INN
10022464
THE LIBRARIES
COLUMBIA UNIVERSITY
GENERAL LIBRARY
OTTO HARRASSOW: 5;
BUCHHANDLUNG |
Fa Lande des Erdbebens
Dom Vesuv zum Aetna
Land und Leute in Sizilien und Calabrien
Die vulkaniſchen Rataftrophen von 1905—1908
Zerftörung von Meſſina und Neggio
von
Dr. Albert Zacher
Zulius Hoffmann Verlag in Stuttgart
MCMIX
Published the Ist of March 1909
Privilege of copyright in the
United States reserved under
the Act approved March 34 1905
by Julius Hoffmann - Stuttgart
Monotypesatz und Druck der Chr. Belserschen Bachdruckerei, Stuttgart
}: 68:78 a
Sana
Vorwort.
OD ieſes Buch iſt eine Sammlung und Erweiterung meiner in
den letten Jahren an Ort und Stelle geſchriebenen Aufläte
“ber die vulfanifchen KRataftrophen im Erdbebengebiet Süditaliens.
Schon feit langem legte mir ein großer Teil der deutichen „Ge-
meinde der Stalienfreunde” den Gedanten nahe, meine Eindrüde,
die ich ald Radfahrer, Wagenbummiler, Fußwanderer, Automobilift
jeit 1893 in Stalien gewonnen, m Buchform zu jammeln. Und
jegt, mo die Augen der ganzen Welt auf Meſſina und Neggio ge-
richtet find, bat man mich, zunächſt die Erdbebenzone zu behandeln,
zumal ich auch Gelegenheit gehabt hätte, im Jahre 1906 einige
Schilderungen über die Bejuveruption zu liefern, die vielfach gefielen.
Auch wies man darauf hin, daß meine Auffaffung von Land
und Leuten als die eines Mannes, den ftändiger Aufenthalt in feiner
zweiten Heimat Rom, den auch feine Berufspflicht zum Kenner
gemacht hätten, wertvoller wäre, als die eines noch fo gelehrten
Paflanterı. |
Die letzte ungeheuerliche Kataftrophe, die mich wiederum nach
Sizilien, wiederum nach Kalabrien führte, gab mir von neuem
Gelegenheit, Augenblidsbilder und Bleiftiftifizzen zu jchaffen, die
wert fein dürften, weiteren reifen zugänglich gemacht zu werden.
Ich müßte nun eigentlich noch eine Rechtfertigung jchreiben,
um die Anordnung meines Stoffes zu begründen; denn ich geftehe
offen, dag vorliegende Buch erfcheint auf den erften Blick als ein
funterbuntes Mofait, doch brachte die „Frankfurter Zeitung” am
15. Januar dieſes jahres einen zujammenfaflenden Artikel über
m
IV Vorwort
den legten Erobebenichreden, der beſſer, als ich es vermöchte, Die
Notwendigkeit darlegt, warum im folgenden
jo vielvon Mafia, Kamorra, Brigantaggioufm,,
ja auh vom Nafismus die Rede ift.
Darin heißt e3 unter anderem:
Die nächte Folge der Erdbeben-Kataftrophe in
Süditalien war unter allen Betroffenen eine grenzenlofe Verwirrung.
Das war natürlich) und erflärlih. Wir Kulturmenfchen können uns
ſchwer vorftellen, wie e3 ift, wenn alle gefjellichaftlichen und ftant-
lihen Beziehungen plöglich aufhören und alle Verbindungen mit
einem Schlage durchichnitten find: feine Wohnung, feine Nahrung,
feine Behörden, Teine Polizei, fein Militär, feine Eifenbahn, Tein
Telegraph, fein Telephon, aljo auch fein Mittel, die Not fofort nach
außen zu melden; dazu Feine Möglichkeit, die Toten zu begraben,
die Verlegten zu pflegen, die noch lebenden Verſchütteten aufzu-
juchen, der Meeresflut, dem Brand, dem Regen, der Kälte zu
wehren. Alles ftand ftill; fein Organ der Gemeinfchaft fungierte
mehr, und die am eriten helfend einzugreifen berufen geweſen wären,
Soldaten und Polizisten lagen felbft tot oder Hilflog unter den Trüm-
mern. Bei emem ſolchen Zuftand ift viel begreiflich, aber freilich
nicht alles.
Am Abend des 28. Dezember 1908, zwölf Stunden nad) dem
Hauptitoße, war die Kataftrophe inihren Hauptzügen ſowohl in Neapel
wie in Rom befannt. Man mußte, da Meſſina und Reggio zerjtört
waren. Neapel ijt das Zentrum der Flotte, Rom das Zentrum
der Militärorganifation. Warum hat man nicht fofort die gejamte
Militär- und Marinemacht mit allen ihren Werkzeugen und Vorräten
aufgeboten und nad) den Unglüdsjtätten geworfen? Die Ent-
Ihuldigung, die das Publikum hatte, das die ungeheuerlichen Mel-
dungen im Anfang gar nicht glauben wollte, kann für die Behörden
nicht gelten; fie fannten den Umfang des Unglüds und mußten
fofort die umfaſſendſten Maßregeln ergreifen.
