und bei der langfamen Fahrt werden die Tunnels, 
— ad, all zu viele find ihrer! — zur Marter. Die Gegend prangt in 
lachendfter Fruchtbarkeit. Aber diefe Fröhlichkeit der Natur Scheint 
mit einiger Wildheit ihrer Bemohner gepaart; denn an der erſten 
Station Sambiafi erblide ich einen Briefträger mit Doppel- 
flinte. Das foll eine landesübliche Notwendigkeit fein. Wenigſtens 
weiß ich, Daß die Yandbarone diefer Gegend nur mit einer Eslorte 
flintenbewaffneter Reiter umberreifen. Nun, diefe Borficht kann 
auch einem ſchlechten Gewiſſen entjpringen. Ich jehe viele üppige 
Frauen. Dlivenbraune, rotwangige, gelbweiße Gefichter Durch 
einander, aber alle umrahmt vom gleichen blaufchwarzen Saar, 
belebt vom gleichen Tlammenblid. Und die Flamme foll ſich, jo 
jagt man, nicht bloß auf den Blick beſchränken. Schön ift die Tracht 
der Frauen in diefen „Weiberbörfern” (denn viele Männer arbeiten 
im Norden): Purpurrod, niedrige Mieder, darüber hervorlugend 
das Spitzenhemd und ein fpitengefäumter Kopfſchmuck, der die 
Mitte hält zwiſchen Nonnenhaube und ciociariichem Duadrattud). 
Die ärmeren Bäuerinnen find weniger farbig gekleidet und ihr 
Antlitz ift fiebergelb. Doch fchlanten Geftalten unter ihnen fteht die 
dunkle Tracht auögezeichnet. Auch wirken fie nicht weniger malerisch, 
als die Rotröde, wenn fie unter Ölbäumen oder hinter Heden von 
indiſchen Kaltusfeigen ftehen. 

Unter den Mitfahrenden bemerle ich große Beklommenheit. 
In einer Ede faßen zwei bleiche Herren, die von Neapel zu ihren 
Bermandten reifen wollten. Einer davon Hatte vor drei Tagen an 


40 Kalabrien: Der König 





feine Angehörigen in Olevati telegraphiert und, obgleich er die Rüd- 
antwort bezahlt hatte, erſt geftern die Nachricht erhalten: „Städtchen 
ganz zerftört. Wir fchlafen im Freien.” Nach zehn Minuten Fahrt 
jehe ich unter Olbäumen ein folche3 Lager im Freien. Auf vier bis 
fünf Fuß hohen Pfählen war ein rotes Tuch audgebreitet, und 
darunter befand fich das Lager einer Familie, die eben Morgen- 
toilette machte. Das Schaufpiel wiederholte fich noch mehrere Male. 
Während der überaus Yangfamen Fahrt kam ein Geſpräch nur 
langjam in Fluß. Ein junger Mann atmete regelmäßig auf, wenn 
wieber einer der zahlreichen Tunmel3 glüdlich paffiert war, da er fich 
nicht ausreden ließ, daß fie gelitten hätten und jeden Augenblid 
zufammenftürzen müßten. Er beruhigte fi) aber bald, ala ihm ein 
wiürdiger Herr verficherte, daß die Linie St. Eufemia-Catanzaro 
felbft nicht gelitten habe, ebenjowenig wie die Stadt, mo nur einige 
Kirchen befchädigt fein follen. Dann kam die Rede auf den König, 
deifen Bejuch freudig aufgenommen wurde. Freilich wurde dabei 
ernfthaft erörtert, od fein Automobil, das er jich auf feiner Jacht 
„Hela“ nad) St. Eufemia hatte bringen laffen, überall durchkommen 
fönne, da viele Brüden zerbrochen feien und manche Straße wegen 
zu fchlechten Unterbaues das Gewicht des Kraftwagens nicht tragen 
könnte. „Zum Glüd hat er Pferde mitgebracht!" Dann ſprach 
man von dem Wetteifer der Behörden, Städte, Korporationen in 
ganz Stalten, dem beichädigten Lande zu Hilfe zu kommen. Schließ- 
lich machte ſich auch ein Steptifer bemerkbar, der ernfthaft erklärte, 
im erften Schreden hätten die amtlichen und journaliſtiſchen Berichte 
ſtark übertrieben, indem deren Urheber zu viel dem erſten Beten 
geglaubt hätten, der Zu Pferde nach dem nächſten größeren Ort 
ſprengte, um den Schaden feines Dorfes zu melden. Dann wurde 
auch der Komik gedacht, die bei den tragiſchen Vorfällen ja niemals 
fehlt. So wurde u. a. das Telegramm des Bürgermeiſters von 
Gimigliano bejpöttelt, der dem Präfelten meldete: „Sm 
Namen der hiefigen ſtark alarmierten Stadtgemeinde bitte ich 


Kalabrien: Sein Hein Paris 4 





Ew. Hochmwohlgeboren, uns mitteilen zu mollen, ob ſich in ber 
nächſten Nacht das Erdbeben wiederholen wird, Damit ich die Burger 
— kann.“ 

Zweite Station: Nicaſtro, liegt an einer Berghalde, von 
den Ruinen eines Kaftells überragt, in dem Friebrich II einft ſeinen 
widerfpenftigen Sohn Heinrich zähmte. Die Häufer fehen weniger 
neapolitaniſch aus, auch nicht afrilaniich, wie in Tarent, beinah 
wie deutſche: rotes Giebeldach, rötliche Ziegelmände. Der Ort gilt 
als betriebfam, doch ſoll mit den Einwohnern nicht zu ſpaſſen fein. 

Dies Städtchen follte nach den erften Berichten auch jehr ſtark 
gelitten haben. Der Stationschef aber fagte, große Schäden feien 
zum Süd nicht zu beflagen, doch hätten viele Häufer Riffe befommen. 
Kleine Riffe zeigte auch dag nächfte Stationagebäude von Fer o- 
leto Antico. Die Unterhaltung bewegte fich noch einige Zeit 
über da3 Erdbeben, das einige Flüffe, wie im Winter, mit Waſſer 
gefüllt haben follte und ſtellenweiſe den Strand am tyrrhenijchen 
Meer verändert und das Uferwaſſer erhist Hätte uſp. Dann ging 
man zur Politik über und beflagte die Grundbeliter, die noch jo 
dumm feten, bei jeder Wahl 100 000 Lire für ihr Mandat zu opfern. 
Auch ſprach man vom jchlechten Eifenbahndienft umd der „jenen“ 
Regierung, die Kalabrien ganz vergeſſe, fo daß fich die Kalabreſen 
in Geduld üben müßten. 

Catanzaro, der Hauptort des ſüdlichen Kalabrien, ſein 
Klein-Paris. Wie Paris hat es auch ein Faubourg St. Germain, 
da die Landbarone darauf halten, hier ihr „hötel“ (palazzo) zu 
‚haben, obgleich fie vielfach den Aufenthalt in Rom, Paris, Monte⸗ 
carlo der Heimat vorziehen. Entfteigt man dem Riefentunnel, der 
dicht vor der Station mündet und peſtilenzialiſchen Qualmrauch 
entfendet, als märe er ein Krater, fo fchaut man verwundert nach der 
Stadt aus. Gie Tiegt Hoch oben; taufend Fuß über dem Meer. 
Drum gibt’3 einen Kampf der Wagen und Gefänge, letztere freilich 
recht unlieber Art. Mit Ellbogenkraft komme ich in em Geführt, 


42 Kalabrien: Catanzaro 





ſechs Dann mit mir, und doch ift das Vehikel eigentlich nur für zwei 
beftimmt. In endloſen Schleifen wird die Höhe langſam genommen. 
Als ich die 35 000 Einwohner zählende Stadt auf dem Wege zum 
Hotel durchfuhr, bemerkte ich wenig Erdbebenpanik. Auch erfuhr ich 
nicht? Neues. Dasſelbe Schidjal hatte ich im Präfektirpalaft. 
Obſchon man mich ſehr Tiebevoll aufnahm, fonnte man mir noch 
feine abgejchloffene Statiftif über den Gejamtichaden mitteilen, da 
immer noch Ausgrabungen ftattfänden und jo die Zahl der Opfer 
noch nicht feitzuftellen fei. Man ftellte mir auch bereitwillig das 
amtliche Material im Detail zur Verfügung, doch, wie ift dem 
deutſchen Leſer damit gedient, wenn ich ihm eine Reihe von unbe- 
kannten Flecken und Dörfern aufzähle ınit dem Materialjchaden und 
Opfern an Leben und Gefundheit? Warten wir aljo ab. Auch die 
Lokalpreſſe — von der römijchen, die erſt nad) drei Tagen hier auf- 
taucht, ift man abgefchnitten — Tonnte nichts Neues jagen. Ich 
faufte drei verjchiedene Blättlein, aber fie brachten auch nur die 
vorläufige Lifte der Präfektur. Eim Rundgang durch die Stabt, 
der wegen der Hite allerdings nicht lange dauerte, bot auch nichts 
Auffälliges. Die Menjchen fchienen fich hier entweder wenig auf- 
geregt oder aber bald wieder zu ihrem Alltagstrubel zurüdgefunden 
zu haben. Plakate verkündeten dazu auch, daß am Abend die 
„Negimentstochter” gefpielt werden würde. Die Stadt 
gab mir alfo als Kataftrophenberichterftatter wenig zu tun... 
Und mas ift fonft über fie zu jagen? In einem Lande, mo die Hifto- 
riker mit Jahrtauſenden nur fo jonglieren, ift fie aß zu jung und 
ahnenlos verichrieen. Der Urſprung der Stadt wird in das fiebente 
Jahrhundert nach Chriſtus gelegt. Man dente! Das kalabreſiſche 
Kllein- Paris fieht mit feinen modernen, weißgetünchten Schablonen- 
häuſern wenig malerifch aus (d. h. im Kem). Dafür hat es aber 
an der inneren Beripherie ein entzüdendes labyrinthifches Gaflen- 
geivimmel, deſſen Staffage auch eine Augenweide bildet. Da ſah 
th 3. B. einen alten Bauern, der unter feinen Kollegen in jardifcher 


Kalabrien: Joniſches Meer 43 





Tracht durch den Kegelhut auffiel und an gewiſſe Tanagrafiguren 
erinnerte. Die jungen Bäuerinnen hatten jchon alle einen „ven Fuß 
freilaffenden” Rod. Die niedlichen Schuhe lafjen die Form des ſchwarz⸗ 
beitrumpften Fußes und die feinen Knöchel ahnen. Intereſſanter 
als die innere Peripherie und da3 Hauptitraßenviertel, deſſen Reinlich- 
Zeit ich rühmen muß, ift der äußere Mauerkranz. In ihm, in der foge- 
nannten „Bollmwerfftraße” (viadi circonvallazione) beiteht 
ja der Hauptreiz aller der ausſichtberühmten Felsneſter Italiens, 
wie Macerata, Camerino, Urbino, Ofimo uſw. Pie Reife nad) 
Satanzaro lohnt fich ſchon allein wegen der Ausſicht. Sie ift groß 
artig, überwältigend. Im Norden, wo Cojenza liegt, erhebt jich die 
lange blaue Wand des mwalbreihen Sila-Gebirge3, das 
ichon Strabon rühmt. Faſt 2000 Meter hoch zieht es fich hin, ein 
Gebiet von 100000 Hektar beherrichend. Plötzlich fällt der Blid 
des Betrachterd auf die Stadt, ihre teraffenförmig aufgebauten 
Gärten, auf die Schluchten tief unter ihr, auf die vielen Berglegel, 
die an den Schroffen Tahl, auf ihrem Plateau üppig bewachſen, von 
den Windungen eines braungrauen, waſſerloſen Flußbettes umzogen 
werden. Dann fteigert ſich das Entzüden zum Ausruf: „Ihalatta, 
Thalatta!”, da das jonische Geftade mit feiner blauen Salzflut fat 
greifbar nahe heraufblinkt. Gerade vor uns Squillace, die 
Heimat von Theodoxichs Kanzler, Caſſiodor, in Nordoſten die 
Gegend, wo Sybaris lag (der jegige Ort und deilen Bewohner 
erinnern in nicht? mehr an die fprichmwörtliche Üppigfeit), mweiter 
füdlich, fat in derfelben Breite wie Catanzaro, das Gebiet von Kroton 
(Heute Cotrone), das 510 vor Chriſtus Sybaris überwand, bald aber 
ſelbſt von Loeri (dem jekigen Gerace, in der geographiſchen Breite 
von Meffina) in der Schlacht bei Sagras vernichtet wurde. An jene 
Zeit erinnert heute nur noch nahe bei Cotrone auf dem Kap Eolonna 
‚eine einzige Säule, die von der Pracht des Tempels der Hera- 
Lacinia |pricht, — herrliches Kroton, wo Pythagoras lebte und fein 
Orden refidierte! Und welch alter Gymnaſiaſt erinnerte ſich 


44 Kalabrien: Ketzerei 


nicht der berühmten Arzteſchule von Kroton nnd feines Athleten 
Milon! 

Der Stadtpark zieht mich ab. Er ift ſchön, aber proßig. 
Natürlich! Den Stadtgemwaltigen in Süditalien, die alle Vorrechte 
für ſich nehmen und die Laften den Armen und den Anhängern ihrer 
Barteigegner aufbürden, wollen doch in Park und Theater „fich groß 
machen”, wie kürzlich ein beicheidener Landpfarrer einem Journa⸗ 
tiiten fagte, (in puncto Promenade gilt das au von Monte- 
leone, dem ſüdlichen Erdbebenzentrum), und fo ift man überrafcht 
durch die Blumen⸗ und Baumpracht, worunter auch früchtetragende 
Dattelpalmen zu fehen find. Heiterkeit aber erregt der „ßFo ol o⸗ 
gifhe Garten“, der zwei — Kaninchen beherbergt. Das 
Mufeum lodte mich nicht. Ich ſchwärmte nur für Natur, und die 
fand ich am Abend inder Danktprozeffion, welche die Männer- 
brüderſchaften veranftalteten. Diefe Inbrunſt war Natur; denn e3 
it ja jo menfchlich, dankbar zu fein, wenn nur die anderen beichädigt 
wurden. Mich ärgerte bei der Prozeffion nur die Kunſt, — freilich 
welcher ſchändlichen Art! — vertreten durch die Siülberbüfte des 
Patron Bitaliano. Ya, das Unweſen der „Heiligenverehrung” 
— in ihrer ſüditalieniſchen Form — habe ich in diefen Tagen des 
Talabrejiichen Elends verabfcheuen gelernt! 

SHeiligenverehrung! Auch ich gab nachher Anſtoß. Im EB 
zimmer de3 Hotel — Hotel fozufagen, o diefer Schmuß der männ- 
Yichen Bedienung, die im Süden Gefeß ft! — war's zu dunkel und 
heiß für mich. Sch bat um eine Lampe, um im kühleren Hofe ſitzen 
zu können. Eine Lampe gab’3 nicht. Ach ließ Kerzen Taufeti, 
zündete drei an und Ind. O, die Erftaunen! Sch galt als Original. 
‚Vielleicht entrüftete fih auch mancher; denn wie darf ein lebender 
Deuticher (= Ketzer) fich Kerzen anzünden laffen, das ift doch mir 
ein Recht, das tote Heilige haben! Freilich machte man in 
diefen Tagen für zwei Lebende eine Ausnahme, da man allenthalben 
vor den Bildern des Königspaares Votivkerzen aufftedte. Dieſes 


Kalabrien: PBatriarchentum 45 


Beichen von Berehrung hatte fein Gegenftüd in der Tatfache, daß 
der König bei feiner jüngjten Zidzadreife ſich kaum der Leute 
erwehren Ionnte, die Iniend zu ihm heranrutichten, um ihm die 
Hofe zu küffen. Die guten Leute vermochten es zuerſt auch gar nicht 
zu fallen, daß der einfache Offizier ein König fein follte! Ahnlich 
wollte ein Bürger von Sant’ Onofrio mir gegenüber es nicht glauben, 
daß der Miniſter Terraris in feinem Ort geweſen fei. „Puh! Der 
einfach gelleivete Mann mit dem ftruppigen Bart jollte ein Minifter 
gemwejen fein. Puh! Ach laffe mir nichts aufbinden!” Wir find 
bier eben im Lande der Unterwürfigleit, too der eriwachjene Sohn 
dem Bater, der Diener dem Herrn die Hand küßt. Wber wir find 
hier aud) im Lande des Ernftes. Nirgendwo in Italien ſah ich jo 
viele mit philojophilcher Würde zur Schau getragene Vollbärte 
wie in Kalabrien. 
Monteleone, 13. September 1908. 

Geſtern abend traf ich in Catanzaro einige Mitglieder der Lolal⸗ 
preife, Darunter auch den Vertreter der „Agenzia Stefani”, der mir 
verjicherte, Daß das ficherlich große Unglüd von einigen Senjations- 
zeitungen — er nannte mir jpeziell ein neapolitaniiches Volßblatt — 
gewaltig übertrieben worden jei. Schon vorher hatten mir einige 
- &teptifer merfen laſſen, daß der „Süden” pplitiich Habe Kapital 
aus dem Unglüd fchlagen mwollen, um den „Norden” an jeine Ver⸗ 
geplichkeit und abfichtliche Vernachläfligung der Südhälfte Italiens 
zu mahnen. Gerade vor furzem war ja in Kalabrien große Un—⸗ 
Zufriedenheit ausgebrochen, weil man dort befürchtete, die von der 
früheren Regierung verfprochenen Eifenbahnen, deren da3 verkehrs⸗ 
mittelarme Land dringend bedarf, würden von der jebigen preis- 
gegeben. Ob dem auch fo ijt, das laſſe ich dahingeſtellt. Relato 
refero. Mein Gewährsmann von der „Agenzia Stefani" beftätigte 
mir aud), was mir jchon der Herr Präfekturrat gejagt hatte, nämlich 
daß noch feine Überficht über den Geſamtſchaden vorliege. 


46 Kalabrien: Die Soldaten. 


Heute morgen um ſechs Uhr war die Hauptitraße jchon voller 
Menjchen, denn der König war auf ein Uhr angejagt. Deſſen 
Einzug konnte ich nicht abwarten, fonft hätte ich einen ganzen Tag 
verlieren müfjen, da in diefem ſchönen Erdenwinkel die Züge feltener 
find als auf der Berliner Stadtbahn. Zunächft galt e3, für den fahr- 
planmäßig um 7.50 abgehenden Zug einen Wagen zu finden, der 
mich zum Bahnhof im Tal brächte. Das war freilich mit einigen 
Schwierigkeiten verknüpft. Am Bahnhof hieß e3 wieder warten, 
denn der vom jonifchen Meer kommende Zug, der mic) zum turrheni- 
ſchen Meer bringen follte, hatte fünfviertel Stunden Berfpätung. 
Freilich brachte er auch ſechs Wagen Infanterie aus Bari, die zum 
gleihen Ort, Monteleone, beftimmt waren wie ih. Die Hibe 
legte fürchterlich ein, jo fehr, daß bei der dritten Station, Marcelli- 
nara, die Soldaten voller Gier zum Brunnen ftürzten, um mit 
allen möglichen Schöpfgeräten Waſſer zu holen. Als fie zu lange 
vermweilten und der Zugführer zur Weiterfahrt mahnte, ließen fie 
fih nicht ftören, bi3 der Herr Major und einige Offiziere fie mit 
Gewalt fortriffen. Das Hätte ein preußifcher Unteroffizier jehen 
jollen! Ein folcher würde fich auch über das Ausfehen der Truppe 
geärgert haben, denn fie hatte fich des ſchweren blauen Sadrods 
entledigt und lief in Hemd und Hofe herum. Zwei Leutnants, 
die in meinem Abteil faßen, Hatten dafür nur ein leiſes Achjelzuden. 
„& find gute Jungens,“ jagte der eine; „es ift nicht angenehm für 
fie, kurz nad} dem Manöver zu dem ſchweren und undankbaren Erd- 
bebendienft zu gehen, zumal da man nicht weiß, wie man verpflegt 
und logiert wird. In ſolchen Ausnahmezeiten darf man nicht zu 
ftreng jein.” Das waren Worte, die jeder billigen wird, der den 
italienifchen Charakter Tennt. Dem tragen die militärischen Vor⸗ 
geſetzten Rechnung; fie wiſſen, daß man mit Güte mehr durchſetzt 
al mit Schneidigfeit. „Aber wo bleibt da die Ordnung und die 
Pünktlichkeit im Eifenbahndienft?" höre ich manchen ſtrammen 
Deutichen ausrufen. Das ift freilich eine andere Sache; denn Punkt⸗ 


Kalabrien: Martirana 47 


lichkeit und Wert der Zeit find Dinge, die der Durchfchnittstialiener 
noch nicht gelernt hat. 

Die Abteilinfafjen kamen ins Geſpräch. Einer, ein Reifender 
in pharmazeutijchen Artileln, meinte, jeine Tour fei ganz verdorben. 
Er hätte Ausftände einlafjieren follen, aber wie könnte er jet in den 
vom Unglüd betroffenen Orten jeinen Kunden von Gejchäft ſprechen! 
Dann beflagte er, daß das Unglüd am Golf von Eufemia noch 
größere Dimenfionen annehmen werde, denn das fei ein Malaria- 
gebiet par excellence, und dabei wären Taufende im Freien. 
Sein Nachbar jtellte fich ala Beſitzer vor, der in dem geſtern er- 
wähnten Martirana ein Sommerhaus habe. Er fei mit dem 
Abgeordneten des Bezirß zum Präfelten gereift, um ihm über die 
Zuftände in diefem Ort zu berichten. Das Elend fei einfach un- 
beſchreiblich. Alle Häufer zerftört, oder doch unficher geworden. 
Das einzige Rettungsmittel fei, die Stadt an einem andern. Orte 
völlig neu aufzubauen. Martirana ſei überhaupt unter den kalabreſi⸗ 
chen Städten die beflagenäwertefte. Im Mittelalter jo groß, daß 
es Kathedrale und einen Erzbiichof Hatte, wurde es durch die Erd- 
beben der Neuzeit und die dadurch bedingte Auswanderung derart 
reduziert, daß es jet nur noch 2200 Einwohner zählte. Und nun 
ift e8 ganz vernichtet. In der vorlegten Station Nicaftro ftieg 
eine hochſchwangere junge Frau ein, die fortwährend jammerte. 
& war die Tochter des Bahnhofreftaurateurs von Sant Eufemia. 
Das Beben hatte die ganzen Wirtichaftsräume und alle Vorräte 
zerftört, und fo hatte jie in die Städte der Umgegend fahren müſſen, 
um neue Betrieb3mittel aufzutreiben; „denn gerade jebt ift die 
Station belagert von Soldaten, Ingenieuren und Reiſenden, die 
an diefem Knotenpunfte auf Weiterbeförderung warten”, jo Hagte 
fie, „und wir können auch körperlich die vermehrte Arbeit nicht 
zwingen.” 

Das fand ich beftätigt, als wir um elf Uhr mit zwei Stunden 
Berfpätung in Sant Eufemia anlamen. Die Station glich einem 


48 Kalabrien: Wohltätigteit 





Teldlager; denn jchon wieder jtanden mehrere Kompanien Sinfanterie 
bereit, die auf Weiterbeförderung warteten. Hinter ihnen war ein 
Lager anderer Art. In einem Dubend Bieh-, einem halben Dubend 
Gepädiwagen und mehreren alten Perſonenwagen zweiter Klaſſe 
war ein halbes Dorf einquartiert. Das ſah zwar in dem gleißenden 
Sonnenlicht jehr reizvoll und maleriich aus. Aber —? Auf dem 
Bahnjteig und in der proviſoriſchen Reftauration hatte die Konfufion 
den größten Grad erreicht. Da ich durch das Gedränge nicht Durch 
konnte, jchlich ich mich zum ſüdwärts ftrebenden Zuge, deſſen Führer 
jo freundlich geweſen war, zwei Stunden lang auf unſeren Binnenzug 
zu warten. Ein Glüd, fonft hätte ich desfelben Tages nicht mehr 
weiter gelonnt, da der nächfte Zug exit um fieben Uhr abging. Wäh- 
rend ich einfteige, bemerfe ich den Deputierten des Wahlkreiſes, dem 
als Obernothelfer von allen dienftfreien Beamten ſtark die Eour 
geichnitten wird. 
Monteleone, 14. September 1905. 

Bann diejer Brief fertig wird, und wann er ankommt, chi lo sa; 
denn wie und wo foll man inmitten all diefer Aufregung zu Ende 
kommen, und wie kann die Boft arbeiten, wenn die Eifenbahn verjagt? 
Die foeben eingetroffene „Tribuna” fchreibt von hier: „Der Tele- 
graphendienft läßt viel zu wünſchen übrig, da die Telegramme in 
Catanzaro, dem Sitz der Präfektur, angehalten werden. Die Züge 
fommen mit jtandalöfen Berfpätungen an. In Monteleone fehlen 
Gafthäufer und Reftaurants; die Stadt ift völlig ungeeignet für den 
Strom der fremden Beamten, Soldaten und Xournaliften. Sogar 
Wafjermangel macht ſich bemerkbar” uſw. Doc) nehmen wir unferen 
Bericht wieder auf. Im Südzug angelommen, hieß es noch lange 
warten, und fo hatte ich Gelegenheit, den Gejprächen auf dem Bahn- 
jteig zu laufchen. Drei ehrfame Bürger ergingen ſich im Lob der 
Wohltätigkeit, die von allen Städten Italiens geübt wird, nament- 
lich rühmten fie Mailand, das allein jchon eine halbe Million auf- 


Kalabrien: Bauart der Häufer 49 


gebracht habe. „Aber,” und da3 war ihr einftimmiges Finale, 
„bei der Verteilung reden zu viel Leute mit, und etwas bleibt immer 
hängen. Dan müßte ein einziges Komitee aus ehrliden 
Leuten bilden.” Der einzige Mitreifende im Abteil, ein intelligent 
ausſchauender junger Ingenieur, gloffierte da3 Gefpräch mit einem 
Achfelzuden und der Bemerkung: „Vielleicht haben die Leute recht. 
Aber felbft zugegeben, daß nichts geitohlen wird, jo wird die Hilfe 
doch infolge unferer fchlechten Bureaukratie illuſoriſch, da jede 
geichentte Lire durch fo viele Dutzend Behörden und Ober- und Unter- 
fommiflionen gehen muß, daß ihre Ankunft nicht nur verjpätet, 
ſondern mıch ihre Gefumdheit gefährdet wird. Das ift eben Syſtem 
bei uns; ich beflage es, aber ich kann e3 nicht leugnen.” Endlich 
fährt der Zug. - Mein Gegenüber beflagt, daß ihn das Erdbeben 
in feinem Gefchäft gefchädigt Habe. Er mußte Majchinen in Amanten 
aufftellen, was durch das Unglüd unmöglich gemacht wurde, meil 
auch in Amanten fich niemand mehr in die Häufer traut. „Willen 
Sie," fagte er, „was meine Meinung if? ch habe mir die be- 
Khädigten Häuſer angefehen. Natürlich! Wie waren fie gebaut? 
Und dabei haben mir fo und fo viele Baukommiſſionen, die mit ihren 
bureaufratiſchen Langfamleiten jeven Bau verzögern. Sie werden 
auf Ihrer Reife nod) viele Beweife für meine Anficht finden; denn 
ich fah, daß alle gut fundamentierten und ſolid gebauten Pillen, 
Kirchen, Paläfte uſw. widerſtanden.“ Das Geſpräch kam Hierauf 
auf einzelne Epiſoden der Schreckensnacht. Der Ingenieur ſprach 
von dem jungen, ſechzehnjährigen Mädchen in einem Dorfe bei 
Piz zo, das nackt herauslief und, als es vor ber Türe einige Männer 
ſah, aus Schamgefühl ins Haus zurückkehrte, um Kleider zu holen, 
und darin erſchlagen ward. Dann erzählte er mir von einem Stein- 
grubenarbeiter bet Paola, der fi} gemeigert habe, die Erdhütte 
diejer Grube zu verlaffen, und nun jedesmal, wenn ein neuer Stoß 
erfolge, der Nachbarichaft ein „Telegramm fende, d. h. ein Trom- 
petenlignal blaje, um kund zu tun, daß er noch lebe. | 
Zacher: Im Lande des Erbbebens. 4 


50 Kalabrien: Sommerſitze 


Indeſſen erreicht der Zug die Station Pi z zo. Am Gtrande 
jtehen Dutzende von Militärzelten. Auch wird mit dem Bau von 
Baraden begonnen, da die Einmwohnerjchaft des Hiftorifch berühmten 
Felsneſtes fich weigert, in die Häufer zurüdzulehren. Weiter! Um 
halb eins kommen wir nah Porto Venere, der Station von 
Monteleone. Ein einziger jogenannter Wagen hält vor dem Bahn- 
hof. & ift die „Poſtkutſche“, ein vorfintflutlicder Rappellaſten, 
den ich jedem Freund der Sinefitherapie empfehlen Tann. Bier 
Sitze hat er. Es glüdt mir, den vierten zu erhalten. Mitinfaffen 
find ein Oberleutnant, ein Feldwebel der Karabinieri und ein 
Bürgerömann. 560 Meter gilts Hinaufzufteigen. 15 Kilometer Weg. 
Aber die Hige! Der Oberleutnant jchläft fofort ein, nachdem er 
über die Fliegen- und Müdenplage gejchimpft hat. Sch befämpfe 
die Müdigfeit noch; denn hie und da ftehen ſtark beichädigte Bauern- 
häujer, deren Bewohner im Freien kampieren. &3 fieht wieder 
ſehr malerifh aus. Beſonders ein Haus gefällt mir; denn fein 
Portal iſt von fünf Riefenpalmen bewacht. Allmählich fchlafe ich 
auch ein. Doch der Oberleutnant, der fich wieder ermannt hat, 
flucht mich wach. Zornig zeigt er unten in3 Tal, wo eine Kompanie 
Soldaten, ſchwer bepadt, hinauffeucht. „Das wird wieder fchöne 
Fälle von Hibichlag geben!" Der Wagen, ein reiner Brütofen, 
ſchleicht wie eine Schnede. Wir fchlafen wieder ein. Nach zivei- 
ftündiger Fahrt halten wir an einem Brunnen. Alle fteigen aus 
und ftürzen der Labung entgegen. Ich begreife jebt das alt-italienifche 
Sprichwort: „Wa3 wäre da3 Waſſer für ein herrliches Getränf, 
wenn e3 verboten wäre!" Bald darauf folgt ein neuer Brunnen 
mit einem Waſchhaus. Diefes ift ftarf belebt. Alſo fcheint in Monte⸗ 
leone da3 Alltagsleben wieder eingelehrt? Eine Halbe Stunde 
jpäter ſtärke ich mich in einem Loch von fogenanntem „Albergo“ — 
mich ſchüttelt's noch, wenn ich an da3 Ejjen denke! Kaum bin ich 
wieder Menſch, gehe ich auf die Jagd nach relativ befjerer Unterkunft, 
finde fie auch, — und dann beginnt der Stadtbummel. 


Kalabrien: Dtonteleone 51 


Monteleone, da3 viel genannte! Es hat 15000 Ein- 
mwohner, ift alfo nach hiefigen Begriffen eine „cittadina“, eine 
reſpektable Stadt. Es hat eine Unterpräfektur und demzufolge 
außer den Randbaronen noch Beamte. Das gibt der Stadt ein „Air". 
Außerlich zerfällt es in eine Bauern-, Bürger- und Herren-Stabt. 
&3 hat auch feine Vergangenheit. Davon fpricht da3 von Friedrich II 
gebaute Kaſtell, jet Kaferne, das viel Ähnlichkeit mit dem eben- 
falls fridericianifchen Kaftell von Lucera in Apulien bat, noch mehr 
aber jchreien von dem „Einft” die Straßennamen und Wirtshaus⸗ 
fchilder. Überall lieft man „Ipponion“ oder „Vibonia“. Xpponion 
hieß die Stadt, die von den Phöniziern gegründet fein joll, zur 
Griechenzeit, Vibonia bei ven Römern. Cicero Hat hier zweimal 
auf der Flucht vor Clodius und einmal vor Antonius in der Billa 
jeines Freundes Sica Aſyl gefunden. Diejer hohen Vergangenheit 
entiprechend gibt eg auch zwei gelehrte Gefellichaften, die Alademie 
der „Inconstanti Ipponesi“ und die 1752 gegründete „Accademia 
Florimentana degli Investiganti“. Weniger entipricht. dem 
antifen Ruhm die moderne Hygiene. Mit Schaudern gedenfe 
ich meines erften Abfteigequartier3, da3 mir ein Gepäckträger fälſchlich 
als das Albergo Centrale bezeichnet Hatte. Welcher Schmubß, 
welch mijerables Eſſen. Aber was für ein Panorama hat dies Neft! 
Vom Kaſtell aus erblickt man die Nordküſte Siziliens, den Atna, die 
Straße von Meſſina. Homers Odyſſee, Schillers „Taucher” und 
„Ibykus“ werden lebendig; denn auch Ibykus war ein Kalabreſe. 
Der. 19658 Meter hohe Aſpromonte, der Südkalabrien beherrſcht, 
ſpricht von Garibaldis Putſch und ſeiner Gefangennahme im Jahre 
1863, und von den faits et gestes des großen Räuber? Mufolino. 

Wie ich ſchon telegraphierte, merkt man im Zentrum der Stabt 
wenig vom Erdbeben, objchon alle Häufer im Innern bejchädigt find. 
Aber wie wurde mir, al3 ich in den gegen da3 Meer gelegenen 
Stadtteil, m die Straßen Enrico Gagliardi, Terra Vecchia und in 
die Via Forgiari fam! Die legtere Straße durchichneidet die Stadt 

| 48 


52 Kalabrien: Erdbebenvermwüftung 


bon Südweſten nach Südoſten und fteigt zur Höhe, wo das alte 
Normannenlaftell ragt. Sch glaubte, Kriegsberichterftatter zu fein 
und in eine Stadt zu kommen, die nach langem Bombardement 
genommen wurde. Nur langjam fam ich vorwärts. Jeden Augen- 
blid hielt mich ein bleicher Dann an und fragte, ob ich Negierungs- 
baumeifter jei. Als ich mich al Journaliſt vorftellte, mehrten ſich 
die Leute, die mich anſprachen, um ſich und ihr Leid zu empfehlen. 
Ein Herr gab fich als „Direktor” de3 Rofalblattes zu erfennen und 
jprach lange und eindringlich auf mich ein, damit ich die Aufmerffam- 
feit der Regierung auf dies fruchtbare und doch fo arme Land lenken 
follte, dad zugleih vom Großgrundbeſitz, vom Analphabetismus 
und von der Gedächtnisſchwäche der Regierung betroffen jei. Eiſen⸗ 
bahnen, Wege, Urbeitögelegenbeit wollen wir!" Wie joll ich ihm 
helfen? Ich erfundige mich nad) den Opfern. Zum Glüd find es 
nur fieben Tote und ein fchönes Pferd. Sch gehe bis vor die 
Stadt, um auf dem Rückweg die Einzelheiten genauer zu prüfen, 
nachdem ich von außen den Sejamteindrud genofjen habe. Zur 
Rechten find viele Soldaten emfig im Baradenbau tätig. Daneben 
ift ein Lager von fogenannten Zelten. Wie foll ich dad Sammel⸗ 
ſurium von Lumpenteppichen, Vorhängefegen und fchmusigen 
Laten beichreiben? Weiter zurüdgehend ſehe ich links ſechs total 
demolierte „Häufer”. Viel Arbeit hatte das Erdbeben mit ihnen 
nicht. Ein Holzgeitell, deſſen Rahmen mit Feldſteinen und Schlamm 
ausgefüllt waren, etwas anderes find fie nicht gewejen! Weiter! 
Rechts ein neues Lager von soi-disant-Zelten. Ich möchte Dialer 
fein, um die Typen aufzunehmen. Beſonders auffallend find 
mehrere Greiſe in Landestracht, blaue Kniehoſe, aber Iofe, nicht 
zuſammengeſchnürt am unteren Ende, Darunter weißleinene Unter⸗ 
hofe, blaue Jade und auf dem Kopfe die geitridte Sadmüke, wie 
fie die Sardinier tragen; ihr Ende reicht über den Naden. Wie 
ſeltſam doch das Erdbeben fpielt! Weiter links folgen mehrere 
Häufer, die jeden Augenblid einzuftürzen drohen; zwifchen ihnen 


Kalabrien: Erdbebenverwüſtung 53 


ragt aber ein ebenerdiges Mittelding zwiſchen Haus und Hütte, das 
völlig unverlegt if, und in feiner Türe fitt ein fchmieriges Weib, 
deſſen proßgige Haltung eine Mluftration zu dem befannten Bibelvers 
zu fein fcheint: „O Herr, ich danke Dir, daß ich nicht fo bin, mie jene 
Zöllner und Stinder!" Seltſam ift auch, daß an vielen Häufern 
die Baltontüre famt Fenstern und Holzrahmen unverlett blieb und 
nur ſchräg über das Ballongitter gelehnt wurde, während die Seiten- 
gebäude einjtürzten. Nach oben hin mehrt fich der Schutt auf den 
Bürgerfteigen. Wie leichtfinnig doch da3 Volk ift; in mehreren im 
oberen Teil zu Ruinen gewordenen Häufern finde ic) das Erdgeſchoß 
wieder bewohnt! Rechts fommt eine Kirche. Sie muß ſtark be- 
ſchädigt fein, denn im ihrem Portal ist ein proviforifcher Altar auf- 
gebaut. Esſ wird aljo Meſſe im Freien abgehalten. Die Straße 
verbreitert fi) zum Fruchtmarkt. Eine Schuppenbarade fteht 
dort neben einer großen Anzahl von Würfelzelten, von denen einige 
gar kokett ausftaffiert find. Ihre Bemohner geben fich wie „zu 
Haufe”; die Mädchen und Frauen ftiden, ftriden oder ſitzen an der 
Nähmaſchine. Sie fcheinen fich ſchon an das Yuftige Lagerleben 
gewöhnt zu haben. Daneben fieht man auch armfelige Bettzelte, 
die nur vier bis fünf Fuß hoch find. Im höheren Teil der Straße, 
wo freilich viele armfelige Häufer ftanden, gibt's arge Lüden, da 
viele Diefer elenden Bauten in fich zufammenfanfen. Unterhalb 
des Schloſſes ziehen jich Wiejen und Gärten Hin, die alle in Zelt- 
und Wagenburgen verwandelt find. Das gleiche gilt von der tiefer 
gelegenen Promenadenſtraße und vom Stadtgarten, deren Zelte 
und Lumpenhüllen eigentümlich Eontraftieren zu den ‘Palazzi des 
Unterpräfelten und der „Herren” der Stadt. 

Ich muß jchließen. Im „Saal” Haben fich die Offiziere der 
Infanterie und des Pionierforps zum Abendefjen eingefunden und 
rufen mir zu, daß much ich feiern foll. Die Armiten; jie find hunde⸗ 
mübe und heben kaum noch Luft, zum Eſſen Toilette zu machen. 
Ich habe ftet3 ein Faible für die italienifchen Offiziere gehabt; aber: 


54 Kalabrien: Olwald 


feitdem ich gejehen habe, wie fie beim Stützen der Häufer, beim Bau 
der Baraden ſelbſt mit zugreifen, fteigt meine Hochachtung noch. 
Und mie liebenswürdig find fie erft in der Unterhaltung! .... 
„Seduld, meine Herren. Ich bin gleich fertig!" — 


— 


Monteleone, 15. September 1905. 

Pathetiſch möchte ich nicht gerne werden, und doch hält es 
ſchwer, ruhig zu bleiben, wenn man ſolches Elend fieht, riecht und 
hört, wie wir Sournaliften in den lebten beiden Tagen. Ych bin 
nicht der einzige, dem das Gefchaute, Gehörte, Erlebte noch nach- 
zittert; Herr Barzini, der Speziallorrefpondent des „Corriere 
della Sera”, der erjt vor vierzehn Tagen aus Tokio zurüdgelehrte 
Kriegsberichterftatter, und Herr. Malagopdi, der Speziallorre- 
ſpondent der „Tribuna”, der font in London wirkt, erzählen mir 
jchaudernd, daß auch ihre Nerven kaum ausreichten. Andere Leute, 
die Land und Leute fchon feit Jahren Tennen, nehmen freilich die 
Ereigniſſe Taltblütiger auf. So fagte mir ein Humoriftiicher Ober- 
leutnant der Infanterie, ehe ich meine Rundfahrten begann: „Regen 
Sie fich doch nicht auf! Wenn Sie ein Dorf gejehen haben, haben 
Sie fie alle gefehen; es ift überall Ja möme chose.” Aber der Herr 
hatte unrecht. Nachdem ich mit vieler Mühe ein Wägelchen mit 
einer Schindmähre aufgetrieben hatte — denn in Kriegszeiten wird 
alles Fuhrwerk von den Behörden requiriert — fuhr ich zunächſt 
nach dem Dorf San Gregorio talab, bergauf, auf langen 
Schleifen. Nach Halbftündiger Fahrt paffierte ich einen Oliven⸗ 
wald, der Hana Thoma in Entzüden verjebt hätte. Man 
hat eben als Deutjcher, dem Salabrien noch als die ungaftliche 
Räubergegend im Kopf herumfpuft, meiſt feine richtige Vor⸗ 
jtellung von dem natürlichen Reichtum und der wunderbaren 
Fruchtbarkeit diefes herrlichen Landes, das der Großgrundbeſitz 
und die pfäffiihe Bourbonendeipotie jahrhundertelang ohne 


Kalabrien: Kirchen und Pfarrer 55 


Bildung, ohne Wege, ohne jegliches Mittel zum Aufſchwung Tießen, 
und dem das neue Italien, objchon e3 ihm notdürftig Straßen und 
Wege baute, in vierzig Jahren much viel zu wenig gab. Über der 
Bewunderung de3 prächtigen Landfchaftsbildes hatte ich beinahe 
des Erdbebenſchreckens vergejfen. Doch wie ward mir, als wir um 
eine Ede bogen, und ich mich plößlich bei den erſten Häufern vor der 
Wirkung der Kataftrophe jah! Eilig gehe ich über einen Pla&, auf 
dem ſchon Bauholz aufgeftapelt war, dad von der Küfte mühjfelig 
binaufgefchleppt wurde, in die erjte Straße, infofern nıan bon 
Straße noch reden darf, da man tatfächlich auf meterhohem Schutt 
Borübungen zum Alpenkrareln machen fonnie. Der erfte Anblid 
war erichütternd. Kein Haus unbejchädigt. Entweder war die 
Borderwand umgellappt oder eine Seitenwand; ſehr viele Häufer 
waren auch einfach in fich felbft zufammengefunten; andere — und 
das machte den ſeltſamſten Eindrud — hatten da3 Dach unverjehrt, 
während an den oberjten Eden links und recht3 große Löcher Hafften, 
gerade al3 ob ein Rieſenkind jich damit erluftiert hätte, einige Fetzen 
abzureißen. Wieder andere Häufer machten den Eindrud, ala ob 
ſolch ein Rieſenkind ihnen von oben einen Fauſtſchlag verſetzt hätte. 
Freilich. Wie waren alle diefe Behaujungen auch gebaut? Als 
Rippen diente im Feuer verfohltes Holz; die jo gebildeten Rahmen 
waren mit getrodnetem Lehm oder Schlamm ausgefüllt, ohne 
Mörtel, nur hier und da durch eckige Feldſteine gejtügt und geſtärkt. 
Grauenhaft wirkte e3, wenn man in die offen geredten Stübchen 
blidte und an irgend einer Wand noch ein armſelig Bild, ein Schränf- 
hen, eine Heiligenftatuette hing. Als ich die Wohnungen gefchaut, 
fam die Reihe an die Bewohner. Jeden Augenblid nahte jich mir 
eine SJammergeftalt, aber — come si fa? — ich veritehe fein Kala- 
brefiich. Als ich zum Eingang des Dorfes zurüdtehrte, läuft mir 
der Pfarrer entgegen, der mich geradezu zwingt, die Kirche zu 
befichtigen. Außerlich zeigt diefe mur wenige Verlegungen, aber 
drinnen wohnt da3 Grauen. Das Gotteshaus ift ruiniert und muß 


56 . Kalabrien: Rundfahrt 


wie alle anderen Häujer von Grund aus aufgebaut werden. ch 
jtaunte ob der Leichtherzigfeit des guten Pfarrer; denn der Auf- 
enthalt in feinem Amtshauſe war nicht gerade gefahrlos; er aber 
tief im Zidgad herum, um mir feine geradezu ſcheußlich ärmlichen 
Kicchenfchäe zu zeigen. Hauptjächlich war es ihm aber darum zu 
tun, mich den Glasſchrein fehen zu laffen, in dem bisher der „Patron“ 
der Kirche in Form einer vergoldeten Büfte refidierte. „Ein Wunder !“ 
ſchrie er förmlich, „lehen Sie doch nur; das Glas blieb intakt!“ 
Seltſamerweiſe hatte der Gute es doch für rätlich gehalten, die Büfte 
deö „patrono“ aus dem intaft gebliebenen Schrein nachträglich 
herauszunehmen. Man Tanıı ja nie willen. Die anderen Leute, 
die ich ſah, und die mir vergeblich ihr Leid Hagen wollten, jchienen 
ziemlich ruhig. War e3 Betäubung oder Rejignation? Wer dag 
wüßte? Ich erfundige mid) nach den Opfern. Sieben Tote und 
nur wenige Verwundete. Das jchien mir wirklich ein Wunder. Aber 
der Pfarrer, den ih um Aufflärung bat, eilte davon, um mit den 
Bimmerleuten zu reden, die gerade begannen, eine Barade aufzu- 
richten. 

Weiter! Nach zehn Minuten Rumpelfahrt komme ich zu dem 
Heinen Dorfe Mezzo Cajale. Die Berwüftung ift hier voll- 
ſtändig. Der Ort iſt menjchenleer. Erſt nachdem ich durch die 
Trümmerftätte Hindurchgellettert bin, fommt mir ein Mann, der in 
Kleidung und Haltung ganz gebildet fchien, von vier armfeligen 
Mütterchen begleitet, entgegen. Natürlich) fragt auch er, ob ich 
„Ingenieur“ (Baumeifter) jei. Ohne Gefte, ohne Pathos fagte er: 
„Sie haben gefehen. Fünfundfiebzig Tote zählt unjer Heines Dorf. 
Es iſt völlig zerftört. Sch bin allein mit diefen Frauen zurüd- 
geblieben. Die anderen Geretteten irren in der Campagna herum 
ohne Dach und Brot." Als ich ihm darauf tröftend fagte, wie die 
Wohltätigkeit jich in ganz Stalien jo wunderbar geregt, und daß u. a. 
Mailand allein ſchon über eine halbe Million aufgebracht habe, da 
kam Leben in diejen anfcheinend apathilchen Mann. Bitter lächelnd 


Kalabrien: Zammarö 67 


tief er: „Ma chd! Zu una kommt doch nichts! Da gibt’3 zu viele 
Miteffer!" Was jollte ich al Ausländer jagen? ch wandte mid) 
ab und ging weiter, während der Mann feinen Begleiterinmen eine 
philoſophiſche Definition des Weſens gab, da3 man gemeineuropäilc) 
Publizift benamſt. MS ich mich an einer Straßenede zu nahe an 
die Häuferwand wagte, ftießen die Frauen einen Schredenäruf aus. 
Sie Hatten Recht. Man wandelt nicht ungeftraft unter wankenden 
Dächern. Gleich darauf unterdrüdte ich aber jelbft einen Schredens- 
ruf, denn die Kirche, die ich jeht jehe, Hat befonders dran glauben 
müfjen. Gteinbroden von ein bi3 zwei Meter Durchmeffer wurden 
von ihr zehn, zwanzig Schritte weit fortgejchleudert. Zurück vors 
Dorf in den Wagen. Nad) einer Viertelſtunde erreichten wir ein 
neues Dorf, Fammar öô. Der im fchönften Lumpenfehen-Anzug 
prunkende Kuticher hielt wieder vor dem Ort, da es unmöglich ift, 
die Straßen zu durchfahren. Als ich wenige Schritte getan, traute 
ich meinen Augen faum. Dies Bild der Zerftörung übertraf alles, 
was ich bisher geſchaut. Ich konnte buchjtäblich nicht mehr weiter 
und hatte vielleicht zum erſten Dial in meinem Leben eine Ahnung 
bon der Bedeutung der Redensart: „Alles kurz und Klein ſchlagen.“ 
Worte reichen nicht aus, um den Anblick wiederzugeben. Als ich 
mich von meinem Schred ein wenig erholt hatte, erblide ich im 
Hedentor eines Gartens ein Mädchen, das mir winkt, näher zu 
kommen. Ich gehorche und jehe mich vor einer malerijchen Szene. 
Eine ganze Familie, Urahne, Großvater, Mutter und Kind. Gie 
haben fi aus Brettern, Tüchern, Rufen, Stangen, Körben not 
dürftige Lagerftätten gebildet und fiten um ein euer herum, mo 
fie feit der Schreckensnacht das erjte warme Eſſen bereiten. Der 
Patriarch, der mit feinen hohlen gelben Wangen, den erlofchenen 
tiefliegenden Augen, dem zottigen Biegenbart, ganz gut die Rolle 
des alten Moor im Hungerturm fpielen könnte, befiehlt, mix einen 
Stuhl zu bringen. Ich frage nad) den Opfern. „Unfer Ort zäblte 
vierhundert Einwohner; davon find vierundfiebzig tot und hundert⸗ 


58 Kalabrien: Panik 


bierundfechzig verwundet!" „Donner!” rufe ich unwillkürlich. In 
diefem Augenblide nähert fich ein ſchlankes, etwa fechzehn Jahre altes 
Mädchen, eine Schönheit, die jeden Maler in Efftafe verſetzen müßte, 
und fagte ruhig: „Meiner Schwefter wurden beide Beine zerfchmet- 
tert." In „Emilia Galotti” heißts belanntlich: „Rönnte man diefen 
Ton vor Gericht ftellen!” Ahnlich vente ich auch: Könnte ich die 
Ruhe, diefen Tonfall phonetifch wiedergeben! E3 mar herzzerreißen. 
Aber wer nicht ruhig tvar, da3 war der Patriarch. Einen Wafferfall 
von bitteren Worten in reinem Stalienifch fprudelte er hervor. O 
diefe Skepſis! Auch er glaubt nicht an die Beihilfe der Negierung; 
auch er weiß ficher, daß fich fein Grofchen in feine Tafche verirren wird. 

Weiter! Das heißt, weiter gehts nicht. Wir müſſen nad) San 
Gregorio zurüd, weil die Straße verfperrt ift. Unfer nächites Ziel 
it Pifocopio. Erft nach einer Stunde erreiche ich das nur 
wenige Kilometer entfernte Neft. Auf der Fahrt jehe ich viele Teicht 
Verwundete u. a. eine ſchlanke Jungfrau, deren Nafenbein zer- 
fhlagen wurde. Auch fchmerer Verwundeten begegnet man, die 
auf impropifierten Bahren nach der Stadt gefchafft werden. Schnell 
geht das zwar nicht im Gebirgaland, zumal bei diefer mörderlichen 
Hitze, mo man fich alle Kleider vom Leibe reißen möchte. Alle ziwei- 
Hundert Schritte fegen die Träger die Bahre auf den Weg und ſich 
jelbft in ven Graben. Wie ich dur) San Gregori fahre, ſehe ich 
plöglich, wie an einem Kreuzwege die Leute derart zufammenlaufen, 
als wollten fie fich eine Echlacht liefern. Halt! fermol vetturalel 
Ich ſpringe Herzu und — fchade, daß ich Fein Negifjeur bin. Hier 
hätte ich Maſſenbewegung der Statiſten ftudieren können. Hat das 
Talabrefiiche Volk aber natürliche Schaufpiellunft!! Das war ein 
Geheul, ein Gejammer, ein Blidichleudern, ein Augenauffchlag, 
ein Geftenfpiel! Und warum? Sie hatten einen neuen Stoß 
berjpürt. Noch gellt mir der Notjchrei: „EI terramut!“ in den 
Ohren. Vergebens fuchen die beiden Karabinieri, Die würdig ftill für 
die Aufrechterhaltung der Ordnung forgen, die Leute zu beruhigen, 


Kalabrien: Die Karabinieri 59 


vergebens jagen ſie: „Ihr jeid ängftlich, Ihr ſeid nervös, e3 war fein 
Erdbeben, fondern nur ein leiſes Echo; Ihr wißt Doch, was gefchieht, 
wenn man emen Stein ind Waſſer wirft. So gibt3 auch auf der 
Erde leichte Wellen, wenn ein Beben gemwejen iſt!“ Viele tun darob, 
al ob fie den Troft glaubten; intelligentere Burfchen aber, die offen- 
bar antimilitariftiich find, wollen ſich von der bewaffneten Macht 
nicht imponieren laffen und widerſprechen: „Seht doch, der Tele- 
graphendraht zittert noch!” Und mich rufen fie zum Kronzeugen 
an, doch ich kann nicht3 ausſagen. Ich hatte nichts gefpürt. Offenbar 
fehlte e8 mir jebt an Erdbebenſinn; denn auch in der Präfektur von 
Catanzaro lächelte ich ungläubig, ald der Herr Rat feinen Vortrag 
erichredt unterbrach: „Fühlen Sie nichts? Es ſtößt!“ (Sm beiden 
Füllen mar wirklich an anderen Orten jedes Mal durch diefe Stöße 
Unheil angerichtet worden.) Bald darauf kam ich nad Pifo- 
copio, einem Ort von 1335 Einwohnern. Am Eingang empfängt 
mich der Pfarrer. Er fragt mich, mas ich fei. Kaum hat er erfahren, 
daß ein Mann der Preſſe vor ihm fteht, fo faltet er die Hände und 
beichwört mich um Gotteswillen auf die Regierung einzumirten, 
daß die Verteilung der Spenden nicht den bürgerlichen Behörden, 
jondern nur dem Militär oder den Karabinieri anvertraut werde. 
AB ein Karabiniere herzutritt, der fich freundlich als Führer anbietet, 
wiederholt er jeine Worte und befteht darauf, daß ich fie in meinem 
Notizbuche firiere. Zum Schluß rief er emphatifch aus: „Und dag 
fage ich, Don Antonio Sarulli, königlicher Pfarrer des einſt gemefenen 
Bilocopivo!" Das Heine Männchen wirkte beinahe komiſch, und doch 
waren feine Worte jehr ernft. Ernſter Hangen fie noch, als der 
Bürgermeifter Graf E. zu und hertrat und fie mit größerer Bitterfeit 
wiederholte. Der Mann ſah aus, als ob er in den lebten Tagen 
plöglich alt geworden wäre. Auch er bot fich als Führer an, und 
bald fammelte fi) um und eine Gruppe von zwanzig Männern, die 
in allen möglichen Arten von Arbeitskleidern ftalen und taten das. 
gleiche, fo daß oft drei bis vier zugleich Iprachen. Der eine zeigte 


60 Kalabrien: Die Hilfsgelder 





mir die Ruinen, unter denen die meilten Toten hervorgeholt wurden, 
der andere warnte mid) vor einer fiurzluftigen Mauer, ein dritter 
309 mid) von einem gefährdeten Haus zurüd, der vierte erzählte mir 
Fülle von wunderbarer Rettung. „Wie groß ift die Zahl der Opfer?“ 
— „59 Tote und 200 Verwundete“, jagte der Sindaco. „Ein Glüd, 
daß hier meift nur Bauern mohnen, die auf dem Felde waren, um 
bie Feigen- und Olbäume zu bewachen, fonft wäre die Dreifache Zahl 
geftorben. Die Stadt ift vernichtet. Wollte man die Trümmer 
fliden, fo wäre das die reinfle Jronie. Die Negierung muß den 
ganzen Ort von neuem aufbauen, fonft geht die Hälfte der Ein- 
wohner nach Amerika und der Reſt ftirbt vor Hunger, denn was 
follen die Beute anfangen?“ Weit kommen wir nicht, denn nachdem 
wir drei Gaſſen vorfichtig abgefchritten hatten, verhinderte der meter- 
hohe Schutt jedes weitere Bordringen. Der Herr Sindaco begann 
wieder von Hilfägeldern zu jprechen. Ein alter Mann ftrich fich 
eifrig durch feinen greifen Bollbart und beftätigte lebhaft, daß die 
Regierung die Gelder nur den Karabinieri geben dürfe. „Nicht 
wahr, Graf”, fuhr er dann fort, „Du weißt doch, wie e3 und 1894 
erging; ic) Habe Damals nichts gekriegt und Du auch nicht. Und doch 
war ich, was ich jebt bin, Gemeindearzt. Zum Glüd iſt die Regie- 
rung ſchon fo Aug geweſen, den ganzen Rettungsdienft in eine Hand 
zu legen. Umd Erzellenz General Lamberti geht auch ſtramm genug 
bor.” Als ich mich verabfchieden wollte, erneuerte der Bürgermeifter 
feine früheren Bitten und empfahl als beftes Mittel die Auffrifchung 
des Geſetzes, das ſeinerzeit für die Erdbeben in Ligurien erlafjen 
worden ilt. | 

Dann gings zurück nah Monteleone. Beim Abendefjen 
ſprach ich mit den Tiſchgenoſſen, Bionteroffizieren, dem Provinzialarzt 
und Sanitätsbeamten, über dad Mißtrauen der Bevölkerung und 
über ihre Apathie. „Was wollen Sie?" meinte der Provinzialarzt, 
„die Apathie könnte man al eine Yolge der Schredensnacht und der 
fortgefepten Nervofität, welche die wiederholten Stöße verurfachen, 


Kalabrien: Erdbebenpolitik 61 


erflären, aber die Kalabreſen find-auch von Ratur aus apathifch und 
indolent. Das ift eine Raſſeneigentümlichkeit, für Die ich noch feine 
Erklärung, auch feine hiſtoriſche, gefimden Habe.” — „Was aber 
das Mißtrauen anbelangt”, fagte ein Journaliſt, „fo lann auch ich 
davon erzählen, denn mir haben Pfarrer, Arzt und Bürgermeifter 
die gleichen Reden gehalten wie Ihnen. Berechtigt ift die Skepſis, 
denn zum Kuckuck auch wozu haben wir derm den häßlichen Streit 
zwiſchen den Stadt- und Dorfpmteien? Und muß nicht aud) ein 
Erdbeben der Wahlpolitif dienen? Die Gegner des Abgeoröneten 
fürchten doc) nicht mit Unrecht, daß deſſen Anhänger bei der Ver⸗ 
teilung der Liebesgaben bevorzugt. werden.” An diefe Worte mußte 
ich denfen, al3 ich eine Stunde darauf im Palazzo des reichiten 
Bürgerd, Gagliardi, wo General Lamberti wohnt, den 
Heren Abgeoroneten traf. Der Hert, der por wenigen Jahren Unter» 
exgellenz; in der Boft geivefen mar, zeigte viel Zuvorkommenheit 
und ſtellte fich dem Vertreter eines deutſchen Blattes in allem zur 
Verfügung. Sch dantte ihm recht Iebhaft, aber ch habe bis jetzt von 
jemer Liebenswürdigleit noch Teinen Gebrauch mechen können. 





Monteleone, 16. September 1905. 

Geftern Vormittag ſetzte ich meine Bidzadfahrt fort, jah aber 
nur noch zwei Orte. Zuerſt gings nad) Dften, nad) Stefan 
coni. Diesmal hatte, da es ſtarke Steigungen abzumadjen galt, 
mein Kutſcher zwei Pferdlein vorgeſpannt. Im ſcharfen Trabe 
ging's talab. Die Sonne arbeitete „voll und ganz”. MB ber. Wagen 
bor dem Orte hielt, fand ich die Eingangsſtraße ganz menjchenleer. 
Nur ein friſches Mittterchen mit dem maleriſchen weißen Kopftuch, 
da3 links und rechts jich zur Haube verbreitert, ſaß vergnägt auf der 
Schmelle eines halbierten Hauſes und. Inabberte mit dem einzigen 
Bahn, der dafür aber riefig groß war, an einer Feige herum. Das 
Mütterchen zeigte fi) auch ſehr ſchwatzluſtig, aber leider. verſtand 


62 Kalabrien: Brotverteilung 


ich’3 nicht. Mein Kuticher, der Wagen und Pferde verlaffen Hatte, 
jchüttelte auch den Kopf ob des Gallimathiad und riet mir, weiter zu 
gehen. Wir Hetterten über gewaltige Trümmer an der geborftenen 
Kirche vorbei und der Kuticher hörte dabei nicht auf, mir Vorficht 
anzuempfehlen, indem er voller Argwohn auf die Kirche zeigte. 
Nun ja, das Erdbeben Hatte diefer auch ſchändlich mitgefpielt. Die 
Türen ftanden offen, offen aber auch die halbe Hintermand und das 
Dad. Der für ein verlorenes Neſt aus dem Hintermald über- 
raſchend ſchöne Barodaltar war mitten durchgeriffen und feine präch⸗ 
tigen korinthiſchen Säulen lehnten Iin® und rechts an der Chor- 
wand. „Sehen Sie das Wunder!” rief der Kutſcher ganz begeiftert; 
„Die Statue des Patrons ijt heil geblieben, fie fteht noch ganz mie 
ſonſt auf dem Altar!” 

Wir fchreiten weiter. Ein Haus fiel mir auf; e8 war in eine 
rieſige Jahrmarktsbude verwandelt. Plötzlich erbliden wir einen 
Photographen und daneben einen Lofaltorrefpondenten. „Gehen 
Sie weiter, zur Piazza”, fagte mir der letztere, „dern eben findet 
Brotverteilung ftatt. Überzeugen Sie fich felbft, mas man. dem 
Volke für Zeug anzubieten magt! Das Brot ift fauer!" Im Laufe 
des Geſprächs entpuppte ſich der Mann als Sozialift. ch begann 
das übliche Berhör. „Wie viel Opfer?” — „94 Tote und 300 Ver⸗ 
wundete auf 2000 Einwohner.” Die Piazza war gefüllt mit etwa 
Hundert Menjchen, meiſtens Frauen. Ein Gemeindebeamter rief 
die Namen aus, und der oder die Gerufene nahm ein halbes Brot, 
eine Art Graubrot, "/ Kilo fchmwer, in Empfang. Geftern hatte auch 
der Bürgermeijter von Pijocopio über die geringe Menge Brot 
geflagt und empört binzugefeßt: „Und mit einem Fünftel Kilo ſoll 
man nod) dazır die pappa (Brei) für die Kleinen kochen!“ Hier 
fchienen aber die Brotempfänger weniger kritiſch zu fein; ich jah 
ältere Männer, die ihr Stüd, als fie es nach Haufe trugen, zärtlich 
tätfchelten. Überhaupt fiel mir das gefittete Benehmen dieſer 
Armen auf; denn. die Verteilung ging ohne Lärm umd ohne jedes 


Kalabrien: Durſt 63 





Gedränge vor ſich. Sch wurde auch von niemand angebettelt, wie 
e3 mir in Monteleone ſtets gefchah. Der Sozialift gefellte fich wieder 
zu mir und jchimpfte auf die Regierung. „Warum baut fie nicht 
„cucine economiche“ (Bollsfüchen), damit die armen Leute und 
beionder3 die Verwundeten etwas Warmes befommen?” Ich 
wollte ihn fchon auf die großen Entfernungen aufmerffam machen, 
auf die Verkehrsſchwierigkeiten im Gebirgsland, aber da kamen mir 
an eine langgejtredte offene Bretterbude, die Üüberrafchend fchnell 
hergeftellt worden war. Sie diente al proviforiiches Lazarett. 
Apathiſch Tagen die Kranken auf Bettjäden und Matraken und 
ſchienen e3 faum zu empfinden, daß fie jo zur allgemeinen Anficht 
ausgeftellt waren. Eine junge ſchöne Frau in Trauerfleidern ſaß 
in einer Ede mit ihrem verwundeten Kinde auf dem Schoß, ein 
Pendant zu der trauernden Witwe auf Vautiers „Leichenſchmaus“. 
Schöne Frauen find in diefer Gegend felten. Gie aber war eine 
Schönheit, die der ſchmerzverklärte, in der Gerne fuchende Blick noch 
eindringlicher machte. | 

Bor der Hojpitalbarade hatte man die Kirchenglode zwiſchen 
zwei Pfählen aufgehängt. „Ein einzig Haus ift ftehen geblieben”, 
jagt der Kutſcher, und zeigt auf die Ede; „eine Oſteria iſt's.“ Ich 
verſtand den Guten, weil auch ic) Durft hatte. Über Durft Hagt man 
hier überhaupt allgemein; denn der Wein der Gegend ift zu ſchwer, 
und durſtſtillend ift im heißen Sommer Staliens nur der Chianti, 
dazu find in Monteleone und Umgegend infolge ded Erdbeben 
mehrere Brunnen verfiegt, und Selterswaſſer gibt3 nicht, weil die 
einzige Fabrik der Gegend fo befchädigt wurde, daß kein Arbeiter fie 
zu betreten wagt. In der Wirtfchaft, einem ſchmutzigen Kramladen, 
jagen zwei Karabinieri beim Mittagefjen. Sie Hagten auch über. 
Durſt, da alles Brunnenmaffer fett dem Cröbeben warm geworden 
it. Sie waren von Caferta hierher kommandiert. Bereitwilligſt 
boten fie ihre Dienjte an, beklagten ihre Ohnmacht gegenüber dem 
großen Weh und Jammer, aber nicht ihren ſchweren Dienft. Nur 


64 Kalabrien: Zigeunerlager 


eine3 erfreute fie: daß eben dies einzige Haus feft ftehe und fie fo 
wenigftens eine Unterkunft für die Nacht Hätten. „Nette Unter- 
kunft“, dachte ich bald nachher, ala ich draußen war und zufällig mit 
gelindem Schreden nach oben jchaute; denn das einzige „feftftehende" 
Haus hatte eine halbe Seitenwand und einen Teil ded Dach ein- 
gebüßt. Als ich zum Wagen zurüdiehre, jagt mir der Kutſcher gleich- 
mülig: „Wir müfjen zur Stadt zurüd, da wir hier nicht weiter 
können; die Straße iſt blodiert." — „Alſo mas tun?" — ‚Wir müffen 
zur Stadt zurüd und aus einem andern Tor herausfahren!“ Schade, 
daß der Sozialijt nicht da war. Diefer eine Fall von Verkehrs⸗ 
jchwierigfeit wird fich bei der großen Ausdehnung des Erdbeben⸗ 
gebiet3 doch noch ſehr oft twiederholen. 

Sehr, ſehr langſam ging’3 wieder hinauf. Die Stadt wurde 
durchquert und hinaus ging’3 durch das Rordtor über eine ftattliche 
Allee. Links weit vor. dem Tor ift da3 Zeltlager der Soldaten. Nach 
einigen Kilometern biegt der Wagen nad) Often ab; in der Tiefe liegt 
in einer Mulde eingebettet der Ort San Onofrio. Geine 
brauntoten Dächer zeigen keine Beichädigungen. Er jcheint alſo gut 
davon gelommen zu fein. Diefer Eindrud mird verſlärkt, als der 
Kuticher nicht, wie bei den anderen Orten, vor den erften Häufern 
hält, jondern bis zur Piazza durchfährt. Hier erſt Heißt er mid) aus- 
fteigen und geradeaus zur Kirche gehen: Hier und da find Bettzelte, 
ZTeppichhütten und Lumpenlauben aufgeftellt, ein elender Wohnungs- 
erſatz, der an die Lagerftätten bon Zigeunern und Keljelflidern 
erinnert. Und wie jehen die Bewohner diefes Elend erft aus! Faft 
negerhaft zeigen fich die verküimmerten Gefichter. der alten Frauen. 
Stumpf, blöde ftarren fie auf den Fremden. Die Kirche war ein- 
mal. Hier hat das Erdbeben ferne Wut ordentlich ausgelaſſen. Das 
Trottoir, das rechtwinklig auf ihre Faſſade jtößt, it auf zwanzig 
Schritte meterhoch von ihrem Schutt bededt; Schutt, fozufagen; 
denn e3 find Steinbroden von anftändiger Größe darunter. „Ein 
Süd, daß das Erdbeben nachts paffierte”, jagt mir ein Mann, der 


Kalabrien: Beredfamkeit des Jammers 65 





aus emem der durch die Kirchentrümmer blodierten Häuſer heraus- 
geflettert ift; „wir jigen nämlich im Sommer vor der Türe und”, — 
Dabei zeigt er auf die Kirche — „die hätte ung ja alle erfchlagen. Mir 
fchaudert’3 noch!" Seine Rede wurde durch feine rundliche, behäbige 
Frau unterbrochen, die plößlich emen Heulanfall bekam, wie er fonft 
nur von neapolitanifchen: und trafteverinifchen Höferinnen erekutiert 
werden kann, wenn fie in Wut geraten. War’3 Naturell oder Schau- 
fpielerei? Ihrer Worte Schnelligfeit hätte Ten Parlaments- 
jtenograph einholen, ihre Geftenbehendigfeit fein Kinematograph 
aufnehmen können. Noch tönt mir aber ihr jchluchzender Singſang 
im Ohr. „Mann der Regierung“, hub fie an, „helft, helft! Wir 
haben fein Brot, fein Geld, feine Kohlen, fein nichts, und wenn der 
inter ommt ....“ — „Willſt Du wohl fill fein! Du verd ... 
Lältermaul”, fluchte der Gatte, der ausſah, wie Ludwig XI von 
Frankreich in der Darftellung Walter Seottd. Er mar fchäbig dezent 
gefleidet. Seht gemeffen, aber mit einer freudigen Bitterfeit, wie 
jie der Schmerz annimmt, werm er fi) an der eigenen Dual noch 
graufam ergößt, fuhr er fort: „Die Ernte Hatten wir gerade ein- 
gebracht; die liegt begraben. Wie follen wir nun die Trauben und 
Oliven einholen, da wir nichts haben, wo wir fie Hinfteden förmen? 
Alſo wär's beifer geweſen, wir wären: gleich geftorben. Der Tod ift 
ung doch ficher, enttweder durch Hunger oder durch Lungenentzündung. 
In drei Wochen beginnt: die Winterzeit mit ihrem unendlichen 
Regen, und wo bergen wir und: vor ihm? Ein Genieoberſt war hier 
und erflärte alle Häufer fiir unbemohnbar. Und dann will Die 
Regierung für den Ort mit 4000 Emmohnern nur Baraden Tür 
500 Mann bauen. Nette Regierung! Hi, Hi! Ja, laßt nur erſt den 
Regen kommen! Der bohrt ſich dann in die Riffe, und da fällt Haus 
für Haus en! Hi, Hi.” Der Mann konnte einen rafend machen. 
Ich hätte mich gern von ihm getrennt, aber er. mich nicht von meiner 
Ceite, da er mich führen müfje, wie er jagte, weil ich nach dem Aus⸗ 
fehen der Faſſaden fonft glauben könnte, der Schaden fei nicht fo 
Bader: Im Lande des Erbbebens. 5 


66 Kalabrien: Wilde Gejellen 


groß. In der Tat ließ er mich an einzelnen Häufern, die anfcheinend 
unverlegt waren, durch die offenen Fenſter bliden. Da jah man 
freilich handbreite Riffe. „Wie viele Opfer?" fragte ich, um ihn 
abzulenfen. „Zum Glüd nur 14 Tote, aber 300 Verwundete.“ Die 
Beit drängte, und, um den Dann loszumerden, fragte ich ihn, ob ich 
ihm eine Stärkung anbieten Tönnte. „Wo?" lachte er grimmig; 
dann aber fuhr er ſich eine Beſſeren befinnend fort: „a, der 
compare (Gevatter), der Kramhändler, deſſen Haus am menigften 
abgefriegt hatte, Hat vielleicht Wermut!“ 

Sm Kramladen faßen einige wilde Gefellen, die an Briganten- 
furcht leidenden Leuten wohl nicht gefallen hätten. 

Sie wechjeln nur unverftändliche Worte mit dem Kutſcher und 
aus den drohenden Mienen und der gleich darauf angenommenen 
äußeren Ruhe merke ich, daß es Streit gab. Nachdem ich mich von 
meinem Führer losgemacht, frage ich den mürrifchen Wagenlenker, 
was 108 war. Zuerſt ſchwieg er, dann aber fagte er mit verhaltenem 
om: „Der eine wollte durchaus mitfahren. Aber Leute, die ich 
nicht Tenne, nehme ich nicht.” Ich Hatte fo viel von „Ealabrefilcher 
Wildheit" gehört, daß ich froh war, daß die Sache bei Worten ftehen 
geblieben it, Anſtatt des wilden Gefellen belam mein Wagen, 
der langjam nach Monteleone zurücichlich, zwei Fahrgäſte auf einmal. 
Kleine Burjchen von ſechs und fieben Jahren, zerlumpt wie die 
Betteljungen Murillos. Der Kutjcher machte mid) auf den einen 
Barfüßler aufmerffam; er habe Vater und Mutter beim Erdbeben 
verloren. „Aber warum kam er denn nicht ins Waiſenhaus?“ Ein 
Achjelzuden war die Antwort. „Das Geſuch ift eingereicht!" O 
heilige Bureaufratie! „Uber wer fümmert fich um den Kleinen?“ 
Ein neues Achjelzuden. Ich bat den Kuticher, die Jungen auf den 
Bod zu nehmen, aber ed machte ihnen mehr Spaß, ſich Hinten auf- 
zuſetzen, und nun ging ein Kichern und Singen hinter mir an, daß 
e3 eine wahre Freude war. Al wir zur Stadt kamen, waren die 
beiden plöglich verfchtwunden. Einige Zeit darauf machte ich einen 


- Kalabrien: Unzufriedenheit 67 


neuen Rundgang durch Monteleone, das mir jekt größer erſchien, 
da ich viele Straßen pafjierte, die ich früher Üüberfehen hatte. Dabei 
fand ich, daß doc mehr Schaden angerichtet worden war, als ich 
bisher glaubte. Auch jah ich neue Zeltlager, da in den lebten beiden 
Tagen noch ganze Reihen von Häufern für gefährdet erflärt worden 
waren und deshalb geräumt werden mußten. Ich treffe einige von 
Bürgern der Stadt begleitete italienische Korrefpondenten, von 
denen zwei ebenfall3 aus Vorjicht im Zelt kampieren. Sch bat fie, 
mic) zum Bürgermeilteramt zu begleiten, was ihre Freunde aus der 
Stadt lachend widerrieten. Natürlich wieder die alte Gefchichte. 
Die Herren von der Stadtverwaltung fühlen fich durch das Militär 
zurüdgejegt und beflagen fich, daß dieſes alles allein tun wolle. Wer 
Necht hat, wie kann das ein Fremder entſcheiden? Beſonders 
berriche, fo erzählen die Kollegen mir, große Animofität gegen den 
General, der zu aufgeregt und reizbar ſei. Auch habe man ihn im 
Verdacht, daß er feine Soldaten in Monteleone zufammenhalte, 
anftatt fie nach auswärts zu ſchicken, um für den Fall, daß die Unzu- 
friedenheit des Volkes fich in Demonjtrationen, wenn nicht Schlim- 
merem entladen follte, vorbereitet zu fein. In einzelnen Städten, 
wie in Tropen, gab es ja auch ſchon Zufammenzottungen. - „Gott 
gebe nur, daß kein Regen kommt“, jagte einer der Kollegen, der das 
Leben im Zeltlager mitmacht und fo die Stimmung feiner Lager- 
genoſſen fennt. „Dann werden die Leute mild vor Verzweiflung; 
denn nicht nur alle ihre Vorräte an Ol und Frucht gehen in den halb 
zeritörten Häufern zu Grunde, nein, fie ſelbſt liegen im Waſſer und 
holen fich Krankheiten. Der Baradenbau geht auch viel zu langjam 
vorwärts!" — „Aber“, warf ich ein, „mo foll derm das Holz her⸗ 
tommen? Sn der ganzen Provinz ift ja Teind aufzutreiben, 
und die einzige Bahn, die von Norden Hierher führt, it un- 
zureichend.” — „Ach“, fagte er, „das ift es nicht allein; aud) 
unfer Militär arbeitet bureaufratifch." Stets das alte Lied vom 
Schema F! Zu | 
he 


68 Kalabrien: Mutige Pioniere 





Einige Zeit darauf treffe ich einen Pionieroberleutnant von 
unjerer Tifchgefellichaft. Ich fpreche ihn wegen des Baradenbaus 
an. Da wurde er fuchäwild. „Sa, find denn die Leute bier toll! 
Alles foll die Regierung tun. An Selbithilfe wie unfere Bauen in 
Oberitalien denken fie nie! Da hat die Provinz Catanzaro das große 
Waldgebirge Sila, aber bis jebt ift es noch Feiner Gemeinde diefes 
Gebirgswaldes eingefallen, Zugangsſtraßen zu bauen, und fo 
können wir da3 Holz, das vor unjerer Naſe liegt, nicht haben, ſondern 
find auf den Transport vom Rorden angewiejen. Und dann, meine 
Soldaten arbeiten freudig und eifrig, aber nicht alle Pioniere find 
auch Zimmerleute. Memen Sie, e3 hätte fi) auch nur ein Biefiger 
Bimmerntnn aus freien Stüden angeboten, una zu helfen? Im 
Gegenteil. Sie verlangen einen exorbitanten Tageslohn. Und die 
Kuticher erſt! Wir müfjen fie durch die Karabinieri zur Arbeit 
zwingen. Die Kerls verlangen für die Fahrt an die Küfte finfzehn 
bis zwanzig Lire, und das bei einer Strede von elf bis fünfzehn 
Kilometern! Und nun fommt die andere Schwierigleit: jeden Tag 
meldet fich ein neuer Ort und bittet um Soldaten. Ich weiß nicht 
mehr, wie ich die überall zeriplitterten Mannſchaften — oft Ionn 
id) an einen Ort nur drei Mann ſchicken — überſehen, wie ich fie ver- 
pflegen ſoll!“ Sch frage nach fonftigen Neuigfeiten. „Unjere Pioniere 
begnmen den Kirchturm von San Michele abzutragen. Hoffentlich 
paffiert ven magemütigen Kerls nichts, fonft gnade Gott ung Offi⸗ 
zieren; denn wir werden für alles verantwortlich gemacht. Warum 
helfen uns die Arbeiter aus der Stabt nicht?” 

Bor dem Palazzo Gagliardi begegnet mir der Abjutant bes 
Generals. „Gibt's noch feine Überficht über den Gefamtichaben ?“ 
Achlelzuden. „Jeder Tag bringt neue Ungllicksmeldungen; das 
Unglüdsgebiet breitet jich immer mehr aus. Sch Tomme eben aus 
der Provinz Coſenza zurüd, um den Schaden von Ajello zu kon⸗ 
ftatieren, mo ein Bergfturz die Erdbebenjchäden vergrößerte." Als 
ich auf die Außerungen der Unzufriedenheit in der Bevöllerung hin⸗ 


Kalabrien: Ein Antillerikaler 69 





wies, zudte der Kapitän wieder die Achſeln. „Selbituerftändfich 
fann man e3 nicht allen recht machen und bejonders jet, mo die 
Ralamität jo ſchauderhaft ift.” In dieſem Augenblick zog eine Schar 
junger Leute vorüber; ein ſtarler Burſche mit energifchen, harten 
Bügen fchrie unausgefett: „Mein Bater liegt im Sterben, meine 
Mutter ift frank, und man gibt ung Tein Zelt!" — „Recht hat er!” 
ruft ein Bürgerämann, der in der Nähe fteht; „Ichreien muß man, 
fchreien! Wir in Monteleone werden ganz vergeſſen, die bon aus- 
wärts werden bevorzugt!" Die weiteren Worte erjtidten in Flüchen. 
„Ja wohl”, rief ein anderer Mann fo laut, daß alle Offiziere es hören 
mußten, „jchreien wir, und wenn man ung nicht hören mil, fo greifen 
wir zum Blei!" Alle dieje Heinen Epifoden wurden natürlich beim 
Abendeſſen von unjerer Geſellſchaft durchgefprochen. Da einer der 
jungen Arzte die Kalabreſen in Schuß nahm und fagte, fie feien gut⸗ 
mütige Leute, Die man mit freundlidem Wort zu allem führen könne, 
tief ein Pionieroffizier: „Nein, fie find indolent, ja faul! Und die- 
jenigen, die am meiften fchreien, find die Heinen Rentner, die vor 
der Beſchädigung ihrer Häufer mit einem Jahreseinkommen von 
1000 Lire die „großen Herren“ fpielten und nun befiicchten, eventuell 
arbeiten zu müljfen. Der Heine Dann fchimpft viel weniger; er 
weiß, daß ihm eine Bretterhütte geſchenkt wird, die ihm die Miete 
in ben ſchlecht gebauten Löchern part, jo Daß er fich finanziell befjer 
ſtellt! 

Ein Aushilfskellner, der heute zum erſten Mal antrat, miſchte 
ſich in das Geſpräch und rief mit Pathos aus: Ich habe acht Chriſten 
zu ernähren; ich habe ſechs Kinder, meine Wohnung iſt zer⸗ 
ſtört; ich habe kein Obdach und bei der Brotverteilung bin ich 
bis jetzt leer ausgegangen!“ Schließlich ſchimpft er im Abgehen 
über die Barone und Prieſter, die Kalabrien verdürben. „Nanu, 
fieh einmal den Antillerifalen an, ſpottete der junge Arzt, der vorher 
die Kalabreſen verteidigt hatte. Laſſen Sie es nur gut fein“, fiel 
ihm ein Kollege vom römijchen Geſundheitsamt ins Wort: „Sch 


70 Kalabrien: Erdftöße 


habe bei meiner heutigen Inſpektion doch auch meine Beobachtungen 
gemacht. Die meiften Ortfchaften Haben drei oder mehr Kirchen, 
aber feine Schule und feine Apothele. Und in diefem Gebiet des 
tompletten Analphabetismus, von was reden die Leute nur? Nur 
bon dem Wunder, daß der „Heilige” des Orts heil geblieben! In 
Piſocopio haben fie jet jchon Drei Wunder! Da fchlag doch einer! 
Warum Hat denn Feiner diefer Ortöheiligen dag Wunder fertig 
gebracht, auch die Kirche zu retten? Diefe Egoiften! Nur an ihre 
Statue Haben fie gedacht!“ Die Unterhaltung ging nun auf den 
Großgrundbeſitz und die Untätigfeit der Yandbarone über. Doc) 
dabon ein ander Mal. 


m. 


Tropea, 17. September 1905. 

Der erfte Akt der Tragödie ift aus. Dem gewiſſenhaften Bericht- 
erftatter bleibt nichts anderes übrig, al, nachdem er die Haupt- 
Ichäden in den am meijten betroffenen Provinzen Catanzaro und 
Reggio Calabria Tonftatiert hat, zum Hauptquartier zurüdzufehten 
und die dort oft nicht ganz einwandsfreien Einzelnacdjrichten auf 
Grund feiner Erfahrungen an Ort und Stelle zu fichten. Sch trennte 
mich um fo leichter von Monteleone, als die Berhältniffe — nicht nur 
mas Unterkunft und Verpflegung anbetrifft — ungemiitlich geworben 
waren, wie aus meinem legten Briefe hervorgeht. Auch ift es nicht 
jedermanns Sache, nach mancher fchlaflofen Nacht in der Eifenbahn 
durch die wiederholten Stöße ftet3 aufgeftört zu werden. Sind dieje 
Stöße aber fo ſtark, wie in der vergangenen Nacht, fo traut man in 
einem fo durch und durch gerüttelten Ort wie Monteleone zulebt 
der anjcheinend feiteften Burg nicht mehr. Und feit war unfer Haus; 
denn am Tag und abends eſſen alle Offiziere und Beamte drin, ohne 
jede Furcht, und nur nachts gingen fie mit allen Einwohnern aus 
der Stadt hinaus, um im Freien zu jchlafen. Sch aber hatte mit 
meinem deutſchen Dicklopf alfo gefolgert: „Was tags hält, muß auch) 


Kalabrien: Flucht vor dem Erdbeben 71 


nachts halten“, und mar, aller Stichelei zum Trotz allein im Hotel 
geblieben. Dieje Nacht aber weckte mid) gegen Halb drei ein folcher 
Stoß, daß ich in höchſter Panik zum Fenfter ftürzte und dort rittlings 
dad Morgengrauen erwartete. Mein alter Freund, der Baurat- 
Aquarelliit Albert Genid, der die Kataftrophe von Cafamicciola mit» 
gemacht, hatte mir nämlich immer empfohlen, bei Erdbeben Schub 
zu juchen unter Tür- oder Fenfterrahmen. In meinem Yuftigen 
Sit harrte ich aus, bis die erſten Menfchen zur Stadt zurückkamen, 
nahm meine Garderobe und mein Gepäd, eilte auf die Straße, mo 
ich Toilette machte und dann einen Knaben ausfandte, um mir ein 
Gefährt zu fuchen; denn im Eiſenbahnwagen an der Küfte fchläft 
ſich's Doch ficherer. 

Um neun Uhr war id) ſchon in Pizzo. Auf der Talfahrt 
vegegnieten mir große Karawanen von Ochſenwagen, von denen aber 
jeder nur etwa fünfzig Bretter Hinaufichleppte. Was ift das unter 
fo viele? Auf dem Wiefenplatenu über dem malerifch gelegenen, 
jest auch halb zerftörten Städtchen traf ich das größte Zeltlager, 
das ich big jet gefehen Habe. Und dabei hatte die Stadtverwaltung 
die Kirche ©. Crocefiſſo in ein Hofpital und das Teatro Follia in 
Schlaffäle verwandelt. Yon Zeit zu Zeit ſchaute ich erjchreckt zum 
Himmel, der morgens durch den glühend heißen Scirocco ganz mit 
Wolfen bededt worden war, jet aber glüdlichermweije fich aufzu- 
heitern begann. Nur langfam Tonnte ich mich durch die engen 
Straßen winden, da fortwährend neue Ochſenkarren Bretter brachten 
und in wildeftem Gewirr in- und durcheinander fuhren. Bald faß 
ich am Tisch eines emfig fchreibenden Feldwebels an der Station, 
die fo ftarf mitgenommen wurde, daß das Telegraphenamt in eine 
Wärterbude hatte verlegt werden müjjen. (Sn Cerello liegt dag 
Bahnhofstelegraphenamt au Mangel an ficheren Räumen fogar 
in dem notdürftig gereinigten Aborthäuschen.) 