Vorwort V
Man hat das Erdbeben und feine Verwüſtungen mit einem
unglüdlichen Krieg verglichen. Der Vergleich geht tiefer ala nur auf
die Verlufte. Erdbeben und Vullan⸗Ausbrüche find für Stalien
Dinge, auf die e3 fich gerade jo vorbereiten muß, wie auf einen großen
Krieg; fie find die Feinde, gegen die Italien mindeftens gerade fo
gerüftet fein muß, mie gegen irgend einen auswärtigen Feind. Das
hat man bisher, troß aller Mahnungen und Warnungen, verjäumt;
es muß jetzt nachgeholt werden.
Die italienifhe Regierung kann auf mil
dernde Umftände Anſpruch madhen Das Men-
Ihenmaterial, mit dem fie zu arbeiten hat,
ift nit das befte. Namentlich nicht im Süden. Die Be-
völferung von Kalabrien und Sizilien ift ein ethnifches Gemiſch,
in dem feit dreitaufend Jahren alle möglichen Völker, Phönizier,
Karthager, Griechen, Araber, Römer, Goten, Yongobarden, Nor-
mannen, Albanefen, Franzojen und Spanier einen Blutbeitrag
abgelegt und einen Bodenſatz hinterlaſſen haben. Dad Grund-
element ift afrikaniſch und nach Afrika meift auch der Charafter.
Diefer Eharalter ift ungebändigter Individualismus und Egoismus.
Eine vielfundertjährige Mißregierung weltlicher und geifllicher
Herrſcher Hat daran natürlich nicht? gebeifert, jondern eher ver
ſchlechtert. Das Gefühl der Solidarität ift gering und höchſtens,
wie Mafia und Kamorra beweilen, in der Richtung zum Böſen
entwidelt. Die Religion ift diefelbe wie vor zweitaufend Jahren;
damals wurden die Lolalgötter verehrt, heute find es die Lofal-
heiligen, denen in derjelben Weife der ganze Kultus dient. Die
Kirchen ftroten von Gold und Ylitter, die Bevöllerung von Aber-
glauben und Unbildung. Die fünfzig Jahre piemontefiicher Herr-
ſchaft haben nicht viel ändern können; die Zeit war zu kurz, um ein
Übel, das fo tief fißt, gründlich zu befeitigen. Auch haben die Nord⸗
italiener Mühe genug, fich jelber des Eindringens jüditalienijcher
Sitten und Unfitten zu erwehren. Die Betrachtung diejes Ichlechten
VI Vorwort
Charakters der ſüdlichen Bevölkerung hat ſchon manchem aufrichtigen
Freunde Italiens die Freude an dem ſchönen Lande vergällt. Glad⸗
ſtone hat einmal geſagt: „Italien wäre ein herrliches Land, wenn es
nicht von Italienern bewohnt wäre!“ Damit hat er insbeſondere
die Bevölkerung des ehemaligen Königreichs Neapel im Auge ge-
Habt. . Selbft Staliener haben im Unmut über die Zuftände im
Süden ich zu ungewöhnlich fcharfen Worten veranlaßt gefehen.
Der Volkswirt und Sozialpolitifer Niceforo
hat einmal gefagt: „Es könnte Stalien fein
größeres Glück widerfahren, al3 wenn eine
Tage3 das ganze Land füdblih von Rom mit.
ſamt Sizilien in das Mittelmeer verfinten
würde.” Wer derlei Hußerungen für übertrieben hält, der über-
denke, was er da und dort von der Haltung eines Teils der Talabrefi-
ihen und fizilianifhen Bevölferung während der lebten Tage
gelejen hat: daß die Leute, die hätten retten Tönnen, die Hände in
den Schoß legten und müßig zufahen, wie die Fremden retteten;
daß die Bootsführer ftreiften und dadurch die Verbringung von
Lebensmitteln an das Land unmöglich machten; daß in den Städten
und Ortfchaften, die vom Erdbeben verjchont blieben, mit glänzenden
Prozeſſionen Freudenfefte für glüdliche Errettung gefeiert wurden,
während zehn Kilometer davon dag graufigfte Elend herrichte, daß
fofort ein Abſchaum der Bevölkerung auftauchte, der plünderte,
taubte und den Leichen die Finger famt den goldenen Ringen
abichnitt, und daß man dieſes Gejindel3 nur dadurch Herr werben
fonnte, daß man das Standrecht proflamierte und Majjen-Er-
ihiegungen vornahm; daß die ungefährdete Bevölkerung aus dem
Innern mit Wagen herbeilam, um Beute zu machen und an dem
Unglüd der Landsleute fich zu bereichern, endlich daß unter den
geretteten Städten fofort ein erbitterter Kampf um die Erbichaft
der untergegangenen Städte ausgebrochen ift. Es ift ein unendlich
traurige Bild, das fich ‚da entfchleiert hat. Die Kataftrophe hat
Vorwort VII
nicht bloß ungeheuren Schaden geſtiftet, ſie hat auch alle ſozialen
Bande gelöſt und die beſtialiſchen Rudimente der Menſchennatur
wieder einmal in voller Nacktheit ans Licht gebracht. Selbſtver⸗
ſtändlich darf und ſoll nicht über die ganze Bevölkerung der Stab
gebrochen werden; einzelne rührende Handlungen der Uneigen-
nügigfeit und de3 Opfermuts, die aus den Freifen der unteren
Bollsflaffen berichtet werden, liefern den Beweis, daß auch in
Sizilien der Kern der Bepölferung ein guter ift; er muß nur forg-
fältig herausentmwidelt und gepflegt werden. Darum foll auch nicht
die Bevölkerung im ganzen büßen, was ein Heiner Teil oder einzelne
verbrochen haben, und die unſchuldigen Unglüdlichen follen nicht
entgelten, was die Schurken unter ihren Landsleuten fich zu Schulden
fommen ließen. Aber hier erwächſt der italienifchen Regierung eine
Aufgabe, die beinahe noch größer ift, al3 die, das Land vor Erdbeben
zu fchüten, nämlich die Rettung des Volles aus Roheit und fittlicher
Berwahrlofung. Im richtiger Erkenntnis der Sachlage hat bereits
Profeffor Portis in der „Tribuna” gejagt, was da unten vor allem
nottue, fei eine gute olksichule, welche die dämmernden Geijter
wachrüttle.”