Da hodte ich nun mit der Föftlichen Auzficht, auf den einzigen 
Schnellzug, der fahrplanmäßig um 10'/. Uhr nacht3 kommen follte, 


72 Kalabrien: Parghelia 


jicherlich vierzehn Stunden warten zu müſſen. Plötzlich taucht aus 
der Feldkaſerne, die aus jieben Waggons befteht, der Photograph 
eined Neapler Blattes auf, der jich zur Konllavezeit einen Namen 
gemacht hat. Er war eben im Begriffe, Toilette zu machen. Als ich 
ihm mein Leid lagte, rief.er: „Sehen Sie doch mit nad) dem Süden, 
nah Barghelia, denn, wenn Gie das nicht gefehen haben, fehlt 
Ihnen das Eharakteriftiichite. Für das Wie forge ich; denn wollten 
wir auf den Schnellzug warten, wären wir angeführt!" Wichtig! 
Bald darauf kommt ein Güterzug, der Bretter bringt. Kurz ent 
ichloffen, läßt der Neapolitaner unſer Gepäd in den Wagen des 
Zugführers bringen, ohne auf deſſen Protefte zu hören, und geht 
zum Gtationächef, dem er fiegreich auseinanderfegt, daß die Preſſe 
zu Audnahmeregeln berechtigt it. Außer uns reilten noch zwei 
Slektrizitätsarbeiter mit, welche die Telegraphenapparate an den 
beichädigten Stationen revidieren mußten. Es waren Oberitaliener, 
die an den Kalabreſen fein gutes Haar ließen. Sie zeterten ob deren 
Faulheit, durch die fich befonders die Einwohner von Monteleone 
und Barghelia auszeichnen follen. Letztere hätten ich ſogar geivei- 
gert, ihre eigenen Toten zu bergen, was die Soldaten tun mußten, 
und auch die mühſelig ausgegrabenen Leichen zu beerdigen, mas fie 
twieder den Soldaten überließen. Dann Iprachen die Elektriker von 
der Panik der legten Racht. UÜberall hätten die Einwohner die noch 
jtehenden Häufer verlajfen, weil einer der Stöße ebenfo ftark war, 
wie der in der Nacht der Kataſtrophe. „Und wie lange das wohl 
noch dauern mag! Denn 1894 hörten die legten Stöße erſt nad) 
acht Dionaten auf!" Während der Weiterfahrt, auf der wir einen 
neuen Zug mit Soldaten trafen, ward auch der Zugführer gefprächig 
und gar galgenhumoriftiich, denn jedes Mal, wenn wir über das 
tiefe Bett eines tradenen Bergfluſſes fuhren und zwar recht vor- 
fichtig, zeigte er faſt mit gtimmem Behagen auf die Bejchädigungen, 
die die Brüde erlitten hatte. Und jedes Mal riefen die Elektriker, 
fall die Brüde Hinter und war: „Eccoci salvi un’ altra voltal“ 


Kalabrien: Parghelia 73 





Am Mittag inmen wir am Bahnhof von Barghelia an, 
das nächſt Palmi als das ärgſte Räuberneit der Küfte gilt, und ich 
empfing fogleich den ftärkiten Eindrud, den ich auf meiner ganzen 
Gtreife gehabt habe. Im Nu maren wir von einem Heer von 
Qumpengeftalten umringt, wie fie Hoffmann, der Freund nächtlichen 
Spuß, nicht ſchlimmer Hätte erdichten Tönnen. Und dag Elend erft 
in den fieberkranfen Gefichtern und die Frucht des Elends, die Bo3- 
heit! Das Gekreiſch, dad Gebettel, dad Seufzen und Wimmern 
wollte fein Ende nehmen. Biele alte Megären entblößten ihren 
Oberleib, um deſſen erjchrediende Magerkeit zu zeigen. &3 war zum 
Übelmerden. Der Bhotograph Half fich, indem er ſich autoritär 
geberdete und eine derartige Salve von Schreien und Ylüchen los⸗ 
ließ, daß die Ärmſten fich eingefchüchtert zurücdgogen. Nun kamen 
wir vom Regen in die Traufe. Fünf Herren, deren feifter Führer 
ſich vomehm in die Bruft warf, ftellten fich als Lokalkomitee zur 
Berfügung, wobei der Feifte es nicht unterließ, über. die mangelhafte 
Berichterftattung zu Hagen. Was hatte mir doch der Vertreter des 
„Sortiere della Sera”, freilich mit andern Worten, als das Charafte- 
riftifchfte feiner Wahrnehmungen im Eröbebengebiet bezeichnet? 
„An der Preſſe hängt, zur Preſſe drängt doch alles!” Auch dieje 
Störenfriede jchüttelten wir ab, bis auf einen ſchäbigen Mann, 
bei dem alles grau war, Blid, Haar, Anzug und Haut. Er jchlidh 
Hinter und her wie ein Hund. Wenige Schritte vom Bahrıhof 
fommt man zum Eingang des Städtchens, das 3000 Einwohner 
zählte und vor der Berjtörung weniger dörflich ausgejehen haben 
muß, als die andern „paesi“, die ich fennen lernte. Jetzt fieht 
man’3 freili” ande. Der Photograph wurde wieder nervös; 
denn jebt nahten fich und Studenten aus Reggio Calabria, die als 
Hilfskorps Kleider gebracht Hatten. Sie boten fich großartig als 
Führer an. Das erite, mas ſie verlangten, war aber, daß wir auch 
ichön ihre Namen druden laſſen follten. Auch fie wurden deutlich 
entfernt. Bei ung blieb nur ein junger Staatsingenieur, der offenbar 


74 Kalabrien: Diebe 


froh war, fern von läftiger Begleitung dem ihm befreundeten Photo- 
graphen jein Herz ausfchütten zu können. Die erjten hundert Schritte 
fahen wir in der Hauptftraße nur die ſchon gewohnten Bilder der 
Beritörung, dann aber folgte eine Kapelle, von der nur eine Wand 
und die Heine Orgel heil geblieben mar, drauf ſechs bis fieben voll⸗ 
ftändig zerpulverte Häufer. Überall lagen noch Heu und Stroh und 
Hobelfpäne umher, auf denen man die 47 Toten und die Hunderte 
von Verwundeten gebettet hatte. Alle Häufer find fo verlegt, daß 
ihr Betreten verboten ift. Karabinieri und Soldaten ftehen überall 
Wache. Unverlegt blieb nur der Palazzo des „Signore“, der ein 
Sahreseintommen von 200,000 Lire hat, trotzdem aber fich tapfer 
an der Entgegennahme von Spenden beteiligt. „Ein anderes Bild !” 
jagte der ingenieur. „Hier nahm ich ein fünfjähriges Mädchen 
heraus, da3 zweiundachtzig Stunden eingefchlojfen war. WS ich, 
um das Rettungswerk zu erleichtern, die Matrabe, auf der das Kind 
lag, zerichnitt, kratzte mir die Mutter deshalb faft die Augen aus.’ 
Weiter. „Hier fanden”, jo fagte der Ingenieur, „die Soldaten 
die Leiche der größten Schönheit des Ortes, die erft feit zwei Monaten 
verheiratet war. Da — ſchauen Sie noch das blutbefledte Bett!... 
Auch komische Noten fehlen nicht. So traf ich geftern einen Mann, 
der heimlich in fein Haus eingedrungen war und das einzig ber- 
ſchonte Zimmer mit einem Flederwiſch abſtaubte.“ Beim Weiter 
fchreiten machte fich der Verwefungsgeruch noch fehr unangenehm 
bemerkbar, obgleich die Leichen jchon feit mehreren Tagen beerdigt 
find. Und nun erzählte der Ingenieur von der triften Art der 
Zeichenbergung. Er beftätigte, daß fich Fein Einwohner an ihr 
beteiligt habe, und im Gegenteil die Einwohner fpäter die Soldaten 
und Ingenieure beichuldigten, fie hätten die Leichen beraubt. „Und 
das fagen diejelben Leute, die jede Nacht das Lager verlafien, um 
in Schutt nach Juwelen zu fuchen! Natürlich, wenn's and Stehlen 
geht, find fie nicht zu feige!" Kaum Hatte er das gejagt, fo fchallte aus 
einem äußerlich ziemlich gut erhaltenen Haufe verbächtiges Klopfen. 


Kalabrien: Vom Photographieren 75 





Ein Pfiff, und im nächſten Moment war das verdächtige Haus von 
Soldaten und Karabinieri umftellt. Nach zehn Minuten erfchien der 
Ingenieur, der indeſſen das Haus vorfichtig Durchfucht Hatte, wieder 
bei una und fagte: „E3 war der Hauäherr, der den Dieben zuvor⸗ 
fommen wollte. Wenn er nun erichlagen worden mwärel Wen 
hätte die Schuld getroffen, wen anders ala und? Aber fo find die 
Leute hier!“ 

Wir fchritten vor Dorf zurüd, ftärkten una im Lager der 
Offiziere mit Wein und Waſſer — viel mehr hatten die Tiebens- 
würdigen Wirte auch nicht — und gingen dann zum Lager der Ein- 
twohner. Für diefes „Lager der Vertriebenen” hätte Goethe wohl 
feine Töne wie in „Hermann und Dorothea” angefchlagen. Keine 
Spur von Trauer! Das merkte man befonderz, als der Neapolitaner 
für Illuſtrationszwecke einige Gruppen aufnehmen wollte und 
dabei in feiner draftiichen Weife immer wiederholen mußte: „Um 
Gottesmwillen, ihr Tieben Leute, fo lacht doch nicht, fonft glaubt 
man ja nicht, daß ich Erbbebenhilder Tiefere!" Widermillig und 
traurig zeigten fich eigentlich nur in der Nähe der Zelte die gefefjelten 
Hühner, unter denen ein mächtiger Hahn gar manches prometheifche 
Zornkikeriki erfchallen Tief. Widerwärtig aber gab fich der Komitee- 
mann, der und nachgeichlichen war; er wollte durchaus in jeder 
Gruppe mit pofieren. Unter diefen Umftänden verlor der Photo- 
graph bald alle Luſt. Er photographierte nur noch das gerettete 
Kind und deſſen freudeftrahlende Mutter; denn diefe denkt jekt 
weniger an die Matrae als an da3 durch die Zeitungen berühmt 
gewordene Kind. Sch fragte nun den Ingenieur, wie er fich das 
Rettungswerk weiter vorſtelle. Er ermwiderte: „Das willen die 
Götter. Vorerft bauen wir jeder Familie eine Barade, dann fuchen 
wir ihnen aus den Häujern zufammen, was wir an Habjfeligkeiten 
retten können; denn da3 Tann man dod) nicht gut verlangen, daß 
der Staat auf feine Koften jedes Haus wieder neu aufbaut. Was 
aber die Brotverteilung anbetrifft, jo wird fie wohl fo lange dauern, 


76 Kalabrien: Ein ſchöner Pfarrer 


bi3 fich die Panik legt, und die Leute wieder an die Arbeit gehen. 
Da3 hängt aber von der Dauer der nachträglichen Stöße ab. Wir 
können bei der Apathie der Leute nicht? anderes tun, um jo mehr, 
al3 die ärmeren diejer lieben Leute willen, daß fie durch die Erd- 
bebenpanif noch viel gewinnen.” — „Uff!” unterbrad) der durch 
zu viele Arbeit nervös gewordene Photograph; „jebt muß ich aber 
zu Mittag ejfen. Sch bin feit fünf Uhr auf den Beinen und habe 
aus Mangel an Fahrgelegenheit jchon vierzehn Kilometer zu Fuß 
machen müſſen. Alſo auf nah Tropea!" 

Zum Glüd trafen wir einen mit drei Stunden Verſpätung 
angelangten Bummelzug. Auch die drei Kilometer lange Strede 
bis Tropen zeigte wieder einige verlegte Brüden. Das Gepäd 
biieb am Bahnhof, der ringsum von Zelten, Segeltuchhütten, 
Baraden und Wohnwaggond umringt ift; denn auh Tropea 
bat mehr gelitten, als es anfangs hieß. Zwar hat die 6000 Ein- 
wohner zählende Stadt wenige Tote und Verwundete zu zählen, 
aber zu drei Bierteln ift fie zerjtört, und doch war fie ſchon vor dem 
Erdbeben ruinenreich und dazu ſchmutzſtarrend umd vermwahrloft. 
Berjtört ift auch dag große Hotel, jo daß jetzt das gegenüberliegende 
Gaſthaus zur Ehre fommt, den Mittagd- und Abendtifch für die 
Behörden, Darunter einen Oberft, liefern zu müffen. Als wir an den 
einzigen langen Tiſch des Speiſezimmers kamen, fanden wir eine 
lebhafte Gejellichaft vor, beitehend, wie ſich ſpäter heraußftellte, 
aus einem im Venezianiſchen gebürtigen Gemeindearzte, dem 
Polizeikommiſſar des Ortes, einem Staatöingenieur und emem 
diden jungen „Kanonikus“ der Umgegend, etiwa dreißig Jahre alt, 
an dem alles glänzte: Rod, verhältnismäßig reine Baden, fett- 
ftarrender Hut, Zähne, Lippen und Augen. Er entwidelte, was 
mir bei der unmenjchlichen Sciroccohitze fchier eine phyſiſche Un- 
möglichkeit dünkte, nicht nur einen Niefenappetit, ſondern aud) 
eine oft ftarf weltliche Beredſamkeit, die nicht eben leije mar. 
Während fich die anderen darum firitten, wer am meiften beim 


Kalabrien: Der Polizeilommiffar 77 


Erdbeben gelitten Habe, ob die Grundbefiter, oder die Armen, 
Die Bauern und die Tagelöhner, und der Gemeinbearzt gerade fagte, 
die Leute von freien Berufen und die Rentner, die von der Ver⸗ 
mietung ihre3 einzigen Befites, dem Haufe, lebten, feien am meiften 
geichädigt, rief der rottwangige Priefter: „Und von una fpricht man 
nit? Richt nur — Berbeugung und Bekreuzung — ift da3 heilige 
Sakrament noch begraben, fondern wir können auch feine Prozefjion 
veranftalten! Und doch Habe ich, ich allein mit diefen Fäuſten für 
alle die Leichen meines Ortes in der Nähe von Parghelia geforgt, 
und id) mar ſchon um zwei Uhr fertig, ehe jich der Bfirgermeifter von 
Parghelia regte. Seht aber, mo e8 an die Verteilung der Spenden 
geht, will der Bitrgermeifter alles für den Hauptort behalten, wir 
Bororte kriegen nichts! O, jo haben wir — folgte ein Fluch — nicht 
gemettet, nein, jet ijt die Zeit gefommen, mo man die Stimme 
erheben und fchreten muß!” Als er fich noch mweiter in Die Giede- 
hitze Hineinfchrie, mußte ihn der Polizeikommiſſar bitten, fich zu 
mäßigen, damit. er dem armen Bolfe, da3 amtlich zu ihm komme, 
— denn er ilt im Wirtshaus einquartiert, da fen Bureau bejchädigt 
ift — kein böſes Beifpiel gebe. Und da3 arme Volk am in vielfacher 
Geſtalt. Zunächſt als Schifferfnecht, der fich beffagte, daß er noch 
fein Brot befommen habe; der Polizeikommiſſar reichte ihm da3 
feine. Dann ein arme Schmutzweib, da3 getroft al3 erſte Tragöbin 
hätte auftreten können; wenigſtens hätte jede deutiche Schaufpie- 
lerin von ihr Lebhaftigfeit lernen fünnen. Dann Im gleich ein 
ganzes Parlament, beftehend aus zwölf armen Frauen und zehn 
Kindern. Ich bemwunberte die Ruhe des Polizeimannes. Gleich 
darauf bewunderte ich fie noch mehr. &3 trat nämlid) ein ſchlanker 
Mann ein, den. man mit Advolat anredete; er.jah fiebrig, hohläugig, 
unelegant aus und trug ftatt Des Kragens ein ſchmutziges rotes Tuch 
um den Hals. Buerft beklagte er ſich noch-Ieife itber feine viele Arbeit 
als SKomiteemitglied. Cr komme gar nicht mehr zum Schlafen. 
Und die Polizei laſſe ihn auch im Stich, und das Militär äftimiere 


18 Kalabrien: Bolfreunde 


ihn nicht. Plöglich fuhr er aber mit folcher Berferfermut auf den 
Polizeitommifjar los, daß ich fürchtete, e8 lomme zum Handgemenge. 
Der Kommiljar lachte aber nur ſpöttiſch auf und erklärte: Er habe 
die Regierung fo lange mit Telegrammen bombardiert, bis fie 
1500 Lire für Brot zugefagt habe. Jetzt fei dag Geld an dag Komitee 
gelommen, ohne daß dieſes e3 für der Mühe wert gehalten habe, ihm 
Davon Anzeige zu machen; dafür erhalte er aber jebt Vorwürfe, weil 
er nicht mehr berbeilchaffte, während die Herren vom Komitee 
jelbft nichts beifteuerten. Der Photograph fchlichtete den Streit, 
indem er vorfchlug, zum Hofpital zu gehen. Alle fagten zu, 
bis auf den Kanonikus und den Herrn „Comitato“. -' 

Auf den: Wege nahm mich der Arzt zur Seite. „Das, was Sie 
joeben erlebten, fagt mehr al3 lange Erklärungen. Sch bin auch 
froh, daß ich zu einer beiferen Stelle und von hier fortfomme. Der 
Kanonikus ift fehr reich, er gibt ſelbſt aber nichts, fondern fchreit nur, 
um die Oberen auf fich aufmerffam zu machen. Die Stomitee- 
mitglieder find Herren, die auch nicht geben, die früher mit ihren 
jchnell fahrenden Kutſchen das arme Volk überfuhren und jebt jich 
plöglic als Volßöfreunde entpuppen, mweil es eine Abmwechilung 
im Eintag3leben und ein Reflamemittel darftellt! O wie gern Tehre 
ic) diefer Gegend des von Herren und Prieftern auögebeuteten, 
analphabetiftiichen Elends den Rüden!“ Gleich darauf nahm mid) 
der Polizeitommiffar zur Seite. „Da fehen Sie's! Überall fehlt 
e3 an dem einen Willen. Die Polizei hat eben feine Macht, 
weil die politiiche Regierung immer Rüdficht auf die Einmifchung 
der Deputierten und deren Freunde nehmen muß. Iſt's in Deutfch- 
land aud) jo?" Der Eintritt ins Hofpital, wo eben eine vermundete 
Frau in einer Sänfte, die den vor 1870 in meiner Heimat üblichen 
Cholerafänften glich, eingeliefert wurde, überhob mich einer Antwort. 
Überall ſah e3 traurig aus. Traurig das erft 1903 erbaute und jetzt 
geitügte Gebäude, traurig die ärmlich gefleiveten Nonnen, traurig 
die verwundeten Mädchen und Frauen. Sch machte nachher einen 


Kalabrien: Die Stadt Tropen 79 


Rundgang durch den Ort. Überall, auch an riefigen Baläften, die 
bon einftiger Herrlichkeit zeugten, wurden wankende Mauern von 
Militär eingerijjen, überall waren aber auch die noch jtehenden 
Tore, Zelt- und Baradengebäude mit Heiligenbildern gepflaftert; 
dazu hatte man noch auf Pläben und Chaufjeen Leinwandkapellen 
hergerichtet, in denen da3 Volk um ein Heiligenkild teils ſchwatzend, 
teild betend herumjaß. Syn den Straßen hodte aber dad Bolt — 
gerade wie in Monteleone — vor oder in den Haustüren, ganz un⸗ 
tätig, auf einen neuen Stoß und auf den Abend martend, wo alles 
Hinauspilgert zum Zeltlager; denn fein Einwohner von pe 
wagt e3, in einem Haufe zu fchlafen. 

Tropen heißt die Stadt der Dummen und Narren. Man 
ſieht, die Talabrefiichen Städte find recht gut aufeinander zu fprechen. 
Mir erichien Tropen nur al Ort der äußerſten Verwahrloſung. 
Geitdem ich in Kiew im Volksviertel war, ſah ich ſolchen Schmuß 
nicht mehr, ſelbſt Neapels äußerfte Vorſtädte müſſen fich fchon 
gewaltig anjtrengen, wenn fie folch leere Fenſterhöhlen, ſolche Erd⸗ 
gejchoßlöcher, ſolche rauchgeſchwärzten Häuferfafiaden und die 
entiprechend widerliche Staffage aufbringen wollten! Auch jah 
ich noch nirgendwo fo ſchmutzige Priejter. Eine Stadt der Faulenzer 
icheint die Tropen zu fein, mo Griechen, Sarazenen, Ralabrefen, 
Albaneſen fich zu einem feltiamen Mifchvolf zufammentaten, und 
doch foll ein ziemlicher Handel hier blühen, dies „zientlich” allerdings 
nach dem bejcheidenen Ortsmaße gerechnet. 

Der Maler wird hier gern verweilen. Er kümmert fich ja nicht 
um Bollswirtichaft und ähnliche trodene Dinge, er lechzt nach Form 
und Farbe, und die hat er hier, befonders gegen Abend am Strande. 
Wie malerifch ift jchon der riefige Yelsblod, auf dem der Kern der 
Stadt ſteht! Architelten würden aud) ihre Freude daran haben, 
wie die Stadt, einer Pflanze auf Yelsboden vergleichbar, die ihre 
Wurzeln fuchend nach unten treibt, riefige Mauerklammern und 
Steinftreifen aB Stützen immer tiefer und tiefer trieb. Jeder 


80 Kalabrien: Die Verbrecherſtadt Palmi 


Kunftentäufiaft muß aber verblüfft werden, wenn er die Berge 
ringsum an der Küfte, die Stlippeninfeln am Strande mit den 
jetzt zerftörten Kirchlein darauf, das Farbenſpiel im Waſſer, oder 
gar in der Nebelferne die Baden dee Stromboli fieht, der 
ſich noch toller geberdet, al3 jein Bruder im Kontinent, der Veſuv. 

Doch, wie gejagt, der Tünftleriiche Standpunkt ift nicht maß- 
gebend. Der Politiker, der Menſchenfreund empfindet die heutigen 
Zuftände in Tropen und Umgegend al3 einen Hohn auf Staat, 
Regierung, Fortichritt und Chriftentum, al3 einen FYauftichlag in? 
Geficht der Zivilifation. So find die meiften. diefer ſchönen Städt⸗ 
chen im ganzen zum Elend verurteilt, und der Schmuß und das 
Berbrechen gedeihen in ihnen! Wer de3 lebteren interefjantefte 
Formen ftudieren will, ziehe weiter nad Palmi, das in der 
frimmaliftiichen Literatur berühmt ift. Ich fürchte jedoch, daß er 
die in dem Städtchen begonnenen Studien über die dort graffieren- 
den Tamorriftiichen Delinquentengeheimbünde auf den „Inſeln“ 
fortfegen muß, mo die Hälfte von Palmis männlicher Bevöfferung 
auf Staatskoſten „Zwangswohnſitz“ Hat 

Beim Einbruch der Dunkelheit erfchienen außer dem Polizei⸗ 
kommiſſar auch viele Offiziere mit dem Oberſt im Wirtszimmer, 
mo ich bis dahin gejchrieben Hatte. Es kam bald wieder ein gemein- 
james Geſpräch zuftande, denn große Kataftrophen führen Männer, 
ſo jehr auch ſonſt der SKlafferumterfchied fein mag — mittlerweile 
Hatten fich auch befjere Arbeiter zu uns geſetzt — hier in Italien 
wenigſtens leicht zujammen. Da3 Leitmotiv der Unterhaltung 
war die Autorität. Der Oberſt aber ſchmunzelte nur. Zuletzt 
wurde aud) das heiffe Gebiet der möglihden Unruhen gefteift. 
Ein Kapitän griff das Thema Iebhaft auf; der Polizeilommiffar 
fagte, auch er bedauere e8 lebhaft, daß das Militär fo oft zur Aufrecht- 
erhaltung der Ordnung ablommandiert werde, darunter nicht nur 
die Ausbildung der Soldaten, jondern auch deren Stellung gegen- 
über den Bürgern leide. Sch will auf diefen böſen Gegenſtand 


Kalabrien: Charakter des Volles 81 


nicht weiter eingehen, aber ich muß doch erklären, daß ich überraſcht 
war, als ich merkte, wie tief der Groll im Herzen der Offiziere ſitzt, 
weil ſie ſo oft vor die Notwendigkeit geſtellt ſind, auf das Volk zu 
ſchießen. Die Leute Haben Recht. Aber fo lange man jeder Ge- 
meinde, felbit in dem moraliſch und politiſch zurüdgebliebenen Süd⸗ 
italien, das Recht läßt, fich felbft aus dem Parteiwirrſal den Bürger- 
meijter zu wählen, der natürlich al3 Chef der Sieger feine Autorität 
über die unterliegende Partei hat, fo lange man neben ihn einen 
Bertreter der bürgerlichen Polizei ftellt, ohne ihm genügenden 
polizeilichen Schuß zu geben, fo lange Daneben noch drei bis vier 
Karabinieri in jedem Ort liegen, die von einer anderen Behörde 
abhängen, jo lange fehlt es in aufgeregten Zeiten an einer ver- 
antmwortlichen Autorität. Der Blrgermeifter fchiebt alles auf die 
Karabinieri, diefe auf den Polizeikommiſſar, diefer wendet ſich in 
feiner Machtlofigfeit an den Präfekten, und der an dag Militär. 

Noch ein Wort über die Bevölkerung. Ein Talabrefifcher 
Journaliſt ſchrieb von ihr in diefen Tagen, fie fei zu indolent, apathifch, 
tefigniert und verſtehe e3 nicht, ordentliche Deputierte zu wählen. 
Die einzelnen Orte verjtänden e3 nicht, zufammenzugehen, um im 
gemeinjamen Intereſſe wichtige Lokalfragen zu regeln, dafür fei 
der gegenjeitige Neid, die Mißgunſt zu groß. Alles werde von einer 
Dligarchie beherricht, die ſtark fei durch Zenfus, aber nicht durch 
Intelligenz. Der reichſte Mann Calabriens habe jein Bermögen 
durch Güterfchlächterei und Wucher gemacht. Bon der Unwiſſenheit 
des Volles brauche man in einem Lande nicht zu reden, mo die Poſt 
aus Turin erft nad) ſechs Tagen anfomme. Wie die Poft, fo jchlecht 
jei auch die Eifenbahn. Privatinitiative ſei ausgefchlojfen, mern 
ſich die Produktion nicht Iohne, da der Transport aufder einzigen 
Eifenbahn, die nach dem Norden führe, zu teuer ſei. In den Städten, - 
die ohne Stadt-Vermögen ein elende3 Dafein friſteten, ſeien die 
Bermwaltungszuftände präadamitiih. Geld finde fich wohl, aber es 
fehle an Banken, die leichten Kredit geben könnten: Der Wucher 

Bacher: Im Lande des Erbbeben?. 6 


82 Kalabrien: Trägheit 


graſſiere daher, und fein Fluch werde durch den enormen Gteuer- 
druck gefteigert, fo ziwar, daß viele Bauern fich nur von Zwiebeln 
nähren fönnten. Dazu komme, daß die Ölfliege (mosca olearia) 
neun Zehntel der Olproduktion vernichtet habe. Zum Schlufje 
heißt es: „Der Charakter des Volfes ift gut, leider hat es aber noch 
den altipanischen Ehrbegriff (punto d’onore), den Hang zur Eifer- 
ſucht und bei allen Leuten, die feine Bauern oder Arbeiter find, 
die Üiberhebuingsfucht, die fich darin äußert, daß fie fich alle „Don“ 
benamjen. Alles das find Übertreibungen, die zu den häufigen 
Blutverbrechen, dem Cliquenweſen, der Arroganz der herrichenden 
Parteien in der Stadtverwaltung Beranlafjung geben. Sonſt, 
wie gejagt, ift der Kalabreſe ein guter Kerl, er hält fein Wort, er iſt 
edelmütig, mutig und arbeitfam, äußerlich jtattlich und würdevoll 
in feinem Benehmen. Gein Sinn für die Einheit des Vaterlands 
ift geweckt, feine monardjifche Treue ift traditionell. Kurzum, 
Kalabrien ift noch ganz jungfräuliches Gebiet, das auf eine Negie- 
rung wartet, die feinen Einwohnern Wohlitand, Bildung und 
Sicherheit gibt. Wollen wir hoffen, daß da3 italienijche Solidaritäts⸗ 
gefühl, das durch das gegenwärtige Unglück gefteigert wurde, fich 
in eine ftändige Ngitation: „Pro Calabria“ verwandelt!" ... 





Rom, 22. September 1%05. 

Sin den meijten Berichten unbefangener Beobachter aus dem 
Erobebendiltrift murde auf die Indolenz der Bevöl— 
ferung hingewieſen. Seht erhebt ſich auch ein freimütiger 
Mann, der freilich oft genug an die Öffentlichkeit tritt, der ehemalige 
Sekretär Garibaldi3 und jetzige Gutsbeſitzer Achille Fazzari, 
um ſeinen Landsleuten, die Millionäre ſind, wegen ihrer Indolenz 
zu Leibe zu gehen. Er fordert ſie auf, doch auch einen Teil ihres 
koloſſalen Vermögens zu opfern, das fie vom Schweiße ihrer Mit- 
bürger erworben hätten. „Wenn hr Euch fernhaltet”, jchreibt er, 


Kalabrien: Eigenartige Menfchenfreunde 8 


„ſo ſeid Ihr unwürdige Söhne Kalabriens!“ Fazzari ſelbſt ſchenkte 
2000 Lire und 9000 Bretter, und feine Frau verpfändete ihre Ju⸗ 
mwelen für 7000 Lite, die fie gleichfallö opferte. Aber, ob der Appell 
an die Großgrundbejiger nutzen wird? Erzählt man fich doch die 
twunderbarlichiten Sachen von ihnen, befonders von einem, der 
200 Millionen befibt. Er zeigt fich gerne bereit, in Not geratenen 
Bauern Geld zu leihen, wenn fie ihm ihr Land verpfänden. Können 
fie beim Termin das Geliehene nicht zurüdzahlen, jo nimmt er das 
Land. Vergebens weilt der Bauer darauf hin, daß er auf dem Land 
ein Haus ftehen Habe. „Das ift nicht mit inbegriffen, das könnt 
hr anderswo aufjtellen”, ift feine ftereotype Antwort. Schließlich 
ift der Bauer froh, wenn er fein früheres Eigentum dem neuen 
Beliter abpachten kann. Nicht ſchön follen fich auch die Großgrund- 
bejiger in den Malariagegenden zeigen. Gie loden die Kleinen 
Bauern aus den Bergen für die Ernte mit hohem Lohn an. Nach 
vierzehn Tagen kehrt der Bauer mit fünfzig Lire in der Tafche, 
aber auch mit der Malaria heim, die ihn zwei Monate aufs Bett 
wirft und ihm die fimfzig Lire wieder aufzehrt; denn der Herr 
Großgrundbeſitzer kümmert fich nicht um das Staatschinin und Die 
gejegfich vorgeschriebene Prophylaris. 

Die Erdbeben-Kalamität iſt gejtern durch Gewitterregen ver- 
Ichlimmert und dadurch die Verzweiflung der Betroffenen erhöht 
worden. Der Ausbruch von Krankheiten wird befürchtet. Die 
Unzufriedenheit des Volkes äußert jich in Lamentationen gegen die 
Regierung. General Zamberti wurde in Sant’ Onofrio und der 
Verkehrsminiſter Yerraris in Amantea Gegenjtand feindlicher 
Demonftrationen. Der „Popolo Romano” wendet fi), und wie 
mir fcheint mit Recht, gegen die Oppofitionspreffe, welche vie 
Regierung tadelt. Die Opponenten, jagt das Blatt, rechnen nicht 
mit der force majeure und mit den Berfehräichwierigfeiten. 
Beklagenswert fei es auch, daß Turin und Mailand einen jelbjtän- 
digen Unterftügungsdienft arrangierten ımd jo das Beltreben der 

6* 


83 Kalabrien: Erdbebenſtatiſtik 


Regierung, ein einziges, allein verantmwortliches Nationallomitee zu 
bilden, vereitelten. Jetzt erft ift es möglich, eine freilich noch unvoll- 
fommene Statiftif des Gefamtichadend zu geben. Danach find be- 
teoffen die drei Provinzen Catanzaro, Coſenza und Reggio, die 
zujammen 413 Gemeinden zählen, von denen 212 gejchädigt find. 
ME Gejamtzahl der Toten wurde bisher Tonftatiert 592, als Zahl 
der Berwundeten 2255, doch wird befürchtet, daß die Zahl beider 
Kategorien in Wirklichkeit größer iſt. Was die einzelnen Provinzen 
betrifft, jo wurde am meilten die Provinz Catanzaro mitgenommen. 
Bon 152 Gejamtgemeinden find 83 bejchädigt, 20 vollftändig zer- 
ftört; Tote 546, Verwundete 2 055. In der Provinz Cofenza find 
71 von 155 Gemeinden bejchädigt und 10 völlig zerjtört; Tote 46, 
Berwundete 200. In der Provinz Reggio find von 106 Gemeinden 
52 leicht bejchädigt; feine Menfchenopfer. In vielen Orten, bejon- 
der3 in Martirana (Provinz Catanzaro), find die Toten noch nicht 
aus den Trümmern ausgegraben. 

Aus dem Erdbebengebiete ift ſonſt nicht viel Neues zu berichten. 
In einigen Orten beginnen Ausbrüche der Unzufriedenheit, in 
andern zeigt ji) Typhus. Um der Malaria entgegenzutreten, plant 
man die Entfendung von alten Schiffen nach dem Golf von St. 
Eufemia, welche die Kranken, Alten und Kinder aus den verfeuchten 
Gtrandgebieten aufnehmen follen. Der Holzmangel macht fich 
immer fühlbarer; der Präfeft von ReggioCalabria, aljo der am 
wenigſten betroffenen Provinz, forderte allein 15 000 kbm, kann 
aber einſtweilen nur auf 2000 rechnen. Es wird wohl noch einen 
Monat dauern, bis alle notwendigen Baraden errichtet find. Die 
Regierung tut, was in ihren Kräften fteht und fucht alle Schäden des 
verrotteten bureaufratiichen Syſtems zu vermeiden, was freilich 
ſchwer hält. Noch Taboriert fie an der Frage herum, wie fie die ein- 
heitliche Leitung des ganzen Hilfsdienftes ordnen foll; ob diefe nänı- 
ih in der Hand des General Lamberti bleiben, oder ob fie 
in die des Nationalfomitees übergehen joll, an deſſen Spige der 


Kalabrien: Ein Soldatenbrief 8 


Bürgermeifter Roms fteht, und für das jetzt ſchon ca. 700 000 8. 
gejammelt und an die Banca v’Stalia abgeführt wurden. (Was 
die Banken betrifft, jo erließ der vorhin genannte Achille Fazzari 
auch einen Proteft gegen die Bank von Neapel, die nur 10000 Lire 
hatte zeichnen wollen; er forderte fie auf, ala Mindeftmaß wenigſtens 
ſechs Millionen beizufteuern, da fie ja doch nur auf Koften Kalabriens 
groß geworden fei.) Schließlich erwägt die Regierung auch die 
Frage, ob fie nicht einen königlichen Kommifjar für Kalabrien 
ernennen ſoll. Ale diefe Vereinheitlichungstendenzen jcheinen den 
Abgeordneten des Südens nicht recht zu fein; fie erbliden darin 
einen Verſuch, ihren Einfluß, ihre Smitiative (lies: Pafchatum) 
zurüdzudrängen. Gegen dieſe Einheitöbeftrebungen kämpfen auch 
die Spezialtomitee3 aus Turin und Piemont. 

Intereſſant ift auch, zu verfolgen, wie die Prefje die Haltung 
des Papſtes gegenüber dem Unglüd beurteilt. Zuerft [pottete 
ein reſpektloſer Teil der antiflerifalen Blätter darüber, daß Pius X 
nur feinen Segen gejpendet habe; dann kamen katholiſche Zeitungen, 
die von einer päpftlichen Spende von einer halben Million ſprachen, 
und zuletzt erhöhte ein konſervatives Blatt diefe Spende auf eine 
Million. 

Schließlich jei nod) ein Soldatenbrief vom 17. September 1905 
aus dem Unglüdsgebiet mitgeteilt, den der, Meſſaggero“ veröffentlicht. 
Er lautet: „Liebe Mama! Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, Dir 
zu ſchreiben, weil ich vom Morgen bis zum Abend beſchäftigt bin, 
um den Krankenpfleger oder den Totengräber zu machen. Ich bin 
faſt taub geworden von dem fortwährenden Geheul der vielen Ver⸗ 
wundeten, und ich mußte meinen, als ich Hunderte von armen Men- 
jchen, die ihren Hunger ſtillen wollten, die Hände auzftreden ſah. 
Brot Haben wir weder viel gemacht, noch ift viel von außen gefchidt 
worden; bis jett mır !/, Kilogramm pro Kopf. Ich habe nicht auf 
mein Leben geachtet, als ich Den Armſten helfen mußte. Die Briefter, 
die Armſten, tun auch das Menjchenmöglichfte. Nicht einen Fluch 


86 Kalabrien: Seltfame Telegramme 


hört man aus dem Munde der Hungrigen und vom Erobeben Be- 
ichädigten. Ich habe im ganzen etwa 20 Frauen und 30 Männer vom 
Tode gerettet. Der König ftand einmal dabei, al ich einen alten 
halbtoten Mann aus den Trümmern herauszog, und all die hohen 
Tiere ringsum haben gehört, mie fich der König beifällig äußerte. 
Dieſe Worte haben mid) begeiftert. Hier unten hat Geld feinen 
Wert, hier jind nur greifbare Dinge nötig: Brot, Kleider und vor 
allem Bauholz. Euer N.“ 

Rom, 8. Oktober 1905. Die Nachrichten aus dem kalabriſchen 
Erdbebengebiet merden immer trauriger. Seitdem die 
meiſten unparteiiichen Spezialberichterjtatter abgereift find und die 
oft befangenen Lokalkorreſpondenten, oder auch Privatperjonen Das 
Feld der Berichterftattung allein beherrichen, kann man fich von hier 
aus kaum mehr in den widerfprechenden Nachrichten zurechtfinden. 
Da3 ſchlechte Wetter und die Furcht vor dem noch jchlechteren des 
Winter vergrößert die Konfufion. Am meiften hört man die Klage, 
daß e3 beffer fei, den nur langſam fortfchreitenden Bau von B a- 
raden einzuftellen und den Gefchädigten Geld zu geben, damit 
fie fich die Nefte ihrer Häufer für den Winter notdürftig zu einem 
Unterschlupf ausfliden können. Dann wollen auch die Klagen gegen 
die Bureaufratie nicht verftummen. Der Bürgermeifter von Moen⸗ 
teleone murde fchon dilziplinarifch gemaßregelt, weil er feiner 
Anficht über die chlechte Hilfsaktion des Staates einen zu lebhaften 
Ausdrud gegeben hatte. Andererſeits werden die Beamten des 
Staates auch durch die Bevölkerung gereizt. So telegtaphierten 
einige Bürger von Pizzo, wie der „Popolo Romano” mitteilt, 
nicht an den Präfekten von Catanzaro, oder an den Unterpräfelten 
des 16 Kilometer entfernten Monteleone, fondern an den Minifter 
de3 Innern: „Hofpital eingeftürzt; 70 Kranke müfjen untergebracht 
werden.” Der Minifter des Innern telegraphierte fofort nach 
Catanzaro und Monteleone, von mo General Lamberti durd) dag 
Rote Kreuz ein Automobil mit fünf großen gelten, Verbandszeug 


Kalabrien: Organifationamangel ; 9 





umd Arzneien nach Pizzo abgehen ließ. Als diefes Automobil mit a 
feiner Bemannung anfam, fand letztere das Hofpital unverfehtt, ‘. - 
aber leer von Kranken. Diefe lagen in der Kirche und e8 waren . 
auch nicht 70, fondern nur 4. Ein Honoratior des Ortes erkläre 
darauf, das Telegramm ſei mißverjtanden worden; denn e3 habe nur 
bedingungsmweife gelautet: „Wenn da3 Hofpital einftürzt, jo muß 
für etwa 70 Kranke (auf jo viel beläuft fich der Jahresdurchſchnitt 
in gewöhnlichen Zeiten) gejorgt werden.” Weiter wurde zur Er- 
Härung gejagt, dag Hofpital fei Schwer beihädigt und Tünnte 
alfo jeden Augenblid einftürzen. — Auch Scarfoglio (Tartarin), der 
den „Mattino” in Neapel und die „Ora“ von Palermo leitet, greift 
in feinen Briefen von Catanzaro, denen er die Überfchrift „Die 
Anarchie” gibt, die Bureaufratie an. Cr trägt dabei vielleicht aus 
politiichen Gründen etwas zu ftarf auf, denn er gibt fich ſchon feit 
Sahren als Vorkämpfer für ven vernachläffigten Süden und feheint 
jich jet mit der Hoffnung zu tragen, daß die lebte Kataftrophe 
endlich einmal den Norden und die Bentraltegierung zu einer 
energifchen Sanierung von ganz Kalabrien aufrütteln werde. Er 
findet vor allem, daß e3 ein Fehler war, das Hauptquartier für die 
Hilfsaktion in dem ſchwer zugänglichen Monteleone aufzufchlagen, 
da hierfür fich unbedingt nur ein Ort an der Küjtenbahn geeignet 
hätte. Außerdem hätte man da3 Gebiet in drei Zonen einteilen 
und den erften Hilfsdienft durch Kriegsſchiffe ausführen laſſen müſſen. 
Scarfoglio weist auch darauf Hin, daß der Baradenbau energijcher 
betrieben werben müßte. 6 Millionen Bretter feien unbedingt 
erforderlich und jetzt feien höchſtens 600 000 zur Verfügung. — Im 
„Meſſagero“ und in anderen Zeitungen wird aufs neue betont, daß 
die kalabriſchen Millionäre bisher noch nicht? für ihre Landaleute 
getan Hätten. Dabei ift Herrn Fazzari, der, wie ich früher 
ſchon mitteilte, ebenfalls einen Appell an die Millionäre richtete, 
folgendes pafliert. Sein Klageruf drang auch zu dem großen Finanz⸗ 
mann Raggio in Genua, und diejer telegraphierte hierauf 


88 Kalabrien: Urteil Lombroſos 


zurüd: „Geehrter Herr Fazzari, verwenden Sie die 50 000 Fres., 
die Sie mir ſchon fo lange ſchulden, für die Opfer des Erdbebens!“ 
Millionäre und Latifundienbefiter beichäftigten fehließlich auch 
Ceſare Lombrofo, der im „Avanti“ an feine früher ge- 
drudten Schriften über Kalabrien erinnert und dabei bemerkt, es 
babe fich jeit den Tagen der Bourbonen, wo die Kalabrier die Sklaven 
von Baronen, Prieftern, Mönchen und Beamten waren, nur das 
eine geändert, daß an Stelle der Barone die Bankiers getreten 
jeien, die aber das arme Land ebenjo ausfaugten wie jene. Auch 
jetzt fomme es den Großgrundbejigern gar nicht darauf an, weite 
Länderſtrecken unbebaut zu laffen, wenn es ihrem Agenten — denn 
jie ſelbſt kümmerten fich nicht um ihren Beſitz — zu wenig lohnend 
dünke, alle Streden zu bebauen. Ein einziger Großgrundbeliter, 
Senator Baracco, feiein weißer Rabe, der allgemein angeftaunt 
wurde, weil er fein Land nicht nur bebaue, fondern dazu aud) moderne 
Mafchinen benute. Kein Wunder fei es daher, fo meint Lombroſo, 
daß die Zahl der Heinen Beſitzer immer Heiner werde. Die Provinz 
Reggio Calabria hatte bei 350 000 Einwohnern im Jahr 1870 nod) 
18 000 Kleine Befiger, jegt aber viel weniger, obgleich die Einmwohner- 
zahl auf 420 000 jtieg. Mit diefem Elend de3 Heinen Grumdbejites 
Hänge auch die Zunahme der Zwangsverkäufe zufammen. 1898 
erließ allein das Amtsgericht von Catanzaro 404 Urteile auf Zwangs⸗ 
verkäufe von Möbeln und 151 von Grundftüden. Bei letzteren belief 
fi der Grundftüdswert noch nicht auf 50 Lire. Bei den Möbel- 
verfäufen betrug die Schuldfumme in 83 Fällen unter 50 Lite, in 
91 unter 100. „Und da foll man fich noch wundern”, fährt der 
Turiner Gelehrte fort, „daß das Verbrechen blüht und der Schuß 
auf feinen Nebenmenfchen nur ein wenig koftender Scherz ift? Ich 
fannte zwei Bürgermeifter und einen Polizeibeamten, die wegen 
Totſchlags beftraft waren.” Zum Glüd fei all diefes Elend durch 
die Auswanderung gemildert worden, da die Gelder, welche jich 
die Auswanderer erfparten, notdürftig ausreichten, um deren von 


Kalabrien: Epilog 89 


dem Latifundium und dem Steuerfisfus genngerte Familien 
am Leben zu erhalten. 


Epilog. 


Rom, Anfang Oftober 1907. 

Unter der Überfchrift „Ralabrien nad dem Erd- 
beben von 1905. Wo endeten die Gelder der Wohltätigfeit?" 
jchreibt die „Sazzetta di Venezia”: 

Bald werden im Talabrifchen Apennin die neuen Dörfer Mar- 
tirana und Jacuſo eingeweiht werden, die da3 Mailänder Komitee 
neu erbaute, Favelloni-Piemonte, das vom Turiner Komitee 
errichtet wurde, wird ebenfall3 bald inauguriert werden. “Diefe 
drei Feſtlichkeiten find aber nur eine Ironie. Der edle Begeifterungs- 
ſchwung der Wohltätigkeit, der ſich 1905 in den Städten Italiens 
und den größten Zentren de3 Auslandes zeigte, hätte hinreichen 
fönnen, den Hunger und den Schreden in jenen Gegenden zu 
lindern. Und doch wurden nur drei Dörfer refonftruiert. Und wenn 
die Komitees von Mailand und Turin nicht unabhängig bon der 
Regierung gehandelt hätten, wäre auch dies magere Rejultat noch 
nicht einmal erreicht. Die Organifation der Unterftügungen löſte 
fich auf in ein wunderbares Werk der Verſchwendung, das Wimmern 
der betroffenen Bevölkerung wurde übertönt von dem Lärm der 
Wählerklientel. Man muß einmal diefe fchändlihe Vergeudung 
denunzieren, die eined Landes würdig ift, wo man dad Pflicht- 
gefühl nicht Tennt. Dort unten fieht man noch eine Mafje von 
Menſchen, die in Ställen, Erdhöhlen, ſchmutzigen Gelaſſen jchläft 
und der Sonne widrige, zerlumpte Nadiheit zeigt. Dort ift ein Bol, 
da3 von dem Strom der Wohltätigleitgaben nicht? gejpürt hat, 
das, vom Erdbeben auf die Straße gerworfen, unter der Kälte leidet 
und feine Finder aus Mangel an Brot und Schulen der Korruption 
überläßt. Die Intereſſen diefer Phalanx von Unglüdlichen wurden 


90 Kalabrien: Wahlpolitit 


mit Füßen getreten von den Intereſſen der Wählergruppen, der 
Wucherer von Beruf, der Bauunternehmer, kurz aller Raben, die 
fih von öffentlichem Unglüd mäften. Wenige Monate waren erft 
nach den Wahlen von 1904 vergangen. Man weiß, wie in Kalabrien, 
wo der Volkßwille myftifiziert wird, Wahlen zuftande fommen. Da 
vielen Abgeordneten die Frechheit ihrer Wahlfnappen, die wegen 
ihrer Verbrechertaten Furcht einflößen, den Sieg allein nicht ver- 
bürgen Tonnte, mußten fie ſich dadurch helfen, daß fie Amter ver- 
ſprachen. Natürlich wurden fie wiedergewählt, aber viele ihrer 
Freunde blieben ohne Amt. In dieſer ihrer Verlegenheit Tam das 
Erdbeben ala günftige Gelegenheit. Die Präfekturen verwandelten 
fih in Gtellungsvermittlungsanftalten, alle Bagabunden, die bei 
ber wahlpolitiſchen Amterverteilung leet ausgegangen waren, 
wurden mit 200 Lire Monatögehalt ala Affiftenten des Zivilbau- 
amt3 angeftellt, oder als Magazinverwalter für da3 Baumaterial. 
Unterftüßt wurden alle Wucherer, die Unterftügungsgelder zu 80 %, 
auzliehen. Die Preſſe, die allein hätte Wandel jchaffen können, 
wurde betrogen. Die Nachrichten, welche die Präfekturen lieferten, 
waren gefäljcht, Dörfer, die feinen Schaden gelitten hatten, galten 
al zerftört, halb zerftörte als unverlegt. Diefe Lügen lagen im 
Intereſſe einiger Wahlkreiſe. Wer Hörte je etwas von Martirana 
mit feinen vierzig Toten und zweihundert Verwundeten? Freilich 
bat dieje3 Dorf einen Abgeoröneten, dejfen Wiederwahl unter allen 
Umständen gefichert ift, der fich aljo um Details nicht zu kümmern 
braucht. Aber ift e3 wirklich wahr, daß der lebte König beider Sizilien 
Franz Il ein Prophet war, als er, während er das Schiff beftieg, 
das ihn aus dem Lande brachte, ausrief: „Es werden euch nur die 
Augen übrig bleiben, damit ihr weinen könnt“? 

Man braucht diefer Darftellung eines angejehenen einheimijchen 
Blattes nichts hinzuzufügen. 


Sie Befuveruption im Jahre 1906. 


Land und Leute. 


a3 heißt, ich habe zwar den tonventionellen Titel beibehalten, 

doch über das Land, aljo über Neapels Landfchaft noch etwas zu 
— wäre überflüſſig. Das macht jedes Reiſebuch beſſer. Tibrigens 
babe ich ſelbſt ſchon in dem Roman „Aſſeſſor Aſſemacher in 
Stalien” der unvergleichliden Schönheit der parthenopäilchen 
Golfſtadt meinen Tribut dargebradit. 

Hingegen über die Leute muß nod) etwas gefagt werden, denn 
ſonſt werden verfchievene Begleiterfcheinungen der Kataftrophe von 
1906 unverftändlich bleiben. Zwar paßt vieles, was im erften Kapitel 
über Siziliens Bevöfferung mitgeteilt wurde, auch auf die neapoli- 
tanifche, nur ift diefe ein populus sui generis, weil fie im Ber- 
gleich zur Einwohnerſchaft der großen Städte Sizilien von grö- 
Berem wirtjhaftlidem Elende heimgefucht wird, dem 
wie e3 jeheint, auch in Jahrzehnten noch) nicht abgeholfen werden 
kann. Dem Elend entfprießen al3 Unkrautpflanzen das Lot to- 
unweſen, die Kamorra, der Wucher und der kraſſeſte 
Aberglauben. 

Süditalien hat dreimal fo viel Lottobanken als der Norden; 
während Genua nur 15 beit, zählt Neapel allein 146. Der Spiel- 
aberglauben ift um fo fürchterlicher, als er infolge der kraſſen Un- 
wiffenheit fich mit faljchen Religionsvorftellungen verjchmilzt. So 
find die Mönche und andere Herenmeifter „stregoni“, bie beften 
Quellen für fiegteiche Nummern. €3 it richt? Seltenes, daß ein 


92 Nenpel: Lottojpiel 


armer Bettelmönch von [pielwütigen Frauen angefallen wird, die 
bon ihm „Nummern“ verlangen; und oft kann fich der Ärmſte nur 
durch Fauftichläge vor den Spielmänaden retten. Vor eimigen 
Sahren traf die nenpolitanijche Polizei einen fterbenden Mönch auf 
der Straße liegend. Der Unglüdliche erklärte, vor Monaten hätten 
ihn einige Unbelannte aufgegriffen und in einen Keller eingefchloffen, 
wo fie ihn jede Woche um Nunmern fragten. Da diefe Nummern 
aber natürlich meift nicht herauskamen, wurde der Armſte gefoltert 
und gemartert, bi3 feine Kräfte jchmanden. Ein anderer Fall. 
Am 19. September 1892 fand die Polizei auf der Straße einen 
gemwilfen Luigi Calligari, genannt Cagli-Sagli. Diefer Un- 
glüdliche friftete fein Leben dadurch, daß er fich als „stregone“ 
ausgab, der Geilteroffenbarungen habe und infolgedeſſen ftet3 ſieg⸗ 
reiche Nummern fände. Eines Tages glaubten fich einige Kunden 
betrogen; fie luden ihn zum Eſſen ein und überfielen ihn dann 
plöglich, entfleideten ihn und träufelten fiedendes DI und Speck 
auf feinen Rüden, indem fie zugleich um Nummern fragten in der 
Meinung, daß der Schmerz ihn injpiriere. Ungeheuerlich ift aber 
die „ſchwarze Meſſe“. Oft findet fich ein armer, aber gemiljenlofer 
Priefter, der, um einige Soldi zu ergattern, die Mefje zur Ehre des 
Teufels lieſt, um fo unfehlbare Lottonummern zu erzielen. Über die 
Ramorra 

ichrieb ich am 14. Juni 1906 folgenden Brief: 

Augenblicklich ift ganz Neapel in Aufregung, weil das höchſte 
Tribunal der Kamorra ein zu ihr gehörende Ehepaar, 
da3 ſich wahrjcheinlich des Verrats jchuldig gemacht hatte, auf grau- 
fame Weile ermorden Tief. Die Henker waren vier Ma- 
trofen, die man jet eifrig fucht, ihr Auftraggeber jcheint ein 
gewiſſer Afonfo Rapi zu fein, der bereit3 verhaftet wurde. In 
jeinem Haufe fand man u. a. auch viele Briefe von Politikern, in 
denen ihm ihr Dank für feine Unterſtützung ihrer Abgeoröneten aus⸗ 


Neapel: Kamorra-Duell 93 


gefprochen wurde. Man kam den Tätern dadurch auf die Spur, 
daß kurz vor der Ermordung des Ehemanns, die in Torre del 
Greco ftattfand — die Stau wurde in ihrem Haufe in Neapel 
überfallen — einige Matrojen in einem Kaffeehaufe von Torre 
del Greco ein opulentes Mahl eingenommen hatten, das Verdacht 
erregte. 

Sole „Liebesmahle”, um einen deutſchen Ausdrud zu ge- 
brauchen, fpielen überhaupt in der Kamorra eine große Rolle. In 
einer Meinen Schrift berichtet ein Neapolitaner der unter dem 
Pleudonym U. Lam b fehrieb, darüber wie folgt: „Eines Morgens 
ſah ich in einer ländliden SchenTe des Bomero eine Gefellichaft 
bon zwanzig Perfonen, die fröhlich baufettierten, obwohl fie fich 
faum auf den Beinen halten konnten, und von Zeit zu Zeit mit 
einem bartlofen Syünglinge, dem reinſten Galeerenfandidaten, der 
neben einem alten Rauhbein faß, glüdwünjchend anftießen. Einige 
Beit nachher Tehrte ich zur Kneipe zurüd und fand die luſtige Gefell- 
ſchaft nicht mehr vor, nur eine alte Frau, die mir erflärte, daß der 
Alte en Kam orra-Häuptling gemefen fei, der mit den Jüngern 
die Aufnahme eines neuen Kandidaten gefeiert hätte. 
Weiter erzählte fie mir, daß diefe Feier erft dann ftattfände, wenn 
ein Kandidat inemem Pflichtduell (vergl. die Beitimmungs- 
menfur der deutichen Studenten) Proben ſeines Mutes abgelegt 
hätte. Das fei heute morgen gefchehen. Zudem Mefjerfampf 
dienen befondere Meffer, und Bedingung ift, daß der Neuling, wenn 
auch felbft verwundet, nur dann al3 Sieger gilt, wenn er feinen 
Gegner verwundet hat. Da3 gelang ihm. Nachdem er dann noch, 
wie der „Komment” vorjchteibt, die vom Blute de3 Gegners gefärbte 
Klinge abgeledt hatte, gab ihm der Häuptling den rituellen Hände- 
drud, ftellte ihn den Genoffen vor und ur ſchworen, ihn als Ver⸗ 
bindungsmitglied anzuerkennen.“ 

In einem andern Buche „Usi e costumi di camorristi“ von 
De Blafio erfährt man noch anderes Authentijche, und zwar 


94 Neapel: Steuern der Kamorra 





meift neues Material über die geheimnisvolle Kamorra, die er 
einen Polypen nennt, der feine Fangarme in alle Städte des Befup- 
gebiet3 hineinftredi. Die Kamorra, ſpaniſchen Urjprungs, zerfällt 
ineine Höhere und niedere Klaſſe. Die erftere ift die der 
„camorristi“, zur zweiten gehören die „picciuotti“, aud) „ge 
ehrte Zimglinge” genannt. Aljo die Zmeiteilung nach deutjcher Art 
in „Burſchen“ und ‚Füchſe“. Die Klaſſe I wählt drei Borfteher, 
den „capintesta“ („Senior”), den „capintrito‘“ oder „capo- 
societä“ („Bizepräfes”) und den „contajuolo“ („Kaffentvart”). 
Klaffe I wählt nur einen Chef, der auch „contajuolo“ heißt. Der 
„capintesta“ oder Kamorrachef über ganz Neapel wird 
gewöhnlich aus dem Viertel der Porta Capuana (beim Bahnhof) 
gewählt. Die anderen Stadtviertel haben je einen ihm untertänigen 
Unterchef, deſſen Befugniſſe in den rituellen Worten ausgedrüct find: 
„Recht zu geben, Dem es zukommt, und Untecht Dem, der’s verdient.“ 
Die „contajuoli“ find nicht nur Zahlmeifter, fondern auch Sekre⸗ 
täte, und im Bedarfsfall Staatsanwälte. Die einzelnen Mitglieder 
haben, wie auch in andern geheimen Gefellichaften, verfchiedene 
Grade: der niedrigfte ift der de3 „guaglione € mala vita“, 
dann folgt der „geehrte Füngling“ („giovinotto onorato“), Darauf 
der „picciuotto“, hierauf der „camorrista“, der je nach Verdienft 
noch höhere Stufen erflettern kann. 

Als Rangabzeichen dienen fichtbare Tätowierungen, eine Linie 
bezeichnet den „geehtten Simgling”, eine Linie mit zwei Punkten 
den „picciuotto“, eine Linie mit drei Bunlkten den „camorrista“. 
Neben den gewöhnlichen verdedten Tätowierungen gibt es noch 
folche, die ein Gelübde, 3.8. der Liebe oder der Rache fymbolifieren. 

Die Hauptaufgabe der Mitglieder der Kamorra bildet die 
Steuereintreibung. Die Steuer „tangenda“ mwird er- 
hoben von den PBroftituierten, den Spielern, den 
Heiligen und au von den Kaufleuten md Indu— 
ttriellen, die nicht weiter beläftigt jein wollen. Doch den größten 


Neapel: Kamorratribunale 95 


Ertrag liefert dad Spiel. Jede Spielhölle wird von einem 
„Picciuotto“ Eontrolliert, der einen beftimmten Prozentſatz der 
gejpielten Gelder erhebt. Dieje Kontrolle ift oft nicht ungefährlich. 
Iſt der Beauftragte aber gehörig legitimiert, fo fügen fich ihm die 
Spieler meift willig, ja fie wählen ihn fogar bei GStreitigfeiten zum 
Schiedsrichter. Weigert fi) aber doc jemand, den Tribut zu ent- 
richten, jo bedroht ihn der Tontrollierende „picciuotto“, wirft zu 
gleicher Zeit den Hut in den Naden, dreht ſich den Schnurrbart, 
ſpeit zwiſchen den aufeinandergebifjenen Zähnen hindurch, zieht 
die Hofen in die Höhe — niemals wird eine diefer Formen ver- 
nachläſſigt — und das Duell beginnt. Alle Beiträge ded Tages 
werden gewiſſenhaft dem höchſten Vorgeſetzten ausgeliefert, der 
die Hälfte für jich behält und den Reft je nad) dem Grad verjchieden 
unter die Mitglieder verteilt. Faſt nie kommt e3 vor, daß ein Mit- 
glied die gefammelten Gelder für fich behält; gefchieht e3 aber doch, 
jo hat der Delinquent außer den ordentlichen Strafen noch die zu 
erwarten, daß ihn ein niederes Mitglied heimlich ermordet, um 
durch diefen Beweis von Bravour um die höchſten Grade Ton- 
furrieren zu können. 

Die Gerichtshöfe der Kamorra heißen die „Mamas. 
Die Strafen find meift folgende: Suspenfion von der Emp- 
fangsberechtigung des Gteueranteils, zeitweiliger oder perma- 
nenter Ausſchluß aus der „jchönen, reformierten Gejellichaft”, 
Ohrfeige auf der Straße, Berunzierung des Geſichts durch Glas⸗ 
jcherben, glatte Raſiermeſſer, ſchartiges Rafiermeffer, Bewerfung 
mit Kot. Die Todesurteile werden mit dem Mefjer vollzogen, 
je nach der Schwere des Verbrechens durch Stiche in den Bauch, 
in die Bruft oder in den Kopf. 

Über Aberglauben und Volksanſchauungen in Neapel 
belehrt uns am beiten die große Schriftjtelleein MatildaSerao, 
die im „Mattino”, dem Blatte ihres Gatten Edoardo Scar- 
foglio (Zartarin) unter dem Pfeudonnn „Gibus“ aß Pythia 


96 Neapel: Matilda Serao al3 Pythia 


den Brieffaften redigierte.*) Diejer Brieflaften iſt für die Bevöl- 
kerung Neapels ſehr charalteriftiih. Sind auch fehr viele Antworten 
der berühmten Dichterin ftereotyp, fo erfreuen doch auch viele durch 
eine gefunde Originalität, die manchmal an Grobheit ftreift. Dies 
ift verzeihlich da die Naivdetät der Neopolitaner, die zum 
Drafel kommen, and Unglaubliche grenzt. Staunenswert ift aber 
Matilda Serao’3 Bielfeitigfeit, fie enticheidet als letzte Inſtanz über 
alles und jedes. Nur muß man bedauern, daß Frau Matilda 
feine Erzieherin ift, fondern als Mitbefiterin ihrer Zeitung e3 nicht 
mit dem Publilum verderben, dieſes aljo aud) in feinem Aber- 
glauben nidt ftören mill. 

Faſt täglich finden fich im „Mattino” Anfragen über glüd- 
bringende Edelſteine und „Gibus“ beanttvortet fie regelmäßig. So 
erfahren wir, daß im Januar geborene Kinder zu ihrem Schuße des 
Onyx bedürfen. Die Februarkinder ſchützt der Saphir; die 
des MärzderChryfolith. Aprilfinder müfenden Amethyſt, 
Maitinder ven Achat wählen. Im Juni ift größere Auswahl: 
Beryll,Algamarinaund Rubin tun die gleichen Dienfte. 
Smaragd hilft im Juli, Rubin auch im Auguft. September- 
finder müfjen zum Jaſpis, im Oktober Geborene zum Dia- 
manten, Novemberjprößlinge zum Granaten greifen, wäh- 
rend der Dezember wieder im Schutze des Onyr flieht. Über andere 
Formen des Aberglaubens belehrt und Frau Serao, wenn fie jagt, 
daß fie an den „böfen Blick“ glaubt, daß der Freitag ein Unglüdstag, 
die Schildkröte aber glüdbringend fei; hingegen leugnet fie, daß 
die Karben irgendwelche myſtiſche Bedeutung haben, oder daß die 
Monate Mai und Oktober fchledte Hochzeit monate feien. 
AS glückbringende Brautgeſchenke zählt Matilda Gebetbücher, 
Roſenkränze und Opalſchmuck auf; denn der Opal bedeutet Treue 
bi3 in den Tod. Nicht genug damit ftellt „Gibus“ auch Prognoſen 

*) Seit einigen Jahren lebt Matilda Serao von ihrem Gatten 
getrennt und befämpft ihn in einem Konkurrenzblatte „Giorno“. 


Neapel: Volksſitten 97 





und Horoffope, ift aber ehrlich genug, zu geftehen, daß fie diefe 
dem Buche des Magierd Ely Star entnehme, da fie felbft Teine 
Magierin fei. 

Amüfant wirkt der „Brieflaften“ de3 „Mattino” auch, wenn er 
und über die neapolitaniihen Sitten belehrt. Einige Proben 
aufs Geratewohl: „An der Trauer um den Vater darf mehrere 
Monate lang Neapel® Hauptpromenade Via Caracciolo nicht 
betreten werden.” „Einem Fräulein darf man zum Geburtstage 
feine Blumen fchiden.” „Außerhalb der Schule ift der Profeffor 
ein Dann und muß feine Schülerinnen zu erft grüßen.” Ä 

Bezeichnend find folgende Antworten: „Kein Beruf ift jo an- 
ſtrengend, daß er nicht erlaubt, für perfönliche Reinlichkeit zu ſorgen.“ 
... „Da Sie Student und noch dazu Fein Neapolitaner find, dürfen 
Sie getroft bei einer älteren Dame wohnen.”... „Geld anzubieten, 
um eine Stelle zu erlangen, ift unmoralifh.”... „Wenn der Gatte 
abweſend ift, ift es unfchidlich, der Gattin einen Beſuch zu machen — 
falls diefe noch fehr jung ift.”... „Sm der Öffentlichkeit muß fich 
der Ehemann mehr der Schwiegermutter, al3 der Gattin widmen.“ 

.. „Gegen die Schwefter Xhrer Braut müffen Sie ftet3 referbiert 
fein.”... „Ein junger Mann, der fi} in der Theaterloge mit einer 
demi-mondaine zeigt, büßt den Ruf der Sorreftheit ein.“... 
„&3 iſt erlaubt, eine Frau ftandesamtlich zu ehelichen, nachdem man 
ſchon mit einer anderen kirchlich getraut war, aber es iſt unſchön.“ ... 
„In der Trauer iſt Schminken unerlaubt.”... „Es iſt lächerlich, 
in jungen Jahren ein langgeſtieltes Lorgnon zu tragen.”... „m 
ber Kirche darf man nur in gewiſſer Entfernung die Damen grüßen.” 

.. „gungen Damen darf man nie, verheirateten Damen nur felten 
dert Arm bieten.” .... „er fich auf einen Balle einem Fräulein’ 
ſelbſt vorftellt, ift ein Tölpel.“ ... a az 

Ausgiebig wird dad Kapitel Liebe behandelt: „Die beſie 
Definition der Liebe? — Die Dummen kenmen fie nicht,” fagt Ma- 
tilda Serao, die auch mit Ovid metteifert und Anmeifungen über 

Zacher Im Lande bes Erbbebens, 7 


98 Neapel: Liebe und Che 





die Kunſt zu lieben gibt: „Sie willen nicht, wie man eine Liebe3- 
er!lärung madt? Kommen Sie zu mir." — „Iſt der Verehrer 
fchüchtern, lächelt ihn an.” — „In den Augen des Verehrers leſen 
Gie, ob Sie geliebt werden.” — „Sie willen nicht, was ein ftarfer 
Händebrud bedeutet? O, find Sie unſchuldig!“ ... „Alle Welt 
flirtet von der Straße zum Balkon hinauf, da ift nicht? Böfes Dabei.” 
... „Dem Beichtvater müßt Ihr es fagen, daß Ihr Liebes- 
briefe erhaltet.”.. „Bfeift der Verehrer auf der Straße, fo ant- 
worten Sie ihm, aber mit Vorſicht.“ ..... „Es ift frivol, einem dreizehn⸗ 
jährigen Mädchen von Liebe zu ſprechen.“ .. „Die Frau muß rund⸗ 
Yich, nicht beleibt fein, um zu gefallen.”.. „Laſſen Cie doch die 
Nonnen in Rube, es gibt genug Frauen fonft auf der Welt.”... 
„Blatonifche Liebe zwifhen Mann und Frau gibt's nicht.“... 
„Korreſpondenz mit Herren, mögen fie nun Vettern oder. Nicht- 
bettern fein, ift immer gefährlich.” .... „Sie find vierzehn Jahre 
alt und wollen fich. aus Liebesgram töten? Nehmen Sie Eis.“. 
„Er hat Sie verlaſſen, bändeln Sie jofort mit feinem os 
Borgefegtenan, das ift die befle Rache.“ „Beten Sie zu San 
Pasquale, er. Hilft in der Liebe.” | 

. Seltjame Begriffe haben die Neapolitaner vom Anſtand in 
Brautſchaft und Ehe, ſonſt lonnte Matilda Sera o.nicht folgendes 
ſchreiben: „Diefe Sorte von — dürfen Sie dem 
Bräutigam nicht geſtatten.“... „Sie dürfen mit dem Bräutigam 
nicht zu.oft allein ſprechen. — —— die ſich achten, dürfen 
nicht aus der Reſerve herausgehen“ ... „Ein Brautpaar, das ſich 
umarmt und küßt, ſchadet der Moral.“ .... Ihre Braut. verlegte 
den Anſtand, als ſie Sie öffentlich inßte .. „Eine Braut darf nie 
einen. Jugendfreund. duzen.“ ... „Dieſe Art Küſſe dürft Ihr Eurer 
Braut nicht bieten.“ „unge Eheleute, die ſich Denn tüffen,. 
find tadelnswert.“ 

Mit der Liebe hängt die Che zufammen. Dieſe jcheint in 
Neapel wie andermärts vielfach ein Gejchäft zu fein; denn „Gibus“ 


Neapel: Liebe und: Ehe g0 


wird täglich mehrere Mal über die Höhe der eventuellen Mitgift 
befragt, bie man beanfpruchen könne. Wir, finden u. a. folgende 
Antworten: „Sie können nur wenig beanfpruchen, da Sie nur 
Amtzrichter find.“ .... „Ein Arbeiter, der bloß 3.30 Lire täglich 
verdient, hat feinen Anfpruch auf Mitgift.” ... „Mit einem Eim- 
fommen von 4000 Lire können Gie dochſtens 20 000 Lire bean- 
Ipruchen” uſw. 

Es mwürde zu weit führen, „Gibus“ auf andere Gebiete ; zu 
folgen, wenn fie 3. B. Vorſchläge für die Mode macht, angibt, 
wo man gewiſſe Waren bezieht, die Bedeutung der Vornamen 
erklärt, Gejundheitövorfchriften macht, Anſtandsregeln lehrt uſw. 
Folgen wir lieber den „ Sprüchen” und „Bedantenfplit- 
tern” der Dichterin. „Sie fragen, ob und warum da3 Ideal 
eriftiert ? Fragen Sie Ihren Portier. „Diegeitung3fprade 
hat nicht3 mit der Philologie zu tun.” ... Nur ein Kahlkopf 
lennt das Weſen der Kahllöpfigkeit.”.... „Das Warum des Todes? 
Ohne ihn wirde die Welt die Dummlöpfe nicht fallen.” ... „Die 
Eiferſucht, die aus der Liebe enifpringt, beleidigt nicht.” . .. . 
„Die Liebe ſchadet dem Manne mehr, ald der. Schmerz.” . . . - 
„Der Altersunterſchied in der Ehe bildet fein Hinbernig, 
ſpäter betrügen doch alle Ehemänner.”.... „Gs iſt beſſerFreunde 
zu haben, als fie nicht zu haben, notwendig tft mır d er Feind.” ... .; 
„Der Zweifel nährt die Liebe.” .... „Das Spiel tötet die Liebe.” . 

„Die Yreundfchaft, die der Siehe folgt, ift immer bitterfüß.“ — 
„Viele Verratene kehren zur. Verräterin zurück“. | 

Nod einige Worte fiber dad öffertlidhe Seren "Bon: 
den 600.000 Einwohnern Neapels wiſſen 80 000 täglich beim Auf 
ftehen nicht, wie fie ihr Mittagbrod finden follen, 300000 ftiften 
mühjelig ihr Dafein im. Handel und Handwerk, andere 150 000 leben 
bon Regierung und Kirche, und umter dem Reſt find einige reiche 
Adlige, viele verarmte Adlige, viele Wucherer, Gelegenheitögeauner 
und Gauner von Beruf. Lebtere müſſen natürlich in einer Stadt 

7% 


100 Neapel: Yeine Verbrecher 


gedeihen, die nach ihrer Degradierung von der Refidenz- zur Provinz⸗ 
ftadt ſtark verlor, und jetzt noch nicht genug Induſtrie und Handel 
hat, um fich felbft zu ernähren. Wo der regelmäßige Verdienft aber 
fehlt, entwickelt fich leicht der Sinn für mühelofes Reichiverden, und 
wo man für die traurigen Eriftenzbebingungen nur den Staat ver- 
antwortlich macht, gedeiht auch leicht die Überzeugung, daß es ein 
verdienftliche Werk fei, ven Staat zu betrügen. 

Anfangs 1899 wollten die Klagen über Neapel Zuſtände 
nicht verftummen, Einheimifche und Fremde wurden in den beleb- 
teften Straßen beraubt, ermordet, Damen, die zum Theater gingen, 
um ihre Jumelen erleichtert, einige unglüdlihe Männer fogar bis 
aufs Hemd geplündert. Die Spielhöllen, die Brivatlottobanten, 
die Wuchererburenur mehrten fi. Die Polizei blieb untätig. Bald 
fiel e8 auch auf, daß gewiſſe Lebemänner, die ſchon ein tüchtig Stück 
Geld verpußt hatten, nach langem unfreimwilligem Streik ihre Tätig. 
feit wieder aufnahmen. Auf dem Korſo zeigten fie die luxuriöſeſten 
Gefpanne, ihre Damen vom Caf&-Ehantant die evelfte Steine. In 
den Gefchäftzftunden fuhren jie vom Notar zum Bankier, von diefem 
zum Wucherer und Advokaten, und nachmittags ſah man fie in 
erregten Gruppen im Cafe. mit gewaltigen Banknoten prunfen, oder 
mit Wechieln.. Jetzt find die Herren — alle im Ausland; denn zur 
Operette gehört e3 ja auch, daß die Polizei ſtets zu ſpät ommt. 
Der Hauptflüchtling ift ein Advokat Su to, der ftet3 ein Grand. 
GSeigneur-Leben geführt hat. Vor anderthalb Jahren mußte er 
nad) Griechenland fliehen, weil er einer Kaufmann um 50 000 Lire 
betrogen hatte. Sieben Monate blieb er in Griechenland, fand: dort 
die Mittel, um fich mit dem betrogenen Kaufmann zu vergleichen 


und kehrte ſo unbehelligt nad) Neapel zurück, wo er eine Genoſſen⸗ 


ſchaft zur Ausbeutung der Gewinnſucht gründete. Die großen 
Betriebsfonds lieferten mehrere geldkräftige Wucherer. Man 
führte ein üppiges Geſellſchaftsleben und freundete ſich hoffnungs⸗ 
vollen Sproſſen der Ariſtokratie an. Das erſte Opfer war ein Graf 


Neapel: Korruption 101 


aus Salerno. Ihn köderte Herr Suſio und feine Agenten 
Tarafchi, del Forno und Merenda mit einem Projekt zur Yabri- 
faton falfherBantnoten. Ein Freund des falernitanijchen 
Edlen wurde Opfer Nummer zwei ald Teilhaber einer Gejellichaft, 
die vom Staate das Monopol zur Herftellung des Banknotenpapiers 
erhalten hatte. Beide Gejchäfte gingen glänzend, und fo verlegte 
ih die Gaunerbande, zu der auch ein jchmweizeriicher Bankier Felix 
Hermann trat, auf immer neue Branchen. Mehrere Leicht- 
gläubige opferten große Summen für ein „englijhes Gold- 
pulder”, das Silber- und Kupfermünzen in Sovereigns wandelte, 
oder für eine neue Erfindung, die Binjenholz ohne chemilchen 
Brozeß zu Gemüfe umformte, wieder andere kauften Hand- 
preffen, die Banknoten herftellten uſp. Da die Neapolitaner ſtark 
romantisch angehaucht find, fo erzielte die Bande bei ihren Opfern 
umſomehr Vertrauen, je mehr fie die Unterhandlungen mit myſti⸗ 
ſchem Beiwerk umgab. So Tam man meift in dunklen Grotten 
zufammen, zu ungewöhnlichen Tagezzeiten und übertrieb Schauer 
und Gefahr der Heimlichkeit. Selbitverjtändlich wurden die Banl- 
notenſpekulanten durch echte Scheine ſtets ficher gemacht. 

Oktober 1901 wurde die Korruption des öffentlichen Lebens 
auch Gegenftand der parlamentarischen Beratung, da der Minifter 
de3 Innern, Giolitti, durch den Senator Saredo eine Enquöte ver- 
anftaltet hatte, deren Bericht allein an Druckkoſten 60 000 Lire ver- 
ſchlang. Die Unterfuchungstommiffion hatte feit 1900 gearbeitet 
und al eine Behörde gewirkt, welche die ganze Verwaltungs⸗ 
mafchinerie der Stadt prüfte und vor ihr Forum alle Beamten, 
auch Abgeordnete und Stadtverorönete Neapels zog, ſowie alle Per⸗ 
ſonen, die Zeugnis ablegen oder Beſchwerden beibringen konnten. 
Es war eine Heidenarbeit, wie der boloſſale, recht objektive Bericht 
beweiſt, der auch für Hiſtoriker von großem Intereſſe iſt. Streng 
wiſſenſchaftlich beginnt er mit der Krankheitsgeſchichte des Pa⸗ 
tienten. In einer langen Einleitung, die einer beſonderen Be- 


102 Neapel: Patrone und Klienten 





ſprechung wert ift, wird der Charakter der neapolitaniichen Bevöl⸗ 
lerung analyſiert und ihr Leben unter dem bourbonifchen Defpotis- 
mus gejchildert. Als die Bourbonen verjagt wurden, zeigte e3 ich, 
daß Neapel nicht reif mar für das neue Regime, das ihm zwar Frei- 
heit, aber auch viele Laften brachte, da die guten Seiten des deſpo⸗ 
tifchen Regimes fortfielen. Neapel, das verhätichelte Schoßkind 
der Bourbonen, das geringe Steuerlaften kannte und künſtlich auf 
Koften des übrigen Königreichs in einer gewiſſen mwirtichaftlichen 
Blüte gehalten worden war, verlor jet plöglich den Rang und die 
wirtfchaftlichen Vorteile einer Hauptitadt; e8 wurde vom Süden 
wirtfchaftlich Iosgeriffen und ohne Übergang mit den Segnungen 
des italienischen Zentralismus in Verwaltung, Steuerſyſtem ufw. 
beglüdt. Ebenſo raſch ging es vom Protektionsſyſtem im Handel, 
da3 von Neapel jede Konkurrenz ferngehalten hatte, zu dem ent- 
gegengefegten über, fo daß das an modernen Handel nicht gewöhnte 
und auch unwiſſende Gemeinmefen ſich von der Konkurrenz andrer 
Städte erbrüdt fand. Auch tat die italieniſche Regierung nichts für 
den Hafen, weil fie anders zu viel zu tun hatte, und fo begann dag 
Elend, weil der Handel das nicht erſetzte, was die kaum nennens- 
werte Induſtrie hätte einbringen follen, aber nicht embringen fonnte. 
Als 1870 Rom Hauptftadt Italiens wurde, verjchlimmerte fich das 
Elend noch, weil der valliierte Adel und die höhere Bourgeoifie zum 
neuen Stern 30g, der bald Neapel Üüberflügelte. So kam es, daß das 
Volk, das feinen Organifationsgeift befibt, fich durch Heine Mittelchen 
zu helfen fuchte, und fo fchloß e3 jich an die parlamentarifchen Führer 
an, von denen e3 al von Patriziern Hilfe erivartete, wie die altrömi⸗ 
chen Klienten von ihren Patronen. Die Haupt- Patrone aber waren 
Lazzaro, San Donato, Nicotera und Billi. Natürlich wurden deren 
Freunde nun große Herren, und die Freunde der Freunde auch, 
und fo entwickelte fich ein ganzes Syſtem von ſtliquen und Sippen, 
die nach oben hin nur den Zweck hatten, den „Herten“ von Reapel 
die Herifchaft zu fichern und nad) unten hin eine immer größere 


Neapel: Mlüingel 103 


Gefolgichaft durch Stimmen- und Amterfchacher und durch Begün- 
ftigungen jeder Art zu gewinnen. Zu den vier Herren gefellte fich 
als fünfter Rocco di Zerbi, der ſich als Abgeordneter eine 
große Klientel fchaffte (er erſchoß fich im „Banca Romana” Krach 
etwas zu voreilig, da er vielleicht auch gerettet worden wäre, wie 
fo diele andere, wenn er nicht den Kopf verloren hätte) und fein 
Adjutant Caſale, der bis zum Borjahr Abgeordneter war. 
Diefe „Herren“ benutzten natürlich die hohe und Die niedere 
Kamorra, die fich üppig entwidelte, und ungejtraft hohe Summen 
verdiente durch da3 heimliche Qottofpiel, durch Hehlerei, Raub und 
Diebftahl. Zugleich aber entwidelte ſich auch das Unweſen der 
„interposta persona“, d. h. der „Bermittler”, die von der Un⸗ 
wilfenheit des Volles leben und diefem alle Gefchäfte, ja jeden 
Gang zu den Behörden vortun, die es ebenfo gut felbft tun könnte. 
Diefe Vermittler, die auch die Säle der Themis erobert haben, ſetzen 
fich zumeift aus den „Studierten” zufammen, die in Neapel lieber 
ftellenlos fein, al3 zu ihrer Provinzheimat zurückkehren wollen, und 
wie groß das Gelehrtenproletariat in Neapel iſt, kann man daraus 
ermeffen, daß 1897/98 von den 7356 juriftiichen Studenten in 
ganz Italien auf Neapel allein 2043 fielen. Wie fehr auch die 
Regierung gegen diefe Vermittler und gegen die Kamorra an- 
kimpfen mochte, fie biieb machtlos. Im Jahre 1898/99 Hagten die 
Bolizeibehörden in 633 Fällen auf Stellung unter Bolizeinufficht, 
in zwei Jahren aber erteichten fie nur in 107 Fällen das richterliche 
Blacet, alle anderen Fälle wurden durch geheime Einflüfje mit 
einem non liquet abgetar. 

In einem folgenden Kapitel geht dann Saredo die Geſchichte 
aller ſtädtiſchen Verwaltungen ſeit 1860 durch. Der Raum verbietet 
es leider, auf die Einzelheiten einzugehen, die oft von einer rührenden 
Naivität der Herten Stadtväter zeugen, welche es oft fertig brachten, 
in einer Sitzung bis zu einer halben Million Lire an Begünſtigungen 
Fir ihre Freunde zu bewilligen. Kein Wunder, daß Neapel jährlich 





104 Neapel: Stellenvermittlung 


ein Defizit von 21/, Millionen Lire und im ganzen jetzt ein Ge⸗ 
famtdefizit von 16-18 Millionen aufweilen kann. Wie gewirt⸗ 
ichaftet wurde, geht aus dem höchſt erbaulichen Kapitel „Stadt- 
verwaltung und Lolalpreffe” hervor. Die Preffe war: natürlich 
gekauft. Mit großer Rüdfichtölofigkeit nermt Saredo alle Namen, 
zählt auch alle Redakteure auf, die zugleich Beamte der Gemeinde 
und Beamte der Trambahn waren, abgejehen davon, daß e3 ihnen 
auch fonjt an gut bezahlten Nebengeichäften nicht fehlte. Dabei 
werden natürlich Sachen enthüllt, die auch anderswo und nicht nur 
in Stalien vorlommen. Aber im romantischen Deutjchland wird 
man jehr enttäufcht fein, daß au) Matilda Serao auf die 
Anklagebank gezeret wird. Daß ihr Mann Scarfoglio mit 
feinem „Mattino“ fehr lohnende Nebeneinnahmen hatte, da3 
jchloß man fchon aus dem verfchiwenderifchen Leben, das er führt; 
denn er hatte nicht nur eine eigene Dampfyacht, fondern redigiert 
jein Blatt gerne von der Riviera aus. Aber daß auch die große 
Dichterin in Geldgeichäften fündigte, dad mußte noch niemand. 
Freilich gleich auf Ganze, wie ihr Gatte, ging fie nicht: der Tieß 
fih für einen Strohmann die Pacht der Karrenfteuer zuſprechen, 
verlangte 30000 Lire von einem Ingenieur, der die GStraßen- 
reinigung pachten wollte, und forderte für fich, für Cafale, für 
Summonte und Bollaro de Lieto 500 000 Lire von dem Bankhauſe 
Weill-Schott, das eine ftädtiiche Anleihe negotiieren wollte. 
Bon der Gasgeſellſchaft verlangte er 30000 Lire, die Tramway⸗ 
gejellichaft aber zahlte dem „Mattino“ im Dezember 1898 3000 
Lire und Scarfoglio perjönlich im Januar darauf 10 000 Lire uſw. 
Matilda Serao verlegte fich auf das Geichäft, ftädtifche Amter zu 
vergeben und bediente fich zu dem Zmede eines „Reifelorrejpon- 
denten” ihres Blattes. Ein gewiſſer % o ti, der im Stabtpoliziften- 
korps befördert fein wollte, mußte ihr 200 Lire gegen einen Wechjel 
leihen, ein ausgedienter Militärmufiler aber 3000 Lire gegen Wechjel 
dafür, daß er durch ihre Vermittlung einen Poften als Pedell in 


Neapel: Ergöbliche Kunſtpflege 105 


einem Mujeum erhielt. Da aber Minifter Gtanturco nur einen 
proviſoriſchen Posten als PBedell in einem Gymnafium frei hatte, 
fo reflamierte der Militärmufifer fein Geld zurüd, das er aber erft 
nad) Jahren wieder erhielt, freilich mit einem Abzug von 350 Lire, 
den fi Matilda Serao für ihre Bemühungen ausbat uſw. Der 
„Don Marzio“ war auch nicht übel. Als die Stadt wegen eines 
neuen Kontraktes mit der Tramwaygeſellſchaft verhandelte, forderte 
er vom Bürgermeijter fchlanfweg einen Pump von 100 000 Lire. 
Dann geht der Bericht ausführlich alle Zweige der ftädtifchen Ver⸗ 
waltung durch, wobei namentlich auf dem Gebiet der Schule be- 
deutende Skandaloſa herausfommen, die beweilen, daß die Lehrer 
bon der Kamorra ein- und abgejeßt und zu unehrlichen Prüfungen 
und Zeugniſſen gezwungen wurden, 

Gleicherweije verfuhr man mit den Advokaten der Provinz, fo 
daß e3 fein Wunder war, wenn 60 %, aller Provinzialprozejje ver- 
Ioren gingen. Was den Grundbefis der Provinz anbetrifft, 
jo fehlte es ftet3 an einem regelmäßigen Inventar und alle Grund- 
jtüde und Häufer hatten Unterbilanz. So brachte ein auf 200 000 
Lire bewertete Grundftüd jährlich nur 1000 Lire ein ufm. Bei 
einem andern Belit, dem Gut von PBortici, ließ man einen Pächter 
ruhig auf eigene Rechnung Holz jchlagen und ließ ihn die Gebäude 
ruinieren, bloß mweil er der Gläubiger eines Provinzialrat3 war. In 
der Provinzialbibliothef befanden fich fo viele Beamte, daß alle 
müßig gingen. Noch fchöner erging es mit den Kunſtſchätzen 
der Provinz. Sie hatte ungefähr vierhundert Gemälde und hatte 
dafür auch einen Inſpektor, doch wurde nie ein Inventar auf- 
genommen oder ein Katalog angefertigt. Der famoſe Herzog von 
San Donato, welcher Borfitender der „Gejellihaft ‚zur 
Förderung der Fünfte” war, bejorgte troß diejer Eigenjchaft und 
privatim den Anlauf der Bilder, ja er veranlaßte die Provinz, für 
52.000 Lire Aktien diefer Geſellſchaft zu Taufen, für welche dieſe 
Anteil an den Losgemwinnen haben ſollte. Aber niemand Tontrol- 


106 Nenpel: Provinzliientel 





lierte jemal3 diefe Verlofung. AB San Donato den Borfit der 
Kunftgejellichaft niederlegte, wurden auch Teine Bilder mehr an⸗ 
getauft (1). Greulich geradezu waren die Zuftände im Pro 
vinzial-$rrenhaufe. Obfchon mehrere Kommiffionen feft- 
ftellten, daß die Kranken Hunger Titten und mißhandelt wurden, 
blieb der Bermaltungsdireftor ruhig in feinem Amte. AB ein neues 
Irrenhaus gebaut werden follte, übergab man den Bau nicht dem 
Architekten, der den erften Preis von 20000 Lire davongetragen 
hatte, fondern eimem Gevatter des Klümgels, der gleich darauf 
falfierte, worauf der Eigentümer des Grundftüds, auf dem der Bau 
entftehen follte, eintrat, ohne die Baugelder zu befiten, jo daß ein 
Nattenkönig von Prozefjen entitand, der noch nicht gelöft if. Es 
folgt nun ein riefiges Kapitel über die Straßenbauten, bei 
denen die Voranſchläge ftet3 mindeſtens um das Dreifacdye liber- 
ſchritten wurden. 

&3 würde zu weit führen, ins einzelne zu gehen. Die gleichen 
Veruntreuungen und Korruptionzfchäden zeigen fich in der Unter- 
haltung der Straßen und bei den Trammays und edef- 
triihen Bahnen der Provinz. Die Finanzverwaltung mar 
natürlich unter folchen Umftänden nicht minder grotesk. Saredo 
ſchließt: Kurzum, die Provinz war immerfort in den Händen von 
Berjonen, die ein engmafchiges Neb von Patronen und Klienten 
darftellten und die Provinz zu ihrem privaten Vorteil ausbeuteten. 
Einmal nur habe ein Mann, der Senator Codronchi aß Prü- 
fett Ordnung geichaffen; er habe neue Wahlen gemadht und erreicht, 
daß die Klerilalen ftreilten, und jo habe er die Hauptübeltäter aus 
der Provinzverwaltung entfernt. Unter dem folgenden Minifterrum 
wurde er abberufen, und die Entfernten kamen alle wieder zur 
Krippe zurüd. 

Am meiften brandmarlt Saredo den Herzog di San Do 
nato, der ohne eine Spur eigenen Vermögens flet3 den Herrn von 
Neapel fpielte, allgemein populär war und dabei eine, Verſchwen⸗ 


Neapel: Herzog di San Donato 107 


dungsfucht und Pompofität” zeigte, die grenzenlos waren. Dabei 
war die Feigheit der Neapolitaner jo groß, daß ſelbſt Männer, die 
ihm öffentlich angegriffen hatten, jchließlich fich doch herbeiließen, 
mit igm den Vorſitz im Provinziaftat zu teilen. Der Herzog beftritt 
feinen Lebensunterhalt durch die reichen Trinkgelder, die er bei Ver⸗ 
gebung von Amtern, öffentlichen Arbeiten und Konzeſſionen ein- 
ſtrich; langte es nicht, fo Tieß er ich gnädig größere, auch Heinfte 
Beträge pumpen, die er nie mwiedergab. Geine Naivität ging fo 
weit, daß er an ſeinem Namenstage mit all den Gefchenfen Staat 
machte, die ihm die Beamten, die Pächter, die Direktoren der Bahn- 
geſellſchaften machten. Noch größer aber war die „Naivität” feiner 
Trabanten, die feine ftadtbefannten „Untegelmäßigfeiten” öffentlid) 
als Tugenden priefen. Ja, al er 1894 im Barca Romana- Prozeß 
m der Kammer von der Kommillion der Sieben gebrandmarft 
wurde und deshalb anftandshalber feinen Rücktritt vom Vorſitz des 
Provinzialrat3 nehmen mußte, erhoben fich in dieſem ſelbſt Räte, 
die ihn al einen verleumdeten Mann entichuldigten. 

Solche Zuftände laſſen natürlich tief bliden, fie laſſen aber 
auch nicht die Hoffnung auflommen, daß es fo bald in — beſſer 
werden wird. 


Die Eruption des Veſuvs im April 1906. 

Meine erfte Bekanntſchaft mit dem Veſuv machte ich im Auguft 
189%, einen Monat nach feiner damaligen Eruption. Am Wbend 
unferer Ankunft — ic) halte mich einer Künfilergefellichaft ange- 
ichloffen —, zeigte fich der Vulkan in jeiner ganzen Pracht. Kaum 
war die violette Farbe, die er bei Sormenuntergang zeigt, dem 
Dunkelgrau und dem Schwarz gewichen, da leuchtete e3 in der 
Mitte des Berges flammentot auf: e3 war die neue Lava, die feit 
einigen Tagen wieder dem Berge entfloß. Man hat das Gefühl, 
aß ob man dem Guß in einer Riefeneifenhütte zufchaut. Wir 


108 Neapel: Aufftieg zum Veſuv 


berieten lange hin und her, wie wir die Beſteigung des Vulkans 
anfangen follten; er ift ja nur 1300 Meter hoch, aber troßdem er- 
fordert feine Bejteigung mehr Arbeit al3 ein doppelt fo hoher Berg, 
weil er über die Hälfte des Weges mit einer tiefen Schicht von 
Bimfteingeriefel und Lavaajche bedeckt ift, Die dem Fußwanderer 
Schwierigkeiten macht. Nun gibt e8 mehrere Arten des Aufſtiegs. 
Bequeme Leute, denen da3 Geld recht Ioder figt, zahlen an die be- 
fannte Firma Cook fünfundzmanzig Franc, dann werden jie in 
Neapel mittelft Wagen abgeholt und bis zur halben Höhe des Berges 
gefahren. Dort beiteigen fie die Drahtfeilbahn, die in zwölf Minuten 
bis an den Fuß des Aſchenkegels führt, und gehen von dort aus 
auf feitgeftampftem Promenadenweg bis zum Krater, in einer 
halben Stunde etwa. Andre Leute fahren bis nad) Reſina, dag auf 
der Stätte des alten Herkulanum liegt, und fteigen von dort in Sänfte 
oder auf Pferdes Rüden langſam hinauf. 