Rom, im Februar 1909. Dr. Albert Zader.
Snhalts-erzeichnis.
Seite
Borwort. . . BE ee ha ar ae SE
Sizilien (land und Zeute) 1
Der Brigantaggio - -. - > 2 2 2 nr nn. 16
Die Mofa . . » ee A a 21
Das Erbbeben in Kalabrien 1906.
Bon Neapel nad Reggio Ealabria . . I a De ie 28
Die Kataftrophe vom 8. ai 105. 2... 33
Epilog . . . -» : — — 89
Die Veſuveruption 1906.
Land und Leute. 91
Kamorra . . u 92
Die Eruption des Veſuvs im April 1906 20.00. .107
Sn der Alche des Veſuvs . . ne. 118
Eine Frühjahrsreife in Sizilien.
Bon Meifina nah Palermo . . .». . 2137
Sn ben maboniihen Bergen - - - : 2 2 02 .....149
Der Prozeß Nafi . a ee ei. 69
Trapani, bie Baterftadt Rafs de ED ans ie > ID
Der Triumph Nafis . . re AI
Das Erdbeben in Kalabrien 1907.
Der Stromboli . . 2202000. . 184
Das Erdbeben vom 23. Dftober 107 22.222020 188
Das Elend im kalabriſchen Erdbebengebit . . . . 1%
Der „Heros Kalabriend”, Mufolino . . . . . .. 19
Eine Erdbebenenquäte . . . re 5 198
Das Erdbeben vom 28. Degember 1908 ee ol
Bon Rom nad Palermo . . ’ 222.206
Das tote Meifina . . Ge an 6066
Das tote Reggio Galabria . ee ec ee LO
Die Überlebenden über Meifina . 2 = 2222.26
Wie ih nit nah Meifina lm . . . . 2 20. 281
Auf der Rüdfahrt von Catania -. -. » 2 2 20. 244
Der wiſſenſchaftliche Beriht . - > 2 2 0 202 .. 248
Politiſche Stimmungsbilter -. - . 2» 2 2600
Bon Palermo nad Neapel - -. » .» 2 2 02 en. 254
Meitere Hindernifie . Be ee. >20
Auf der Fahrt nad) Meffina — ee BIO
Ein Gang durch das zerftörte meffina ——27
Bon Meſſina nach Neapel... u a ei er 282
An der Unglüdstüfte Kalabriens . - 2202... 286
Bon Bagnara nad Billa San Giovanni . > +};
Schluß.
Sn dem zerſtörten Reggio Calabra . . . . . . 302
EBIEDG ou er au ee en re A ee
Namen
A.
Acireale 2835, 241, 243,
Aetna, 139, 247, 249.
Alfani, Bater 38, 189.
Alpromonte 51, 196, 305.
B.
Bagnara 32, 272, 287, 292 ff.
Barzini 54.
Battipaglia 29.
Belcrebi 262, 267.
Boscotrecafe 109, 111.
Bove Marino 191.
€.
Ealtagirone 6.
Ealtanifetta 163, 164.
Ganitello 272, 299.
Carondas 213.
Baftrogiovanni 164, 222.
Catania 228 ff, 238, 251.
Catanzaro 31, 41, 44.
Catona 82, 240.
Grataia 239.
Gefalü 140.
Eonnaught, Herzog 304.
Eofenza 87.
Erifpi, Francesko 146, 158.
D.
Dino, iſola di 31, 286.
Empedokles 157, 162.
Erbbebenenquäte 197.
und Sachregiiter.
F.
Fazzari, Achille 82, 87, 289.