Der gebräuchlichite Aufftieg iſt aber der von der Rüdfeite des 
Berges aus, von Pompeji. Man Tann ihn dort in drei Preifen 
haben, zu fünf Francs vom Hotel Sole, zu fieben Francs vom Hotel 
Suiffe und zu zmölfen vom Hotel Diomede. Letzteres hat nämlich 
einen eigenen Weg bahnen lafjen, der aber durch feine Einförmigfeit 
ermüdet. Als der beite wurde der mittlere Weg gewählt. Wir 
fuhren alfjo nah Bompeji nach dem Schweizer Hotel, da3 für 
fünf Francs gute Penfion, Wein einbegriffen, bietet, und nachts 
um elf Uhr ftand für jeden Teilnehmer ein Pferd bereit. Der Führer 
mar auch beritten und nur der Heine Pferdejunge war zu Fuße, 
freilich profitierte er auch von der Kavallerie, da er ich abwechſelnd 
bon dem einen oder anderen Pferde ziehen ließ, wobei der Schweif 
jedesmal da3 Verbindungsmittel abgab. Vor dem Aufbruch machte 
uns der Wirt darauf aufmerffam, daß wenige Stunden vorher in 
Neapel ein leiſer Erdftoß vernommen worden fei und mahnte zur 
Borlicht, und dann ging’s hinaus in die laue Vollmondnadht. Der 
Ritt wird und unvergeßlich fein. Zwei Stunden lang ging’3 durch 


Veſuv: Auf dem Aſchenkegel 109 


die prächtigfte Landfchaft, Olbaumgärten und Weinberge, freilich 
recht langſam, denn die Pferde hatten Mühe, durch den Aſchenſand 
borwärts zufommen. In Boscotrecaſe, dem hödjiten Dorfe, 
ſchloß fichh ung ein Jagdhund an, der, wie unjer Führer fagte, aus 
Liebhaberei jede Veſuvpartie mitmacht. Gegen zwölf und einhalb 
machten wir an einem einfamen Wirtshaus, der casa bianca, 
Halt, um die Pferde verſchnaufen zu laſſen, und ftärkten uns felbit 
mit feurigem Veſuvwein, den fich der Wirt in Anbetracht der Höhe 
höher bezahlen ließ, woran er recht tut. Die Flaſche koſtet fonft 
nur fiebzig Gentefimi, während wir eine Lire zahlten. Nach halb- 
ftündiger Raſt ging es weiter auf jteilem Zickzackweg durch die 
Schlackenwüſte. Kein Baum und Strauch war mehr zu fehen, 
braun war der Boden und ftellenmweife ſchwarz. Doc) diefe Wüfte 
war verklärt durch den Vollmondglanz und verichönt Durch das 
entzüdende Panorama. Unjer Blid ſchweifte über den filbernen 
Golf, der von Hunderten von Lichtern umſäumt und bejegt war, 
und weit links glikerten die ftarren Fellen von Capri. Gegen 
zwei Uhr erreichten wir den Fuß des Aſchenkegels. Die Pferde wur⸗ 
den angebunden, und nachdem wir und eine Zeitlang an dem. 
herrlichen Anblid gemweidet, den tief unter und die glühende Lava 
bot, gingen wir in die niedrige Schußhütte, um bort auf einent nn 
Rohrlager die Dämmerung abzumarten. Ä £ 

Um halb fünf Uhr begann der Aufitieg. Ein Bildhauer aus 
Leipzig, der die alte Bergfteigerregel nicht kannte, wonach man im 
Anfang des Aufftiegs jchleichen muß, kraxelte jugendmutig die fteile 
Höhe empor, aber fchon nach zehn Minuten hielt er erfchöpft inne, 
denn es erfordert nicht wenig Kraft, in der Aſche emporzuklettern. 
Schließlich zogen wir es vor, auf Ben Lavablöcken emporzuffimmen, 
freifich auf Koften unſeres Schuhwerks, das fich an den fcharfen 
Nadeln des morjchen Geſteins heftig verwundete. Auf halber Höhe 
des Kegels trafen wir endlich eine Art von Zickzackweg, der aus roh 
ineinandergefügten Schladen hergeftellt war. Unterdeſſen war 


110 Veſud: Ausbruch 1906 


die Sonne aufgegangen und ergoß ihren rötlichen Schein über den 
ihimmernden Golf, und nun ſah man all’ die herrlichen Städte, 
Caſtellamare, Torre Annunziata, Torre di Greco, Portici, die 
den ſüdweſtlichen Teil des Golfs jchmüden. In einer Stunde war 
der alte Krater erreicht, der jebt öde und ftumm daliegt, aber durch 
die wunderbar gedrehten und gedrechlelten Steinmafjen, die feinen 
Boden bededen, nody Zeugnis ablegt von der Schmelzarbeit, bie 
einft der heiße Odem des Berges hier verrichtete. 

Und Höher ging’s, bis wir, von den Aufjehern des Teuer- 
riefen an unferen Beinen gehalten, in den Kraterfchlund Hinab- 
Ichauten. Das aljo war der Malefieus, zugleich der Segen und der 
Fluch des ganzen Gebiet3 und feiner Bewohner, die, wie Lord 
Byron Sagt, ftet3 zwiſchen Gott und Satan eingefpannt find! Da 3 
der Verräter, der fich Jahrhunderte lang vor Chrifti Geburt ſchlafend 
geſtellt und jo die Menjchen in Sicherheit gelullt Hatte, daß Strabon 
und- Diedor ihn für erlofchen hielten. Wie wurden aber 79 n. Chr. 
die Bewohner Pompeji's und Herculanums aus ihrem trügerifchen 
Glauben aufgeichredt! Wer e3 wiſſen will, Iefe es nach in Bulwers 
„Leiten Tagen von Pompeji"! 

-- Über die mehr al fünfzig Eruptionen, die dem Unglüdstag 
des Yahres 79 folgten, berichtet jedes Neifebuh. Wozu alſo Eulen 
nach Athen tragen? 


. tt. 

- Der Ausbruch des Vulkans vom 5. April 1906 ift dem 
von 1872 zu vergleichen. Der Lavaſtrom war fünfzig Meter breit und 
zwei Meter tief und hatte eine Geichivindigkeit von ſechs Dieter in 
ber Mimtte. Mit Inutem Krache, der einer Kanonade ähnelte, ſtürzten 
die inneren Wände des Kraters zufammen. Profeſſor Matteucci 
bom Obfervatorium befürchtete ſchon am 6. April, daß der ganze 
Kegel in fi) zufammenftürzen winde. Am Morgen des gleichen 
Tages war die Lava nur noch einen Kilometer von Boscotrecafe 


Veſuv: Kolgen der Eruption 111 


entfernt. Wenige Stunden darauf wurde die Eruption ſtärler. 
Es trat dazu noch Regen ein, der die Bauern zur Verzweiflung 
brachte, weil er die fogenannte „pluvia caustica“ bildet, die Bie 
ganze Vegetation verbrennt. Allüberall hieben fie Weinſtöcke 
und Bäume ab, um fie vor der verfengenden Lava zu ſchittzen. 
Gegen Nachmittag verließ die Benölferung von Boscotre 
cafe den Ort, nachdem fie vergeblich verfucht hatte, den Lava⸗ 
from dadurch zu hemmen, daß fie ihm die Gtatue der Heiligen 
Anna entgegentrug. Auch in Portici brach eine Panik aus, weil 
in der Nähe der Stadt Lava und Dampf ausftrömten, | 

Am 7. April lauteten die Nachrichten vom Veſuv immer. 
trauriger. Ein neuer Krater hatte ſich vormittage am Weftabhange 
geöffnet, der Lava nad) Dttajano entjandte. In der Nacht 
vom 7. auf den 8. April geftaltete jich die Eruption zur Kataſtrophe. 
Unter großem Getöfe des Vullans erfolgten zwei gewaltige Erdbeben⸗ 
ftöße. Ganz Nenpel war auf den Beinen, alle Kirchen füllten ſich, 
al3 die Nachricht eintraf, der Haupifegel ſei eingeftürzt, das Obſer⸗ 
batorium : zerftört, Cools Drahtſeilbahn vernichtet. Der Veſuv, 
der Boscotrecaſe jchon vernichtet hatte, glich) einem einzigen Feuer⸗ 
herde. Große Panik rad in Torre Annunziata aus, 
weil bie Stadt nicht mur von der Lava bedroht, fondern auch von 
glühendem Aſchenregen heimgefucht wurde. Stürmiſch verlangte 
man Extrazüge und Kriegsſchiffe, um die Sau, aus den 
gefährdeten Städten fortzuichaffen. 

Immer trofilofer wurden die Meldungen im Laufe des 8. April. 
In Zorre Annunziata meuterten die Gefangenen, die Einwohner von 
Ottajano flohen nad: Neapel, San Sebaſtiano wurde 
geräumt, in San Giuſeppe ſtürzten durch den Steinregen 
viele Häufer und die Pfarrkirche ein. Die Panik war unbeſchteiblich. 
Die Behörden befütcchteten Plünderungsſzenen, auf den Landſtraßen 
herrichte das Chaos, weil die Karren und Wagen der Flüchtigen 
ineinander fuhren. Der Nordweſtwind trieb am Morgen den 


112 Veſuv: Afchenregen 


Aſchenregen 200 Kilometer weit bis nach Apulien, fiberall die Luft 
verfinfternd, fo daß in Gerignola, Barletta, Andria dad Volk glaubte, 
der jüngfte Tag fei gelommen. Am 9. April verftärkte fich der 
Aſchenregen, Ottajano bedeckte er zmei Meter hoch, in Neapel ftieg 
die Ajchendede auf fünf Zentimeter. Die fremden Touriften flohen 
aus der Stadt, da die aufgeregten Inſaſſen der Vorftadtquartiere 
die Kirchen ftürmten, um Prozeffionen zu veranftalten, und fo Auf⸗ 
ruhrſzenen befürchtet wurden. In der Vorfladt Giovanni Teduccio 
blieb ein Zug mit taufend Flüchtlingen fteden, weil das Zugperjonal 
im Schred. vor dem Aſchenregen auf und davongegangen tar. 
Bon den 30000 Einwohnern Torre Annunziata’3 blieben nur 
2000 zurüd. Neapel allein barg fchon über hHunderttaufend Flücht- 
linge au3 der Umgegend. Der Lavafttom, der Torre Annunziata 
als Ziel erwählte, hatte eine Front von 150 m und war haushoch, 
er zerfchnitt die Eifenbahn, zerftörte die elektrifche "NRingbahn um 
den Veſuv und bedrohte die Hauptitation der Stadt. Ein Arm: 
der Lava wälzte fich, nachdem diefe fich vor dem Kirchhof von Torre: 
Annunziata gejpalten hatte, auf Pompeji zu, blieb aber zum 
Glüde jtehen. Gegen zehn Uhr morgens brach Sturm in Neapel 
aus, ein warmer Regen ergoß fich über die Stadt, die von zehn 
Zentimeter hoher Schlammſchicht bedeckt wurde und vielfach Titt, 

weil: zahlreiche Dächer unter der Laft von Aſche und Un 
einftürzten. - 

Am Abend des 9. April traf ich auf Veiehl meiner Zeitung in 
Neapel ein. Im folgenden gebe ich Rurz meine Aufzeichnungen 
wieder: 

Ä Neapel) 9. April 1906, 10 Uhr n. Die Stadt Hat ſich von ihrer 
Panik zum Teil wieder erholt. Die Hauptftraßen find notbürftig 
gereinigt, die Heineren aber mit Aſche bededt, die ſchmutzigem Schnee 
gleicht. Der Veſuv ftößt eine riefige Rauchwolke aus, die wie ein 
ſchwarzer Vorhang über dem Meere hängt. Das Wetter ift fchön. 
Der Zufall, daß der Umfchwung des Wetter und der teilmeife Stilf- 


Bein: Seine Enthauptung 113 


fand der Lava in dem Augenblid begannen, als das Königspaar 
im Automobil in Torre Annunziata einteafen, wird vum aber» 
gläubifchen Volle als gute Omen betrachtet. Der König wollte 
nachher nad, Dttajano fahren, fand aber alle Wege unpaffierbar, 
anf der Rüdfahrt geriet er in einen Zyklon. In Ottajano ftürzten 
durch den Steinregen da3 Bezirkgefängni3 und die Karabinieri- 
Inferne ein. In San Giufeppe haufte der Steinregen noch fchlimmer. 
An alle Unglüdaftätten wurden Soldaten gefchidt, um die verlaffenen 
Häufer zu ſchützen. Der Veſuv hat feine frühere 
Form eingebüßt, da der Hauptlegel glatt abrafiert erfcheint. 

Neapel, 10.April 1906. Erſt jet lommen Nachrichten über das 
geftrige große Unglüd in San Giujeppe. Die Kirche, die fchon 
alt und baufällig war, wurde meterhoch mit Aſche bededt. Am 
Morgen waren breihundert Perſonen in ihr verfammelt, als dag 
Dach einftürzte. Etwa Hundert Perſonen konnten fich retten, die 
übrigen wurden verfchüttet. Gleichzeitig ſtürzten andere Häufer 
ein und erfchlugen Hunderte von Menfchen. Nad) der lebten optimi⸗ 
ftifchen Schäbung zählt man über vierhundert Tote und zahliofe 
Berwundete. Die Aſche in den Straßen liegt vier Meter Hoch. 
Die Bernnmdeten blieben lange ohne Pflege. Auch die Soldaten 
des Rettungsdienſtes maren außerftande zu helfen, da fie felbft, 
weil der Ort vom Berlehr abgeſchnitten ift, des Nötigften erniangelten. 
Es ſcheint fich zu beftätigen, daß der Lavaausfluß zum Stillſtand 
gelommen ift; gut unterrichtete Leute aber betrachten diefe Meldung 
a8 zu optimiſtiſch. Profeffor Di Lorenzo, der Vullangelehrte, 
berechnet die Höhe der Rauchfäule, die der Bullen ausftößt, auf 
5 bi3 7000 m. Der „Mattino” meint, die in fei jetzt in 
ihte letzte Phaſe eingetreten. 





Neapel, 11. April 1906 (Dienstag). 
MB die erften Nachrichten von der erhöhten Tätigkeit des Veſuvs 
eintrafen, gab es in Rom, auch unter den nicht italieniſchen Ein- 
Bacher: Im Lanbe bed Grbbebens. 8 


114 Veſuv: Der Lavaſtrom 


wohnern, viele Skeptiker, die wieder Hotelierphantaſie witterten. 
Wie es nämlich Hoteliers in Sizilien geben ſoll, die jeden Augenblick 
den Beſuch irgend eines gelrönten Hauptes in befreundete Blätter 
Ianzieren, jo gibt es in Neapel Leute, die den Veſuv fremden- 
induftriell ausbeuten, indem fie ihn von Zeit zu Zeit toben laſſen, 
um die Anziehungskraft der bella Napoli zu erhöhen. Weniger 
jteptiiche Leute aber wiejen auf die Tätigleit des Stromboli und das 
Erdbeben von Uftica Hin; auch bemerkten fie, daß die römiſchen 
Blätter im Intereſſe der eigenen Yremdeninduftrie nicht fo aus⸗ 
führliche Berichte jenden würden, falld die Eruption nicht wirklich 
bedeutend wäre. Aber den Ernft der Lage begriff man doch erft 
am Sonntag den 8. April. Nun hätte am liebften jedermann nad) 
Neapel reifen mögen, um dad Yeuerjchaufpiel zu genießen. Doc) 
die Schauluftigen, die am Montag anlamen, waren enttäufcht; denn 
der Veſuv war ein Obſturant, der feine wilden Taten hinter einer 
Rieſenwand von Rauch- und Aſchenwolken verübte. Wenige Erup- 
tionen, felbjt die von 1872, waren fo aufregend wie die jeßige, weil 
der Veſuv nicht nur mit Lava arbeitete, jondern auch weithin Aſche 
verftreute, die durch den folgenden Regen zum Üßfchlamm wurde, 
der alle Vegetation im größten Teile feines Gebietes verwüſtete. 
Was die Lava anbetrifft, jo zerftörte fie von Nord nach Südoft 
laufend alle Randhäufer bis Bo3cotrecafe, diefes zum Teil 
felbft und rüdte bi8 Torre Annunziata vor, der imduftriellen, 
fleißigen Stadt, diejes derartig bedrohend, daß neun Zehntel der 
Einwohner flohen. Der flüſſige Strom war unüberjehbar: groß 
und an Gtellen, mo er fich ftaute, haushoch und dabei von einer Kraft, 
daß er Blöde von mehreren Metern Durchmeffer wie Nußichalen 
ipielend herummarf. Ein Wunder fcheint e3, daß er vor Torre 
d'Annunziata Halt machte. Freilich fand er außer natürlichen Hinder- 
niffen noch Tünftliche, die fchnell von Menſchenhand aufgemworfen 
wurden. Die Errichtung von Dämmen gab man zwar als nutzlos 
auf, dafür zog man tiefe Gräben, die fich ſchäumend füllten und durch 


Veſuv: Bevöllerung feines Gebietes 115 


ben Anprall Lavawellen erzeugten, die felbft ftauend wirkten. Ein 
Schredenzfchrei ging durch die ganze gebildete Weit, als es hieß, daß 
fi) ein Strang der Lava füdmeltlich von Torre Annunziata nad) 
Pompeji Hin bewege. Zum Glüd blieb es bei der Panik. Die 
Pioniere hatten aber auch alles getan, um die Gefahr abzuwenden 
und den Feuerſtrom möglichſt weit abzulenken. 

Außer den Landhäuſern und Boscoreale zerſtörte der Vullan 
auf der Südſeite noch die Ringbahn um ſeine mächtigen Flanken, 
im Weſten die Cook'ſche Drahtſeilbahn und das Obſervatorium. Dann 
betheerte er auch noch die Nordoitfeite nach Ottaian o und deſſen 
Anhängfel San Giufeppe Veſuviano Hin, ſowie einen Teil des Nord- 
weftgebiet? auf San Sebaftiano zu. Wie groß der Schaden 
ift, der auf den Feldern angerichtet wurde, läßt fich noch nicht ſchätzen. 
Wenn man aber bedenkt, daß der Boden teurer ift, al3 der im Por 
Tale, jo daß für einen „moggio“ 2000 Lire bezahlt werden, mern 
man ferner erwägt, daß die Aderbeftellung auf lange Zeit unmöglid) 
it, wern auch die Bauern fofort in ihrer optimiftiichen Weiſe zum 
Pflug greifen werden, jobald erſt wieder gutes Wetter eingetreten 
iſt, fo wird das dide Ende erft nachlommen, Dafür Spricht jchon die 
Bevölferungsdichtigkeit des Gebiets, die faft ebenjo groß ift, wie die 
auf den fruchtbaren Hängen des Atna. So hatten 1901 Bosco⸗ 
trecaſe 10 361 Einwohner, Boscoreale 9 352, Torre Anmunziate 
28 664, Torre de Greco 35 328, Barra 11 973, Refina 20 152, Portici 
14 329, Somma 10 096, ©. Giorgio a Cremona 5 798, ©. Giovanni 
Zeduccio 20 891, ©. Anaftafia 8 742, Ottaiano 12 764 Einwohner. 
Ein Teil diefer lebt zwar von der Induſtrie an der Küfte (Mühlen, 
Waffenfabriten, Nudelfabriken ufm.), aber die Mehrzahl der Be- 
wohner find doch Adersleute. Zum Schaden auf den Feldern gefellt 
ſich noch der an den Häufern. Nicht umjonft wurde in diefen Tagen 
viel von den legten Tagen Pompejis gefprochen; denn in der Tat, 
es gibt viele Berührungspuntte in der legten Zeit mit Pompejis 

Untergang. Auch damals mwütete der Afchenregen, der die Dächer 
| ER 


116 Veſuv: Einfturz der Neapler Markthalle 


durchbrach und die Wege und Straßen unpafjierbar machte. Es 
ſcheint eine Jronie des Schichſals; je gefährlicher ein Erbbebengebiet 
ift, defto leichtfinniger werden die Menfchen. Die Kataftrophe von 
Kalabrien — nur mit Schaudern gedenke ich noch der Ruinenſtädte 
— wäre nie jo groß geworben, wenn die Häufer anders und jedenfalls 
elaftiicher gebaut worden wären. So ift es hier mit den Dächern. 
Das leichteſte an den fo wie fo fchon leicht gebauten vieredigen 
Kaſtenhäuſern ift das flache Dach. Kommt auf dieſes eine auch nr 
zwanzig Zentimeter Hohe Schicht von Ajche, dann ift Die Kataſtrophe 
da; denn die „lapilli“ des Veſuvs find fo fchwer, daß eine Schicht 
von fünf Zentimeter Höhe auf 20 Duabratmeter acht Bentner wiegt. 
Das Dach ftürzt ein und erichlägt alles. Noch lachte man, als man 
in Neapel hörte, da am Sonntag in Rola, das doch drei Mal jo weit 
vom Befun entfernt ift wie Torre Annunziata, die Aſche fo dicht 
gefallen ſei, daß die erichredten Einwohner die Stadt verließen. 
Da kam heute Morgen dad Mene Tekel der Marithalle 
bon Neapel. ch ſaß gerade beim Morgenkaffee, als ein itafienifcher 
Kollege eiligft zu mir kam und mich mit dem Rufe aufſchreckte: „Haft 
du nicht den Lärm gehört, ven Plumps, den Tratratrac?“ Schnell 
eilte ic) zum Monte Oliveto, nahe der Hauptpoft. Die ganze Um⸗ 
gebung war in Aufruhr. Weiber, Kinder, Mädchen, Sünglinge, 
alles befreuzte, jegnete jich und jagte jammernd ben Einſturz vom 
ganz Neapel voraus. Ich wand mich durch den Militärlorbon und 
teat in den großen Innenhof, in dem vor einer Viertelftunde noch das 
intenfipfte Marktgewimmel geherrfcht hatte. Zum Gflüd hatte es 
noch nicht die Dichtigkeit angenommen, die e& gegen halb zehn Uhr 
zu zeigen pflegte. Doch da die Markthalle der Zentralmarkt für 
Fleiſch, Wurft, Geflügel und fo weiter bildete, war dad Gedränge 
Schon groß genug. Das Dach war in einem Nu unter der Ajchenlaft 
azufammengeftürzt, hatte die Seitenwände mit ihren Eijenpfeilern 
zum Teil zervrüdt, zum Zeil beifeite gebogen, und mım fah man nur 
eine Pyramide von Eifenftangen, Brettern, Tafeln, Latten, Roll- 


Bejun: Die Markthalle nach dem Einfturz 117 


lüden. Die Rettungsarbeiten waren erft im Beginn. Nach einer 
halben Stunde kehrte ich wieder. Nun aber lie mich der Korbon 
nicht mehr durch, doch ein Polizift führte mich nebenan auf die 
Zerraffe der arabinierilnferne, die man jet auch (!) mit fieberhafter 
Eile zu ſäubern fich mühte. Das Gewimmel unter mir war greulich. 
Mit einiger Phantafie konnte man glauben, man fähe ftaubige 
Ameifen in einem Haufen graugelber Tannennadeln. Die Kara⸗ 
binieri arbeiteten rafch mit den Feuerwehrleuten um die Wette und 
Ichichteten in den Eden ganze Byramiden von Stangen und Brettern 
auf. Daneben ftanden Hunderte von Krankenträgern des Roten 
Kreuzes mit Bahren. Dann am das fchnell mobilifierte Korps der 
Straßentehrer in blauer Blufe. Bon Zeit zu Zeit fchleppt man einen 
Verwundeten oder Toten herbei. Die Menfchenmenge fließt über 
ihnen zufammen, wie da3 Waffer eines großen runden Bedeng, 
deilen mittlerer Abflug geöffnet iſt. Man fieht, wie Tücher und 
Deden um die Opfer gelegt, wie fie aufgehoben werden, und in der 
nächften Sekunde ehrt wieder alle zum Bergungswerk zurüd. 
Auch an komiſchen Bildern fehlt es nicht, wie immer bei folchen 
Schredensfzenen. Ein aſchgrau gemordener Kapuziner dreht fich, 
die Hände zufammenfschlagend, taumelnd herum, ein Polizift trägt 
gravitätifch einen Zahltiſch, ein Feuerwehrmann zwei gerupfte, 
ganz verſtaubte PButerhähne. Auf einem Berg von Scherben und 
Biegeln ſtehen die faft geiltesgeftört blidenden Verwandten der 
Verichütteten. Fünf Tote find ſchon geborgen, darunter drei Kara⸗ 
binieri, die Einkäufe für die Kantine gemacht hatten; auch ſchon vier- 
zehn Verwundete. Im Laufe der Nettungsarbeiten wurden nach 
und nach zehn Tote, fünfundzwanzig Schwerverwundete unb Hundert 
Verletzte herauögezogen. Zu gleicher Zeit wurde auf allen Dächern 
Neapels fleißig gearbeitet; denn der Magiſtrat hatte befohlen, daß 
nun — nach dem Unglück — jedes Dad) mnerhalb zwölf Stunden 
gereinigt fein mülje. Kenner der Stadt erflären jebt, eö fei ein 
SA, daß zu dem Aſchenregen nicht auch ein Erdbeben kam, zumal 


118 In der Afche des Veſuvs 





viele große Häuſer auf durchhöhltem Boden ſtehen; denn den unter⸗ 
irdiſchen Stößen und dem gleichzeitigen Drud vom Dache her würden 
wenige alte Gebäude ftandgehalten Haben. Intereſſant war dag 
Verhalten der Zeitungen. Viele ermahnten zur Ruhe, hebten aber 
ihre Leſer gegen die Behörden auf, die durch ihre Saumfeligfeit die 
Markthallenkataftrophe verurjacht hätten. Freilich fcheinen die 
Behörden der Stadt und Provinz Neapel Leute eigener Art zu fein, 
wahre Ritter der Gemütlichkeit; ſagte doch heute ein Provinzialrat: 
„jest Hilft nur noch Mitleid und Gebet!“ 


Sn der Afche des Veſuvs. 
| Wer möchte noch das alte Bette finden 

Des Schwefelfttomd, der glühend fich ergoß? 

Des unterird’fchen Feuers ſchreckliche 

Geburt ift alle, eine Lavarinde 

Liegt aufgefchichtet über dem Gefunden, 

Und jeder Fußtritt wandelt auf Zerftörung. 
(Braut von Meſſina). 
Dienstag, 10. April 1906. Morgens elf Uhr. Hellſter Sonnen⸗ 

ſchein. Faſt möchte man wieder abreiſen; denn die neueſten Nach⸗ 
richten beſagen, daß die Eruption zum Stillſtand gekommen. Doch 
wollten wir noch einen Ausflug nah Torre Annunziata 
und Bo3cotrecaje machen, um die Verwüftungen der Lava 
zu ſchauen. Bor dem Rathaus in Neapel tun wir einen Rundblid. 
Welche Zerftörung in den Gartenanlagen! Alle Pflanzen zerftört, 
die Denkmäler braun bemehlt, die Palmen erftiden im Staub- 
überzug, an Stelle der grümen Farbe des Graſes ift ein einförmiges 
Gelbbraun getreten. Ein friicher Wind zerteilt die hellblaue Rauch⸗ 
müßte des Veſuv. Dean kennt den alten Friedenäftörer richt wieder, 
Er hat buchitäblich den „Stopf verloten” und fo den beruflichen Veſub⸗ 


Befun: Die Flüchtlinge 11 





malern und -Photographen den alten Lagerbefland verdorben. 
Unfer Blick wird abgelentt. Ganze Scharen von Schuttfchauflern 
und Afchenkehrern kommen; denn das Oberhaupt der Stadt hat 
befohlen, daß innerhalb zwölf Stunden alle Dächer rein gefegt fein 
jollen. Freilich ift drei Stunden vorher das große Unglüd in der 
Markthalle auf dem Monte Dliveto pafliert. Die Leute nehmen 
jebt den Befehl des Bürgermeilterd ernſt. Wer zu nahe an den 
Häufern vorbei geht, wie ich, kann das merken, wenn er unter eine 
Lawine gerät, die ihn im Nu in einen „Erdmann“ verwandelt. 

EI ein Viertel. Fahrt zum Bahnhof. Der Wind Hat fich 
erhoben. Die Straßen find neblig, gelb-braun, Staub und Afche 
fünt fie. Dan begegnet vielen Männern mit verbundenen Nafen 
und Köpfen, — es find Opfer des Steinregens in der Umgegend. 
Die Bahnhofhalle fcheint im Kriegszuſtande. Überall verſtaubte 
Soldaten mit ſchwarzen Gefichtern. Überall auch Flüchtlinge, 
meift Weiber und Kinder. Der Zug nah Torre Anmunziata fol 
halb zmölf abgehen, aber bei der allgemeinen Verwirrung wird er 
erft um ein Uhr zufammengeftellt; denn alle zehn Minuten fommen 
Züge, die Militär bringen. Endlich nach eins fahren wir ab. In 
unfern Korridorwagen fommen Flüchtlinge: eine Frau, ein Kind, 
ein Mädchen aus Torre del Greco, die in der Nacht geflohen waren, 
fuchen zurückzukehren, um zu fehen, ob fie fich wieder in ihr Haus 
getrauen können. Sie find furchtbar aufgeregt. Der Zug geht 
langfam. Die Wagentüre wird aufgeriffen, ein dider Herr Teucht 
hinauf, der auf dem Trittbrette einhergegangen, und fällt der rau 
in die Arme. Sie waren in der Nacht getrennt worden, und er hatte 
Frau und Kind in Eaftellamare, in Caferta, in Neapel auf Gratis- 
zidzadfahrt vergebens gefucht; denn wer denkt daran, den armen 
Bertriebenen Geld abzunehmen? Die Freude des Wiederfeheng 
dauert nicht lange. Nachdem der Dide feufzend, weinend, lachend 
Frau und Kind abgefüßt, ftotternd feine Erlebniſſe erzählt, Schauer⸗ 
gerlichte mitgeteilt hat, hält er inne; denn Dunkelheit umfängt ung. 


120 Veſuv: Beichießung mit Südfrüchten 


Der Bug Steht feit in einem Heinen Tunnel. Was ift gefchehen? Wir 
können vor Ajche nicht weiter. Die Schwägerin ftößt einen gellenden 
Schrei aus und fährt in ihrem Fluchteifer mit dem Kopfe gegen das 
Soupefenfter. Dann wimmert fie: „Madonna mial Nur hinaus! 
Sch fterbe in der Dunkelheit!” Der Dide flucht, die Mutter, von der 
Panik angeftedt, prügelt nervös jammernd ihr Kind. Wieder ſpringt 
das Mädchen auf. Ihr Schwager hält fie mit aller Kraft feſt und 
ſagt fataliftiich: „Was nut das Jammern! Wenn wir fterben follen, 
auch gut! Mbe, dann flerben wir. Nur laß das Flemnen!“ Nach 
zehn Minuten geht der Zug weiter. Bald kommen wir zur erften 
Station San Giovanni Teducci. Wie der Blib ver 
ſchwindet der Dide mit feiner Yamilie und erklärt draußen, daß er 
nicht für eine Million weiter fahre. Er babe genug an feinem 
früheren Schrecken. 

In uns Deutſchen — wir find zu viert — regt fich die nordifche 
Überlegenheit, die fo gern über füdliche Furcht und Angft fpottet. 
Doch die Landſchaft rings umher lenkt uns ab. Alles iſtgrau 
oder braun beſtreut, berieſelt, betupft. Das Geſträuch gleicht den 
gepuderten Ruten auf unſern Weihnachtsmärlten. Die Felder ſehen 
aus wie ſchneebedeckte deutſche Acker am Ausgang des Winters. 
Doch dabei ift es berüdend warm, fo daß die optifche Täufchung einen 
Halten bat. Ein Genoffe jammert. „DO Torre del Dredol” und 
zeigt auf Das graue Meer, „dad nennt man den blauen Golf. O bella 
Napolil“ Ein Bug, vom Veſuv Tommend, fährt an und vorüber. 
Cr zeigt die gleiche Farbe, wie die modernen Kriegsſchiffe. Seine 
Fenſter gleihen gejprenkelten Bafaltplatten. Ich öffne mein 
Fenſter und pralle erjchredt zurüd. Straßenjungen bombardieven 
unfern Zug mit Zitronen und Apfelfinen. Der Zug hält und ruticht 
dann vorfichtig weiter. Mein Schreden fteigt, denn auf dem Neben- 
geleife ragen libereinander getürmt die Wagen und Lokomotiven 
zweier Züge, die in der Nacht infolge des Aſchenregens ineim 
ander gefahren find. Ein Waggon mit Früchten ift total 


Veſuv: Ein Zug im Aſchenſand 121 


aufgeichlitt und die Bahnarbeiter verteilen unter die Paflagiere 
unfere3 Zuges faftige Apfeljinen, die aus den geöffneten Flanken 
de3 Wagens herunterkollern. j 

Langſam gehts weiter. Jede Sekunde wechſelt das Wetter 
und die Beleuchtung. Der Wind wird Kühl. Über dem Golf liegt 
Höbentauch, das Meer fcheint zu brennen. Ein Torpedoboot zid- 
zadt, velognosziert auf der graugrünen, Dampfenden Ylut. Der 
Rauch treibt nach Capri, das feit einigen Tagen vom Verlehr abge- 
ſchnitten ift. 

Zwei Uhr. Station Bortici. Eine malerische Menge hodt, 
lauert, ſtiert, ſchweigt, flucht, heult, ſeufzt, ächzt und Feucht auf dem 
Bahnſteig. Ein Ribera, ein Guſſow würden ob der ſchönen Modelle 
jauchzen und ein Menzel jofort fein Sklizzenbuch herausnehmen. 
Flüchtlinge find’, die auf Beförderung warten. Der Himmel ift 
plöglich ſchwefelgelb, geipenftig gleißen gegen biefen Hintergrund 
die Gebäude. Cave oculos! Wie das brennt, wie;die Zähne 
knirſchen! Der Aſchenregen iommt. Bald ift der Veſuv und 
die Luft ringsum eine einzige Symphonie in braun. Auf dem Dache 
des Waggons prajlelt ed, al3 ob Taufende von Erben niederfielen. 
Nun ommt warmer Regen dazu, die Tenfter find im Nu von Heinen 
Schlammzungen beledt, die herausgeftredte Hand ſtarrt ebenfo- 
fchnell von Dutzenden von Schlammwarzen. Auf dem braunen 
Meer find weiſe Giſchtſtreifen. Stetig wechſelt die Yarbe des 
Himmels, jett ift fie rotbraun. Zwei Kriegsſchiffe ericheinen und 
verfchivinden; denn Dämmerung umgibt und. Das Nebengeleife 
verſchwindet unter einem Schlammüberzug, der bald wie Porzellan- 
erde, bald wie Ehololade erfcheint. Unſer Zug humpelt, ſpringt und 
— bums — fteht ftill auf freier Strede. 

In dem trüben Dämmerjchein wirkt das Praffeln der Heinen 
Steinen (lapilli) nervösmachend. Auf dem Nebengeleife erjcheinen 
phantaftiiche Geftalten. Sie beginnen zu ſchaufeln. Ihr Geficht 
haben fie mit TZüchern verbunden, die Aufjeher tragen Regenſchirme, 


122 Veſuv: Faft wie im Samum 


deren Farbe undefinierbar if. Die Kriegsſchiffe dräuen wie ſpuk⸗ 
hafte Nachtgefpetifter. Die Wagenfenfter gleichen Scheiben aus 
rotem Granit. Unſer Zug macht verzweifelte Anftrengungen, um 
vorwärts zu kommen, er fährt zurüd, um einen Anlauf zu nehmen, 
und fteht wieder fill. Zum Glüd wird’3 heller und das wechſelnde 
Schauspiel auf dem Meere und an der Küfte verkürzt uns die Beit 
des Wartend. Torre del Greco vor ung ftarrt in einer braunen 
Kapuzinerkutte, das Küſtenwaſſer ift rot, wie ein Heiner Stamander 
nach einer homerifhen Schlacht. Die Arbeiter rufen und fchreien 
fich an. Doch was ift das? Ohne ung, die wir im hintern Teil des 
Zuges ſitzen, zu benachrichtigen, dampft der Zugfüihter mit den fünf 
erften Wagen auf und davon. So fit unfer Zug-Rumpf hilflos in 
der Afche, die allmählich, aber ficher höher fteigt. Da neuer Schlamm- 
hagel einſetzt, wird da3 italienijche Reifevolf aufgeregt. Vergeben 
ind alle Zurufe: „Ci vuole. pazienza. Forza maggiore vince 
tuttol“ Ja, die force majeurel Wie mächtig werden die Heinen 
Aſchenſtäubchen, die der Menſchenfuß zertritt, wenn fie zu Milliarden 
anrüden! = | 

Das Meer ift grau, zerriffen, wie die Dede eines Gletſchers. 
Seine Klippen ſchauen aus, als ob alle Kaminlehrer Neapels den 
gejamten Ruß der Stadt über fie ausgefchüttet. Die Hüfte Sorrents 
icheint von dem Strahlenmantel des Haares eines Rieſenkindes 
berfchleiert, daS fich Spielend über fie beugt und den Kopfichmud 
herunterhängen läßt. Wieder ein Farbenwechſel: dad Meer gleicht 
füffigem Lehm oder brodelndem Tifchlerleim. Um zwei Uhr 
zwanzig wird der Himmel gelb, wie dazumal, als vor einigen Jahren 
der „Blutregen” ganz Unteritalien rappelköppiſch machte. Beinahe 
kann man ſich vorftellen, was ein Samum ift. Unſere Geſichter 
glühen gelbrot, wir fcheinen in Indianer verivandelt. Bald wird 
die Quft teeriger, braumer, wie der berühmte Londoner Nebel. Der 
Wind dreht ſich und fchüttet die Aſche nach Neapel. Nun fcheint der 
Himmel außer Rand und Band, er wird beängftigend rot, orange. 


Veſuv: Neifende in‘ Gefahr | 123 


Blitze durchzuden ihn. Das Meer ift in graue Platten zerjebt, die 
die Erinnerung an einen Eisgang auf dem Rhein weden. Die Küften- 
feen und Inſeln ragen fo ftumpfbraun hervor wie höher gelegene 
Aderzipfel in einem überſchwemmten Flußtal. Wer jebt die Hand 
ausſtreckt, Tanıı erproben, wie fich der Himmel an Spritmalerei 
erluftiert. Röter wird er, er ſchwält und qualmt. 

Das ift zu viel für unfere italienifhen Mitreifenden. 

Bon Zeit zu Zeit erjcheint ein Grei3 oder ein Jüngling und fragt 
ung mit jeinen beredten Augen, ob wir nicht eine Unterhaltung 
anfangen wollen, die ihm tiber die beginnende Furcht hinweghilft. 
Diefes Angftgefühl verftärkt fich, als jebt Erde, Waſſer, Luft in ein 
einziged Sepia-Dunftmeer zufammenfließen. Die Oberfläche des 
Waſſers fiedet; denn zifchend fallen Millionen von heißen Afchen- 
körnern. Eine breitbruftige Dome, deren Geficht und Büſte an ein 
befanntes Bild von Tizian erinnert, kommt Troft fuchend zu uns. 
Sie fpriht von Tod und Untergang und zerzauft mit bebenden 
Fingern ihre fchöne weiße Boa. Noch will ſich troß des Mitleids 
die fpöttifche Überlegenheit des Nordens bei und regen, doch nicht 
mehr ganz jo ehrlich wie vorher; denn die Situation ift wirklich 
unangenehm,. weil. Minute auf Minute verrinnt und feine Lolo⸗ 
motive erjcheint, und zu holen. 
Der Kocrridor füllt jih. Man flucht, betet, mahnt zur Ruhe. 
Ein älterer Herr hält ein Zeitungspapier heraus. Es rafchelt und 
riefelt und pridelt zu verdächtig. „Das find lapillil” ruft er entſetzt. 
Lauter Angftruf antwortet ihm. Man rekognosziert durch die halb- 
blinden Fenſter — denn öffnen darf man fie nicht mehr, mweil die 
feinen Körner fich in Auge, Nafe, Mund brennend hineinbohren, — 
die Umgebung. Rechts droht bei einem Fehltritt, falls einer jo 
wahnfinnig fein follte, außzufteigen, der Sturz ind Meer, links ein 
Beinbruch auf dem ſechs Meter tiefer Tiegenden Straßenpflafter. 
Wir figen alfo auf einem ſchmalen Viadukt feit, deſſen Dede von 
glitfcheriger, dreißig Zentimeter hoher Aſche gebildet wird! 


124 Veſuv: Todesfurcht und Sterbegebete 





Drei ein Viertel. Wir nähern ung dem dritten Alte, dem 
Kulminationspunft. Finfterfte Nach t umgibt und. Kein Licht im 
Wagen. ch begreife die Klage des engliichen Prinzen in Shafe- 
ſpeares Königsdrama, der feiner Augen Mörder anfleht, ihm nicht 
die Quelle des Licht zu verſtopfen; denn der Aufenthalt im Aſchen⸗ 
wirbelwind war noch erträglich, ala man leidlich ſehen konnte. Aber 
jest! Streichhölzer Flammen auf und fteigern nach ihrem Per- 
glimmen die Unbehaglichkeit. Die Panik beginnt und zeitigt alle 
die Begleiterfcheimungen, die mancher, der behaglich am Dfen von 
ihnen lieſt, gern als „Berrüdtheiten" bezeichnet. Ein junger Mann 
taftet fich zu und herein, entzündet ein Streichholz und grapft nach 
dem Notſignal. Wir lächeln nicht; denn wozu dem Aufgeregten 
jagen, daß mangels einer Lokomotive fein Beginnen blödfinnig ift! 
Im Nebenabteil intoniert jemand die Totenlitanei! Schaurig Hingt 
das bebend geleierte „Ora pro nobis!“ Eine Frau weiter hinten 
vergleicht flüfternd unfjere Lage mit derjenigen der Bergleute von 
Courrieres, eine andere jchrillt zornig gegen die Gmadenftätte von 
Balle di Pompei, der fie doch fo reiche Spenden gegeben, und die ihr 
jest nicht helfe, trotzdem fie jo nahe fei ... . Ora pro nobis! Selt- 
fam: die nordifche Überlegenheit ſchweigt auf einmal... Das 
Geräusch der niederpraffelnden Aſchenſchloſſen fcheint fernes Klein- 
gemwehrfeuer. Der alte Mann von vorher Ichlurft hinein zu uns, 
jpricht von Tod, Verderben, fleht ung um Rettung an. In den 
anderen Abteilen tobt man. Die Ängftlichen wollen die Vernünftigen, 
die zur Ruhe mahnen, lynchen. Dan reißt Fenfter auf, fchrille, häß⸗ 
lihe Angſtrufe, die im Wagen ein fchauerliches Echo wecken, 
draußen aber im Sturm verhallen, jagen fich einander: „Hilfe, eine 
Laterne, Licht, eine Kerze, Rettung!" Es bilden ſich plöglich Aktien⸗ 
gejellichaften. Da Tein Zugperfonal vorhanden ift, will man ein 
Kapital von Hundert Lire aufbringen, um den beherzteften von den 
armen Mitreifenden zu bejtimmen, zur Station zu gehen, die zehn 
Minuten entfernt ift. Aber niemand meldet fi. Die Hitze fteigt. 


Veſuv: Flucht der Neifenden 125 


Die Luft wird fiidig. Man ringt nad) Atem. Viele Hagen über 
Drud im Hinterlopf. Dazwiſchen flucht wer Über den Stationächef 
bon Torre del Greco, fiber Die Beamten, die Eifenbahnen Italiens. 
Und wieder ertönt: „Ora pro nobis“. Ein Deutſcher erbietet fich, 
die Laterne, die am Schlußwagen hängt, zu holen, und wird nur mit 
Mühe zurüdgehalten; denn draußen fieht man nicht die Hand vor 
den Augen, und ein Audrutichen in der Aſche —? Man wagt den 
Gedanken nicht auszudenken. 

Die Angſt weckt die Phantaſie. Man ſiellt ſich den Vefuv 
als Webermeiſter vor, der mählich, aber ſicher die Decke webt, die 
ſich üuber unſern Wegen legen und und erftiden wird. Man glaubt, 
zu jehen, wie da8 Niveau der Aſche fteigt, und doch ift Duntelbeit. 
Man ftarrt zur Wagendede, die man nicht fieht und prüft fie zweifelnd 
auf ihre Teitigleit. Endlich — eine Emigleit fcheint vergangen —, 
dDämmert e3 drmißen. Rufe erichallen draußen, Konımando- 
fiimmen. Wir fteigen aus. Ein hoher, jchwarzbärtiger Mann, der 
eine Yadel trägt, ift mit Arbeitern von der Station gelommen, 
„Karamane gebildet”, ruft er mit Stentorftimme, „alle halten 
jih an den Händen. Alles bleibt zwiſchen den Geleifen!" Lichte 
Helle umfließt uns. Mondfchein bei Nebel fcheint e3. Innerlich 
heil wird es auch den Paffagieren. Der Zug bildet fich und flampft 
erregt vorwärts im kniehohen, braunen Schofoladenpulver. Gegen 
vier Uhr iſt's. Plötzlich droht die Luft jich von neuem zu verfinjtern. 
Zum Glüd find wir über den Viadukt heraus. „Nette fich, wer kann!“ 
Und jet beginnt ein Dauerlauf, der gewiß für einen unbetei- 
ligten Zuſchauer recht komiſch gewirkt haben müßte. Wir kommen an 
einem Holzfeuer vorüber, da3 die Arbeiter angezündet haben, 
Dubende von Händen greifen ſich einen Span. Und neu belebt 
feucht man vorwärts. Aber wie die Augen breimen! Verwimſchter 
Feuerregen! 

Wir erreichen die Station Torre del Greco. Sie iſt 
von Tauſenden beſetzt. Alle Ausgänge zur Stadt find geſchloſſen, 


126 Veſuv: Bu den Schiffen 


verjtopft durch Tebende Mauern. Es fommt zu Fauſtkämpfen, da 
wir nur den einen Gedanken haben, unter Dach zu kommen. Aber 
die Behörden haben den Befehl gegeben, die Stadt zu räumen, da 
die Häufer einzuftürzen drohen. Das LKicht fteigert jich, aber auch 
der Aihenregen, der brennenden Durft erzeugt. Aber wo gibts 
Wafler? Die Stationsbeamten find wie wahnfinnig, die Soldaten, 
die einen Kordon ziehen, wie afchgraue Phantadmen, die Hin und 
herzuden, ohne Bemwußtjein, wie von unfichtbaren Drähten gezogen. 
Neuer Kommandoruf: „Zum Hafen! Zu den Schiffen!“ 
Man verbindet fich den Kopf, macht Schirme oder Helme aus 
Zeitungen, um die Augen zu ſchützen. Jetzt kommt weißes, ätzendes 
Pulver in Myriaden von Stäubchen, in fünf Minuten find alle 
Kleider weißgrau, zentimeterhocdh auf Hut und Rüden liegt die 
Kruſte. Eine unabfehbar lange Schlange formiert fih, Bauern, 
Signori, Bettler, Fremde, Handwerker, Nentner, deren foziale 
Unterfchiede vom Staube nivelliert werden. Eine Karawane in der 
Wuſte Scheint vorwärts zu ſchwanken, die fich zu Fuß duchlämpft, 
da Kamele und Pferde eingegangen find. Doch — der Kopf wird 
dumpf. Der Neft ift — Schweigen, Gleichgültigfeit, Stumpfheit. 
Man ſchiebt fich, ftößt fich über Treppenichluchten, die zu Staub- 
pulvergießbächen verwandelt find, man ftrauchelt, ftürzt, erhebt fich, 
wankt weiter. Endlich jteht da3 Gemwühl auf dem zwei Meter breiten 
Molo, eine Mauer hinter fich, vor ſich das Meer. Man verichnauft. 
Viel zu langfam kommen Schaluppen und Kähne. Wer fein Bad 
nehmen mill, rettet fich an Die Mauer, denn die Herde von wahnſinns⸗ 
blöden Flüchtlingen drängt und ftößt, daß die Lage wirklich 
‚bedrohlich wird. Die Gendarmen, die ſich fchon Heiler geheult, 
heben verzweifelt die Hände hoch. Zwar find nod) andere Führer 
des Volles ın der Menge, gut genährte, aber ſchmutzige Prieſter, 
doch fie denken nur an ſich, oder an ihre weiblichen Verwandten. Ein 
Kaplan, der gar zu rüchſichtslos ftößt, wird unter lauten Rufen der 
Entrüftung von Gendarmen und Bauern am Talar zurüdgezogen. 


Veſuv: Entgleifte Lokomotiven 127 


Die ſüditalieniſche Geiſtlichkeit habe ich auch im verfloſſenen Sep⸗ 
tember in den Schredenstagen von Kalabrien kennen gelernt! Am 
Waſſer Schwimmen viele tote Filche, Opfer der Aiche. Aber aud) 
der Hafen ward ein Opfer der Aſche. Die erfte ——— 
hat fett. 

‚Unter diefen Umftänden lann die Einſchiffung Stunden dauern: 
Unfere Gruppe hält Kriegsrat. Am geicheiteiten ift, wir Tehren zum 
Bahnhof zurüd, warten die Treilegung der Schienen ab, fahren 
nach Caftellamare und von dort über Caferta nach Neapel; denn durch 
die Alchenzone von Torre del Gteco bis Reſina mögen wir nicht, noch 
dann irgend ein Zug hindurch. Geſagt, getan. Die Kletterei nach 
dem hochgelegenen Ort beginnt. Zwei Züge liegen vor-dem Bahn- 
hof. Ohne langes Befinnen Stürzen wir in ein Abteil zweiter Klaſſe 
de3 Kaftellamare-Zuges. Zwei Minuten [päter wird der Zug von 
den Torrefern geftürmt, wir figen eingefeilt zwiſchen fieben Frauen 
und zwölf Kindern, Dieje find zwar ſchmutzig, zerlumpi, aber doc 
entzüdend fchön. So figen wir eine Stunde in ſtumpffinnigem 
arten. . Dann reißt die Geduld. Ich fteige aus in den Aſchenregen, 
arbeite mich zur Spitze de3 Zuges durch und finde, daß die Lolo- 
motive entgleift it. ch kehre zu den Gefährten zurüd. Was 
tun? Torre dei Greco ift verlaffen, Obdach, Speife, Trank vacant, 
folglich bleibt nichts übrig, al in den Zug nad) Neapel zu gehen 
und, fofte e3, was es wolle, der Aichenzone zu trogen. Wiederum 
fteigen wir aus. Die Soldaten halten und an. Das Loſungswort 
„Preſſe“ gibt ung freien Durchgang. Doch alle Wagen find befept, 
zweifach, dreifach. Im lebten, der zwar vollgepökelt ift, erlümpfen 
wir und Stehpläße in drangvollſter Enge. Welche Stidluft! Welcher 
Geſtank! Wieder vergeht eine Stunde, Wiederum rebelliert unfere 
Ungeduld. Draußen geſtikulieren aufgeregte Gruppen, Yadeln kom⸗ 
‚men und gehen. Rufe erichallen: „Kein Zug geht weiter. Wir müſſen 
die Nacht hier bleiben. Die beiden Lolomotiven des Neapelzuges find 
‚zu ſchwach, man verlangt-eine dritte, aber der Telegraph ift unter- 


128 Veſuv: Nächtlicher Marfch 


brochen!“ Da fchreit man: „Sch gehe zu Fuß. In Borticigibt’s 
Tram oder Wagen!” „Gut!“ ruft ein andrer, „bilden wir eine 
Karawane, zu vielen gehts beſſer!“ Das leuchtet auch uns ein. 
Wiederum arbeiten wir uns zwiſchen den Zügen durch und auf der 
anderen Seite zurüd bis zum Bahnhof. Deſſen Chef verteilt Pech 
fadeln. Der Marjch beginnt, zuerft durch die verlaffene Stadt, in 
der melancholiſch Straßenlaternen brennen, dann über die zum 
Hugelplateau gewandelte Chauſſee. Kein Wagen ift zu fehen. Nurein 
Automobil kommt, da3 die hohe Afche Uberwindet. Den Marſch zu 
Schildern, vermag ich nicht. Dumpf „tippelten“ wir einer hinter dem 
anbern, bis an die Waden und die Knie in Afche, während der Veſuv 
brülfte, der Himmel donmerte und Lavabomben durch die Luft 
ziſchten. Gedankenlos „tippelten” wir nur mit voller Wut gegen den 
unaufhörlichen, augenmarternden Ajchenregen. 

Hinter Portici, das auch verlaffen war, fchleicht eine Drofchte 
mit elender Mähre. Wir fürmen fie. Ber Kutſcher fordert einen 
hoben Preis. Was tuts? Langjfam keucht die Mähte. Wir aber 
empfinden Erleichterung, weil ung das Wagendach gegen den Stein- 
regen fchüßt. War dad eine ſpukhafte Fahrt! Wie graue Geſpenſtet 
Schlichen Soldaten einher, den Vefuvorten zu. Arme Kerle! Gonft 
begrüßen fie Ablommandierungen freudig, aber dieſer Dienft ift 
doch Schlimmer, als in dem erbbebengeplagten Stalabrien. Erft an det 
Barriere von Neapel wird die Straße feiter, der Aſchenregen 
dünner. Die erften Trams kommen, zugleich eine Flut von Menfchen, 
die und zum Halten zwingt. Eine Prozeſſion ifts, die ohne 
Geiftlichkeit daS heilige Bild des Vorſtadtviertels rund trägt und 
dabei Häglich Bittgefänge heult. Kläglich rafjelt auch der Blech⸗ 
franz, den das Bild als Weihgefchent trägt, an feine hölzernen Beine. 
Kläglich ſchaut auch das Hafenviertel aus. Auch im Innern der 
Stadt herricht Ode und Verlaſſenheit. Der beißende Ajchenregen 
ſchteckt das ſonſt jo firaßenfrohe Volk in feine vier Wände zurüd, 
Zurüchſchrecken Täßt una aber auch unfer Spiegelbild, als wir ins 


Neapel: Unheimliche Stille 129 





Hotel kamen. Halb zehn ward. Und dazu empfing ung die Meldung, 
daß der Veſuv neue Lava in der Richtung von Pompeji auzfende. 

Die ganze Nacht riefelte die Ajche über Neapel. Am Morgen 
um jieben Uhr war die Luft braun. Sch fchritt zur Poft. GStellen- 
weiſe lag der braune Ajchenjand auf der Straße. Alle Läden waren 
noch geichloffen, und auch im Laufe des Morgen3 wurden wenige 
geöffnet. Neapel trauert; denn fchlechtes Wetter im Kulminations- 
punkt der Fremdenſaiſon ift an fich fchon eine Kataftrophe. Dazu 
kommt die Panik. Die Poſt it von Hunderten von Leuten belagert, 
die telegraphiich nad) dem Befinden ihrer Angehörigen in Torre del 
Greco, Sarno, DOttajano und den anderen verlaffenen Veſuvorten 
fragen wollen und vielleicht nie Antwort erhalten werden. 

Panik herrſcht auch im niedern Volle. Soeben, Mittag, zieht 
wieder jingend und betend eine Prozeſſion über den Rat- 
hausplatz. 

Neapel, 11. April 1906. Wer Neapel kennt, iſt ganz erſtaunt 
über die unheimliche Stille in der Stadt. Wieder ziehen bedrohliche 
braunrote Rauchwolken über die Häuſer. Alle Läden find geſchloſſen. 
Selbſt in der großen Paſſage Vittorio Emanuele, wo fonft. mittags 
das lauteſte Leben erbrauft, ift feine Menſchenſeele. Bleiche Furcht 
hat alle Bewohner erfaßt. Die reicheren Leute mwetteifern mit den 
Fremden im Erodus. Der Bahnhof ift militärifch beſetzt. Auf. dem 
Rathausplag Tagert Kavallerie. Die Verbindung mit Rom iſt 
erſchwert. Dubende von Prozeflionen durchziehen die Stadt und 
feuern Schüjfe ab, um die böſen Geilter zu bannen. Der Ajchen- 
regen hört auf. Die Lage in Torre del Greco ift jo bedrohlich, daß 
jogar das Militär, da3 den verlafjenen Ort gegen Diebe fchübte, 
zulidgezogen wurde. Yebt ertönt wieder einjchüchternd der Donner 
über Neapel. 

Neapel, 11. April 1906 (nachmittags). Die —— er⸗ 
ſcheinen in ſechs bis ſieben Sonderausgaben; ſie mahnen zur Ruhe 
und warnen vor falſchen Gerüchten. Die Schulen und Theater ſind 

BZacher: Im Lande des Erdbebens. 9 


130 Neapel: Der Dom gejtürmt 





geichloffen. In der Stadt wird Schwefelgeruch verjpürt. Ganz 
Neapel wird vom Militär beherricht, da man Unruhen fürchtet. 
Ein Aufruhr ist Schon erfolgt und zwar im Stadtviertel Vafto. Die 
Häftlinge de3 Gefängnifjes San Francesco meuterten, ein Bataillon 
Infanterie fchaffte Ordnung. Die Arbeiter einer Tabaksfabrik er- 
zwangen die Schließung der Lokale. Die Panik erhöht jich, weil 
der Veſuv wieder donnert, objchon Kenner darin ein gutes Zeichen 
erbliden. Die Menge türmte den Dom und zwang den 
Klerus, die Statue de3 heiligen Januarius herum- 
zutragen. Im Irrenhauſe Miano flohen ſechs Wärter mit den 
Schlüffeln fämtlicher Zellen. In Bortici drang ein Bollshaufen 
in da3 Rathaus, weil er die Verteilung des Brotes zu geringfügig 
fand. Die Lage in Torre Annunziata hat fich gebeffert. 
Der Lavaftrom fteht fHll. Am ganzen Veſuvgebiet herricht wegen 
der Brunnenverihüttung Waſſermangel. 

Neapel, 12.April 1906 (Donnerstag). Ein ganz eigenartige3 
Gefühl der Wurftigleit — sit venia verbo — überlommt den Zu- 
ſchauer hier; denn die Ereigniſſe ftoßen und drängen fich zu ſehr 
in diefer wunderlichen Stadt und dabei find die Außerungen der 
Panik fo feltiam, daß jie ſelbſt dem verhärtetften Spötter wehe tun 
fönnten, wenn fie nicht oft eine zu tragifomijche närriiche Seite 
hätten. Ein Teil der Zeitungen Tennt feine Pappenheimer; denn 
am Sonntage jchon ermahnte Scarfoglio in feinem „Mat- 
tino” zur Ruhe und beichivor Die Neapolitaner, nicht durch Gebete 
und Spenden den unterirdifchen Göttern zu opfern. Matilda Serao 
aber verzapfte des Kontrafts halber Sentimentalität und larmoyante 
Übertreibungen glei) en gros. Daneben ſchimpften alle Blätter 
auf die Behörden und wieſen auf da3 Königdpaar hin, das ſchneller 
als diefe an Ort und Stelle gewefen fei, um ſich von der Größe des 
Unglüds an allen Orten zu überzeugen. Freilich haben nicht alle 
Behörden Automobile wie der König, oder Pierde wie der Fühne 
Neiter Herzog von Aoſta. Auch darf nicht vergefjen werden, daß 


Neapel: Uneinigleit der Gelehrten 131 


von heißer Afche erfüllte Luft nicht gerade verkehrsfördernd wirkt. 
Wer es nicht felbft miterlebt Hat, kann e3 nicht glauben, mie die 
Aſchenkruſte, die das ganze Veſuvland bededt, den Verkehr erſchwert. 
Die Eifenbahnen find gejtört, Telephon und Telegraph, die beide 
überangejtrengt find, verfagen oft, zumal die Flut der behördlichen 
Telegramme riefig ift, Wagen fommen ſchwer durch, das einzige, 
was noch Hilft, it das Automobil, aber wer kann da3 bezahlen ? 
Der „Mattino” freilich arbeitete mit Automobil und jchlug die Be- 
börden um Hunderte von Verfügungslängen. Cr meldete zunächſt 
die Kataftrophe vom Slircheneinfturz in Ottajarno. Die Regierung 
glaubte, ihn dementieren zu miütffen, weil fie noch Feine offizielle 
Nachricht hatte, wurde aber ſpäter gezivungen, reuig ihren Yehlgriff 
einzugeftehen. Auch das Militär konnte bisher wenig ausrichten; 
e3 mußte an zu viele Orte zu gleicher Zeit verzettelt werden, und 
jo war die Verbindung zwiſchen den einzelnen Abteilungen und 
ihrer Verpflegung ſchwer durchzuführen. Dazu kam, daß aud) 
Soldaten Menjchen find. Sie waren zwar jo aufopferungsfreudig 
wie in Kalabrien, aber der Aufenthalt in der Stidluft des Ajchen- 
tegeng, der Brand in den Augen, der Durft in der verftaubten Kehle, 
das Donnern de3 Veſuvs, die Bomben, die er ſchoß, alles das geht 
auf die Nerven, zumal auch die Panik und die übertriebenen Streiche 
des Aberglaubens unter dem flüchtigen Volke anftedend wirken. 
Darum verlangt der „Mattino”, daß das ganze Vejungebiet Italiens 
bewährteftem General Baldiſſera unterftellt werde, damit 
er mit 100000 Mann den Rettungsdienſt mie eine Triegerijche 
Aktion organifieren und fo in ihn Einheitlichfeit bringen könnte. 
*< Wneinigfeit herrſchte auch in den mehr oder weniger miljen- 
ſchaftlichen Gutachten, welche die Vullanologen in unzähligen Inter⸗ 
views äußerten. Für Montag fagten fie Stilfitand der Eruption 
boraus, und Dienstag abend Hatte man außer der Kataftrophe des 
Aſchenregens in Torre del Greco und San Gennaro, über welch 
legteren zur Stunde noch feine näheren Nachrichten vorliegen, 
9* 


132 Neapel: Übertreibungen 


den neuen Lavaausbruch, der auf Pompeji zufloß, jebt aber zum 
Stillſtand gelommen ift. Heute jagen die Veſupgelehrten, nach aller 
Erfahrung bedeute der Afchentegen, daß die dynamifche Kraft des 
Vulkans einftweilen erjchöpft fei und morgen wieder jchönes Wetter 
eintreten werde. „Wollen’3 hoffen”, meinte darauf ein englifcher 
Kollege; „ich Habe genug Aſche geichludt und Schwefelftaub ein- 
geatmet.” Das ift auch im Intereſſe der viel geplagten Bevölferung 
zu hoffen, die von der Todesfurcht nervös zerrüttet ift. Unglaub⸗ 
lich find aber auch die gedruckten Übertreibungen, welche diefe Furcht 
nähren. Scarfoglio meldet im „Mattino” zuerft die Kataftrophe 
von Dttajano, gleich darauf übertrumpft ihn feine Gattin a. D. 
Matide Serao mit der fetten Überjchrift in ihrem „Giorno“: 
„Die Kataftrophe von Pompeji wiederholt fi) in Dttajano, ©. 
Giufeppe und Terzigno!" Ahnlich find die mündlichen Übertrei- 
bungen. Weil der Hauptfegel des Vejuvs einftürzte, heißt es im 
Volke, der ganze Vulkan würde verſinken, und fich an feiner Stelle 
ein. Rieſenſee bilden, und was dergleichen Zeug noch mehr ift. 
Bejonders erfchraf auch da3 Vol, weil fich der Veſuv jetzt im weißen 
Kleide zeigt; man kann ihm aber nicht Har machen, daß dieſes nur 
der glafige Niederfchlag der Dtineraldämpfe ift, die er ausgehaucht 
hat. Und doch, wie kann auch Vorſicht irren! Geftern morgen fagte 
der „Mattino” noch im Sinne der Gelehrten: „Die Eruption des 
Veſuvs it zu Ende. Die Bewohner des viel geprüften Gebiets 
fönmen ruhig in ihre Häufer zurückkehren. Die Stadt Neapel läuft 
feine Gefahr. Heute wäre auch die Heinfte Panik unbegründet.“ 
Tags darauf kam die fchon drahtlich geichilderte Panik dennod) 
und zwar mit Riefengewvalt, und die Einwohner von Sarno, meit 
im Often des Vulkans, flohen nach allen Himmelsrichtungen. Was 
ſoll ich mich im Detail von Schilderungen ergehen? 

Das Wort reicht auch nicht aus, um all das Elend zu zeichnen, 
zu malen. Da müßte ſchon die Kunft eines Werejchtichagin kommen 
Nur eind möchte ich erwähnen: den Eindrud, den mir das Verhalten 


Neapel: Wirkungen der Panik 133 


der Flüchtlinge gemacht hat. Wer die Geduld und die Ergebung 
der Campagnabauern, die Arbeit juchend umberziehen, oder der 
neapolitanischen Auswanderer kennt, die oberflächliche Betrachter 
oft mit Stumpfheit verwechleln, muß da3 füditalienifche Wolf, wie 
ih e3 in Kalabrien und jebt im PVefupgebiet ſah, lieb gewinnen. 
Es ift impulfiv, aljo leicht erregbar und im Augenblid der größten 
Craltation des Schredend Opfer; ift diejer Augenblid aber über- 
wunden, jo fommt eine fajt fataliftiiche Selbjtverftändlichfeit der 
Ruhe, die imponiert. Ich jah Flüchtlinge in Caniello, Neapel, 
Portici, Torre del Greco, die Männer ernjt, die Frauen würdig. 
Gie litten Hunger und Durft, mußten nicht, wohin fie vom Zufall 
verichlagen würden, die beiten ihrer Habſeligkeiten Hatten fie im 
Stich lafjen müfjen und dafür Kleinigkeiten in armfeligen Bündeln 
mitgejchleppt, und doc) Hagten fie nicht. Soll man das Sorglojigfeit, 
Optimismus, Leichtjinn nennen? Ich weiß nicht. Die italienische 
Volksſeele iſt an und für fich ſchon Tompliziert, aber das Bauernvolf 
Süpitaliens ift bis jegt felbft noch manchem italienischen Piycho- 
logen und biologiihen Nationalölonomen ein Rätſel. Rührend 
ift die Anhänglichkeit unter den Verwandten, rührend die Vorjorge 
für Kranke und Schwache, faft ehrfürchtig die Achtung, mit der man 
Ichwangere Frauen behandelt. Es jtect viel Herzensbildung in dem 
guten Volke; jchade, daß ihr nicht die Volßerziehung, der Unterricht, 
die Aufklärung entſpricht. In diefen Tagen bin ich oft gefragt 
worden, ob mich die jegige Katastrophe an die von Kalabrien erinnere. 
Bum Teil ja. Zuerſt fiel mir nochmal auf, daß alles, mas Beamten- 
ſchaft heißt, wieder glattweg verſagte. Das kann natürlich nicht 
anders fein in einem Lande, wo alle Behörden zentralifiert find, 
wo jede Initiative, jeder Mut, auf eigene Verantivortung zu arbeiten, 
durch die zopfige Oberbureauftatie am grünen Tiich erſtickt wird, 
bie jedes jelbjtändige Handeln als Verbrechen brandmarft. Und dann 
die Schreibarbeit, das taujendfache Anfragen per Telegraph! Ordre, 
contre-ordre, desordre. Auf der andern Eeite ift aber auch Süd⸗ 


134 Neapel: Götzendienſt 


italien ein Volk eigener Art; durch die väterlich deſpotiſchen Re— 
gierungen der früheren Zeit verwöhnt und verdorben, erwartet 
e3 alle von der Regierung, gerade fo wie e3 fonft alles von feinen 
Dorfheiligen fordert. Gelbithilfe ift unbefannt. Dabei fehlt die 
Solidarität. Jeder Lokalpatriotismus ſchaut argmöhnisch auf den 
andern. Dazu kommt die Einmilchung der Abgeoröneten, kommt 
ferner der Kompetenzlonflift zwiſchen den einzelnen Zweigen der 
Bureaufratie und zwiſchen Zivil und Militär. Scarfoglio 
hat recht: Bei Kataftrophen Hilft nur Diktatur — in Süditalien. 
Daß der Eifenbahndienft mangelhaft ift, ift noch entichuldbar. Wir 
jind in der Oſterwoche, der Reifeverfehr ftellt riefige Anforderungen, 
und der Velup treibt mit Lava und Aſche Obftruftion, nach Hundert- 
taufenden zählen aber die Armen, die Eoftenlos befördert werden 
müfjen, weil jie dem Rayon des Todes nicht überlajjen bleiben 
dürfen. Ganz wie in Kalabrien ftellten fich auch jet wieder die 
Meutereien der Gefängnisinſaſſen ein, und das Unheil der Diebe 
und Leichenfledderer, das jo viel Militär zur Prophylaxis abforbiert. 
Ganz wie in Kalabrien grafjierte auch wieder der panikgenährte 
Aberglauben. Welche Summen wurden in diefen Tagen in Neapel 
für Kerzen ausgegeben! Welche Zeit vergeudet mit Wallfahrten, 
Prozeſſionen, welche Fabeln erzählt von Wundertaten, während doch 
fein einzige8 Wunderbild im Kampfe die Probe aushielt! Man 
mag über Religion und Konfefjion denken, wie man will, aber die 
Prozeſſionen des ſchmutzigſten Volkes in Neapel find jo würdeloſer, 
heidnifcher Götzendienſtkram, daß man fich an den Geiftlichen ver- 
greifen follte, die nicht allez dran jegen, um dem Volke feine Scheu 
vor den Fetiichen zu nehmen. 

Aber auch die Prefje verdient Tadel. Kein neapolitanijches 
Blatt wagt etwas gegen den Unfug zu jagen, den Klerus und Boll 
mit Neapel3 National-Santo, dem heiligen Sjanuarius treiben. 
Es werden fich fogar noch Leute finden, die die frommen „Gründer” 
von Balle di Pompeji lobpreijend unterftügen, wenn jie demnächſt 


Neapel: Staatögeier"und Diebe 135 





gemwinneshalber der einfältigen Menge, auch in gewiſſen deutichen 
Gegenden, verkünden, daß nur die Madonna von Pompeji den 
berühmten Ort bewahrt habe. Das glaubt dann die einfältige 
Menge. Daß der Dorfheilige in San Giufeppe die Kirche nicht vor 
dem Cinfturz, der berühmte Santo von Nola, obgleid) man ihn 
jährli auf einem mehrere Stockwerke yohen Gerüft herumträgt, 
jeine Klienten nicht vor der Ylucht rettete, daß die Lokalpatronin 
von Bo3cotrecaje, die heilige Anna, verfagte, das wird der heiligen 
Einfalt verſchwiegen. Diefe Ausbeutung der Traffen Unwiſſenheit 
des Volles hat nun leider eine fchlimme Begleiterjcheinung; denn, 
wenn ſich da3 Bolf hier von feinen Patronen im Himmel ver- 
laſſen fieht, wird es umfo erxbitterter gegen die Regierung, die 
Polizei und das Militär, und fo kommt e3 leicht zu Aufruhrſzenen, 
wie fie heute fchüchtern begannen, aber rechtzeitig erſtickt wurden. 
Darum iſt wirklich zu wünfchen, daß bald wieder der blaue Himmel 
über Neapel lacht, und der Veſuv wieder feine Sturmhaube mit dem 
beicheidenen Rauchkäppchen vertaufcht, das er ſonſt trägt. 
Neapel, 13. April 1906. Geftern abend herrichte wieder 
Panik, da fich der Aſchenregen erneuerte. Sie wird von Leuten, 
die im Trüben fifchen tollen, durch Ausſtreuung von faljchen Alarm⸗ 
gerüchten ausgenutzt; diefe Kamorriften wollen die Bürger zur 
Flucht antreiben, damit fie in den leeren Häufern plündern können. 
Aus Brivatgefprächen mit neapolitanifchen Gentlemen und aus den 
Undeutungen der Zeitungen — zwiſchen den Zeilen — geht hervor, 
(der „Pungolo Parlamentare” fpriht 3. B. von „Staat 
geiern”), daß gewiſſe Kreiſe durch Nufbaufchung des Unglüds 
auch die Mildtätigfeit der Regierung und des Publikums anftacheln 
wollen. Es ereignet fich aljo ganz dasſelbe wie im September de3 
Vorjahr in Kalabrien. Ein Regierungstommiffar ift 
zur Verteilung der Hilfsgelder eingefeßt. Gerade 
wie in Kalabrien treten auch Diebesbanden auf, die die 
halb zerftörten Städte der Umgegend unficher machen. In Otta— 


136 Neapel: Die Gefahr zu Ende 


jano mußte der Abgeordnete Bugnano mit dem Revolver in der 
Hand gegen Leihhenfledderer vorgehen. Dazu regt ſich 
der Iofalpatriotiiche Neid des einen Orts auf den andern. Eine 
jede Ortichaft fucht in ihren Angaben den erlittenen Schaden auf 
Koften der Nachbarpläße zu verichlimmern. Ein Blatt proteftiert 
Dagegen, daß alle Bürgermeijter immer nur Soldaten verlangen, 
um fie als Straßentehrer und Afchenfeger zu benüten, anftatt daß 
lie zu jolden Zweden bürgerliche Arbeiter anwürben. Nicht gerade 
günftig ift auch die Bildung allzu vieler Komitees, 
die einander eiferjüchtig verfolgen. Unter diefen Umständen muß 
eine ruhigere Zeit abgemartet werden, wo ein objeltiver Überblid 
über den Gejamtichaden möglich wird. Jetzt fcheint 3. B. das 
Obfervatorium des Veſuvbs, das doch als zerftört galt, Heil zu fein. 
Der Direktor, der geflohen war und unauffindbar blieb, deshalb 
auch viel beipöttelt wurde, wird jet plößlich, da er wieder auf dem 
Posten ift, ala Pflichtheld gepriefen. — Nach den neueften Nachrichten 
ift es fraglich, ob Ottajano, mo auch die Felder auf Jahre hinaus 
verwüſtet find, wieder aufgebaut merden kann. Alle Blätter 
ind einig im Lob des Königs, der Königin und des Herzogs 
von Nofta, die unermüdlich feier. Der König zeigte fich äußerft 
erjtaunt über die unhygienifchen Lokale, in denen man die Flücht- 
linge unterbrachte und hieß zweihundert Leute in die Logis des 
Gtallperjonal® des Königzfchloffes transportieren. Er hielt aud) 
eine Standrede an den Pfarrer von Ottajano, weil diefer floh und 
jeine Pfarrfinder im Stich ließ. Die Hiefigen Blätter wiederholen, 
daß die Eruptiondgefahr vorbei fei. 


— —— ———e — ⸗ — —⸗ꝰ — 


Eine Frühjahrsreife in Sizilien. 
Mai 1906. 


Don Meffina nah Palermo. 


„And nahe hör’ ich wie ein raufchend Wehr 

Die Stabt, die völlermimmelnde ertofen; 

Ich höre fern das ungeheure Meer 

An feine Ufer dumpferbraufend tofen.” 
(Braut von Meilina.) 


n Meſſina weile ich, das die Staliener „la Eroica“ nennen, die 
Heldenjtadt. Und wahrlich bewunderswert ijt’3, wie dieſe Hafen- 
veite ſich Jahrtauſende hindurch gegen Erdbeben, Peft, Cholera 
und feindliche Heeregmacht wehrte, mochte diefe nun von fremden 
Furſten und Korfaren, oder von ſtammesverwandten Unterdrüdern 
und Deipoten gejmdt fein. Bis zu den Zeiten de3 Homer fteigt 
diefer Stadt Gefchichte Hinan; denn der Sage nad wurde fie von 
Giganten gegründet, die von den Läftrygonen Homers abftammten! 
Und nochmal ſpricht Schiller in jener „Braut von Meffina“ 
bon der Heldenftadt: 
„Der fürſtliche Gemahl, 
Der mächtig waltend dieſer Stadt gebot, 
Mit ſtarkem Arme gegen eine Welt 
Euch ſchützend, die Euch feindlich rings umlagert. 
Er ſelber iſt dahin, doch lebt ſein Geiſt 
In einem tapfern Heldenpaare fort, 
Glorreicher Söhne, dieſes Landes Stolz!...“ 


138 Meflina: Prozeſſion 


Seltſam! Nur Schiller und Goethe haben die „bella Messina“ 
gepriefen, jonft fein fremder Dichter, weder Platen und de Muffet, 
noch Byron und Chelley, die doch fonjt Italiens landſchaftliche 
Perlen verherrlichten, und non italiichen Dichtern nur Carducci: 

„Sai tu l’isola bella, alle cui rive 
Manda il Jonio i frangenti ultimi baci“ ... 

und D’Anmunzio, der von dem an Reben reichen Meſſina fpricht, 
deſſen Füße ich in der Enge baden, nahe der ſchlimmen Charybdis. 
Und das Gumnafium taucht mir auf. Im Geifte lefe ich wieder 
Ciceros Reden gegen Verres: „Tam ipsa Messana, quae situ et 
moenibus portuque ornata est, ab his rebus, quibus iste 
delectatur, sane vacua atque nuda est!“ 

Wie unvergleichli ift das Hafenbild, der Hügelfranz, wie 
herrlich der Blid auf die im Abendglanz roſa und violett ſchim⸗ 
mernden Berge Kalabriens! — — — — 

Am nächſten Morgen loden mic) Mufifllänge. Kirchenfeft ! 
Eine malerifhe Prozeſſion zieht Durch die Stadt, gebildet aus weißen 
Kapuzenbrüdern, die drollig genug ausjahen. Den Hauptglanzpunft 
aber bildete ein rieſiges Schiffauß3 Silber, das von zehn weißen 
Zunilamännern getragen und von vier Lakaien in roter, blauer, 
goldener Frackuniform und Bonapartehut estortiert wurde. Der 
Tabakshändler, an deifen Laden ich ftand, belehrte mich, daß Gott 
im Mittelalter einft bei einer Teuerung ein Schiff voll Getreide nad) 
Meſſina geſchickt habe, und zu Ehren dieſes Wunders fei das Silber⸗ 
bild geftiftet worden. Da höre ich neben mir Berlinerijd 
fprechen, zwei joviale Herren ſind's. Wir gelangen ins Geſpräch. 
Sie wollen nnd Taormina. Ich jchließe mich an und komme 
jo zu einer neuen Prozeſſion. Ganz Taormina bildete fie; das 
Sakrament aber wurde von fünfzig bis fiebzig Männern geleitet, 
die weiße, mit dem Senatorenpurpur beränderte Havelods und auf 
dem Rüden den Pilgerhut trugen. Hinter dem Baldachin zog die 
ſtädtiſche Mufifbande und fpielte Yuftige Opernmeifen, während die 


Milazzo: Thunfifchfang 139 


Mädchen von den Balkonen Blumen ftreuten. Das war ein Bild in 
diefer Lichtflut! Auf der Piazza wird der Segen erteilt, die Mufil 
fpielt dazu die italienische Königshymne und die Feuerwerker brennen 
— am lichten Tage — tnallendes Feuerwerk ab. 

Nach der Prozefjion ging ich zum Theater, das einft die Römer 
erbaut. Wa3 foll ich jagen? Das höchſte Entzüden kennt nur 
Schweigen. Und hätte jemand die ganze Welt bereift, vor dieſer 
einzigen Landſchaftspracht müßte er jtaunend fagen: hic mane- 
bimus optime. Und da follte ich Taormina ſchildern! Ich ver- 
ſuche e3 gar nicht. Es würde mir ja auch nicht gelingen. Vater 
Atna würde fonft fein fchneeiges Haupt fchütteln . 

Nah Meſſina zurüd, in den Zug nach Palermo längs der 
ſiziliſchen Nordküſte. Ferne blaue Zaden nähern jich dem Meere. 
Bei Rometta fchauen wir auf ſchluchtenumrahmtem Hügel ein 
großes Schloß. Bald kommt da3 durch feinen Wein und feine 
Geichichte berühmte Milazzo, das ſchön an den Hügel gedudt liegt. 
In feiner Hafenstadt aber erhebt jich die erite Ka brif, die wir bis 
jett geſchaut; eine chemiſche ift’3, die von dem Schmwefelreichtum 
Siziliens zeugt. Dies ift aljo die Stätte, wo 1860 Garibaldi 
nad) der Einnahme Palermo3 die Neapolitaner jchlug und jo den 
Übergang nad) Kalabrien ermöglichte. 

Der Zug fährt plöglich vorfichtig; denn eine Brücke wird geflidt. 
Sunge Mädchen fungieren al Handlanger. Wie ſchön die Ichlanfen 
Geftalten am Hügelrain ſich von dem azurmen Himmel abheben, wie 
wirkungsvoll ihr braune Geficht von dem gelben Kopftuch! Die 
Landſchaft wird jegt interejfanter, tiefe Schluchten furchen die Berge, 
Olwälder reihen fich an Olmälder. Plötzlich zeigt mein Fahrgenoſſe, 
ein Genielapitän, lebhaft auf3 Meer. Dort jehe ic) eine Schar von 
Fiicherbooten, die ein Filometerlanges Net im Halbfreije bewachen. 
Eine „tonnara“ iſt's, d.h. ein Apparat zum Fang der riejigen Thun- 
fiſche, die gleich den Heringen und Sardellen ftet3 die gleiche 
Gtraße ziehen. &3 ift ein graufamer Fang; denn die ſchönen Tiere 


140 Palermo: Die beite Reifezeit 


werden, wenn fie in Maffe ind Neb gegangen, mit Beil und Lanze 
abgejchlachtet, worauf fie in Blechbüchjen Tonjerviert werden. 

Nach Tängerer Fahrt berühren wir Ce falu, in deifen Diözele 
die neuefte Schmach Sizilieng, der Prieftergeheimbund der „Engel- 
Sekte“, kürzlich von fich reden machte. Sie beweift ung, daß in 
diefem gottgefegneten Lande die durch da3 Elend erzeugte Unwiſſen⸗ 
heit des Volfes ans Bodenlofe grenzt. Wie groß dag von der Lati- 
fundienmwirtichaft gezeitigte Elend ijt, beweiſen und weiter die 
vielen leerjtehenden, zerfallenden Bauernhäufer, die zerlumpten, 
früh zu Greifen gewordenen Landleute nit ihrem verwüſteten 
Antlitz und auch die Armfeligkeit der Stationen. Wir pafjieren nun 
Weinberge, die ganz wie im Rheinland angelegt find, recht? tauchen 
die Aeoliſchen oder Liparifchen Inſeln aus der blauen Flut empor, 
hinter ihnen auch der fpite Kegel des Felſeneilands Stromboli, 
von defjen vullanischer Tätigleit man nichts gewahrt. 

Bor dem als Schwefelbad berühmten Termini Imereſe 
werden die Berge Tahler und fchroffer, Die Sandflüſſe, die „fiumane“ 
die den Beſchauer den Mangel an Smitiative in Sizilien beflagen 
lafjen, mehren fich; denn wie leicht Zönnte durch Talfperren im 
Gebirge und Flußkorrektion der Schaden verhütet werden, den dieſe 
Flüſſe zur Regenzeit anrichten. 

Die weitere Fahrt, nah Palermo, war wundervoll. Und 
wieder Tonnte ich feftitellen, daß, mie ich fchon hundertemal durch- 
reiſenden Touriften gejagt, die Stalienfahrer gemeiniglich vielzu 
früh nad) dem Süden fommen; denn auch hier entfaltet die Natur 
ihre Schönste Pracht erft Ende April und zur Maienzeit. — Man fährt 
durch einen Wald von Drangen- und Bitronenbäumen; dazmwilchen 
jtrogt das fatte Grün der Yeigenbäume, da3 mit dem dunklen Glanz 
des japanischen Mifpelbaums metteifert, deſſen goldbraune Früchte 
im blendenden Sonnenlicht wie Goldperlen funfeln. Links glänzt 
das tiefblaue Meer, rechts zu den grünen Höhen hin Hlettert da3 
Silbergrau der unermeßlichen Olhaine, umrahmt von dem Opuntien- 


Balermo: Das Goethehaus 141 


kaktus, der golone Blüten und goldne Frucht (die Kartoffel Siziliens) 
zugleich trägt. An dem Saum der Eijenbahn aber wachen Palmen, 
Dleander und riefige Geraniumftauden mild, und das Not des 
legteren flammt wie Rubinenbrofhen auf grünjamtnem Polſter. 
Eine folch tolle, finnvermwirrende, glühende Farbenſymphonie fucht 
man anderömo vergebend. Bald kommt auch der Funkentanz de3 
flammenden Ginfter3, dazwiſchen die mit violettem NRitterfporn 
geſprenkelten Wiejen, abwechſelnd mit Rohr und Weidengefchling, 
deſſen Blumenkelche in nie gejehenem Glanze leuchten. Selten ſieht 
man eine einſame Zypreſſe oder eine Pappel. | 

Auf dem Bahnhof von Balermo überraichte mich die 
Reinlichkeit in Gebäuden, Beamtenuniformen und Wagenmaterial. 


Balermo, 4. Mai 1906. 

Panormus! Balermo! Wie ſchön bift pn! Daß ganz Si⸗ 
zilien ſchön fei, glaubt jeder zu wilfen, der mit Coof oder Stangen im 
Luxuszug hierhergelommen und mit Extrazug zu den Ruinenſtätten 
und zu den Monumentalbauten im Zweiſpänner herumgejchleppt 
morden ift. Und doch find diefe armen Reichen zu beflagen. Vom 
Lande jelbft und feiner übermältigenden Pracht, vom Volle und 
feinem malerischen Leben fehen und merfen fie nichts. Zwar kann 
nicht jeder à la Seume zu Fuß fpazieren, aber viele könnten fich 
doch Zeit zum Flanieren nehmen, fei es per pedes, im Wagen oder 
Bummelzug, und — das Reiſebuch mit feiner indigesta moles 
von Hiftorifchem Überkram in der Tafhe — die Augen rundum gehen 
lafjen. 

Mein erster Gang nad) der Ankunft in Palermo war von der 
Marina aus durch die beiden Hauptadern der Stadt. Es war früh 
am Morgen. Biegen mit Maulförben belebten die Nebenjtraßen, 
der Melkung Harrend. Wenige Schritte weiter auf dem Corſo 
Vittorio Emanuele, und ich ftand vor dem Goethe-Haug 


142 Palermo: Farbenfinn des Volkes 


Früher war es Gafthof, jet dient e3 nur im Untergeſchoß der Frem⸗ 
deninduftrie. Nebeneinander wohnen ein Spediteur, ein Mofail- 
händler, ein Photographienverkläufer, ein Antiquar. Die oberen 
Stockwerke imponierten mir durch die weißen Balfone, aber auch 
dadurch, daß der erite und zweite Stod grüne Läden an den hier 
üblihen QTürfenftern, der dritte braune, der vierte graue Hatte. 
Das ift jo recht bezeichnend für Sizilien, mo die Bewohner der ver- 
jchiedenen Etagen fich von den anderen gern differenzieren wollen. 
Ganz bejonder3 aber gefielen mir die klaſſiſchen Thyrjusftäbe an 
den Balkonen. An einem beftanden fie aus Kupfer, und der Pinien- 
apfel war aus blauem Glaſe. Auch das ift fizilianifch. Auf die Tlaf- 
jiiche Form mag man zwar nicht verzichten, aber, two die Klaſſik zu 
einfach ift, hilft man ihr durch Farbe nach. 

Sa die Farbe! Belonders in den Kravatten der Männer, die 
alle im Sonntagsſtaat zu jteden ſcheinen. Welcher Gegenſatz zu 
Rom! Auch dort pußen fich die Dandies; aber jo vornehm jehen fie 
doch nicht aus, wie die hieſigen „beſſeren Leute”, und warım? Bei 
ihnen ift jeder Rod „individuell”. Wer Rom und Neapel kennt, ift 
auch überrafcht von dem reinlichen Ausfehen der Läden, ihrer Be- 
jißer und der Kommis. Neinlichkeit ft — in den modernen Stadt⸗ 
teilen — überhaupt Palermo Signatur. Darin ift ed noch „une 
italienischer” als ſelbſt Turin. 

Doch bummeln wir weiter! Sieht man ſich das Gtrußen- 
publifum an, fo enidedt man, daß die Männer im Gefichtö- 
ausdrud viel franker und freier find al die römischen. Auch blickt 
ihr Auge ruhiger als da3 der Neapolitaner. Die Balermitaner find 
überhaupt ftolzer, gemeſſener und ruhiger ala die Einwohner Neapel3. 
Das ſchließt nicht aus, daß man ab und zu einen Blumen- oder Filch- 
händler trifft, der feine Waren in melodiihem Geſang empfiehlt. 
Aber der Lärm der Camelot3 fehlt auf den Straßen. Palermo macht 
eben den Eindrud einer Stadt, die in vornehmer Ruhe repräfen- 
tieren, will. Es fieht nicht geme, daß man ihm in feine Altſtadt 


Palermo: Die bemalten Karren 143 


hineinſchaut und prunkt lieber mit feinem Teatro Massimo, da3 
tatſächlich das größte der Welt ift, mit feinen feenhaften Palmen⸗ 
gärten, feinen Corji, feinen Promenaden. Das ſoll und aber nicht 
abhalten, in die engen Gaſſen der Altitadt einzutauchen. Eins fällt 
uns vor allem auf. &3 gibt feine Bettler und Lazzaroni. 
Alles arbeitet. Der Fleiß der Frauen auf den Balkonen, oder im 
Erdgeſchoßraum, der Wohn-, Schlafzimmer und Küche zugleich ift, 
ift geradezu erftaunlich. Malerifch ift das Gajjenbild, Wäfche hängt 
neben zum Trocknen an Bambusſtäben angehefteten Makkaroni. 
Beſonders reizvolle Blicke bieten der alte Hafen, die Cala, und die 
Nachbargäßchen, mo die Magazine der Südfrüchte Tiegen. Die 
badenbärtigen Bauern mit ihrer roten Tajchentuchmüte, die alten 
Spinnfrauen, die in gelb-braunem Englifchlederanzug auftretenden 
Kärrner, das find Typen für einen Maler. Auch die Karren, 
die durch den Handel mit Photographien und Anfichtslarten welt⸗ 
befannt geworden, verdienen einen Augenblid der Betrachtung, 
nicht nur ihrer originellen Bauart, auch nicht ihrer bunten Ejel- 
befpannung, fondern der Bilder wegen auf ihren Seitenwänden. 
Sehen wir hin: Auf dem Bilde links ſteht der Name des Künftlers 
mit Geburt3- und Wohnort. Rechts der Name des Karrenarchitelten. 
Dann beitaunen wir aber die unteren Auffchriften: „Hannibal Stellt 
jeine Braut vor”, „Im Lager Hannibal wird der Kopf feines 
Bruders gefunden”, „Duell Caſſios“, „Othello mit Desdemona 
bor dem Dogen”, „Ei des Columbus”, „Roger I. zieht in Palermo 
ein”. Wie vertraut muß das Volk mit diefen Gefchichten fein, wenn 
e3 jie immer und immer wieder auf feinen Vehikeln reproduziert 
zu ſehen wünſcht! 

Überhaupt die Geſchichte! Ohne Geſchichtskenntnis 
kommt man in Sizilien nicht aus. Doch hüten wir uns, Palermos 
Geſchichte a priori aus dem Reiſebuch auswendig zu lernen. Treiben 
wir jie lieber peripatetijch, indem wir und an jedem biftorischen 
Punkte ber Stadt defjen Vergangenheit erinnern. Bei diefer Methode 


144 Palermo: Arabiiche Toleranz 


belebt fich die Phantafie, und den Flaneur begleiten auf feinen Zid- 
zadgängen die lebendig gewordenen Geftalten der Völlkerführer, die 
jich feit drei Jahrtauſenden hier ablöften. Beginnen wir mit dem 
Hafen, in dem Elymer, Phönizier, Griechen, Römer, Karthager 
landeten. Nach dem Hafen gehen wir n3 Mufeum, um die 
Griechen fennen zu lernen. Nun geht’3 zu San Giovanni degli 
Eremiti, der in eine Kirche vermandelten Mofchee, und zu den 
Kormannenbauten, der Kirche La Martorana und den Schlöffern 
Cuba und Ciſa, jowie nad) Monreale. Schönere Zeiten jah Palermo 
nie als unter den Arabern. Man leje nur im alten Amari. 
Was wir heute vergeblich erjtreben, die Toleranz, damals blühte fie. 
Die Araber wandten auf die Befiegten diejelbe Politif an wie einft 
die Römer. Go jchreibt Amari nad) einer Chronif au dem 
10. Sahrhundert: „Wenn man den Khalifen die Einkünfte brachte, 
jo nahmen diefe auch nicht eine Gold- oder Silbermünze an, wenn 
nicht zehn Notabeln aller Konfeſſionen bei dem Gotte, Der einzig in 
der Welt ift, geſchworen Hatten, daß da3 Geld gemäß dem Rechte 
erhoben worden, und fein Soldat um feinen Sold und keine Familie 
in ihrem Beſitz gekränkt worden wäre.” Damals mwetteiferte Palermo 
mit Cordova im Glanze. Bei 300.000. Einwohnern hatte es 300 
Moſcheen im Innern und 200 in den Borftädten. Sie dienten dem 
Kultus, der Schule, der Wilfenjchaft und waren zugleich Verſamm⸗ 
Iung3häufer. Die Normannen behielten die arabifche Tradition bei. 
Nur drei Sprachen erkannten fie als offiziell an, die griechiiche, 
lateinische, arabifche; die eigene ofiroyierten fie aus Schonung nicht. 
Sn die Verwaltung teilten fich die an Stelle der vicecomites 
tretenden bajuli und die cadi. Die Apellinftanz ftellien die Richter 
des Königs, denen ein zu gleichen Teilen aus Chrijten und Muſel⸗ 
manen gebildete Schiedägericht zur Seite ftand. Nebeneinander 
beitanden die Quartiere der Sarazenen, Araber, Franken, Griechen, 
Zombarden und Juden. Der Ton der chrijtlihen Kirchenglocken 
mifchte fich mit dem Auf des Muezin auf den Minaretd. Kreuz 


Palermo: Sizilianifche Vesper 145 


und Halbmond in ſchönſtem Frieden. Nie fah die Welt folch eine 
Toleranz. 

Bon den Normannendentmälern pilgern wir zum Dom, um 
uns beim Anblid: feiner berühmten Gräber in die Poeſie der 
Hohenftaufenzeit zu verfeßen. Gchade, daß man die 
Statuen der Fürften diefer Zeit nicht von der Faſſade des Neapler 
Königsſchloſſes fortnehmen und neben diefen Gräbern aufitellen 
fann! Der Anjhaungsunterricht wäre volllommen. Die Anjous 
fommen jet. Wer Stimmung fucht, gehe durch die Vin ©. Anna 
nach der Piazza Veſpri. Hier ragt ein alter Palazzo mit mittel- 
alterlihem Turmjtumpf, an deſſen äußerfter Kante eine zierliche 
Säule eingebaut ift. Daneben meldet eine Inſchrift: „Nach jahr- 
hundertelanger Tradition mar hier die Wohnung von Giovanni 
de Saint Remy, Richter von Val di Mazzara im Namen Karls 
von Anjou, und hier fiel der rächende Zorn de3 Volfes über den 
jtrengen Unterdrüder am 31. März 1282.” Wie widerjpruch3boll ift 
doch der Sizilianifche Charakter; denn der Wildheit der ſizilianiſchen 
Besper folgte Jahrhunderte lang fein Ausbruch des Zorns mehr! 
Sehen wir uns den Plab an: In meinem Reijebud) ift er nicht ver- 
zeichnet; denn er liegt abfeit3 vom großen Verkehr. Und doch, wie 
einzig ijt er! Dem Inſchrifthaus gegenüber liegen große grandezza- 
reiche ſpaniſche Paläſte. Der des Principe Gangi ift Schon durch 
feinen Hof eine Sehenswürdigkeit, auch der des Principe Campo- 
Franco — in Palermo mwimmelt e3, wie befannt, von PBrincipi, 
Marchefi, Duchi und Conti — it vornehm impofant. Bornehme 
Ruhe liegt auch Über dem ganzen Plabe. 

Weiter! Die Spanier! Um fie verjtehen zu lernen, gehe 
man an die Piazza Quattro Fanti, wo ſich Palermos Hauptitraßen 
kreuzen, und jchaue die vier Fafladen an, die 1609 Bigliena, 
der Statthalter, errichtete. Auch ſehe man auf Piazza Bologni den 
im Nachthemd frierenden Karl V. und zum Schluffe den Palazzo 
Chiaramonte, das jehige Tribunale. Wie würde die arabilch-nor- 

Zacher: Im Lande des Erbbebens. 10 


146 Palermo: Die Epopoe Garibaldis 


männijche Toleranz gefchaudert haben, hätte fie dort die Greuel der 
Inquiſition wahrnehmen und die Kerfer für die Ketzer Schauen können, 
die jet noch in ihrem Namen „Filippine” das Gedächtnis de3 grau- 
ſamſten Inquiſitionskönigs Philipps III. fefthalten! Furchtbar ift, 
was die Spanier und die in ihren Bahnen wandelnden Bourbonen 
an Sizilien fimdigten. Unter ihnen war die Inſel ein übertünchtes 
Grab. Kein Wunder, daß die Kunftfreunde e den Spaniern und 
Bourbonen zujchreiben, wern Sizilien, wie ganz Süditalien, in der 
Kunst Fein einheitliches Leben, feinen eigenen Stil hat! 
Schließlich fuhen wir ©. Domenico, die Ruhmeshalle der 
Inſel, auf. Dort liegt der Mann, dem nächſt Garibaldi Sizilien 
feine Freiheit verdankt, Francesco Crifpi. Ich weiß, in Deutich- 
land verfennt man ihn. Gewiſſe Leute zuden auch die Achjeln über 
Garibaldi. Aber wer kennt denn bei und die Gejchichte dieſes 
autofuggeftionierten Hypnotiſeurs der Maſſen, dieſes Mahdi, dieſes 
alten anachroniſtiſchen Longobardenſprößlings, der für die deutſche 
Romantik viel zu ſpät zur Welt gekommen? Was mich betrifft, ſo 
kann ich in Sizilien und im Weſten von Süditalien keinen Schritt 
tun, ohne an ſein Epos vom Jahre 1860 zu denken, das den Titel 
hat: „Die Expedition der Tauſend“'. Am 20. Mai erſchien der 
„Flibuſtier“, wie ihn die bourbonischen Generäle nannten, in Mon- 
reale, jüdmeftlich oberhalb Palermo3 mit feiner Streitmacht, Die 
mittlerweile auf 5000 Mann angewachfen war. Liftigerweile befahl 
er, einzelne Streifforpg im Süden und Often der Stadt herum- 
ſchwärmen und nachts Feuer anzlinden zu lafjen, um die feindlichen 
Generäle über feinen Anmarjch zu täufchen. Einer derjelben, Co- 
Ionna, ließ fich Dadurch auch irreflihren, jo daß er nach Neapel meldete, 
Garibaldi fei vor ihm geflohen. Am 27. Mai erjchien diejer aber 
im Südoſten, überrajchte die Bejabung des Monte dell’ Ammirag- 
liato und nahm nad) zwei Stunden die Borta Termini (jet Porta 
Garibaldi), den ftrategifchen Schlüffel der Stadt. Beim Erwachen 
fanden die jauchzenden Palermitaner die Garibaldianer innerhalb 


Palermo: Monreale 147 


der Mauern. Sie ſtiegen auf die Kirchtürme, um Sturm zu läuten, 
aber die bourbonifchen Truppen hatten die Klöppel entfernt, und 
jo mußten fie auf den Gloden hämmern. General Lanza, der 
neapolitanijche Obergeneral, hätte mit feiner Übermacht die Ein- 
dringlinge, denen die waffenlofen Einwohner nicht zu helfen ver- 
mochten, in den Straßen vernichten können, aber er zog e3 vor, die 
Stadt von der Flotte und von der Burg aus bumbardieren zu lafjen. 
1300 Bomben fielen. Der Verwüuſtung halfen die Bourboniichen 
duch :Brandlegung nach. Aber Garibaldi kämpfte weiter, bi3 ganz 
Palermo außer dem Königspalaft in feinen Händen war. Am 
30. Mai bat General Lanza um Waffenftillftand, zur größten Freude 
Garibaldis, der alle Munition verjchoffen Hatte. Was Lanza zur 
Nachgiebigfeit verleitete, ift noch unbelannt. Offenbar hatte man in 
Neapel, mo Palmerfton gegen die Beſchießung von Palermo pro- 
teftierte, ven Kopf verloren und wollte die Inſel preisgeben, um 
das Feſtland zu retten. Die Verhandlungen dauerten bi zum 
7. Juni, wo die Bourboniichen 15 000 Mann ſtark abzogen. Die 
wenigen Monate, die Garibaldi in Sizilien als Diktator herrſchte — 
als Zivillifte nahm er acht Lire täglid — waren nad) dem Urteil 
der damal in Palermo refidierenden Fremden ſegensreich. Si⸗ 
zilien machte in der kurzen Zeit mehr Fortjchritte als in den fol- 
genden Jahren. Großen Anteil am Erfolge hatte dag PAIR 
talent Criſpis. 

Doch kehren wir zur Gegenwart zurüc. Den Glanzpunkt von 
Palermos Beſuch bildet für die meiſten Reiſenden der Dom von 
Monreale. Mit Recht. Doch warum beſchränken dieſe meiſten 
Reiſenden die Beſichtigung des Ortes nur auf den Dom? Monreale 
iſt eine Stadt von 23 000 Einwohnern, und bequemer als Hier kann 
man das intenjiv-jüdliche Leben einer. fizilianichen Dorfitadt nicht 
ſtudieren. Alſo nur hinauf die Hauptitraße bis vor der Stadt zum 
Kreuze, um die Ausſicht auf dag bunte Dächermeer vom Monreale, 
das einzige Tul der „goldenen Mufchel”, auf Palermo und das Meer 

10* 


148 Palermo: Winterkurort 





zu genießen. Dann zurüd und links und rechts in die Geitengäßchen, 
die trockenen Gießbächen im Telfengebirge gleichen. Das find ma⸗ 
ferifche Bilder. Aber troß aller äußeren Verwahrloſung der Woh⸗ 
nungen find deren Inſaſſen nicht arm; denn — und das ift bezeich- 
nend — Fein Kind läuft barfuß, jondern alle prunken mit ftädtifchen 
Schuhen. Hat man da3 Straßenleben, das Volk in den Häuſern, 
dieje ſelbſt in ihrem wirren Durcheinander gejehen, darm erft betrete 
man den Dom, und man wird ſtaunend erleben, was Kontraſtwirkung 
bermag. Ich menigftend habe jeme Mofaitpracht nie ſchöner ge- 
funden, als jegt, wo ich ihn als legte Sehenswundigleit von Mon⸗ 
reale beſuchte. 

Ehe ich's vergeſſe: Die Sizilianer find doch dankbare Leute. 
In Momeale gibts eine — Guglielmo II.“ Freilich iſt 
- fie ziemlich Hein. 

Ein von Vincenzo Florio präſidiertes Komitee ſucht Pa⸗ 
lermo zu einem Winterplatz à la Nizza zu machen. Ob es 
gelingen wird? ch halte es für ſchwer. Zuerſt muß der Paler⸗ 
mitaner zur modernen Yremdeninduftrie erzogen werden. Damit 
hapert es. Es fehlen gute vornehme Reftaurationen. Alle Berjuche 
fie zu: fchaffen, jcheiterten daran, daß die Palermitaner fie nicht 
während der fremdenlofen Zeit in Nahrung feßten. 3 fehlt an einem 
langen Quai, da die Verbindung der Marina mit der Stadt zu fehr 
durch die Paläfte der Großen gehemmt wird. &3 fehlt an den leichten 
Bergnügungsftätten. Auch duldet der ernite Palermitamer da3 
ambulante „Fröhlich-Weibliche” in der Öffentlichkeit nicht, das doch 
für viele Reifende Nizza und Monte Carlo fo anziehend madit. 
Nichtsdeſtoweniger führt fich das Komitee wacker. Bis jebt jedoch 
befteht der Fremdenzufluß (im der Saiſon tauſend Perſonen täglich) 
faft nur aus Deutſchen. 

In der Heimat wird man es ſeltſam finden, daß die Zahl der 
mutigen Landsleute ſchon ſo groß iſt. Nun, nicht alle ſind mutig, 
drum veifen fie eben in Karawanen und lugen mit innerlichem 


Balermo: Der Florio-Schild 149 





&rujeln rechts und ImB nad) den Staktusheden an Eifenbahn und 
Landſtraße. Auf der Fahrt ja neben mir jold ein Heimntgenoffe.. 
Sein Auge funfelte jedesmal, fei e3 vor Aufregung oder por Aben⸗ 
teuerluft, wenn .er wieder einen Reiter, einen Bauer mit Gewehr 
ſah. Und aß er gar auf einer Zwifchenftation einen ſizilianiſchen 
Zandlord in elegantem Reitanzug aus ſchwarzem Samt erblidte, da 
war ich ficher, daß er zu Haufe erzählen würde, er hätte einen Teib- 
haftigen Räuberhauptmann gejehen. Hoffentlich ſchwor der Dann 
nicht auch auf Statiftil und hatte nicht etwa gehört, daß 1879—1883 
noch in der Provinz Girgenti 70,79 Morde auf 100 000 Einwohner 
borfamen. Zu feinem Glüde will ic) auch annehmen, daß er im 
Neifebuche die Vorbemerkungen zu Sizilien gelejen hatte, in denen 
e3 heißt, daß fo angenehme Dinge wie Raubanfälle und Morde 
als Yamiliengeichäfte von den Gizilianern unter fi abgemacht 
würden.. Auch vor der Mafia zeigte ſich mein Gefährte bejorgt 
und fragte mich, ob Denn wirklich in Palermo noch dann und wann 
Menichen auf geheimnisvolle Weife verſchwänden. 


In den mabonifchen Bergen. 
TZermini Imereſe, 6. Mai 1906. 
(Da3 Automobiltennen um den Florio-Schild.) 


So etwas ift nur in Gizilien möglich: durch die Smitiative 
eines einzelnen Mannes wird ein Gebiet, das 2300 Jahre geichlafen 
hat, zu neuem Leben gewedt und der Gejchichte wiedergegeben. 
Wenigen nur, die von der Station Bonfornello aus dem von 
Bincenzo Florio, den man vor 2300 Jahren den „Tyrannos“ 
von Palermo genannt haben würde, geichaffenen Automobil-Run 
um den Florio⸗Schild (50 000 Franks) beimohnen, wird e3 bewußt 
jein, auf welch berühmter Stätte fie ftehen, Wenige Schritte nämlich 


150 Himera: Karthager und Griechen 





bon den Zufchauertribiinen liegt der Plab, auf dem 648 v. Chr. von 
Einwohnern des dorischen Syrakus und des jonifchen Zankle (Meſſina) 
die Kolonie Himera gegründet und jo dem Borpoften des kartha⸗ 
giſchen Beſitzes Soloeis (dem heutigen Solunt, öfllic von Palermo) 
bedenklich nahe gerückt wurde. Über 150 Jahre lang, wenn auch 
unmillig, ertrugen die Karthager die nahe Nachbarfchaft. Erſt als 
im Jahre 481 Selinus mit den andern Griechenftädten zerfiel und 
die Karthager zu Hilfe rief, erfchienen diefe wieder vor Himera, aber 
zu ihrem Unglüd; denn Himera wurde von Gelon, dem Tyrannen 
von Syrakus, und von deffen Schwiegervater, Theron, dem 
weiſen Tyrannen von Agrigent, unterftügt und fiegte. Den Kartha⸗ 
gern blieb nicht3 anderes übrig als 2000 Talente zu zahlen und fich 
fo den Befig von Banormos (Palermo), Soloeis und 
Motye (= Lilibaeum, dem heutigen Marfala) zu retten. Diefer 
Gieg von Himera wurde bedeutungspoll, denn von ihm datiert die 
Blütezeit des griechifchen Sizilien, die mit dem Namen Hiero3T., 
dem Sohne Gelons, einfegt, der Syrakus und Agrigent (Girgenti) 
zugleich beherrichte. Himera erfreute fich aber nur 70 Jahre Yang 
de3 Friedend. Denn im Jahre 410 entfeffelte wiederum griechische 
Eiferfucht den Krieg, der bi3 340 dauerte. Segeſta wollte Selinus 
unterwerfen und rief die Hilfe der Karthager an. Dieſe erfchienen, 
begnügten ſich aber nicht mit der Riederwerfung und Eroberung von 
GSelinu3, jondern nahmen und zerftörten Himera 409, ſowie im Süden 
Agrigent und Gela, die Stadt des Aeſchylos, der dort 456 geftorben 
var. Syrakus mußte einen chmählichen Frieden jchließen und die 
Herrschaft der Kathager über die weftliche Hälfte Siziliens anerkennen. 

Bon dem alten Himera aus beginnt alſo da Automobil. 
rennen, fo daß die kulturell und wirtſchaftlich total vernach⸗ 
Yäffigten und vergeffenen Madonier mit einem Schlage mit der 
neueften Errungenfchaft des internationalen Verkehrs befannt 
werden. Gie hoffen, daß die Befucher den Eindrud erhalten, daß 
da3 Innere Siziliend nicht eine’ Art abeffynifcher „Amba“ fei, die 


Palermo: Frauenjchönheit 151 





nur einen grünen Saum an der Küfte habe, fondern fich überzeugen, 
daß die fiziliichen Alpen klimatiſche Schönheiten aufmeifen, melche 
denen der Schweiz nicht3 nachgeben — natürlich einftweilen ohne 
modernen Komfort. Der „Circuito delle Madonie“ umfaßt eine 
Gtrede von 149 Kilometern, die dreimal durchfahren werden muß. 
Die erjte Etappe geht nah Cerda. Die Propinzialitraße ift 
eingeengt von Zahlen, verbrannten Bergen, auf denen taujend- 
jähriger Fluch: zu laſten fcheint. Sie duden fich vor den größeren 
Bergen, die hinter ihnen liegen und in Hunderten von Farbentönen 
gleißen. Gerda, erſt 200 Jahre alt, ift der Typ des heutigen fizilifchen 
Binnendorfs, es ift arm, von der Auswanderung entvölfert und 
bon ewiger landwirtichaftlicher Krifis geplagt. Es liegt 274 Meter 


hoch. .: 

Die Fahrt von Palermo zum Tribimenplaß bei Gerda war ein 
Wonneraufch! Die Mitreifenden, palermitanifhe Sportsmen und 
Ariftofraten dazu, jchimpften über den „disservizio“ der Eijen- 
bahn, doch ich wurde nicht müde hinauszufchauen und innerlich 
aufzujauchzen; denn welche Vegetation! Und dann diejes Vicht, 
diefe Farben, in den Riefengeranien, welche das Geleife umfäumen, 
und in den bizarr gezadten Bergen ringsum! 

Was Palermos Frauen anbetrifft, jo befommt fie der 
fremde Tourift meift nicht zu fehen, aber im Tribiinenlager habe 
ich doch fo recht erkannt, was Palermos Frauenſchönheit bedeutet. 
An Werktagen fieht der Fremde die Damen der fizilianischen Haupt- 
ftadt nur auf fteifer Korjofahrt. Aber bei dem Autofeft und feiner 
dur den Eiſenbahnwirrwarr erzeugten Konfufion und feinem 
Mifchmafch aller Stände konnte man die natürlihe Anmut in 
Haltung, Kleidung, Gang der Damen und Bürgersfrauen be- 
wundern. Biel fchlanfere Geftalten fieht man als in Rom, darunter 
Haffiich griechifche. Am meiſten frappierte mich die Iingeziwungen- 
heit und Munterfeit der Damen; denn ich hatte doch fo viel von der 
orientalifchen Knechtſchaft der fizilianifchen Frauen gehört. „Pah, 


152 Palermo: Hafenverfehr 


das find Legenden! Wir find doch im Zeitalter des Sports, des 
Lawn Tennis, des Automobils,” fagte mir ein Tribiinennachbar, 
„die Uriftofratie reift mehr und lacht jetzt ſelbſt über ihre frühere 
Ipanifche Grandezza, und die reich gewordenen Bürger find nicht 
mehr unterwürfig — in Palermo wenigſtens.“ 





TZermini Jmerefe, 7. Mai 1906. 

Auswanderung ift das erfte, was jebt dem Beobachter in 
Palermo auffällt; denn die Auswandererbureaur haben fich 
vermehrt; über fie ſprechen aud) die von mir aufgefuchten Kaufleute, 
italienische und deutfche, am meiften. Sie nimmt ftändig zu, fo 
daß ein großer Teil des Auswandererverkehrs, der früher von Neapel 
bejorgt wurde, jebt direkt von Palermo ausgeht, mas ſich auch in 
der Bewegung der deutfchen Schiffe bemerkbar macht; dieje hat jich 
im Laufe der legten zehn Jahre verdreifacht, da jetzt 120 deutjche 
Dampfichiffe von Palermo abgehen. Im Jahre 1902 verließen 
11 843 Auswanderer den Hafen von Palermo, 1903 ſchon 16 531, und 
diefe Zahl ftieg ſeitdem ſtetig. Im ganzen belief fich 1904 der 
gejamte Schiffsverkehr Palermos (die Segelichiffe nicht gerechnet) 
auf 1988 ankommende und 1996 abgehende Schiffe. 

Man erjieht aljo, daß Palermo ein ganz bedeutender Verkehrs⸗ 
platz iſt. Daher berührt es eigentümlich, Daß alle Kenner der hieſigen 
Berhältniffe von der jchlechten Lage des Kleinhandels ſprechen und 
darauf Hinweilen, daß allein im Jahr 1904 mit den vom Vorjahr 
noch als fchrwebend übernommenen 82 Konfurje vorfamen. Einen 
Grund zur Erflärung kann man wohl in den Worten eines Gewährs⸗ 
manns finden, der jagte: „Das Land ift reich, aber das Geld rollt 
nicht, da gerade wie in Apulien, die Beſitzenden ihr Geld zurüd- 
halten wegen der Furcht, es möchte bei dem geringiten Riſiko ver- 
loren gehen.” ALS ich darauf anfragte, ob noch das alte Mißtrauen 
wegen ber Mafia mitipiele, wurde mir geantivortet, daß man 


Termini: Segen der Auswanderung 153 





von diejer, was die Stadt betreffe, kaum mehr ſpreche, da die Schreier 
Hill geworden und auch die als Mahner aufgetretenen Sozialiſten 
nicht mehr jo rührig jeien. Freilich auf dem Lande wiſſe man nicht, 
wie ed ausjähe; dort bejtünde jedenfall das alte Unweſen un- 
geſchwächt fort. Übrigens Herricht augenblidlich eine Krifis in der 
Direltion der Barca di Sicilia, der gewiſſe Parteien vorwerfen, 
daß fie zu ftreng fei. Wie ward doch 1892? Wurde damals nicht 
Rotarbartolo, der Direktor der Banca di Sicilia, ermordet, weil 
er im Kreditgeben zu rigoros war? Doch wer fpricht bon 
Kotarbartolo und feinem Gegner Palizzolo ? 

Sn Termini Jmerefe, dad auf den erften Blid, wie 
der ganze ſiziliſche Meeresſaum, die Tatjache ins Auge fallen läßt, 
daß das Meer die Küſtenbewohner fleißiger macht al3 die Inländer, 
fällt auch die zweite auf, nämlich, daß an der Küſte das ländliche 
Eigentum viel zerteilter ift al3 im Innern. Dem ift es wohl aud) 
zuzufchreiben, daß die Inſel, die man ſtets als den Hort der Lati- 
fundien bezeichnet, ganz gut den Vergleich mit anderen italieni- 
ichen Gebieten aushalten kann. Auf den Dundratfilometer fallen 
in Sizilien 93 Eigentümer, in der Emilia 9, in der Bafilicata und 
in Kalabrien 8, in der Romagna 5, in den Marken und in Umbrien 6. 
Termini ift auch ſonſt fehr lehrreich. Es liegt an der Spike eines 
Landſtreifens, der über Corleone nach Sciacca am libyſchen Meer 
zieht, und in diefem Streifen verringert jich die Bevöllerung, während 
der Wohlſtand wächſt. Früher war in diefem Gebiet die Au 3- 
mwanderung ganz unbelannt, aber die erſten Amerikafahrer 
famen zurüd und veranlaßten andere zur Fahrt nach dem gelobten 
Lande jenſeits des großen Waſſers. Dort aber vergeſſen fie die alte 
Heimat und die zurüdgebliebenen Verwandten nicht, im Gegenteil. 
Zaufend Auswanderer verlaſſen Termini Imereſe jedes Jahr, und 
jede Woche kommen allein aus Amerika hunderttaufend Lire per 
Poft an. Eine Marmorfapelle, welche die „Amerikaner“ haben 
errichten laſſen, zeugt von diefem Segen; vierzig Maflaronifabrifen 


154 Sizilien: Auswanderung und Löhne 





arbeiten allein für die Brüder in Amerika, die Barken der Fiſcher 
find reinliher und freundlicher als in anderen Häfen, und fogar 
eine Fabrik Künftlichen Düngers wird angelegt, während noch vor 
einigen Jahren die Bauern in dem nahen Campofelice fich den 
Eigentümern widerſetzten, als dieſe einen rationelleren, moderneren 
Betrieb einführen mollten, gerade wie jet noch im Innern Die 
- Bauern ich mweigern, in auf den Feldern verjtreuten Dörfern zu 
wohnen, und troß de3 weiten Weges zur Arbeit’ es vorziehen, in 
den Städten zu 20 bis 30 000 zufammenzuhoden,-obfchon die Sicher- 
heit im Innern nichts mehr zu wunſchen übrig Täßt: Und aud) das 
ift zum Teil eine fegenvolle Wirkung der Auswanderung. Sowie 
die fizilianifchen Auswanderer, kaum daß fie aus ihrem Milieu heraus 
find, die ruhigften Leute werden, fo kann man auch ſagen, daß gerade 
die begabteften und untuhigften Menfchen, die früher aus Un- 
zufriedenheit mit ihrem Milieu Briganten geworden wären, e3 find, 
welche am begierigften die Ausmwanderungsgelegenheit ergreifen. 
Dann wird auch Durch den wachſenden Wohlftand in den größten 
Auswanderungsgebieten der Anreiz zum Brigantentum genommen. 
Der Segen der Auswanderung zeigt ſich ferner darin, daß die 
Gemeinden dieſes Gebiets keine Schulden haben und daß ihnen 
auch nicht die religiöſen Feſte zur Laſt fallen, die ſonſt ſchon fo viele 
Gemeindefinanzen ruiniert haben; denn az für die Feſie kommen 
die „Amerikaner“ auf. 

Ein weiterer Nuben der Auswanderung ift dag Steigen des 
Lohnes; denn da die Hände zu fehlen beginnen, muß ſich der Padrone 
den Reſt ſichern. Außer gutem Lohn gibt's auch beſſere Verpflegung 
für die Landarbeiter. Der Arbeitermangel zeitigte auch die Neue- 
rung, daß die Frauen, was früher nie geſchah, an der landwirt⸗ 
Ichaftlihen Arbeit teilnehmen und jo den Verdienſt der Yamilie 
erhöhen helfen. Überhaupt fcheinen die Frauen in Sizilien in vielem 
beſſer zu fein als die Männer; dern nad) einer von Senator Angelo 
Moſſo, dem Turiner Phyſiologen, mitgeteilten: Statiſtik betrug 


Gizilien: Die „Herren“⸗Krankheit 155 


der Prozentſatz der Alphabeten in der Provinz Palermo 1882: 
32,37 Prozent unter den Männern, 19,33 Prozent bei den Frauen, 
während 1901 die alphabetiichen Frauen auf 32,68 Prozent geftiegen 
waren und die männlichen Alphabeten nur auf 42 Prozent. Geit 
der Zeit haben id) die Männer anjcheinend wieder eines Beſſeren 
beſonnen; denn in den Vereinigten Staaten befteht ein Einwande⸗ 
rungöverbot für Analphabeten, folglich fuchen die Unwiſſenden fich 
belehren zu laſſen, um drüben nicht zurüdgemwiefen zu merden. 
Leider werden viele Bauern, die aus dem Innern fommen, nod) 
aus einem anderen Grunde fchon im Inlande zurüdgemiejen, weil 
fie nämlich) mit der Augenkrankheit tracoma behaftet find, die durch 
Waffermangel und die dadurch vernachläſſigte Gejichtöpflege ent- 
fteht. Die Armſten follen überhaupt fehr ſchlimm dran fein, da fie 
wegen der Anftedlungsgefahr in den Hofpitälern nicht aufgenommen 
werden, fie alfo ruhig fortfahren können, ihre Verwandten zu infi- 
zieren. Seit einigen Jahren hat die Regierung nicht nur der fizilia- 
nifchen, fondern auch der gefamten itafienifchen Auswanderung ihr 
Augenmerk zugewandt; fie hat ein Auswanderungsgeſetz gefchaffen, 
Auswanderungskommiſſare und Auswanderungskomitees eingejeßt 
und das Untvefen der Auswanderungsagenten befchnitten, indem 
fie beftimmte, daß in jedem Bezirk (Departement-Unterpräfektur) 
nur ein Agent pro Reederei erijtieren dürfe. 

Zum Schluß noch ein anderer moralijcher Erfolg der Aus- 
mwanderung. Die rüdfehrenden Auswanderer wirken nämlich auch 
als Heilmittel gegen die ſchlimmſte Krankheit des Südens, gegen die 
„signoritis“. Gie verlieren den Reſpekt vor den Gignori, der den 
im Land zurüdgebliebenen Brüdern noch derart im Blut fikt, daß 
fie es gerade wie die Signori ſelbſt für felbftverftändlich halten, 
daß e3 eine Schande für einen Signore wäre, zu arbeiten, und daß 
auch die Heinfte Arbeit diefem den unauslöjchlichen Charakter der 
Signoria nehmen würde. Ihr Beifpiel wirkt anftedend, und fo 
verliert ſich aud) in Sizilien der aus der alten Feudalzeit ftammenbe 


156 Sizilien: Landichaftspracht 


unmürdige Zuftand der Unterwürfigfeit unter die Reichen, die dieſe 
zu jeder Augfchreitung ermutigte. Die „Amerilaner” lächeln jebt 
auch gerade wie die Nordeuropäer, wenn fie in Süditalien und auf 
Sizilien den „Klub“ der Signori auf der Hauptitraße zu ebener Erde 
bemerfen, wo die Dorfprinzen die Auslage von Schaufenftern bilden 
und fo durd) ihre bloße Gegenwart den anderen, niedrigeren Menjchen 
ſtets zurufen, daß fie adlig find, weil fie dank ihrem Geld jozulagen 
die Pflicht haben zu faulenzen. 





Girgenti, 9. Mai 1906. 

Die Fahrt nah Girgenti ift entzüdend, zumal das Eifen- 
bahnmaterial vorzüglich if. Auch das Perjonal fticht freundlic) 
ab gegen da3 des Kontinents, e3 iſt eleganter gekleidet, fauberer, 
und die Schaffner tragen fogar Handſchuhe. Langeweile kommt 
feinen Augenblid auf, der Farbenrauſch ringsum beichäftigt das Auge 
fortwährend. Cine Zeitlang begleitet und da3 Meer mit feinen 
„tonnare“ (Thunfischichlächtereien). Kaum haben wir den Iahlen 
Monte Salegaro rechts Liegen lajjen und der Küſte den Rüden ge⸗ 
dreht, fo hört dag Urwalddidicht, gemischt aus Mifpeln- und Zitronen- 
bäumen mit ihren goldenen Früchten, mit NRofenbäumen, Ol⸗ und 
Feigenbäumen und Opuntienkaktus auf, ftatt deſſen kommen die 
bunten Orgien der aus Wiejfenblumen gewebten Teppiche. Das 
leuchtet und flimmert, daß man jchier geblendet wird, und ab und zu 
ſchlagen Nachtigallen. Bald kommt ödere Gegend, wo, wie die 
vielen Eufalyptusbäume verraten, die Malaria herrſcht. Auch 
zeigen fich an den vielen Erdrutichen der Hügel die Folgen des Winter- 
regen, den kein Wald als Schwamm aufgejaugt hat. Nach und 
nad) werden Geranium und Purpurflee bleichlüchtiger, der flam⸗ 
mende Golöginiter tritt an ihre Stelle, begleitet von dem weißen 
Traubengewimmel der Alazien. Vergebens fpäht man nach Pinien 
und großen Cypreſſen aus, ohne die man fid) nun einmal Teine 


Girgenti: Ein Quidam 157 


iafienifche Landſchaft denken kann. Doch dafür wird es bald alpin, 
die Felſenhäupter der höchiten Ketten erjcheinen und der dem 
abruzzefifchen Monte Velino ähnelnde Zwillingsberg Monte Camma- 
tata (1576 Meter Hoch), an dem, wie in der Fabel, Regen und Sonne, 
Waſſer und Hibwind fo lange ihre Kraft erprobt haben, daß er 
tefigniert bejchloß, einfach nadt zu bleiben. Noch jieht die Land- 
ſchaft nicht dejolat aus; denn grüner Frühlingsflaum deckt fie noch, 
doch im Sommer wird fie zu verbrannter Wüfte. Hier alſo hauften 
einft die von Italien herübergelommenen, die den Römern ftamm- 
verwandten Sikeler, die samiolder der homerifchen Cyklopen und 
Läſtrygonen! 

Hundert Kilometer von Palermo! Station Aqua v iva. 
Hier riecht's nach Hölle. Gelbe trapezoide Kuchen ſind aufgeſchichtet 
Die Schwefelgrubenregion beginnt. 

35 Kilometer weiter Girgenti. Man ruft mich an. Es 
iſt einer von jenen internationalen Duodlibet3, an denen Rom fo 
reich ift, und bei denen man immer fragen möchte: „quis, quid, 
ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?“ Beſonders das 
legte: quando, feit wann?, denn heute präfentierte fi) mir der 
Erarzt, Erphilologe, Exjournaliſt, Crzeitungäherausgeber ala 
Fremdenführer, der eine von Tunis herüberlommende Karawane 
in Empfang nehmen foll. Doch was geht’3 mich an! Lieber hinein 
in den Wagen zur fröhlichen Wettfahrt nach der hochgelegenen Stadt! 

AB ich in Girgenti auf der Eiplanade ftand und vergebens 
nach Afrika hinüber zu lugen verfuchte, kamen mir zwei Sprüche nicht 
aus dem Sinn: „Hic Rhodus, hic salta“ (da3 letztere vor Freude) 
und „Die Stätte, die ein edler Menfch betrat, ift geweiht für alle 
Zeiten”. Das alte Akragas ift nämlich als Tochterftadt von Gela 
eine Enkelin von Rhodus, man ſteht alfo auf einent heiligen Boden, 
wo fich drei Weltteile in der Gefchichte die Hand reichen. Der edle 
Mann aber, der diefen betrat, war Empedokles, der Vorläufer 
von Darwin, der zuerſt Die Formel von dem „Übrigbleiben des Taug- 


158 Girgenti: Empedokles 


lichſten“ im Daſeinskampf fand. Er war der Begründer der atomilti- 
ſchen Lehre nicht nur, fondern aud) ein Demokrat im wahren Sinne 
des Wortes; denn er hätte Beherrfcher und Tyrannos feiner Vater⸗ 
jtadt werden können, aber er gab ihr eine vollstümliche Berfaffung. 
Er jtarb als Verbannter im Peloponnes. Welche Widerjprüche zeigt 
diefer Mann! Der Sizilianer Giorgio Arcoleo, Abgeordneter 
und Unterftaatzjelretär a. D. des Unterrichts, fieht in ihm alle 
charakteriftiichen Eigenjchaften des homo sicilianus vereinigt: „Er 
war der geborene Wahlredner, der im Helldunfel der Worte die 
Dunkelheit der Gedanken verbarg. Eine typiſche Perſon, ſchwankt 
er zwiſchen Gejchichte und Legende. Ein Genie als Gelehrter und 
Dichter, verſchmäht er nicht einige apofchphe Formen in Lehre und 
Kunft. Halb Augur, halb Prophet Ipricht er nicht, nein fentenzt, 
plaudert er nicht, ſondern fpricht Urteile, jpaziert er nicht, ſondern 
ftolziert im Purpurmantel, den Lorbeerkranz im Haar. Reich und 
Freund der Großen, jucht und liebt er das Volk. Er ift Arzt, Philo- 
foph, Muſiker, Aftrolog, Wundertäter. Au Griechenland nimmt er 
Symbole, Dogmen, Syfteme, aus Ägypten die Kunſt der Magie, die 
er auf Anziehung und Abftoßung, auf Liebe und Haß gegründet hat. 
So vibriert in ihm mächtig die hauptfächlichfte Note des vielförmigen 
fizilianifchen Charakters, die hohe Auffaffung von und die Freude 
an der eigenen Größe, ein maßloſes Sehnen nad) Superiorität, eine 
weiſe Kunft des Verſchweigens, wenn die Idee fehlt, eine Kunſt der 
Phraſe, wenn die Phantaſie durchgeht!“ Hatte nicht Criſpi ähn- 
liche Züge? Um das Bild des Empedokles vollſtändig zu machen, 
ſei noch hinzugefügt, daß ihn die Sage Tote erwecken und ihn ſelbſt 
gleich Elias in feurigem Wagen gen Himmel fahren ließ. Seine 
Feinde behaupten allerdings, er jei wieder Menſch geworden und zur 
Strafe in den Atna geftürzt, der entrüftet feine eifernen Sandalen 
ausgeſpien Habe. 

Me ih nach dem Beſuch der Tempel wieder auf der Eiplanade 
ſtand, beftaunte ich das unvergleichliche Bild dieſer goldiggleißenden 


Girgenti: Gelb in Gelb 159 





Auinenherrlichkeit inmitten der heroischen Landichaft. Nicht Kunfte 
finn allein rief diefe Bauten feiner Zeit hervor, ſondern die prafs 
tische Rüdficht, fie waren Mittel zum Zweck für Ehrgeizige, die zur 
Stadtherrfchaft gelangen wollten . « » 

Im Hotel fchimpft ein deutjches Driginal über die Touriften- 
faramane, die ihm den Genuß der Tempel verborben hätte. „Eigent- 
lich follte man fie nur. bei Mondichein in Separatvorftellungen ge- 
nießen !” meinte er, „und ein unfichtbarer Chor müßte „die Himmel 
rühmen”, oder „das Lied an die Freude dazu fingen!” 

Was die Neuftadt Girgenti anbetrifft, die auf der Stätte 
der alten Akropolis ragt, jo fieht man es ihr nicht an, daß hier der 
Schauplag großer Tatert war, daß hier Weft- und Oftgoten, Sara- 
zenen vermweilten, daß hier 1050 Ali Xbn Mama die Veranlafjung 
wurde, daß die Normannen nach Sizilien famen. Es ift eine ein- 
förmige Stadt, gebaut aus dem gelblichen Muſchelkalk, aus dem aud) 
die Tempel gebaut find. Nur hier und da find einige Faſſaden blau 
übertüncht, ein Palazzo ift fogar rot, das verlaſſene alte gotifche 
Rathaus. Sonſt alles gelb. Die Häuferlöcher der ärmeren Stadtteile 
laſſen ſich kaum vom Felfen unterjcheiden. Viele Priefter gibt's, 
— bei einem Begräbnis zählte ich vierundfechzig, — aber aud) viel 
Armut und fogar im Dom und in den anderen Kirchen, die in ihrer 
weißen Tünche, mit ihren künſtlichen Blumen auf den Altären, den 
fchauderhaften Bildern und Skulpturen unbefchreiblich elend aus⸗ 
fehen. Girgenti ift eben eine Stadt armer Bauern, unter denen die 
wenigen „cappeddi‘ (Hüte-Herren), Pächter und Beſitzer um jo 
progiger auffallen. Probig find auch die beiden Clubs“ der Signori 
zu ebener Erde an der Hauptftraße; zu ebener Erde natürlich! Denn 
das ift füditalienifcher Brauch nad) dem Motto: „Sehen und gejehen 
zu werden, ift da3 größte Glüd auf Erden.” Kann man fi) da 
wundern, wenn die „cappeddi“ nicht beliebt find, und die Männer, 
die ſchwarze Zipfelmügen, und die Frauen, die ſchwarze Umfjchlage- 
tücher tragen, gern Spottverfe fingen wie: „Di il-cappeddi pärrani 


160 Girgenti: Sprichwörter 





Beni, chi mali ’un ti ni veni.“ (Sprid) von den Herren gut, damit 
Dir Böſes nicht geichieht) oder „Di li scecchi menza canna, 
di li cavalli na canna, di li cavalieri tre canni“ (Bon den Ejeln 
halte Dich eine Halbe Rohreslänge fern, von den Pferden eine, von 
den Herren drei). Groß ift aud) die Erbitterung gegen die reich 
gewordenen Bauern: „Lu Vidannu fattu riccu, nan cunusci 
ne parenti, ne amicu.“ (Der reich gewordene Bauer (villano) 
fennt weder Verwandte noch Freunde.) Wenn id) noch ſage, daß 
die Waſſerkrüge in Girgenti die alte Amphoraform haben, daß die au 
Stein gejchnigten Balkone den fpanifchen gleichen, daß die Leutchen 
ſich auf offener Straße kämmen, daß man fich in den Höhlengäßchen 
vor unmwilllommenen Güſſen hüten muß, fo habe ic) von Girgenti 
genug gemeldet. 

Doch nod) eins: Ein berühmter italienifcher Phyfiologe jagte 
einft: „Ein trauriger Gedanke verfolgt mic) immer, wenn id) Bauern 
und Arbeiter jehe. Man arbeitet nämlich in der Neuzeit mehr ala im 
Altertum und verdient weniger. Troß der größeren Mühe wächſt 
da3 Elend.” Und Alt-Girgenti? Man fagte von feinen Bewohnern, 
daß fie jeden Tag in ſolcher Wonne lebten, als wenn fie den Tag 
darauf fterben jollten, daß jie aber Häufer bauten, al3 ob fie unfterblich 
wären. Als einft Ejemos von den olympilchen Spielen heimfehrte, 
gingen ihm feine Mitbürger in feſtlichem Zuge entgegen, in dem 
300 Paare Schimmel gingen. Der Reichtum kam vom Wein- und 
Ölerport nad) Afrika. Ein Gutsbeſitzer Gellia hatte in feinen Kellern 
300 000 Amphoren voll Wein und vor dem Tor feines Haufes richtete 
er Bantettiiche her, zu denen jeine Sklaven die Vorlbergehenden 
einluden. Heute dient fein Name noch als Titel eines Hotels. 


Saltanifetta, 11. Mat 1906. 
Bon Girgenti ind Innere, nah Caltaniſetta. Nach 
kurzer Fahrt beginnt die Region der Schwefelgruben. Ich 


Sizilien: Seumes Zom 161 


habe ſchon viele traurige Oden gejehen, doch der Anblick diefer braun- 
‚grau weißen Hügel, jeder Vegetation bar, fchnürt dem Betrachter 
das Herz zufammen. Die einzige, freilich triſte Abwechſlung bilden 
die gähnenden ſchwarzen Tore, durch die der kaum erwachſene Berg- 
arbeiter, der „caruso“ zum tiefen Schacht Hinabfteigt. Ab und zu 
fieht man auch die trapezoiden Ofen, in denen der gereinigte Schwefel 
bergeftellt wird. Kilometer über Kilometer zieht fich die Einöde, 
Die weit ringsum durch den Schwefeldunſt jede landwirtſchaftliche 
Arbeit jtört und die Felder unfruchtbar macht. In Comitini Zolfare 
‚it jogar für den Durchreifenden der Geſtank kaum erträglich. Und 
da foll man noch von Fortjchritt reden? Nach einem altgriechiichen 
‚ex voto, da3 fich im Berliner Mufeum befindet, zu fchließen, fcheint 
fi) die Ausbeutung der Gruben in Jahrtauſenden nicht geändert 
zu haben; auf ihm find zwei nadte „carusi‘“ abgebildet, die das 
Material tragen, das zwei ebenfall2 nadte Männer auögraben. Ent- 
Iprechend der Einöde liegt der Ort Canicatta in grauefter 
Trübfal an den Hängen des Berges. Solch ein düfteres Gerümpel 
von Gteinbuden wirkt faſt wie erftarrte Lava oder wie ein Haufen 
riejiger Scherben aus unglafiertem Steingut. Hinter dem Bahnhof 
erhebt fich auf ummauertem Hügel eine Nachbildung von Golgatha. 
Wie traurig ftimmen die drei leeren Rieſenkreuze! Wenn das zur 
Religion gehört, fo ijt diefe Art von Religion mindeftens recht nieder- 
prüdend. Wie gerne wäre ich weitergezogen, aber Sanicatta ift ein 
Knotenpunkt, und die fizilifchen Eifenbahnen find nur eingleilig. Wie 
entjeglich lang dauert’3, bis „freie Strede” gemeldet wird. 
Weiter! Man fieht an den Stationen Bauern, grau in Kleid, 
Barett und — Shawl, daneben die Angehörigen der beſſeren Stände, 
alle im ſchwarzen Sadettanzug, der für die „signori‘ dieſes Gebiets 
.de rigueur zu fein jcheint. Bald wird die Gegend wieder grüner, 
‚alpin, aber Zahl bleibt fie noch immer. Auch Seume entrüftet 
ſich in jenem „Spaziergang nad) Syrakus“ über die Armut, das 
Elend des Innern von Sizilien. Er ſpricht von Wüfte und fluchend 
Zacher: Im Lande des Erbbeben?. 11 


162 Segeſta: Malaria 


wünſcht er alle Barone und Abbaten Siziliens mit den Miniftern 
an der Spibe in einer Reihe vor ihm aufgeftellt, damit er fie nieder- 
kartätſchen könne. Was würde Seume erjt über die Entdedung der 
neueren italienischen Soziologen jagen, daß in ganz Sühitalien ſich 
die Bauern noch beſſer jtellen aß in Norditalien? Wehmütig 
gedenkt man der früheren Sruchtbarfeit der Inſel, die im Altertum 
jo gefeiert wurde, daß der Kultus der Ceres in Sizilien entſtand! 
Wie eine Ironie berührt ung der Ausdrud „Kornkammer Roms”, 
unglaublich Horazens Vers: „te greges centum Siculaeque 
circummugiunt vaccae“; denn wo find heute die Beſitzer von 
Hundert Herden? Freilich welcher Art find auch die heutigen Land⸗ 
arbeiter! Nach den Revolten der fascı blühten allenthalben Land⸗ 
arbeiterliguen auf, die aber jede für fich beitehen und auch Teinen 
Anschluß an die fozioliftifche Partei Haben wollten. Dafür ſetzen fie 
als Statutöparagraphen feit: Unterdrüdung der Gemeindeichulen — 
Teilnahme an Kirchenfeften und Prozefjionen. Zu all diefen mehr 
oder weniger angenehmen Dingen gejellt fich nod) die Malaria, 
der Reiſende merkt ihre Eriftenz an den Gitterkäften vor Türen und 
Fenſtern der Wärterhäuschen. Ganze Streden Giziliens find Der 
Malaria wegen unbewohnbar, am jchlimmiten ift in der Neuzeit 
die Gegend von Segefta und Selinumt daran. Al 1822 
die beiden engliichen Architekten Angell und Harris die Ruinen von 
Gelinunt durchſuchten, jtarb der legtere binnen weniger Tage an 
emem heftigen Malariaanfall. Empedokles befämpfte einjt die 
Malaria, indem er zwei Gießbäche in den Selinusfluß führte und 
durch die Flußkorrektion das Waſſer und damit auch die allgemeine 
Gejundheit beſſerte. Das möchten ihm die heutigen Machthaber 
nachmachen, aber die Berge find kahl. Und da foll man ſich vor- 
ftellen, daß die alten Dichter den Waldreichtum Siziliens bejangen, 
und daß e3 feine Wälder waren, die die Maften lieferten, und daß 
die vielen, zum Teil ſchiffbaren Wafferläufe die erften griechiichen 
Koloniften anlodten, die ihrer felligen Heimat fatt waren. „Warımm 





Sizilien: Waldvermüftung 163 


foritet Die Regierung denn nicht wieder auf, warum errichtet fie Teine 
Taliperre, wie fie doch das antike Sizilien hatte?” Dieſe Frage 
höre ich oft von Durchreifenden. Wir Anfäfligen haben aber längjt 
verlernt, im fchönen Stalien nad) dem Warum zu fragen. Unter 
den heutigen Beitläuften iſt an eine Au fforftung gar nicht zu denken; 
es ſei denn, daß die Negierung ſich dazu entichlöjfe, das neu zu 
ichaffende Waldgebiet ein Menjchenalter hindurch militärisch bejeben 
zu laffen. Dafür ein Beifpiel: MS ſich em Principe Borgheje im 
Hernikerlande anjchidte, einen Wald zu gründen, begann er 
damit, das Gebiet mit einem Zaun zu jihern. Als die erſten Schöß- 
linge kamen, riſſen die Bauern den Zaun nieder und trieben ihre 
Biegen hinein. Und dabei fanden fich noch Sozialiſten, die gegen 
die graufamen Ariftofraten donnerten, welche den armen Biegen 
das Futter vorenthalten wollten. In Sizilien Tiegen die Dinge 
aber noch jchlimmer. Während auf dem Kontinent fich doch menig- 
ftend die Individuen zur Kollektivarbeit zufammenjchließen, fennt 
man auf der dreiedigen Inſel bis heute noch feine Konſum⸗ oder 
Produktionsgenoſſenſchaft. Bei Leuten, die jo wenig Gemeinfinn 
haben, ijt an da3 fulturelle Werk der Aufforftung nicht zu denken. 

Auf der Weiterfahrt, kurz vor Caltanijetta, kommt eine Dafe, 
die mit ihrem Reichtum von Olbäumen und CHpreffen an Tivoli 
erinnert. Aber die Freude dauert nicht lange. Landſchaftlich beſſer 
nimmt ih Caltaniſetta felbit aus. Beſonders abends, wenn 
man vor der Stadt in die Bergichluchten Hineinfpaziert, wirkt fein 
gebirgiges Panorama mie eine Bartie im Harz. Die Stadt ift modern, 
da3 heißt in ihren neuen Häufern und den Brunfbauten; denn 
ohne dieje kommt feine fizilianische Stadt aus, die etwas auf ſich 
hält. Am Norden nennt man jo etwa „Megalomanie”, vielleicht 
nicht mit Unrecht, wenn man hört, daß Caltanifetta mit feinen 30 bis 
40 000 Einwohnern, eben um feine Prunfbauten, vor allem das 
Thenter, bezahlen zu können, eine Anleihe von 7 Millionen auf- 
nahm. Freilich ging Licata an der Südküſte, das nur 9000 Ein- 

11* 


164 Sizilien: Zu viel Advokaten 


wohner zählt, noch weiter; Denn e3 leiftete jich eine Anleihe von 
9 Millionen. Um diefe Züge von „Größenbemwußtfein” zu vervoll- 
jtändigen, erinnere ic nur an eine fizilianische „Volls!“⸗Bank, die 
jtatutenmäßig für die Erhaltung der Stadtmufif auflommen mußte. 

Saltanifetta, obgleich Hauptzenttum der GSchmwefel- 
induftrie und Provinzhauptftadt, ift im Grunde nur eine Stätte 
für Bauern. Sie weiſt nicht3 Bejonderes auf, höchſtens daß in den 
Hauptitraßen jedes dritte Haus einen „salone‘“ (Frifeurladen) hat. 
Sieht man die ärmere Bevölkerung in den Straßen und Pläßen, 
jo fällt eg einem ſeltſam auf, daß das Volk fo farbenernit ift. Ver⸗ 
gleicht man damit das Volk in den Sabinerbergen, da3 in bunter 
Farbenpracht fchmwelgt, jo fteht man vor einem Rätſel, das viel- 
leicht nur die Rafjenforichung löft. Wa3 die „signori“ anbetrifft, jo 
faulenzen diefe natürlich im Klub herum, der ebenjo natürlich an 
der Piazza Tiegt. Im Hotelreitaurant trifft man ebenfo natürlich 
die Beamten, die dort „Penfion” ejjen. Arme Leute. Sie be- 
deuten als Puffer zwiſchen „signori“ und Bauern nicht viel, außer 
wenn fie juriftiich gebildet find, denn in Sizilien gilt der Herr 
„avvocato“ noch mehr al3 in dem feftländifchen Stalien, weil die 
Siziliner neben den Süditalienern die größten Prozeßhansl 
der Welt find. Man erjchridt förmlich, wenn man die fizilifchen 
Gerichtsſtatiſtiken lieſt. Dementfprechend ift auch die Zahl der 
Advokaten unverhältnismäßig hoch. Kein Wunder, daß dieje Prozep- 
jucht dem Handel ſchwere Wunden ſchlägt. Das Vertrauen in den 
Nebenmenſchen ſchwindet, und jo treten oft Stodungen im Klein⸗ 
handel ein. Gerne hätte ich von Caltanijetta aus einen Abjtecher 
nach) dem nahen „Nabel Siziliend”, wie Strabo jagt, nad) Ka ftr o- 
giovanni, dem aus den Sklavenkriegen befannten alten Henna, 
gemacht; denn es liegt faft 1000 Meter hoch und gewährt einen Über- 
blid über die ganze Sinjel. Um fo lieber hätte ich diefen Blid aus der 
Bogelihau getan, weil ich mit der lebten Reife meine Kenntnis 
von Gizilien derart erweiterte, daß mir nur noch die Weſtküſte zu 


Sizilien: Das Rätſel des Volkes 165 


bereifen übrig bleibt. Vielleicht, jo dachte ich mir, gewährt dir dieſe 
Gefamtichau neue Einblide, vielleicht einen Anhalt, um die Wider- 
fprüche im Leben und Charakter der Bermohner zu erflären. Zum 
Glück hütete ich mich, diefes naive Gelüfte einem Eingeborenen zu 
verraten; denn ich erinnerte mich noch rechtzeitig, Daß alle diejenigen 
bedeutenden Staliener, die über ‚Trinacria“ jchrieben, verzweifelt 
zugeftehen mußten, daß fie fich feinen Vers darauf machen könnten, 
mochten fie nun Sonnino, Franchetti oder P. Villari heißen. 
Letzterer jchrieb jogar vor zehn fahren: „Die Sizilianer jagen und 
vielleicht nicht ohne Grund: Es ift unnütz, fich anzuftrengen. Um 
©izilien verftehen zu fünnen, muß man dort lange gewohnt haben, 
oder vielmehr dort geboren jein. Unjere Zuftände find ganz eigen- 
artig. Sie wechjeln von Ort zu Ort, von Schritt zu Schritt. Die 
Leute vom Feſtlande werden e3 nie dahin bringen, eine richtige 
Borftellung davon zu befommen.” „Auch gut!” bemerkt Der große 
Hiltorifer dazu, „aber mir jcheint, daß auch die Sizilianer ſelbſt jich 
noch nicht darüber einig find, wie fie jich beurteilen follen.“ 


— 


Saltanijetta, 12. Mai 1906. 

Geftern ſprach ich von dem traurigen Eindrud, den der Reijende 
in der Provinz Caltanijetta erhält, der Region der Schwefel- 
gruben, dem Sit des Elends der minderjährigen Bergarbeiter 
(carusi). Syn jeinem Buch „La Sicilia e il Socialismo“ jchreibt 
der Hiftorifer P. Villari: 

Eines Tages bat ich in Caltanijetta einen Freund, mid) eine 
der tiefften Gruben jehen zu laffen, in denen die carusi arbeiteten. 
Und als ic) zur Stadt zurüdfehrte und ganz außer mir war ob des 
herazerreißenden Elends, das ich geſchaut hatte, traf ich einen ober- 
italienifchen Schüler von mir, Profeffor am dortigen Gymnafium, 
und erfuhr von ihm, daß er durch Heirat Bejiter gerade jenes Berg- 
werks gervorden war, das ich bejucht hatte. „Wie?“ rief ich ent- 


166 Sizilien: Das Elend der Schmwefelgruben 


rüftet, „Sie ein Herr von „carusi“? Und jo, bemährt fich bei 
Ihnen meine Lehre?" — „Ah, Profeffor, wenn da3 Bergwerk 
Ihnen gehörte, müßten Sie ebenfo handeln wie ich tue, oder es 
einem andern verlaufen, der die Zuftände verfchlimmern würde!" 

Wie diefe Zujtände aber beichaffen find, erfahren wir vom 
Abg. Colajanni. Der eigentliche Bergarbeiter, der „Hauer“, 
ftellt fich verhältnismäßig noch gut. Er wird pro Produftionsmenge 
bezahlt, arbeitet acht Stunden täglich und Samstags und Montags, 
um den Sonntag zu Haufe zubringen zu lönnen, nur einen halben 
Tag. Er verdiente vor der Schwefelkriſis ſechs Lire, jet die Hälfte 
täglid. Aber zum Unglüd wird nicht wöchentlich, fondern nur 
monatlich abgerechnet. Er muß aljo Vorſchuß bei dem Eigentümer 
oder Aufjeher (gabellotto) machen, was dem Wucher Tür und Tor 
öffnet, und er muß die Lebensmittel in der „bottega“ der Grube 
eintaufen. Dazu ſoll es fogar vorkommen, daß fich Eigentümer oder 
gabellotti auch die Beiträge für die Unfallsverficherung zahlen 
lafjen, ohne fie jemals zur Verſicherungskaſſe abzuführen. Die 
carusi haben e3 noch fchlimmer; oft find fie Taum zehn Jahre alt, nadt 
jteigen fie in den tiefen Schacht hinein und tragen aus ihm Gtein- 
laften herauf, die oft ſchwerer find ala fie ſelbſt. Dabei find die 
Gänge der Gruben eng, niedrig, haben Treppen mit Stufen von 
15 bis 90 cm Höhe, find heiß und mit Schmwefeldämpfen gefüllt. 
Haben fie jo den Ausgang des Schacht3 erreicht, nadt, ſchwitzend, 
feuchend, halb erjtidt, fo müffen fie noch im Freien, wo im Winter 
oft die Temperatur auf Null Grad finkt, eine große Strede mit ihrer 
Rajt zurüdlegen. Zehn Stunden dauert die tägliche Marterarbeit, 
und der Lohn ſchwankt zwilchen 40 Centeſimi und einer Lira. Doc 
hören wir weiter. Der „caruso“, der im Durchſchnitt Laften von 
3 Kilogramm tragen muß, wird vom Hauer (picconiere) at- 
geworben, der feiner Familie einen „Vorſchuß“ gibt, der von 50 bis 
zu 150, ja 300 Lire reicht. Aljo der reine Sklavenkauf. Oft entzieht 
jich ein caruso feiner Marter durch die Flucht, und dadurch entjtehen 


Sizilien: Kinderausbeutung 167 


dann blutige Streitigkeiten, zumal wenn der Flüchtling, der den 
„Vorſchuß“ noch nicht abverdient hat, bei einem andern Hauer 
angelommen ift. Auf die Frage, ob man dem Übel nicht fteuern 
fönnte, erhält man an Ort und Stelle die Antwort, daß man erfteng 
ohme carusı nicht auskommen könne, und daß, wenn man fie ab- 
ihaffen wollte, viele Familien dem Hunger überliefert würden; 
belief fich doch die Zahl der carusi unter dreizehn Jahren im Jahre 
1892 auf 7613! 

Die Klaſſe der carusi ift eigentlich durch Atavismus entjtanden. 
Früher lag der Schwefel an der Oberfläche, der Schultertransport 
war daher die natürlichjte Sache der Welt. Faſt ohne e3 zu merken, 
ging man tiefer und tiefer und zivar ohne Methode, ſodaß die Gänge 
jo kreuz und quer angelegt wurden, oft bis zu 150 m Tiefe, daß in 
die meiften Gruben feine Maſchine emöringen fonnte. Die einzelnen 
Gruben gehören aber meift einem Eigentümer, der jelbft fein Kapital 
bat, fondern auf die in der RegelinMejfina mohnenden Bankiers 
angewieſen ift; wie jollte er daher an modernen Mafchinenbetrieb 
denken fünnen? Im ganzen hat Sizilien nur 25 große Gruben; 
500 jind Hein umd ihre Beliger leben von der Hand in den Mund, 
jo daß fie zum jofortigen Verlauf der Produktion gezwungen find, 
wodurch fie das Sinken der Preije befördern, aljo ihren eigenen 
Gewinn ſchmälern. Im Jahre 1892 betrug die mechanijche Schwefel⸗ 
ertraftion 73 000 t, die durch die carusi vermittelte 301 354 t. Man 
jieht, da3 Problem kommt einem circulus vitiosus fehr nahe. Daß 
bei einem fo alteingewurzelten Syſtem natürlic) auch die Volks— 
gejundheit leidet, geht daraus hervor, daß die Dienftuntauglichkeit 
bei ven Militärpflichtigen im Schwefelgebiet 40 bis 44 %, erreicht. 
Die Übelftände werden noch dadurch vermehrt, daß die fizilifche 
Schwefelinduftrie, von der etma 200 000 Perſonen leben, von vielen 
Krifen geplagt ift. 

Wie die Dinge heute liegen, erfuhr ich vom Direktor der Filiale 
der Banca di Sicilia in Girgenti, der mir bereitwilligft die neueften 


168 Sizilien: Schmefelproduftion 


Publikationen, vor allem die legten Nummern der „Rassegna dell’ 
Industria Zolfifera“ und die jüngften Denfichriften der Produ- 
zenten überließ. Aus diefen Berichten ergibt fi), daß 1903 die 
gejanıte Schwefelproduftion Sizilien 522 274 t betrug, und die 
Zahl der Arbeiter 37 000. Im Bezirk Caltanijetta waren davon 
19 337 bejchäftigt und zwar 8005 in den Gruben, mo feine mecha- 
nische Kraft half, 11 332 Mann in den Öfen mit 349 Pferdekräften 
mechaniſcher Hilfe. Die Produktion der Konkurrenz betrug im jelben 
Jahre im italienischen Feftlande 33360 t, in Vfterreich 4475 t, 
Frankreich 8021 t, Deutichland 1588 t, Japan 29800 t, Spanien 
39573 t, Nordamerika 34 943 t. (Die lettere foll aber ganz bedeu- 
tend zugenommen haben.) Sn den legten Jahren hatte die Schwefel- 
mduftrie Siziliens verhältnismäßig ruhige Zeiten dank der „Anglo 
Sicilian Sulphur Cy. Ltd.“ Aber deren Kontralt läuft in diefem 
Jahre ab. Sie hätte jegensteicher wirken können, wenn fid) ihr alle 
Grubenbeſitzer angejchlojfen und wenn fie es verftanden hätte, Die 
Produktion zu regeln, was aber nicht gefchah, jo daß augenblicklich 
4200 000 quintali überproduziert und unverlauft find. Heute 
iſt natürlich der ganze Intereſſenkreis im Zuſtand der höchſten Auf- 
regung, da man an die Stelle der Sulphur Company ein ſizilianiſches 
Konjortium fegen und die Sulphur Cy. veranlaffen will, in diejes 
einzutreten. 

63 reizte mich, nah Trapani zu gehen, um dort in jeiner 
Hochburg den Fall Naſi, der Anfang Juni vor den römischen 
Kafjationshof kommt, an Ort und Stelle zu fiudieren. Leider mußte 
ih von meimem Vorhaben abftehen. Nichtödeftomeniger einige 
Worte über Nunzio Nafi, den feine Vaterſtadt troß feiner Ber- 
urteilung immer und immer wieder zum Abgeordneten wählt, für 
den ſogar die Kirche betet und Prozefjionen veranftaltet. Nafi iſt 
einer der eriten „signori“ von Trapani, und den Gizilianern liegt, 
wie gejagt, der Feudalismus im Blut. Naſi war Abgeordneter und 
Minifter und galt al3 Anwärter auf die Premierfchaft, und wie wir 


Sizilien: Heroenverehrung 169 





oben fahen, beten die G©izilianer die Macht an. Nun wird Nafi 
von der Regierung verfolgt: Grund genug, um durd) feine Unter- 
ſtützung der Regierung Oppofition zu madjen. Für ein oberfläch- 
liches Urteil mögen diefe Gründe genügen, aber um dag Phänomen 
zu erklären, daß eine Stadt von 50 000 Einwohnern wie ein Mann 
fi) gegen Geje und Recht erhebt, find jie eigentlich doch nicht 
triftig genug. Vielleicht weiß Arcoleo Rat? An einer Stelle ſpricht 
er bon der „omertä,derBegleiterfheinung der 
„Mafia“: Sin einem Duell A la cavalleria rusticana wird einer 
verwundet... Ein Gendarm kommt. Bei deſſen Anblid knöpft er 
feinen Rod zu, umarmt den Feind, um ihn vor der Verhaftung zu 
Ichügen, und fällt tot nieder. An einer anderen Gtelle fchreibt er: 
„Der. Feudalismus ftedt im ganzen intellektuellen Sein. An der 
Spite aller Handlungen Steht immer ein großes Etwas, ein Numen 
oder ein Heros, der notwendige Mann, der alles beherricht, das 
Geſetz Ichafft, den Elementen troßt und den Stürmen de3 Lebens. 
Es iſt vom Schickſal bejtimmt, daß er fiegen muß, mag nun der 
Sieg Schuld oder Tugend fein. Und fällt er als Held, um fo größer 
fteht er als Märtyrer da. In der kranfhaften Entwidlung dieſes 
Gefühl bewundert man auch den Banditen, den Profkribierten. 
So erklärt e3 fich, Daß jederzeit die Verbannten ihren Einfluß jtärkten. 
Der Märtyrer gilt eben mehr, als der Triumphator.” Wohlgemerft! 
Diefe Zeilen wurden von Arcoleo im Jahre 1897 gejchrieben. 


Nachtrag. 


Der Prozeß Naſi. 


Rom, 11. November 197. 
In einem großen Teile Deutjchlands hat man einen durchaus 
falſchen Begriff vom Falle Naji, dort glaubt man, daß der Senat 


170 Sizilien: Prozeß Nafi 


als höchſter Gericht3hof eigentlich degradiert fei, weil er fich, wie ein 
gewöhnliche Gericht, mit den faits et gestes eines gewöhnlichen 
Diebe befaffen muß. Diefe Meinung wird hier, mas die Degradier- 
ung betrifft, völlig geteilt, nicht aber in bezug auf den Died. Man 
ift empört, daß vor dem ganzen Auslande Stalien durch einen 
Monſtreprozeß blamiert wird, deſſen feierlichder Apparat in feinem 
Berhältnis fteht zu den corpora delicti. Die Vorgeſchichte des 
Prozeſſes ift befannt. Nachdem Naſi 1903 im Spätherbit das 
Unterrichtsminiſterium verlaffen hatte, tauchten plößlic” Gerüchte 
auf, daß in feiner Amtszeit Staatögelder in der haarjträubendften 
Weiſe veruntreut morden jeien. Die Wiffenden fagten mit bedeut- 
famem Augurenläcdeln: „Tant de bruit pour une omelette! Hat 
Naſi denn mehr getan al feine Vorgänger?" Die Politiker aber, 
welche in Staatsintriguen bewandert find, tujchelten laut genug, 
Naſi jei nur das Opfer des politiichen Konkurrenzneides. 

Freilich Hatte Naſi den in allen Ländern unverzeihlichen Fehler 
begangen, zu jchnell groß zu werden. Als ganz junger Abgeordneter 
fiel er ſchon auf durd) feine an Criſpi, jeinen Heimatsgenoſſen, 
erinnernden Attitüden, er ſprach intelligent, warm, feſſelnd und 
hielt fogar, was die meiften Abgeordneten hier für das Höchite 
halten, Reden Über auswärtige Politik, die zudem noch Hand und 
Fuß hatten. Dann zeichnete er ſich durd) feine Geichäftsgervandtheit 
in den Kommiljionen aus. Früh wurde er Poſtminiſter und ver- 
hältnismäßig jung — ein angehender Fünfziger — Unterrichtö- 
minifter. War da der Sprung zum Premierminifter noch weit, 
zumal Naſi einen hohen Grad in der Freimaurerei befleidete? Wen 
verwundert’3 da, wenn beſonders in Naſis Baterjtadt Trapani und 
in ganz Sizilien und Süditalien die Meinung unausrottbar wurzelt, 
Naſi jei ein Märtyrer. Die Anklagen gegen ihn werden formuliert, 
die Kammer überweiſt Nafi an die gewöhnlichen Gerichte. Naji 
flieht aber ins Ausland. Als Sizilianer ift er zu ftolz, um ins Unter- 
juchungsgefängnis zu wandern, als Mann der „Macht” zu vorlichtig, 


Sizilien: Nafi und das politifche Syſtem 171 


jeine Zukunft für immer durd) die Berührung mit der Anflagebant 
zu ruinieren. Cr verlangt, daß er nach dem Geſetz in feiner Eigen- 
haft als Minifter vom Senat verurteilt werde. Das Reichägericht 
gibt ihm im Sommer 1907 — alfo nad) vier Jahren — recht, indem. 
e3 den in contumaciam gegen ihn eingeleiteten Gejchworenen- 
prozeß als ungejeßlich bezeichnet und erklärt, er fönne nur vom Senat 
al3 dem politischen Gerichtähofe abgeurteilt werden. Damit fam 
die leidige Angelegenheit nicht nur vorerſt wieder an die Kammer, 
jondern Nafi erhielt auch die Freiheit wieder und das Necht, ſelbſt 
in der Kammer zu ericheinen; denn feine Vaterftadt hatte ihn iminer 
wieder zum Abgeoröneten gewählt, jo oft auch die Kammer ihn feines 
Mandats für verluftig erklärte. Am 27. Juni 1904 erſchien Naft 
vor feinen Kollegen und hielt eine umſomehr Eindrud machende 
Rede, als er nicht nur feine Unschuld beteuerte, fondern auch verhüllt 
mit Skandalen drohte. Die Kammer entichied auf feine Verweiſung 
zum Senat. Deſſen Präfident ordnete zu aller Überrafchung Nafis 
Berhaftung an, objichon fein Fluchtverdacht beftand, und trieb die 
Rigorofität jo weit, daß er ihn fogar, anftatt ihn im Senatspalaft 
zu inhaftieren, ins gewöhnliche Gefängnis transportieren ließ, wohin 
auch fein mitangellagter ehemaliger Privatſekretär Lombardo 
wanderte. Nach einigen Tagen machte ver Präfident des Senats 
jeine Strenge dadurch wieder gut, daß er von den eigens zufammen- 
berufenen Senatoren die Gefängnishaft in Hausarreit umwandeln 
ließ. In Trapani brach die Unzufriedenheit des Volkes in Lärm- 
ſzenen aus, die fich über ganz Sizilien augbreiteten und inBalermo 
zu Blutvergießgen führten. Der Hausarreft Najis 
dämpfte die Proteftberwegung Siziliens, da3 dann ruhig auf den 
jegigen Prozeß wartete. 

Der Grund, weshalb Naſi jest angeklagt ift, ift ein 
Tehler des politifhen Syſtems. Stalien gibt feinen 
Miniftern feine Amtswohnung, feine Repräjentationögelder und auch 
feine Normen für Reifeentichädigungen, ſowie feine Kilometergelder. 


172 Sizilien: Naſi und BZanardelli 

Dabei ijt das Miniftergehalt Hein. In der Theorie nimmt es fich 
fehr ſchön aus, daß Minifter in einem demokratiſchen Lande mit 
Staatögeldern rigoro3 umgehen follen, aber leider ift in Italien 
auch die Demokratie nur eine Theorie. Die Minifter werden nicht 
vom Könige ernannt, das Volk betrachtet fie aber al3 Kleine Könige, 
und bon Königen erwartet das italienische Volk — die Gefchichte 
Roms beweiſt es — panem et circenses. Ein Franzofe nannte 
e3 deshalb auch die Trinkgeldernation. Ein Minifter muß dazu immer 
bereit fein, daS Anſehen feines Amtes und das de3 ganzen Kabinetts 
vor den Wählern, die feine trogig fordernden Herren und Gläubiger 
jind, durch äußeren Glanz, Gaben, Begünftigungen uſw. aufrecht- 
zuerhalten, will er nicht riskieren, geftürzt zu werden. Dann darf 
man auch nicht vergefien, daß Nafi zulegt Minifter unter Zanar- 
delli war, dem Prototyp des theoretiich und chemilch reinften 
Demokraten, der aber in feiner fenilen Periode Anmwandlungen von 
Cäſarenwahnſinn hatte. Vergeſſen darf man aud) nicht, daß bei 
der Mehrheit de3 italienischen Volles Staatögelder — brauche ich 
an Kalabrien zu erinnern? — Freigut find, und daß im intelligenten 
Stalien, mo Schlauheit mehr geachtet wird als Tugend, jeder, der 
den Staat betrügt, al3 Held gefeiert wird, falls er nicht ertappt wird. 
Der Erfolg ift auch hier entſcheidend. Was immer auch Naſi begangen 
haben mag, er hatte eben feinen Erfolg, weil er früher zu viel Er- 
folge gehabt hatte. Es ift ein öffentliches Geheimnis, daß andre 
Unterrihtsminifter viel fchlimmere Sachen ſich zu Schulden fommen 
ließen, aber fie fchienen denen, die die Macht als ihr Monopol be- 
trachten, nicht gefährlich, während ver intelligente, durch feine Bered- 
famfeit faszinierende, ſtaatsmänniſch veranlagte Nafi ſich zu früh 
als gefährlihden Mitbewerber um die Premierfchaft entpuppt 
hatte. Auch dieſes hinc illae lacrymae muß in Rechnung gejtellt 
werden; denn politiiche Feindichaft [pielt im Prozeß Nafi eine große 
Rolle, ebenjo wie der Partikularismus. Naſi ift Sizilianer. 
Man kann über den modernen und politiich gejchulten Norden 


Sizilien: Der zweite Criſpi 173 





Sttaliens denken, wie man will, aber Tatjache ijt’3, daß er Jahrzehnte 
lang den Süden veradhtet und mißhandelt hat, indem er ihn als 
minderwertig betrachtete. Viele einflußreihe Dradtzieher des 
Nordens fürchteten daher, Nafi, der Huge, energifche Sizilianer, 
möchte ein zweiter Criſpi werden und als Premier imperia- 
liſtiſche Politik treiben. 

Nach diefen allgemeinen Vorbemerkungen zur Sache ſelbſt. 
Naſi enthüllte fofort am erſten Tage feine Gejchidlichkeit. Er gab 
einfach zu, daß er Unregelmäßigfeiten begangen habe, fügte aber 
jiegesgewiß Hinzu, er habe e3 getan zum Teil auf Wunjch des 
Premierminijterd® Zanardelli und ftet3 nur für politifche, nicht für 
Privatzwede. Die Eingemeihten atmen auf, weil er nicht deutlicher 
‘wird. Dan darf aber nicht vergeffen, daß Zanardelli in feiner jenilen 
Periode ftark in Irredentismus machte und daß unter feiner Regie 
der antiöfterreihiiche Rummel von Udine injzeniert wurde, der 
beinahe zum Bruch mit Wien, ja beinahe zum Kriege führte. Wieder 
halten die Eingeweihten den Atem an, als Nafi mit kaum verhaltener 
Ironie jagt: „sch tat nur, was meine Vorgänger taten.” Und 
wirklich, die Spaben pfeifen e3 ſeit Jahrzehnten von den Dächern, 
daß das Unterrihtsminifterium den Gipfel der Mißwirtſchaft und 
Korruption darftellt. Und kann e8 anders fein bei der Berficherung 
auf Gegenfeitigfeit, die ver Parlamentarismus in Stalien darftellt? 
Das Unterrichtsminiſterium hat viele Dispofitionsfonds für Kunft, 
Wiſſenſchaft, Unterftügung von Lehrern, Lehrerwitwen, Lehrer- 
waiſen, hat Univerfitäten, Mufeen, Monumente, Gymnajien, 
Elementarſchulen, Kunftalademien und eine Menge anderer Inſtitute 
unter jih. Der Andrang der Klienten, der Wähler-Gläubiger, der 
„Patrioten” uſw. ift aljo noch größer, al3 beim Minijterium der 
öffentlichen Arbeiten. Und da follte ein Minifter, dem bei der 
Art der Minifterernennung hier zu Lande alle technijche Vorbereitung 
fehlt, nicht den Kopf verlieren, zumal die beften Tages» und Nacht- 
ſtunden ihm durch die politifche Wühlarbeit entzogen werden; denn 


174 Capri: Die Affäre Krupp 


er muß jeden Abgeordneten und Senator, etwa taufend Mann, und 
alle die von ihnen Empfohlenen liebenswürdig anhören, um jid) 
nicht nur felbjt, jondern auch jenem vorgelegten Premierminifter 
feine Feinde zu machen, falls ihm feine ſpätere Karriere lieb ift. 
Aber Nafi fennt fich und die Seinen. In bezug auf feine Betätigung 
auf dem Gebiete der auswärtigen Politik jagt er mit fühlem Tone: 
„Nun ja, was kann ich dafür, daß ich fo ein Ausnahmemenjch bin 
und mehr tat, al3 mir zukam?“ Kurz und qui! Mit dem erften 
Tage hatte er brillant abgejchnitten. 

Zum Schluß nod) eine Bemerkung. Wer Stalien Tennt und 
zum Beilpiel weiß, daßdie Affäre Krupp auf Capri nur 
durch eine Parodie der ſich ftet3 in Stalien erneuenden Kämpfe der 
Montecchi und Capuletti entjtand, muß noch ein anderes Naſi ent- 
laftendes Moment erwägen. Der Hauptankläger Nafis, der Mann, 
der Die Enquete gegen ihn bearbeitete, Abgeordneter Saporito, 
it Provinzgenoſſe von Naſi. Er ift aus Kirchturmspolitik feit Jahren 
der erbittertjte Feind des jetzt Angeflagten, dem er nicht verzeibt, 
daß er der erſte Mann in der Provinz Trapani ift. Seit Jahren 
tobt die Fehde zwiſchen Saporito und Nafi, wie in Capri die Fehde 
des Bürgermeilterd Serena, des Freundes von Krupp, gegen 
den Rivalen und Möchtegernbürgermeifter Morgano. Auch 
das muß gebucht werden. Noch immer gilt in Italien Julius Cäſars 
Wort: „Sch will lieber der erfte Mann in einem Dorfe, als der zweite 
in Rom fein.” Die Wurzeln der jetzigen Berfolgung Nafis Tiegen 
eben im — Dorfe. | 

Und woher kommt Saporitos Haß? Er, der ganz in feinen 
ſizilianiſchen Anschauungen jtedt und deshalb noch auf Blutrache 
und Vendetta ſchwört, Hatte, als jein Bruder ermordet morden, 
vom Unterrichtöminifter Nafi verlangt, daß er von feinem Kollegen, 
dem SJuftizminifter, die unbedingte Verurteilung der des Mordes 
Angeklagten, die jeine politischen Gegner waren, fordere, Nafi Hatte 
ihm aber diejen zweifelhaften Freundfchaftsdienft nicht getan. Daher 


Trapani 175 


betrachtete Saporito Nafi als Verräter und bezeichnete ihn in jeinem 
Haffe jogar als heimlichen Anhänger der mutmaßlichen Mörder. 
Naſis Teitnagelung diefer Deſſous in den moraliihen Motiven 
Saporito blieb nicht ohne Eindrud. Als begofjener Pudel zog 
Saporito ab. 

(Nachtrag. Nafi wurde am 24. Februar 1908 wegen Unter- 
Ichlagungen zu elf Monaten zwanzig Tagen Gefängnis verurteilt, 
jomwie zu vier Jahren bürgerlichen Chrverlufte. Da ihm die Unter- 
ſuchungshaft (Hausarreft) angerechnet wurde, ging feine Gefangen- 
ſchaft am 28. Juni 1908 zu Ende. Seine Baterjtadt Trapani feierte 
da3 Datum der Befreiung durch einen Feitzug und Illumination 
der Häufer.) 


Trapani, die Vaterftadt Nafis. 


Rom, 18. Juli 1908. 

„Die Aufmerkſamkeit Italiens ift in diefem Augenblide auf 
Trapani gerichtet, das mit jener Solidarität für Naſi uns 
ein der Phänomene der Kollektivpigchologie gibt, deren äußere 
Manifejtationen man nicht billigen kann, obfchon fie ein mit Be- 
wunderung gemilchtes Staunen erregen.” So beginnt Luigi 
Fabbri im „Meflaggero” einen intereffanten Artifel über die 
Stadt, die fünfmal hintereinander einen von der Yuftiz geächteten 
Mann zum Deputierten wählte. Nicht erklärlich, fährt er fort, werde 
Trapanis fonjequente Haltung durch die Gunftbemeife, die Nafı ihm 
als Abgeoröneter und Minifter gab. Mit bloßen Wohltaten Taufe 
man nicht fünfzigtaufend Gewiſſen. Und dann werden gemäß der 
menjchlichen Natur diejenigen, die Nafi am meiften verdanfen, jebt 
nicht unter feinen begeiftertften und treueften Freunden zu ſuchen fein. 
Auch durch die Kirchturmzpolitit des Lofalpatriotismus könne das 
Bhänomen nicht erklärt werden; denn wenn der Fall Nafi eine italie- 


176 Trapani: Berbrecherftolz 


niſche Stadt außerhalb Siziliens, oder jelbft manche andere Sizilianifche 
Stadt betroffen Hätte, jo würden wohl Freunde und Verwandte 
lich aufgeregt haben, doch alle übrigen gleichgültig geblieben fein. 
Bielleicht hätte fich in einer Stadt der Provence ein ähnliches Phäno- 
men zeigen können; vielleicht jogar lärmvoller und leidenjchaftlicher. 
ber den Enthufiasinus der franzöfifchen Weinbauern könne man 
lähen, der tragiihde Schmerz der fünfzig- 
taujfend Trapanefen made uns ftumm Dam 
ſchreibt Fabbri weiter: 

Italien iſt jenen Göttinnen der Mythologie vergleichbar, die 
Kinder von den verſchiedenſten Vätern hatten. Seit den vorgeſchicht⸗ 
lichen Zeiten hat es im Laufe der Jahrhunderte die verjchiedenften 
Völker durch feine Schönheit und Fruchtbarkeit angezogen. So 
finden wir in jeder Landichaft die Abkommen diefer Völker. An 
der Hand dieſer Tatjache will auch Trapani beurteilt fein. Es liegt 
meit ab vom Weltverfehr, fern jogar vom Leben Giziliend. Und 
jelbft die Sizilienreiſenden ftatten ihm felten einen Bejuch ab. Diefe 
Abgeſchiedenheit hat dazu beigetragen, ihm feinen ethnijchen 
Charakter, den e3 von den Sarazenen und Normannen erhielt, 
bewahren zu helfen. 

Sch Hatte das freilich nicht begehrte Glüd, die Stadt im Jahre 
1900 Tennen zu lernen, al3 ich fie paflierte, um auf der nahen Inſel 
Fapignana einige Monate in politiicher Miſſion Giefta zu 
halten. (Die Inſel ift Zwangswohnſitzort.) Bei dieſer Gelegenheit 
konnte ich von Trapanis Sehensmwürdigfeiten nur da3 Gefängnis 
kennen lernen und befam fo mit dem ſizilianiſchen Volkselement nur 
in deſſen kranfhafteften Typen Fühlung. ch traf einige Delin- 
quenten aus der Provinz Trapani, die mir voller Stolz fagten, daß 
fie nicht wegen Diebftahls im Gefängnis jeien, jondern — und drum 
betrachteten fie ihre Verhaftung als Unrecht —, weil fie Flinte und 
Meſſer gebraucht hätten. Als ich mich bemühte, ihnen Kar zu machen, 
daß fich die Folgen eines Diebſtahls wieder gut machen ließen, aber 


Trapani: Verbrechernaivität 177 





Tote nicht wieder auferjtehen könnten, fchauten fie mich — ich ſehe 
noch die funkelnden ſchwarzen Augen — mit einem ſolchen Ausdrud 
der Verachtung an, als wenn ich, der ich fo hätte ſprechen können, 
in ihren Augen jelbft ein Dieb wäre. Eines Morgens fragte mid) 
ein trapanischer Bauer, der wegen eines grauligen Falls blutiger 
Vendetta in Unterfuchungshaft ſaß, welche Strafe ihm von den 
Gefchworenen drohe. Ach war damals angehender Juriſt und des⸗ 
Halb fchien ich ihm ein Sachverjtändiger. Der Fall war jo ſchwer, 
daß ich, um menfchenfreundlicher und Tangmütiger zu erjcheinen, 
antwortete: „Na, im Minimum können fünf bis ſechs Jahre Ge- 
fängnis herausſpringen.“ — „Fünf, ſechs Jahr Gefängnis fürmeine 
Geſchichte? Aber ich habe doch recht und muß meine Freiheit 
wieder kriegen!“ Und dabei jah er mich mit folch zorniger Wildheit 
an, daß ich froh war, daß der Wärter in der Nähe ftand, ſonſt hätte 
mic) der Kerl erwürgt. Ich erinnere mich noch lebhaft, mas zwei 
Tage darauf pajjierte. Der Bauer kehrte von den Geſchworenen 
zurüd, die ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt hatten. 
Er heulte wie ein wildes Tier, das verwundet ift. Meine Adern 
wurden zu &i3 vor ſolch elementarem Schmerzensausbrud. Was 
‚mich. ‚aber am meiften überrajchte, war, daß die Mitinjaflen des 
Gefängnifles die ſchwere Strafe ebenfalls al3 perjönlichen Affront 
fühlten; fie hatten fo troßige3 und wildes Feuer in den Bliden und 
waren dabei von ſolch tiefer Melancholie befallen, daß jeder erjtaunt 
fein mußte, wer die dDumpfe Verzweiflung oder ftille Refignation 
kennt, welche die Inſaſſen anderer Ber —— gewonne 
zu zeigen pflegen. 

Als ich von Favignano zurüdlehrte, frei von jeder dienſtlichen 
Verpflichtung, hatte ich Muſe, mir Trapani zu betrachten und 
empfing den Eindrud, in einer Zauberjtadt zu mweilen. Ich kam in 
einem Segelboot an, das der Küſte entlang gefahren war, wo id) 
die vielen Galzpyramiden bewunderte. Der Hafen erjchien mir 
nicht geräufchvoll. Die Herbftjonne, die über dem Monte San 

Zacher: Im Lande des Erbbebens. 12 


178 Trapani: Charakter der Stadt 


Giuliano fand, ließ die weißen, reinliden, mit Säulengängen 
geihmücdten Häufer der Stadt Hell erfcheinen Hinter einem Wald 
bon Schiffsmaften. Der Handel Trapanis geht nämlid) bis zur Le- 
bante, Rußland, England und Nordamerika. Ein Freund machte 
den @icerone. Trapani, die „unbefieglichite Stadt”, mit der Zitadelle 
des Staufen Friedrich IL, dem Feitungsgürtel Karls V., 
zeigte fich mir als eine der anmutigften Städte Italiens. Es hat 
breite, gerade Straßen, darunter die befonder3 prachtvollen Paſſe⸗ 
giata della Marina, die Bia della Torre di Ligny und den Corſo 
Vittorio Emanuele. Unterden Denkmälern fiel mir das von Dupre 
geichaffene für Viktor Emanuel auf, das ein Spitzengewebe 
aus Marmor if. Aber das Charakteriftifchfte waren die vielen 
alten PBaläfte, meift im maurifchen Stil, andere im Barod. ch ſah 
auch die Torre degli Ebrei (lo Spedalolello), die Renaifjancefathedrale, 
die ein Bild von van Dyd befikt, die Kirche der Tempelritter uſw. 
Aber da3, was mir am beiten gefiel, war die fröhliche und enthufia- 
ſtiſche Gejellichaft, die ich fand, Arbeiter, Studenten, Beamte, von 
denen einer jegt ein nafianifcher Agitator if. Unter anderem erinnere 
ich mich eines anarchiſtiſchen Exagitators, der mich mit feiner Tiebe- 
vollen und dabei Doch pornehm-ftolzen Gaftlichkeit aufnahm, mie fie 
felbft in Sizilien felten if. Auch erinnere ich mich der Iebhaften 
Debatten, die abends unter den Bäumen ded Strandes geführt 
wurden. Beim Abichied Hatte ich den Eindrud, wie fchon gejagt, 
in einer Stadt geweilt zu haben, die eine ſpezifiſch eigene Geele, 
einen Charakter für fich hat. Trapani ift eben ftet3 fich gleich geblieben. 
Palermo, ba3 doch auch feine fizilianifche Eigenart ganz bewahrt hat, 
it ſchon ganz verſchieden, mehr italienisch und europäiſch. Trapani 
zeigt noch die Spuren feines griechiich-puniichen Urfprungs: man 
merft noch, daß ed Stolonie der Römer, der Sarazenen und Nor⸗ 
mannen war. 1848 mar e3 diejenige Stadt Italiens, die zuerſt 
mit feparatiftiihen Tendenzen infurgierte. Auch nach der Bildung 
des einigen Italiens ift e8 noch ganz unitalieniſch geblieben. Seine 


Trapani: Der Sohn der Stadt 179 


Einwohner haben ein nur ihnen eigenes Urteil, befondere Kriterien 
in der Moral, in ihrem Stolze. Sie rühmen fich auch, patriotifch 
zu fein, vorausgeſetzt, daß da3 Vaterland fie in dem nicht beleidigt, 
was ihre Vorliebe bildet. Nun hat Trapani aberaß Gegenftand 
feiner heifeften Borliebe Nafi, den „Sohn 
Trapanis". Dieſe Vorliebe will es der ganzen übrigen Welt aufe 
zwingen, gleich al3 obdie Eigenschaft, ein Bürger von Trapani zufein, 
ein unmiderleglicher Beweis der Makelloſigkeit und Größe märe. 
Die Tatjache, daß Nafi ein Gefallener ift, hat die Liebe für ihn 
gejteigert — ift das nicht ein Zeichen de Edelmuts? — und die 
Mitbürger zu Übertreibungen, ja zum Delirium geführt. Die Hike 
des Wraberblut3 wurde entfacht zu einem Elan, der uns ruhiger 
denkende Zuſchauer verwirrt. 