Felice De, Giuffrida 24, 201, 218, 251.
Ferruzzano 189.
G.
Gallico 303.
Garibaldi 51, 139, 146, 215, 289.
Gelon 150.
Gerace 188.
Gioja Tauro 291.
Giolitti 263, 268.
Girgenti 157, ff.
Goethe 141, 203. -
8.
Herculanum 29, 108.
Himera 150.
8.
Kamorra 92 ff.
Krupp, Affaire 174.
2.
Zombrofo 11, 88.
Rottofpiel 91.
Mafia 21, 152, 246.
Malagobi 54.
Martirana 47.
Mazza, General 268, 285.
Meſſina 38, 137, 200 ff, 209 ff, 278 ff.,
814 ff. |
Milazzo 189. |
Namen und Sachregiſter.
XI
Monreale 147.
Monteleone 31, 50 ff, 69, 289.
Murat 81.
Mufolino 51, 190, 194 ff.
Mythologie des Erdbeben? 239.
Nafi 168, 169 ff., 199, 218, 246.
Neapel 14, 90 ff., 261.
Nicaftro 41, 47.
Nicotera 31, 290.
Rocera dei Pagani 29.
Notarbartolo 21, 153.
D.
Omertä 4, 17, 169.
Oppibo 38, 188.
Ottajano 115, 131.
».
Paeſtum 29, 36.
Pagani 29.
Balermo 14, 141 ff., 215, 248, 754.
Balizzolo 21, 153, 246.
Balmi 32, 80, 272, 285, 291, 292.
Barohelia 81, 33, 72, 73 ff., 187.
Baulus, Apoſtel 214.
Bellour 24.
Bifocopio 58, 59.
Pizzo 31, 83, 50, 71, 86, 289.
Pompeji 29, 108.
Portici 29, 121.
N.
Reggio Calabria 201, 218 ff., 283, 305 ff.
Relina 28, 108.
Robert Guiscard 29, 38.
Rometta 139, 218.
®.
Salomone 17 ff.
Galerno 29, 86.
San Donato, di Herzog 102, 105, 106.
San Giovanni 273.
San Giuſeppe 113.
San Gregorio 54.
San Gebaftiano 111, 115.
Santa Caterina 32, 305.
Sant Eufemia 81, 38, 47.
Sant Eufemia Aipromonte 195, 287.
Sant Onofrio 64,
Saporito 174, 182.
Scarfoglio 98, 132, 285.
Schiller 137.
Scilla 32, 272, 299.
Scylla und Charybdis 240, 310.
Serao, Matilda 98 ff., 104, 132.
Seume 161.
Gila, Gebirge 43, 68.
Stefanoront 61.
Stromboli 184, 271.
Sybaris 37, 43.
T.
Taormina 138, 139, 237,
Termini Imereſe 140, 149, 153.
Torre Annunziata 111, 112, 114, 119.
Torre del Greco 28, 125 ff.
Trapani 168, 175 ff., 179.
Tropen 31, 76 ff., 79, 289.
B.
Veſuv 107.
Billari, Paſquale 14, 165.
Billa San Giovanni 32, 300, 301.
3.
Bammarö 57.
Banarbelli 172.
Sizilien, Land und Leute.
K eine andere Inſel Europas hat in den letzten Jahrzehnten ſo
viel von ſich reden gemacht als Sizilien. Die Revolution
bon 1848, der Zug der Taufend von Marfala, der Aufitand der
„Fasci“ im Anfang der neunziger Jahre, Haben zahlreiche Meifter-
werke gejchichtlicher, politifcher und nationalöfonomifcher Literatur
gezeitigt. Goethe Hat die Inſel gefehen und gefchildert und
nad) ihm haben Hunderte und Taufende von feinen Land3leuten
ebenfalls eine fizilianifche Reife getan und — gefchrieben, ja die
Cavalleria rusticana bat ihren Triumphzug um die Welt gemacht
— und doc tritt ein Sizilianer auf, der den Mut hat, zu erklären:
„Das wirkliche Sizilien ift zum größten Teile noch unediert.“
Und diefer Mann ift der Unterſtaatsſekretär Georgio Urcoleo.
In Mailand hielt er einen Vortrag, der 1898 in Buchform erfchienen
ift und den Titel hat „Palermo e la coltura in Sicilia“. Trotz
dieſes Titel3 gibt das Buch aber etwas andre und gerade dag,
was biöher allen Büchern über Sizilien gefehlt hat: den Schlüffel
nämli zum Verſtändnis von Sizilien. Es fei deshalb jedem
Sizilienfahrer als Neifebegleiter empfohlen. Und mer nicht nach
Sizilien reifen kann, erbaue fich wenigſtens an der geiſtvollen Form
des Büchleins, dem reichen Inhalt und fei es auch nur darum, um
zu fehen, wie ganz ander geiftreiche Leute in Italien Bücher fchreiben
als in den Ländern des Nordend. Was Arcoleo auf ſechsundachtzig
Ceiten fagt, hätte für ein ehrenmwertes Mitglied einer germanijchen
Bader: Im Lande bes Erbbebens. 1
2 Sizilien, Land und Leute
Bildungsgemeinjchaft mit Fug und Necht Stoff zu einem vier-
bändigen Opus gegeben — die Kommentare und Anhänge nicht
mitgerechnet.