Italien, ſchließt Fabbri, müſſe dem Rechnung tragen und in 
Milde und Geduld abwarten, bis die Zeit die Erregung dämpfe. 


Der Triumph Naſis. 
Rom, 23. Juli 1908. 

Naſi hat —* ſeinen feierlichen Einzug in Trapani 
gehalten. Wie ſein Charakterbild im Urteile der Preſſe, ſo ſchwankt 
auch die Berichterſtattung über dieſen Triumph, der dem Kenner 
der römiſchen Geſchichte den Vergleich mit der ſprichwörtlichen 
Nähe von Kapitol und tarpejiſchem Felſen aufdrängt. Die meiſten 
römiſchen und norditalieniſchen Blätter tun das Ereignis kurz ab. 
Naſi reiſte, von einigen Heimatgenoſſen begleitet, denen ſich mehrere 
feiner Advokaten angeſchloſſen hatten, zunächſt von Rom nad) Neapel. 
Den Berichterftattern hatte er feinen Wunſch ausgeiprochen, daß 
Demonjtrationen vermieden werden möchten; in Rom ging dieſer 
»Wunſch auch in Erfüllung, nur vereinzelte Hoch wurden dem 
„Märtyrer ausgebracht, während er in Neapel von den Studenten 

12* 


180 Trapani: Naſis Triumph 





jehr gefeiert wurde. Die Trapanejen hatten für die Seefahrt von 
Neapel einen eigenen Dampfer gemietet, auf dem dreihundert 
Bürger fich einfchifften. Über den Verlauf der Triumphreife gehen 
die Berichte auseinander. Vorher hatten die Zeitungen gemeldet, 
daß die Aufregung in Trapani nur künftlich fei, da die „Weißen”, 
d.h. die Anhänger Naſis, in der Minderzadl feien, die „Schwarzen“ 
aber zu viel Stolz befäßen, um Dppofition zu treiben. Nach dem 
Spezialberichterftatter des „Meſſaggero“ war jedoch der Enthufind- 
mus beim geftrigen Empfange echt, der Straßenjchmud überwältigend 
reih. Die „Schwarzen“, deren Anführer, der aud) Naſis Gegen- 
fandidat bei den Abgeordnetenmwahlen war, Türzlich ftarb, wurden 
zu Tode verflucht, weil juft am Feittage die Wafferleitung, die Naſi 
der Stadt verichafft Hatte, unterbrochen ward. Die Anführer der 
„Weißen“, der Domherr Romano und der Bolognefer Patrizier 
Pepoli, der fih in Trapani dauernd angejiedelt hat und als 
der Rothichild der Nafianer gilt, ſowie der Bürgermeifter ſtrahlten. 
Um vier Uhr kam der Feſtdampfer in Sicht. Der Triumphator 
ftand auf der Kommandobrüde. Ein Boot, von ſechs trapanefischen 
Kapitänen gerudert, brachte ihn ans Land; wo er von Taufenden 
bon Armen zum Wagen getragen wurde, der ihn zum Rathaufe 
führte. Die Mufitbanden und das Volk ſtimmten die Rafi-Hymne art. 
Bald darauf erſchien der Gefeierte auf dem Balkon, bleich und 
zitternd. Und das Volk fang die Naſi 2 ymne, die in freier 
— alſo lautet: 

Und ſiehe, er kam wie ein leuchtender Stern. 

Verdammten ihn auch die römiſchen Herrn, 
Was kümmert es uns? Wir bleiben ihm treu, 
AUmarmen ihn fröhlich heute aufs neu, 
» Der mit der Rede lieblichem Laut 

Italien beziwungen, Italien erbaut. 

Du unfer Engel, bewundert, verehrt, 

Wo wäre das Schwert wohl, das Dich verjehrt? 


Trapani: Die Nafi-Hymne 181 


Das Banner empor! 
Wir ſchwören im Chor 
Den Eid ihm der Treu’; 
Daß von Schuld er frei, 
Ganz Stalien weiß. 
Und Ehre und Ruhm 
Gebühren. ihm drum, 
Dem Reformator und Weiſen, 
Den als Engel wir preiſen. 
Mit uns iſt er jetzt! 
Die ihr unverletzt, 
Ihr Soldaten, Heroen, 
Laßt Freudenfeuer lohen, 
Laßt hell eurer Bruſt 
Entſteigen voll Luſt 
Das liebliche Wort, 
Das töne fort: 
Es lebe der Märtyrer 
.Nunzio Naſi! 
Bebrichtes Sizilien, das jet erwacht, 
Das ftet3 du verraten wardſt und verlacht, 
Deſſ' Klaglaut verhallte ftet3 unerhört, 
Naſi Gehorfam und LXiebe dir fchmört! 
Dein treuer Sohn. wird ewig er fein, 
As Mutter, al3 Freundin gedachte er dein, 
Er Hat dich verteidigt, beſchützt und bewacht, 
Seitdem ihm gemorden der Segen der Madit. 
Nachdem der Gefeierte lange mit jeiner Rührung gefämpft 
hatte, hielt er darmıf eine Rede, die ein Dofument für 
ſiziliſche Beredfamteit, für fizilifde Welt 
anfhauung ift. — Er begann mit den Worten: „hr ſeid 
nicht meine Mitbürger, meine Freunde, nein, meine Brüder. 


182 Ttapani: Nede Nafıs 


Sch bin nicht? mehr (Widerfprud), aber e3 genügt mir, 
Bürger von Trapani zu fein. Ihr jedoch jeid groß und Euere Kraft 
ift ftet3 die meine getvefen, und dag genügt, Euere Solidarität ift ein 
Gieg; denn einen Sieg muß ic) e3 nennen, wenn jelbft unfere 
Gegner insgeheim Euch bewundern und ihre Ohnmacht eingeftehen 
müffen. Sch bin Stolz auf Eure fittliche Größe, ftolz darauf, Euer 
Mitbürger, ftolz darauf, Sizilianer zu fein. Ich möchte mein Unglüd 
jegnen, weil es Euere Tugend nur noch mehr ftrahlen läßt. ch 
möchte mein Unglüd jegnen und deshalb fchreie ich nicht, pereat 
der und der. Freilich betrübt mic) und Euch der Gedanke, daß es 
Gizilianer waren, weldye die Hauptſchuld an einem Fall hatten, 
der ein politiicher Mord war. (Minutenlanger Beifall.) Dieſe Leute 
haben fein Vaterland, verzeihen wir ihnen, oder vergejlen wir fie 
wenigſtens.“ 

Dieſe Anſpielung auf den Hauptankläger, den ſizilianiſchen Ab⸗ 
geordneten Saporito, wurde beklatſcht. Die Menge wandte ſich 
an die anweſenden Journaliſten und rief: „Wehe Euch, wenn Ihr 
nicht die Wahrheit ſchreibt!“ Naſi ironiſierte dann die Regierung, 
weil ſie die Stadt mit Soldaten und Poliziſten überſchwemmt habe; 
der Prozeß habe doch ſchon Millionen gekoſtet und jetzt werfe die 
Regierung auch noch das viele Geld für dieſe unnütze Machtent- 
faltung hinaus. Dann fuhr er fort: 

Und dabei gibt es Leute, die gegenüber der edlen Aufwallung 
eines Volkes, das eine heilige Sache vertritt, von Klientelen, Cliquen, 
Kunitgriffen, Intereſſenwirtſchaft, Gunfthafcherei zu Iprechen wagen. 
Inzwiſchen danten wir Gott, daß, als man den großen Gedanken 
hatte, einen Erminifter vor den höchiten politiichen Gerichtshof zu 
ziehen, man nicht von Banken und jchimpflichen Submiljionen, 
jondern vom Lehrerkongreß in Cremona und von Porzellanartikeln 
der Firma Ginori fprah. Ihr Tennt unfere Paſſion, unjere Liebe 
zu nicht fernen Ländern, die wir im Haren Licht unjerer Sonne 
erbliden können, aber was wollt Ihr, auch meine tripolitanischen 


Trapani: &3 lebe Sizilien 183 





Pläne wurden al verdammungsmwürdige Phantafien erflärt. Ich 
bin alfo verurteilt und freue mich deifen. Jubeln wir daher, mweil 
nah diefem Sturm der Narrheit, der durd die 
offizielle Welt Jtaliens fegte, dur meine 
Abſchlachtung Ktalien endlih erlöft ward, 
überall im Lande Bolllommenheit herrſcht, 
furzum die Moral gerettet ift. (Heiterfeit.) 

Man hat gejagt, Ihr wäret vom Kollektivwahnfinn ergriffen. 
Auch mich Hat man einen Verrüdten genannt. Aber freilich, die 
edlen een waren ftet3 Verrüdtheiten in den Augen der Egoiften, 
der Elenden und Schufte ohne Gewiſſen. Jetzt gibt es zwei Urteils- 
iprüche, den de3 Senats und den des Volles; die Zeit wird zeigen, 
ob der erjtere gerecht war, und der legtere definitiv wird. 

Naſi ſchloß mit einem Gruß an Sizilien und an defjen größte 
Städte, Palermo, Meffina, Catania, dem die Worte folgten: „Man 
Hat von Separatis mus gejprochen, aber wir hoffen auf ganz 
Stalien, den Vater von uns allen, den Stiefvater von niemandem. 
Doch ein letztes Wort fage ih Euh: Seit Heute abend be- 
ginnt Italien für un3 zu eriftieren. Es lebe 
Sizilien!” Gelbftverftändlich Herriht nun große Spannung 
bei allen Politifern, welche Taten wohl diejer jehr Icharfen Rede 
folgen werden. (Siehe den Schluß des folgenden Kapitels.) 


Das Erdbeben in Kalabrien 1907. 


Der Stromboli. 


a3 Erdbeben, da3 im Herbft 1907 Kalabrien heimfuchte, ward im 
Mai desjelben Jahres durch eine erhöhte Tätigkeit des Vulkan⸗ 
eilands Stromboli angekündigt. 
Profeſſor Riccö vom Obfervatorium in Meſſina jchrieb am 
16. Mai 1907: „Die Gruppe der äoliſchen Inſeln liegt im Norden 
von Sizilien. Die neun Smfeln, aus denen fie fich zufammenfeßt, 
liegen nach drei Richtungen, die vielleicht ebenſovielen Brüchen der 
Erdkruſte entfprechen: Nordweſt liegen Banaria, Befiluzzo 
und Stromboli, Siöfüdoft: Lipariund Bulcano, nad) 
Weiten: Salina, Felicuri, AlicuriumdUftica. Strom 
bo li ift alfo die nördlichſte Inſel der Gruppe, fo daß fie Kalabrien 
genau gegenüberliegt. Ihre Länge beträgt viereinhalb Kilometer, 
ihre Breite drei, Die höchſte Spiße fteigt zu 926 m auf. Der eruptive 
Apparat liegt etwa 180 m unter der Spite, jo daß der bewohnte Teil 
der Inſel von der Lava nicht getroffen wird, die übrigens auch zwei 
natürliche Wälle links und recht? von den Kratermindungen auf« 
halten. Die Inſel bejteht durchaus aus vulfanifchem Material 
(Balalt, Tuff, Lava, Lapilli, Aſche). Das aus der Vermitterung 
dieſes Materials entjtandene Erdreich ift äußerst fruchtbar, jo daß die 
Hänge des Feuerberges von einer fubtropifchen Vegetation bedeckt 
find (Opuntienkaktus, Oliven- und TFeigenbäumen, Weinftod, 


Stromboli: Seine Eruption 185 


Ginfter), obgleich e3 an Wafjerläufen fehlt. Die Gefchichte der Inſel 
ift uralt, von ihr zeugen jedoch feine größeren Reſte von Pracht- 
bauten, weil die Bevölkerung vielleicht nie ſolchen Wohlftand hatte, 
daß fie ſich Baulugus gejtatten konnte. Bielleicht wurden folche 
Bauten auch das Opfer der häufigen Erdbeben. ‚Die vulfanifche 
Tätigleit des Stromboli iſt ebenſo uralt, die antiken Seefahrer 
betrachteten ihn auf der Fahrt von Großgriechenland nad) Sizilien 
als einen natürlichen Leuchtturm, da er nacht3 weithin Flammen 
entjendet. Im Mittelalter war er Gegenftand der abergläubilchen 
Furcht; man: betrachtete ihn ala Strafort der verftorbenen Stinder, 
deren Wehrufe man von Zeit zu Zeit zu hören glaubte. In den 
neueften Zeiten ift er Gegenftand der wiljenichaftlichen Forjchung, 
weil er der einzige Vulkan ist, deffen Tätigfeit nie ausfeßt. Seit 1898 
wird er von einem Obfervator und den Beamten de3 Semaphors 
täglich beobachtet, fo daß wir eine fortlaufende Gejchichte von ihm 
befigen. Gemöhnlich haben feine Eruptionen folgenden Verlauf: 
Der Vullan beginnt mit Getöfe, Erplofionen, Krachlauten, ähnlich 
denen, die beim BZufammenftürzen von Balfengerüften erjchallen, 
dann folgt Ziſchen, wie aus einer Dampfpfeife, Rauch umhüllt den 
Krater, dann bricht das Coke ähnliche Material, da3 feine Lava 
bedect, auf, und die Lava fteigt zur Höhe und wirft Bomben in die 
Luft. Augenblidlic) aber wird der eruptive Apparat des Vulkans 
aus mehreren Kratermündungen gebildet, deren Eruptionsarten 
jehr verfchieden find. Die einen entjenden nur weißen Rauch), die 
anderen jchleudern Bomben, andre laffen Lava überftrömen; wieder 
andre pfeifen nur, ohne ein fichtbares Zeichen der Tätigkeit. Wie 
gejagt, die Einwohner Haben von feiner Lava nichts zu leiden, mehr 
jedoch von den Erdbeben, die gleichzeitig mit denen in Kalabrien 
erfolgen, zulegt 1894 und 1905. Aber diefe Erdbeben haben ihr 
Zentrum ftet3 in Kalabrien und nicht im Stromboli. 

Über den einzigen Ort der Inſel San Vincenzo, berichtet 
ein Reiſender in der „Kleinen Preſſe“: Die Taltweißen Häuschen 


186 Stromboli: Die Bemohner 





bon San Vincenzo find jehr niedrig und nad) orientaliicher Art ohne 
Dad. In der Ferne gleichen fie mehr Ställen, und erſt wenn man 
im Orte mweilt und die fauberen Fenfterchen und Weinteben ſieht, 
die ſich um die Häufer fchlingen oder Lauben bilden, gewahrt man, 
daß man e3 mit menschlichen Wohnungen zu tun hat, primitiv und 
Hein, aber der Umgebung angepaßt und zum Schute gegen größere 
bulfanifche Ausbrüche gleich Kafematten praktiſch eingerichtet. Ober- 
halb des Dorfes erhebt fich der Kuppelbau einer Kirche und rings um 
Vincenzo bis hoch zum Berge hinauf ziehen ſich die Rebenanlagen, 
die den mächtigen glutvollen Malvafier des Stromboli liefern, deſſen 
Trank die matten Geifter wieder ftärft. Diefer Weinbau und dazu 
noch Fiſchfang find für die Strombolianer die einzigen Erwerbs⸗ 
quellen. Viele von ihnen gehen in jungen Jahren zur See, aud) 
nach Afrika und Amerika, und fommen Später, zu einer gewiſſen Wohl- 
habenbeit gelangt, wieder in die Heimat zurüd, die ihnen troß allen 
vulkaniſchen Gefahren lieb und teuer geworden ift. Das „Pflaſter“ 
in und um Vincenzo ift zwar billig — die Bewohner hatten un mie 
liebe willflommene Gäfte aufgenommen — aber, aber ſehr, jehr 
heiß. Weder am Strande noch an den Berghängen kann man 
barfuß laufen, der Aſchenſand glüht förmlich und felbft der heilige 
GSebaftian würde e3 Hier kaum mit nadten Sohlen auögehalten haben. 
Aber die Strombolianer find daran gewöhnt, und ihre Freiheit geht 
ihnen über alles Ungemad) und alle Entbehrungen. Nur einem 
Tyrannen fügen fie ich, ihrem Vulkan, und ihm gegenüber vertrauen 
fie mit rührender Kindlichkeit auf den Schußpatron der Inſel, den 
heiligen Binzentius Ferrarius. Nur diejes fromme Vertrauen und 
die Liebe zur Heimat hält die Bewohner an die vullaniſche Inſel 
gefeſſelt und läßt fie vergeſſen, daß fie „auf einem Vulkane tanzen”. 





Rom, 17. Oltober 1%7. 
Auf meiner Fahrt im Jahre 1905 durch die vom Erdbeben 
betroffenen Gebiete Kalabrien frappierte mich nicht3 mehr, 


Kalabrien: Reife de3 Königs 187 


als wenn Bürgermeifter und Pfarrer der Heinen Orte jtet3 baten, 


die Preffe möge darauf hinwirken, daß alle Geldbeträge nur an die _ 
Karabinieri zur Verteilung übergeben würden. Später begegnete 


ich Hier vielen Skeptifern, die fich über den Spendeeifer des 
In-— und Ausland3 luſtig machten. Mittlerweile hat die 
Kammer ein eigenes Geſetz für Kalabrien ge 
Ihaffen, die Regierung ordnete eine der üblihen Erdbeben- 
Enqudten an, um den Modus der Verteilung der 
Liebesgaben zu kontrollieren, und fchließlich Hagte der foziali- 
ſtiſche „Avanti“ den Befiter eines neapolitanifchen Blattes wegen 
Berichwindens von 40,000 Lire Erdbebenfpenden an. Es kam zum 
Prozefie, der aber wegen Verjährung eingeftellt wurde. Dann 
ward's wieder ftille. Freilich hat die italienische Preſſe auch anderes 
zu tun, als ſich um da3 vergefjene Kalabrien zu kümmern, da3 felbft 
der Prefje entbehrt. Doch einer fcheint zu glauben, daß Kalabrien 
auch noch italienifches Gebiet fei, Der König. Wie ein ver- 
ipätetes (!) amtliche Telegramm meldet, unterbrady er auf der 
Rückkehr von den Manövern in Eizilien die Seefahrt in Parg- 
helia, einer Stadt, die, wie id) feiner Zeit an Ort und Stelle 
fonftatieren Tonnte, am meiften von der Kataftrophe heimgejucht 
worden war. Dieje3 amtliche Telegramm bejagte nur u. a.: 
„Der König hat feitgeftellt, daß ein ganzes Baradendorf 
und zwar hauptjächlich auf Betreiben und Koften des Mailänder 
Hilfskomitees errichtet wurde, die Stadt aber nod) 
in der gleiden Lage ift, wie am Tage nad 
dem Erdbeben Nur die Kirche wurde zum 
größten Teile reftauriert. Die Fahrſtraße deren 
Bau nah dem Unglüd Sofort in Submiſſion ge- 
geben wurde, muß noch gebaut werden, da Stadt 
und Bauunternehmer noh im Prozeß liegen.” 
Zwei Beitungen nur, die offiziöfe „Tribuna” und die radifale 
„Dita“ bringen hierzu bittere Kommentare. 


f 


188 Kalabrien: Erdbeben 





Das Erdbeben vom 23. Oktober 1907. 


Rom, 24. Oktober: An demfelben Tage, wo in Kalabrien die 
vom Mailänder Komitee neu erbauten beiden Dörfer eingeweiht 
werden follten und faſt zur gleichen Beit, als der zur Feier gelommene 
Finanzminiſter Lacava in Monteleone dad Gröbeben- 
zentrum von 1905 betrat, ereignete jich abends nad) neun wiederum 
eine Erdbebenkataftrophe, die die gleiche Zone, wie 1905, umfaßte. 
Sn Cantanzaro, wo die Gefangenen zu rebellieren drobten, 
blieb die Bevölkerung in wilder Panik in der Nacht auf den Straßen. 
Sn Gerace fiel ein alter Feitungsturm um, und der Dom erhielt 
Riſſe. Ferruz za no bei Gerace, das 1905 verſchont blieb, ſoll 
ganz zerſtört fen, m SantEufemiaAjpromonte wurden 
drei Berjonen verfchültet, in Sinopolivier, Brancaleone 
am Kap Spartimento ift halb zerftört. Das Unglüd wird durch 
gewaltige Regengüffe gefteigert. Die Stöße wurden 
weder in Palermo, noch in Catania vernommen, wohl aber in 
Meffina, wo eine Stärke des fünften Grades konſtatiert wurde. 
Sm Sant Xlario am jonifchen Meere ftürzte das Ram ein, 
fünf Perjonen find tot. 

Rom, 24. Oftober (abends). Die „Tribuna” beflagt die neue 
Erdbeben⸗Kataſtrophe und Stellt feit, daß wegen der ſchlechten 
Berteilung der Wohltätigfeitsfondgs noch nicht? 
geichehen jei, um die Schäden von 1905 zu heilen. Prof. Palazzo 
vom römischen Objervatorium erklärt, Kalabrien jei von 
einer Erdfpalte durchzogen, die eine Frei 
linie darftelle, deren Mittelpunft die aeoli- 
ſchen Inſeln bildeten. Alle am Rande diefer 
Spalte liegenden Ortſchaften feien natürlid 
ftet3dem Erdbeben ausgeſetzt. 

Nach den neueften Nachrichten ftürzten auch n Mamertino, 
Dppido, Monteleone Häufer ein. In Gerace um 


Kalabrien: Opfer des Erdbebens 189 





Sant Eufemia Ajpromonte erneuerten ſich heute die 
Stöße. 

Ein Überblid über die ganze Größe der Kataftrophe ift noch 
unmöglich, da e3 fich bei den betroffenen Plätzen meijt um hod)- 
gelegene Bergnejter Handelt, die ſchwer erreichbar find. Die [chlechten 
Berbindungen find durch andauernden Regen gejtört. Dazu ift die 
Umgegend de3 Stark heimgeluchten Ferruz za no überſchwemmt. 
Die Zuftände in Ferruzzano find troſtlos. Die Bevölkerung ift ganz 
betäubt und daher unfähig, fi) am Rettungswerk zu beteiligen, 
deswegen war erft am Spätnachmittage die Ausgrabung der Leichen 
möglich. Die Zahl der Opfer beträgt 400 Tote, mehrere Hunderte 
bon Bermwundeten. Pater Alfani vom Florentiner. Objervatorium 
erklärt, die Größe des Unglüds ſei weniger durch die Gewalt der 
Stöße, als durch die ſchlechte Bauart der Häujer ver 
Ichuldet, die kunſtlos aus leichten Steinen errichtet werden, die man 
durch mit Stroh vermilchten Schlamm verbindet. 

Rom, 25. Oktober 1907. Die Nachrichten laufen ſpärlich ein. 
Amtlih wird die Zahl der Unglüd3orte auf fünfund- 
zwanzig geichäßt, doch dürfte fie größer fein, da aus vielen 
Dörfern noch jede Nachricht fehlt. Überall Hagt man über den 
unzureichenden Hilfsdienſt. Es wiederholt fich die Erfcheinung von 
1905, daß die einheimische Bevölkerung feine Hand rührt und alles 
den Soldaten überläßt. Die Größe der Kataftrophe in Ferruz⸗ 
zano erklärt fich daraus, daß im Augenblid des Erdbeben ſchon 
alle Einwohner im Bett lagen. Eine Familie verſchwand ſpurlos 
in einer Erdſpalte. Viele Berjchüttete talent u Yebend unter gen 
arumen, liegen. 

Heute morgen wurde der König in Reghio Calabria 
torte: ; doch bis jetzt iſt n o ch n icht s über jeine Abreiſe 
beſtimmt (!). 

Rom, 27. Oktober 1907. Die Unbilden des Wetters laſſen nach 
den Berichten der wenigen Spezialkorreſpondenten das Erdbeben⸗ 


190 Kalabrien: Wirtfchaftliches Elend 


unglüd al3 vielleicht Schlimmer ericheinen ala das von 1905. Die 
Überfhmwemmungen erjchweren das Rettungswerk. Zelte, 
Brot, Medizin, Holz müfjen auf dem Rüden von Maultieren trans- 
portiert werden. Das Kriegsichiff „Umberto“, das vor Gerace 
als Hofpitalichiff dienen follte, fonnte nicht landen. Das naſſe 
Wetter erzeugte auch Krankheiten unter den Flüchtlingen. Kein 
Wunder, daß der Nachrichtendienft widerſpruchsvoll ift. Offiziell 
werden jebt ahtundzwanzig Orte alsſchwer, zwei- 
unddreißig als leichter beſchädigt angegeben. 
Private Nachrichten leiden an Übertreibungen. Vielleicht ift daran 
die lebhafte Phantafie der Korrefpondenten fchuld, vielleicht auch 
die Kirchturmpolitik, da, wie im Sjahre 1905, jede Gegend 
auf Koften der andern die Aufmerkſamkeit der Regierung auf fich zu 
lenken trachtet. Die Regierung tat ihrerſeits alles, um die Ver- 
teilung der Hilfsgelder fo zu organilieren, daß die im Jahre 1905 
beklagten Willkürakte ausgeſchloſſen find. 


Das Elend im Talabrifchen Erdbebengebiet. 


Juſt zur Zeit der jegigen Erdbebenkataſtrophe ericheint ein 
Buch*), das mehr als alle Berichte der ins Unglüdsland gereiften 
Spezialtorrefpondenten Zeugnis ablegt von den Zuftänden an der 
äußerften Spite Italiens, Zuftänden, die nicht nur eine Schande 
de3 jungen italiichen Königreichs, jondern einen Hohn auf die Neu- 
zeit darstellen. Das Buch behandelt die Gefchichte der letzten Br i⸗ 
ganten von dem „ungekönten König Etruriend” Tiburzi 
angefangen bis zum „Herven Kalabrien", Mujolino. Bejonders 
intereffant find die Stellen, welche das Königreich Mufolinos und 
deſſen Hauptorte Schildern, die heuer auch wiederum von fich reden 
machen, weil auch fie von Erdbeben ſtark betroffen wurden: 


*) Da Tiburzi a Musolino. New York. Editore F. Tocci. 


Kalabrien: Totenbeftattung 191 


„24. März. Bon Bova Marina nad Bova Alta. 
Morgens um acht, nach einftündiger Eifenbahnfahtt von Reggio 
Calabria angelommen, verjchaffe ich mir eine „vettura“, wie 
hier zu Lande ein Maultier heißt, und beginne den Aufftieg nad) 
Bova auf der Höhe im trodenen Bette eines Gießbachs. Die mic) 
begleitenden SKarabinieri zeigen hoch über mir ein verbranntes 
Haus. Es gehörte dem Bilchof von Bova. Der Gute Hatte die 
Gewohnheit, im Winter in Bova an der See und im Sommer in 
Hoch⸗Bova zu leben. Einmal feßte er feine Sommerfrifche aus. 
Deshalb ftiegen die Berg-Bovaner zu ihren See-Bovanern herunter 
und mahnten den Oberhirten an feine Pflicht. Als er dennod) nicht 
gehorchte, verbrannten fie ihm die Sommermohnung. Bon der 
Gießbachſchlucht kommen mir auf einen fteinigen Pfad. „Auf 
dieſem“, fo jagen die Karabinieri, „Ichleppen die Küſtenbewohner 
ihre Toten zum Kirchhof von Bova Alta, anjtatt fich einen eigenen 
zu bauen. Der Transport, zu dem acht Träger, die zwei Lire erhalten, 
nötig find, Dauert dreiundeinhalb Stunden." — „Werden die Leichen 
wenigſtens in einen Sarg gelegt? Ich hörte, daß das in dieſer 
Gegend nicht Uſus wäre?" „Hier geichieht ed noch, aber nicht in 
Ihrem Reifeziel Caſalnuovo, mo man fie, fall3 man ein folches 
hat, in ein Leintuch hüllt und in eine Grube in der Kirche fentt, Die 
nur mit drei Steinplatten bebedt ift.” — „Iſt's möglich?" — „Sm 
Roghudi geht’3 noch fchlimmer zu, da der Kirchhof nur eine 
durchlöcherte Hede als Schuß hat, ſodaß Schafe und Rinder auf ihm 
meiden und mwühlen. In Amandolea legt man die Toten 
einen Fuß unter die Erde in einer Kirche, die weder Fußboden noch 
Dad) Hat. Bor einigen Tagen zerbrachen Schweine die morſche Türe 
und fraßen die Leichen. Einige Einwohner des. Orts kamen zu 
unferem Unteroffizier und baten ihn, er folle eine Eingabe an den 
Präfekten machen.” — „Am einigen diefer Gemeinden herricht ein 
Schmutz wie ſonſt nirgends in Europa. Sn Africo murden 
Lehrer und Lehrerin feit fieben Monaten nicht bezahlt.” 


192 Kalabrien: Waſſerſcheu 


"Unter diefen erbaulichen Gelprächen krochen wir weiter zu dem 
800 Meter Hoch gelegenen Felsneſt. Halb zwölf famen wir an. Auf 
der Piazza ftanden einige Hirten in Kniehojen, Wadenftrümpfen, 
kurzem Wams und langer Zipfelmüte. Ihre Vaterjtadt befteht meift 
aus Leuten, die ſchon das Gericht fennen. Vierzig Bürger jtehen 
unter verjchärfter Polizeiaufficht. Sie ſprechen einen griechiichen 
Dialekt. Nach einer halben Stunde ftieg ich auf neuem Maultier 
höher hinan. Bei taufend Meter hört die Baumvegetation auf. Der 
Pfad, der an Schlünden und Abgründen vorbeiführt, wird jo eng, 
daß ich zu Fuß gehen muß. Ich jehe die Hirtendörfer Rocca 
forte und Roghudi, ftarrend vor Schmuß. Ihr Elend ift heuer 
doppelt groß; denn der verfloffene Winter dezimierte die Herden. 
Die Bewohner können nicht jeden Tag ihren Hunger ftillen. Ihre 
Hauptnahrung bildet ein Gebäd aus Kleie, Hafer und Erbfen. Auch 
Roghudi ift ein VBerbrecherneft.. 1895 wurde eine Delinquenienbande 
ausgehoben, die unter anderem einen Dann zerhadt und eingepödelt 
hatte. Die Häufer des Orts find feine Wohnungen, in denen auch 
die Schweine haufen, jondern Schweineftälle, die auch ala menjchliche 
Behaufungen dienen. Vieh und Menichen wimmeln durcheinander 
wie Würmer im Mift. Aber die Menfchen haben kein Gefühl: für 
ihre: Entwürdigung;. fie lieben ihre vermahrloften Felslöcher ſogar 
amd haben kein Verſtändnis für die NReinlichkeit in den Städten 
anderer Gegenden. Mein Yührer, ein halber Sarazene aus Bova, 
deſſen Leib nie Waffer geſpürt hat, fo daß fein Geficht eine ſchwärz⸗ 
liche Krufte bildet, Hat ala Soldat in Venedig und Udine geftanden. 
„Was ift Schöner, Venedig oder Bova?“ frage ich ihn. „Venedig?“ 
antwortet er, indem er ſich die Nufenlöcher zuhält, a eine 
ftintende Stadt! Und Udine Hat die Malaria!" 

Um Halb drei fomme ich) auf das Plateau bon Bode. Im 
Winter ift Dies wegen Nebel und Schnee von allem Verkehr abge- 
Ichnitten, und die Herrfcher der Gegend find die Wölfe, von denen 
einige vor zwei Monaten fünfunddreißig Schafe in einer Nacht 


Kalabrien: Felſenfleiſch 193 


töteten. Oft erfrieren hier im Winter die Polizei- und Karabinieri- 
patrouillen, wenn fie fi) im Nebel verirren. Überhaupt. ift das 
felſige Gebiet bei jedem fchlechten Wetter gefährlich. Auf den engen 
Steigen an den Felswänden genügt ein faljcher Tritt, um Blöcke 
lo3zulöfen, die im Herunterrollen Steinlaminen erzeugen. Bon 
Beit zu Beit ftürzen auch Karabinieri in die Abgründe, ebenfo Hirten, 
wenn fie verirrte Schafe fuchen. Falt jede Woche fällt aud) eine 
Kuh oder ein Schaf in den Klüften und Schlünden zu Tode, und 
diefe Opfer der Berge — „Felſenfleiſch“ nennen das die 
Bewohner — bilden dann die einzige Fleiſchnahrung der Bevölke⸗ 
rung. Gegen fünf erreiche ich auf Gemjenftegen Caſalnuovo. Der 
Ort ift damit gefchildert, mern ich fage, daß er aus Schweineſtällen 
befteht, die durch fteinige Schmutzgaſſen von einander getrennt find. 
Der Doktor und der Bürgermeifter find die beiden einzigen Perſonen 
im Ort, die eine quasi anftändige Wohnung haben. „Wir gehören 
nicht zur Welt”, fagte der Doktor. „Der einzige Zugang zum Ort 
ift der Steg, den Sie fennen. Alſo entblößt von allen. Verkehrs— 
mitteln können mir unfer Vieh, Früchte und Obft zu feinem Markte 
ſchicken. Auch Haben wir feinen Poftdienft. Steuern zahlen wir 
ungeachtet deſſen doch." Mit einer Laterne hatte man mich zu dem 
gaftlichen Haufe des Doktors gebracht. Ohne Licht hätte ich Arme 
und Beine gebrochen. Im Schlafzimmer fand ich ftatt Schrank 
und Kommode, die man auf dem fteilen Bergpfade nicht trans- 
portieren könnte, nur Koffer. 

25. März. Am anderen Morgen erreichte ich auf Zickzack⸗ 
pfaden in fteiler Schlucht Africo. Der Ort ift ein Sammelfurium 
rauchgeſchwärzter Schmußhütten, durch deren Türen man nichts 
ſieht ala Mift, in dem fich Schweine wälzen, und daneben ein Lumpen- 
bündel, auf dem die Familie nachts jchläft. Ein wenig Ajche, ein 
Waflerfrug und einige Beile ftellen Herd, Möbel und Geräte dar. 
Die Kinder zeigen al3 einzige Tracht ein Hemd aus gröbfter Lein- 
wand; einige alte rauen, barfuß mit Wunden und ZYumpen bededt, 

Bacher: Im Lande des Erbbebens. 13 


194 Kalabrien: Mufolino 


die Augen tränend und entzündet, erregen Mitleid und Abſcheu 
zugleich. 


Der „Heros Kalabriens“, Mufolino. 


„Rufolino ift fein gemöhnlicher Räuber, obfchon er mit 
lechzehn Jahren fchon Mitglied der Kamorra mar”, jo jchrieb im 
März 1900 ein Kenner der Zerhältnifle aus Reggio Calabria an 
ein neapolitanifches Blatt. Seine triminelle Laufbahn begann er 
mit achtzehn jahren. Er wurde angeflagt, nacht3 mit einem Revolver 
auf einen gewiſſen Boccali gefchoffen zu haben. Obgleich nur Indi⸗ 
zienbeweiſe vorlagen, wurde er 1898 zu zweiundzwanzig Jahren 
Gefängnis verurteilt. Diefe Strafe erfchien nicht nur dem primi- 
tiven Mufolino, der ftet3 feine Unfchuld beteuert Hatte, enorm, 
jondern auch der ganzen Bevölferung, die e3 verjtändlich fand, daß 
Muſolino Vendetta ſchwur. Er entwich bald (am 9. Januar 1899) 
aus dem Gefängnis von Gerace — einem Kerker sui generis — und 
nun fielen unter jenen Schüflen alle Belaftungszeugen und viele 
Leute, die zu feiner Verhaftung beigetragen hatten. Am 28. Januar 
erichoß er die Frau eines gewiſſen Stefano Crea und verwundete 
diejen felbft, am 10. Februar den „Berräter" D’Agoftino, am 11. Juli 
den jungen Saraceno, weil diefer gedroht hatte, fein Aſyl zu denun⸗ 
zieren. Am 7. Auguft dringt er bis nad) Mileto in der Provinz 
Catanzaro vor, wohin fich fein Gegner Zoccali zurüdgezogen hatte, 
und erichießt deſſen Bruder, am 19. Auguft in fein Gebiet San 
Stefano zurüdgelehrt, erichießt er den Gemeindepoliziften, der ihn 
verhaftet hatte. Am 9. Januar 1900 feiert er gemeinfam mit einem 
Freunde Princi in einer Waldgrotte da3 Jahrgedächtnis feiner 
Flucht aus dem Gefängnis mit einem Gericht längft entbehrter 
Maccaroni. Princi, der ſich den von der Polizei ausgejebten Preis 
bon 10 000 Lire Hatte verdienen mollen, wartete vergebens darauf, 
daß da3 Opium, mit dem er da3 Eſſen gewürzt, feine Schuldigfeit 


Kalabrien: Das Programm eines Räuber 195 





tun und Mufolino einjchläfern ſollte. Da3 Opium mar in der 
Bauernapothefe, der e3 entftammte, zu jehr hohen Jahren gekommen. 
Als beide bald darauf die Grotte verließen, verrieten fich die Poli- 
ziſten und Karabinieri, die im Hinterhalte lagen, zu früh. Mufolino 
\hießt auf den Begleiter und entlommt im Walddidicht. „Der 
Sturm auf die Grotte” wurde fchon nach kurzer Zeit in vielen 
Balladen vom Bolfe befungen, da3 feinen Mufolino ala Rächer der 
Ehre vergötterte. Wenige Tage jpäter vermundete diejer einen 
Karabiniere tötlich, der fich, um ein Bedürfnis zu befriedigen, von 
jeinen Gefährten getrennt hatte, nach einigen Wochen entging er 
einem neuen Hinterhalt, am 14. Februar erſchien er am lichten Tage 
in dem belebten Sant Eufemia A3promonte und ver- 
wundete tötlich einen gewilfen Angelone, von dem er fich verraten 
glaubte. Aus demfelben Grunde bereitete er am 5. März einem 
gewiſſen Sincropi in Rocca Forte dasſelbe Schiefal. Wie jchübte 
ih Mufolino nur fo lange gegen die Polizei? Er kannte feine 
Gegend auf Schritt und Tritt, wählte fich als Nachtlager die unzu- 
gänglichiten Felshöhlen und erfreute fich der Unterftügung der 
Mehrzahl feiner Landsgenoſſen (darunter ſogar Bürgermeifter), 
die ihn mit Proviant, Geld und Munition verjorgten. 

Am 24. September 1900 hatte Muſolino fein Programm, 
wenigſtens was die vierzehn Belaftungszeugen anbetrifft, pflicht- 
ichuldigft durchgeführt. Keiner lebte mehr, dazu hatte der „Rächer“ 
noch zwei Berfonen aus Verfehen erichoffen. Die Regierung ver- 
doppelte nun den Preis auf feinen Kopf, der aljo 20 000 Lire betrug, 
und verſprach 5000 Lire jedem, der einen Helferöhelfer tötete. Aber 
Mufolinos Rachewerk war noch nicht zu Ende; denn er mußte auch 
noch Genugtuung für feine Familie haben, jeine Mutter hatte der 
Schlag getötet, als fie feine Verurteilung vernommen, und ſeine 
Schweſter war an gebrochenem Herzen geſtorben. 

Die Regierung bietet jetzt größere Streitkräfte auf in allen 
Orten, wo die Bürgermeiſter verdächtig ſind, werden beſondere 

13* 


1% Kalabrien: Mufolinos Ende 


Polizeibeamte mit der Leitung der Operationen betemut, zu denen 
man jet auch Truppen binzuzieht. Ende November 1900 hört die 
Polizei, daß Mufolino ſich mit zwei Genofjen auf dem Monte Scifo 
eine Winterhütte gebaut hat. Polizisten, Karabinieri, 50 Mann 
Soldaten umzingeln die Hütte und finden das Neft leer. Tags 
darauf erfahren fie, daß der Gefuchte ſich in Stilo, fiebzig Kilometer 
entfernt, befinde. Am 10. Januar 1901 ift Mufolino wieder allein, 
die bewaffnete Macht hat feine Genofjen aufgegriffen. Nicht lange 
nachher jegt fich ein Ausmanderungsagent mit dem Präfeften in 
Verbindung. Durch gute Freunde erfährt Mufolino, daß an der 
Küfte ein Schiff für ihn bereit liege, das ihn ficher ind Ausland 
bringen würde. Die Regierung wolle ihn entfliehen laſſen, da die 
Jagd auf ihn doch erfolglos bliebe. Mufolino ging auf alles ein. 
Als aber zwei Torpedoboote das verdächtige Schiff anhalten, findet 
man anjtatt des Räubers deilen Bruder. 

Doch wozu weiter noch Einzelheiten erzählen? Als die Regie- 
rung ein Heines Heer aufgeboten hatte und den ganzen Berg Aspro⸗ 
monte umzingeln ließ, verlor Mufolino die Geduld: Er entwich im 
Herbite 1901 und brachte es fertig, zu Fuß auf den Gipfeln des 
Appenin bi3 nad) Urbino in Oberitalien zu fommen. In deſſen 
Nähe wurde er von einem Karabiniere angehalten, er lief davon 
und er würde fich gerettet haben, wenn er nicht über einen Draht 
gejtolpert wäre. Die Karabinieri, die ihn nicht kannten, wurden 
jtußig, als er bei der Verhaftung zornig in jenem Dialekt rief: „Der 
verfluchte Draht hat mich ruiniert!" Seine Ergreifung war alfo 
ein Werk des Zufalls. Am 11. Juni 1902 verurteilten ihn die 
Geſchworenen von Lucca (Toscana) unter Ausfchluß mildernder 
Umftände zu lebenslänglichem Zuchthaus. Eine Talabriiche Jury 
würde ihn freigefprochen haben. Wie e3 heißt, foll der Held des 
falabriihen Volkslieds jetzt wahnſinnig fein. 


Kalabrien: Erbbebenenquöte _ 197 





Eine Erdbebenenquöäte. 


Rom, 6. November 1907. 

Nach dem großen Erdbeben in Kalabrien von 1894 
veranlaßte der Entrüftungsfturm der öffentlichen Meinung die Ein- 
jegung einer parlamentarijhen Unterfuhung 
kommiſſion zur Prüfung der Verteilung der eingegangenen 
Hilfsgelder. Derjelbe Vorgang erneute ſich nad) dem Erd⸗ 
beben von 1905. Am 14. November 1906 ernannte die Regierung 
eine Kommilfion, die ihre Arbeiten anfangs Oktober diejes Jahres 
beendete. AS die legte Erdbebenkataſtrophe kam, verlangte die 
öffentlihe Meinung die Veröffentlichung der Unterftügungs- 
ergebnifje, aber erjt geitern entichloß Jich die Regierung, das o mr i» 
nöjfe Urfundenmerf der in einigen Wochen zulammen- 
tretenden Kammer vorzulegen. Die Blätter find in der Tage, heute 
ihon einige belehrende Auszüge zu bringen. Der von Anekdoten 
gemwürzte Bericht ift für die Piychologie des italienifchen Abge or d— 
neten im allgemeinen und des kalabriſchen im bejonderen recht 
bedeutjam. Abgeordnete und deren Großmähler, al3 Provinzial- 
abgeorönete, Bürgermeijter und Beigeordnete ließen e3 an feiner 
Preſſion fehlen, um die Wohltätigfeitägelder in die Taſchen ihrer 
Freunde zu leiten. Das ift den Lejern in der deutichen Heimat 
nicht8 Neues mehr; denn es wurde auf Grund von Berichten unab- 
hängiger italienifcher Zeitungen fchon mitgeteilt. Neu ift, daß auch 
Regierungsbeamte, zum Teil aus moraliſcher Feigheit, ich 
an dem lukrativen Gejchäfte beteiligten. Dazu kam, daß gerade die 
Reichen in den Eröbebengegenden am meilten nach Unterjtügung 
jchrieen und jich ſogar Baraden bauen ließen, wenn ihre Häufer intaft 
geblieben waren. Syn einem Orte bedurfte man eines Raumes, um 
Baumaterial, Deden, Zelttuch uſw. bergen zu können. Ein Guts- 
beſitzer ftellte ihn Eoftenlos zur Verfügung, als aber eines Tages feine 
enormen Unterjtügungsgefuche für angebliche Beichädigung feiner 


’ 


198 Kalabrien: Erdbeben und Charitas 





Bauernwohnungen abgewieſen wurden, verlangte er die Zahlung 
einer Miete von zehn Lire täglich. Ein anderer reicher Bürger ſchrie, 
als ein Proviantzug angekommen tar, jo lange um Berüdfichtigung, 
daß er nur durch Übergabe einer Kognakflaſche beſchwichtigt werben 
fonnte. „Es ift natürlich”, fagt die Enquäte, Daß die Hono— 
tatioren fih den Löwenanteil fiherten; denn 
fie finden ſich ftet3 in Berührung mit den Be- 
börden; die amdern jmd meit vom Schuß und ihre ſchwache 
Stimme dringt nicht bi3 zu den Ohren der Beamten.” Nicht genug 
damit, dDemolierte man au am Eingang von 
Dörfern einzelne Häufer, um von vomherein Eindrud 
auf das weihe Gemüt des Königs zu maden, falls er 
borbeifahren follte. In einem Hojpital legte man alle Krüppel und 
Kranken der ganzen Gegend zufammen, um fie dem Könige ald Opfer 
des Erdbebens vorzuftellen. Da diefe Dinge mehr oder weniger 
befannt geworden find, fo erklärt es ſich wohl, dag in Romin 
diefem Jahre nur eine einzige Zeitung den 
Mut Hatte, eine Sammellifte für den Erd- 
bebenjhaden zu eröffnen, und jo erklärt e3 
ſich aud, Daß der König dieſes Jahr nit nad 
Kalabrien reifte. Ihm genügte wohl fchon der Beſuch in 
PBarghelia, den er Mitte Oktober machte. Die demokratiſche 
„Vita“ läßt übrigens durchbliden, daß die Beröffentlichung des 
Enqueteberichts die Regierung nicht weiß waſche. Es gehe nicht an, 
daß fie ihr Nichtstun damit entſchuldige, daß fie die Übeltaten anderer 
denungziere, zumal die fchuldigen Abgeordneten doch alle minifteriell 
geweſen jeien, aljo von der Negierung viel Nachſicht erfahren hätten. 
Die Enquöte habe folglich doch nur die Mitjchuld der Regierung 
eriwiejen. = 


Kalabrien: Naſi und Erdbeben 199 


Rom, 19. Dezember 1907. 

Die Kammer, die ſeit ihrem Wiederzufammentreten fehr 
läffig mar, zeigte ſich in den legten Tagen recht belebt. Freilich 
handelte e3 ſich auch um Lebensfragen — der Sorte von Parla- 
mentarismus, ala welcher der italifche befannt ift. Vorgeftern kam 
und die Kammer kalabriſch. Die kalabriſchen Abge- 
ordneten hängen von den großen Gutöbefißern 
ab. Diefe waren von der Regierungsengquöte 
über die Verteilung der Erdbebenfonds gebrand- 
markt worden, folglich mußten fich die Abgeordneten gegen die 
Beamten, welche die böfe Enquöte angerichtet Hatten, enträften, 
wenn ihnen ihr Abgeordnetenmandat lieb war, und folglich) mußte 
den Abgeordneten zuliebe der Premierminijter die der Wahrheit 
jchuldigen Beamten desavouieren. Eine Komödie, die man zu den 
übrigen legen kann. 

Komödie war aud) die geftrige Nafi-Situng. Die Mehr⸗ 
heit der Kammer hätte ſich gern, wie jchon drahtlich gemeldet, an der 
Enticheidung darüber, ob der Senatspräſident Recht Hatte, als er 
Naſis Immunität ignorierend die Verhaftung anordnete, borbei- 
gedrückt. Aber die öffentlihe Meinung Staliend namentlih im 
Norden ift moralifch und will ihr Opfer haben; außerdem fürchtete 
die Regierung den Senat. Denn der ift zu allem fähig. Hätte die 
Kammer Naſis Verhaftung für ungeſetzlich erklärt, jo hätte er einfach 
den ganzen Naſi⸗Prozeß abgebrochen und die Akten der Kammer 
zurüdgefchidt. Das wollte aber Giolitti nicht, und da er der Herr ift, 
wurde Naſis Verhaftung beftätigt. Bon Recht? wegen. Ein fonder- 
bares Schaufpiel war's, wie die Mehrheitsahgeordneten fich mit 
juriſtiſchen Spisfindigkeiten herumfchlagen mußten. Die einzig 
richtige Note brachte dverradifale Abgeordnete ®uerci, 
der gerne als freiwilliger Komiker auftritt, um den alten Hofnarren 
gleich deſto bitterere Wahrheiten fagen zu können. Seine Rede 
gipfelte in deutlichiten Anfpielungen auf den Exgouverneur von 


200 Kalabrien: Seltiame Kammerrede 


Erythrea, Martini, der als Vorgänger Nafi3 im Unterrichtd- 
minifterium auch recht unfchöne Dinge begangen haben ſoll, aber 
nicht verfolgt wurde, der Fürzlich zum Beifpiel von einem joziali- 
jtiichen Blatte Neapel3 unlauterer Beeinfluffung des Börjenfpiels 
bejchuldigt wurde, aber es vorzog, zu leiden, ohne zu Hagen. U. a. 
jagte Guerci: 

N afi konnte mit feiner Intelligenz, mit feiner hohen Stellung 
ganz andere Mittelund Wege finden, um Geld 
zu machen. Cr konnte ſich zum Beiſpiel zum Senator und als 
jolcher zum Präfidenten anonymer Handelsgefellichaften ernennen 
lallen, deren Bankerott nicht gerade ihn mit Notwendigkeit ins 
Gefängnis gebracht hätte. Er hätte Konſulent werden können, ohne 
je ein Urteil zu fällen. Er hätte Goldminen in — Benadir erfinden 
fönnen. (Anfpielung auf Martini.) Statt dejjen war er jo dumm, 
den Weg der Unterjtügungen zu wählen, und blieb, das iſt Die Wahr- 
heil, in der größten Armut. Wäre er reich, fo hätte er jegt ein Heer 
bon Advokaten, deren Rinnbaden fie zu ftarker Eßluſt qualifizieren, 
oderermwäre ſogar Rommifjar einer Enquöte 
über die Fonds des kalabriſchen Erdbebenzc!!!). 
Aber gegen Nafı führt man die öffentliche Meinung ins Teld. Ya, 
jo fagten viele Abgeordnete, wenn die nicht wäre, jo würden wir für 
Naſi ftimmen. Ä 


Das Erdbeben vom 28. Dezember 1908. 


ie Kunde von der unglaubliden Kataſtrophe, der 

Meffina und Reggio Kalabria famt einer zahllofen 
Reihe von Städten und Dörfern in der Umgegend von Meilina und 
der Südküſte Kalabrien zum Opfer fielen, wurde nad) Deutichland 
morgens de3 28. Dezember gegen elf Uhr injofern vorbereitet, als 
die Erdbebenwarten von Heidelberg und Hohenheim ein heftiges 
.. Erdbeben meldeten, deilen Herd in einer Entfernung von 1300 big 
1400 Kilometer liege und wohl in Südfalabrien zu fuchen fein werde, 

Rom erfuhr ebenfalls erſt im Laufe des Bormittags, daß ein 
beftiges Erdbeben in Kalabrien ftattgefunden habe. Erſt um Halb 
zehn Uhr abends verlautete, daß Meſſina Halb zerftört fei; und erft 
nachts ein Uhr erfuhren Eingemeihte, daß Meſſina brenne und in der 
Gewalt von Plünderern fei. Die völlige Zerftörung Meffi- 
nas meldete nad) Rom erjt mittags des 29. Dezember ein Privat- 
telegramm de3 fozialiftiichen Abgeordneten De Felice aus Catania, 
ſpät abends am jelben Tage erklärte dann der fozialiftiiche „Avanti“, 
daß auch die völlige Zerſtörung Reggio Calabrias amtlich 
beitätigt fei. So verftärkte fich die Meinung, daß die Regierung 
mehr wiſſe und aus Furcht noch zögere, die ganze Wahrheit zu fagen. 
Einen guten Eindrud machte e3, al3 bekannt wurde, daß nachmittags 
das Königspaar nad) Meſſina gereift fei. 

Am 1. Januar 1909 berichtete der Kommandant des Kreuzers 
Herthaüberden Verlauf des Erdbebenzg, deſſen erjter 
Stoß am 28. Dezember morgens fünfeinhalb ohne jede vorherige 
Ankündigung erfolgte. Er genügte, um die ganze Stadt in einen 
Trümmerhaufen zu verwandeln; ed erhob fich über der 


202 Meſſina: Die Katafttophe von 1908 


ganzen Stadt eine ungeheure Staub molfe, und zugleich brachen 
an mehreren Stellen Brände aus, wovon fich der bedeutendfte 
in einem am Rathausplate belegenen Haufe entwidelte. Das Teuer 
griff von diefem Haufe aus auf weitere über, ftedte das Hotel 
„Trinacria“ in Brand und ſprang von hier auf das Rathaus über, 
wo e3 da3 zujammengeftürzte Innere im Laufe des nächften Tages 
völlig verzehrte, wodurch ſämtliche Urkunden des Archivs der Stadt 
vernichtet wurden. Bei den Rettungsarbeiten an diefer Brandftätte 
beteiligten fich in hervorragender Weife der Kapitän und die Mann- 
ſchaft des deutſchen Bergungsdampfers „Salvator”. Ihr Verhalten 
erregte allgemeine Bewunderung und dieſes umſomehr, als zu jener 
Zeit andere Hilfe noch nicht zur Stelle war. Es waren nämlich durch 
den Erdſtoß ſämtliche Raſernen eingeſtürzt und ein Teil 
der Truppen darunter begraben. Sämtliche Straßen waren von den 
eingeftürzten Häufern durch ungeheure Trümmerhaufen erfüllt. 
Wenn auch fichere Zahlen nicht gegeben werden können, jo jchäßt 
man doch die Anzahl der unter den Trümmern Begrabenen auf 
mindeftens 60 000 bis 110 000 Einwohner. Im Laufe des folgenden 
Tages fanden fortgejeßt neue Heftige Stöße ftatt, welche die 
Tatkraft des Überbleibjels der Bevölkerung, die ſich anfänglich an 
den Rettungsarbeiten beteiligte, vollftändig lähmten und fie nur 
mit ſtarrem Entſetzen erfüllten. Die Überlebenden leiden an 
Waffermangel, da die Wafferleitungen zerftört find. Das 
andauernde Regenmetter bat die Lage der im Freien kam⸗ 
pierenden, meift nur dürftig Belleideten und Verwundeten weiter 
verichlimmert. Die Hafenkais haben fich ſämtlich um 2—4 Meter 
geſenkt und find zum Teil vom Waffer überjpült. Während des 
Stoßes fam von Often ber eine Ylutmwelle, die die Hafenhalb- 
infel überſchwemmte, aber den im Hafen anlernden Schiffen feinen 
Schaden zufügte, das Dod jedoch zerftörte. Bahnverbindung be- 
jteht nur nody) mit Catania. Der Berfonenverkehr über die Meer- 
enge hat aufgehört, da die kalabrifchen Bahnen ſämtlich zerftört find. 


Meſſina: Goethes Reife 203 


Die jebige Kataftrophe erinnert an die vom 5. Februar 1783. 
Nach den alten Chroniken dauerten damals in Meſſina die Stöße 
zwei Stunden lang. Die Faſſade der Kathedrale ftürzte ein, ebenſo 
. die der Kirche Sarı Giovanni di Licata, ein Teil des Rathaufes und 
das ganze Viertel Boccetta, die heutige Univerjitätsftadt. Die Zahl 
der Opfer betrug über 12 000. Die Stadt Catania, die neunzig 
Jahre vorher ebenfall® von Erobeben heimgejucht und dabei von 
Meſſina unterftügt worden war, revandjierte ſich, indem fie im 
Verein mit den Malteferrittern Lebensmittel und Kleidungsftüde 
ſchickte. Die Not dauerte über ein Jahr, da alle Geidenfabriten 
zerftört waren, welche die Hauptquelle des Reichtums der Stadt 
gebildet Hatten. König Ferdinand gewährte Steuerfreiheit 
auf zwanzig Jahre und fchuf am 5. September 1784 den Freihafen. 
Infolge des Unglüds z0g die Bevölkerung von den Höhen zum 
Strande, wo fie zunächſt in Baraden wohnte. 

Über das Erdbeben von 1783 berichtet bekanntlich auch 
Goethe in feiner „Stalieniichen Reife”. Am 8. Mai 1787, aljo 
bier Jahre nad) dem Unglüd, gelangte er von Taormina aus nach 
Meffina und empfing fofort „beim Eintritt den fürchterlichſten 
Begriff einer zerſtörten Stadt”. 

Donnerstag den 10. Mai berichtet er von dem unjeligen Meſſina: 
„Einzig unangenehm ift der Anblic der fogenannten Balazzata, 
einer fichelfürmigen Reihe von wahrhaften Baläften, die wohl in 
der Länge einer Biertelftunde die Reede einfchliegen und bezeichnen. 
Alles waren fteinerne, vierftödige Gebäude, von melden . 
mehrere Vorderfeiten bis aufs Hauptgefims no) völligftehen, 
andere bi3 auf den dritten, zweiten, erjten Stod heruntergebrochen 
find, fo daß dieje ehemalige Prachtreihe nun aufs mwiderlichite zahn- 
lückig erſcheint und auch Durchlöchert; denn der blaue Himmel ſchaut 
beinahe durch alle Fenſter. Die innern eigentliden 
Wohnungen find ſämtlich zufammengeftürzt. 
An dieſem jeltiamen Phänomen ift Urfache, daß, nach der von 


204 Meſſina: Das Erdbeben von 1783 


Neichen begonnenen architektoniſchen Prachtanlage, weniger be- 
güterte Nachbarn mit dem Scheine metteifernd, ihre alten, aus 
größeren und Heineren Flußgeſchieben und vielem Kalf 
zujammengefneteten Häufer hinter neuen, aus Duaderftüden auf- 
geführten Vorderfeiten verftedten. Jenes an jich ſchon unfichere 
Gefüge mußte, von der ungeheuren Erjchütterung aufgelöft umd 
zerbrödelt, zufammenftürzen ... Daß jene aus Mangel naher 
Bruchſteine fo fchlechte Bauart hauptſächlich ſchuld an dem völligen 
Ruin der Stadt geweſen, zeigt die Beharrlichfeitfolider 
Gebäude. Der Jeſuiten Kollegium und Kirche, von tüchtigen 
Duadern aufgeführt, jtehen noch unverlegt in ihrer anfänglichen 
Tüchtigfeit. Dem fei aber, wie ihm wolle, Meſſinas Anblid ift 
äußerft verdrießlich und erinnert an die Urzeiten, mo Sikaner 
und Sikuler diefen unruhigen Erdboden BERIEEN und die weſtliche 
Küfte Siziliens bebauten.” 

Noch einen anderen Bericht aber aus dem Jahre 1783 felbft 
teilt die „Kleine Preſſe“ mit, der aus einem alten Buche 
ftammt, das in Straßburg erjchienen ift und fich betitelt: „Hit o- 
tiijhe und geographiſche Beſchreibung von 
Meſſina und Kalabrien und meteorologijde 
Beobadhtungen über das Erdbeben, welches 
diefe Stadt und Landſchaft den 5. Hornung 
173 vermwüjftet hat.” Es heißt da u. a.: 

„Neapel vom 15. Hornung 1783. Die Neapolitaniiche Fregatte 
©. Dorothea bradite geſtern die betrübteſten Nachrichten von 
dem Unglüd der Stadt Meſſina. 

Den 5. ds. Mt3. um 1 Uhr nachmittags, Hat das fürcchterlichite 
Erdbeben, das ſich jemals ereignet hat (und deſſen ebenjo heftige 
ala oft wiederholte Stöße noch bei der Abreife der Fregatte, drei 
Tage hernach fortdauerten) dieſe berühmte Stadt faft gänzlich zu 
Grunde gerichtet. Wirklich zeigt fi) dem Auge nur ein Haufen von 
Trümmern, unter welchen eine große Anzahl der Einwohner, die 


— — 


Meflina: Das Erdbeben von 1783 205 


man borderhand auf zwölf Tauſend ſchätzt, begraben liegen. Der 
Königliche und Erabiichöflihe Palaft, das Lazarett, ein Teil der 
Bitadelle, die vornehmften öffentlichen Gebäude, die meiften Kirchen, 
Klöfter und Häufer, wie auch die ganze Palazzata, oder der halbe 
Mond von Paläften, die um den Hafen herum ſymmetriſch gebaut 
waren und die Schönste Zierde dieſer unglüdlichen Stadt ausmachten, 
find alle in den Abgrund verfchlungen worden. Was das Erdbeben 
verichont Hatte, wurde vom Teuer verzehrt, welches man den 5. und 
folgenden Tag nicht zu löſchen vermochte. 

Meſſina und feine umliegende Gegend hat nicht allein die Ver- 
wüftungen diejer jchredlichen Erſchütterung erfahren; auch auf das 
gegenjeitige Ufer der Meerenge hat fie jich erftreckt und gleiche Ver- 
wüſtung angerichtet. Die Städte Neggio, Palmi, Bagnara, Oppido 
und viele andere Orte des jenfeitigen Kalabrien, bejonder3 Scilla, 
Catanzaro und Monteleone haben das nämliche Schichſal erfahren. 
Man kann die Anzahl der vielen tauſend Menſchen, die unter den 
Trümmern begraben worden find, noch nicht genau beftimmen. 

Sogar bis Neapel hat man eine Bewegung gejpürt; jie war aber 
jo ſchwach, daß kaum der achte Teil der Einwohner fie bemerken 
fonnte. 

. Schon zählt man unter den Toten in Mejfina den 9. Bretel, 
Hoflänbif chen Konſul, den reichiten Hamburger dieſer Stadt (alſo ein 
ganz ähnlicher Fall wie 19081); in Seilla den Prinzen diefes Namens, 
der erjoff, da er fich in einer Barke retten wollte, Die aber bon einem 
Felſen zertrümmert wurde. 5 Ä 


Im weiteren laſſe die aus meiner Feder ſiammenden 
Berichte folgen. 


206 Meffina: Konfufion 


| Don Rom nah Palem. 
An Bord der Solinunto, 30.31. Dezember 1908. 


Aufregung auf dem Poftamt in Rom, gefteigerte Aufregung 
auf dem Bahnhof, Chaos im Schnellzug nad) Neapel. Faſt nur 
olivenfarbige, fchwarzbraune Menſchen keilten fich in fürchterlicher 
Enge. Kalabrejer und Sizilianer waren e3, die nad) der Heimat 
jtrebten, um fih vom Schichſal ihrer Verwandten zu überzeugen. 
Ungft in den Augen und im verzerrien Mund, der aber nicht ftill 
jteht, denn der Süditaliener muß jeine Angſt ausflagen. Ein Offizier 
in Zivil fißt mir gegenüber und fpricht von dem Heldentum ber 
Soldaten, von denen jebt wieder alles erwartet wird. Mit 
Bitterkeit jagt er: „Seht wird die Armee gefeiert, aber die vom 
Unglüd betroffenen Autochthonen, die jetzt Feine Hand rühren, 
fennen im Glüd keine Dankbarkeit, und kommt dag Manöver, ſo 
geben fie ihren Helfern nicht einmal ein Glas Wafjer. Und mas 
noch ſchlimmer ift, fie wählen antimilitariftiiche Wbgeorönete.” Der 
Dffizier hat recht. Seine Anficht ftimmt mit den Beobachtungen 
überein, die ich 1905 während des Erbbebenfchredens in Kalabrien 
madhte. 

Unterdeffen wurde der graue Himmel ſchwarz, auch .er jchien 
zu trauern ob dem unfaßbaren nationalen Unglüd. Sm Neapel 
weinte er jogar ſchmutzige Regentropfen. Das erſte war, mich an 
amtlicher Stelle nad) Beförderungsmitteln umzuſehen, die mich 
dem Zentrum der Kataftrophe nähern follten. Wohin ich aber kam, 
ſchien alle außer Rand und Band. Konfufion auf der ganzen 
Linie. In einem Dampfſchiffahrtsbureau (italienifch) hatte ſogar 
ein höherer Beamter einen gelinden Tobfuchtsanfall. Es dauerte 
lange, bis ich mich endlich überzeugte, daß für Private die Fahrt 
nad) Meſſina ausgeſchloſſen fei, falle man nicht Zufallsglüd hatte. 
Zudem nahm mid) die Suche nach den deutichen Geretteten aus 
Meſſina jo in Anſpruch, daß ich die Gelegenheit verfäumte, den 


Meſſina: Belagerungszuftand 207 


Norddeutſchen Lloyd-Dampfer „Therapia” zu nehmen. Als ich 
auf ihn aufmerkſam gemacht wurde, war es zu fpät. Zwei Stunden 
nach der Abfahrt! Achtzig Verwundete deuticher Nation follten dem 
„Don Marzio“ zufolge aus Meffina angelommen fein. Im deutichen 
Hofpital liegt aber, wie mir Schweiter Adele jagt, nur eine Dame, 
die Frau des deutichen Pfarrerd. Sie dürfte kaum auffommen. In 
einem anderen Hofpital liegt Herr Bogeljang, der feine ganze 
Familie verlor. Die Frage nach den übrigen beantworten die 
Landsleute, die ich angehe, mit Achlelzuden: „Nicht? heraus- 
zubtingen, alle geifteswirr, nicht? am Leibe. Wird lange dauern, 
bis fie imftande find zu fprechen!” Ich treffe den Vertreter des 
Norddeutichen Lloyd. Er ift ftolz auf den Kapitän der „Therapia”, 
der geftern auf der Fahrt nach Konjtantinopel in Meffina auf eigene 
Smitiative ftoppte und ſoviel mie möglich an Bord nahm, was krank 
und elend war, um e3 nach Neapel zu bringen.. Dort erfuhr man 
erit auf großem Ummege von dem Routenmwechjel der „Iherapia”. 
Das ruffiiche Kriegsſchiff „Makarow“ telegraphierte die Nachricht 
nad) Malta, von dort ging fie nach Bremen, und Bremen drahtete 
zur Golfftadt. „Und was fagte der brave Kapitän?” Die Antivort 
lautet: „Die Wirklichkeit in Meffina ift ſchlimmer als die ſchlimmſten 
Zeitunggmeldungen!” Auf der Redaktion des „Mattino” wird mir 
das beftätigt und hinzugefügt, daß einige Deutiche von Meſſina die 
Zahl der Opfer auf 110000 (!) ſchätzen. Auch die Kollegen des 
„Mattino“ Toben die Soldaten, die fich bei dem Transport der nach 
und nad) eintreffenden Verwundeten al3 zarte Pfleger ermwiejen. 
Gegen Abend ging’3 zum Hafen. Belagerungszuftand 
oder Krieg fchien dort zu herrfchen. Auf dem kurzen Weg vom Hafeit- 
palaft bi3 zum. Dampfer, der fonft die Fahrt nach Tunis macht, 
Spaliere von Zollfoldaten, Matrofen, Infanteriften, Karabinieri, 
Überall wird man angehalten, ausgefragt. Someit das Auge reicht, 
fieht man auf den Kais nur Soldaten und Gendarmen! Auf dem 
Schiffe dreht fich natürlich die Unterhaltung mır um die Kataftrophe. 


208 Meſſina: Augenzeugen 


Ein Leutnant, der Augenzeugen geiprochen hat, fagt, das merf- 
würdigſte jei, daß Meflina, vom Meer aus gejehen, kaum verändert 
Scheine, da von den Häufern der berühmten Palaftitraße (palazzata) 
jeltiamermeife die Faſſaden ftehen geblieben feien. Augenzeugen! 
Die erften Berichte von ſolchen bringt die Prefje Neapels. Zunächſt 
handelt e3 ſich um zwei Neifende, die in der Nacht vom 27. auf den 
28. Dezember mit der Eifenbahn von Neapel in der Richtung nad) 
Reggio fuhren. Der eine erzählt: 

SnTropea find wir alle um 5 Uhr 45 Min. durd) eine plöß- 
fihe Bewegung gemwect worden. Zuerſt legte man der Störung 
feinen großen Wert bei, aber bald gaben herzzerreißende Schreie, 
die durch die finftere Regennacht drangen, Aufflärung. Der Zug 
jchlich bi Palm ii, etwa 40 km vor Reggio. Es zeigt jich der fahle 
Schein der Dämmerung. Wir jehen, daß die meiften Häufer der 
Stadt zerftört find. Aus den Trümmern ertönen Jammerrufe und 
Geufzer. PVierzig Soldaten irren umher, um zu helfen. Aber. e3 
find zu wenige. Einer von ihnen will eine Frau mit zwei Kindern 
retten. Eine Mauer fällt um und erfchlägt ihn. Unterdeſſen ſchickt 
der Bahnhofsinſpektor eine Majchine zur Relognoszierung aus. 
Dieje kommt nach zwei Stunden zurüd, und wir fahren nach Bag- 
nara meiter. Die Ortichaften, die wir auf der Fahrt paflieren, 
jind mehr oder weniger Ruinen, Seminara ift zeritört und 
Bagnara eriftiert nicht mehr. Ein Karabinieri-Feldivebel mit 
zwei Untergebenen fucht zu retten, unterftüßt von einigen über- 
lebenden Bürgern. Wir zählen im Nu 58 Tote. Plötzlich jehen mir 
zwei Torpedoboote am Horizont. Sie nähern fi). Die geretteten 
Einwohner eilen zum Strande und werfen ſich auf die Knie. Zwei 
Offiziere fteigen au3 und fragen nach dem Telegraphenamt. Es 
funktioniert nicht mehr. Sie jagen aus, daß Meſſina und 
Reggio faſt ganz vernichtet find. In der Richtung von Mefjina 
erheben ſich Rauchwolten. Die Stadt brennt. Auch die Rumen 
bon Bagnara beginnen zu bremen. 


Meilina: Veränderungen in der Meerenge 209 


Wenn Palmi ein Rätſel war, fo bot ſich Bagnara als den Gipfel 
des Unbegreiflichen, al3 einen Haufen von Ruinen. Wir laufen zum 
Strande und wollen mit Barken nad) Sizilien. Aber wir können 
ven Schiffern hundert, zweihundert Lire bieten, fie jchütteln ftumm 
den Kopf. Sie jind betäubt, fie verjtehen gar nicht, was wir wollen. 
Zwei unſerer Mitreifenden wollen zu Fuß mweiter. Nachdem fie 
einen Kilometer gegangen find, ftehen fie vor einem Abgrund; die 
Landſtraße war auch einmal. 

Über diefe Vernichtung der Landftraße habe ich ſchon tele- 
graphiert. General Marazzi befindet ſich fchon über vierund- 
zwanzig Stunden 30 km nördlich von Reggio, ohne einen Schritt 
weiter zu fommen. Zu Lande vermehren e3 ihm die Erörutiche, 
und zu Wafler bietet fich feine Möglichkeit. Der Kommandant des 
Zorpedoboot3 „Spiga” telegraphiert, es fcheine, Die Spibe Des 
italienifchen Stiefels fei mit einem Beil ſenkrecht abgehauen worden. 
Die jo erſchwerte Landung wird noch durch die hochgehende See 
erichwert. Zu alledem kommt, daß da3 Erdbeben den Untergrund 
der Meerenge verändert hat. Die „Iherapia” nahm von Neapel 
einen Inſpektor des Lloyd mit, der Unterfuchungen anftellen ſoll, 
inwieweit die Veränderung die Großſchiffahrt bedroht. 


Das tote Meffina. 


Palermo, 31. Dezember 1908. 
Aus Holbeins „Totentanz”, aus Bußpjalmen, aus Schillers 
Wort von den Elementen, die das Gebild der Menichenhand haffen, 
webte ſich mir auf der Fahrt nach dem ſikuliſchen Eiland eine makabre 
Symphonie zufammen, die mein geiftiged Ohr ftetig umſummte. 
Ich kannte fie jehr gut, die beiden fo jäh Dahingefchiedenen: Reggio, 
die lachendſte Stadt Stalienz, die Königin Kalabrienz, und Me f- 
jina, la regina del Faro, die Königin der Meerenge. Zuletzt 
Zadher: Im Lande des Erbbebens. 14 


210 Meffina: Seine Geſchichte 


ſchaute ich fie, zwei Jahre jind’3 her, im Sommerglanz, wo die Farben⸗ 
pracht des Baum- und Waldſchmucks am reichiten, dag Blau des 
Meeres am tiefjten ift und das Sonnenlicht rofigen Schimmer zeigt. 
Und durchduftet waren die beiden Stadtperlen von den Gärten, mo 
Ricinus, Palmen, Opuntien, Orangen, Zitronen, Rofen und 
Hunderterlei andere Blumen um den Preis der Schönheit ftritten. 
Nie vergeſſen werde ich auch die abendliche Fahrt auf dem Fährboot, 
al3 der Atna in blaffem Purpurmantel huldvollſt herasfchaute und 
fein altes Herz an der Schönheit dort unten labte. Welch ſchöne 
Lage hatte Meſſina, die amphitheatraliich von duftigblauen Höhen 
und grünen Wäldern gefrönte Stadt! Dabei war fie regelmäßig 
gebaut in Form eines Parallelogramms und Iroß der Regelmäßigfeit 
Ihön. Dazu hatte fie Straßen, die mit denen von Catania wett- 
eifern konnten, jo die Palazzata, ihr parallel den Corso Garibaldi, 
der den Mittelpuntt abgab für den eleganten Verkehr. Auch die 
Brunnen der Stadt waren berühmt. Und nun erft das Hafenbild 
und die malerijchen Spazierwege um die Stadt herum, die reizvolle 
Blide auf die Talabriiche Küfte gewährten! Und heute? Alles 
verfunfen. Der Fluch des unficheren Bodens. 

Skeptiker würden ſich wohl damit tröften, daß fich Städte wie 
Menſchen an alles gewöhnen. Wahr ift freilich: Meifina ift reich 
an Prüfungen geweſen, das erzählt ung fchon feine Geſchichte. 
Griechen aus Kymae oder Narier gründeten Zankle, die Sichelftadt, 
die jchon früh jo bedeutend war, auch als Hafen-Bollwerk und 
Emporium, daß fie den Neid der Nachbarn mwedte. 493 v. Chr. 
begann daher ihre LXeidenzzeit, al3 der Tyrann von Rhegium, 
Anarilas, fie mit Gewalt einnahm und nad) feiner urfprünglichen 
Heimat Mefjena nannte. 405 wurde fie Zankapfel zwilchen dem 
Karthager Himilfo und Dionyfius von Syrakus, und der erftere 
zeritörte fie, um dem Gegner einen Stützpunkt zu tauben; 310 v. Chr. 
trat gegen jie als Zeritörer Agathofles von Syrafus auf. Nach deſſen 
Tode fam neuer Graus. Die kampaniſche Bejabung der Marsſöhne 


Meſſina: Peſt und Cholera 211 


(Mamertiner) vertrieb die Bürger, raubte deren Frauen und 
begründete eine eigene Herrſchaft. Als diefe ins Wanken geriet, 
riefen fie, wie befannt, die Römer gegen die Karthager zu Hilfe und 
veranlaßten jo den Ausbruch des zweiten punifchen Krieges. Die 
Römer nahmen 264 von der Stadt Beſitz, die nun 230 Jahre lang 
in Ruhe blieb. Aber 35 v. Chr. erſchien Oftavian und beftrafte fie 
dafür, daß jie Pompejus Schuß und Schirm gewährt hatte. Eine 
faft neunhundertjährige Periode des Friedens folgte nun, bis 
Meſſina 831 von den Sarazenen verheert wurde; 965 kam der Fati⸗ 
mide Achmed, nachdem er in einer Seejchlacht in der Meerenge die 
Flotte der Oſtrömer vernichtet hatte. 1190 waren es die frommen 
Kreuzfahrer unter Richard Löwenherz, die ihre Gottjeligfeit duch 
Plunderungswut und Zerſtörungsluſt bewieſen. Das größte Leid 
erfuhr die Stadt aber zur Zeit Ludwigs XIV. Zwei Parteien, die 
„Merli“ (Adligen) ftritten mit der Pleb3 (Malvezzi). (Ein Schneider 
hatte die Merli durch ein Bild verfpottet, worauf die Fehde auf- 
geflammt war). Gegen den reaktionären ſpaniſchen Vizekönig 
Gonzaga rief das Volk den Sonnenkönig zu Hilfe. Ex ſchickte auch 
eine Flotte, zog jie aber nad) vier Jahren (1678) wieder zurüd. Die 
der jpanifchen Grauſamkeit überlajfenen Bürger wanderten darauf 
in der Mehrzahl nach der Provence aus, und die Einwohnerzahl ſank 
von 120 000 auf 15 000. Kaum hatte jich das vielgeprüfte Gemein- 
weſen wieder erholt, jo half die böfe Natur dem Zerſtörungswerk 
der Menjchen nad. Die Best forderte 1743 40 000 Opfer, und 
vierzig Jahre ſpäter fam das große Erdbeben, das die Stadt 
vernichtete. Die Menſchen jchufen dann wieder Ungemad), indem 
lie al3 Vertreter der neapolitanifchen Ordnung die Meſſineſen, die 
fih 1847 freigemacht hatten, 1848 durch Bombardement zur Raijon 
brachten. Dann feßte die Natur wieder ein: 1854 mit der Cholera 
(10 000 Opfer), 1887 nochmals mit diefer Krankheit, 1894 mit dem 
Erdbeben und fchlieglich jetzt mit der dreifachen Kataftrophe der 
entfejlelten Elemente Erde, Waller und Teuer. 
14* 


212 Meſſina: Kunftgejchichte 


Meffina war einmal. Manche Kunftliebhaber erichauern 
oft, wenn fie fich vorftellen, die italienischen Weiheftätten der Kunft 
fönnten einmal bedroht fein. Nun, Meſſina war feine Kunftftadt 
eriten Ranges. Aber fie war doch auch mit der Kunft verfnüpft und 
darum vielen wert. In ihr ftarb Antonello da Meſſina, der meift 
in Venedig ſchuf und flandrifche Kunſt und Oltechnik nach Stalien 
verpflanzte (1493); in ihr befand ſich das Grab Caravaggios, des 
großen Naturalilten, den erjt die moderne Zeit wieder gegen die 
Berläfterung durch frühere Kunftbrahminen in Schuß nimmt. Auch 
jein Schüler Mario Menitti (gejt. 1640) fand in Meifina feine lebte 
Ruheſtätte. Selbſt der Kunſt Michelangelo begegneten wir bier 
in feinem Schüler Montorjoli aus Florenz. Und dann der Dom! 
Er war normanniſchen Uriprungs und ein großartiges Monument, 
da3 die vandaliſchen Reftaurationen von acht Jahrhunderten nicht 
zu zeritören vermocht hatten. Noch leuchteten bis auf die legten Tage 
die alten herrlichen Mofaiten, der polychrome Marmor, die phan- 
tafiereihen Basrelief3! Noch ragten die ſechsundzwanzig Granit- 
fäulen, die dem antiken Neptunstempel entftammten, der am Strande 
geftanden. Und vor dem Dom der herrliche Brunnen Montorfolis, 
der den Ruhm des mythologiſchen Stifters der Stadt, Orion, pries, 
und die Reiterftatue Karla III., welche die Spanier 1678 au3 der 
größten Glode der verwülteten Stadt gießen ließen. Auch um 
andere, Heinere Kirchen [chmerzt uns der Verluſt Meſſinas, namentlich 
um ©. Andrea, two Caravaggios „Ecce Homo“, und um San 
Niceolo, mo da3 Antonello-Pradtbild „St. Nikolaus in der Glorie” 
hing. Bon demjelben Meifter befaß das Museo Civico auch das 
fünfteilige Altarwerk zu Ehren de3 hl. Gregor. 

Meilina war einmal! Wie die alten Römer über eine zerjtörte 
Stadt den Pflug führten und Salz ftreuten, jo wird wohl unſere 
hygienische Zeit, um dem Ausbruch einer Epidemie zu fteuern, 
ungelöjchten Kalk über Meſſinas Weichbild ausgießen. Was find 
die Trümmer von Pompeji gegen ein ſolches Bild des Sammers! 


Reggio Calabria: Geichichte 213 


Das tote Reggio Calabria. 
„So wandert er am leichten Stabe 
Aus Rhegium, des Gottes voll!“ 

Auch Reggio war. Die Stadt des Ibykus! Unvergeßlich wird 
jedem Reiſenden der Anblick dieſer Stadt ſein, der ſie, von Norden 
kommend, ſah, nachdem er die an Weinbergen und Olivenhainen 
reiche Gegend von Villa San Giovanni paſſiert hatte. Wie thronte 
ſie vornehm und doch zart lieblich über dem tiefblauen Meere, auf 
ein grünes Samtkiſſen gelagert, deſſen oberes Ende Buchen- und 
Eichenmälder jäumten. Freilich) mar das heutige Reggio nicht das 
Rhegion, das der Tyrann Anarilas gekannt und beherricht hatte, 
auch niht dad Rhegium Julii, da3 Julius Cäfar wieder 
aufbauen ließ, nachdem er Bompejus aus Sizilien vertrieben hatte, 
da3 Rhegium Julii, mo de3 Auguftus einzige Tochter, die ſchöne 
Julia, im felbftverjchuldeten Eril ftarb. Aber auch Rhegium hatte 
des Schichſals Wechjel oft erfahren, nicht minder oft als fein jchönes 
Gegenüber ward es im Laufe der Jahrhunderte zerftört. Schon vor 
den PBerferkriegen hatte die Stadt, die das Alter von 2652 Jahren 
erreicht hat, eine große Blüte, die von dem Schüler des Pythagoras, 
dem Geſetzgeber Carondas gefördert wurde. Sie konnte 3000 
Bürger zur Hilfe nad) Tarent [chiden und bejaß zur Zeit des Dionys 
von Syrakus achtzig Kriegsſchiffe. Die Periode der Zerftörung 
begann 280 v. Ehr., als nach der Schlacht von Heraclea zwiſchen 
Pyrrhus und den Römern kampaniſche Söldner Rhegion ein- 
nahmen und zu der Hauptjtadt ihres Brigantenftaat3 machten, der 
garız Großgriechenland auffaugen wollte. Dann nahmen die Römer 
die Stadt ein, die fie 205 züchtigten, weil fie wieder abgefallen war. 
Mittlerweile hatte vor dem marſiſchen Krieg auch ein Erdbeben 
Schaden angerichtet. Mehrere Jahrhunderte Schonzeit famen ala 
Intermezzo. Aber 410 erſchien Mari. Er zeritörte gründlid). 
Die Tempel der Iſis, der Diana, des Serapis und dad Prytaneum 
fielen ihm zum Opfer. Es war feine lebte Arbeit. In der Nähe 


214 Reggio Balabria: Tata Morgana 


von Rhegium fand er feinen Tod.*) Alarichs Rivale in Zerftörungs- 
operationen war 549 Totilas. Dann ward die Stadt wieder ber- 
geilen, bis jie die Sarazenen 918, die Pifaner nad) 1000, die Nor- 
mannen unter Roger und Robert Guiscard 1060 zur blutigen Arbeit 
verlodte. Was jie ungetan gelafjen, vollendete 1210 Friedrich II., 
der Hohenftaufe, und ihm folgte 1282 Peter von Aragonien, der die 
Anjous verjagte. Preihundert Jahre Paufe. Dann febten die 
Sarazenen oder die Türken ein, 1519 Barbanera, 1542 und 1558 
Barbarojfa und 1594 der Talabrefifche Renegat Haffan Cicala, der 
20 000 Bürger als Sklaven fortichleppte. Den Menfchen folgten 
dann die böjen vulfaniichen Gewalten, welche die Erdbeben 
bon 1783, 1894, 1908 ſchickten. 

Die Stadt Hat zu eriftieren aufgehört. Wo find ihre Gärten 
voll balſamiſchen Duft3, wo ihre Paläſte, deren Balkone und Fenster 
die Reifebücher rühmten, weil jie aus dem „Ichönften Architektur⸗ 
ftein der Welt”, dem Syrakuſaner Sandftein, gejchnigt waren? Und 
wer wird noch vom Hafendamm Reggios aus dag Schauspiel der 
Fata Morgana **) genießen, die es jo berühmt gemacht? An 
lauen Sommermorgen ſah man jo die ganze gegenüberliegende Küfte 
von Sizilien in der Luft gejpiegelt mit ihren Kaftellen, Kirchtürmen, 
Schiffen. Mit dem Dom aber fintt eine Erinnerung an die 
Apoftel dahin. An feiner Fafjade war die Stelle der Apoftel- 
geichichte eingemeißelt: „Da wir umſchifften, famen wir nad) 
Rhegium." Der Upoftel Paulus mwar’3 mit feinen Genoffen. 
Im Dom war auch die Paulskapelle mit der Säule, die der Apoftel 


*) Bol. Platend: „Nächtlih am Bufento raujchen.“ 


**) Manchmal, wenn in den Tagen des glühenden Sommers die untern 
Schichten der Luft durchglüht bei völliger Stille de Windes 
Wenige Zoll Hoch zittern, und Strahlen von oberen Schichten 
Dann in die andern dringen, und nun gebrochen, gebogen 
Plötzlich den Boden entfernen, erblidt man ftaunend Ruinen, 
Schlöſſer, Paläfte als Iuftige Bilder der Fata Morgana.” 


Neggio Calabria: Garibaldi 215 





nad) der Legende wunderbarer Weije in Teuer einhüllte, ala die 
Heiden der Diana opferten. Übrigens hat auch Meffina ein 
Andenken an den Apoftel Paulus verloren, die Statue der „Mutter- 
gotted vom Brief" (Madonna della Lettera), der Hauptpatronin 
der Stadt. (Der byzantinifche Gelehrte Konftantin Laskaris (1434 
bi 1501) hatte einen Brief „entdedt”, den die Gottesmutter an die 
Meſſineſen gefchict und den Sankt Paulus aus dem Hebräifchen ins 
Griechiſche überſetzt hatte.) 

Noch eines andern Apoſtels Name war mit Reggio verknüpft, 
der Garibaldis. Ihm zu Ehren hatte man, wie ſchon erwähnt, eine 
ſchöne Straße Corso Garibaldi genannt, in der auch ſein Stand⸗ 
bild ftand. Über der Stadt ragt der Bergrieſe Aſpromonte, deſſen 
mit Tomnendidicht bejtandener Gipfel fait unzugänglicd iſt. Auf 
ihm ward der italienifche Freiheitsheld am 29. uni 1862 von 
General Pallavieini gefangen genommen. Der Held „zweier 
Welten”, der auf Rom Iosmarjchieren wollte, hatte vergebens Blut- 
vergießen vermeiden wollen, einer feiner Freijchärler troßte und 
ſchoß gegen das Berbot auf die italienischen Brüder, worauf diefe 
antmworteten. 

Bei dem Bauernvolf der Umgegend ift jedoch nicht mehr Gari⸗ 
baldi der Held des Aſpromonte, ſondern der legte Brigant Kalabriens, 
Mufolino, gegen den vor jieben Jahren die italienijche Regie- 
rung eine Heine Armee aufbieten mußte. 


Palermo, 31. Dezember 1908. 
— herrſcht lebhaftes Treiben. Derjenige, der nichts 
von * Kataſtrophe weiß, würde durch nichts aufmerkſam gemacht. 
Doch aus einem Dampfer quillt jetzt ein „Zug der Vertriebenen“ 
hervor, wie ihn Hermann im Goetheſchen Epos wohl auch nicht 
ſchauerlicher ſah. Der Himmel, der ſich erheitert hat, kontraſtiert 
grell mit den Leidensmienen der Gequälten, die von Karabinieri 


216 Balermo: Sizilianische Trauer 


geführt, langſam zwei und zwei dDaherjchleichen. Biele find leicht 
verwundet. Es ijt unnüß, mit ihnen zu reden; fie find verftört, 
gänzlich teilnahmslos, Automaten. In der Stadt felbit ftehen die 
Frauen auf den Balkonen, um nad) Neuigfeiten, nach anlommenden 
Flüchtlingen zu ſpähen. Die Läden find halb geichloffen und tragen 
über den Schaufenftern breite Florbänder mit der gedrudten Auf- 
ichrift: „Lutto siciliano“ (Sizilianische Trauer). Auch der Berufs- 
menſch im mir trauert. Voller Ungeduld ftrebe ich nach Meffina, 
ungeduldig möchte ich auch telegraphieren, aber die Regierung hat 
den Draht monopolifiert; die Depeichen werden mit der Boft 
geichidt. Ach fahre zur Station. Gie ift verödet. Der Stationd- 
vorfteher weiſt mich an einen höheren Poliziſten. Als Antwort 
wurde mir: „Um nach Meſſina zu fommen, brauchen Gie einen 
Erlaubnisſchein des Präfekten. Der einzige Weg ift über Catania; 
denn die Linie der Nordküfte ift fünfzehn Kilometer vor Meſſina 
zerftört. Privatreijende werden auch über Catania nicht befördert. 
Aber vielleicht werden die Journaliſten als Amt3perjonen betrachtet.“ 
Und jo jaß ich feft; denn der einzige Tageszug geht nur morgens 
um halb neun. Mio ein Tag verloren. 


Balermo, 1. Januar 1909. 