Im Eingange feines Werkleind berührt Arcoleo die Schwierig-
feiten in der Beurteilung Siziliend. Der Nationalölonom, der
in Beiten der Kriſis kommt, macht nur Diagnofen, der vifionär
entzüdte Landſchaftsſchwärmer fieht nur Schönheit, der Archäologe
und Künftler nur Kunft. Sizilien fpottet eben jeder Klaffifikation
und ift nur dem verjtändlich, der nach neuer Methode die gejamte
Entwidlungsgefchichte der Inſel, und zwar auf allen Gebieten
verfolgt. Arcoleo beginnt dann das Vöolkergemiſch zu ſchil—
dern, das ſich heute auf der ſchönen Inſel tummelt, indem er geologiſch
bon den oberſten Schichten bis zu den unterſten und älteften vor-
dringt, und ftellt al3 Ergebnis feiner Forſchung das Geſetz auf, daß
niemals eine Verſchmelzung ftattfand, daß zwar jedes Individuum
in Sizilien in fich die griechifch-phönizifch-arabifch-normannifche Blut-
mifhung in Leib und Seele verrät, daß aber trotzdem das alte
ſikuliſche Clement das ganze fiziliiche Leben durchdringt. Hierauf
Ihildert er in wahrhaft Haffiicher Profa, Inapp, wie in Aphorismen,
die einzelnen Perioden der fizilianiihen Geſchichte. Wahrhaft
verblüffend find dabei feine Vergleiche zwilchen den einzelnen
Nationen, die in Sizilien einander folgten, dabei aber immer
geiftvoll und überzeugend. Gewiſſe Beziehungen, Ereignijfe, Cha-
taftereigentümlichkeiten, die und der Gejchichtäunterricht nicht nur
auf dem Gymnaſium — denn den kennt man ja — fondern auf der
Hochſchule dunkel gelaffen, erhellt una Arcoleo wie mit Blißfeuer.
Leſenswert vor allem, beſonders für den gewiſſenhaften Bildungs-
durft verftändiger Reiſender find die geradezu entzüdenden Gtellen
über den Unterfchied zwifchen der griehifchen Kunft in Gizi-
lien und im Mutterlande, fowie fpäter bei der normannifchen
Periode die Unterfchiede zwiſchen germanifch-gotifcher Kunft und der
jizilianisch-arabifchen Gotik; im einzelnen belegt der Verfafjer feine
Gizilien, Land und Leute 3
Urteile durch eine Schilderung der Ba ne der Architektur
Palermos.
Der Raum geſtattet nicht, ausführlicher zu werden, doch ſei
noch auf die meiſterliche Geſchichte de normanniſchen Periode
hingewieſen. Im letzten Teile ſpricht Arcoleo mehr im Detail vom
Charakter des Volkes. Lieſt man feine Analyſe des ſizilianiſchen
Volksliedes, ſo verſteht man viele Geſchehniſſe aus der ſogenannten
Brigantenchronik. „Sn der Poeſie des Volksgeſangs lernt man ein
neues Gizilien Tennen, eine neue poetiſch analphabetiiche Welt,
die ihren eigenen Himmel, ihre eigene Erde und ihr eigenes Meer
bat, die mit gleichem Stolze Verbrechen und Tugend bejingt. Ihr
Gewiſſen ift eingelullt in einen Traum von Aberglauben, Mythen
und Märchen, ihre Helden find Heilige und Banditen; ihre Märtyrer
entittammen dem Kloſter oder der Galeere, die Religion ijt ein
Gemiſch von Bibel und Koran, Heiligenlegende und Mythologie.”
Den Buftand Siziliens im Anfang d. 19. Jahrhunderts fchildert
der Verfafjer wie folgt: „Seine andere Negion Italiens hat während
dieſes Jahrhunderts folche tiefgreifende Wandlungen durchmachen
müſſen, wie Sizilien, umſomehr, aß fehr viele in anderen Ländern
jich betätigende Außerungen de3 öffentlichen und privaten Lebens
kaum enttoidelt waren. Hier überquellende Lebenskraft, mie auf jung-
fräulicdem Ader, dort Dürre wie auf ausgebeutetem Grumd, Die
Phantafie glühend und ungezügelt, ſcharf, aber ungeduldig die Ur-
teilöftaft, die Beobachtungsgabe für das Tatſächliche kaum entwidelt,
die Wiſſenſchaft pompös und abſtrakt, die Sprache arm und nur
vom Buch genährt; die ee des Staates, des Waterlandes, der
Freiheit nicht vorhanden, das Recht verwechſelt mit dem Vorrecht,
und die Rebellion mit Notwehr uſw.“
Die heutige Geſellſchaft in Sizilien ſtellt ſich Arcoleo
alſo dar: „So verſchieden die Natur in Sizilien iſt, ſo verſchieden iſt
auch die Bevölkerung; ein Teil derſelben lebt modern, denkt aber in
den Anſchauungen des vorigen Jahrhunderts, alles lebt neben⸗
1*
4 Gizilien, Land und Leute
einander, in einem Augenblid der Begeifterung können fich die ver-
Ichiedenen Bevölkerungsgruppen einen, aber auch nur einen Augen⸗
blidt, und dann fallen fie wieder auseinander. Überall Diffonanzen,
wenig bleibende, gemeinjame Noten. Unter diefen vor allem: die
unterwürfige Verehrung der Kraft, der Geiſt der Hierardjie in
den Gedanken, Gefühlen, im Leben, die Hhpertrophie des Ichs,
der Peſſimismus, das inftinktive Verallgemeinern im Urteil, die
Übertreibung der Bhantafie, Die ftürmifche Propaganda zur Rebellion,
die wieder ausgeglichen wird Durch die Unfähigkeit zum Aufbau. Der
Kultus der Kraft entitammt der Natur Siziliend. Der große Vena,
die Erdbeben, der Bronzehimmel, der feinen Tropfen Regen |pendet,
da3 Latifundium, der Scirocco, die überreihe Vegetation, der
Schreden der Bergwerke, alles predigt von Kraft .... Und diefe
Anbetung der Kraft fchafft Die Übertreibung der Legenden, von den
Byflopen angefangen bi3 zum Zuge der Taufend von Marjala.”
Aus diefer Kraftverehrung entipringt dann ferner die Selbit-
überjchäßung der Sizilianer, wie an mehreren draftiichen Beifpielen
gezeigt wird. Wie aus der Natur die Kraftanbetung, fo entjprang
aus der Geichichte der Mangel des Gleichgemwicht3 im Volkscharakter.
Wenn die GSizilianer heute untuhige Köpfe, Unzufriedene, Ver⸗
ſchwörer uſw. find, jo iſt das nur eine Folge der Invaſionen, der
Fremdherrichaft, des Feudalismus. Die Sizilianer find im Tempera⸗
ment, wie ihr Aetna, euer im Innern, Schnee auf dem Haupt.
Daher auch oft der plößliche Übergang von Gefühlserplofion zu
fühler Überlegung. „In einem Mefferbuell wird einer verwundet,
der fieht den SKarabiniere kommen, gleich Inüpft er jeinen Rod zu,
umarmt feinen Feind, um ihn zu retten, und fällt tot hin. Das ift
Cavalleria rusticana, welche alle Leiden Siziliens erklärt, ſowohl
die „omertä“ (f.u.) wie die „mafia“ und die langen, erfolglofen
Prozeſſe.“
An einer anderen Stelle erörtert der Verfaſſer die Wirkung des
Feudalismus. Der Feudalismus ſteckt dem Sizilianer im
Sizilien: Feudalismus 5
Blute, er äußert fich überall in der Sprache: da3 Bauernweib jagt
„Ihr“ zum Mann, der Sohn nennt den Vater „Excellenza“, der
Bauer fagt „Don“ zu jedem, der einen Hut trägt; in den Gefühlen:
die Eigenliebe, die ich ſelbſt genügt, ſteht Höher als die Liebe, die
lich nach einem andern Wefen jehnt; der fchmweigende, ſtolze Ver⸗
zicht auf eine Geſte fteht höher als die gejprochene Injurie, eine
Bluttat adelt, denn fie zeugt von Mut, Betrug ift unanftändig, weil
er im Dunkeln jchleicht, da3 Volksevangelium preift nur zwei Tugen-
den, die Dankbarkeit und die Vendetta. Der Feudalismus prägt
jich aber auch im Standesunterfchied aus: An der Spite der Gefell-
ichaft Steht ver Mann mit Mantel und Schwert, oder der Mann mit
Mitra und Stola, ganz wie in Indien, dann der „Herr“, der von
feinen Renten lebt, dann der, den die Feder ernährt, ganz zu unterft,
verachtet und geſchmäht, kommen die Arbeiter. Auch dieFamilie
iſt feudal geordnet, die Frau fteht auf einer niederen Stufe, fie it
die Untergebene des Manned, wie der Boden Eigentum des
Feudalherrn.
Zum Schluß folgt ein Vergleich zwiſchen der normänniſch⸗
ſächſiſchen Inſel und der Inſel Sizilien, der ebenfall3 fchöne Neu-
heiten bringt. Dann Tonftatiert der Verfafler, daß es Neu-Stalien
noch nicht gelungen ift, Sizilien moraliſch zu erobem, ja noch nicht
einmal kennen zu lernen, aber er endigt mit dem troftreichen Augblid,
daß Sizilien nach der griechiichen und normännischen Blüte eine
dritte erleben wird, umſomehr al, wie er jcherzhaft Hinzufügt,
Sizilien mohl das einzige Land in Europa fei, das feine Deladenten
und libermenfchen habe.