Geſtern Nachmittag jebte der Plabregen wieder über ganz 
Sizilien ein, wodurch das Rettungswerk in Mefjina nicht gerade 
gefördert wird. Die Trauerkundgebungen nehmen bier zu, Die 
Straßenmwände bededen ſich mit Aufrufen, aus den Fenftern hängen 
umflorte Fahnen halbmaſt. Die Zeitungen bringen faum neue 
Nachrichten und meilt nur neben Klagen über den geringen Depeſchen⸗ 
verkehr, Erzählungen von Augenzeugen. Intereſſant ift darunter 
der Bericht eines Gefchäftsreifenden aus Trient, der n Reggio 
dienftlich zu tun hatte, aber am Abend des 27. Dezember, um fich 
zu amüfieren, nah Meſſina gelommen war. Hier hatte er die 


Meſſina: Die Schredensnacdht 217 


ganze Nacht durchgeſchwärmt und ging um Halb fünf Uhr zum 
Hafen, um die erjte Fahrt des Ferry⸗Bootes zu benutzen. Als er, 
der Abfahrt gemwärlig, ji) über Dad Geländer lehnte, wurde da3 Boot 
bom Meer in die Höhe gehoben: 

Das Land, mit dem wir nod) durch das Tau verbunden waren, 
zitterte; wir hörten Häuſer einftürzen und wurden dam gegen die 
Kaimauer gejchleudert. Ich zog Pelz, Rod und Hut aus, um mich 
ins Waller zu jtürzen. Aber dieſes wid) zurüd, und ein Abgrund 
trennte und vom Lande, dann fchleuderten Riejenmwellen das Boot 
landeinmwärts, und ich kugelte auf das feſte Land, während die Eifen- 
bahnwagen auf der Fähre übereinander gervorfen wurden. Rajend 
vor Angſt lief ich zur Station, die aber fat ganz zeritört war. Eine 
Türe fteht noch; auf ihr fteht: „Stationsvorfteher”. Ich dringe ein, 
falle und greife mit den Händen in eine Lache von Blut und Gehirn- 
maſſe. Eine ſchreckliche Viſion! ch lag auf Leichen, denen die 
Köpfe zerichmettert waren. Zuerſt war ich gelähmt, dann erwache 
ic) und renne wie ein Beſeſſener davon. Ich ftoße auf einen jungen 
Mann, der eine Reiche an den Füßen aus dem Schutt zieht und dabei 
gräßlich „Water, Bater!” fchreit. Endlich hat er den Toten geborgen, 
ala er ihn aber als tot erkennt, ſtürzt er fich mit dem Kopfe gegen 
die nächfte Mauer, um ich jelbft zu morden. Ich fuche ihn daran 
zu hindern; unmöglich, im nächften Augenblide hat der Rahnfinnige 
fein Ziel erreicht. Darob fliehe ich dem Meer entgegen; denn dort 
winkte Rettung, weil die Stadt nicht mehr eriftierte. Leute begeg- 
neten mir, wimmernde Klagemenjchen und Verbrecher, d. h. Leute 
aus Gefindelfteifen, melche die Überlebenden beraubten. Mir 
nahmen fie Uhr und Kette. Dabei riefen jie: „Wir haben alles ver- 
loren, die ganze Samilie, gebt und Geld, gebt und irgend etwas, wir 
müffen leben!” Vielleicht waren auch dieſe Unglüdlichen mwahn- 
finnig. Doch nur wenige Hunderte von Menſchen jah ich, jo daß 
ich mich überzeugte, daß vier Fünftel der Einmohnerjchaft zu Grunde 
gegangen fein mußten. Bald war ich am Ferry-Boot. Für zehn Lire 


218 Meſſina: Plünderungsizenen 





mietete ich einige Matrojen, die mich zu ihm ruderten. So Tonnte 
ich mir Rod und Pelz holen. Wie ich nach der Station zurückkehre, 
werde ich wieder von Gefindel angehalten, das mir zwanzig Lire 
abnimmt. 

Dem Neifenden gelang e3 dann, auf dem Umweg über Catania 
nad) Palermo zu kommen, wo er aber vergebens ein Echiff fuchte, 
da3 ihn nach Reggio brächte, wo er noch feine Mufterkoffer zu finden 
hoffte. Ein höherer Eijenbahnbeamter, der feine Rettung dem 
Umftande zufchreibt, daß er jeine Familie für die Feſtzeit nad) Meifina 
hatte kommen laſſen, weil er fonft im Hotel (alle Hotels find, wie 
ſchon gemeldet, eingeftürzt) gejchlafen hätte, und dem e3 gelang, feine 
ganze Familie aus dem nur halb zerftörten Haufe feines Schwagers 
zu retten, |pricht auch von den wilden Plünderungsbanden, die die 
Eifenbahnitation ausraubten, ohne daß die Karabinieri dem wüſten 
Treiben Halt zu bieten vermochten. Ein dritter Augenzeuge rühmt 
den Heldenmut einer Dienſtmagd, die heimlich in ihr wankendes 
Haus zurückkehrte und Kleider holte, weil fie es nicht mit anjehen 
fonnte, wie die halbnadten Kinder ihrer Herrjchaft im Regen froren. 

Ein Blatt berichtet, daß geftern Najfiaug Trapanimit 
einer Hilf3erpedition in Palermo ankam und 
mitdemnädften Zuge bi3 Rometta, dem jegigen 
Endppunft der Nordbahn, weiterreifte, um von 
dort nah Meſſina zu gehen. Die „Dra” hat auch lange Beſchrei⸗ 
bungen von dem gefährlichen Zuftand in dem ehemaligen Meſſina. 
Bejonderd werde das Rettungswerk durch die Telegraphen- und 
ZTelephondrähte erjchwert, die fih auf den Trümmern zu Neben 
und Schlingen verwandeln. Auch erzählt da3 Blatt von einer 
traurigen Szene im Gefängniffe, mo von dreihundert Gefangenen 
dreißig und von ſechszehn Nonnen fieben gerettet wurden. Weil 
Lebensmittel fehlten, mußte der Direktor alle frei laſſen. 

Abgeordneter De elice, der Sozialift, der am 29. Dezember 
die von mir gemeldete Alarmdepeſche an Giolitti fandte, wurde 


Meflina: Menſchenſchlamm 219 


nach feiner Rückkehr aus Meilina in Catania vom Korrefpondenten 
der „Ora“ interviewt. Was er fagte, ift nicht befonders tröftlich. 
Er war vierundzmanzig Stunden in der „toten Stadt” umbergeirrt, 
ohne viel helfen, aber auch ohne ſich jelbit ftärfen zu können. Al 
er nacht3 erſchöpft zur Station kam, bettelte er vergebens um Brot 
und Waſſer. Auch fehlte es an Sibgelegenheiten: „Wir ließen ung 
auf die Erde nieder. Unterdejlen wurde die Station von einer 
Menge Wahnfinniger erftürmt. Um Gotteswillen, jchreiben, reden, 
fchreien Sie doch in Ihrem Blatte, daß feiner mehr nad) Meſſina 
reifen foll, fie ftören nur! Man braucht Arbeiter mit Haden, Spaten, 
Schaufeln und Freimillige, die bereit find, Verwundete zu trans- 
portieren. Die Züge, die mit Taujenden von Neugierigen ankommen, 
erichmweren die Abreife der Verrmundeten. Die Verwirrung ift gerade 
groß genug. Keiner foll mehr kommen, nur noch Arbeiter und Ärzte. 
Und was das Schlimmite ift, zu den Arbeitämilligen und Rettung3- 
eifrigen gefellt ich der Menfchenfchlamm, die Delinquenten, die aus 
den bäuerlichen Gemeinden der Provinz wie Aasgeier herbeieilen. 
Sie werfen fich auf die Leichen und rauben fie au, fie plündern und 
verwüſten die Läden. Dazu kommen die entiprungenen Gefangenen. 
Sie ftiften fat mehr Schaden als das Erdbeben. Unſere Freimilligen 
zwingen fie aber mit dem Revolver in der Hand, den Raub heraus- 
zugeben, und überliefern fie jelbft den Karabinieri. Meifina ift im 
Buftand der völligften Anarchie. Es gibt feine Regierung, feine 
Polizei mehr. Der Präfekt ift zu Tode matt. Auch weiß man nicht, 
wer das Kommando hat. (Ganz wie in Kalabrien beim Erdbeben von 
1905; Staliend Regierung lernt eben nie.) Die Karabinieri tun, 
was ihnen beliebt, da3 Militär tut, mag e3 will, und die Polizei ift 
mit dem Tode des Polizeipräfelten verſchwunden. Man braucht 
eine Eifenhand, ein Organifationstalent, in deſſen Hand alles 
bereinigt iſt.“ 

Das wird wohl wieder ein frommer Wunſch bleiben, Auch 
1905 hatte man in Kalabrien in General2amberti einen Diktator 


220 Meifina: Kein Paß 


ernannt, aber er wurde bald durch parlamentarifche Einflüffe bejeitigt. 
Ebenfo hatte man für Meſſina einen Diktator in der Perfon des 
römijhen Korp3fommandeur3 ernannt. Gleich nach 
feiner Ankunft mußte er ſich aber zurücdziehen, weil der bisher 
frante Korpsfommandantpon Palermo, Gene- 
tal Mazza, aus kollegialifcher Eiferjucht (?) fofort wieder gefund 
wurde und fich jelbft als zuftändig meldete. Dazu kommt, ganz wie 
1905 in Kalabrien, der Umftand, daß die Zentralregierung am grimen 
Tiſch in Rom auch über das Kleinfte befragt fein will, wo doch 
ſchnelle Entſcheidung an Ort und Stelle die Hauptfache wäre. Daher 
die Monopolifierung der Telegraphenleitungen, die von den Staats- 
depeichen fo belaftet find, daß Preß- und Privatdepefchen gar nicht 
befördert werden können. Daher aud) die Kopflojigkeit. Heute 
mittag verſprach mir das Kabinett des Präfelten einen Paß für 
Meilina und fchrieb ſogar das Formular; heute abend wurde mir 
gejagt, daß das Formular vom Präfekten nicht unterfchrieben werden 
fünne, da mittlerweile von Rom aus die Meldung eingelaufen jet, 
feinen ‚Außenfeiter mehr durchzulaſſen. Auf meine bejcheidene 
Einrede, daß ich der Bertreter eines Blattes fei, das 1905 große 
Sammlungen für die Erdbebenopfer und feinerzeit auch für die 
Bejupopfer zuftande gebracht habe, erhielt ich feine Antivort. Roch 
eins. Wiederum waren ed e ut ch e Hotelier3, die hier in Balermo 
Flüchtlinge aus Meſſina Eoftenlos aufnahmen, während fizilia- 
niſche Hotelbefiger jedem die Aufnahme vermeigerten, 
der Tein Gepäd als Bürgichaft hatte. Und dabei jchwelgen die 
Palermitaner in Manifeften, in Trauerfahnen und Trauerplafaten. 
Was mich betrifft, fo reife ich morgen nad Catania, um zu leben, 
ob der dortige Präfekt auch jo wenig Verſtändnis für die Preſſe hat, 
daß er bei einem Journaliſten, der feine Pflicht tun will, die Aus⸗ 
nahmegeſetze buchitabengemäß anwendet, die gegen das Zuftrömen 
des Geſindels beliebt wurden. Übrigens hat der auögiebige Plap- 
regen die ganze Nacht Tonfequent angedauert. 


Meflina: Dejerteure 221 


Catania, 1. Januar 1909. 

Einen wahren Kampf um einen Plab im einzigen Schnellzug, 
der von Palermo zum Ätna führt, mußte ich beftehen, denn alles 
ftrebt in die Nähe von Meffina auf der Jagd nach vermißten 
Berwandten. Der Zug, der jonft für die Touriften dient (in nor- 
malen Zeiten hat er auch einen Speiſewagen) war jchon eine Stunde 
bor der Abfahrt überfülli. Die jonft jo ſchöne Strede ſchien auch zu 
trauern. Schwere Regenwolken bingen am Himmel. An den 
GStatienen verfrochen fi) die Bauern in ihren charakteriftiichen 
Shawl; denn außer der Näſſe herricht auch die Kälte auf der „jonnigen 
Inſel“. An dem Knotenpunkt, wo die Bahn nah Girgenti 
abgeht, ftieg ein Feldwebel de3 83. Inf.Regts. ein. Er war ſchmutzig, 
ohne Säbel, und fein Geficht jchien eine Mifchung von Dummheit, 
Roheit und Geiſtesabweſenheit. Aufgeregt fchimpfte er gegen 
jeinen Oberften, der ihn als Dejerteur behandeln wollte. „Aber 
nachdem ich meine Familie, die buchitäblich nadt war, gerettet hatte, 
mußte ich fie doch von Meſſina fort- und zu Berwandten in Sicherheit 
bringen. Mich Dejerteur nennen, ich, der ic) allein zwanzig Per- 
jonen, darunter jogar einen alten Profeſſor der Univerfität gerettet 
habe! Da Hört doch alles auf! Ich werde mich beim Kriegs— 
minifter beſchweren!“ Es gab fein Mittel, ihn zu beruhigen. „Sch 
habe jeit dem 28. Dezember nicht gefchlafen!” Nur mit Mühe gab 
er Ausfunft über feine Eindrüde. Er jagte nur, daß beim 83. Regi- 
ment von fünfhundert Mann zwanzig übriggeblieben jeien. Damm 
wiederholte er mehrere Male: „Mein Säbel liegt unter den Trüm- 
mern!” und kehrte dann zu feinem Oberjten zurüd. Als er hörte, 
daß ich nach Meſſina wolle, gejtitulierte er heftig: „Die Linie ift 
unterbrochen. Sch habe in Girgenti nur ein Billet bis Taormina 
befommen.” Der Mann it als Typ für viele bezeichnend. Das 
Unglüd hat alle etwas größenmwahnjinnig gemacht. Sie find jozu- 
jagen ftolz darauf, Zeuge der größten Kataftrophe der Welt gemwejen 
au fein, und werden in dem Ton, wie Iphigenie jagt: „sch bin 


222 Meſſina: Die Soldaten 


aus Tantalus’ Geſchlecht“, noch ihren Kindeskindern ftolz jagen: „Sch 
bin ein Überlebender aus Meſſina!“ Ein Piychologe könnte hier 
bei den Gizilianern viel lernen. 

ch frage den Feldwebelnahden Plünderungsjzenen. 
&r beftätigt fie. Schon um fünf Uhr nachmittags des erften Tages 
habe eine große Menge die Zolldepots geftürmt und Tuchpalete, 
Bündel von Stockfiſchen, Lilörflafchen ufm. maſſenweiſe davon- 
geichleppt. Neben mir ſitzt ein aus Neggio Calabria ſtammender 
Karabinieri-Sergeant. Er ift ruhig, obgleich er jeit fünf Tagen keine 
Nachricht über jeine Familie hat. Ihn bejchäftigt nur der Qual⸗ 
gedanfe, wie er es möglich machen foll, von Catania aus zu feiner 
gewejenen Baterjtadt zurüdzufehren. Bor fünf Wochen hätte er in 
Meſſina jtationiert werden follen; nun freut’3 ihn, daß daraus nichts 
wurde, ſonſt wäre er jebt auch tot. Der Feldwebel ftärkt ſich unter- 
dejjen. Er frißt hörbar. Als er jatt ift, Schweigt er. Und nun kommen 
die übrigen Inſaſſen zu Wort. Für jie ift’3 ausgemacht, daß Meſſina 
nicht wieder aufgebaut, und daß Milazzo an der Nordfüfte 
Provinzialhauptitadt wird. Dann beichäftigt jie der Gedanke, was 
aus den Millionen wird, die in den Staatsbanten, Privatbanten, 
großen Gejchäftshäufern an bar vorhanden waren. Darauf kommt 
Catania an die Reihe. Die Stadt ift überfüllt, e3 ift fein Logis 
zu haben. Und was wird aus den Flüchtlingen, die die Regierung 
doch nicht Monate Yang füttern kann? Und wieder kommt dag 
Thema der Räubereien an die Reihe. Ein Bürger jagt, bei 
einem Snfanterie-Unteroffizier feien 16 000 Lire gefunden worden. 
Der Karabiniere brauft auf, erhält aber die Antwort: „Auch unter 
der Uniform können Schurken fein. Vielleicht war e3 nur in diefem 
Augenblid ungejchidt, die Sache zu veröffentlichen; denn wir dürfen 
die Soldaten nicht ärgern, auf die wir jebt angemwiejen find.” 

In Caſtro Giovanni laden Artilleriefoldaten 30 000 
Konfervenbüchlen ein für Meſſina. Das Abfahrtzfignal ertönt. 
Zum Glüd wird der Stationschef darauf aufmerffam gemacht, daß 


223 Meſſina: Energie des Königs 


auf der eingeleifigen Strede ein Zug jichtbar if. Der Armſte; auch 
er hat, wie alle Beamten, den Kopf verloren. Der Zug fommt, er 
ift vollgepfropft mit Flüchtlingen und Verwundeten. Grauenhafter 
Anblid! Ahnliche Züge treffen wir in Aſſoro, in Bicocca. 
Mit Starker Berfpätung iommen wirin&ataniaan. Der Bahnhof 
ift geftopft voll von Meſſineſen, die ihre Angehörigen erwarten. St 
da3 ein Jubel, ein Umarmen, ein Küffen! Auch vor dem Bahnhof, 
mo Kot und Schmublachen liegen, fteht eine ungeheuere Menge von 
Reugierigen. Und über diefer Aufregung tagt ruhig der Atna im 
fchneeigen Unjchuldsfleid. Er ift heute Nichtraucher. Im Hotel 
angelommen, jehe ich, wie eine vornehme verwundete Dame aus 
Meſſina die Treppe Hinuntergetragen wird. Mein Kellner vergißt 
mid) darob. Erjt nad) dreimaligem Anruf kommt er zu fich und num 
lamentiert er über die grauenhafte Kataftrophe und über den König, 
der jich täglich nur zehn Minuten lang nach Meſſina begebe. ch 
will dem Dann nicht widerfprechen. Die unabhängige Prefje weiß 
nicht genug die Energie des Königs zu preifen, der jelbit die Rettungs- 
arbeiten dirigiert. Mein erfter Gang ift zum Präfelten. Ich treffe 
einen römijchen Kollegen, der darüber Hagt, daß alle Telegramme 
liegen bleiben. Er gibt mir einen Kollegen aus Catania mit, durch 
deſſen Hilfe ich die Erlaubnis zum Beſuche Meſſinas erhalte. Das 
erregt den Neid vieler Bürger im Vorſaal, die auf einen Anjchlag 
zeigen, der befagt, daß auf Befehl des Miniftertums niemand mehr 
nad) der verſchwundenen Stadt reifen dürfe. Seht habe ich auch 
draußen Muße, mir das Stadtbild anzufehen. Die Straßen find 
gefüllt, überall bilden fich Gruppen um Mefjinejen mit verbundenen 
Köpfen, an allen Läden prangen Plakate in Riejenlettern: „National- 
trauer”, an allen Eden leuchten Manifejte, Edikte, darunter eines 
befagend, daß die Bürgerjchaft ruhig fein folle, denn von gejtern 
drei bis heute früh um neun Uhr fei in Catania nur ein leichter 
Erdftoß wahrgenommen worden. Beim Weitergehen jtellt mir 
der Kollege den Abgeordneten Carnaz za dor, der mich deutſch 


224 Meſſina: Streik der Schiffer 


anſpricht und erklärt, zu meiner Verfügung zu jein, gleich darauf 
aber jagt, Telegraphieren wäre für mich wohl undenkbar; auch die 
Briefe erlitten unglaubliche Berjpätungen. 

Nach und nach fammle ih Nachrichten über die Zuftände in 
Meffina. Der Mangel an Rebensmitteln ift grauenhaft. Man 
Tann fie nicht ausladen, weil die Schiffer ſtreiken. Erft um elf Uhr 
abends de3 30. Dezember konnte man ein Depot an der verſchwun⸗ 
denen Fährbootbrüde zuftande bringen und geftern langſam mit der 
Berteilung beginnen. Am meiften drüdt der Wafjermangel. Dann 
fehlt e8 an Tragbahren. Und erjt geftern begann man mit der 
Beerdigung der geborgenen Leichen. Auch konnte man die Tele- 
graphenverbindung erft geftern wieberherftellen und zwar mit einem 
einzigen Apparat, der einen Kilometer vom Bahnhof im Freien 
iteht. Und dabei regnet e3 in Strömen; die Ärzte müffen im Freien 
verbinden, da nur wenige Baraden errichtet werden Tonnten. Der 
Buftand der Bevölkerung, die noch an Ort und Gtelle ift, hat fich 
verichlimmert, dem moralischen Starrktampf der eriten Tage folgt 
jet die von Hunger und Durft genährte Wut. Die Unglüdlichen 
fluchen, was das Zeug halten will; alle wollen auf einen Dampfer 
geführt werden, damit fie wenigſtens troden werden. Einige drohen 
jogar, ſich ins Meer zu ftürzen, wenn man ihnen nicht helfe. Die 
Barkenführer aber find durch das Unglüd jo ftörrifch geworden — 
vielleicht haben fie auch abergläubiiche Furcht vor dem Meere —, 
daß fie jelbit gegen die höchiten Angebote nicht fahren wollen. Ein 
armer Familienvater mit fünf halbrnadten Kindern warf in der Wut 
feine einzige Habe, ein Bündel Wäſche ind Meer, ala er feinen 
Schiffer beftimmen konnte, ihn zu einem Schiff zu bringen. All- 
gemein wird der Rettungseifer der ruſſiſchen Matrofen gelobt, von 
denen fieben verunglüdten. Dan hält fie den italienischen Soldaten 
ala Beifpiel vor, aber diefe haben in Meſſina Befehl, fich nicht eher 
zu rühren, als bi3derGeneralftab in Ro m-— (!)den Opera- 
tionsplan ausgearbeitet und dag Stadtgebiet in Zonen eingeteilt 


Meffina: Piychologie der Maffen 225 





hat. Die Plünderungen dauern an, überall hört man Revolver⸗ 
ichüffe. Auch die Stadtpoliziften, die fich vier Tage lang nicht ſehen 
ließen, jchießen mie verrüdt auf die herrenlofen Hunde, die alle als 
tmwutverdächtig erklärt worden find. “Dabei fteigt die Panik, weil die 
Erdftöße fortdauern. Auch in Reggio, wo fiebzig Gefangene 
ausgebrochen find, foll geplündert worden fein, mobei das Landvolk 
der Umgegend mithelfe, weil, wie fie fagen, der ftrenge Winter die 
Not vermehrt hat. In Meſſina wird das Arbeiten außer durch 
die Plünderer und Müßiggänger durch den peftilenzialifchen Leichen⸗ 
geſtank erfchwert. Viele Verwundete fterben, auch nad) der ärzt- 
lichen Hilfe, weil man fie nirgends. betten oder aus Mangel an 
Transportmitteln nicht in Sicherheit bringen fan. Der König 
ſoll außer fich fein über die allgemeine Kopflofigfeit und den Mangel 
an Drganifation. Er kann feine Erregung, feine Nervofilät 
laum mehr meijtern. Selbft die Höchften leiden; der Erzbiſchof, 
der gerettet wurde, hat vier Tage lang weder zu eſſen, noch zu trinken 
bekommen. Auch die Soldaten und Karabinieri find nervös gewor⸗ 
den. Geſtern nahmen ſie ſechshundert Leichenfledderer feſt und 
daraufhin unterſuchen ſie jeden Paſſanten, der ihnen verdächtig 
ſcheint. Wehe dem, der widerſpricht; ihm wird klar gemacht, daß 
der Belagerungszuſtand erklärt iſt. Die Aufregung wird noch durch 
allerlei Gerüchte geſteigert. So heißt es, die Lipariſchen Inſeln 
ſeien verſchwunden, das Kap Peloro, nördlich von Meſſina, ſei nahe 
daran, verſchluckt zu werden uſw. Auch von Reggio Calabria lauten 
die Nachrichten immer ungünſtiger, weil wegen des hohen Meeres 
eine Landung unmöglich iſt. 

Soeben veröffentlicht der Abgeordnete Aprila de Cimia 
einen offenen Brief an die Behörden von Catania, der in ſeiner 
Art auch) ein Beitrag zur Piychologie der Maffen in Sizilien ift. Er 
konſtatiert zunächlt, daß er, da er feine Landsleute Tenne, an ftarfe 
Übertreibungen geglaubt habe, als die erſten kalaſtrophalen Nach- 


richten aus Meſſina kamen, daß ihn aber der Augenschein an Ort und 
Zacher: Im Lande bes Erbbebens. 15 


226 Catania: Der Mob 


Gtelle gelehrt habe, daß die Tatfachen die ftärfiten Phantajiegebilde 
übertreffen. Dann mettert er dagegen, daß Hunderte, Taufende 
von Catania aus bloßer Neugier nach Meſſina, aud) ohne Billet, auf 
der Lolomotive, auf den Trittbrettern nad; Meſſina gefahren feien, 
um ein Schaufpiel zu genießen, das fein Kinematograph ihnen bieten 
fünnte. So feien am Abend des 30. Dezember 10000 Menjchen 
auf dem Bahnhof von Meffina geweſen, die mit Gewalt die Rückkehr 
erzwingen wollten und die Beamten mißhandelten. Kein Privat- 
mann dürfe mehr in Meſſina geduldet werden, und alle Aufrührer 
verdienten, auf der Stelle erjchoffen zu werden. In Catania follte 
man aber, wenn es angehe, auf die Kanaille achten; denn die Stadt 
jei von Militär und Polizei entblößt. Dazu feierten alle Arbeiter, 
aus Trauer, aus Neugier, aus Angft, aus Suggeſtion, felbit die 
Hafenarbeiter ftreilten, ohne allen Grund. Zum Schluſſe heißt es: 
„Das mohltätige Wirken darf nicht Ausfchreitung werden, da3 
Gefühl des Mitleid darf nicht zum Rauſch werden. Die edelite, 
leidenſchaftliche Aufmwallung, aud) wenn fie von.idealer Begeifterung 
getragen wird, erliſcht bald, wenn fie nicht vom Verſtand geleitet 
wird." Damit ift de3 Pudels Kern getroffen. Die Gizilianer, wie 
viele Süditaliener auch, haben bei Unglüdsfällen zu viel Herz, oft 
auch auf der Zunge, aber fie werden Zopflos. 


Die Überlebenden über Meffina. 


Catania, 1./2. Januar 1909. : 
Es will den hier vereinigten Überlebenden der Kataſtrophe 
bon Meſſina noch immer nicht in. den Kopf, daß das graufame 
Militär ihre Heimatitadt bombardieren und ftratifizieren und mit 
Kalk zudeden will. „Calce sopra (Kalk drüber!).” Das Wort 
iprechen fie mit jolch ingrimmiger Bitterfeit aus, daß es wohl bald 
ſprichwörtlich werden wird. 


Meſſina: Millionär und Bettler 227 





Wie viel Menjchen habe ich in den lebten fünf Tagen gefprochen, 
im Hotel, im Cafe, im Hofpital, im Rathaus, auf der Präfektur, der 
Poft, im Eifenbahnmwagen! Und wie viele Leidtragende drängten 
jich zu und Männern der Preſſe! Heute abend im Hotel erlebte ich 
die Heftigften Schauer. Ich ſprach mit einigen Mailänder Kollegen 
über die Kopflofigfeit des Präfekten von Catania. Der 
Mann mußte von der Kataftrophe am Morgen des 28. Dezember. 
Er mußte, daß die Telegraphenverbindung unterbrochen war — 
warum telegraphierte er da nicht über Malta und London nad) Rom ? 
Dann wäre dort das Riefenunglüd mittags bekannt geworden ftatt 
abends, und man hätte fchneller Vorkehrungen treffen fönnen. Die 
Mailänder gaben mir Recht. Doch ein Chaupin ſchimpfte derb in 
allen Tonarten gegen die Fremden, die nur kritijieren könnten. Aber 
nun jammelten ſich verjchiedene Herren aus Meſſina um mich und 
nahmen meine Partei. Da ging e3 denn los. Kein Theater ver- 
mag fold) lebendige Darſtellungskunſt zu zeigen. Ein alter würdiger 
Herr, deilen Gejicht voller Schtammen und Beulen: ift, jagt dumpf: 
„sh war Millionär, jet muß ich um. Almofen betteln, und 
Dabei ift Die Ecke des Haufes, mo mein Geldſchrank fteht, intakt. Ich 
mache mich anheifchig, mit Feuerleitern wenigſtens die wertvollſten 
Papiere innerhalb tveniger Sekunden zu bergen, aber man wehrt 
mir die. Rücklehr.“ Diefelbe: Klage wiederholt ein junger Mamt. 
„Mein Onkel hat feinen Schreibtiich im erſten Stod. Er ift ganz frei 
in einer ſicheren Ede. Mit einer. Leiter lann ic) heran, aber ich darf 
nicht.” Und mit typiſcher Poſe kommt ein Dritter. „Sch Hatte. den 
größten Bazar, meine Magazine ſind intalt, aber wer ſchützt fie? 
Ich bin fallit, und Meſſina ift mir verſchloſſen!“ Und unifono ruft 
der. Chor: „Was wird aus unferen Bapieren, Dokumenten, Geldern, 
Geſchäftsbüchern, Juwelen, wenn erft der Kalk über den Trüm⸗ 
mern liegt!" Sa, der Kal, der Kalk brennt wahrlich fchon in ihren 
Gehirnen. Ich hüte mich wohl, von der Peftgefahr zu reden; es 
wäre ja Grauſamkeit, dem Elend mit Verjtandesgründen zu kommen. 

15* 


228 Meſſina: Leichenfledderer 





Und nım tritt der Kellner auf und entichuldigt ſich, daß er jo ſchlecht 
bedient habe: der Meffinafchreden Tiege ihm noch in den Gliedern. 
Dann kommt ein fchöner Typ. & ift der Reifende aus 
Trient, deffen nächtliche Fahrt in Meffina ich ſchon an anderer 
Stelle geichildert Habe. Er ift ſchon fo oft interviewt worden, daß 
er feine Rede am Schnürchen, wie ausgelerntes Zeug herfagt, aber 
auch mit Wichtigkeit; denn wer einmal Gegenftand der Aufmerkſam⸗ 
keit der Prefje gemwejen, verträgt das nicht jo leicht. Er fühlt ſich 
dann als höheres Weſen. Auch er zetert. Ich rate allen, da man 
doch im Eldorado der Advokaten lebe, ſchon jett mit Advokat und 
Notar einen Brotefta kt aufzujeten und durch Gerichtövollzieher 
der Regierung übergeben zu laſſen, fo hätten fie doch für ſpätere 
Reklamationen eine juriftiiche Unterlage. Das leuchtet ihnen ein. 
Geltfam aber finden fie es, daß ein fo verflucht gefcheiter und echt 
italienischer Gedanke gerade aus dem Hirn eines dummen Fremden 
fommen konnte. Ein anderer Herr unterbricht und. „Wo blieb die 
Flotte? Aha, Tittoni wollte fie mohl für den kommenden Ballan- 
frieg aufiparen?” .... Ein anderer verlangt, daß der König 
nad Catania — ſolle, um allen Geretteten ein Wort des 
Troſtes zu ſpenden. 

Im Veſtibül des Hotels große Verſammlung. Es Gerrit 
flammende Entrüftung; denn ein Spezialforrefpondent der Tribuna 
hat e3 gewagt, die fizilianijche Kopflofigkeit, den Mangel an 
ſchneller Hilfe ſeitens der Sizilianer zu geißeln, die alle von der 
Regierung erwarteten. „Der Elende! Wenn wir ihn für dieſes 
Attentat auf Siziliend Ehre mißhandeln Lönnten!...” Als mar ich 
beruhigt hat, feufzt einer: „Meſſina iſt Hin! Das fagt alles!" Ein 
anderer Hlagt: „Was ift das Leben!" .Ein Dritter lieſt die Zeitungs- 
überfchrift vor: „Ein Karabiniere von einem Leichenfledderer 
getötet." Jetzt find wir beim Thema. Ausgebrochene Sträflinge 
erdolchten Taltblütig jeden, der ihnen begegnete, um jeine Kleider 

gegen die Gefängniskleidung zu vertaufchen. Die Bauern der 


Catania: Rhetorik 229 





Umgegend, die zwei volle Tage der Gejehlofigfeit Hatten, kamen 
mit leeren Säden, die fie gefüllt forttrugen. Das Gefindel von ganz 
Eizilien und Neapel war in Scharen angelommen und hatte fich 
unter dad Kommando der einheimijchen Berbrechergilde geftellt. 
Und wieder lieft jemand die Beitung vor. Im Stadtrat von Satania 
hat ein Stadtverordneter über die Rebellionsgefahr gefprochen, die 
in der Anweſenheit der vielen Taufende von Unzufrievenen liege. 
Dabei hat der Stadtrat männiglich gegen den Fiskus proteftiert und 
dann brav eine — Kommiljion zur Enquete gewählt. Das ift echt 
italienisch, nur immer drauf auf die Regierung al3 Simdenbod. Der 
Corriere von Catania hat heute die Überjchrift: „Il flagello governo 
accresce le rovine del terremotol“ (Die Gottesgeißel-Regie- 
rung vermehrt die Ruinen des Erdbebens.) 

Semand eifert gegen den Shemati3mus der Offiziere 
und den Zynismus der Bürger von Meſſina. „ch habe, da 
niemand da war, dem ich meine arme Yamilie anvertrauen Tonnte, 
mit der ich vier Tage in Hunger und Durft im Freien zugebracht, 
zuerjt alle Meinigen nach Catania gerettet. Syebt höre ich, Daß jeder, 
der feinen Poften verließ, als Dejerteur behandelt werden foll. Das 
wollen wir einmal jehen! Ach war im Konflikt zweier Pflichten. 
Welche war die größere?" — Und der Zynismus der Bürger? Eine 
Dame lag ſechsunddreißig Stunden unter den Trümmern, über ihr 
ihr toter Mann, neben ihr die fterbenden Kinder. Sie war leicht zu 
retten, aber ihr Hilfegefcjrei beantworteten die Paſſanten mit den 
fühlen Worten: Kümmern wir uns nicht drum! 
Gehen wir weiter!" Eine andere Verjchüittete, die jammernd rief, 
wurde von oben angerufen: „Bit Du Märietta?"” Als fie die Wahr- 
heit fagte: „Nein!”, erwiderten die anderen mır: „Dann bleib 
unten!" er 

Sch habe genug. Auf der nächtlichen Straße fuche ich Erholung 
und finde me Rhetorik. An den Wänden grinft fie in Formen 
bon unzähligen ‘Plakaten, voll der hochtönendſten Phrafen, an den 


230 Catania: Panik 


Armen Hunderter von Eitelleitsprotzen lobt fie in feurigroten Kreuzen 
auf weißem Grunde, aus dem Munde von zahlreichen angeblich 
Geretteten prahlt fie vor Gruppen von Neugierigen. Dabei hätten 
vielleicht zwanzig- oder dreißigtaufend Menjchen gerettet werden 
fönnen, wenn ftatt fizilianiicher Rhetorik, ftatt römischer Zentrali- 


Plöglich gedenke ich des Reiſebuchs. Es lobt die langen und 
breiten Straßen Cataniag, die bejonder3 abend3 bei Lichterpracht 
einen liberwältigenden Eindrud machten. Faſt fluche ich dieſem 
Bude. Wie ich die leuchtende Zeile binaufblide, wo die beiden 
Lichterreihen fich zu einer einzigen zufammenfpigen, da ift es mir, 
al3 müſſe ich zwijchen Feuerbränden Spießruten laufen und unauf- 
haltſam einem Ylammenfchwert entgegeneilen, dad meine Bruft 
erwartet. 

Und dumpfe Gloden höre ic) Hingen im Geilte. Der Trauer- 
chor Schiller3 ertönt mir: 

„Dem dunklen Schoß der Heiligen Erde... 
... Bertraut der Sämann feine Saat... .” 

Sa, Sämann Tod hat viele Saaten dem dunklen Schoße Meſſinas 
anvertraut ... . 

Doch wie leer find die Straßen! Wo find die Dämchen und ihre 
Beſchützer, Dies Gejindel, über das ſonſt in Catania die Reifenden 
jo oft Hagten? Und der Spottteufel packt mich, als mid) ein Kutjcher 
gar zu widerlich beläftigt, ich frage heuchleriſch: „Wie ſchlägt man 
hier den Abend tot? Gibt's Fein Variete, Fein Theater?" ..... Und 
ftrafend fieht er mich an, fagt mit echt fizilianischer Würde: „Dio 
mio! Bei diefer allgemeinen Trauer, bei diefem Leid, diejer Geißel, 
diefer Gottesplage! ... Und auch an ung fommt die Reihe! Wer 
weiß, ob wir morgen noch leben!" — — 

Plötzlich wimmelt der Domplatz mie ein Ameilenhaufen. Ein 
leichter Erdfto Hat die Bevölkerung auf die Beine gebracht. 


Catania: Der heilige Sihleier 231 





Sie will im Freien die Wiederholung des Meffinafchredens erwarten, 
der unzmeifelhaft fommen muß ... Auf der Ylucht zum Hotel 
treffe ich den tragischen Reifenden. Er ift mit mehreren Genoſſen 
auf der Nachtreife von Bar zu Bar, wie früher in Meſſina vor der 
Kataftrophe . . . | — 


Wie ich nicht nach Meſſina kam. 
GFahrthinderniſſe). 


Catania, 2. Januar 1909. 

„Mentre sovrano regna il dolore!“ (Während als Herrſcher 
der Schmerz gebietet). So überſchreibt die hieſige „Azione“ die 
Rubrik aus dem Erdbebengebiet. Eine ſchöne Geſte finden die 
Süditaliener eben immer. Wir Leute des Nordens ſind anders; 
unſere Trauer findet nicht ſo wohlklingende Laute. Die Trauer 
äußert ſich in Catania auch ſonſt noch mit uns fremden Begleit- 
ericheinungen. Ich möchte feinem begeifterten Stalienfahrer, der 
da3 Land nur mit Goethes Augen zu beirachten pflegt, raten, jet 
hierher zu fommen. Man muß fchon von italienischer Stepfis 
angekränfelt fein, um nicht aufzubraufen über das Benehmen des 
Bolfes. Ich Ichilderte bereits dag Chaos mit dem Leitmotiv: Ordre, 
contre ordre, desordrel“ Ich ſelbſt habe auf der eindrüdereichen 
Reife bis hierher faft ſchon verlernt, zu kritifieren und zu ftaunen. 

Catania ift freilich die am meiften in Mitleidenfchaft gezogene 
Stadt, weil e3 der Unfalfftätte am nächften liegt. Infolge des fort- 
währenden Eintreffend von Flüchtlingen, des Anblides der Ver⸗ 
legten und der Wiederholung der. Erdftöße ift die Bevölkerung in 
eine Panik verfegt worden, die ſich kaum mehr beherrichen Täßt. 
Die niederen. Volksklaſſen fuchen einen Troft darin, daß fie den 
„heiligen Schleier der heiligen Agatha, der 
Schußheiligen der Stadt, in Prozefjion durch die Straßen tragen. 


232 Meilina: Eine Hamletizene 


Sobald der Schleier aus der Kirchentüre getragen wird, ftrömen 
Männer, Frauen und Kinder herbei, um ſich, weinend und betend, 
der Prozefjion anzufchließen und die Heilige um ihre Fürſprache 
zu bitten. 

In aller Frühe brach ich heute Morgen zum Bahnhof auf, ftolz, 
bom Präfekten von Catania den Paß nach der „toten Stadt” erhalten 
zu haben, den mir fein Amt3bruder in Palermo verweigert hatte. 
Ich mußte lange warten, bis die Fahrlartenfchalter geöffnet wurden. 
Ein arbeitlofer Gepäckbeamter ſah meine Ungeduld und erbot fich, 
für mich den Fahrichein zu erjtreiten. ME ich ihm Geld für Hin- 
und Rüdfahrt gab, meinte er lächelnd: „Das lettere ift überflüflig; 
auch ohne Billett kommt man zurüd.” Sch hieß ihn ſchweigen. 
Noch länger mußte ic) warten. Die Ungeduld machte mid) nervös, 
und immer mehr umdrängte mich ſchmutzſtarrendes flüchtiges Bolt 
aus Meifina, aber meine Augen waren fchon fo des Elend? jatt und 
konnten kaum Neues ertragen. Und fein Lichtblid! Vom ſchwarzen 
Himmel gießt es wie aus Kübeln. Wie meinen Augen, jo erging’3 
auch dem, was die Deutichen „Gemüt“ nennen, bei mir. Sonſt 
bin ich elaftifch, aber noch glich mein Inneres einem Gummiball, 
den eine ftarfe Hand zufammenpreßt. Zuviel der Aufregung hatten 
mir geftern die Schilderungen einiger Opfer aus Meſſina und zu 
viel Arger ein Gang durch die Straßen geichafft. 

Zwei Jäger fommen mit Hunden. Es ſcheinen Philojophen. 
Meſſina ift ihnen Hekuba! ... 

Meine Gedanken wurden Traumſpuk; an Vineta, an die ver- 
ſunkene Glode, dachte ich, an Chidher, den ewig Jungen, auch an die 
Szene, wo Hamlet mit dem Geiſt feines Waters ſpricht. Ganz 
dasfelbe ereignete fich in Meifina. Der Abgeordnete Ful ei ftand 
drei Tage lang an der Schwelle des Haufes, in dem ſein Bruder, 
der auch Abgeordneter war, unter den Trümmern lag. Anderthalb 
Tage lang fprach der Gerettete mit dem lebend zum „Unterirdifchen” 
gewordenen Bruder, der dumpf antwortete, wie Hamlets Bater. 


Meſſina: Räuberjagd 233 


Und als er fchon den Geift aufgegeben hatte, wartete der andere 
immer noch auf einen Zaut. Dann denfe ich an Schiller; denn der 
„Zaucher" jpielt in demfelben Meſſina, deſſen „Braut Schiller 
dramatijch behandelte. 

Wie jagt doch Manfred von Meſſina? 


„Wir bewohnen ein glüdliches Land, 
Das die hHimmelummandelnde Sonne 
Anſicht mit immer freundlicher Helle... .” 


Bon Schiller zu Goethe ift nur ein Sprung. Man begreift jebt 
den prometheilchen Troß, den Goethe in dem Helden feiner Ode gegen 
Zeus ausbraufen läßt. Wie Zeus dem Knaben gleich ift, der Difteln 
köpft, glich jet die Zerſtörungswut der Natur dem Wanderer, der 
mit feinem Stod einen Ameifenhaufen zum Einfturz bringt. Bin 
auch ich ein Opfer der Suggeftion? DerTrambahnfchaffner, mit dem 
ich zur Station fuhr, Hatte refigniert feufzend jedem, der es hören 
wollte, gejagt, daß auch Catania dem Zorn der Erde zum Opfer 
fallen werde. Vielleicht blieb auch die Erzählung einiger Mailänder 
Kollegen nicht ohne Eindrud. Sie hatten mir gejagt, daß fie geftern 
in Taormina von den Soldaten mit dem Revolver zum Rüdzug 
gezwungen worden feien. In Meffina felbft werde wegen der 
Räuberjagd aud viel geſchoſſen. &3 fei daher nicht 
geheuer. &3 Heißt, die Revolver in Meſſina feien hygieniſcher 
Natur, da die Leichen zu verweſen beginnen, und die Regierung den 
Ausbruch der Peſt fürchte, aljo die Berührung von Lebenden und 
Toten vermeiden wolle... . 

„Mefiina teilte ſich ... 

„Schwert traf auf Schwert, zum Schlachtfeld ward die Stadt.” 

Noch immer warte ih. Immer neues Elendsvolk kommt mit 
den elendeiten Bündeln. Seht ergreift mich die Bedeutung des 
Wortes: Bettelſack! Es find verhungerte, vielfah an Stim und 
Kopf verbundene Leute. Bon ihnen kann man Geduld lernen. 


234 Meſſina: Der Zorn des Todes 


Oder ift es Stumpffinn? Endlich höre ich das Geräufch des Fahr⸗ 
ſchein⸗Schalters. 

Wie ſich die Bilderverknüpfungen überſtürzen! Ich glaube 
eine Heine Guillotine zu hören. Hat man nicht die große in Frank⸗ 
reich abjchaffen und fo den Tod um feinen Tribut betrügen wollen? 
Sa, das war der Tropfen, der des Todes Zornesſchale überfließen 
machte! Schon feit langem hatte jich der Ingrimm-Tod darüber 
erboft, daß die Ärzte des Heinen Erden⸗Volles ihm mit ihren neueften 
therapifchen Künften da3 Handwerk legen wollten. Ind da ftatuierte 
er in Meffina ein Beifpiel, er hob die Riefenfauft, um zu zeigen, daß 
er noch der Herr fei, und... Meſſinas, Reggiod Trümmer fchufen 
200 000 Leichen. Zum zweiten Male holte Tyrann Tod aus. Und 
iharfe Kanten hatte feine Knochenfauft. Glatt jchnitt fie Die beiden 
Ufer der Meerenge ab, und als fie da3 Waffer traf, erhob ich dieſes 
und ſchwemmte hinweg, was der. erfte Graus verfchont ..... Und 
wallend und zifchend und braufend fehrte da3 Meer mit feinem Raub 
zurüd in fein altes Bette. 

Dreiviertel Stunden nad) der fahrplanmäßigen Zeit geht der 
Bug ab. Bei einer Wendung bietet ſich ein ſchöner Blid durch den 
Regenſchleier auf Catania, deſſen Schlote rauchen. Hier Leben und 
in der Schweſterſtadt Meſſina Tod! Freilich ift e3 fein fröhlich 
Leben, das Catania führt; denn fein Handel ftoct durch die Kata- 
ſtrophe. Fröhliches Leben zeigt hingegen die phantaftiihh reiche 
Begetation umher. Noc immer glühn, wie zu Goethes Zeit, 
im dunklen Laub die Goldorangen. Doc) über diefer grünen und 
goldenen Pracht jchallt eine dumpfe Kirchenglode. Der Trauer 
ipottet das übermütige Meer. Mit weißen Schaumhänden, ein 
mutwilfige3 Kind, kitzelt e8 den gezadten Bart der Küſte. Yon Zeit 
zu Zeit zerreißt die Wolkenwand am Himmel. Und leuchtender 
prangt dad üppige Grün ringsum. Aber bald zieht der Himmel 
wieder den ſchwarzen Flor vor fein tränendes Sonnenauge. Auf 
der Landftraße traben buntgejchmüdte Maultiere, die den befannten 


Meſſina: Verwundetentransport 235 





bemalten ſiziliſchen Karren hinter ſich ziehen. Herrlich gleißen die 
Prachtgärten von Acireale, in denen mit ſpaniſcher Grandezza gelb⸗ 
geſichtige Leute mit Rieſenbackenbärten, pechſchwarz und glänzend, 
und mit ſchwarzem Samtanzug prunken. Und Bäume tauchen auf, 
die man im Norden nicht kennt. 

Der Zug ſchleicht wie eine Schnecke. „Das geſchieht wegen 
der Zuſammenſtöße, denn auf der Strecke herrſcht Durcheinander. 
Geſtern fand en Zuſammenſtoß ftatt, den die Präfektur 
freilich dementieren ließ, um der Panik vorzubeugen”, fagt mein 
Gegenüber, ein Artilleriehauptmann. Ein Kontrolleur erfcheint; 
er läßt mich meinen Paß vorzeigen; denn paßloſe Leute dürfen nicht 
über Scaletta hinaus beförderi ‚werden. Ich frage ihn, ob ich in 
Zaormina durchlomme. Er zudt die Achjen. „Mit dem Durd)- 
einander ift’3 nicht genug,” fährt mein Gegenüber fort, „auch der 
Boden hat Riſſe, und ich Habe aud) Angft vor den unfichern Tunnels.” 
An Station Mangana Hält ein Zug mit Verwundeten. Mein 
Gegenüber zeigt auf die elenden Geftalten: „Nur das ärmſte 
Bolt hat fih in Meffina gerettet; die Reihen 
mußten dran glauben.” Auch in Scaletta ift ein Verwun⸗ 
detentransport eingetroffen. Viele Bahren werden herangeichafft. 

Ein Mitreifender weiſt auf das Beifpiel von San Franzisko Hin, 
das fo fchmell wieder aufgebaut wurde, worauf der Artillerietapitän 
jagt: „Das geichieht in Stalien n ich t, dafür bürge ih!" Wie bitter 
das herausfam! Dann zeigt der Offizier auf feinen Bruder, der 
gleich ihm gerettet wurde. Diefer zieht einen Hausſchlüſſel aus der 
Taſche: „Mein Erdgeſchoß fteht noch, Diebe können nicht hinein, 
aber auch ich nicht. Sch bin ruiniert. Sch Habe ſtets geglaubt, 
Srundftüd-Befig fei jicherer als Börjenpapiere. Ich Tor! Jetzt 
gebe ich nach Giarre, um bei reichen Verwandten zu betteln!” Ein 
Schaffner kommt. Er bittet den Kapitän um Hilfe. Leute ohne 
Billett find eingeftiegen, die entfernt werden follen. Nach zehn 
Minuten hat der Kapitän, dem die Sache ſehr unangenehm ift, mit 


236 Meffina: Deutihe Hilfsaktion 


Hilfe von Gendarmen die Elimination durchgeführt. Der Zug geht 
weiter. Der Kapitän erzählt eine Epifode, würdig der Feder eines 
Montepin oder Dumas. Im Viertel San Priorato läßt fich ein 
Retter am Tau in einen Keller hinab. Unten liegen ein Greis und 
ein Yüngling. Beide kämpfen beim Anblid des Taus, wer der erite 
fein fol. Der Greis erdroffelt den Jungen. Der Retter 
umfaßt den Greiz, beide werden hinaufgezogen. Trümmer fallen 
nieder, und der Greis kommt oben mit zerſchmettertem 
Kopfe an!... Ein anderer Mann wird mit vieler Mühe gerettet. 
Im Freien liegt er einen Augenblid im Starrkrampf, dann ſpringt 
er auf, läuft wie toll zum Strande und fpringt ind Meer, vom 
trodenen in den naſſen Tod... . 

Der Kontrolleur zeigt fich wieder. „Der Leichengeftanf in 
Meffina ift unerträglid. Heute beginnen wir mit der Mafjen- 
verbrennung der Leichen. Überall ftürzen fich die verhungerten 
Hunde auf die aufgeftapelten Toten und zerfleifchen fie...“ Der 
Bruder ded Kapitäns lobt den Heroismus der ruſſiſchen 
Marinefoldaten. „Ach was!” fagt erzümt der Kapitän, 
„vie Kerl hatten fich zuerft in den Lilörläden befoffen. In der 
Betrunfenheit Hat man’3 leicht, heroisch zu fein! Umfonft find auch 
nicht fieben Ruſſen zugrunde gegangen. Dieenglifchen Marine- 
joldaten waren vorfichtiger. Sie waren in Gruppen von vier zu 
vier und beratichlagten vorher. Waren fie alle einig, fo gingen fie 
ans Werk. Wenn nicht, fo risfierten fie nicht unnötig ihr Leben.“ 
Ich frage: „Wie kommt's denn, daß die fiziliiche Preſſe die Aktion 
derdeutſchenLloydſchiffe nicht lobt, ja ſogar verfchmweigt ?" 
Der Kapitän zudt die Achfeln. „Sa, es ift fonderbar! Immer lobt 
man die Ruſſen und unjere Soldaten waren zur Untätigfeit ver- 
urteilt, weil fein Offizier ohrre Befehl aus Rom zu handeln wagte! 
Einfach ſcheußlich! ...“ 

Langer Aufenthalt. Ein anderer Offizier ſteigt ein und ſagt: 
„Wir werden wohl erſt in der Nacht in Meſſina ankommen! Mir 


Taormina: Militärkordon 237 


gilt3 gleich. Seitdem ich die Kataftrophe mitgemacht habe, gilt mir 
Beit nicht? mehr.” 

Nach vierftimdiger Fahıt erreichen wir Giardini. Bald 
fommen wir nah Taormina. No zehn Minuten. Halt! 
Unſer Zug wird umzingelt. Truppen bilden Kordond. Alles muß 
ausfteigen. Ich fühle mich gefeit, denn ich habe den Schußbrief des 
Präfekten von Catania. Doch bald ſchwindet die Zuverjicht. Der 
Platzkommandant, ein NRittmeifter, läßt jich die Päſſe vorzeigen. 
Meiner ift ungültig. Der Präfekt hat nichts mehr zu jagen. In 
Meffina ift der Belagerung3zuftand prolla- 
miert. Diktator ift General Maz z a; nur Soldaten, Ärzte und 
Beamte werden in Meffinad Gebiet eingelaffen. In meiner Nieder- 
geichlagenheit Hoffe ich auf den Telegraphen; ich will an General 
Mazza telegraphieren und bleibe zur Not in Taormina. Mühſam 
winde ich mich durch die Menge, die ven Bahnhof füllt. Dort jieht 
man deutiche Reifende, die verdrießlich find und ſchimpfen, Flücht- 
linge und Verwundete aus Mefjina, die fluchen, was das Zeug 
halten will, weil ihnen nach ihrer Meinung keiner Hilft, Kranken⸗ 
wärter mit Zazarettgehilfen vom Roten Kreuz, engliiche Damen aus 
Taormina, die ein Hilfsfomitee gebildet haben. Endlich erwiſche ich 
den Bahnhofsinſpektor. Er ift nervös: „Wenn Sie telegraphieren 
wollen, müffen Sie hinauf zur Stadt fahren, aber das fage ich Ihnen: 
vor drei Tagen befommen Sie feine Antwort!" Betrübt fuche 
ich das Herz des Adjutanten vom Dienst zu rühren. Er ift die voll» 
endetite Liebenswürdigkeit, aber er bleibt feft, fragt mich auch, ob 
ih Soldat geweſen. Als ich bejahe: „Nun, dann kennen Gie die 
Kriegsartifel. Befehl iſt Befehl! Sprechen Sie mit dem Kom⸗ 
mandanten!" Ich tu's. Der Nittmeilter ift ebenfall3 Tiebens- 
wirdigfter Gentleman. „Mir blutet das Herz. Aber ich darf nicht!" 
Vergebens appelliere ich als Kamerad an ihn: „Auch ich bin im 
Dienſt. Ach bin als Soldat der Prefje kommandiert und muß meine 
Pflicht tun; ich darf mir doch nicht den Vorwurf zuziehen, meine 


238 Taormina: Zorn der Flüchtlinge 





Pflicht verfäumt zu haben.” — „Sch veritehe volllommen. Aber 
bitte, lejen Sie.” Und damit überreicht er mir Die Ordre Des Generals. 
Mir flimmert3 beinahe vor den Augen; faft könnte man das Gruſeln 
lernen, jo graufam ftreng ift fie. „Niemand darf durch, auch zu Fuß 
nicht, alle Zugänge zu dem Gebiet von Meffina find abzufperren. 
Bumiderhandelnde werden ſofort erſchoſſen!“ Das Militär 
paßt nicht. Es machte mir ja auch in meiner Dienftzeit ſtets einen 
eigentümlichen Eindrud, wenn bei der Verlefung der Kriegsartikel 
der Refrain viel zu oft wiederfehrte: „Wird mit dem Tode beftraft!” 
Der Stationsvorfteher tritt tröftend Hinzu. „Geftern wurden much 
zwei Korrefpondenten vom „New York Herald" abgemwiejen. Gie 
find nad) Taormina gegangen, von dort aber heimlich ent- 
wichen. Gott gebe, daß jie ihren dummen Gtreich nicht zu be- 
reuen haben.“ 

Alſo Hart vor dem Ziel gefcheitert. Aber das iſt force majeure. 
Und „ultra posse nemo obligatur“, fage ich mir. Mein Entſchluß 
iſt gefaßt: ich Lehre nah Catania zurüd. Diejer Entſchluß 
kräftigt ſich, al ein ndrer Zug von Süden kommt, angehalten wird, 
und diefelbe Sonderung der Reifenden erfolgt wie vorher. Aber 
nicht alle Schidlen fich mit meiner Ruhe in da3 Unvermeidliche. Biele 
Meflinejen, die gelommen waren, um aus den Trümmern ihrer 
Häufer Wertjachen zu retten, fluchen und ſchimpfen gegen die Regie- 
rung, den König, gegen Gott. Und die Offiziere hören alles mit 
Geduld an; denn in dem glüdlichen Italien gibt es feine Majejtäts- 
beleidigung und feinen Paragraphen 166, der von der Gottesläfte- 
rung und den Einrichtungen der aneriannten Kirchen handelt. 

Sch muß wieder warten. Und dabei wird der Regen zum 
Wolkenbruch. Zum Glück Iommt ein Zug mit Flüchtlingen, dem 
einige Paſſagierwagen vorgeſpannt find. Im Sturm auf Dieje 
Habe ih Glück. Im Trodenen geborgen, kann ich die Geduldsprobe 
bis zur Abfahrt beſſer beftehen. Aber der armen Soldaten, Ärzte, 
Beamten gedenfe ich, die ohne Obdach in Meſſina und ohne Waller 


Meſſina: Erdbebenmythologie 239 


und Proviant hantieren, und der Taufende von Opfern, die vielleicht 
noch lebend unter den Trümmern begraben liegen. 

Dann jehe ich durch die Wollen nad) Kalabrien hinüber zur 
Gegend, mo Reggio lag. Im Geijte fliege ich dann über die ganze 
Cröbebenzone, die lipariſchen Inſeln, die Scylia, die Charybdis, 
und mit einem Male erinnere ich mich an die naturgeſchicht— 
lide Deutung die Mythologieprofefforen 
der Sage von den Sirenen, von der Schlla und Charybdis gegeben 
haben. Unter den zerjtörten Orten der Bone befindet fi) aud) 
Catona, deffen Namen auf lateinifch unterirdifcher Ort oder 
Hölle bedeutet. Nach Profeſſor Manzi von Palermo ift e3 nicht 
unwahrſcheinlich, daß der Ort diefen Namen erhielt, weil er als die 
Türe oder der Vorraum des finjteren Erebus, aljo der Stätte galt, 
wo die Verdammten vom Teuer, dem heißen Waſſer und den mephi- 
tifchen Erhalationen des Erdinmern geplagt wurden. Bei Catona 
lag aud) der Sage gemäß der Fluß Crataia, perjonifiziert als die 
Mutter der Schlla, die ihre Herrſchaft über die Schatten mit Schred- 
gejpenftern und dem Geheul der ſtygiſchen Hunde ausübte, das als 
Borbote der ſeismiſchen Kraftäußerung galt. Ohne Ziveifel haben 
die älteften Erdbebenkataſtrophen an der Meerenge von Meſſina 
zur Ausbildung der Diythologie geführt, wonach neben dem Meer- 
beherricher Neptunus Aeolus, der Windgott, auftritt, der vom 
Vulkan Stromboli und den äoliſchen (jet lipariſchen) Inſeln aus, 
wie Neptun die Erde, fo durch die Stürme da3 Meer erjchüttert. 
Und in ihrem Gefolge tritt dann mit ihrer Tochter Scylla die fürchter- 
liche Crataia auf, die unterirdifche Göttin, der fi) als Schweſtern 
zugefellen Circe, Erate und Proferpina, die befanntlich nach der. 
griechiſch⸗ römiſchen Legende in Sizilien ober in Kalabrien von Pluto 
geraubt wurde. Der Mythus al naive Erklärung der Natur- 
fataftrophen verlegte nach Theflalien den Sieg des Olymps tiber 
die Titanen, welche die zügellojen, rohen Erdgewalten ſymboliſierten, 
aber der parallel laufende Kampf zwifchen den Menfchen und den 


240 Meilina: Birgil und Erdbeben 


vullanifchen Kräften findet feine Stätte an der Meerenge von 
Meilina. Der lateiniihe Olymp ift der über Reggio di Calabria 
dräuende Alpromonte, die Gegend zwiſchen Catona und Meſſina 
entfpricht dem griechiichen Tal Tempe. Co findet ſich auch der 
Name crataia, der einen Hohlkegel bedeutet, der von der Wirkung 
des Waſſers immer mehr verbreitert wird, auch in dem cofentiniichen 
(bei Coſenza in Calabria) Tal Erati, ſowie in dem Crati, da3 bei 
Aegea lag, einer Stadt Kleinafieng, die ebenfalls ftet3 von Erdbeben 
heimgefucht wurde. Ihr Name wedt aber die Erinnerung an den 
Giganten Aegaeos, den fünfzighändigen Mann mit fünfzig Bäuchen, 
den Jupiter mit Ketten binden ließ. Aber der Name Aegaeos wird 
mit dem der anderen Giganten Enceladus, Antaeus verwechielt, 
auch mit dem des Typhoeus, der nach der virgiliihen Sage vom 
fiegreichen Olymp mit Blitzen gebändigt wurde und dann mit feinem 
maßlo3 großen Leibe unter den ävliichen Inſeln, dem Veſuv und 
dem Epomeo (auf Jschia) lag und feine Krallen über Kalabrien und 
Meſſina ausftredte. Er galt als tot (al3 die vulfanifche Tätigfeit in 
der Meerenge aufhörte), aber er erwachte mit [chlimmer Wut, öffnete 
die flammenden Augen in den Vulkanen der äolifchen Snfeln, 
verbrannte Städte und Wälder und feine Flammen fpiegelten ſich 
wider zwifchen der Schlla und der Charybdid. Bon diefem gigan⸗ 
tiihen Drama ift die Legendenmwelt der Meerenge von Meſſina 
infpiriert, und nad) Olympiadoros (bei Photius) wird daran 
erinnert, daß die Antiken in der Nähe von Catona als Abwehr gegen 
Gröbeben eine. Statue errichtet hatten, die aus einem Fuße. ewig 
Feuer und aus dem andern ftetig Waffer ſpie, womit wahrſcheinlich 
auf den Strom des Magma angefpielt werden follte, der zwiſchen 
Scylla und Charybdis durd) das Waffer der Meerenge von Meſſina 
getrennt ift. Und noch eine Erinnerung taucht mir auf. Viele 
Geologen behaupten, daß die heutige Kataftrophe tektoniſch, d. h. 
durch die Bildung fchüffelartiger Höhlen in der Erdrinde entſtanden 
jei. Nun hat aber ſchon Birgil von einer Höhle geſprochen, die unter 


Taormina: Ein weicher Spötter 241 


den äoliſchen Inſeln Tiege und in der das Echo von den Ambos- 
Ichlägen der Zyklopen in ihrer Atnaſchmiede ertöne. Alfo wiederum 
nicht3 Neues unter der Sonne! 

Ein Stoß weckt mid; auf. Der Zug fährt weiter. Der Regen 
läßt nach. In feiner ganzen Herrlichkeit ragt Taormina, hinter 
deſſen Bergen das Grauen wohnt. Bald, denn diefer Zug ift ein 
Schnellzug, fommen wir wieder in die Zaubergärten von Giarre 
und Acireale. Drangenhaine mit dem Untergrund von grünem 
Blätterplüfch erblice ich wieder, anheimelnd halbdunkel, Taufchig 
und. fo ſtimmungsvoll, als hätte fie Botticelli gemalt. 

Ich jehe mir meine Mitreifenden an. Zwei Meffinefen, zwei 
elegante Neapolitaner, zwei weinende jech3zehnjährige Buben und 
ein totgejichtiger Beamter aus Palermo. Der Iettere Hatte lachende 
"Augen, jedoch auch ein weiches Herz. Wie beredt fchilderte er feine 
Arbeit am Morgen des 29. Dezember in der Trümmerftadt und die 
Kopflofigkeit der von all zu viel Herren ommandierten Beamten und 
Offiziere, welch’ Iettere mit ihren maderen Soldaten vor Wut 
Tchäumten, weil fie Opfer der finnlofeften Befehle waren und auf 
eigene Fauft nicht retten durften! „Es wäre zum Lachen, wenns nicht 
zum Weinen wäre! Und da ſoll's einmal Mobilmachung werben! 
Ha, Ha! das kommt vom grünen Tiſch!“ Wiederum beftätigte jo 
der gute Mann, daß viele Spötter nur fpotten, um nicht an der 
Weichheit ihres Herzens zu Grunde zu gehen. 

Das Geheul der Jungen wird ftärker. Einer der Neapolitaner, 
die ſechs Tage lang vergeblich verfucht Hatten nach Meſſina zu 
fommen, um ihre Verwandten zu fuchen, gibt ihnen Brot und Fleiſch. 
Das tröftet fie ein wenig; fauend fagen fie, fie Hätten Mutter und 
Geſchwiſter aus den Trümmern gezogen und nad) Catania gebracht. 
Jetzt hätten fie zurückfahren wollen, um Wäjche zu holen, aber man 
Tieß fie nicht nur nicht durch, fondern zwang fie auch, die legten zehn 
Lire, die fie befaßen, zur Rückfahrt nach Cataniazuopfern. Der zweite 
Neapolitaner fagte darauf mit ſchalkhaftem Ernſte zu dem größeren 

Zacher: Im Lande bed Erbbebens. 16 


242 Acireale: Moral des Südens 


Sungen: „Es iſt beifer jo, mein Junge! Du wärſt doch er 
ſchoſſen worden, da die Soldaten Dich wegen Deiner fchlechten 
Kleidung für einen Leichenfledderer gehalten hätten. Bielleicht 
wärſt Du auch der Verſuchung erlegen; denn wenn im Schutt 
Golduhren und Diamantbrojchen frei herumliegen, jo zuden Die 
Hände, und da wärft Du noch unfehlbarer erfchoffen worden!“ 
Diefe Anfprache tat ihre Wirkung. Einige Zigaretten, die man 
den Jungen fchentte, wirkten noch mehr; fie verftummten von 
nun an. | 

Und nun wird die Trage aufgeworfen, ob Meſſina auf- 
erftehen wird oder nicht. Der erjte Neapolitaner jagt 
lehrhaft: „Sicherlih. Laffen wir alle Sentimentalität beijeite. 
Der Drangen- und Bitronenhandel der Provinz muß einen Ausweg 
haben; denn durch den Transport nach Catania wird die Provinz 
durch Verteuerung der Produkte konkurrenzunfähig. Sie werden 
jehen, in ſechs Monaten fteht auf dem Boden von Mefjina eine 
Pavillon- und Baradenftadt.” — „Aber wo baut man denn?" wirft 
der luſtige Palermitaner ein. „Der Hafenkai ift eingeftürzt, in der 
Unterftadt ift dag Meer auf gleichem Niveau mit dem Lande. 
Übrigens ſoll auch die Infel Uftica verschwunden fein und der Vulkan 
Stromboli rumort. Lachen Sie doch, meine Herren, Über die Wiſſen⸗ 
ſchaft. Sie hat bankerott gemacht, und da fie das Phänomen nicht 
erklären kann, fand fie das Wort „tektoniſch!“ Stöhnen und Geufzen 
de3 Dideren von den beiden Mefjinejen unterbricht die Rede. Der 
Palermitaner fieht forfchend, mit den ängftlichen Augen eines Arztes 
auf ihn. „Sch fterbe”, jagt der Dide. „Seit dem Unglüd habe id) 
Kolik, und Hier ift feine ritirata; auch hält der Zug nicht.“ In der 
„Frankfurter Zeitung” las ich Fürzlich ein Feuilleton über „Die 
Moral de3 Süden?" Daran wurde ich erinnert, ald das 
ganze Abteil, ſoweit die Inſaſſen italienisch waren, fich wie ein Mann 
boll Mitleid erhob: „Nur feine Umftände, Urmfter! Vorwärts! Wir 
drehen und um!" Und fo geichah’s. Nach fünf Minuten atmete 








Acireale: Siziliicher Stolz 243 


der Mann, der vor Angft und Aufregung dem Schlagfluß nahe 
gemwejen war, erleichtert auf. 

Wie gelbe Diamanten chillen die Zitronen aus dem Dunkel 
heraus, denn da3 Regenbad hat ihnen frifchen Glanz verliehen. Aber 
mit der Schnelligkeit hat’3 ein Ende. In Acire ale werben, da 
Catania überfüllt ift, viele Verwundete ausgeladen. Das dauert 
lange. Zum Glüd fteigt ein alter Herr ein, der launig fich jelbft und 
feine Landsleute perjifliert und ung jo die Zeit vertreibt. Er zeigt 
unter anderm auf einen großen Palazzo, der bloß einen Oberbau 
hat und unfertig liegt. „Den zweiten Stod errichtet der Beſitzer, 
wenn feine Kinder heiraten; denn dafür find wir zu ftolz, um unwür⸗ 
dige Mietsſpekulationen mit dem Haus zu treiben, das und gehört. 
Gerade jo ftolz waren früher unfere Nobili, die fich nicht herabließen, 
jchreiben zu lernen. Jetzt iſt's freilich anders. Wechjel unterfchreiben 
können fie heute wenigſtens.“ Dieſe böfe Satire auf fiziliiche Gran⸗ 
dezza wird durch die Ungeduld zweier feiner Neapolitaner unter- 
brochen, die erboft über das lange Warten beratichlagen, ob fie nicht 
ausfteigen follten; denn fie fürchten ji), da fein Zug jie am Nach- 
mittag mehr weiter bringt, in Catania zu bleiben, dag nach ihrer 
Anſicht zum Untergang verurteilt ift. Diesmal laſſe ich mich aber 
nicht fuggeftionieren. Zum Glüd beitimmt der Heine Herr Satiriker 
die Neapolitaner, wenigſtens bis Ealtanifetta weiter zu fahren und 
dort zu übernachten; zum Dank für ihre Nachgiebigfeit hält er nun 
einen lehrhaften, aber durch Humor gemilderten Vortrag über die 
Gegend und ihre Namen, die alle noch griechifchen Urſprungs ind. 
Meffina und feine Toten find vergeffen. Der Lebende hat recht. 
Über feltiam bleibt e8 doch, daß auf diefem Hiftorifchen Boden der 
Lebende, wenn er ſich geiftig ergöben will, unmilltürlich wieder zu 
den Toten — vor 3000 Jahren zurückkehrt. Als diejes Thema 
erſchöpft war, ging man zur Poeſie über. Denn auch dieſe pflegt 
‚man in Sizilien, wenn auch nicht in dem Grade, wie in Sardinien. 
Der Heine Satirifer wird feierlich und Tieft aus der neueften Zeitung 

16° 


244 Catania: Die Zyklopen 





ein Gedicht des Stolzes von Catania, des vaterländiichen Poeten 
Mario Rapifardi vor, da3 aus Anlaß der Kataſtrophe die 
Charitas feiert. Gemaltiger Regenfturm macht der weihevollen 
Stimmung ein Ende. Bon naſſem Schleier bededt jchimmern Die 
„Seogli dei Eiclopi”, jene bizzarren Felsinſelchen, die einjt Der 
Zyklop dem fliehenden Odyſſeus aus feiner Höhle mit Wucht als 
Wurfgeichoffe nachgefandt. Bald kommen wir auf den Bahnhof 
bon Catania, mo der Waflerguß die allgemeine Konfufion noch 
fteigert. Schnell rette ich mich über Kot und Schmußlachen des 
Vorplatzes auf da3 Lavapflaſter der Hauptitraße. Wie jagt Schiller? 

„Auf der Lava, die ber Berg gejchieden, 

Möcht ich nimmer meine Hütte bauen.“ 


Auf der Rüdfahrt von Catania. 


Palermo, 4. Januar 1909. 

Geſtern, Erin: reifte ich nach Palermo weiter, mit Neid 
betrachtet vom fchmeizerifchen Hoteldireftor. „Auch ich möchte fort,” 
fagte er. „Die Panik ſteckt an. Bei jedem leichten Stoß mache ich 
nacht3 auf, fahre ich am Tage zufammen. Dazu das Gefindel hier! 
Wenn das anfängt! Gejtern nacht haben fie auf der Straße mit 
Nevolvern gekämpft!“ Vor dem Bahnhof treffe ich eine Schar Kol- 
legen aus Rom, Staliener; fie find außer ſich. „Wir leben ohne 
Fühlung mit den Erdbewohnern“, jagte einer. „Die Leute vom 
Militär haben einen Vorzug; fie können menigftens telegraphieren. 
Sch glaube, die Regierung hält alle Telegramme zurüd, worin fie 
getadelt wird, abgejehen davon, daß hier nicht nur Draht, jondern 
auch Poftmeldungen liegen bleiben. Es ift unerhört, daß eine fo 
‚große Inſel und noch dazu jet nur durch ein Poftichiff täglich und 
nur durch ein nebenbei noch krankes Kabel mit dem Kontinent ver- 
bunden ift !” In der Bahnhofshalle hätte ich mir gern den Gtift eines 


Meſſina: Das Chaos ! 245 


Menzel, den Pinjel des Landstnechtmalerd Diez gewünſcht. Wie 
viele „fragwürdige Geftalten”! Unmillkürlich kommt mir Shafefpeare 
in den Sinn. Hier könnte fein Coriolan mit Recht von dem „ftinfen- 
den Atem der Pleb3" reden; denn Knoblauch ift an der Tagesordnung. 
Und dieſes Sammeljurium in den hergeliehenen Kleidern, die aber, 
denn „ſtolz lieb ic) den Sizilier“, mit der Grandezza eines Hidalgo, 
namentlid) von würdigen Greifen, zur Schau getragen werden. 
Und wie fie ſich gegenfeitig die einzelnen Stüde zeigen und mitteilen, 
wo und von wem fie fie erhielten! Die Einleitung der lebhaften Unter- 
haltung ift aber immer: „Ich war vollftändig nadt!" Ein Lizentiat 
Bohn würde erjchauern vor Scham. Ein Beamter erzählt laut: 
„Ich hörte e8 vom Mailänder Abgeordneten ve Andreis. Yın 
haben fie in Reggio faft gelyncht, weil er Brot hatte. Übrigens 
ift die Stadt Hin. Geftern haben ne 2500 Flüchtlinge per Salt 
gerettet.” 

Eine Stunde vor der Abfahrt gelingt's mir mit Hilfe meines 
Paſſes, auf den militäriſch abgeſperrten Bahnhof und in ein Abteil 
des Schnellzugs zu kommen. Zwei Regierungsbau— 
meifterau3 Palermo folgen mir nach. Die Wartezeit ver⸗ 
fürzen fie mit dem Cröbebenthema. Am Nachmittage des Kata- 
jtrophentages hatte man fie amtlich nad) Meſſina gefchidt, um den 
Nettungsdienft organijieren zu helfen. Zwanzig Silometer vor 
Meſſina hörte die Eifenbahnverbindung auf. Wagen gab es nicht, 
Sie requirierten — e3 war Nacht — Arbeiter, die ihr Gepäd tragen 
jollten, und mit Fadelichein ging’3 zu Fuß mweiter. Nach vier. Kilo- 
meter Marſch ließen die Arbeiter das Gepäd ftehen und brannten 
mit den Fadeln durch. Die Herren mußten aljo im Dunkel und mit 
ihrem Gepäd meiter. In Meſſina Chaos; feine Behörde war dort, 
die Offiziere Hatten feine Ordre, die Organijatoren mußten aljo un- 
tätig bleiben. Dazu fümmerte jich niemand um ihre Verpflegung. 
Sie erhielten nicht einmal Waffer. Eine Kifte mit Orangen, die fie 
erptopriierten, war ihr einziges Subfiftenzmittel. Am fünften Tage 


246 Catania: Der Harem 





wurden fie fortgejchidt; da jetzt das Militär befehligte, hatte bürger- 
liche Baukunſt nichts mehr zu jagen. 

Da mid) Palerno auch ſozial ſtets interefliert hat, frage ich 
nad) der Mafia. „Eriftiert fie no?" Ein fcheuer Blick ringsum 
und dann: „Und wie! Aber man Hat im Norden eine faljche Vor⸗ 
ftellung von ihr. Es ift feine Organifalion, fein Bund. Mle Gleich- 
geſinnten, die fich von feinem Geſetz befehlen lafjen wollen, ver- 
fammeln fich, wenn's not iut, zu lieblidem Tun!” „Und der Er- 
abgeorvnete Palizzolo, der dreimal wegen de Mordes des 
Direktors der Bank von Gizilien, Notarbartolo prozeffiert wurde ?“ 
— Auch den Fall verfteht man im Norden nicht. Der Mord ift 
myſteriös. Sicherlich wurde Notarbartolo getötet, weil er einer 
mächtigen Stlique zu ehrlich war. Ob aber Palizzolo zur Mafia 
gehört, ob er am Mord beteiligt ift, chi lo sa? Er lebt jehr ftill von 
einer Heimen Rente, die er durch eine Vortragstourmde in Nord» 
amerika vermehrt hat; er ift jehr beliebt, und wenn er im Frühjahr 
fir die Sammer kandidiert, wird er wiedergewählt.” — „UUnd Naſi?“ 
— „Auch er ift wie Palizzolo da3 Opfer einer Intrigue. In drei 
Jahren erjteht er wieder, dann ift er ein neuer Mann. Und er muß 
wieder an die Macht kommen; denn es ift das einzige politifche Talent, 
das Sizilien hat!" 

Seltſam! Wie anders als in nordifchen Köpfen malt ſich in 
biejen hier die Welt! Meine Neugier wird reger. „Wie fommt’z, 
dag in Satania das Leben fo ftill ift? & fehlt an 
Cafés, Reftaurants!" — „Sa, wir jind hier ſchon in Afrika. Es gibt 
nur Yamilien-PBatriarhieen, Stämme, Kliquen, wie Sie ed nennen 
wollen. Dieje Sippen haben leine Berührung miteinander. Die 
Frau ift Eigentum. Man jieht fie Sonntags nur zur Mefje gehen, 
bewacht von ſechs bis acht männlichen Mitgliedern des Clans. Wird 
ein Fremder zu Tiſch geladen, befommt er kein weibliche Weſen zu 
Geſicht!“ Der Erzähler lachte vor ji) hin: „Und dann erft der ultra- 
ſpaniſche Yamilienftolz! Denken Sie ſich nur: Wenn ein Familien- 


Centuripo: Wohltätigkeit der Bauern 247 


mitglied ftirbt, und man hat fein Geld zur feierlichen Beftattung, fo 
wie e3 die Familienehre geftattet, jo verheimlicht man den Tod, 
ſcharrt die Leiche ein — und veranftaltet bei finanzieller Hochflut 
en Sheinbegräbni3.. .” 

Unterdeffen wird e3 lebhaft. Unſer Zug ift mit Verwun— 
deten vollgeftopft. Mir gegenüber jiben drei, ein gefchundener 
Eifenbahnarbeiter, und zwei Frauen aus dem Volke, fchredlich ver- 
bunden an Kopf, Bruft, Armen. Der Mann ächzt, die rauen 
ſtöhnen, huſten, wimmern. 

Der Himmel hellt ſich auf. Der Atna ſtrahlt. Eine dichte 
Rauchwolke ſtößt er vergnüglich aus. Ein Burſche von ſechzehn 
Jahren bengelt ſich in unſer Abteil hinein und ſchreckt die Verwun⸗ 
deten: „Auf der Strecke iſt's nicht geheuer! In Caltagirone ſind 
Häuſer eingefallen, mehrere Tote, die Tunnels ſind beſchädigt!“ 
Und dann entwickelte der frühreife Lump einen Plan, wie man jetzt 
als Reſtaurateur in Meſſina Tauſende verdienen könne. Hätte ich 
den Kerl doch ohrfeigen können —, aber wir find im Lande der Frei⸗ 
heit. Und gegen den Fremden hätte jich ganz Sizilien, fo weit es 
im Abteil vertreten war, empört. | 

Der Zug fährt bald durch grüne Hügelfteppe. Kein Haus weit 
und breit. Nur die roten Blüten des Opuntiusfaftus zeugen von 
Leben. An den einfamen Landftationen find dann und mann flinten- 
bewaffnete Hirten zu Pferde zu jehen, die Indianern gleichen. 

Plöglich, an der Station Genturipo, wird e3 wieder leb- 
haft. Biel Volk iſt verfammelt, gleichwie zur Speifung 
der Fünftaufend. Hat die Erde e3 ausgejpieen? denn ringsum fein 
Dorf zu erbliden. „Das ift da3 Herz Siziliend! Die Bauern haben 
Mitleid!" ruft irgend wer im Abteil. Richtig, ich ſehe Komitee- 
Männer mit der roten Kreuzbinde. Und Rieſenkörbe voll Brot, 
Wafferkübel, Wein- und Lilörflafcehen werden herangetragen. Und 
— ich ſchäme mich für fie — felbft elegante Neifende nehmen die 
Gratisfpende an, Unfer frühreifer Gaunerbengel ergattert gar zehn 


248 Palermo: Wohltätigfeitäfpaziergang 


Brote und Stapelt fie im Gepäcknetz auf. Und die liebreichen Bauern, 
bon denen manche durch hochintelligente Gefichter überrajchen, 
werden nicht müde, neue Gaben zu reichen. Und von jet ab an 
allen Stationen dasſelbe Bild der Opferfreudigfeit de3 niederen, 
wahrhaft guten Volks. ch glaubte mich in die Zeit von 1870 verſetzt, 
wo ich die Schule ſchwänzte, um am Bahnhof den Kriegern Liebes⸗ 
ſpenden zu reichen. 

Heute früh Wärme, Sonnenfchein, blauefter Himmel. Das 
Frühlingsmetter tut feine Wirkung. Gefchäftiges, fröhliches Leben 
in den Straßen von Balermo. Die Trauer ift verfchwunden. 
Wer denkt noch an die Mefjinefen? Doch Halt! Um zwölf Uhr er- 
tönen: Trompetenftöße. Die Studenten in ihren farbigen 
Barett3 machen emen „Spaziergang der Wohltätig- 
feit”. Das Komitee fährt in Wagen voraus. Neben ihm rafjeln 
luftige Studenten mit großen Sammelbüchfen. Hintendrein folgen 
Leiterwagen, auf die die Ummohner Kleider und Wäfchebindel 
legen. Ich kamn mir nicht helfen, aber die ganze Sache riecht nach 
Rarneval. 

Auch am Abend gedenkt man der Verwundeten. Die Theater 
find gejchloffen, folglich eilt alles zu den Rinematographen, 
wo liebliche Muſik ertönt; denn die erften authentifchen Bilder vom 
Kriegsſchauplatz Meffinas find eingetroffen. 


Der wifjenfchaftlicde Bericht. 
Palermo, 4. Januar 1909. 

Jetzt erjt liegt der erite offizielle wifjenfchaftliche Bericht über 
die Kataflrophe vom 28. Dezember vor. Er entitammt dem Leiter 
de3 meteorologijchen Obſervatoriums von Catania, Profeſſor 
AU. Riccòô. Darin heißt es: 

„Das Erdbeben zeigte feine größte Stärke am 
Kap PBeloro bei Meſſina und in der Südſpitze von Kalabrien, 


Meſſina: Erdbebenbericht 249 


Die größte Verheerungszone erjtredt ſich von Caftroreale (meftlich 
von Meſſina) bis Balmi in Kalabrien auf einer Strede von 60 Kilo- 
metern. Die ſchweren Verlegungen von Häufern liegen in der Zone 
bon Ripofto bei Catania bis Pizzo in Kalabrien auf einer Strecke 
bon 140 Kilometern. Schwere Erdftöße wurden vernommen von 
Noto (Südoſtſpitze Siziliens) bis Cofenza (Nordlalabrien) auf einer 
Gtrede von 300 Kilometern. Mle italienischen Obfervatorien ver- 
zeichneten das Erdbeben. Das erfte ausländische, da3 ung telegra- 
phierte, war das von Laibach. Das Erdbeben war ein doppeltes; 
e3 hatte vertifale Stöße und Wellenbewegungen. Es wurde auch 
auf den Liparifchen Inſeln wahrgenommen. Seit dem erſten Stoß 
um 5 Uhr 20 Minuten morgen? am 28. Dezember wurden in 
Catania fünfzig immer ſchwächer werdende Stöße regi- 
friert. In Meſſina mwurden in der Nacht vom 28. auf den 


29. Dezember 38 Stöße gezählt. Das Erdbeben war von einem 


Meerbeben begleitet. Die Wellen hatten mehrere Meter Höhe, 
und das Meer berubigte ſich erit nach zwölf Stunden. Es forderte 
in Catania zwei, in Ripojto fiebzehn Menfchenleben und zeritörte 
dort auch viele Barken. Die Kataftrophe verurjachte auch überall 
in ihrer Zone Erdlawinen nd Erdrutjche, die unzählige 
Dpfer forderten. Bemerkt muß merden, daß während des Erd- 
bebeng und der folgenden Stößedie Bullane Atna, Strom- 
boli und Bejup ſich ruhig verhielten, man kann 
aljo die vulfanifche Natur des Phänomens ausfchließen. Die Richtung 
des Erdbebens war diejelbe, wie 1783 und 1894, nämlid) von N. N. 
O. nah ©. S. W. Diefe Richtung fällt zufammen mit der großen 


Bruchlinie in der Erdlinie, auf der der Atna ruht, und die durch die 


Meerenge von Meſſina und unter Meſſina herzieht. Die Gegend, 
die fich bis Noto Hinzieht, ift geologifch genommen roch ſehr jung, 
alſo noch von den eſogeniſchen Kräften zu jehr bedroht, die dem 
Boden noch nicht die definitive Stabilität gegeben haben. Der 
Menjch Hatvielzu früh diefe Region bewohnen 


250 Meflina: Leichtfinn im Bauen 


wollen, da ihn das warme Klima, die Schönheit der Landfchaft 
und die Truchtbarfeit des Bodens lockten; abgejehen von dem 
ihönen Meer und der Verkehrsmöglichkeit in der Meerenge. Er 
errichtete Hier feit undenklichen Zeiten ſtolze Städte, aber von Beit 
zu Zeit beftraft die Natur den Leichtfinn und die Tollkühnheit. Zu 
diefem Wagemut der Menfchen gefellte fich vie Un wiſſenheit; 
man wählte als Baugründe Stellen, die ſehr gefährlich waren, und 
man war auch zu leichtjinnig im Baumaterial. Auch war dieſes 
Baumaterial dazu infofern noch ungeeignet, als e3, was die Steine 
anbetrifft, polygon oder unregelmäßig war, mobei noch ein zu ſchlechter 
Mörtel verwandt wurde. Und, ala ob alles das noch nicht genügt 
hätte, wagte man es fogar, Balazzi von vier und fünf Stodwerlen 
zu errichten. Das war eine Herausforderung der Natur.” 

Diefer Bericht hat einen großen Eindrud gemacht und die Leute, 
die e3 ſich leiſten können, zur Flucht aus der Erdbebenzone vermodht. 
Sie wollen mwenigftens die unausbleiblichen Nachſtöße abwarten, 
meil der Erfahrung gemäß neue Ruhepauſen von mehrjähriger 
Douer darauf folgen. 


Politiſche Stimmungsbilder. 


Palermo, 5. Januar 1909. 

Viel Neues liegt heute nicht vor. Ich kann alfo nur eine Leſe 
von vereinzelten Nachrichten ſowie Stimmungsbilder politischer 
Natur jchiden. Sehr bezeichnend für fizilianifche Zuftände if, daß 
die „Sicilia“ von Catania in einem Artikel mit der Über- 
jchrift: „Nehmen wir die Arbeit wieder auf!" gehamifchte Protefte 
losläßt gegen die Eitelfeitsritter nd falſchen Wohl⸗ 
täter, die wie Pilze aus der Erde ſchöſſen, um fich einen Namen 
zu machen, fich Kredit zu verfchaffen, oder Orden, Gehaltözulagen, 
Avancement oder Reichtümer einzuheimfen. Gegen diefe Spefu- 
lanten des Unglüds, die die herrſchende Verwirrung nur vermehrten, 


Catania: De Felice 251 


müſſe mit aller Energie vorgegangen werden. Wie unverfhämt 
freilich diefe Spekulanten des Unglüd3 find, 
bemeift ein Zeitartifel der „Azione” von Catania, worin ein Herr 
Simili die Rachricht fommentiert, daß die Regierung einen Kredit 
von 600 Millionen für Meſſina bewilligen wolle. Dann jchreibt er: 
„ME Catania im Sahre 1693 duch ein Erdbeben vernichtet 
wurde, zählte es 25000 Einwohner. 18000 Einwohner gingen zu 
Grunde, der Reit von 7000 blieb aber an Dirt und Gtelle, folglich 
war der Wiederaufbau der Stadt logiſch. Aber in Meffina ift niemand 
geblieben. Es fei alſo befier, daß die Regierung 100 Millionen für 
Catania gebe, Damit e3 für die geflüchteten Meſſineſen neue Stadt⸗ 
teile bauen und fie bi3 dahin verpflegen fünne. Die andern 500 
Millionen aber müßten erſt recht Catania gegeben werden, damit 
dieſes feinen Hafen ausbauen und fo den Hafen von Meſſina erjegen 
könne.“ Die Ausführungen, womit diefe Unverſchämtheit begründet 
wird, mag ich nicht wiedergeben. Sie find zu heuchleriih. Was 
fol man zu dem Ganzen jagen? „Niedriger hängen!” 

Smemer Stadt, wo ſolche Auswüchſe des krafjeiten 
Egoismus möglich find, lohnte es jich, eine Heine Enquöte über ihren 
„Herrn“ zu veranftalten. Es ift der Abgeordnete De Felice, 
der feinen Ruhm und fein Mandat als Opfer der Unruhen der 
„fasci“ von 1894 erhielt. Seine Gegner jagen von ihm, er ſei erit 
1893 Sozialift geworden, weil ihm der Präfekt fein leichte? und nahr⸗ 
haftes Staatsamt geben wollte. Ich kenne den Mann perjönlich, 
wie unfereina die Abgeorbneten in Rom kennen zu lernen pflegt. 
Etwas andres ift e3, die Herren in ihrem natürlichen Milieu zu ſtu⸗ 
dieren. Hier jagt man von ihm, er fei jehr mtelligent, ermangle 
aber der Kultur; das niedere Volk ſchwöre auf ihn als feinen Tri- 
bunen. Ein Wink von ihm, und die Stadt jei in Revolte. Er ſtehe 
gut mit Giolitti, der ihm nach Art liebender Väter zugleich mit 
einem Badenftreid) eine Liebkoſung zu geben pflege. Solche Ele- 
mente, wie er, feien aber [chädlich; denn da er kein Vermögen, aljo 


252 Catania: Müßiggang 


nichts zu verlieren habe, könne er nur alle gewinnen durch politifche 
Machenſchaften. Augenblidlich fei er von einer wunderbaren Afti- 
bität, er reiſe zwiſchen Catania und Meſſina Hin und her, bearbeite 
die Preſſe, um den Präfekten von Catania, feinen Feind, zu ftürzen, 
Der Zufall wollte, daß ich, nachdem ich alles das gehört hatte, vor⸗ 
gejtern Nacht im Veſtibül meines Hotel3 De Yelice traf, mo er einem 
Chor von Abgeordneten und Sournaliften geoße Reden gegen den 
Präfekten und die Regierung hielt. Als er mich fah, ftürzte er auf 
mich zu, überhäufte mich mit Liebenswürdigkeiten, und al er erfuhr, 
daß ich zweimal vergeblich verfucht hatte, nach Meffina zu kommen, 
erbot er fich, mich perjünlich Hinzugeleiten. Außerdem bat er mid), 
am andern Morgen in da3 Schweizer Bierhaus zu fommen, da er 
alle Speziallorrefpondenten in die Hofpitäler führen wolle. Sch 
ging auch Hin der Wifjenfchaft wegen, aber ala De Yelice auch dort 
zunächſt ala Volksredner auftrat, drüdte ich mich Still. Als ich geftern 
abend Hier in Palermo ankam, traf ich mit einigen Mailänder 
Politikern zufammen, die ebenfall3 von De Felices Ehrgeiz ſprachen 
und dabei bemerkten, er wolle zur Belohnung dafür, daß er das 
Bolt im Zaume halte, Vizekönig von Gizilien werden (!!). Auch 
das ift bezeichnend für die hiejigen Zuftände. 

In der Tat ift der Umstand, daß, wie ich ſchon fchrieb, in C a- 
tania alle Arbeiter feiern und die Zahl der wirklichen 
und angeblichen Flüchtigen aus Meilina immer mehr wächſt, ein 
Moment der Beunruhigung. Die Polizei ſchiebt zwar von Amts 
wegen alle nicht aus Meſſina gebürtigen Opfer de3 Erdbeben — 
bi3 gejtern 1200 — nad) ihrer Heimat ab, aber e3 bleiben der arbeits- 
Iofen und unzufriedenen Mäuler, die von der Stadtverwaltung und 
der bürgerlichen Mildtätigfeit gefüttert und gefleidvet werden müſſen, 
noch viel zu viele — und Müßiggang ift aller Lafter Anfang! Darum 
bombardieren die ſizilianiſchen Abgeordneten den Minijter der 
Urbeiten mit Telegrammen, er möge doch fchleunigjt öffentliche 
Bauten in Angriff nehmen, Nun wird zum Unglüd die Arbeitz- 





Meflina: Polemiken 253 


lofigfeit durch den Aberglauben gefteigert; denn fortwährend er- 
folgen noch Erdftöße, die dem Volk jede Luft zum Arbeiten nehmen, 
‘da diefes doch unnüß fei, wenn Catania da3 gleiche Schidjal wie 
Meffina haben werde. Außerdem fordern alle Abgeordneten von 
der Regierung, fie möge verhüten, daß fich die Skandale von 1905 
wiederholen, weil damals bei dem Erdbeben im Kalabrien jede 
‚Aktion der Regierung durd) den Zwiſt zwischen dem Militär und den 
bürgerlichen Beamten gelähmt wurde. Der Bürgermeifter der von 
De Telice beherrichten Stadtverwallung jendet Protefttelegramme, 
weil die Regierung die erjchöpfte Stadtkaffe nicht füllt. Die Be- 
fitenden in Catania find voller Unruhe, weil die Stadt von Militär 
entblößt iſt. Die Handelswelt wünjcht, daß die Verfallszeit aller 
Wechſel auf Monate prolongiert werde. Kurzum, es ift ein Chaos. 

Die hiefigen und die von Rom eintreffenden Zeitungen 
jind unterdeffen — auch ein Zeichen der Zeit und des Milieus — 
vollvon Polemiken. Die „Ora“ ſchimpft auf die römische 
„Tribuna“, weil dieje gegen die jizilianifche Indolenz wetterte. Die 
„Tribuna“ jchrieb nämlich unter anderem, die Zuftände in Meffina 
feien jeßt ſchlimmer als am Tage nad) der Kataftrophe, wie felbft die 
Meſſineſen jagten. „Wenn Stalien im Stiege die Hälfte feines 
Heeres verloren hätte, könnte das Unglüd nicht größer fein. Es iſt 
eine Schande, wie Sizilien Meffina vernachläfjigt hat!" Der Abg. 
Colajanni (Republ. Sizilianer) Hatte an die Prejje Brote ft- 
telegrtamme über die ſchlecht Aktion der Flotte 
und der Regierung gejchidt. Der „Avanti“ in Rom bejtätigt Cola- 
jannis Bejchwerden und rügt, daß die Regierung Kalabrien ganz 
vergeffen habe. Die italienischen Behörden hätten immer Kopf- 
loſigkeit gezeigt, auch Die Marine, die ſich jo 1866 die Niederlage von 
Liſſa zugezogen habe. Gegen diefe Angriffe proteftieren aber nicht 
nur Marineoffiziere, fondern ud) Giolitti Hat fich zu zwei 
Unterredungen herbeigelafjen, in denen er alles aufzählt, was die 
Regierung geleiftet habe, und drei Übel nennt, von denen alien 


254 Palermo: Schöne Humanität 





in diefem Augenblide betroffen worden fei: da3 Erdbeben, die Lei- 
chenfledderer und die Baiſſiers an der Börſe, welch Iebteren er 
freilich da3 Handwerk gelegt Habe, indem er ihnen die Börfe mit 
dem Vorwand der Nationaltrauer ſchloß. Zum Shluß de- 
mentierte Giolitti wiederholt die Meldung, 
daß Meffina bombardiert würde. Freilich ſechs 
Monate lang müffe deſſen Gebiet durch einen Truppenktorbon zerniert 
werden, um Infektionen oder gar den Ausbruch) der Peſt zu verhüten. 





Bon Palermo nad) Neapel. 


Bor der Abfahrt nad) Neapel machte ich einen Rundgang durch 
die Straßen Palermos. Da im Hotel die Zeitungen immer 
die gleichen blieben, fuchte ich in den Cafés und konnte feſtſtellen, 
daß Sizilien immer noch von der Welt abgeschnitten ift; die Blätter 
au3 Deutjchland reichten bi3 zum 30. Dezember. Ab und zu be- 
merkte man vomehme Damen, die, von verwandten Herren be- 
gleitet, Geld für die Verwundeten fammelten. Wie häßlich flach 
Dagegen da3 Benehmen der „Signori“ ab! Schon bei meinem 
legten Aufenthalt in Sizilien fchrieb ich bittere Gloſſen über das 
unjoziale Verhalten der „Herren“, der „capeddi“ (Hüte), die es 
lieben, ihren elegant ausgeftatteten Klub an der Hauptittaße zu 
ebener Erde anzubringen, wobei Schaufenjter in unglaublicher 
Größe beliebt find. Da3 macht fi) nun abends bei heller Beleuchtung 
fehr vornehm, wenn die Herren jo ihre Großmächtigleit zur Schau 
tragen. Wenn fie fich aber jet erjt recht proßig auf ihren Fauteuils 
täfeln, jo ift das ein Schlag ins Geficht der Humanität. Und das 
laffen fich die Armen hier bieten? Am Main. und am Rhein winde 
das demokratiiche Volk die Herzlofen ſchon Mores lehren. 

Underthalb Stumden vor Abgang des Dampfers — das Billet 
hatte ich drei Tage vorher beftellen müfjen — verfuchte ich an Bord 


Meſſina: Ruſſenfreundſchaft 265 


zu kommen. Ach mußte mich durch ein Knäuel balgender Menjchen 
Hindurcharbeiten und verlor mein Handgepäd mehrere Male aus 
den Augen. Auf dem Ded traf ich einen deutichen Kollegen, der 
feit dem 29. Dezember ohne Verbindung mit feiner Redaktion war; 
auch er jammerte über den unbefchteiblichen Wirrwarr. Während ich 
mit ihm rede, fehe ich, wie einige Gizilianer die Beſchwörungsgeſten 
machen. Sie trauen dem Dampfer „Marco Polo“ nicht. Vor 
Monaten brach ihm mährend der Fahrt die Achje, fpäter noch die 
zweite Schraube. Er wurde in Reſerve gejtellt, aber jeßt bei dem 
großen Mangel an Schiffen auf gut Glück wieder herangezogen. 
Nette Ausfichten! Und nun höre ich den Stewart noch jammern: 
„Wo foll das Hin! Das Schiff ift ja ſchon geftopft voll! Und immer 
neue „profughi“ (der Ausdrud für die geretteten Meſſineſen) 
kommen!“ 

Zwei Stunden müſſen wir warten. Die Abfahrt verzögert 
ſich, weil die Poſt (ſie hat auch Telegramme von mir) noch nicht 
fertig geworden iſt. Das Meer iſt ſtill und glatt. Friedlich erglänzt 
es im Mondſchein. Beim Nachteſſen komme ich ins Geſpräch mit 
meinen Nachbarn; & find Regierungsbaumeiſter, auf 
der Rückkehr von Kalabrien und Meſſina. Sie erörtern als Faſch—⸗ 
leute die Kataftrophe: „Bon Kalabrien wollen wir nicht 
reden; dort find in den Heinen Städtchen die Häufer aus Feldſteinen, 
Schlamm und Kot zufammengefügt, wahre Maufefallen. Uber auch 
in Meffina hat man zu leichtiinnig gebaut und geradezu tollfühn 
mit den Eifenträgern gewirtſchaftet. Unverantwortlich!“ Und dann 
kam das Geſpräch auf den Heroismus der Ruffen. „Ja, 
jo find wir Staliener. Im ruſſiſch⸗japaniſchen Krieg haben wir die 
Japaner gepriejfen und die edlen braven Ruſſen verachlet. Jetzt 
ſehen wir, mo Edelmut iſt.“ Nach dem Eſſen erlebe ich eine Szene, 
die in Deutjchland undenkbar wäre. Ein Smfanteriehauptmann, 
dem man die Mattigleit vom Gelicht ablieft, wünfcht, daß man ihm 
nachferviere. Der Stewart zudt grob die Achſeln. „Militärbillette 


256 Meffina: Zeitunggmandver 


zahlen dritte und geben Aufenthalt in zweiter Klaffe; hier darf ich 
Sie nicht dulden!” — „Uber, wenn die zweite Klaſſe von Verwun⸗ 
deten überfüllt ift, mas foll ich tun?" — „Das geht mich nichts an!" 
Und der Hauptmann geht mit Bliden ab, die töten könnten. Ich 
wende mich wieder zu den Baubeamten. Sie glauben, daß Meffina 
zur Zeit der Kataftrophe 180000 Einwohner hatte; auf 20.000 
Ichäten fie den Zuzug der Urlauber und Verwandten, die zum Weih- 
nachts⸗ und Neujahrsfeft dorthin gelommen waren. Dann fragen 
fie ſich warum man die Leichen nicht verbrenne, da die Beerdigung 
im Kallkgrabe doch auch eine Verbrennung darftelfe. Dann kommt 
das Thema der Kopflojigkeit der Beamten wieder an die Reihe. 
In Bagnara rettete man ein Mädchen, dem die Beine zerichmet- 
tert waren. Die Erpedition des Roten Kreuzes hatte aber feine chir- 
urgiihen Mefjer. Das Mädchen ging alfo, weil Amputation un⸗ 
möglich twar, zu Grunde. Auch die Sentimentalität fommt zu ihrem 
Rechte. Ein ruffiicher Offizier verliebt fich in ein verwundetes 
Mädchen, das er gerettet hat. Es wird an Bord gefchafft; al er 
ipäter nachkommt, findet er es tot. Dann fehlt auch die wunderbare 
Rettung einer Familie durch einen Papagei nicht, die wohl die 
Runde durch alle Blätter machen wird. Ich bin ficher, daß es ſich 
um Erfindung eines Reporter? handelt. Sie find überhaupt 
findig, au mande Zeitungen Man Tief 
TZelegramme aud Orten, wo gar feine Tele- 
graphenperbindungen eriftieren; aud operiert 
man mit falfher Datierung — der Konkurrenz 
wegen. Go reproduzieren fizilianifche Blätter, die von den 
Baubeamten herumgereicht wurden, da3 Telegramm eines Pariſer 
Blattes aus Reggio, von einem Tage an datiert, mo auch die Re- 
gierung aus jener Unglüdsftadt noch feine Nachricht haben konnte. 

EI Uhr. Das elektrifche Licht erlifcht. Aus der Ede des Salon 
ertönt ein Proteftfchrei: „Aber ich muß arbeiten!" — „Tut nicht8“, 
erwidert der Stewart, „Ordre des Kapitän; die Leute, die Teine 


Meſſina: Alpdrud 257 


Kabine haben, wollen und müfjen hier fchlafen!” Ich fehe mir 
den Proteitierenden an. Es ift der norwegifhe Dichter 
Bernt Lie, der dem jugendlichen Björnſon gleicht. Er ift ver- 
zweifelt. „Sehen Sie”, fagt er mir, „ich fam durch Lift vor dem 
Belagerungszuftand nach Meffina. Ich bin hundemüde, phyſiſch, 
geiftig, moraliſch. A die Tage war ich unfähig zu arbeiten, zu 
denken. Das Elend ift unfaßlich. Und dann der Leichengerud), der 
mic mein ganze Leben lang verfolgen wird! Dazu feine Kabine. 
Schlafen kann ich ſchon feit einigen Tagen nicht, und ob mir's in 
diejer Ede gelingt?” 

Sch gehe auf's Ded der dritten Klaſſe. Neben mir jagt ein 
höherer Offizier: „Ganz wie in Kalabrien!” In der Tat, wie dieſe 
Armſten der Armen auf den Platten liegen, wie Pakete, kunterbunt 
übereinander. Leben ſie überhauptnoch? Einzelne zerlumpte Männer 
haben fich in Deden fo eingehüllt, daß fie Säden gleichen. Und 
dazwiſchen eine Idylle. Ein Rotkäppchen, pausbädig, drei Jahre 
alt, figt heiter und ftill zwiſchen all dem Elendspolf und ſpielt mit 
einem Tuchfeben, den e3 fich zur Puppe gewandelt hat. Das Bild 
wirkt im Mondſchein noch Tieblicher. 

In der Kabine find wir zu drei Mann. Nummer eins ſchnarcht 
fchon, daß die Wände zittern. Nummer zwei, der ſich gerade jchlaf- 
fertig macht, ein jympathifcher, vornehmer Herr: „Ob wir fchlafen 
können? Dies Schnarchen ift ja Erobebengetöfe!" Cr hatte recht. 
Schlaf fanden wir alle beide nicht. Das war fchon Fein Schnarchen 
mehr Hinter dem roten Borhang, nein, Schluchzen, Stöhnen, unter- 
drücktes Schreien eine Gewürgten. Am andern Morgen, ald der 
Schnarcher für einige Nugenblide die Kabine verließ, jagte Nummer 
zwei mit gepreßter Stimme zu mir: „Sch muß um Entichuldigung 
bitten. Gejtern abend mußte ich nicht, wer der Herr war. Syebt 
Tenne ich ihn. Es ift der dritthöächite Beamte im PBoftminifterium. 
Er hat acht Verwandte in Meſſina verloren und ift bis heute ohne 
Nachricht. Den hat diefe Nacht der Alp gedrüdt.” 

Bader: Im Lande bed Erbbebens. 17 


258 Meilina: Ein braver Mann 


Nachher komme ich mil dem Schwergeprüften ind Geſpräch. 
Nachdem ich ihm. vergebens Troft zugeiprochen, lenkt er ab und 
Ipricht von dem braven PBoftbeamten,dem es zu ver— 
danken fei, daß die Regiecung fo verhältnis- 
mäßig ſchnell unterrichtet wurde. Er tat Dienft 
im Poftwagen zwiſchen Meffina und Siracuſa. In der Unglüds- 
nacht war er frei und ſchlief in Mefjina. Als der Stoß erfolgte, 
hatte er die Geiftesgegenmwart, fich unter die Türpfoften zu flüchten 
und blieb jo heil. Er wartete von halb ſechs bis halb jieben auf 
neue Stöße, damn Hetterte er über die halb erhaltene Treppe ins 
Freie, rollte jeinen Dienftmantel über den Rüden, um jich gegen 
herabfallende Steine zu fchügen und kroch über die Trümmerberge 
bis zum Strande. Bon dort lief er zum Zentralbahnhof, und, als 
‚er diefen zerjtört und feinen Zug fand, ging er zu Fuß über Giarbini 
(Taormina) längs der Geleife bis Scaletta, wo er ein dringendes 
Telegramm an den Provinzialpoftdireftor von Siracuſa abgab. 
Durch ihn erfuhr das Unglüd als der erfte der Poſtminiſter, der den 
Minifter de3 Innern benacdjrichtigte. Leider glaubte man zunächft 
in Rom, die ſüditalieniſche Embildungstraft habe übertrieben; als 
man aber die ganze Größe des Unglücks kannte, verheimlichte man 
ſie, um dem Volke die Kunde ſtückweiſe beizubringen; denn der Ein⸗ 
druck der Wahrheit hätte bei den vielen Meſſineſen und Kalabreſen 
in Rom, Neapel, Palermo Tumulte hervorgerufen. Und ſo ſprachen 
wir noch lange über den Gegenſatz zwiſchen Nord und Süd, über die 
Vorherrſchaft der nordiſchen Plutokratie, die Süditalien wiriſchaft⸗ 
lich gerade ſo behandle, wie früher Frankreich ganz Italien gegen⸗ 
über verfuhr. Auch das Thema Naſi wurde angeſchlagen; denn es 
beherrſcht die Sizilianer noch immer. | rn 
Doch ich ging auf neue Kunde mı3. Beim Kaffee treffe ich 
mehrere Abgeordnete und den Senator Paterno, den Direktor 
des Zentralgefundheitsamtes; er erklärte, „Seneral Mazza iſt 
ein guter Soldat, aber fein Mann der Aktion, von einem: Bom- 


Meſſina: Nervenchok 259 


bardement Meſſinas iſt feine Rede mehr, höchſtens würden partielle 
Sprengungen vorgenommen, aber erft nad) Wochen”. Die Stadt 
ift in acht militäriiche Zonen eingeteilt; jede Zone erhält an der 
Peripherie einen Spezialkirchhof, mo die Leichen in Kalt 
beerdigt werden, Man glaubt, da der Transport äußerft ſchwierig 
ift, mır 1000 Zeichen jeden Tag beerdigen zu fünnen. — In Meifina 
dauert das Erdbeben fort. Am 2. Januar erfolgte ein 
folder Stoß, daß das halbzeritörte Rathaus ganz einfiel. Selbſt die 
Kriegsſchiffe wurden derart gefchüttelt, daß die Königin“ 
Kontujionen erhielt. „Wir find noch in einer Beriode ſeis— 
miſcher Aktivität und es ift fein Bergnügen, in der Erd— 
bebenjtadt zu weilen, Die Leichen, die unter den Trümmern liegen, 
werden dort gelajjen, da der Dauerregen den Kalkverputz der Häufer 
über fie ſchwemmte und ihnen jo mit Sand und Mörtel ein hy⸗ 
gieniſches Grab bereitete, Nur an vereinzelten Stellen wird Kalt 
geichüttet. Ob die Überlebenden, die in Niſchen und Kellerhöhlen 
noch atmen, geborgen werden können, ift fraglich, denn die Au f- 
räumungsarbeiten werden jelbft bei weiſeſter Organi«- 
fation drei bi3 vier Jahre dauern.” Nun verbreitete fich der Herr 
Senator als Arzt und Phyſiologe über ven Nervencdoc, den 
Kataftrophen mit fich bringen. Er fand bei vielen Geretteten in 
Meſſina Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Amneſie. Auch Fälle 
von feiger Furcht und Zwangsvorſtellungen teilte er mit. Ein. 
Mediziner, Profeſſor Ga b bi, lag ganz heil unter den Trümmern; 
er war ganz bei Sinnen und konnte noch logijch denken. So fagte 
er ih: „Auf meinen Knien liegt ein Stein, den ich mit einem 
Händedrud entfernen kann.“ Aber er hatte nicht die Kraft, fich zu 
bewegen. Zum Glüd rettete ihn fein Sohn. Dann wich der Starr- 
Trampf. Und derſelbe Mann trennte ſich dann von feiner Yamilie, 
um fich fofort der Pflege der Verwundeten zu widmen. Weiter 
ſprach Senator PBaterno über die Ruſſen. „Man hat es ala 
etwas Staunenswertes gepriefen, daß fie alles Handwerkszeug zum 
17* 


260 Meilina: Der Sournalift als Räuber 





Ausgraben, ja ſogar Armhandſchuhe hatten zum Schuß gegen In⸗ 
feltion. Aber man darf nicht vergeffen, ihre Schiffe waren nad} der 
Mandichurei beftimmt, mußten aljo wie zum Kriege ausgerüftet fein, 
während unjere und die fremden Striegsichiffe, wie immer im 
Frieden, ſich darauf verlaſſen konnten, daß fie alles Yehlende in 
irgend einem Hafen ergänzen könnten. Die Kataftrophe traf fie 
aljo unvorbereitet.” 

Die Ausfchiffung bei Sonnenaufgang, der das Hafenbild 
überaus malerijch machte, war wieder eine einzige Balgerei. Ord⸗ 
nung lernen die Süditaltener nie”, rief mir der norwegiſche 
Dichter zu, der in einem Knäuel von Matrofen, Flüchtigen und 
Gepädträgern eingeleilt war. Am Nachmittag traf ich ihn wieder 
auf dem Telegraphenamte: „Nein, dieſes Chaos auf der Präfektur! 
Was mid) das an Trinkgeldern Toftete, um big zum Präfelten vorzu- 
dringen! Und dann habe ich doch nicht? erfahren.” Auch ic) Aagte 
‚mein Leid. Ich Hatte am Morgen eine Statiftit der in 
Keapel eingetroffenen „profughi“ erfahren wollen. 
Auf keiner Redaktion konnte man mir Antwort geben, dafür verwies 
man mic) and Arjenal. Aber da3 war von einem Kordon Marine- 
foldaten umijtellt, die feinen Menjchen ducchliegen. Auf den Re- 
dakionen erfuhr ich, mir zum Trofte, daß es jelbft italieniichen Spe- 
zialkorreſpondenten jehr jchlecht erging. Einer der Korrefpondenten 
des „Sorriere della Sera”, der wadere Feuilletonift Civinini, 
wäre ſogar beinahe aß Räuber behandelt, d.h. erſchoſſen 
worden, al3 er in Meſſina neben der Leiche eines jungen Mädchens 
ein Pad Liebesbriefe aufhob. Ein Kollege, der Militärmübe und 
Offiziersmantel trug, rettete ihn. Auch wurden mir die Schwierig- 
leiten der Nachrichtenübermittlung berichtet. Die Korreipondenten 
des „Corriere“ beginnen alle ihre Meldungen mit den Worten: 
„Ich weiß nicht, ob das folgende ankommt.“ Im Zeitalter der 
Funkentelegraphen und im Baterlande Marconis miſſſen fie 
ihre Briefe einem in Mejlina improvijierten Telephon anvertrauen. 


Neapel: Deutiche Wohltätigteit 261 





Die Bhonogramme kommen dann von Palermo per Poſt (ein ein- 
ziger Dampfer täglich!) nach Neapel und gehen von dort tele- 
graphiſch weiter. Und dabei handelte e3 fich um das größte, reichite 
Blatt Italiens, das wahrlich feine Koſten zu jcheuen bat. Wie foll 
ed da auswärtigen Korrejpondenten ergehen, die ſelbſt mit den 
größten Geldopfern nichts machen können, da man fie vielfach als 
läftige Eindringlinge und Störenfriede betrachtet. 

Am Nachmittage befuchte ich das deutſch⸗ſchweizeriſche Klub⸗ 
haus „Mufeum”, den Si des „Hilfsfomitees der Fremdenlkolonie“, 
dem Deutiche, Schweizer, Engländer, Amerikaner und Oſterreicher 
ongehören. Alle Räume, aud) der Balljaal und das Theater find 
zur Aufnahme, Verpflegung und Kleidung der italienischen Flücht⸗ 
linge eingerichtet. Welch herzerquidende Charitas, welch jchnelle 
Drganifation und Bejonnenheit und welch praftiiher Sinn! Und kein 
italiſches, fein neapolitanifches Blatt hatte bisher von diejen Fremden 
Notiz genommen, die bis zum 6. Januar über 150 000 Lire aus⸗ 
gegeben, zwei Hofpitäler eingerichtet, 200 Flüchtlinge gebadet, 
desinfiziert, gelleidet, verpflegt, untergebracht hatten, ja ſogar 
einen Dienst eingerichtet haben, um auch für die Zukunft der Pilege- 
finder zu forgen, indem man ihnen Wrbeit vermittelt und ihnen 
Wohnungen beforgt, die man mit den notwendigften Möbeln aus- 
Hattet! Meine Bewunderung Tannte feine Grenzen, als ich die 
Küche, den Desinfektionzfaal, da3 zum Schlafſaal verwandelte 
Theater, die Schneiderwerfitatt im Balljaal ſah. Ehre den waderen 
Landaleuten! Aber eins befümmert fie: Während fie jo für die 
Gizilianer forgen, können fie fich nicht der eigenen Landsleute an- 
nehmen, die in Meſſina Hab und Gut verloren haben. Da muß die 
Heimat einfegen, um diefen Armſten zinsloſe Vorfchüffe zu geben, 
damit fie ſich eine neue Eriftenz grümden können. Man adrefliert 
an Konjul Karl Aſelmeyer oder an das Hilfefomitee der 
Fremdenkolonie, Via Egiziaca 41, Circolo Museum, Villino 
Weiss. 


262 Meſſina: Bureaukratie 


Neapel, 6. Jamuar 1909. 


Belcredi vom ‚Meſſaggero“ entwirft ein ſchauerliches Bild 
vom Chaos der Bureaufratie m Meffina Der 
Minifterpräfident Siolitti habe alle Vorkehrungen getroffen, 
aber den Fehler begangen, zu viele Chefs zu jchiden. Die Folge ſei 
höchfte Konfufion. Die Boote der Kriegsfchiffe konnten zur Rettungs- 
altion nicht benüßt werden, weil Gegenbefehl gebracht wurde. 
Alles war an Bord vorhanden: Waller, Brot, Arbeitswerkzeuge, 
aber fie wurden nicht verteilt, und da Hafenpolizei mangelte, mußten 
die Kriegsfchiffe zu weit vom Lande ankern. Der Dampfer „Duca 
di Genova”, der wegen jener Neuheit vorzüglich zum Hofpitalichiffe 
geeignet gemwejen wäre, wurde vom LOberlommandanten zum 
Generalquartiererkoren, anftatt daß dieſer auf? Land unter 
eine Barade ging; freilich, in der Baracke wäre vielleicht eine gute 
Berpflegung unmöglich, die das Generalquartier derart befümmerte, 
dag zwei Stunden verloren gingen mit der Feſtſetzung der Tiſch⸗ 
ordnung. Während unterdefjen die Soldaten am Lande laut darüber 
Hagten, daß fie zur Untätigfeit verurteilt waren, und das Brot auf 
den Schiffen ſchimmelte, wies man da3 Angebot eines fremden 
mit Lebensmitteln beladenen Dampfers zurüd, der felbft die Aus- 
Ihiffung der Güter bejorgen wollte. Die Einjegung eines bürger- 
lien Diktator wäre notwendig, der über den Rivalitäten einzelner 
Waffengattungen jtünde. Hand in Hand mit der Konfufion geht die 
Abneigung der Behörden gegen die Journali Be en, die wie 
Räuber behandelt werden. 

Nachrichten aus Scilla in Kalabrien melden se 
Elend. Die Stadt ift ganz zerftört und verlaffen; infolgedeflen ent⸗ 
wideln die unbeerdigten Leichen einen ſolchen Geſtank, daß die An⸗ 
näherung unmöglich ift. Ein englifches Schiff, das retten mollte, war 
zur au gezwungen. | 


Meſſina: Die Geretteten 263 


Neapel, 7. Januar 1909. 

Geftern veranftaltete der Erzbiſchoff von Meſſina eine 
Prozeſſion zum Kirchhof Maregroffo, und fegnete dort das 
Maffengrab; dann zog er zum erzbijchöflichen Balaft, wo er die dort 
verſchütteten Geiſtlichen ſegnete. Die Verteilung der Lebens⸗ 
mittel wurde plötzlich eingeſtellt, da vorgeſtern 50 000 Rationen 
verteilt wurden, während die Zahl der Fl üch tig een, der Beamten, 
und Soldaten 20 000 nicht überſteigt. Dies iſt ein Zeichen, daß die 
Bauern der Umgegend Meſſina als Wohltätigkeitsaſyl betrachten. 
Der Oberkommandant verfügte, daß Lebensmittel nur noch vom 
Kriegsſchiff „Regina Elena“ ausgegeben werden. Hier werden 
alle zurüdgehalten und vor die Wahl geftellt, in Meſſina zu 
bleiben ohne das Recht der Berpflegung, oder 
fihnahdemKontinenttransportierenzu lafjen. 

Dieſe Maftegel erbitterte die in Meſſina weilenden Abgeord⸗ 
neten; fie proteftieren und verlangen den Wiederaufbau der Stadt 
und einſtweilen die Staatsverpflegung aller ihrer Bürger. Die in 
einem Eiſenbahnwaggon verſammelten ſiebzehn übrig⸗ 
gebliebenen Provinzialabgeordneten forderten ener- 
giſch, daß ihnen die oberfte Zivilgewalt in der Stadt übergeben 
werde, ein Anjinnen, das den Spott Antonio Scarfoglios 
über ihren naiven Egoismus herborruft. Scarfoglio meldet weiter, 
alle Kirchen feien zerftört bis auf St. Andrea Avellino, die vor 
Monaten wegen Baufälligfeit gefchloffen wurde. Die Aufzählung 
der in der Nähe von Meffina zerftörten Orte fei fchwierig, eine 
Statiftit unmöglich; Italien werde nie erfahren, mie biele- jeiner 
Söhme i im Meffinagebiet zu Grunde gingen. 

Giolitti erließ ein Dektet, um den Fällen der Ausbeutung 
von flüchtigen jungen Mädchen zu fteuern. Der Marineminifter 
befahl die fchleunigfte proviforifche Herftellung der Leuchttürme, 
um die Schiffahrt in der Meerenge von Mefjina wieder zu Jichern. 
Die Spezialfortefpondenten des „Giornale d'Italia“, eines Oppo⸗ 


264 Meſſina: Die Meerenge 


jition3blattes, beflagen es, daß der Zugang nad) Meffina den 
Sournaliften vermehrt fei. 

Geftern vollendete ein neuer Erdftof die völlige Zer—⸗ 
jtörung de3 berühmten Campo Santo von Mefjina. Yrei« 
lich ift diefes ſelbſt jebt ein einziger Kirchhof oder ein verlaffenes 
Schlachtfeld, das mit Leichen überfät ift. Der Abgeordnete Principe 
Scalea, der eine Hilfserpedition von Rom nad) Kalabrien 
bringen wollte, meldet die höchſte Eifenbahnmiläre auf der kalabri⸗ 
ſchen Strecke. 

Sn Reggio iſt die Jacht „Emma”, an Bord Dr. Grae⸗ 
veniß vom Geologiichen Inſtitut in Jena eingetroffen. Dr. Grae- 
veniß hat Mefjungen in der Meerenge vorgenommen. Im 
Süden der Meerenge, wo bisher die Tiefe 1000 Meter war, 
wurden nur 450 Meter gefunden. Die Tiefe zwilchen Capo Beloro 
und Punta Pezzo, die bisher 80 Meter betrug, ift nur noch 12 Meter. 
Dr. Graevenig erflärt, die Konbulfion des Bodens dauere fort; 
alfo dürfe die Dauer des Phänomens noch nicht als beendigt betrachtet, 
jedenfall müfje die Hydrographie der Meerenge wiſſenſchaftlich eu 
bearbeitet, auch da3 Relief der Küften neu aufgenommen werden. 


— — — 


Weitere Hinderniſſe. 


Neapel, 8. Januar 1909. 

In der Heimat kann man jich den hieſigen Wirrwarr nicht vor- 
jtellen. Weiß Gott ! ch bin bei den fchlaflofen NächteninCatanie, 
wo die Erdbebenpanif alle ergriffen hatte, nicht nervös ge- 
worden, wenn auch der Wind an den fchlecht jchließenden Fenſtern 
ſehr oft rüttelte und fo manchmal Erdbeben vortäufchte; ich hielt auch 
jehr oft, jelbft wenn e3 ſehr ſchwer fiel, dem Schmerzendausbruch 
der Vertriebenen und dem Weinen der Frauen aus Mefjina ftand, 
aber hier drohen meine Nerven zu verjagen. Ich glaube, man 


Neapel: Fahrthinderniſſe 265 





müßte zuerjt in einen Gefrierraum gehen, um jich eifige Ruhe zu 
erwerben. Seit geitern Mittag werde ich nicht nur von Pontius zu 
Bilatus, jondern auch von Herodes zu Kaiphas geichidt; ich bin ein 
Rohrpoftbrief, der von Station zu Station gepuftet wird, ein Tennis 
ball, von Ede zu Ede gejchleudert. Auf der „Navigazione Generale“ 
fing’3 an. „Gehen Sie zum Seelommando!" Das heißt, ich fahre 
in den Marterwägelchen, die die Form der Mufchelboote haben, in 
denen die Meergöttinnen, vor allem Galathen, zu reifen pflegten; 
nur find fie nicht fo bequem. Dabei find auch Neapels Kutſcher alle 
unjicher geworden; jie fahren mit großer Konſequenz an die faljche 
Adreſſe. Dad Seelommando im alten Anjoujchloffe ift von 
Marinejoldaten umzingelt. Em Offizier weiſt mich zum Dipi- 
jionsfommando. Dort angelommen werdeihzum Korp3- 
fommanDd ogewiefen, das fich glüdlicherweife im gleichen Palazzo 
befindet. Ein Mdjutant liebenswürdigſter Art will mir jogleich einen 
permesso ausftellen und fragt, ob ic) noch am gleichen Abend ab- 
reifen wolle. Ich fage natürlich freudigſt Ja. Er verſchwindet, um 
den Schein auszufertigen. Nach zehn Minuten kommt er zurüd und 
bedauert, daß der meinem Gejuche al3 Grundlage dienende Paß des 
Bräfelten von Catania das Bifum des Präfelten von Neapel haben 
müffe. Alſo auf zur Präfektur. Hier werde ich, nachdem ich 
bi3 zum Borzimmer des Allerbeiligften dDurchgedrungen bin, zunächſt 
mit großem Mißtrauen betrachtet, von Kopf big zu Füßen gemuftert 
und jchroff abgefertigt. Nach längerem Barlamentieren läßt ſich der 
Zerberus herab, zum Präfekten zu gehen. Ihn jelbft dürfe ich nicht 
ſprechen. Gut! Nach zehn Minuten ehrt Herr Zerberus zurüd. 
„Unmöglich. Sie müſſen Erlaubnis vom Minifterium in Rom haben, 
Wenn Sie feine Geduld haben, auf Antivort zu warten, fo fahren Sie 
nach Palermo und Catania, Sie haben ja von der dortigen Präfektur 
Erlaubnis!" Co höflich da3 auch gejagt wurde, es Hang wie Hohn. 
Sofort eile ich zum Telegraphenbureau und telegraphiere an den 
Minifter des Außern, dann zum deutichen Generallonfulat. Die 


266 Neapel: Berliner Hilfsaktion 


Bureaus find gefchloffen, der Herr Generaltonful dienftlich abweſend. 
Heute morgen wende ich mich mit dringendem Telegramm perfönfich 
an den Korpslommandanten, den Herzog von Ao ſt a. Dann fahre 
id) wieder zum Generaltonfulat. „Geben Sie mir, bitte, irgend eine 
Legitimation, oder eine geftempelte Erflärung, die mic) ausweiſt 
und mich vor dem Präfelten legitimiert“, fage ich zum Sekretär, 
da der Herr Generallonful amtlich draußen bejchäftigt ift. Mir wird 
zur Antwort: „Fahren Sie zum Bahnhof, dort kommt der Luxus⸗ 
zug an mit der Berliner Hilf3erpepdition; der Her 
Bizelonful Freiherr von Stein wird Ihnen weiterhelfen.” Alſo zum 
Bahnhof. Dort treffe ich nach langem Suchen den Herrn Vizekonſul. 
Auch er ift untröſtlich; er meint, der Präfekt fei zu ängftlich geworden. 
Auch geftern habe er einen deutfchen Kollegen darauf aufmerfam 
machen müfjen, daß der amtliche Weg über Generallonfulat, Bot- 
haft, Minifterium in Rom bei dem Andrang der Gejchäfte drei, 
vier Tage erfordern könne. „Werm ich mich dann der Berliner 
Erpedition anſchließe?“ — „Warum nicht? Aber fie geht über 
Palermo nad) Catania und Syracus; foeben hat da3 Note Kreuz 
in Rom diefe Weifung erteilt." Das kann mir nicht? nüßen. Schließ- 
lich findet der Herr Vizelonful einen Ausweg. Er fchreibt eine Karte 
an den Präfekten, worin er die „Frankfurter Zeitung” nach ihrer 
Bedeutung charakterifiert und darauf Hinweift, welche großen Sum⸗ 
men die Zeitung ſchon für die Opfer der Erdbeben in Stalien in ihrem 
Leſerkreis zufammengebradht hat. Sofort fahre ich zur Stadt zurüd. 
Auf dem Wege komme ich am deutichen Konful vorüber. Wir leben 
im 2ande der Konnerionen, vielleicht fennt Herr Ajelmeyer 
einen Präfekturrat perfönlih? Alſo Halt! Herr Konful Ajelmeyer 
ift jehr freundlich, aber er erflärt: „ch bin nur kaufmännijcher 
Konſul!“ | 

Unterdefjen ift eg Mittag geworden. Bor drei Uhr darf ich auf 
der Präfektur nicht ftören. Ich habe ja auch noch Zeit, da Schiff oder 
Bug erft abends nach Süden gehen. Im Hotel treffe ich den Aller⸗ 


Meflina: Wiederaufbau? 267 


melt3-Korreipondenten Belcredi, der in China, Amerika, 
Marokko, Abeſſynien und fonft wo noch befannt if. Er kommt von 
Meffina zurüd. „Sie wollen dahin? Machen Sie fich feine 
Illuſionen! Der Säbel herrfcht. Auch ich habe in Rom am 29. De- 
zember allen meinen Einfluß aufbieten müffen. Kommen Sie den- 
noch durch, fo riskieren Sie, ald Räuber erfchoffen zu werden." — 
„Aber auf dem Umweg über die jonifche Küſte komme ich wenigftens 
nad) Reggio.” — „Samohl, verfuchen Sie ed. Auf der Linie Neapel- 
Reggio kommen Sie nicht durch; denn nicht achtzehn Kilometer, nein 
bietzig find nördlich von Reggio zerftört, Wagen finden Sie nicht 
und ein Schiff, eine Barke auch nicht, und wenn Sie fünfhundert 
Lire bieten. Gelbft der Abgeordnete de Napa, der in Reggio 
alles verloren Hatte, mußte mit einem Wiener Korrejpondenten 
von Bagnara nach Neapel zurüdiehren.” Ich frage ihn nad) dem 
Eindrud, den er in Meffina erhalten habe. „Schredlich, der Wort- 
ſchatz verfagt. ch habe viele Schlachtfelder gejehen, viele Zer— 
ſtörungen durch Erdbeben, Überſchwemmung, Erdrutſch, Brand, 
aber Meſſinas Grauen iſt einfach unbeſchreiblich!“ — „Und was 
fagen Sie vom Wiederaufbau Meſſinas? Die Abgeordneten, 
bie ich in Palermo traf, befürworten ihn?” — „Io wollen Sie hin? 
Die Abgeoröneten denken nur an ihr Mandat, objchon viele alle ihre 
Wähler verloren haben. In Meffina find 100,000 Leichen, wenn nicht 
mehr. 25,000 Gerettete erflärten, unter feinen Umständen mehr 
dorthin zurüdfehren zu wollen. Der Wiederaufbau Toftet anderthalb 
Milliarden. Der Hafenkai ſenkt ſich beftändig, die Unterftadt ift be- 
droht, die Eröftöße dauern fort. Welche Regierung will die Ber- 
antwortung für da3 Leben derjenigen übernehmen, die leichtjinnig 
genug find, es zu riskieren.” Ich fpiele dann auf die ftrategijche 
Bedeutung Meſſinas an, die den Wiederaufbau empfiehlt, bemerfe 
auch, daß nach den Zeitungen Frankreich zwölf Millionen für Meifina 
angeboten habe unter der Borausfegung, daß die: Stadt wieder- 
errichtet werde, daß nad) dem „Daily Telegraph” auch England 


268 Meflina: Vestigia terrent 


Regierung ſich an der Erneuerung der Stadt beteiligen wolle, weil 
deren Erhaltung in ihrem Intereſſe liege. „Ma che!“ antwortet 
Belcredi, „Stalien läßt ſich weder von Frankreich noch von England 
Bedingungen vorjchreiben. Die ftrategiiche Bedeutung Meſſinas 
hört auch jeßt nicht auf, die Forts haben wenig oder gar nicht gelitten, 
und im Notfall können wir neue Yort3 auf den felligen Höhen er- 
richten.” — 

Sch habe mich wohl gehütet, diefe Außerungen Beleredis zu 
telegraphieren, denn die Zenfur ift Doppelt ftreng, und ihr oberjier 
Herr, der Minifterpräfident Giolitti, nervös geworden; hat 
er doch an alle italienischen Zeitungen eine energiiche Mahnung 
gerichtet, worin er fie vor den phantaftiichen Berichten der Korre⸗ 
jpondenten warnt. Dabei hat auch der Diltator-General 
Mazza in Meſſina jebt ein Preßbureau für die Yournaliften 
eingerichtet, damit fie authentiſche Nachrichten erhalten. Alles 
ſchön und gut! Aber wenn man die Sournaliften hindert, nad 
Meſſina zu gehen, um an dieſer lauteren Quelle der Wahrheit 
zu jchöpfen? Erkläret mir, Graf Derindur! Doch ich verzichte 
auf Antivort. | 

Andere unangenehme Töne Hingen in das allgememe Elend 
hinein. Aus Kalabrien dringt an die Prefje der Notſchrei: „Schüßet 
uns vor den Bauunternehmern und den Spelulanten, die und 1906 
auögebeutet haben!" Bon Palermo und Neapel aus warnen 
angejehene hochgeitellte Perſonen in der Preſſe zur Borficht in der 
Berteilung der Rohltätigfeitögelder; denn „vestigia terrent“. Die 
Erfahrungen von 1894 und 1905, die zu den befannten parlamen- 
tariſchen Unterfuhungen führten, find noch in aller Gedächtnis. 
Ein Blatt jchreibt aus Kalabrien: „Wir haben nur Vertrauen in da 
Pionierkorps!“ Ganz wie 1905, mo mir in den zerjtörten kalabriſchen 
Dörfern die Pfarrer Händeringend entgegenfamen: „Bitte, jchreiben 
Sie in den Beitungen, daß man die Hilfägelder nur den Karabinieri 
anvertraute!” 


Meſſina: Lebendig im Schutt 269 


Unterdejjen ift Profeſſor Spinelli, der emen erſten Trupp 
des Roten Kreuzes nah Meffina geleitet hat, hierher zurüd- 
gelehrt. Er dringt darauf, daß man die Rettungsarbeiten nicht 
einſtelle. Das Beilpiel von Safamicciola beweife, Daß man 
noch Xebende finden müſſe. Port habe man noch nad) 
fünfzehn Tagen Lebende entdedt. In Meffina aber hätten in vielen 
Häufern die Trümmer Schußdächer über Kellern und Parterre⸗ 
räumen gebildet. Aberhunderte feien alfo noch dort zu finden, mit 
aller Wahricheinlichkeit Hätten dieſe auc noch irgendwelche Nahrungs- 
mittel. Viele jeien auch in Starrkrampf gefallen; das habe er jelbft 
bei der Braut eines Soldaten gefehen. Sie wurde nad) fieben Tagen 
gerettet und hatte da3 Beitgefühl verloren; fie meinte, das Unglüd 
fei an Weihnachten paffiert, und fie hatte die Empfindung, daß fie 
nur kurze Zeit ohnmächtig gewejen fei. „In Meljina brauchen wir 
Arzte anftatt der vielen Gewehre. Auch foll man die Geretteten nicht 
abichieben, nein, im Gegenteil, fie militäriſch mobil machen, in 
Gruppen ordnen, damit fie angeben können, wo ihre Verwandten 
lebten. Ihr Rat vermag mehr al3 die unbelehrte Hilfe der Soldaten, 
die von auswärts fommen und Stadt und Gegend nicht Tennen.” 
Auch Profeſſor Spinelli ift für den Wiederaufbau von Meffina. Doc) 
empfiehlt er nur zweiftöcige Zementhäufer und die Anlegung großer 
Plätze. Am beiten freilich wäre es, wenn man dag Beifpiel eines 
Arztes aus Meffina befolge, deffen Haus Heilgeblieben fei. Allerdings 
fei fein Syſtem fehr foftfpielig. Er hatte ein anderthalb Stockwerke 
hohes Haus mı3 armiertem Zement, da3 rings von Eifenbändern 
umfchient war; denn er war ftet3 von der Erdbebenfurdjt geplagt 
geweſen. Römiſche Baubeamte empfehlen dagegen Häufer aus 
Holzfachwerk, deſſen Zwiſchenräume mit Zement ausgefüllt werden. 

Wann ich den nächſten Brief fchreiben werde und mo, das 
wiſſen die Götter. 


270 Meffina: Abfahrt 





Auf der Fahrt nach Meffina. 

An Bordder „Sardegna”, 10. Januar 1909. 
Endlich — ich traue meinen Augen kaum, — habe ich Erlaubnis- 
ſchein des Präfekten von Neapel, Paß des Minifteriums des Innern, 
Bifum des Armeelorpstommandanten! Ach darf in allen Exd- 
bebengebieten frei umbherftreifen. Haftig treibe ich meinen Kutſcher 
zur „Navigazione Generale”. Dort neue Schwierigleiten. Der 
Kafjierer will mir die Paſſierkarte des Präfekten zurüdhalten. Als 
Beleg. Das ift Vorfchrift. ch ſtürze in die oberen Stodiwerfe zum 
höchften Herrn. Cr ift Genuejer. Sofort jchide ich alle meine ge- 
nuefifchen Bekannten ind Gefecht, darunter auch General Canzio, 
Garibaldis Schwiegerfohn; zur Uinterftügung zitiere ich den Mäch- 
tigjten der Gejellichaft, Bincenzo Ylorio. Der Sieg ift mein. 
Man macht eine Ausnahme. Doch wird mein Schein zunächſt mit 
der Mafchine Topiert; denn Dokumente für die Oberften der Striegs- 
diktatur find nötig. Der Herr Sekretär aus Genua gibt mir fogar 
eine Empfehlung an den Kommandanten der „Sardegna” mit. 

Um ſechs Uhr abends fahre ich zum Hafen. Im Ohr fummt 
mir das Wort des Adjutanten des Herzogs von Xofta: „Wir über- 
nehmen feine Beramtwortung, Sie gehen auf eigenes Riſiko!“ 
Auf dem Dampfer (ein transatlantifcher, der fonft nach Brafilien 
fährt) wirkt die Empfehlung des Genuejen. Ich erhalte eine pracht- 
volle Einzellabine. Gejchäftiges Treiben an Bord; Lebensmittel, 
Riejenflafchen („damigiane“) werden eingeladen, Soldaten, Poli- 
ziften eingejchifft. Aber die herrlichen Salons find leer, In eriter 
und zweiter Klaffe nur ein Dubend Paflagiere, Offiziere, Polizei- 
Tommiffare, Mailänder Herren vom Roten Kreuz. Wir haben ſtarke 
Berfpätung. Um zehn Uhr erichallt Kanonendonner. Was ift paj- 
fiert? Amerikanische Kriegsſchiffe fahren ein. Neuer Schred! Wie 
die Anker gelichtet werden, haben wir einen Zujammenftoß mit 
dem Dampfer „San Giorgio”. Am Badbordgeländer werden 


Meſſina: Vorbei am Stromboli 2371 


armdide Eijenftangen geknickt. Der Kapitän flucht vor jich Hin. 
Bewegtes Meer! Dem Befuv gegenüber erhebt fich ſcharfer Wind. 
Das Schiff rollt. Wie prächtig werde ich in meinem Bett gemiegt! 
Zum eriten Male in diefen Tagen denke ich nicht an Meſſina. 

Früh bin ic) auf Ded. Das Schiff tanzt. Das Waller ringsum 
icheint zu fieden; es wirft Blafen auf. Bald gleicht es flüffigem 
weißgeädertem Schwarzmarmor, bald breiigem Graufchiefer, Ein 
Gejpeniterichiff ſcheint's. Kein Menfch zu jehen. Jetzt betrachte ich 
‚mir die Batterien der „damigiane“; fie jind nicht mit Wein, wie 
ich dachte, fondern mit Lyſol gefüllt. Über finfhundert Stüd. Am 
fernen Horizont taucht der Stromboli auf. Er gleicht einem 
Riefentarabinierehut mit weißem Federbufch. Und fchaut fo unfchuldig 
aus, der von Jules Berne verherrlichte Maleficus! Freilich hat er 
ſich diesmal auch ruhig verhalten. Auch die Sonne fleigt in un- 
ſchuldiger Klarheit auf; was ftört fie der Heine Erdenjammer? 
Hinter mir ruft ein Berfagliereoffizier. Er Hat furz vor der 
Abfahrt noch eine Abendzeitung ergattert. Und ich Iefe den Be- 
zicht Über die Erobebenfitung der Kammer. Wie kleinlich ſcheint 
die Tonventionelle Rhetorik vor der gemaltigen Sprache des 
Meeres! Und einzelne Abgeordnete weinten, jogar der Sozialiſt 
von Catania, De Yelice ! 

Ein Teil der kalabriſchen Küfte ericheint im Nebelflor. Bor 
ihm ſchaukelt ein Heiner Zweimaſter. Der Scirocco pfeift und tobt, 
daß ich zum Salon flüchte, Wir fteuern dem Stromboli zu. Das 
Meer iſt etwas ftiller geworden, Nicht mehr tanzen am Horizont 
‚wie hufchende Möven die weißen Wogenkämme. Die Sonne nimmt 
ihren Schleier vor. Im Weften reden fünf Inſeln die Köpfe hervor. 
Es find die Stätten, in denen Odyſſeus einft den Windgott Aolus 
aufjuchte. Ein Polizeilommiffar kommt von draußen und fchimpft 
über die Kälte; dann fpricht er über die Zuftände in Neapel und den 
Belagerungszuftand im Süden. „Früher kommandierten wir, jest 
rächen fich die Gamajchen an und!” 


272 Meifina: Der Leuchtturm 


Über dem Meere liegt graue Ode. Wir nähern ung der Stätte 
des Verderbens. Faſt jcheint’3, al3 jähe man die düjteren Fittiche 
des Todesengeld. Nur die Stöße der Mafchinen; font hört man 
feinen Laut. Der Stromboli rüdt näher. Der Rauch des Kraters 
hat phantaftiiche Form; man glaubt, ein weißer Riefenelephant 
ftehe hinter dem Vulkan und ftedfe Kopf und Rüffel fürmibig herüber. 
Und jeden Augenblicd gibt der Wind der Rauchwolle andere Geitalt. 
Und näher fommt der Stromboli. Er fcheint uns anzujaugen, wie 
der Magnetberg aus Taufend und eine Nacht. Am Saum feiner 
blauen Schleppe fchimmert e3 weiß, wie Unterrodjpigen unter 
einer Damentobe hervorlugen. Es find die weißen Häufer von 
San Bincenzo. 

Sm Süden werden die madonilchen Berge der Nordküfte 
Siziliens fihtbar, und auch die Spige von Kalabrien rüdt heran. 
Die Meerenge zeigt fich. Die Schroffen des Aſpromonte find ſchnee⸗ 
bedvedt. Das Wetter hellt fih auf. Dunkelblau find die Berge, fo 
daß da3 Meer graue Schlammfarbe zeigt. Das zerftörte Bag- 
nara taucht auf, dann lin davon auf der Höhe Palmi; das 
durch den Schwertfiſchfang berühmte Scilla folgt ſüdlich; 
trußig ragen noch die Trümmer des geborftenen Kaftell3 auf dem 
fteilen Kap, mo einft da3 Ungeheuer Schlla die Genofjenichar des 
Odyſſeus lichtete. Dann folgt das gleichfall3 hart mitgenommene 
Ganitello. Zwei ſchwarze italienifche Kriegsſchiffe fteuern auf 
Seilla zu, drei gelb-meiße amerifanische kommen ung entgegen. 

Ha! Wir reden die Hälfe. Der Leuchtturm der Meer- 
enge, der berühmte „Faro“ fommt. Wir fahren hart an ihm vorbei. 
Er hat anfcheinend nicht gelitten, ift aber dienjtuntauglih. Doc) 
das Dorf zu feinen Füßen hat alle feine Dächer verloren; in einigen 
Häufern haben die Krallen des Erdbebens die Bruft aufgewühlt, 
die Schulterblätter auägeriffen. Umgeftürzte Batken liegen im Waſſer. 
Die Bevölkerung lebt in Zelten. Regenwolken verdeden den Bid 
auf den Ama und ſchweben unheildräuend über Meffina, das gelb- 


Meſſina: Gartenpradht 273 








rot durch den Nebelduft gleißt, anjcheinend Heil und ganz. Aber 
Billa Sar Giovanni gegenüber hat Schweres erduldet. 
Kirchen liegen am Boden. Häufer find halbiert. Ein italienijches 
Kriegsſchiff, begleitet von einem Torpedoboot, liegt zum Trofte vor 
der Reede. Auf der Seite Meſſinas folgen jet Ruinen auf Ruinen. 
Bier, fünf, ſechs italienifche Kriegsſchiffe zeigen ſich. Auch ein 
deuticher Handelsdampfer, der zum Hofpital gewandelt iſt. Hinter 
ihm folgen graue engliiche ſchwimmende Feſtungen, dann zwei 
amerilaniſche. 

Und nun ſchimmert die grüne, lachende Pracht der Gärten 
Meſſinas. Wir kommen in den Hafen. Nur an einzelnen Stellen 
iſt die ſtattliche Palaſtſtraße am Kai (die Palazzata) von grinſenden 
Lucken unterbrochen. Doch bei näherem Hinſchauen erblickt man in 
den noch ragenden Faſſaden, wo das Dach direkt auf den rieſigen 
doriſchen Säulen aufſitzt, ſchwere Haffende Wunden. Zelte und 
Baraden ftechen mit ihrer Armlichkeit gell ab. Zwei Barlaffen der 
Polizei nahen, fragen und aus. Am Strande fchleicht eine Droſchke 
vorbei. Wie ein Ameiſenhaufen Trabbelt an einer anderen Stelle 
gefchäftiges Soldatenvolk, aber lautlos. Überhaupt dieſes Schweigen 
ringsum) Wie ein Alp Jiegt’3 auf der: a Und dabei wimmelt’3 
bon Schiffen im Hafen. 


Ein Gang durch das zerftörte Meffina. 


„eh Dir Meffina ! Wehe! Wehe! Wehe! 
Das gräßlich Ungeheure ift gefcheh’n 

In deinen Mauern — Wehe deinen. Müttern 
Und Kindern, deimen Sünglingen: unb — 
Und wehe der noch ungebornen Frucht!“. 


Ein ecinenfigier beitieg das Schiff, beorderte fofort alle an 
Bord befindlichen Poliziften und Karabinieri zum Abiperrungsdienft 
und rief: „Niemand darf ausfteigen!" Mit größter Umftändlichfeit 

Bader: Im Lande des Erbbebens. 18 


374 Meſſina: Wo bleibe ih? 





wurden alle Bälle geprüft. AB ein Berfagliere-Offizier an die 
Reihe kam und meldete, daß er nad) Reggio kommandiert fei, erhielt 
er die Antwort: „Kümmert uns nicht; dort befiehlt General Mazzi⸗ 
telli; jehen Sie zu, wie Sie nach Reggio kommen!“ Einem S$n- 
fanterie-Oberleutnant fagte er halb fpöttifch: „Sie bringen Brot? 
Brauchen wir nicht! Die Bivilbevölferung haben wir abgejchoben. 
Bringen Sie Ihre Ladung nad Reggiv oder Palmi; ic) mache Gie 
aber darauf aufmerffam, daß morgen früh bloß ein Fährboot geht.“ 
(Beide Offiziere fehrten in der Nacht nach Neapel zurüd.) Ich frage 
den Polizeiherrn von der Marine, ob noch viele Sournaliften in 
Meſſina feiern: „Deren haben wir ſchon Üübergenug, und da wollen 
Sie auch noch Hin?” Ein Major, der dabei jtand, nahm den Faden 
auf und fagte mir: „Der Marineleutnant hat recht. Was wollen 
Sie in Meffinn? Wo mollen Sie nacht? bleiben? Es gibt feine 
Unterfunft; der Präfelt ſelbſt muß in der Sabine eines ausran⸗ 
gierten Fährbootes ſchlafen.“ 

Neuer Aufenthalt. Der Poſtmeiſter kommt. Der Kapitän 
fordert Ordres. „Wir haben kein Schiff. Sie müſſen Poſtdienſt 
tun”, wird ihm zur Antwort. Verzweifelt reckt der ftämmige Seebär 
die Hände in die Höhe. „Aber meine Leute, meine Mafchine, meine 
Ladung! Bor neun Uhr kann ich nicht ausgeladen haben. Alſo 
fahre ich um vier; denn um acht Uhr riskiere ich die Fahrt durch die 
Meerenge nicht ohne Leuchtfeuer; höchſtens wage ich es bei Mitter- 
nacht, wenn dann der Mond ſcheint. Ich bin auch meiner Gefell- 
ſchaft verantwortlich und nicht nur dem General Mazza.“ Nun 
erforſche ich auch den Poftmeifter iiber mein Schidjal; er erwidert: 
„Logis gibt’3 nicht; alle Schiffe find beſetzt.“ Endlich wird mein 
Name verlefen. Mit-zehn anderen beſteigen wir eine Dampfbar- 
kafſe, die und nad dem Generalquartier, dem jchönen Ozeandampfer 
„Duca di Genova“ bringt. Dort werden wir von einer Poſtenkette 
gemuftert und vor den Salon, das Allerheiligite des Obergenerals 
geführt. Unfer Marine-PBolizeiherr verſchwindet hinter der Türe, 


Meſſina: Verwüſtungsgraus 275 


die von zwei Poſten behütet wird. Kurz darauf erſcheint er und ruft 
ein Mailänder Mitglied vom Roten Kreuz auf, das zum General 
darf. Der Aufruf wiederholt ſich mehrere Male. Durch die offene 
Tir erblicke ich dann eine Menge von eleganten Generälen (im 
ganzen find acht in Meſſina verfammelt!), Oberften, Majoren. Eine 
illuſtre Berfammlung. Mir will diejer große Aufwand von Uniform- 
prunf nicht recht behagen. Während des Wartens habe ich jehr viel 
Zeit, mir da3 vermüftete Stadtbild zu betrachten. Endlich werde 
auch ich aufgerufen; ſchon will ich eintreten, al3 mir der einführende 
Beamte jagt: „Sie müſſen auf die Präfeftur!" Ein Karabiniere 
begleitet mich zum Strande und dann durd) die Hafenftation zum 
alten Fährboot, auf dem Holzbuden aufgefchlagen find. Bor einer 
Kabine, einem Verſchlag von acht Meter Kubik fteht eine große 
Schar von Leuten, die über die Langſamkeit der Bureaukratie 
Ihimpfen und mit Mühe von einem Polizeikommiſſar in Schach ge- 
halten werden. Sch habe Glüd. Über die Köpfe der Fluchenden 
hinweg . zeige . ic) meine Papiere. Der Präfekturbeamte ſieht, 
nimmt und — —J Das — von en 


. * — 


Endlich bin ic) am Strande! — betäubt, verblufft ſtarre 
ich in ein Haus, deſſen ganzes intimes Leben ſich dem Fremden faſt 
ſchamlos preisgibt. Noch hängen die Familienbilder an der Wand, 
noch das Meihmafferbeden über der. Stelle, da fonft das Chebett 
ſtand. Andere Häufer gleichen großen Baumluchen, die lüfterne 
Kinderhand an zehn Stellen zugleich angefchnitten, wieder andere 
riefigen Schinkenknochen, an denen noch Tettrefte Heben. Wer gibt 
mir. Bilder, um das Graufen zu verdeutlichen? Sch fomme an eirie 
Straße, drin blattlofe Bäume, die wie gerungene Hände ihre Alte 
und Biveige ausftreden. Anfangs ift die Straße trünmerfrei, dann 
aber fommen Schutthügel, Trümmerhaufen, die eines Alpiniſten 
Beinfchnelligkfeit fordern. ch kehre um, an der Balazzata 
18* 


276 Meilina: Ein gerettetes Haus 





vorbei. Der Palazzo di Citta, wo die Bank von Stalien, dag Hotel 
„Zrinacria” und viele Privatwohnungen untergebracht — 
— ein einziges Elend! 

Zurück. Auf dem Kai liegen Kalkfäſſer, Kiſten mit Orangen, 
Mehlſäcke, Bauholz. Die ſchweren Lavaplatten ſind eingeſunken, 
Loch an Loch, Riß an Riß, Spalte an Spalte ringsum. Eiſenbahn⸗ 
ſchienen ſind über einem Abgrund zu Elefantenzähnen oder zu 
Spiralen gebogen, gewunden, gedrechſelt. Ein Wärterhäuschen im 
Waſſer zeigt nur noch das Dach. Telegraphendrähte, zu einem 
Weichſelzopf zuſammengeknäult, überall. Via San Martino 
landeinwärts. Soldaten zimmern Baracken. Schildwachen fragen 
mich nach dem Paß, Patrouillen ebenfalls. An einer Ecke eine 
Proklamation, aus rohen Rieſenbuchſtaben hingeſchmiert: Die 
Verteilung der Lebensmittel iſt eingeſtellt. Die Bevölkerung muß 
ſich am 8. Januar auf den Schiffen „Nord America“, „Savoia“, 
„Regina d'Italia“, „Citta di Napoli” einfinden. Noch liegen dieſe 
Dampfer im Hafen. Ach fah fie bei der Vorbeifahrt. Zrümmer- 
haufen blodieren die Straße. Auf Zickzackſpringen fomme ich in 
die Bial.Settembre. Traue ich meinen Augen? Ein Haus 
ragt noch inmitten de3 Ruinengrauſes? Und gar Sarabinieri 
haben im Erdgeſchoß ihre Station? Neugierig trete ich näher, 
aber mit Borficht; denn wie Schlinggewächs⸗Unkraut wuchern 
hier Fußfallen aus Zelephondrähten. Stolz kommt der Bortier. 
„Unjer Hausherr hat fich die Erfahrungen de3 Erdbebens von 1894 
zu Nube gemacht; ſehen Sie, er hat überall Ketten und Quer⸗ 
ftangen angebracht, auch befteht das Haus aus Hart gebadenen 
Biegelfteinen.” Cr mwill noch mehr erklären, nad) ſchwatzhafter 
Greifen Art; auch die Karabinieri fragen nad) Woher, Wohin, doch 
ich ſchütze den ſtrömenden Negen vor und eile vorwärts. Kurios! 
Die Straße fcheint auch intafl? Das Portal des Norddeutichen 
Lloyd ift mit Querbrettern vernagelt. Andere Portale find offen, 
unter ihren feiten Bogen fnuern frierende Menjchen, die aljo dreift 


Meffina: Leichengeftmt 277 


der Erdbebenfurdht und dem Gebot de3 General? Mazza troken. 
Weiterhin erblide ich dad Hotel ‚Nunzio Naſi“; e fieht 
leidlich erhalten aus, nur oberflächlich ramponiert! Das werden 
die Anhänger des Erminifterd zum guten Zeichen nehmen. 

Plöglich fperrt mir haushohes Geröll aus Steinen, Schutt, 
Erde, Staub, Ballenfeten den Weg. Hier hat das Erdbeben Revo⸗ 
Iution geipielt und Barrifaden gebaut. Doch die Füße der Netter 
haben ſchon eine Art Maultierpfad getreten. Der Kalfgeruch, der 
Leihengeftant erfhwert das Steigen. Traurig 
läßt ob meinem Leid eine gefnidte Laterne ihr Haupt hängen. Ein 
Faun, der allein aus einem Eckbrunnen übrig blieb, verlacht mich 
grinfend.. Der Spuk macht mich faft toll. Und dazwiſchen Tniftern 
halbverbrannte Ballen, knirſchen Glasſplitter, Fracht morjches Ge- 
bälf. Ein halbes Klavier läßt feine Saiten ertönen. Ein Portal 
gleicht dem Maul des Laſters, da3 fich nach einer Völlerei erbricht. 
Bemalte Eijenbetten Sprechen jentimental von Liebesglück. Das ift 
ichlimmer, als was die Zeitungen bisher meldeten. 

Aber die Ode, die fchaurige Stille, das Iaftende Schweigen! 
feine Menjchen! Lebende nicht, noch tote. Vergebens fuche ich 
mir Vernunfi zuzureden. Die Lebenden find verbannt, die Toten 
aus den Hauptitraßen entfernt. — Es nübt nichts. Ich mache die 
Qualen des Taucher? durch. „Unter Häuferlarven die einzig fühlende 
Bruft.” Zur Zauberftunde auf dem Kirchhof kann's ängjftliche 
Menfchen nicht mehr grufeln. 

Doch das Entjegen fteigert ſich noch. Ich ftehe plöglich auf 
dem Domplap, verjteinert, faſt Salzſäule. Jetzt braucht nur 
noch ein Cieerone zu kommen und mir aus dem Baedeler die Sehens⸗ 
würdigleiten des Doms aufzuzählen! Eine Kate miaut. Der Dom 
war! Das rotweiße Marmorfaltenhemd, da3 feine Bruft ſchmückte, 
liegt in Feten am Boden, nur an der linken Ede, die einem Spitz⸗ 
Dreied gleicht, Hebt noch etwas über dem intakten gotifchen Seiten- 
portal. Uber dem zertrümmerten Hauptportal ſchwebt zitternd das 


278 Meſſina: Der Humor der Natur 





Standbild der Madonna. Sonſt nichts. Ein Trupp Poliziſten naht; 
es ſind fremde. Einer ſcherzt: „Es braucht nur ein Stoß zu kommen, 
und in den Zeitungen ſteht, daß zwanzig Mann der öffentlichen 
Sicherheit unter den Trümmern begraben liegen!“ Den Dom 
ſchmückten ſechsundzwanzig Granitſäulen aus dem alten Poſeidon⸗ 
tempel. Wo find fie? Bor der berühmten Domfontaine von 
Michelangelo Schüler Montorjoli Hoden Berfaglieri um ein Feuer 
aus Trümmerholz. Sie haben Watte in den Nafen; fie find auch 
mißmutig. Freilich, der Negen ift naß und das Wetter kalt. Der 
Brunnen Hat nur am Marmorbeden einen tiefen Einfchnitt; ſonſt 
ift er heil. Dumm glogen feine ſchwarzen, Kamelen ähnliche Meer- 
pferde auf den geweſenen Dom. Auf feinen Stufen haben fich eine 
Standuhr und eine Petroleumlampe niedergelafjen. 

- Über nafjes Bettzeug Hlettere ich zur Straße, die an der linken 
Ceite de3 Doms vorüberführt. Sie ift ganz zerwühlt, die Dom- 
flanke aufgerifien, aufgejchligt, wie ein Eifenbahnmwagen, in den 
ſeitwärts eine Zolomotive hHneingefahren ift. Manjieht die braunen, 
goldverzierten Schränke der Sakriſtei; fie find offen, wertvolle 
Leuchter blinken daraus. Kein Dieb Hat ſich an fie herangemagt, 
dem die Mauer links droht jeden Augenblid einzuftürzen. Soll ich 
an ihr vorüber? Da fällt mein Blid auf ein offenes Scheunentor 
auf der anderen Ceite. Fat lache ich auf, faſſe mich an den Kopf. 
In dem jcheunenartigen Raum ftehen fünf Meter hohe Riefen- 
reiterftatuen, grotesf, plump, eine Frau, ein Mann. Welch 
blutiger Hohn: dieſe Inrnevaliftifchen Erzeugnijfe aus Karton find 
intaft! Sronifch ftarren die tellergroßen Augen. Das ift mir zu 
viel. Ich ftürme fort und einer Kate nach, die mir als Schrittmacher 
dient. Zu ſpät erft, al ich in einem Hügelwirrwarr von Stein- 
blöden taftend den Weg fuche, merfe ich, daß ich unter der gefähr« 
lihen Dommauer ftehe. Und nun ſehe ich doppelt, meine eigene 
verftümmelte Leiche mit zerichmettertem Kopf. Die Pulfe fliegen, 
der Atem ftodt, kaum kann ich mich meiter jchleppen. 


Meifina: Unter Palmen 279 


Eine Stimme wedt mid. Ein ameritanifcher Kollege fragt mic 
nad) dem erzbiichöflicden Palaft. Ich zude die Achjeln und fchaue 
um mid. Bia Garibaldi, die Corſoſtraße Mej- 
fina3? Wie bin id) hierher gelommen? Dabei blide ich ftarr auf 
einen Prachtipiegel, der von der Rüdiwand des zufammengeftürzten 
Hotel3 „Biltoria” Heruntergleißt. Aber auch er weiß feine Antwort. 
Dad nahe Hotel „Meffina” fcheint äußerlich unbeſchädigt. All⸗ 
mäbhlich gehe ich weiter, menn es da3 Pflafter nur immer erlaubt. 
Auch das Tor der Banca d'Italia ift vernagelt. Plötzlich wirds 
meinen Füßen zu mohl; fie tanzen. Oder ift eg der Boden? An der 
nächſten Ede fejjelt mid) eine Gardine; da3 ift ſonſt fein allzu interef- 
fantes Möbel, aber das dazu gehörige Fenſter macht den Eindrud, 
als gehöre e3 zu einem gemütlichen Zimmer, und e3 müfje jeden 
Moment ein liebliche3 Frauenbild ſich zeigen und herunterneigen, 
wie einjtend des Nitterd Braut auf der Inſel Rolandswert. 

Nathausplag! Unter Palmen wandeln gemächlich Kara- 
binieri, denen ein Greis mit feuerfarbenem Mantel ein Teuerchen 
ſchürt. Idylle im Schreden. Ungeftraft jtanden aber nicht neben 
den Balmen da3 Rathaus und fein. Gegenüber, vie Handels- 
fammer, ein Palaft, der mich an die Frankfurier Börſe denken 
läßt. Er ift inmmen ganz mit Trümmern gefüllt, als jei er dad Opfer 
einer Doynamiterplojion geweſen. Aber in eherner Ruhe ftreden 
braune Bronzejungfrauen ihre Lampen hervor aus dem veritiim- 
melten Portal. Es find törichte Jungfrauen; denn ihre Lampen 
haben fein Ol. Das ftolze, mit ſchweren dorifchen und jonifchen 
Säulen prunfende Municipium ift ein ausgeblafenes Ci. Bier 
Wände umd nichts dahinter! 

Der Mann im Feuermantel fcheint gefprächäluftig zu ſein. Er 
nähert jich mir mit den leider mir fchon ftereotyp gewordenen 
Jeremiasphraſen. Sch unterbrecdhe: „Was find das für Puppen, 
die id am Dom ſah?“ Er lächelt gejchmeichelt und verſchmitzt: 
„Die Giganten, der Grifone und die Matta; fie wırden in 


280 Meilina: Kennſt Du dag Land? 





der Prozeſſion vom 15. Auguft, am Himmelfahrtzfeit Maria herum- 
getragen”. Dom und Puppe! „Und Patroflus mußte fterben, 
doch Therjites blieb zurüd." Unſer Geſpräch wird durch ein Rieſen⸗ 
geräufch unterbrochen. „Sprengt man, oder ift ein Haus eingeftürzt ?" 
— „Nein, e3 donnert”, jagt der Yeuermmtel, „wir befommen 
Schnee.” 

Ich irre weiter, die Kreuz, die Duere, Hetternd, rutichend, 
gleitend, fpringend. Doch mag foll ich das Einzelne noch beichreiben ? 
Die Wahrheit ift und bleibt: Meffina ift ein Hundertfaches Pompejii. 
Die Lage der Dinge ift fchlimmer, als bis jebt es die Schilderungen 
der Preſſe ahnen ließen! 

Gegen Abend war id) wieder an der Balazzata. Die 
meijten Häufer ohne Dach und vielfach zerriffen. Die größten Pa⸗ 
lazzi zu Feten zertrümmert, oder Scheinbilder A la Potemkinſche 
Dörfer, da nur noch die Faffaden ragen. Die große Filchhalle ift 
ein grauenhafter Schutthaufen. Kein Bombardement hätte jchlim- 
mer haufen können. Die Neptunftatue vor dem Palazzo Littä iſt 
rundum gedreht und zeigt jebt nur den Rüden. Emmen unjagbaren 
Eindruck macht wiederum das tiefe Schweigen, dag troß der An⸗ 
mwejenheit der vielen Schiffe über dem Hafen und der Stadt ruht 
und fo jeltjam Eontraftiert gegen da3 laute gejchäftige Treiben, das 
jonft den Reifenden in der fröhlichiten Stadt Sizilien? empfing. 

Doch was foll ich weiter ſchildern? Erwähnen will ich nur noch: 
Auch auf der Höhe Haufte die Kataftrophe mit ungeheurer Wut. 
Das „Mufeo civico“ mit feinen Schäßen ift zerftört. Nebenan ift 
in ©. Gregorio die Stätte, mo Goethe gedichtet haben foll: „Kennft 
du das Land?" Mber ich muß Menfchen fehen. Alſo zur Station 
am Hafen und Präfektur, um Nachrichten zu ſammeln, eine Er- 
friſchung zu finden, ein Wort der Unterhaltung zu betteln, denn 
des Todes fatt, dränge ich zum Leben. 


„All mein Blut in den Adern ftarrt 
Bor der gräßlich entichiedenen Gegenwart!” 


Meſſina: Der zerftörte Kai 281 





Mir beginnt zu ſchwindeln. Ich eile an eine freie Stelle am 
Hafenkai, um Luft zu fchöpfen. Hier ift das Berftörungs- 
bild ebenfall3 phantaftiih. Das Meer hat gleiches Niveau mit 
der hundertfach gefpaltenen Straße. Man fchreitet durch dag Waſſer 
und glaubt jeden Augenblid von dem tüdischen Boden verſchluckt 
zu werden. 

„Stürzet ein ihr Wände! 

Berfin®, o Schwelle 

Unter der ſchrecklichen Füße Tritt! 

Schwarze Dämpfe entfteiget 

Dualmend dem Abgrund! Berjchlinget des Tages 
Lieblichen Schein!” 

Uberſchwemmung ringsum. 

Um Abend mar ich wieder an der Palazzata auf dem Hafenkai. 
Diefer jcheint das Opfer einer Uberſchwemmung. Laſtwagen fahren 
borfichtig an den heilen Stellen, denn auf Schritt und Tritt trifft 
man Gruben, Trichter, Höhlen im Pflafter, das fich ftändig ſenkt. 
Bleiernes, ſchwefelgelbes Licht zuclt über den Hafen. Sch habe das 
Gefühl, als bedrohe mid) da3 Meer, denn e3 ſcheint Heranzufchleichen, 
um mich einzufaugen. Jetzt ſchmettern Trompeten auf den Kriegs⸗ 
ſchiffen, hie und da leuchtet eine elektriiche Lampe; denn Dr. Helbig, 
der Sohn des römischen Archäologen, hat aus alten Schiffskeſſeln 
eine eleftriiche Station improviſiert; fonft zittern nur Fadeln, gleich 
Irrlichtern. Über das Waſſer hufchen wie Glühwürmer die Lichter 
der Barkaffen und Motorboote. Hinter der Hauptftation herrfcht 
rege3 Leben; Zelte und Baraden find dort für die Soldaten errichtet. 
Bon dort fällt ein bleigraues Licht auf die verwüſtete Stadt, die wie 
eine Ausgeburt der Phantafie Edgar Poe's erfcheint. NArmfeliges 
Volk, das vorüberichleicht, fcheint von Ribera gemalt zu fein. Bei 
fortichreitendem nächtlidem Dunkel wird die Szene ringsum 
Phantaftifch-gejpenftiih. Das Grauen wird noch dadurch vermehrt, 
daß die Scheinwerfer der Kriegsfchiffe eifrig die Echutthalden ab- 
juchen und plöglich zu grell beleuchten. Gefpenftifches, phantaftiiches 


282 Meſſina: Unmetter 





ſpukhaftes Bild! — Doc) jetzt prafjelt Hagel auf mich ein. Blik 
und Donner folgen. Unglaubliche Waſſermaſſen ftürzen hernieder. 

„Jene gewaltigen Wetterbäcdhe, 

Aus des Hagel unendlihen Schloſſen, 

Aus den Wollenbrüdhen zufammengeflofien, 

Kommen finfter geraufcht und gefchoffen, 

Reißen die Brüden und reißen die Dämme 

Donnernd mit fort im Wogengejhwemme*)"... 

Und ich habe fein Obdach. Alle Unterkunftsgelegenheit ift be- 
jet. Alfo zurüd zur „Sardegna“, die erft morgen früh weiter fährt. 
Aber kein Fährmann. Über ein Dubend Barkenführer rufe ich an. 
Bergebend. Sie antworten nicht. Zum Glüd legt ein Boot mit drei 
PBionierfodaten an; fie haben Mitleid und nehmen mid) mit. Sie 
rudern mich vorüber an den in vornehmer Lichterpracht gleißenden 
ſchwimmenden Paläften. In einem derjelben Iogiert ver Herzog 
bon Genua, deraufden Wunſch des Königs nicht ala Komman- 
dant der Slotte, iondern als Pertreter des Konigshauſes nach 
Meſſina kam. 


Von Meſſina nach Neapel. 


Neapel, 11. Januar 1909. 
Geſtern abend um acht eine neue Überraſchung! Der Kapitän 
kommt: „Ich habe Gegenbefehl. Ich muß ſofort nach Neapel zurück, 
darf ſogar nichts mehr ausladen!“... Was ſoll ih tun? Mich 
nochmals ausſchiffen laſſen und in dieſer Schauernacht meinen ſchon 
ſo oft durchnäßten Leib nochmals von Baracke zu Baracke ſchleppen? 
Und wer fährt mich zu dieſer Stunde zu dem ſehr weit ankernden 
*) Diefe Stelle aus der „Braut von Meſſina“ entſpricht den Tat- 
ſachen. Wie ich zwei Tage fpäter Ins, dauerte das Unmetter die ganze 


Nacht, brachte viele Mauern ‚um Einfturz und riß noch zwanzig Meter 
Kai ind Meer. 


Meſſina: Rückkehr der Bewohner 283 





deutſchen Schiff, das auch ſchon überfüllt iſt? Es ift alfo beſſer: Zurüd. 
Um fo mehr, da von Mefjina doch fein Telegramm abgeht. Mit uns 
fam auch da3 Lyſol nad) Neapel zurüd. 
Wie wir die Anker lichten, ertönt aus der ftillen Stadt der 

unheimliche Ruf des Käuzgchens. .. . 

„Und wie der Eulen nachtgewohnte Brut 

Bon der zeritörten Branditatt, wo fie lang 

- Mit alt verjährtem Eigentum geniftet, 
Auffliegt in düfterem Schwarm, den Tag verdunkelnd, 


Wenn ſich die lang vertriebenen Bewohner 
Heimkehrend nahen ....“ 


Ja? Wann? Wann werden die Bewohner Meſſinas, ſoweit 
ſie ſich retteten, zu der auch vom Brande verwüſteten Trümmerftadt 
zurückkehren? — 

Auf der Fahrt ſprach mir der Kapitän von den Zuſtänden in 
Reggio. Sie find unglaublich nach dem, was ihm die zurückkeh⸗ 
enden italienifchen Spezialforrefpondenten jagten. Die Stadt ift 
ein einziger Schmußhaufen, ein Kotmeer. Die von Aufregung, 
Regen und Kälte hart mitgenommenen Einwohner jmd ſtark zu 
Snfeltionsfrankheiten geneigt. Dazu findet eine wahre Völker⸗ 
wanderung aus den Bergen ftatt. Eine bunte Menge in.der chnrafte- 
riftiichen Landestracht ſtrömt nach Neggio, geführt von Prieſtern, 
gefolgt von hachbeladenen Eſeln. Was fie will? „Fare la sua 
speculazione!“ Was das heißt, erflären die Leute nicht näher. 
Sie verhalten fich ruhig, fchlagen ihr Lager auf und harten der Dinge, 
die da fommen follen. Auch viele Flüchtlinge, die im erften Schreden 
die Stadt verlafjen hatten, Tehren zurüd, um „fich pflegen zu laſſen“. 
In Palmi follendie ſchwarzen Blattern ausgebrochen 
ſein, doch ſchweigen die Blätter und die offiziellen Telegramme 
darüber. Daneben herrſcht Panik, weil ſich am 8. Januar heftige 
Erdſtöße wiederholten, die den Dom vollſtändig zerſtörten. Ein 
höherer Offizier, der fich an unſerer Unterhaltung beteiligte, äußerte 


284 Meſſina: Elend im Hinterland 


ſich mißbilligend über die Vielköpfigleit der Behörden in Meflina, 
worauf der Kapitän einfiel: „Auch ich weiß nie, woran ich bin. 
Heute habe ich wieder nicht ausladen können. Na, ich jage nichts, 
aber geftern nacht hätten Sie zuhören follen, al3 mehrere Ab- 
geordnete und Spezialkorreſpondenten von Meſſina zurüdfuhren. 
Das Geihimpfe! Doch, wir wollen gerecht fein. Die Behörden 
jtehen einer zu großen Kataftrophe gegenüber. Alles ſpricht nur 
von Meſſina, aber in deſſen bergigem Hinterland 
ind Hunderte von Fleinen Ortfhaften um die 
fihindererfien®ode feiner fümmern konnte; 
denn fie haben weder Straßen und Wege, die fie mit der Außenwelt 
verbinden, noch Poft und Telegraph. Bis jebt konnte man an die 
dortigen Toten und Verwundeten noch nicht denken; erſt allmählich 
werden Soldaten dorthin gefchidt, die Brot tragen. ch jelbit 
habe vor ein paar Tagen einen Umweg nad) Spadaro machen müſſen, 
um Soldaten dorthin zu bringen.” 

Unfer Dampfer war geftopft voll von Abgeoröneten und 
Senatoren. Außer den beiden Offizieren, von denen ich oben ſprach, 
mußte auch ein Nachlömmling des Hl. Borromäus, Graf Bor- 
rtomeo, unverichteter Sache nach Neapel zurüd. Im Salon 
war e3 nicht auszuhalten. In allen Tonarten wurde über die Re- 
gierung und den Belngerungszuftand gefchimpft; am meiften tat 
ich in der Kritif der Senator Todaro hervor, der bekannte 
Mediziner und Präfident der italienifchen Turnerichaft. 

Bei der Ankunft neue Panik, wie bei der Abfahrt. Die Mann- 
ſchaft ift übermüdet. Wir tollivieren mit dem Hafendamm. Zum 
Glück Fein Led! Denn jonft! Bei der Menjchenmenge an Bord!... 

Hier in Neapel ftieß ih auf unſern Marineattadhe, Kapitän 
Rampold. (Sein Amtögenoffe, der Militärattach& Oberft- 
leutnant v. Hammerftein, war fchon vorher von Meſſina nad) 
Rom zurückgekehrt.) Er jchilderte mir die Schwierigkeiten, die fie 
gehabt hatten, um eine Fahrgelegenheit nach Meſſina zu finden. 


Meſſina: Chauvinismus 285 





Dann ſprach er auch über die Mißſtände, die ſich in Meſſina gezeigt, 
nahm aber General Mazza in Schutz, ebenſo die italieniſche 
Marine. Der General ſei ſo von Briefen, Telegrammen und Beſu⸗ 
chern überlaſtet, daß er feinen Augenblick Ruhe und noch nicht ein- 
mal Zeit gefunden habe, an Land zu gehen und nachzufchauen, 
ob feine Befehle auch befolgt wurden. Der italieniijhen Marine 
aber mache man ungerechte Vorwürfe. Ein Teil der Flotte befand 
fich auf einer Übungsfahrt nad) dem atlantifchen Ozean, mußte 
alſo durch Funkenſpruch zurüdgerufen werden, der andere hatte 
Winterliegezeit und feine Mannfchaften waren durch die Feſturlaube 
ſtark gelichtet. Es handelte fich alfo um ein Zufammentreffen von 
unglüdlichen Zufällen. 

Nachher ſprach ich noch mit vielen Deutſchen von der 
Kolonie. Sie zeigten ſich empört darüber, daß die italienifche Prefje 
die Aufopferung der deutihen Wohltätigkeit ſyſtematiſch ver- 
ſchweige, geradezu erbittert aber fühlten fie fich gegen den „Mattino”, 
der am 9. Januar einen maßlofen Schimpfartifel gegen Sfterreich 
und den Dreibund losgelaſſen hatte. In der Tat, der Artikel ift etwas 
ſtark, aber ſtarke Töne pflegt Edoard Scarfoglio („Tartarin”), 
der au einem Preibundpaulus ein Bierbundjaulus gemorden ift, 
eben immer anzufchlagen. Er behauptet unter anderem, die Breffe 
Öfterreich3 habe Ktalien höhniſch zugerufen, es könne doch froh fein, 
daß man in Wien die jebige Kataftrophe nicht ausgenügt und den 
Befehl gegeben habe, über Italiens Grenze zu marſchieren. Dann 
verfichert er, da in Meflina nur ruſſiſche, engliſche und franzöfiiche 
Kriegsſchiffe (von den deutichen ſchweigt er), aber kein öſterreichiſches 
erjchienen fei, jo könne man freilich fagen, daß in Meffina die neue 
Duabdrupelallianz proflamiert worden jei. 


286 Kalabrien: Die Küfte 





An der Anglücksküſte Kalabriens. 


An Bord der „Yombardia”, 14. Januar 1909. 

Montag, den 11. Januar, fuhr ich gegen Mitternacht mit dem 
Schnellzug ſüdwärts. Aufs Geraterwohl, da über die Eifenbahn- 
berhältnifje die miderjprechendften Meldungen umgingen. Von 
Überfüllung des Zuges war feine Spur, denn die Behörden ziehen, 
um zur Südſpitze Kalabriens zu fommen, den Seeweg vor. So— 
lange wir da3 Gebiet von Neapel pafjierten, war an der Schnellig- 
feit der Fahrt nichts auszufegen, doch in Kalabrien gab’3 an jeder 
Station langen Aufenthalt. 

Die kalabriſche Bahn ift befanntlich eine der fchönften Italiens, 
aber in gewöhnlichen Zeiten Tiegen die Fahrzeiten der Schnellzüge 
jo, daß man die malerifchiten Streden nur nacht3 durchfährt. Die 
eriten Schönheiten traf ich morgens um halb acht Uhr, an der Station 
Praia Ajeta. Dem Ort liegt als Poſten die. einem Riefen- 
kriegsſchiff ähnelnde Inſel Dino vor, die es lohnt, Halt zu machen, 
wegen ihrer jchon erwähnten: blauen Grotten,. vie eine Sehens⸗ 
würdigkeit etjten Ranges darftellen. Bon jebt ab. löſt ein maleriſches 
Bild das andere ab, Tunnel auf Tunnel, große Viadukte über bie 
Bergflüffe (fiumare), die. alle mit ſchäumendem Braunwaſſer 
gefüllt find, Kap-auf Kap, Schlucht auf Schlucht. Die zerrifferie 
Küſte ift wilder, großartiger al3 der Felſenſtrand von Genua bis 
Spezia.. An ſie erinnert auch die große Zahl von Wachttürmen und 
Mininturlaftellen, Die. das ausgehende Mittelalter gegen Korſaren 
und Sarazenen errichtete. : Beſonders ſchön ift das alte Schloß und 
der Sarazenenturm von Scalea. Auf der Weiterfahrt tauchen 
ab und zu, wenn die unendliche Reihe der Tunnels nach langem 
- Dunkel einen Lichtblid bietet, bizarı geformte Inſelchen auf. 

sn Diamante merde ich zum erftenmale an die Zeit der 
Not erinnert. Ein Güterzug, hochbeladen mit Brettern und Balken, 
harrt der Weiterbeförderung. Das Land ringsum belebt fich, viele 


Sant Eufemia: Eifenbahnftodung 287 


Maultiere und Ziegen fieht man und Bauern mit den charatteriſti⸗ 


ſchen Spitzhüten, die einft die Briganten trugen, und mit Flinſen. 


Ab und zu fieht man noch Spuren des vorleßten Erdbeben, bar- 
häuptige Kirchen, podennarbige Palazzi in den größeren Ortſchaften. i 
Die Gegend wird reicher. In Fuscaldo (268 Kilometer) find 
die Häufer auf mehrere Kilometer hin auf und ab an der Berghalde 
zerftreut, weiße, fchmude Häufer mit roten Biegeldächern in allen 
Stilarten. 

Um 12 Uhr mittags erreihen wir Sant Eufemia, den 
Knotenpunkt für die Bahn zum jonifchen Meere. Wir halten lange. 
Kein Stationschef, ich jehe ihrer fajt ein Dubend, weiß den Grund 
des Wartend zu erklären. Endlich Heißt’: „Ausfteigen! Der 
Schnellzug hat hier ein Ende! Wir brauchen rollendes Material 
für die Flüchtigen aus Reggio, die. von der jonijchen Küſte über 
Catanzaro ommen. Heute morgen haben wir jchon 700 meiter- 
geſchafft!“ Und fo ftehen wir Reifenden frierend im NRegenmetter, 
ringsum angegähnt von der elenden Malariaſteppe. Wir hätten 
Beit, an Stärkung zu denken, aber in dem ſchmutzſtarrenden foge- 
nannten Bahnhofsbuffet iſt einen et augen 
nichts. zu finden. ..: 

Vergebens frage ich alle Schaffner. ‚Ber weiß, wer verſteht 
bein noch etwas in diefer Konfufion!” antwortet mir brummig ein 
Dberitaltener, „würde doch ganz Kalabrien pulverifiert! &3 wäre 
ein Glüd für Italien!“ Lange überlege ich, ob ich den bereittehenden 
Bug nad) Catanzaro nehmen. und morgen in aller Frühe den jo- 
nifchen Cilzug nach. Reggio benüben joll, Aber. dann ‚verliere ich 
zwei bis drei Tage für den Nachrichtenbienft. Auch rät mir ein 
Kontrolleur wegen der Unordnung und des vielen Umfteigens ab. 
Auf jeden Fall gibt er mir fehon ein Billet 68 Bagnara; der 
Billetichalter felbit bleibt geſchloſſen. 