Eine Variation des hier angefchlagenen Themas findet fich in
der römischen Zeitung „Popolo Romano”, wo Profeſſor Giu-
jeppe Settimo Adamo, ein Vollblutjizilianer, im Herbft
1896 eindringliche Bemerkungen über die Mißwirtſchaft in Sizilien
macht. Er beginnt mit dem Betrugsprozeß Martinez. In ganz
Stalien habe man ausgerufen: „Uber wie? Der Kommendatore
6 Eizilien: Gemeindevermaltung
Martinez? Unmöglich! Ein Mann, der felbft Vermögen hat!
Ein Mann, der das Vertrauen Palermo’3 bejaß, deſſen Unterfchrift
in allen Banken bares Geld vorftellte!" In Sizilien aber fei man
ruhig gewejen, und warum? Zur Antwort greift er zwei Fälle
aus der Bourbonenzeit heraus: In Comifo, einer Stadt von
12 000 Einwohnern, fand ſich im Jahre 1836 in der Stadtrechnung
ein FYehlbetrag von 12750 Lire oder, wie es damals hieß, von
1000 Unzen. Die Stadträte, damals die „Dekurionen”, beſchloſſen
darauf folgende Tagesordnung: „Das Dekurionat nimmt Alt von
dem Fehlen der 1000 Unzen, da es aber weiß, daß die Ehrenhaftig-
keit des Kaſſiers über jeden Verdacht erhaben ift, fo geht e3 zu dem
Schluffe über, daß die befagten Unzen auf irgend eine Weife ent-
wendet fein müfjen.” In Caltagirone bejikt die Gemeinde
viele Güter und Lehen. Bor 1860 benußte fie die Einkünfte, um
damit zurüdgegangene adlige Familien finanziell aufzufrifchen,
und zwar in der einfachen Weife, daß fie ein Mitglied folcher ver-
armten Familien zum Bürgermeifter wählte. Nach folder Wahl
belebten ſich auf einmal wieder die leeren Ställe der reftaurierten
Familie; auch ihre Staatskaroſſen ſah man wieder. Kein Wunder,
daß unter ſotanen Umftänden manche reiche Familie mit dem Kleide
der Armut Eofettierte. „Kann man fi) wundern,” jagt der Ver⸗
falfer, „daß Die Leute in Sizilien fteptifch wurden? Diefe Erbfchaft
an Steptizismus macht auch, daß Sizilien dem neuen Vizekönig
Codronchi nicht traut; denn mie viele. Vizekönige und Tönigliche
Kommiſſäre hat es nicht ſchon im Laufe diefes Jahrhunderts ge-
ſehen?“ Zwar fei in Palermo etwas geichehen, aber Palermo
ſei noch lange nicht Sizilien. Er molle deshalb dem illuftren Thera-
peuthen Codronchi eine Diagnofe unterbreiten, geſtützt auf das
Gutachten dreier Ärzte. Der „Popolo Romano” fage: „Alle Städte
Siziliens haben, anftatt für Straßenbau und Hygiene zu forgen,
nur an den Bau von Lurustheatern und Prachtrathäufern gedacht.
Der zweite Arzt, Herr Ymbriani geheißen, erfläre: In Palermo
Sizilien: Gemeimdevermwaltung 7
erhebe fich jchon die traurige Klage. Aber von mem? Bon den
Großgrundbefigern, die ihre Einkünfte in fremden Hauptjtädten
und fremden Spielbanken verzehrten. Der dritte, Abgeordneter
Damiani, füge hinzu: „Die fizilianifche Frage ift nur eine Frage
der Landwirtſchaft und des Landbaus.“ Dieje drei Gutachten geben
da3 wahre Bild. Zur näheren Illuſtration erzählt Profeſſor Adamo
folgendes. Sn 3. (Provinz Siracufa), einem Städtlein von 18 000
Einwohnern, fanden die Stabtväter eines Tages im Jahre 1880,
daß fie nicht ſchön genug hauften. Bi3 zum Jahre 1866 waren fie
zwar mit einer Mietwohnung, beftehend aus vier Zimmern und
einem Salon ausgelommen, nach 1870 waren fie, als die geiftlichen
Güter eingezogen wurden, in ein Klofter umgezogen, da3 allein im
eriten Stode fechzig- Zimmer aufwies, aber trotzdem bejchlofjen fie,
daß da3 Klofter abgebrochen und an feine Stelle ein Mumizipalpalaft
bon jeltener ‘Pracht errichtet werden folle. Der Voranſchlag belief
ſich auf 900 000 Lite, die wirklichen Koften auf — mer weiß? Und
diefe unglaubliche Koftenüberfchreitung rührte daher, weil es den
dreißig Stadtpätern, um das Anfehen der Stadt zu heben, plößlich
einfiel, in den neuen Palaſt ein „Eönigliches Abjteigequartier” hinein
zu bauen. Zwar ift die Ausficht, daß der König je nad) 3. komme,
jehr gering, aber im Staat3-Lerilon der Provinz jteht doch jet
hinter dem Namen der Stadt eingeflammert: „KRöniglicher Balaft“.