Eine Gruppe Offiziere geht fluchend auf und ab. Wir kommen 
ins Geſpräch. „Uns werden fie mahrjcheinlic in die Bergneſter 


288 Reggio: Augenzeugen 


ſchicken“, brummt einer, „denn wir find von der Provinzinfanterie!“ 
Ein anderer zeigt komisch feufzend auf eine Matrabe, die porüber- 


getragen wird. „Wenn id) die hätte! Geit zehn Tagen Tiege ich auf 


dem nafjen Boden!” Mein Kontrolleur fommt. „Ecco, ein 
Bummelzug ift formiert. Steigen Sie jchnell ein; bis Balmi kommen 
Gie fiher. Morgen früh geht verſuchsweiſe ein Dienftzug weiter 
ſüdwärts. Benuben Sie brav Ihre Päſſe!“ Unglaublih! Der 
Bummelzug nimmt mid) wirklid) mit. Fahrtgenofjen find ein ftiller 
junger Mann, ein gutgenährter Berjagliere-Feldwebel, ein ener- 
gifch ausfehender Jüngling und ein in fich verjunfener Bierziger. 
Nach einigen Stunden neuer Aufenthalt. Der energijche Jüngling 
mit den fchmalen Lippen und den bligenden Augen fährt jluchend 
auf: „Natürlich, wir Kalabrefen find ja das Aſchenbrödelvolk!“ 
Damit ift plöglich die Unterhaltung im Gange. Der in ſich Zer- 
funfene beginnt dumpf und leife: „Sch war am Unglüdstag in Neapel, 
reife jofort zurüd und gehe vierzig Kilometer zu Fuß in anderthalb 
Tagen bi3 Reggio, um meinen Bruder zu fuchen; ich finde ihn heil. 
Aber die Zuftände in Neggio find noch ſchlimm. Die Toten find 
noch nicht geborgen. Und zu alledem kommt der Wirrwarr auf den 
Bahnen. Dieje Nacht gab e3 einen Zuſammenſtoß. Die Regierung 
wird ihn natürlich dementieren. Freilich, da3 Perjonal auf dieſer 
Linie ift demoralifiert; ein großer Teil ift tot, die Yeute vom herge⸗ 
ſchickten Erfat werden zu Dienften bommandiert, die ihnen neu jmd. 
Dabei Schlafen fie nicht. Zum Unglüd Hatte man in den erjten Tagen 
an allen Stationen die Züge gejtürmt und in Wohnungen ber- 
wandelt. Das einzige Geleife war aljo blodiert, und e3 dauerte 
lange, bis e3 frei wurde.” Der energifche. Züngling ſchimpft auf 
die Regierung und auf da3 Regierungsbauamt. Und jeit drei Jahren 
fei das Hilfsgefeb für Kalabrien in Kraft, aber noch nicht in einem 
einzigen alle angewandt worden. Verfluchte Bureaukratie! 
Wir fahren weiter. Der ftille Mann brauft auf: „Sch bin vom 
Regierungsbauamt. Ich verbitte mir alle Angriffe!" Der energifche 


Kalabrien: Die Advokaten 289 


Süngling zeigt nach der Methode der Ablenkung auf die Station 
Francavilla und fagt zu mir: „In dreizehn Stunden erreichen 
Sie von hier aus auf einem Maultier dad Gut Yerdinanden, dag 
Königreich von Achille Fazzari. Welche Schäte an Mineralien 
und Wäldern und Wafjerkraft liegen dort brach! Fazzari erlaubt 
feine Privatinitiative der Fremden; er hauft wie ein Pafcha, die 
Regierung läßt ihn gewähren; denn er iſt allmächtig. Als Privat- 
jefretär und Teftamentsvollitreder Giufeppe Garibaldis 
ſcheint er wichtige Staatsgeheimniffe zu fennen. Zu fchredlich! 
Und was haben die Auswanderung und der Sozialismus au3 unferem 
ſchönen Kalabrien gemacht! Früher war unjer Volk gut, wir hatten 
patriarchaliſche Zuftände. Und jet! Vom Sozialismus lernt e3 
nur die bequemen Rechte und von der Auswanderung das Lafter. 
Wenn jie von Amerika zurückkehren, bringen unfere Bauern 10 bis 
12 000 Lire mit, ruhen aber nicht eher, al bi3 fie alles verjuckt 
haben, und dann ziehen fie wieder über? Waſſer!“ 

Wir kommen nad) Pizzo. Der energiiche SJüngling fährt 
fort: „Pizzo hat wenig gelitten. Seltſame Stadt! Schlechtes Ejien, 
ichlechte3 Logis. Und die Bildung! Bei 12000 Einwohnern ver- 
faufen die römifchen Zeitungen nicht 15 Eremplare. Überhaupt! 
In ganz Kalabrien gibt es feine Druderei, fein Buch!” 

Wir iommen nah Monteleone Santa Benere. 
Heilige Venus? Auch nicht übel! Vor drei Jahren jtieg ich Hier bei 
drüdender Septemberhite aus, um in den Bergen meine Gtreife 
durch die vom Erdbeben betroffenen Dörfer zu beginnen, die mir 
jpäter noch vierzehn Tage lang Unterleibzftörungen ſchuf. Nun, 
das Talte Regenwetter heuer ift auch nicht gerade hygieniſch, aber 
was tut’3? Die Flüchtlinge unten im Süden leiden noch mehr! 

Sn Tropea empfängt una Sturm und Regenichauer. Der 
zornige Kalabreſe fteigt aus und nun padt der Stille „Zivilingenieur" 
aus: „sch bin aus den Abruzzen. Der Teufel hole dieje Advokaten⸗ 
kerls in Kalabrien! Das war auch fo einer. Sie find’3, die da3 gute 

Zacher: Im Lande bed Erbbebens. 19 


290 Kalabrien: Südliche Vegetation 





Volk verderben und verhetzen!“ Längerer Aufenthalt. Ich frage 
den GStationaporfteher nad) den Opfern. „Wir haben nicht viel 
gelitten, defto mehr die Umgegend. Dort ift fein Haus unverleßt. 
Geftern gab’3 Hier eine neue Panik. Ein Erdſtoß forderte vier 
Tote!" 

Bei der Weiterfahrt regt ſich auch der Feldwebel. „Ach bin 
jelbft Kalabreſe. Wollte vorher nicht? jagen. Aber wahr ijt eg, 
die Leute in den Bergen tebellieren gegen das Regierungsbauamt; 
fie verlangen nur Pioniere!" In Ricadi neuer Aufenthalt. 
Sch Tpreche mit dem Bugführer. „Komme ich durch?” — „Chi lo 
sa? Es iſt 3 Uhr. Um 3 Uhr 15 Minuten fährt ein Zug von Bagnara 
zurüd, wenn Gie vorziehen, über Catanzaro zu reifen. Um 8 Uhr 
jollte auch ein Schnellzug gehen, aber alle Schnellzüge jind unter- 
drüdt. Warten Sie! Vielleicht bekomme ich Ordre zur Weiterfahrt. 
Dann können Sie ja in Palmi bleiben.” — „Balmi? Willen Sie, 
teuerjter Herr, in Palmi find die ſchwarzen Blattern, und ich bin 
Familienvater!" 

Endlich! Neue Ordre. Der Zug geht weiter. Neue Gälte 
fteigen ein. Die Gegend hat nichts von Erdbebenſchrecken. Haben 
die italienischen Korrefpondenten in den Heinen Neftern aus Lolal- 
patriotismus, auf Wunjch der Abgeordneten, übertrieben? Das 
Beilpiel von 1905 lehrt, daß ſo etwas vorfommt. Soweit dad Auge 
reicht, die herrlichſte Gartenpracht. Das reinjte Nordafrika. Die 
Olhaine von unvergleichlicher Schönheit, der indifche Feigenkaktus 
mit feinen roten, leuchtenden Blumen von feltenfter Größe. Lind 
dann erſt die Orangenmwälder! Station Nicotera. Der Ort 
fiegt malerifch auf fteiler Höhe, überragt von einer langgeſtreckten, 
ichmalen Feſte und einer ftattlichen Barodfirhe. Der Stations- 
borfteher erflärt: „Die Stadt Hat feit 1894 allen Erdbeben wider⸗ 
ftanden, jebt ift faft fein Haus unverlegt. Die Leute kampieren im 
Freien.” Mitreifende machen mich darauf aufmerfjam, daß in ber 
Nähe Mileto Tiegt, die Reſidenz des Biſchofs Morabito, 


Kalabrien: Das Elend 291 


der in Palmi unermüdlich fei und von dort aus in allen Nachbar- 
orten Bollsfüchen organifiere. 

Wir fahren langfam weiter. Olwälder wechſeln ab mit Geröll: 
halden aus Granitbroden. Eine Landbucht öffnet fich, die im Süden 
bon einer herrlich geformten blauen Alpenwand abgejchlofjen wird. 
Ein breiter Fluß folgt. Kaftanienbäume blühen, wie in Roms 
Bergen im Juni. Station Rofarno. Biele Offiziere. Sie ver- 
fimden, daß der 5000 Einwohner zählende Ort ftark gelitten hat. 
Noch fehlt’3 am Notwendigiten. Auf einem toten Geleife Tiegen 
zwanzig Güterwagen, voll von flüchtigem Elendsvolk. Stoff für 
noturaliftiiche Maler, die Schmuß, Dred, Not und Sammer 
ſchildern. 

An Gioja Tauro nimmt das Elend ſchon größere Aus- 
dehnung an. Eine Zeltſtadt ift aufgeblüht. Blauweiße Kegelzelte 
wechjeln ab mit graugrünen polygonalen Pavillons. Viele Eifen- 
bahnmwagen 1. und 2. Klaſſe find in Wohnungen umgemwandelt. 
Ein mfanteriehfauptmann ſpricht von Palmi. & ift halb zer- 
ſtört. Die Station wurde unbrauchbar. Ein Mitreifender mifcht 
ih ein. „In Intrignoli find alle Häufer entweder eingeftürzt oder 
gejpalten, in Radicena vollitändiger Einſturz. Zwei Kirchtürme 
zeritört, jchlimmer als 1905. In Molchockhio alle Häufer zerftört, 
8 Tote, 24 Berwundete. ©. Chriftina ganz zerftört, Oppido halbe 
Ruine, die Hauptlirche eingeftürzt. Cittanova wenig, Caſtellacci 
ganz zerſtört; in Oliſtena 57 Tote, 20 Verwundete, in Palmi 600 
Tote, in Bagnara 1000 Tote, Seminara, Santa Eufemia Aſpro⸗ 
monte vollftändig verwüſtet. Im letzteren 2000 Tote.“ So trocken, 
wie ich dieſe Aufzählung hinſchreibe, ſo trocken, nüchtern, ſelbſt⸗ 
verſtändlich — Dickens würde ſagen: „matter of fact“ — Tam fie 
auch aus dem Munde des Erzählenden. Das ift eben die Folge der 
ungeheuren, unfaßlichen Kataftrophe: die Toten werden billig. 
Man wird abgeitumpft. Das menschliche Auffaſſungsvermögen 
dat eben auch feinen toten Punkt. 

19* 


292 Kalabrien: Zigeunerlager 


Station Palmi. Die „Palmenſtadt“ ift unfichtbar. Gie 
liegt in einem Gürtel von Kaftanien- und Obftbäumen vier Kilo- 
meter entfernt auf der Höhe. Soll ich ausfteigen? Aber ich bin zum 
Umfallen müde. Gehe ich zu Fuß hinauf, wo fichere ich in diejer 
Konfufion mein Handgepäd, meine Dede? Iſt denn PBalmi nicht 
die berüchtigte Stätte der Kamorra, der Delinquenten in Süditalien, 
der Schreden der SKarabinieri? Und findet man Gefährt oder 
Unterfunft? ch bleibe figen und vertraue mich dem Zufall an. 
Mein Entichluß beftärkt fich, ala ich im Dämmerlicht das Lagerleben 
am Bahnhof jehe. In Clondyke konnte e3 zu deſſen Anfängen nicht 
ichlimmer ausjehen, die Station funktioniert nicht mehr. Provi- 
forifche Bauten find in Angriff genommen. Überall liegen Betten, 
Ballen in Kot und Schlamm, vermifcht mit Wellblechhaufen. Offi⸗ 
ziere eilen gejchäftig hin und her, flehen fich gegenfeitig mit auf- 
gehobenen Händen an: „Bitte, zwei Soldaten! Nur fünf Minuten. 
Ich kann nicht mehr!" Die Verwirrung wird gefteigert, weil unjer 
Zug viel Material ausladet. Mein Magen Inurrt, Schofolade be- 
ſchwichtigt ihn. Seht tauchen viele Automobiliften auf, Herren vom 
Mailänder und vom Turiner Roten Kreuze. 

Unglaublih! Der Zug fchleicht um halb ſechs Uhr nach dem 
zehn Kilometer entfernten Bagnara durch einen Rielen- 
tumnel, in dem wegen de3 Erdbebenſchadens mit äußeriter Vorſicht 
gefahren werden muß. Der unangenehme Eindrud, den das 
Schnedentenipo macht, verwandelt einen ftillen Mann, der jchon 
feit langem in der Ede Tauerte, zum Sprechen: „Auch ich bin aus 
Neggiv. Beamter. War auswärts. Auch ich mußte zu Fuß hin, 
um nach meiner Familie zu fehen. Sie ift gerettet. Aber meine rau 
hat einen Arm gebrochen, der erft nach drei Tagen verbunden werden 
fonnte. So ging’3 allen Verwundeten. Drei Tage lang haben jie 
am kalten, naffen Strande gelegen. Jetzt erft Hat man im Stadtpark 
‚ein Hojpital organifiert, mo aber zum Teil die Verlegten noch auf dem 
nadten Boden liegen. Seht erſt beginnt die Arbeit der Mafjengräber. 


Bagnara: Die Suche nad dem Paß 293 


Die reinfte Einpöllung, Schicht auf Schicht, wie bei den Sardellen 
nur ftatt Salz Kalt! Warum brachte man die Verwundeten nicht 
auf die Kriegsſchiffe? Zwei Drittel der Bevölkerung von Reggio find 
vernichtet, Hunderte von Leichen liegen noch unter den Trümmern. 
Der große Palazzo Marangoni allein, der vier Stockwerke hatte — 
Sie werden ihn fehen, an der Marina — dedt 150 Tote. Und ich habe 
alles verloren! Der Staat zahlt mir als Entichädigung zwei Drittel 
eined Monatögehalt3!" Sechs ein viertel Uhr. Nacht! Ankunft in 
Bagnara. Bon ihm jagt das Schulbuch für Geographie: „Es 
iſt eine Heine Induſtrieſtadt, 36 Kilometer von Reggio entfernt; es 
hat Altohol-, Wachskerzen⸗, Stuhl- und Geilfabriten und erfreut 
jih eines lebhaften Handel3 in Honig, Wein, Holz und Wachs. 
Seine Fijcherfolonie ift bedeutend. Das Stadtgebiet ift ſehr frucht- 
bar, fein Wein berühmt. 1783 wurde es vollitändig zerftört, feine 
Bevölkerung vermehrt fich ftändig.” 


Bon Bagnara nah Villa San Giovanni. 


Neapel, 14. Sanıar 1909. 

Der Bahnıhof von Bagnara hatte elektriiches Licht. Alſo 
waren die Pioniere Herren der Lage. Mein erjter Gang war zum 
Militärlommando. 3 refidiert im Wartefaal erfter und zweiter 
Klaffe. Ein mit Blauftift gejchriebener Zettel befagt: „Gepäd wird 
al3 Depotgut nicht angenommen.” Nichtsdeſtoweniger gejtattet mir 
ein Reutnant da3 Gebot zu übertreten. Dann wird mir ein Infan- 
teriſt als Führer mitgegeben. Er jchreitet munter duch Pfützen 
und Sümpflein hügelan, unbekümmert aud) um den beharrlid) nieder- 
tropfenden Regen. Er führt aber jchlecht; denn er macht mid) nicht 
auf die Gruben und Erdbudel aufmerkfjam, die ich im Dunkel nicht 
jehe. Uber plößlich |pricht er mich in gebrochenem Deutſch an. Er 


294 Bagnara: Der Generalinfpettor 





war Modellichreiner in Köln, Eſſen, Mülheim und meint, in Deutjch- 
land gefalle e3 ihm doch befjer als in Kalabrien. 

Unter Geſprächen kommen wir in eine Zeltftadt. Der Herr 
Führer irrt jich im Dunkeln; endlich findet er unjer Ziel. Eine hohe 
Geſtalt taucht aus einem Zelte auf. Ich ftelle mich vor, |preche von 
meinen Päſſen. „Wohlan, gehen Sie jet zum bürgerlichen Be- 
fehlshaber, dem Generalinſpektor des Minifterium3 des Innern; 
morgen gebe ich deifen Paß das Viſum, und Sie können dann als 
„Mann im Dienft” amtlich weiterfahren. Gegen acht Uhr geht ein 
Probezug bis Billa San Giovanni mit Arbeitern, um die Strecke 
zu reparieren.” Nun neue Strauchelei im Dunleln, bergabmärts 
zum Strand und hügelan zur Stadt. Drinnen fieht’3 fchauerlich 
aus. Einzelne Straßen find durch Holzverfchläge gefperrt, weil die 
ZTrümmerhäufer zu ftürzen drohen. Nur zwei Häujer haben nicht 
gelitten, ſie waren aber aud) au Holz. Der Einfturz der übrigen 
forderte 1000 Opfer. 

Bor die Stadt. Durch neue Köcher, Lachen, Seen, über Belt- 
drähte in ein Baradenlager, bizarr, phantaſtiſch. Nach vielem Hin 
und Her übernimmt jetzt ein Karabiniere die Führung. Bald ftehe 
ich in einem einftödigen Holzhaufe, in einem Wachtlofal, qualmig, 
rauchig, ftidig, gefüllt mit Staatspoliziften. Ein kurzer Ausweis, 
und man führt mich ind Mllerheiligfte, zum Generalinipeftor. Ein 
liebensmwiürdiger Herr. Mein Geleitichein vom Minifter des Innern 
wirkt. Einige Namen von höheren Funktionären aud. In fünf 
Minuten habe ich die Weiſung, wonach ich mit allen Mitteln und auf 
jedem Wege meiterzubefördern bin. Ich fungiere aljo als Eilgut. 
Aber wo ejjen, wo jchlafen? Und der Regen regnet jeglichen Tag. 
„sh würde Sie gerne einladen”, jagt der Generalinfpeltor, „aber 
ih habe jelbft dort in der Ede nur zwei Matraben für mich und 
meinen Sekretär!" Und von neuem beginnt die Wanderung. 
Zurück zur Station; d. h. zu der Barade, die als folche dient. Beim 
Borfteher große Erörterung. Ich erkläre mich aß „Mann vom Dienft“, 


Bagnara: Ein Göttermahl 295 


lafje auch da3 Zauberwort: „Minifterium de3 Innern“ fallen. Es 
wirkt wie der Spruch: „Seſam, tu' dich auf!“ 

Ein ſtattlicher Herr, Oberkommiſſar der Polizei, tritt vor: „Ich 
teile ab. ch trete Ihnen mein halbes Abteil ab.” Drob taucht ein 
blonder Yüngling in Zivil auf. „Folgen Sie mir!" Vorüber an 
einer endlofen Reihe von Eifenbahnmwagen. Ein Abteil zweiter 
Klaffe ſchließt er auf: „Hier ift Ihr Hotel! Wo ift Ihr Gepäd?" 
Das wird geholt. „Gut! Haben Sie ſchon gegeſſen?“ — „Seit 
Mitternacht nur Schololade und Zigarrenrauch.“ — „Gut! Dafür 
forge ih.” Hinter dem Bahnhof ift ein wild west-Schuppen, ein 
camp für tramps. Mit jchnellen Augen überfliegt mein Jüngling, 
ein Gizilianer, den alle refpeltvoll mit „brigadiere‘“ (Polizei- 
jergeant) anreden, den zugigen, dämmerichten Raum und feine 
rauhborftigen Inſaſſen. Nachdem er einige Worte in mir unver- 
ſtändlichem Dialekt mit einer Alten gewechjelt, die man im Mittel- 
alter ficherlich zu der Ehre des Scheiterhaufens befördert hätte, 
ſagte er kurz: „Nichts für Sie”, und führt mich zu einer Holzbarade 
neneften Datums. In dem Kleinen Geviert, mo Betten, Möbel, 
Tiiche, Bänke wie in einer Rumpellammer auf- und meinander ge- 
ichichtet find, ruft er: „ch Stelle eine Reſpektperſon vor!" Drob 
erheben fich vom größten Tiſch ſechs baumlange Kerl, anjcheinend 
Eifenbahnarbeiler. ch bitte fie, fich zu fegen und mir nur ein Eckchen 
zu gönnen. Mein Schubengel gibt kurze Befehle und verläßt mich, 
da er. Dienjt Habe. Meine Nachbarn erhalten eine Brotjuppe in 
einem Napf und auf emem Tijchtuch, das mich an den Schmuß 
der Vorſtadtsteekneipen von Peteröburg erinnert. Bald erhalte 
ih Brot, Wein und gefotternen Stodfiih. Ein Göttermahl! Der 
Wein ift gut. Bald beftelle ich neuen für meine Nachbarn; denn 
‚darunter ift ein Amerikaner. Ein geſprächſamer Herr, nur hat er 
die Eigenheit, zu behaupten, Chikago liege nicht in den Vereinigten 
Staaten. Viele Kinder tauchen plötlich auf. Ein Wink des Herberg- 
vaters, und meine Konkneipanten müljen fort, denn draußen find 


2% Bagnara: Ein fideles Gefängnis 


Hungrige Zollfoldaten. Mailänder. Sie jprechen von den Deutichen 
in Mailand. Nachdem fie gefättigt jind, kommen neue Verhungerte, 
diesmal höhere Eifenbahnbeamte. Dieſer Perſonenwechſel ift ment 
faleidoftopifch, nein, kinematographiſch. 

Die Unterhaltung bewegt ſich jegt um die Katajtrophe. Zwei 
Tage lang war Bagnara ohne jede Hilfe, dann erhielt e3 vor allen 
Städten der Umgegend die erfte vom Meere her. Den Tag drauf 
wurde die Eijenbahn durch Erdlawinen blodiert, und die Aufräu- 
mung3arbeiten dauerten zwei Tage. Nun bommen auch die Frauen 
des Wirtes zum Borjchein. Welche Güte, welche Zartheit, welche 
erhabene Einfachheit entwideln Frau, Großmutter, Schwägerin in 
der Erzählung ihrer Schidfale und in der Sorge für die Gäfte! 
Manche Damen von Wohltätigfeitäbazaren müßten bejchämt werden 
von jolcher Wohltätigfeit, die aus gutem Herzen, aus angeborenem 
Takte kommt. Selten habe ich mich bei Fremden fo heimifch und fo 
gemütlich gefühlt, wie bei diefen armen, rührend guten Leuten. 
Mir tut's faft leid, daß ich gegen halb zehn von meinem Schubengel 
abberufen werde. An meinem Räderhotel angelommen, murmelt 
‚mein Mentor etwas wie „Umlogierung aus dienftlichen Gründen”, 
und führt mid) in ein anderes Abteil. Dort ift ein Untergebener 
bon ihm. Nebenan find noch vier jüngere Herren. Unter —— 
rendem Geſpräch der letzteren ſchlafe ich ein. 

Um ſechs Uhr ſtand ich ſchon am Fenſter und — mir 
die dunkle Landſchaft. Ganz alpin. Theaterdekoration für „Fra 
Diavolo”. Schwere Wolfen am Himmel. Grell fchimmern die 
weißen gelte. Von den zadigen Feljen raucht braufend ein Berg- 
ſtrom. Eine halbe Stunde darauf ertünen die Signalhörner. Aus 
den Waggons in der Nähe treten Frauen im ſchmutzigſten Neglige 
hervor. Mem Brigadiere kommt mit Handtuch und Geife: „Avanti, 
zum Flug!" Meine fünf Schlafkamecaden gehen mit. Zmweihundert 
Schritt weit, zum Damm. Auf einer Hühnerleiter hinunter zur 
Schlucht. Und nun beginnt die Toilette. Ein Bild aus einem Gold⸗ 


Bagnara: Blinde Paſſagiere 297 


gräberlager! Zum Glüd iſt Regenpauje und die Luft lau und lind. 
Bei der Rückkehr ſetzt Regenſchauer ein. „Wilfen Sie auch, wer die 
bier jungen Herren find?” fragt mid) der Brigadier mit ver- 
ſchmitztem Lächeln, „es find verdächtige Kerle, die ich verhaftet habe. 
Noch warte ich auf Befehl für ihren Abſchub.“ 

Nachdem ic) bei dem Wirte von geftern abend noch Kaffee 
getrunfen, made ic) Jagd auf den höchitlommandierenden Major. 
Er ift noch nicht präfentabel, er rafiert ſich. Unterdeſſen regt ſich am 
Bahnhofsbrunnen fröhliches Leben. Frauen mie %ellahmeiber, 
die die Amphora quer auf dem Kopftuch tragen, Mädchen und halb- 
nadte Buben fommen und gehen, Offiziere und Gemeine waſchen 
ſich kunterbunt im Freien. 

Um acht Uhr habe ich vom Major mein Viſum. Unfer Dienftzug, 
mehrere Wagen mit Brettern, Telegraphendraht, Ballen, Dach⸗ 
pappe beladen, wird langſam gebildet. Sch befteige einen Gepäd- 
wagen. Dachpapperolien find mein Sit. Viele Paflagiere hat unfer 
Wagen. Höhere Eijenbahnbeamte, ein Dutzend Telegraphenarbeiter, 
Mechaniler, einen Hauptlafjierer und Betriebsinſpektor, dann drei 
Dberitaliener vom Roten Kreuz. Wir rangieren hin und her, vor 
die Stadt und hinter fie, einmal einen Kilometer weit bi3 unter einen 
Zumel. So erhalte ich Gelegenheit, die einft jo liebliche Stadt zu 
betrachten und die reiche Vegetation ringsum. | 

Um neun Uhr fol’3 losgehen. Ein Oberbahnmeifter kommt 
mit und beginnt die Telegraphenarbeiter zu inftruieren. Sie find 
noch ganz blödfinnig vor Furcht. Unterdefjen Flucht der Betriebs- 
injpeftor mie bejejlen. Der reinjte Türke! Blinde Paflagiere find 
zu und hineingeflettert. Einige widerjegen ſich, werden fogar frech. 
Nun wird der Inſpektor Humoriftiich, läßt aber insgeheim die Polizei 
rufen. Mein Brigadiere erjcheint und nimmt Berhaftungen vor. 
Aufatmend wiſcht fich der greife Inſpektor die Stim und erzählt 
dann mit unterdrüdtem Schluchgen, daß er Frau und Kind verloren. 
„Ich war auf einer Dienftreife. Gott jei Dank, meine Frau hat nicht 


298 Bagnara: Erdlamwinen 





gelitten, fie lächelte noch im Tode. Aber meine jüngfte Tochter ift 
zerqueticht. Hier ift der Trauring meiner rau!” Neue Störung. 
Ein fein gefleideter Herr, der aus Nem-Pork herbeieilte, um feine 
Verwandten in Reggio zu fuchen, wird hinausbefördert, wieder 
zugelafjen, von neuem durch die Polizei an die Luft geſetzt, wiederum 
durch das Militär hineingewieſen. 

Unterdejjen fallen jich die „Standesperfonen” bei jedem Stoß 
des Wagens in die Arme oder an die Köpfe. Langfam fahren wir, 
borjichtig taſtend. Inzwiſchen höre ich einen Vortrag über die Re⸗ 
patatur de3 Telegraphen. Beim erjten Wärterhaus Halt. Einige 
Telegraphenarbeiter jteigen aus. Bretter und Ballen werden zum 
Bau eines neuen Wärterhaufes Hinausgermorfen. An jedem ehe- 
maligen Wärterhaus dasjelbe Spiel. Die Iandfchaftliche Szenerie 
ift malerifch. Weinberge wie am Rhein. Aber von Beit zu Zeit find 
jie durch furchtbare Erdrutſche, die oft die Telegraphenitangen bis 
ins Meer gejchleudert haben, verwüſtet. Die zurüdgebliebenen 
Arbeiter jchauen jich mit Kermermiene in die Augen. Offenbar trauen 
fie der Strede, den Tunnels nicht. Auch die Landſtraße ift durch 
Schuttlawinen ftellenmweije unterbrochen. Jetzt begreife id, warum 
General Marazzi am 29. und 30. Dezember vergeblich ver- 
fuchte, zu Fuß nad) Reggio zu kommen. In Favazzina wird rangiert. 
Ich benüge den Aufenthalt. Der Direktor der zerftörten Papier⸗ 
fabrif begleitet mich an den .Ort. „Zwanzig Tote, viele Ver- 
wundete. alt. fein einziges Haus bewohnbar. Ich rettete mid) 
durch Sprung vom erſten Stod und hatte nur einige Schentel- 
wunden. Em Mailänder Komitee arbeitet fchon Hier. Die 
‚Baraden find im Bau. Sehen Sie, welch” fchöne Gegend!" Und 
er zeigt mir in der Ferne die Landzunge, auf der dad Schloß 
des fagenberühmten Scilla thront. Wir gehen dann durch die 
Station zur Unterftadt. Die Vertvüftung ift graufig. Eine Hobl- 
äugige, hohlwangige Menge, in — gehüllt, winſelt: „Brot 
und Bretter!“ | 


Cannitello: Die Magenfrage 2% 





Scilla! Ein amerilaniſches, ein italienisches Kriegsſchiff 
liegen vor der Reede, ein pittoresfes Zeltlager lacht am Strande, 
flankiert von buntichedigen Baraden. Der Stationdvorftand fagt: 
„600 Tote, 700 Verwundete. Piemonteſiſches Hilfsfomitee. Die 
erite Hilfe brachten die Engländer. Bis jebt wagt nod) niemand in 
die Oberftadt Hinaufzuflettem. Der Leichengeitant ft fürchterlich 
und alles Gemäuer morſch!“ Ich blide hinauf. Wie ſchön muß dieſe 
Oberſtadt geweſen fein, die jet nur Ruine ift! Faft Capri! 

Elf Uhr: Sannitello! Wiederum geht mein Vorrat von 
Ausrufen und Adjeltiven aus. Zerflörung vollftändig! Station ein 
Schutthaufen von einem Meter Höhe; er birgt nod) die Leiche eines 
Affiitenten. Geltfamer Eindrud. An der Station glaubt man in 
freiem Felde zu fein. Es ift der größte Verwüſtungsgraus, den ich 
bisher auf der ganzen Strede gefehen habe. Ich treffe in einem 
großen Baradenbau den Bürgermeilter: „Bon 1500 Einwohnern 
fehlt jede Spur. 850 Tote haben wir wenigſtens, 200 find erſt aus⸗ 
gegtaben.” Er geht fort; denn foeben wird an eine große hungrige 
Schar Schiffsztwiebad verteilt. Gern nehmen fie ihn nicht; Nudeln 
wären ihnen lieber, denn die wärmen. Und das foll man fi in 
Deutjhland merken: Scidt feine Konferven mit Gemüfe 
oder Ochſenmaulſalat, laßt in Neapel landesübliche Gerichte ein- 
faufen, vor allem Makkaroni und Mehl! Der Negen hört auf. 
Deſſen freuen fich die Kinder, die fcherzend umherjpringen. Wenn 
doch nur ein Maler hier wäre, um dieje griechiichen Charafterköpfe 
unter den Schiffern aufzunehmen in ihrer ſpaniſchen Bauern- 
tracht, oder den alten Mann, der pfiffig lacht, weil er fich Tabak 
erbettelt Hat! Unſer Betriebsinſpektor Hat unterdeflen Brot für 
feinen Hunger gefunden, als er aber die begehrlichen Augen der 
Umftehenden Sieht, kann er’3 nicht ertragen. Er verteilt da3 Brot. 
Ein befjerer Bürger, der ein großes Stüd ergattert hat, jchleicht Davon, 
als ob er ſich ſchäme. Nicht weit davon ftehen Gruppen von Frauen, 
regungslos in Gliedern und Miene, jtumpf, nur ihre großen ſchwarzen 


300 Billa Sarı Giovanni: Verwüſtungsgraus 


Augen haben den Augdrud des vermundeten Rehs oder des fter- 
benden Hundes. Andere Frauen balgen fich aber wie Megären, 
um zuerjt an die „signori furestieri“ heranfommen und betteln 
zu fönnen. Welcher Schmuß in den Zumpen, welch edle Geftikulation 
troß allem häßlichen Gebahren! 

Der Zug gebt jchneller. Zwei Kriegsſchiffe kommen in Sicht. 
Bald find wir m Villa San Giovanni. Gegenüber ſchim⸗ 
mert durch das Negennaß die meſſineſiſche Küfte. Der Hafen ift 
ein riefiges Dofument für die elementare Kraft des empörten Meeres. 
Das Seebeben hat die gewaltigen Dundern des Hafendammes 
überall Hingeftreut, jo daß fie Körnern oder Perlen eines Rofen- 
franzes gleichen, dejjen Schnur geriffen if. Landeinwäris fieht 
man die Trümmer einer großen englijchen Nudelfabrif.. Zehn⸗ 
taujend Zentner Mehl liegen unter dem Schutt. Die fertigen Nudeln 
wurden zum Teil gerettet und dienten der Bevölkerung vier Tage 
lang aß Nahrung. Die Station, anjcheinend Heil, ift unbrauchbar; 
jchon baut man eine Barade für fie. Die Stadt Hatte 6000 Ein- 
wohner und erfreute fich eines gemwillen Wohlitandes dank den 
vielen Seidenetablijjements. Kein Haus iſt mehr heil. Die Zahl 
der Toten, die fich über tauſend beläuft, ift noch unbekannt. Bisher 
war's nicht möglich, genaue Zahlen feftzuftellen, denn die Über- 
lebenden find faft alle wahnſinnig vor Schmerz, Schred und Trauer. 
Der reichjte Bürger, der vor einem Jahre für fein Seidenetablifje- 
ment Majchinen im Werte von anderthalb Millionen angefchafft 
haben Soll, hat die Sprache verloren. Die Offiziere und Soldaten, 
die eifrig Baraden bauen, haben gegenüber den Geretieten einen 
harten Stand.. Das Bild der Zerftörung ringsum ift unbefchreiblidh. 
Ganze Häuferreihen zerqueticht, wie liegen unter einer Knaben⸗ 
fauft. Der Hauptlaflierer, der den Aufenthalt benubt, um einigen 
Arbeitern der Station die Löhnung auszuzahlen, unterbricht jich, wirft 
einen Blid auf den Rattenkönig von Dachſparrenwerk und Ziegeln 
und philojophiert über die unbändige Niejenfraft des Erdbebens. 


Billa San Giovanni: Abreife 301 


Plötzlich ommt der Zugführer zu mir: „Drüden Sie ſich in 
eine Ede! ch tu’3 wegen des Brigadiere von Bagnara, der Gie 
mir empfahl. Wir haben neue Weifungen. Offiziell hört der Zug 
hier auf. Wir fahren nur mit zwei Wagen weiter und befördern 
Offiziere nach Reggio. Ale Privatperfonen müſſen hinaus!” Und 
jo geſchah's. Selbjt der New⸗Yorker, der inftändigft flehte, entging 
feinem Schidjal nicht. Der Zugführer drohte ihm mit Verhaftung 
und Klage wegen Beamtenbeleidigung, und jo mußte er gebüdt 
davonſchleichen. Mit tat er leid; aber im Dienft wird man egoiftiich. 

Kurz nach zwölf Uhr ging’3 weiter. Ich wage mich an’3 Licht. 
Auf dem Bahnhof fteht ein neapolitanijcher Kollege und weiſt auf 
feinen Nachbar, einen Kollegen vom „Petit Journal”. Ich kann 
ihnen nur noch zurufen: „Gehen Sie zum Militärtommando !" 


Schluß 


In dem zerftörten Reggio Galabria. 


„Hier wird der Reiche fchnell zum Urmen 
Und der Armſte dem Fürften gleich." 
(Braut von Meffina.) 
Neapel, 15. Januar 1909. 
aß ich diefen Brief wieder in Neapel fchreibe, ift auch einer 
der Zufälle, die jet an der Tagesordnung find. 

Um zwölf Uhr verließ ih Billa San Giovanni. Der 
ftarf dezimierte Zug entwidelte eine größere Schnelligkeit. Ein 
Geſpräch wollte lange Zeit nicht auflommen, da wir Paſſagiere und 
faum noch von dem zuleßt erfchauten, ja erlebten grauenvollen 
Schreden erholen konnten. Mein Nachbar, ein Pionierhauptmann, 
der mit feuchten Augen auf die Berge blidte, unterbrach zuerjt die 
Stille: „Sch laſſe es mir nicht ausreden, da3 Erdbeben war doc) 
vulfanischer Natur. Dafür fpricht die Veränderung des Bodens der 
Meerenge, dafür auch die Spalten, die fich in Reggio gebildet haben, 
und denen heißes Waſſer entftrömt.” 

Wir ommen nad) Catona, dem Ort, der in der Erdbeben- 
Mythologie als Eingang zur Hölle berühmt ift und halten einige 
Minuten. Das ganze Gebiet ift jebt felbft eine Hölle des Schredens. 
Die Station ift völlig zerftört. Dazfelbe gilt von den Häufern. Bor 
una winken gar zu verlodend die faftigjten Orangen, blutrot. Eben 
jteigt eine Alte auf einen Baum. Im Nu ift eine Apfeljinenbörje 
im Gange. Unſer ganzer Wagen beteiligt jich lebhaft. 


Reggio Calabria: Trifte Fröhlichkeit: 303 


Was zitiert G'ſell Fels von Reggios Landichaft? 

„Obſt und Orangen find trefflih, es ftroßet der Boden von Früchten, 
Wie aud) von Blumen der zwei Hemifphären in üppigfter Fülle; 
Und zu bedeutender Höhe ſchwingt fi die Palme und reifet 
Datteln, der Rizinus füllt mit den riefigen Blättern die Gärten, 
Ringsum leuchten im Laube, Drangen, Zitronen, Limonen... 

. „Und an den Straßen nad) Süden und Norden begleitet die Ränder 
Fleiſchiger Kranz von Opuntienblättern und indifchen Yeigen; 
Und fo fchließt der italifche Boden mit einer Idylle.“ ... 

Begleitet dieſe Idylle ein Satyrjpiel? „Nur immer Tuftig!” 
ruft der Hauptlafjierer, nachdem er einen fchnellen Bli auf den 
greifen Inſpektor geworfen, dem etwas in der Kehle feitjit, „ich bin 
aus dem fetten Bologna. Luftig, Kinder! Wein hab’ .ich mir 
erichmuggelt und Brot und Wurſt! Orangen gibt’3 auch! Auf zur 
fröhlichen Tafel!" Ich ſtutze. Aber mit Iuftigem Blinzeln, das 
beinahe jchon wie drohendes Weinen wirkt, jchielt der Kaſſierer 
wieder auf den Inſpektor, der mit Mühe das Schluchzen erftict. 
Nun verftehe ich, e3 gilt, den fchmerzgefolterten Alten über eine 
Kriſis Hinüberzubringen. Raſch tue id) mit, aber nur unter der 
Bedingung, da ich an der nächiten Station für die Gefamtheit die⸗ 
jelbe Schmuggelquelle benuten darf. Wird mit Jubel angenommen. 
Und jet geht’3 los. Die Flajche wandert von den Offizieren zu den 
Beamten, von diejen zu den Arbeitern. Heimlich flüftert mir der 
Anftifter der Fröhlichkeit zu: „Still, der arme Inſpektor Hat ben 
Trauring feiner Frau verloren, al3 er Brot kaufte!“ 

Die mitleidige Lift wirft. Auch der Inſpektor hat fich wieder 
zurecht gefunden — freilich, wer weiß wie, war doch der Ring das 
einzige Andenken, was ihm von jeiner verlorenen rau verblieben. 
— Sin einer Zechpauſe werde id) des Stationächef3 habhaft. „Wie 
groß ift die Zahl der Opfer hier?" Die Antwort lautet: „1500 Tote 
bei 2000 Einwohnern!” 

Nächſte Station, Gallico. Das Grauen der Verheerung 
mächlt. Aber hier hat fie einmal die Rolle des Komiker3 ſpielen 


304 Gallico: Der Herzog von Connaught 





wollen. Geradezu Humoriftiih wirken die Bilder an einzelnen 
Stellen. Da fieht man zum Beifpiel den Oberftod eines Haufes, 
von dem nur das Dach und die Seitenwände blieben, und jo eine 
bizarre Leere grinft, die fein Verſtand eines Bauverjtändigen als 
logijch denkbar oder möglich demonftrieren könnte. Dann ſieht man 
Häufer, die gleichſam geblendet jind, das Heißt, einzelne Zimmer 
gleißen wie die leeren Augenhöhlen eines Gemarterten, dem man 
die Augen auögerifjen bat. Die anderen Trümmer erweden den 
Eindrud von Baulaftengebilden, die findlicher Übermut umgeftürzt, 
von Kartenhäufern, die er umgeblajen hal. Und über dieſes Sammel- 
jurium von buchjtäblicher Zermalmung leuchtet ein Regenbogen. 
„Er tommt täglich”, jagt der Zugführer nicht ohne einen Anflug von 
Ironie. Auch der Smipeltor hat feinen Humor wieder. „Wißt, Ihr 
Herren, e3 fommt ein Salonmwagen an den Zug. Ich Hätte ihn gern 
für Euch geöffnet, aber der Herzog von Connaught ift Euch zuvor⸗ 
gelommen!” Ach fteige aus. Wichtig, unfer Züglein ift durch 
Zuwachs wieder zum Zug geworden. Die königlichen Herrichaften 
frühftüiden gerade. Da treffe ich den Gtationdporfteher. „m 
Gallico Marina haben wir 100 Tote, in Gallico superiore 1000! 
Überhaupt das Elend in den Bergen! Einfach fcheußlich !” 

An dem nächſten Halt ftürzt ein jugendlicher Oberft auf ung zu 
und fragt die Offiziere: „Bringt Ihr Mehl? Es ift zum Verzweifeln! 
Seit acht Tagen fchreibe ich, und es kommt nichts. Oben aufden Höhen 
ift es entjeglich. Und an diefe Armſten hat noch niemand gedacht!" 

Unwillkürlich Schaue ich auch zu diefen Höhen hinauf, von deren 
Opfern fein Lied, Tein Heldenbuch, aber auch fein amtliches Tele- 
gramm meldet. Ein mfanterieleutnant ruft laut: „Gut! Hier 
lkann man doch noch Überſchau halten, aber oben wird der ganze 
Sammer wie aus blutigem Hohn von einer grünen Flut von Orangen- 
bäumen bededt!” j 

Doch weiche Überjchau hier unten ringsum! Die ganze Gegend 
gleicht einem einzigen Militärlager; freilich ift auch, außer Meſſina 


Neggio: Der Staden 305 


und Reggio, feine Strede jo geplagt und mißhandelt worden tie 
diefe. Ein Rieſe fcheint in blinder Wut mit eiferner Keule finnlos 
um ſich gehauen zu haben oder ein Dampfhammer von zwei Kilo- 
meter Durchmeffer war fo freundlich, hier einen gelinden Drud 
auszuüben. Und ruhig ftarrt über dem Entjegen der ſtolze Ajpro- 
monte in Fühler Ruhe. 


„Oſtwärts raget der Aſpromonte mit Tannen zu oberft, 
Rings an den Flanken von Wäldern mit Eichen und Buchen umgürtet“ ... 


Santa Baterina Reggio! Wiederum kam ich mid) 
nicht um den Gemeinplag herumdrüden: „Spottet jeder Beichrei- 
bung!” Hunderte von Arbeitern find durch das Zuſammenkrachen 
der Seidenetabliſſements brotlos, d. h. fomeit fie überhaupt nicht 
durch den Tod an mweiterem Kauen verhindert wurden. Ein Herr 
fommt mit bitterem Ausdrud an unfern Wagen: „ch hatte achtund- 
fünfzig Verwandte, mir blieben vier!” Und fröhlich hören die Kinder 
die Stunde, dieſe Tiebliche Jugend, die Kapuzen trägt, wie die Alben 
und Wichtelmänndhen bei Mori von Schwind und die Hirtenfnaben 
bei Ludwig Seitz zeigen. Und die Gefamtitatiftif? 3000 Einwohner 
und 1200 Tote! | B 

Reggio kommt in Sicht. Der Zug fährt ſchneller. Bald ſieht 
man vier Schiffe im Hafen, dann mehrere Panzerkreuzer und Torpedo⸗ 
boote. Neben der Bahn zeigen ſich Hoſpitalzelte und unfertige 
Baracken. Eine lange Zeile. Dann drängt ſich unſeren Blicken das 
auf, was einſt vor dem vier Meter hohen Wellenberg des Seebebens 
der Staden, die Uferwerft war. Eiſenbahnwagen ſtecken halb im 
Boden, die Kaimauer iſt verſchwunden, der Bord der Straße ver⸗ 
ſchluckt. Run werden halbierte Häufer fichtber, dafın eine lange Zeile 
bon Eiſenbahnwagen, die in Bureau und Hofpitäler verwandelt 
find. Der Zugführer jagt mir: „Steigen Sie hier an der Neben- 
ftation aus, dann find Sie auf alle Fälle näher dem Fährboot, falls e3 
Sie mitnimmt.” 

Baker: Im Lande bes Erdbebens. 20 


306 Reggio: Seltſame Drofchlenfahrt 


Ich befolge den Rat und betrete die Station, die ebenfalls war; 
denn ſie iſt zerſchmettert. Mit meiner Taſche und mit meinem Plaid 
ſuche ich vergebens jemand, der mir hülfe. Ich trete auf die Straße. 
Da winkt mir ein hungriger Kutſcher und bietet ſich laut als Führer 
an; er zeigt auch mit kühler Selbſtverſpottung auf feinen Jammer⸗ 
falten, vor dem ein magerer Klepper fteht. Die Not hat den Mann 
gezwungen, feinem Erwerb wieder nachzugehen. Zum Fliehen war 
er ja nicht berechtigt, weil fein ärmliches Häuslein in der Vorftadt, 
wie durch ein Wunder unbejchädigt blieb. Seine Einladung leuchtet 
mir ein. Ich bereute fie nicht, obſchon mir das Elendsvolk ala 
einem proßigen „gran-signore“ feindfelige Blicke zumirft und ganze 
Scharen von ſchmutzigen Weibern, die ich zu anderen Zeiten Megären 
genannt haben würde, mich bettelnd umdrängen. In der Tat. So 
gewann ich Zeit. Auch Hatte ich mich in meinem Vertrauen nicht 
geirtt. Der Lenter des Kleppers war wirklich ein guter Führer, und 
brachte mich fchnell auf Schuttwegen bis zu den Gtellen, wo e3 
Hettern hieß. Zuerſt frage ich nach dem Yährboot: „Gegen fünf 
kommt ficher eins, und wenn Sie Päſſe haben, dürfen Sie fahren.” 
Sept ift’3 ein Uhr. „Alfo los, vetturino!” Zunächſt geht’s über die 
breite Prachtitraße oberhalb des Kais und der Bahn, die Dlarina. 
Bon den meiften Häujern ift nur das Erdgeſchoß erhalten. Welche 
Jronie! In einem Palazzo blieb vom erſten Stod nur ein friſch 
lackierter weißer Schrank unverfehrt! Überall fieht man noch wenige 
Gruppen de3 ärmften Bol, das ſich geweigert hatte, mit den bejjer 
gejtellten Bürgern die Stadt zu verlaffen, in improvifierten Lagern 
um Heine Lagerfeuer, auf denen ein Topf brodelt. Die obere Stadt 
fieht von hier ſehr maleriſch aus, aber nicht jo ſcheinbar erhalten, wie 
Meſſina; dafür find die Ruinen zu mafjenhaft. „Hier mohnte der 
größte Weinhändler! Was Hat er nun von feinem großen Prunk⸗ 
haus?“, fagt mein philofophijcher Führer. Vor einer fteil anfteigen- 
den Querftraße, die ein einziger Schutthaufen ift, ſcheut das Pferd. Es 
jcheint auch erdbebengeftört zu fein. Ein Borübergehender muß es 


Reggio: Ein Eopflofer Redner 307 


am Zügel weiter führen. Rechts hört der Blick aufs Meer auf, aber 
alle Häufer find Schutt und Staub. Lin wird mir der große 
Palazzo Mangatoni gezeigt, unter dem, wie mir geftern jemand 
fagte, noch Hundertundfünfzig Tote Tiegen. Jetzt mehrt ſich auch 
In die Zahl der zerriebenen, zermahlenen Häufer, der Graus in 
den Querftraßen. Wir kommen an den Stolz Reggios, die Palaft- 
villa des genueſiſchen Marchefe di Zerbi. Yon ihr blieb nur da3 
Säulenrund, dad als Propyläe diente; das Vorwort nur, der Tert 
verſchwand. Bon Zeit zu Zeit muß mein Bockbeherrſcher ſich ernied- 
rigen, um Telephondrähte zu entfernen, die fein Pferd umjchlingen. 
est kommt Zukoſt zu den Ruinen: prachtvolles Bettzeug, vergoldete 
Stühle. Sn der Querftraße Francesco di Sales fieht man die unbe- 
mwohnbar gewordene Präfektur, an der Ede der Via Plutino eine 
Kaſerne, die mit unzähligen Strebebäumen geſtützt wurde, weil noch 
einige Räume zur Unterbringung des Pionierjtabes benubt werden. 
Bei der nächſten Duerftraße Hettere ich zum Dom. Nur die Chor- 
feite hat gelitten, doch die andere mit den Türmen, ſchon geborften, 
Tann ftürzen über Nacht. Es folgt an der Marina immer weiter nach 
Süden ein langgeftredter Bau, da3 Waifenhaus, in deſſen rechten 
Flügel da3 Museo civico eingebaut ift. Alles verlafjen und öde. 
Wir biegen lin ein. Nechts ftand einmal die Gasfabrif, dahinter 
da3 Theater, deſſen Bühnenraum in die Luft geblafen wurde. Bor 
dem Stadtparf, der freilich etrvas zu ſpät zum Hoſpitalpark verwandelt 
wurde, halte ih. Die Schildwache läßt mich pafjieren. Zelte 
überall, leider aber in der Mehrzahl Soldatenzelte. Luſtig flattern 
die Fahnen an der Spike. Aber man baut emfig an einer Riefen- 
barade. Im Papillon, einft le centre du plaisir, liegen Bücher, 
Brofhüren einen Meter hoch auf dem Boden, dahinter prahlt ein 
fopflofer Redner aus Gips mit feiner an Geften reichen Beredfam- 
feit, und vor mir bemerfe ich plötzlich zwei Füße, die fich 
mir gegen alle Regeln de3 Anſtandes aus dem Papiermuft 
entgegenftreden. Bon den Füßen zieht ſich aufwärts eine blutige 
20 * 


308 Reggio: Eine gerettete Statue 


Dede. Sch Schaudere und tue Abbitte; was weiß ein zober 1 bon 
Anſtand? ..... 

Ich hatte in dieſen Tagen doch ſchon viel Tote geſehen, aber 
dieſer, der hier unter der zu Makulatur gewandelten Bibliothek liegt! 
Brr! Ich bin fertig mit meiner Aufnahmefähigkeit und komme in 
die Stimmung, wo einem das Lachen näher iſt, als das Weinen. 
Mich leidet's drinnen nicht mehr. Ich gehe um den Pavillon herum. 
Hier ſcheinen Menſchen zum Tode verurteilt worden zu ſein, wobei 
der Schöffe, ein Rieſe, aus Zerſtreutheit ſtatt der ſymboliſchen Stöcke 
Granitſäulen zerbrochen hat. Mir iſt's, als ob jemand lache. Aber 
der Anblick iſt auch wirklich lächerlich. Ein Mann aus den Bergen 
zieht mich ab, er trägt ein müde lächelndes nacktes Kind vor ſich her. 
Den beiden folge ich bis zu einem Hoſpitalzelt, wo gerade einem Mann 
am Beine herumgeſchnitten wird. ; Doch das iſt nicht luſtig. Mehr 
‚gefällt mir fchon der bronzene Herr Tripepi, ein ehemaliger 
Abgeoröneter und deshalb aus Selbſtſucht Wohltäter der dankbaren 
Siadt. Er lacht mit dem ganzen Geficht, weil die Stadt ihre Dank⸗ 
barkeit joweit trieb, daß fie in den Dpfertod ging, a die 
finfteren Mächte ihn verjchonten. | 
Wenige Schritte weiter durch ein Hintertor bringen mich auf 
‚die „Beil" von Reggio, den Corſo Garibaldi.. Auch zerftört. Aus 
übertriebener Lebenäluft wehrten fich aber ringsum die Firmen⸗ 
ſchilder, das Los ihrer Häufer und deren Herren zu teilen. An der 
Kirche San Francesco war die Faſſade ebenjo eogiftiich; in ftolzer 
‚Ruhe hatte fie fi) gemweigert, ihre Klammerhände auszuftreden, um 
‚ihre Nachbarn, die Seitenwände, zu ſtützen. Unterdeſſen winkt mir 
am Ende der Straße mein Kutſcher. Er fährt mich über Schutt- 
geröll nach einem großen, freien Platz. Sein Peitichenftiel wird 
Wenmeiler: „Kaſerne Mezzacapo! Hier wurden 720 Soldaten 
erichlagen.” .... | 

Das Bild der graufen Ruine ift einfach — ,ſcheußlich“. So hatten 
ja auch vorher der Stationsvorjtcher und der Oberft in Gallico vom 


Reggio: Schuttforſchung 309 


Verwuſtungsſpuk in den Bergen gefprochen. Und nun erinnere ich 
mid). In diefen Trümmern hatte ſich am Morgen der Kataftrophe 
eine fehöne Szene abgefpielt. Kaum mar e3 hell geworden, grub 
ein Leutnant, der heil geblieben, die Fahne aus, und, als die Sterben- 
den und Verwundeten die Nationalfarben fahen, denen fie Treue 
geſchworen, wollten fie fie küffen. Und der Oberft felbft nahm die 
Fahne und hielt fie den jungen Rekruten an die bleichen Lippen. Für 
viele war's der legte Kuß ihres Lebens... ... 

Eine Weiterfahrt ift nicht möglid. Drum kehren wir zur Marina 
zurüd. An der Nebenjtation geziwungener Halt. Eine Kompagnie 
Pioniere ſucht mit Brandleiter und Striden die wanlenden Mauern 
des erjten Stod3 herunterzugerren. Das Schauspiel wirkt erheiternd 
auf die Jugend, Bettellnaben à la Murillo, denn die Mauer ift hals- 
jtarrig, Ioderer hingegen das Geil, und da3 Querholz, an dem fich 
zwanzig fräftige Soldaten ziehend abmühen, zerbricht. Darob neues 
Gelächter bei der Jugend. Doch mir vergeht der Spaß; denn der: 
fommandierende Leutnant will mich nicht durchlaſſen, weil mein 
Wagen feine Yeuerleiter beichädigen könnte. Erſt nach langem 
Parlamentieren darf ich weiter. 

Langſam jchlottert mein Gefährt vorwärts, und jo erhalte ich 
Muße für neue Betrachtung. Mein Geficht ſchärft, die Fähigkeit für 
die Schuttforſchung mehrt fich. Nicht die geringfte Einzelheit entgeht 
meinen Zuchdaugen. Ha? Gehe ich nicht fogar in Schön gejchnigtern 
Käftlein ein Bündel faljcher Haare und daneben in einer Schmußlache 
einen feinen Spitzenfächer? Wo ift die Schöne, der dieſe Toiletten- 
arlifel angehörten? Gar zu komiſch wirken auch die vier vergoldeten 
Eifenbetten dort drüben, wo eimjt in dem Palazzo das herrichaft- 
lide Stodwerf war! Die Zwiſchenwand hat fie plattgedrüdt wie 
Fröſche unter einem Biegelftein. 

Borbei an Hofpitalzelten, die eine betielnde Menge umjteht, 
an der Poft-, der PBräfekturbarade und einer Reihe von halb fertigen 
Bretterajylen kommen wir nun zum Hafen und zur Station der 


310 Reggio: Meerbeben 





Fährboote. Da ich vorausſichtlich ange warten muß, gebe ich mein 
Gepäd einer Infanteriewache, die in einem Güterwagen hauft. 
Und nun wird’3 wieder luftig. Bon der Funkenfpruchltation ragen 
nod) die Stangen, aber jie haben die Sprache verloren; vor Schred, 
vor Lachen? Nun, e3 ift aber auch zu komiſch, wie jich fonft fo fitt- 
jame Güterwagen der Staatseiſenbahn aufführen. Einer liegt 
jogar auf dem Rüden und ftrampelt mit den Rädern in der Luft, 
ein anderer fteht, da er feine Holzjade ausgezogen, ala nacktes, 
Ichamlojes Eifengeftell da. Aber ich begreife. Das Geleife gleicht 
dem Auf und Ab der montagnes russes, und dieſe Wagen haben 
die luftige Purzelei nicht vertragen. Ein Güterwagen liegt im Waffer. 
An feinem Dad) [pringen die Wellen um die Wette, wer am höchften 
fomme. So jauber gibt’3 feinen Wagen in der ganzen Staatsbahn! 
In einem anderen Wagen meiter zur Station hat da3 Geebeben 
Kaktuszmweige, Olbaumäfte, Tang und Taurefte zwifchen die Räder 
gepreßt. 

Dieſes Bild erteilt einen fürchterlichen Anfchauungsunterricht 
über die Gewalt der vom Meerbeben entfejjelten Fluten. Wie 
jchilderte Doch der Apotheler aus Meſſina in den Zeitungen feinen 
Eindrud? „Um fünf Uhr fünfundzwanzig Diinuten lag am Hafen 
das Fährboot bereit, da3 jeden Tag nach Neggio hinüberführt. 
Da fing plöglid) da3 Dröhnen der Erde an. Die Oberfläche. des 
Waſſers jenkte ſich; das Schiff ging einige Sekunden in die Tiefe, 
dann wurde es plößlich biß zur Höhe von acht Metern empor- 
gejchleudert. Als es wieder hinuntergeriffen wurde, zerichellte es an 
den Felſen der zeritörten Mole.“*) 


*) Und hat nicht auch, wie ein gelehrter Mitarbeiter in der „Franl- 
furter Zeitung” fchreibt, Vater Homer m der Scilla und Charybdig 
ein Meerbeben gezeichnet? Man vergleiche Doch nur: 

EN „Und dort die wilde Charybdig, 
Welche die falzige Flut des Meeres fürchterlich einfchlang; 
"Wenn jie die Flut ausbrach: wie ein Kefjel auf flammendem Feuer 


Neggio: Spiel der Wellen 311 





Auch an der Station des Fährboots hat da3 mit der Erde um 
die Wette bebende Meer toll gewirtichaftet. Man ift verfucht, das 
berühmte Lied des meiland Kultusminifter v. Müller zu fingen: 
„Straße, wie wunderlich fiehft du mir aus”; denn ein Torhäuschen 
iſt jo jchief, daß es als einzige Grimafje wirkt, alle anderen Räume 
find zerriffen, leer. Kein Beamter wagt fich mehr an die Unglüds- 
jtätte, aus Furcht; freilich ift der ganze Untergrund unterivajchen, 
und das Meer gurgelt ganz höhniſch in den Pflajtertrichtern. Und 
mweiter fchlendere ich zur Hafenftation Punto Mare. Auch fie eriftiert 
nur noch aß ein Haufen Teen. Doch interefjant ijt’3, auf dem 
Trümmerfeld mit fuchendem Auge zu wandern: Behördenformular- 
bücher, Geichäftsreflamen, Bündel von Frachtbriefen, umgejtürzte 
Eifenbahnwagen, Säde, Mehl, Körbe, aus denen Zitronen quellen. 
Sch Tehre zu meinem Gepäddepot zurüd. In einem Schuppen 
kocht ein Soldat, ein anderer jchreibt an einem ſchönen Eßtiſch. Mitten 
auf der Staße fteht ein eleganter Schreibtifch, neben ihm als Parodie 
auf Geßlers Kopfbededung ein verbeulter Zylinder auf einer Stange. 

Seltſames Spiel der Wellen! Berengar’3 Spruch aus der 
„Braut von Meſſina“ höre ich im Geifte: 

„Denn das Meer ift der Raum der Hoffnung 
Und der Zufälle launiſch Reich!" 

Zange dauert es, ehe das Fährboot in Sicht ommt. Der Wind 
hebt ſich. „Auf den Wellen ift alles Welle!" Biel Volkes fammelt 
jich, aber nod) fein Beamter. Ob bei diefem Sturm das Fährboot 
die Überfahrt magt? Und wenn nicht, was dann? Die ſchweren 
Wollen drohen neuen Guß. Man ruft mid. Wie Marius auf den 


Braufte mit Ungetüm ihr fiedender Strudel, und hochauf 

Sprigte der Schaum und bededte die beiden Gipfel der Felſen. 
Wenn fie die falzige Flut des Meeres wieder hineinſchlang, 

Senkte ſich mitten der Schlund des reigenden Strudel, und ringsum 
Donnerte furchtbar der Fels, und unten blidten des Grundes 
Schwarze Kieſel hervor.” 





312 Neggio: Die Stadt der Eſſenzen 


Trümmern von Sarthago jehe ich den Kollegen Qucatelli, den 
Feuilletoniften vom „Secolo“, mit ftolger Verbiſſenheit auf einem 
Schutthaufen figen. Bor zehn Tagen verließ ich ihn in Catania. 
„Barum fo ſtolz?“ Tragte ich ihn. Und mit unnachahmlicher Gebärde 
antwortet er: „Für jet ift mir alles gleich. Ych habe heute wenigſtens 
ſchon gegeſſen! Ja, ich hätte nie gedacht, daß ein Menjch des 
zwanzigſten Jahrhunderts fo bejcheiden werden Tönnte.”... „Und 
wo bleiben Sie die Nacht?" ... „Wer weiß? Am Notfall begehe 
ih eine Amtzbeleidigung auf Koſten eined Karabiniere; denn ein 
Berhafteter findet immer Unterkunft. Bleiben Sie bei mir. In 
Meſſina haben Sie auch Fein Nachtlager von Granada. Mic) hat man 
dort von den Schiffen gemwiejen, weil der Obergeneral meint, e3 
jeien zu viel Schreiber in der Unglüdsftadt . . .” 

Gegen Sonnenuntergang fommt das Fährboot, zugleich aber 
auch Regen. Er verwehrt mir, wie einft, das ſchöne Panorama 
zu genießen, das gerade im Abendglanz jo berückend ift. 

„MAnten am Hafen entzüdt al ein farbendurchleuchtetes Seebild: 
Senfeit3 über ven Wogen Giziliend Küfte, Meſſina, 

Kaum eine Meile entfernt, und der gewaltige Atna, 

Rückwärts Berge an Berge in fernen verduftenden Zügen“... 

Ich verlaffe die Stadt der Fata Morgana, deren duftende 
Gartenpracht ich heute nicht gejpürt; denn Wohlgerüche find felten 
heuer in Reggio, die auch die „Stadt der Eſſenzen“ war. Und der 
Sturm ftößt mit Wucht, unfer mächtiges Trajektichiff erſchütternd. 
Das kann gut werden, wenn ich in der kommenden Schauernadht 
als zur einzigen Zufluchtsftätte auf das Heine Poſtſchiff „Seilla” 
fomme, dad, wie mir ein Bootsmann fagt, Heute Dienſt hat! 
Hunderte von Möven zickzacken über die zijchenden Wogen. Wollen 
fie ſich mit den Haififchen neden, von denen jegt die Meerenge 
wimmeln joll? 

Es ift tiefe Nacht, als ich in Meffina ankomme. ch habe Glüd, 
ich finde wenigſtens emen Führer. Diejer nimmt mir zwar mein 


Meſſina: Yürchterliche Stille 313 


Gepäd, aber auch jede Hoffnung; denn er erklärt, fein deutjcher 
Dampfer liege mehr im Hafen. Alſo muß ich doch auf das Poſtſchiff, 
denn alle anderen fowie die Baraden am Lande find überfüllt. 
Nachdem ich den Zaun der überwachenden Soldaten paſſiert, 
jtehe ich in ftrömendem Regen mit meinem Begleiter allein auf 
dem matt erleuchteten Staden. Wieder laftet die Stille auf mir. 

Mit Beatrice fage ich: 

„Mnd mich ergreift ein ſchaudernd Gefühl, 
Es jchredt mich ſelbſt das wefenlofe Schweigen. 
Nichts zeigt ſich mir, wie weit die Blicke tragen.“ 

Auch kein Barlenführer zeigt ſich. Doch endlich erhält unſer 
Hallo Antwort: Sie ift aber Hohn: „Das Poſtſchiff ift abgefahren.“ 
Wieder retten mich Pioniere aus der Not. Aber anftatt zum Poſt⸗ 
Ichiff, wie fie jagen, rudern fie mich irrtümlich auf den Ozean⸗ 
dampfer „Lombardia”, der gerade auf plößlichen Befehl nad 
Neapel abdampft. Man will mich ausweiſen, aber al3 man die 
Barke zurückruft, ift fie fchon zu weit entfernt. Der Negierungs- 
kommiſſar an Bord beichwichtigt den Zorn des Kommandanten, 
und fo reife ich als einziger Pafjagier nach Neapel. Dort angelommen, 
fragte ich den Regierungskommiſſar: „Welche Befehle haben Sie, 
und warum mußten Sie fo fchnell und leer dazu zurüdfahren?“ 
Ein Achjelzuden war die Antwort. 

Kaum ift die Landungsbrüde an Bord gefchoben, ftürzt ein 
Heer von Funktionären hinauf, um die Paſſagiere zu muftern. 
„gier ift der einzige”, erwidert der Regierungskommiſſar, indem 
er lächelnd auf mich zeigt. Und unter allgemeinem Schütteln des 
Kopfes fteige ich ang Land. 





Epilog. 
Auf Milliarden haben einzelne Sournaliften den Schaden: ge- 
ſchätzt, den die Kataftrophe vom 28. Dezember 1908 verurfachte. Der 


314 Erdbeben (Der Gejamtjchaden) 


Wert der zerjtörten Häufer wird auf 165 Millionen: angegeben. 
Der Nationalölonom Profeffor BPantaleoni beziffert den 
Gejamtjchaden auf eine Milliarde. Andrer Meinung iſt der Ab- 
geordnete Nitti, Profeflor der Nationalölonomie in Neapel. 
Er ſpricht in einem Interview von Übertreibungen der Sournaliften. 
Wie könne man von Milliarden fprechen, wenn das Gefamteigen- 
tum in den drei kalabriſchen Provinzen nur 1200 Millionen betrage. 
Nah dem Nationaldermögen Staliend, das auf 65 Milliarden 
berechnet werde, beziffere ich der Reichtum der Provinz Meffina 
auf 864 Millionen, der der Provinz Reggio auf 455 Millionen, 
alles einbegriffen: Land, Häufer, bemwegliches Kapital. Auch müfje 
man unterjcheiden zwiſchen dem Verluſt, den die Gejanttheit und 
dem, den der einzelne erleidet. „Entwertet ijt vor allem das Land; 
denn die Panik hat es geichädigt. Den Weri der Häujer kann man 
in Meſſina auf 80 Millionen, in Reggio auf 20 Millionen jchäten. 
Im Erdbebengebiet Meſſinas beträgt er 60, in dem von Reggio 50, 
alles zufammen 210 Millionen. Was den Beſitz an Rente betrifft, 
jo verliert der Staat nichts, auch die Überlebenden nicht, und mo 
feine Erben find, wird die betreffende Summe dem Fonds 
für die Waiſen überjchrieben. Verloren, gänzlich verloren ſind aber: 
Hausgerät, Möbel, Kunftgegenjtände, Jumelen. Verloren für die 
Eigentümer: die Häufer. Doch wie joll man den Wert dieſes Ver⸗ 
luſtes ſchätzen? Groß find die Verlufte der Verficherungsgefellichaften. 
Zum Glüd für Italien find meift nur ausländiſche betroffen. 
Immens iſt der Tommerzielle Schaden, unberechenbar der Wert 
der zu Grunde gegangenen Menjchenleben. Schlimm daran find 
die Angehörigen der freien Berufe, die Ärzte, Apotheler, Advokaten, 
Notare der Verwüſtungszone und deren ftudierenden Söhne... .” 
Über ven Wiederaufbau Meffina’sund Reggio’s 
äußert fi Nitti zuderfichtlich: „Dafür jorgt Schon der Handel von 
Apfellinen, Olivenöl, Zitronen und Mandeln, der in den beiden 
Häfen die natürlichen Ausfuhrpläge hat, dafür jorgt, was Kalabrien 


Meſſina: Die Auferjtehung 315 





anbetrifft, der enorme Reichtum an Wafferkraft, der im Silogebirge, 
im Monte San Bruno, im Afpromonte aufgefpeichert iſt. Wird 


die Malaria befämpft, werden die Berge aufgeforjtet, werben 


dur) Talfperren die Gewäſſer der Gebirge reguliert, werden erit 


N 


S i 


die norditalienischen und ausländifhen Jnduftriellen. 


Kalabrien entdeden, Jo geht Diejes einer 
großen Zukunft entgegen.” 

Ein anderes Bild. Vier Wochen nach dem Unglüdstag beginnt 
jchon die Auferftehbung Meſſinas. Ag. Micheli, der 
in eigenem Intereſſe für feine Wähler forgt, um die Rückkehr zum 
normalen Leben vorzubereiten, hat in einer heil gebliebenen Heinen 
Druderei eine Zeitung herausgegeben. Sie hat auch Anzeigen. 
In einer von diejen zeigt ein Schufter an, daß er im Viertel San 
Martino einen Baradenladen eröffnet habe, und lobt jeine Ware 
ala konkurrenzlos. Welche Ironie; denn alle Schujterläden Meſ— 
ſinas liegen ja im Schutt! Ein Barbier verkündet, daß er in einer 
Barade desfelben Viertel3 wieder einen Salon aufgetan habe, und 
fügt Hinzu: „Sch Tade meine ganze verehrliche frühere (!) Kund- 
Ichaft zum Beſuche ein.” Zwei Gebrüder Calalvo ſchreiben: 
„Zäglich durchfahren wir die Stadt und bieten zu SPreijen, die 
jede Konkurrenz fchlagen, Fenchel, Rüben, Blumenkohl, Rettich 
und andere3 Gemüfe an. Jeden Morgen um acht Uhr aber halten 
wir, zum Dienft des Publikums bereit, auf Piazza San Martino.“ 
Zwei andere Brüder melden, daß fie, „um die Lage der Bevölferung 
zu verbefjern”, einen Milchverfauf einrichten, indem fie ihre zahl- 
lofen Biegenherden durch die Stadt treiben. „Jeden Morgen um 
jieben finden fich die Ziegen auf Piazza San Martino.” Unter 
diejer Anzeige kündet ein Wirt, daß er in einer Barade der Piazza 
Eollegio einen Weinhandel eröffnete, dem eine Küche angefügt 
fei, mo man nach vorheriger Anmeldung fich fättigen könne; freilich 
gebe es nur Würfte, Knoblauch), Stodfilch und Kartoffeln. „Außer- 
dem biete ic) jeden Morgen Kaffee für eine ganze Stadt an.” Weitere 


Re 





316 Meifina: Die Kind-Stabdt 





Anzeigen teilen die Eröffnung einer Bäderei, einer Apotheke und 
eines Seitungsfiosß an, „in dem alle Zeitungen zu haben find, 
vorausgeſetzt, daß ſie ankommen“. Weiter wird der Betrieb einer 
Mepgerei und eines öffentlihen Wafchhaufes mitgeteilt. Der 
Evpezialkorreſpondent der „Tribuna” begleitet diefe Anzeigen mit 
folgenden Bemerkungen: „Sch habe fie gelefen, wieder gelejen, 
abgejchrieben und betrachte fie noch immer. Warum? Mir ſcheint's, 
als ob ich das Auffpringen eines Samenkorns im Erdreich jehe. 
Dieje Seite voll Anzeigen ftammelt ihre Worte wie ein Kind, da3 
die eriten Silben zu ſprechen verjucht. Die Zeitung ift von einem 
Abgeoröneten, die Anzeigen find von Leuten gefchrieben, die auch 
borher Anzeigen zu verfallen mußten, und doch hat das Gefchriebene 
die Spuren der Unerfahrenheit, die Ungelenfigkeit der erjten Kinder- 
jchritte, alle Symptome der Naivität. Abgeordneter und Inſerenten 
jind nämlih nur die Exponenten de3 neu erftehenden Leben. 
Mejfina ift ja jegteine Kind-Gtadt, die den 
Tod vergefjen Hatundzu neuem Lebenheran- 
wachſen will.” 


® 
Oſteria: 
Kulturgeſchichtlicher Führer 


: durch Italiens Schenken: 
von Verona bis Capri von 


Hans Barth⸗Rom 


VBroſchiert M. 2.50, gebunden M. 3.50. 


oO © 
in köſtliches Sädlein wird unß ſoeben beicyert, ein Sud der offnung 
und Grinnerung, ein Zroft für an Die in Diefen launenvollen 330 8s 

tagen die Sehnſucht nah dem Güden zwidt, ohne Daß fte ihr fol ya 

fönnen! Schon vor Sjahren bat in Rom, ein edler Ri 
von der Feder, ein großer Kenner ber ewigen Stadt und der „umliegenden 

Ortichaften” und ein wohlgeübter ee in allen — Me Ben 

Kneipens und bachiihen Schwärmens „Stal 

a — * — dem — — * 

en — Labyrinth D 

lobten Lande den 2 Weg wies. — jr Be fundige We 

aller d Batlaen Eedien fin Wert, das Otto einftens „eine 

nannt, Es eradezu „monumentaler Meile" neuausfta ffiert, ei 

—— — et, ber. Gegenwart Beer | unb bei Julius Soffmann 

wie Glodenton Elingenden Site „Ofteria“, kul⸗ 
—— * 33 durch Italiens Schenken von Verona bis Gapri“ r 
inen laflen. 

* unſchätzbares Brevier für jeden, Der aus dem geſtaltloſen Deutfchland 

über apa — von ae gras sen Kr 
taumelnden, gro Der ah Dam 

Pſalmiſten Argos — — en Vater — 


Verlag Julius Hoffmann z — 








Guglielmo Ferrero 


Größe und 
Miedergang 


: Roms: 


Erſter Band... Wie Rom Weltreich wurde 
Zweiter Band . » » » .Julius Cäſar 
Dritter Band . Das Ende de alten Freiſtaats 
Vierter Band. . . . Antonius und Rleopatra 
Fünfter Band. Der neue Freiltaat des Auguftus 
Sechſter Band. . Das Weltreih unter Auguftus 
Preis eines jeden Bandes: Brofchiert Ma—, 

vornehm gebunden M. 5.— 


Yir Bände des Werked liegen fertig vor, 


Band 3 und 4 enthalten die von Mommfen nicht 
behanbelte Epoche ; Band 5 und 6 werben im Frühjahr 1909 
zur Ausgabe gelangen... Das Werk kann durch jede Buch» 
Banblung, die auch Vormerfungen auf bie [päter erjchei- 
nenden Bänbe entgegennimmt, bezogen werden. Iſt eine 
Buchhandlung nicht am Plabe, fo wende man fich gefälligit 

Diret an den | 



















Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart 








Slieie neue Se ichte Roms, die bei ihrem Gricheinen in it 
rankreich England ungeheures Aufſehen erregt —— ſt nun 
auch in De tland = der aufridtigen Bewunderung, d 
artiges Wert einflö er muß, aufgenommen worden. Bet der Settüre 
pet man dad © l, im Barterre eined Theaters zu figen — fagt 
r — der Frankfurter Zeitung, und — wie bei einem 
echten Kunſtwerk ſteigert ſich die Spannung; der Leſer wird bingerifien 
durch Die Macht der Tatſachen und die Form ihrer Darftellung, und 
doch verliert er nie das Empfinden, Daß die ernfthafte FZoricherarbeit 
eines gründlichen Hiſtorikers vorliegt. 


Die nachſtehend abgedrudten kritiſchen Urteile Der angefeheniten Breiie 
ie Eden ein treueß Bild des Gindruds, den das Werk auf 
en Leier ma 


Ferrero aa in feiner Geſchichte Noms ein Werk geichaffen, das nicht 
nur durch Die Originalität und GSelbftändigfeit Der auffellung vielfadhe 
Anregung gewährt, fondern aud) wegen Der ne eit der Forſchung 
Anerlennung verdient. Vor allem aber up man fi) Durch feine Dar- 
ftelung unausgeſetzt auf bie großen geſchichtsphiloſophiſchen Probleme 
— beſonders auf das größte und bedeutungsvollſte von allen: 

as Verhältnis des Sean eifte8 zum einzelnen, Der Kollektivleiſtung 
der Wafle und der Ge — *— ft zur ſchöpferiſchen rg des Indie 


viduums. offiihe Zeitung 


Alle die halbverftandenen und — Reminiszenzen aus der Gym⸗ 
naſiaſtenzeit gewinnen beim Le des Werkes wieder Leben, und mit 


unſern Augen, mit unſern jegigen politiſchen Begriffen erfa : und ge 
modelt, verihwindet Die früber fo oft empfundene Schwerf —— und 
Lebioſigkei des Waterials, und die gewaltige — Roms ewinnt 
Durch Diele guekes: glänzende Darftelung ein ganz perfönliches Leben. 


Sicherlich ift Die eines der beiten Bücher — die romiſche Geſchichte, 
dem man nur weite Verbreitung wünſchen kann. 


Leipziger Veueſte Nachrichten 
eg feine vom Gelehrtendüntel — ————— journaliſtiſch zugreifende 
ommt eine — * Friſche in die Darſtellung. Man ſpürt 
keinen Aktenſtaub. Rom ſcheint auf einmal wirklich aus den Trümmern 
neu erwedt zu fein und im rofigen Licht des Augenblid3 zu ne 
u den eg enditen Vorzügen Diefer ee oeisiethreibung ge ört Die 
Kae Nee Ausdrud neben dem Freilicht Des Wortes, Die an 
— bewahren zu koͤnnen. ber Die Grenzen unferer 
hinaus wird Die groß augelegle Lebensarbeit des Zuriner Siftorifers 
neben der Sat Mommfend mit Ehren beftehen müflen. 


Berliner Tageblatt 


Die Darftellun ift fo ſchön, daß einige Diefer Charakterbilder in bie 
Deutichen Lefebücher aufgenommen zu werben verdienten. Grenzboten 


Da , ge errero ein moberner Menſch ift und — die er Roms 
ni — auf das Wollen und Vollb an etlicher Helden bes 
et, ſondern fie aus wirtf 105 felneb Werte, en Urſachen erflärt, 


Peint uns ein bejonderer Vorzug ſe 
eutſche Tageszeitung 


r unmittelbar zu Dem ——* feinen Bann t 

und bed je * — — — * d — as * 
u er Enthu 

Neflerion, Die zwedmäßige, wahrhaft künſtleriſche Glieberung des 

Stoffes, die (lichte Schönheit der Sprache, die uns überall entgegen⸗ 


treten. Staatsanzeiger für Württem erg: 
i Roms hat alles Zeug da um standard work 3u 
en ns Ste h Zeug dazu, 3 Fo Dode 





LORENZO BERNINI 


VON FRIEDRICH POLLACK 


K“ Künstler ist je so beschimpft und verlästert worden 
wie Lorenzo Bernini, der Dombaumeister von St. Peter 
in Rom. Sein Schicksal ist in dieser Beziehung charak- 
teristisch für die Beurteilung, der bemerkenswerte Menschen 
und ihre Taten in verschiedenen Epochen unterliegen. 
Bernini wurde von seinen Zeitgenossen auf den Händen 
getragen, von seinen Mitstrebenden bewundert und gewiss 
auch beneidet. Seine Werke sprechen auch nach seinem 
Tode noch eine deutliche Sprache, die genügt hätte, seine 
künstlerische Bedeutung für alle Zeiten festzulegen. Allein 
eine übergrosse Zahl von Schülern und Nachahmern war 
allzu eifrig am Werke, sich in der Geste des Meisters zu 
überbieten, anstatt eigne Bahnen zu gehen; und wie 
schliesslich auch die schönste Melodie banal klingt, wenn 
jeder Gassenjunge sie pfeift, so mussten die vorlauten 
Nachahmer ihr Vorbild im Urteil der Welt ungünstig 
beeinflussen. Der Verfasser hält es deshalb an der Zeit, 
die Anregung zu geben zu einer gerechteren Beurteilung 
Berninis, und sein Buch soll in erster Linie allen denen 
ein Führer sein, die des Meisters Werke, ohne die. Rom 
nicht mehr zu denken ist, studieren wollen. - - 

Das Buch ist mit. 19 Vollbildern geschmückt, alles wohl- 
gelungene Reproduktionen nach den Hauptwerken und 
ein sehr (charakteristisches Porträt des Meisters. 


PPREIS 4 MARK: : 


VERLAG JULIUS HOFFMANN STUTTGART 




























2 





Rätſel Des : 
Seelenleh eng 


Camille lammarion 


Broſchiert 5 Markt, gebunden 6 Marl 






Hs vorliegende Wert verſucht eine wiflenfchaftliche 
Klarlegung jener Gegenftände, die für gewöhnlich 
als unwiſſenſchaftlich, phantaſtiſch oder mehr oder weniger 
imaginär gelten. Der Verfaſſer will zeigen, daß ſie als 
Tatſachen exiſtieren, und Die wiſſenſchaftliche Beobachtungs⸗ 
methode im Feſtſtellen und Zergliedern auch jenen Phano» 
menen gegenüber anwenden, die bis heute allgemein ins 
Land des Märchend, des Wunderbaren und Abernatür- 
lichen verwiejen werden. Er will beweifen, Daß fie, pon 
noch unbefannten Kräften hervorgerufen, einer unfichtbaren, 
natürlihen Welt angehören, völlig verichteden von jener, 
Die unjere Sinne wahrnehmen. Es tft — unerhört, 
wie ſelten wirklich klare Kritik angewandt wird, wenn es 
ſich um die Prüfung von Gebieten, wie Telepaihie, ſeeliſche 
Wanifeſtationen, „Geiſter“⸗Erſcheinungen, Hellſehen, Men⸗ 
talſuggeſtionen, Wahnträume, Magnetismus, HHpnotid- 
mus, Spiritismus uſw. handelt. Welcher Wuſt unge» 
reimter Dummheiten wird einem da als Wahrheit aufge⸗ 
tiſcht! Iſt nun eine wiſſenſchaftliche Beobachtungsmethode 
auf Forſchungen ſolcher Art überhaupt anwendbar? Das 
kann erſt durch dieſe Verſuche ſelbſt richtig abgeſchätzt 
werden. Schon ſeit 40 Jahren beſchäftigt ſich der als 
Aſtronom weltbekannte Verfaſſer in ſeinen Mußeſtunden 
mit dieſen Fragen, und nur auf Grund einer ſolchen 
langen perfönlichen Erfahrung war es ihm möglich, dieſes 
Wert herauszugeben. 


Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart 





Unbekannte 
Vaturkräfte 


Camille Flammarion 


Direktor der Sternwarte Juviſy⸗Paris 





Mit 10 Vollbildern 







Broſchiert M. 5.—, gebunden M. 6.— 


no un 


Dieſes Buch des berühmten Aſtronomen gehört mit dem 
vorliegenden ‚Rätſel des Seelenlebens“ eng zuſam⸗ 
men. Es handelt von den Erſcheinungen, Die man gewöhns 
ih unter der Bezeichnung Gpiritismus zufammenfaßt. 
Geit mehr als vierzig Jahren tft Zlammarion beitrebt, den 
Spiritismus zu erforfchen, in der Überzeugung, daß es ſich 
bier um ganz eigenartige unerfannte Naturfrafte hanbelt. 
Er bat mit fast allen befannten Medien erperimentiert und 
ſpricht bier in der Hauptfache von feinen in jüngfter Zeit 
— Verſuchen mit dem Medium Euſapia Paladino, 
ie zu ganz überraſchenden und entſcheidenden Refultaten 
geführt Haben. Bemerkenswert find dabei Die Berichte eini- 
er Perjönlichkeiten, die an den Gitungen teilgenommen 
baben, wie Adolphe Brifion, Jules Claretie, VBictorien Sar⸗ 
ou. Zerner jchildert Flammarion die Unterfuchungen Ce⸗ 
are Lombroſos, Die Erperimente des Grafen Gafparin, Prof. 
urys, Sir William Crookes und anderer. Daß man dent 
Spiritismug noch immer ſehr mißtrauifch gegenüberfteht, 
mag in der Hauptſache wohl daran liegen, daß unter diejer 
abne jehr viel Unfug getrieben wirb. Es ift Das befondere 
erdienft Flammariong, viele Betrügereien, Wiyftifilationen 
und Taſchenſpielerkünſte aufgededt zu haben. Auf Grund 
Diefer Studien tft e8 möglich, dem Problem näher zu treten 
und Die foftemat. geordneten Grfenntnifie weiter zu entwideln. 


Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart 


nn nn nn — —— a ann nn 












Im Jahre Des 
Kometen 


Phantaſtiſcher Roman von 
H. G. Wells 


Broſchiert 3 Mark, gebunden 4 Mark 
— 


er ein wahres und lebhaftes Bild des menſchlichen Kulturwertes 
unſerer bisherigen „Bivilifation" haben will, Der leſe dieſes geiſt, 
reiche und feſſelnde Buch. Wells iſt eine merkwürdige Erſcheinung unter 


den Schriftſtellern der Gegenwart. Der Hauptzug ſeiner Werke iſt ein 
ſchwungvoller Eifer für eine menſchlichere, ſchönere, glücklichere Zukunft, 
ein ſchonungsloſer Kampf gegen alle Falſchheit und Häßlichkeit unſerer 
gegenwärtigen Kulturverhältniſſe. In dem vorliegenden Werke zeigt er 
uns die Welt am Vorabend Der großen, Wandlung“, poll von unfinnigen 
Gegenfäten, giftigen Leidenjchaften, Moraft, unihönem Tand, Raud), 
Hitze, Staub und Lärm. Ein von Natur guter junger Wenſch artet in 
dem Milieu Diefer Unkultur zum mordgierigen Naubtier aus. Ein Welt- 
krieg fängt an, feine Greuel zu enfefleln. Da kommt die „große Wandlung“ 
über die Menſchen. Gin Komet, Der in ben Bereich ber irdifchen Atmo⸗ 
fphäre eindringt, wandelt Die Beichaffenheit dberfelben um, und es wan⸗ 
dein fih auch Die Herzen und der Sinn Der Menſchen um: ein ſtrahlender 
Morgen des Friedens erhebt fi. Gine einfache, aber fpannende Liebes- 
geihichte bildet Den Faden für Die Greigniffe. Viele Szenen des Buches 
find in eine hervorragend poetifche Stimmung geftellt unb einige Geſtal⸗ 
ten, wie beionders der beitändig nach dem Kometen forfchende Parload, 
von großer Priginalität, Wer in dieſem Buche die Belanntichaft von 
9. ©. Wels macht, der hört einen der merkwürdigften und bedeutenbften 
Vertreter der gegenwärtigen Literatur und wird neugierig fein, von ihm 
noch mehr zu lejen. 


Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart 





en VON BE UNEEIEEENE 
Sieg der Freude 


EINE ABSTHETIK DES PRAKTISCHEN LEBENS 






























GEORG JAKOB WOLF in den MÜNCH. NEUESTEN NACHRICHTEN: 





...„All diesen Suchenden und Zweifelnden, aber auch allen, 
die sich zu ernster, selbständiger Lebensauffassung bereits 
durchgerungen haben, wird ein ernstes, starkes Buch will- 
kommen sein, das Alexander v. Gleichen-Russwurm als das 
Resultat eines Lebens, das dem Dienste der Schönheit geweiht 
ist, uns auf den Tisch legt. Der glänzende Essayist, der uns 
mit feinmaschigen goldenen Netzen schon manche Perle der 
Lebensweisheit aus dem unruhigen Ozean unausgesprochener 
Philosophie gefischt, legt uns hier dar, wie man das praktische 
Leben untertauchen kann im Bade der Schönheit, wie eine 
Pflicht zur Schönheit besteht, und wie der, welcher diese Pflicht 
anerkennt und befolgt, sein Leben durch den Sieg der Freude 
vergoldet. Er entwickelt vor uns einen ästhetischen Lebens- 
plan, er wünscht eine dsthetische Erziehung im Sinne 
Shaftesburys und Ruskins heraufzuführen und glaubt, auch 
in unserer Zeit der „sozialen Frage“ müsse es noch eine Gasse 
für die Schönheit geben. „Die soziale Frage dringt so mächtig 
in den Alltag, dass die Altruisten leichten Herzens im Sinne 
Tolstois behaupten, für Schönheit und Kunst sei weder Zeit 
noch Raum auf der überfüllten Erde, und Umstürzler aller 
Art, die nur einzureissen vermögen, drängen den Aesthäten 
zur Seite, der aufbauen will, aber seine Stimme ist stark und 
tönt so wohltuend in das Hämmern, Rollen und Pfeifen des 
täglichen Treibens, dass immer mehr Leute stehen bleiben, 
um zuzuhören, nachdem einige zu lauschen begannen.“ 


PREIS BROSCHIERT MARK 6.—, GEBUNDEN MARK 7.50 


VERLAG JULIUS HOFFMANN STUTTGART 


DUE DATE 


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Pr} 


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0038790939