Man denke! Eine andere Gemeinde, F., 1800 Seelen reich, gab
für den Bau ihres Theater3 eine Million aus. Die Einweihungs-
feftlichfeit brachte noch ein kleines Gejchäft, dank dem Zufchuß, den
der Gemeinderat für diefes eine Mal bemilligte; dann aber fand
ſich fein Theater-Unternehmer mehr, der fein Geld riskieren wollte,
und jeit zwanzig Jahren fteht das Theater leer. An diejer Theater-
krankheit aber leiden faft alle Städte Siziliens. Die Herren Regenten
der ſizilianiſchen Gemeinden haben eben einen Kopf mit großen
een. So unterhielt fich der Verfafjer eines Tags mit dem Bürger-
meifter einer der drei größten Städte der Inſel über den Theater-
8 Sizilien: Latifundien
neubau und äußerte, er habe gehört, daß der Voranjchlag fich auf
drei Millionen belaufe.. Mit großer Entrüftung fchaute ihn der
Herr Bürgermeifter an und meinte wegwerfend: „Sie haben wohl
den Voranfchlag für die Vorhalle gemeint!" Wie recht Hat alfo
Macchiavelli, wenn er fagt: „In Sizilien ift große Tüchtigfeit in den
Gliedern, wenn jie nur nicht bei den Häuptern fehlte!" „Wozu
gebe e3 denn Präfekten?“ fage das Publitum. Herr Adamo ant-
mortet: Um nicht? zu tun; denn in all den Jahren, die feit 1860
verfloffen, fei eg noch feinem Präfelten eingefallen, der Baumut
der Gemeinden zu fteuern. Aber feit jener Zeit fei es auch noch
feinem Präfelten eingefallen, die von Wilhelm II. in diefem Früh⸗
jahr in Gizilien angewandte Neifemethode nachzuahmen. Seit
ſechsunddreißig Jahren, jo lange aljo Neuitalien in Sizilien herrſcht,
jei e8 noch feinem Präfekten von Siracuſa in den Sinn gelommen,
jeinen Amtzfi zu verlaffen! Und doch nenne Cavour die Präfelten
die VBormünder ihrer Provinz. Rudini habe einmal gejagt, dag
Unglüd von Sizilien füme vom Regenmangel ber; in Udine in Bene»
zien fielen jährlich 153 Zentimeter Regen, in Caltanijetta aber nur
49 Zentimeter. Warum hätten aber Rudini und feine Präfelten
niemal3 mit den Bürgermeiltern Giziliend beraten, wie diefem
Mangel abzuhelfen jei? Die Mlten hätten e3 doch gefonnt und
hätten Sizilien zur Kornkammer Roms gejchaffen, und dies durch die
einfachen Mittel, daß fie durch große Taljperren künſtliche Seen
errichteten, bon dieſen aus überall Bewäſſerungskanäle zogen, die
üppige Wiefen jchufen, aljo große Viehzucht ermöglichten, die
ihrerjeit3 wieder die nötigen Dungftoffe für die Acker lieferten,
fo zwar, daß eine viermalige Ernte möglich war, und die Viehzucht
Siziliend im Mtertume [prichwörtlic) wurde. Die Schuld für die
Vernachläſſigung Siziliens trifft aber, fo jagt der Verfaſſer, nicht
nur die Verwaltung, fondern auch die Ratifundienbefiger,
die ihre Einkünfte im Auslande verzehren, anftatt fie zur Verbefjerung
des Boden3 zu verwenden. So verzehre der Herzog M. jährlid)
Sizilien: Latifundien 9
eine Million Lire, die ihm feine Großpächter für die Erlaubnis, die
armen Bauern ausfaugen zu dürfen, jährlich zahlen, in — Paris.
Nun könne man freilich einwenden, der Herr M. könne mit feinem
Gelde machen, was er wolle, die Frage fei aber, ob e3 fich wirklich
um fein Geld handle. Die Güter des Herzogs M. gehörten nämlich
bi3 zum Ende des vorigen Jahrhundert der Heinen Stadt %. Die
guten Bürger diefer Stadt empfanden e3 aber höchſt unangenehm,
daß die Sarazenen alljährlich mit der Maienfonne ins Land kamen
und alle bewegliche Habe und Frauen und Kinder fortichleppten,
und, um fi) zu retten, übertrugen fie ihr großes Gemeindegut an
‚den dermaligen Herzog M., der zum Entgelte die Stadt mit Mauern
und Gräben umziehen follte. Der edle Herzog nahm die Güter —
und baute ein einziges Feſtungstor, fo daß die Stadt unbeſchützt
war wie zuvor. Vergebens prozeſſierten fie gegen den herzoglichen
Gauner, aber diejer gehörte zum Hofe. Auch das Jahr 1860 brachte
feine Anderung; der damalige Herzog gab zwar den kleinſten Zeil
heraus, aber den Löwenanteil behielt er. Der jetige Herzog M.
iit aber feine Ausnahme, was die hohen Nentenbezüge betrifft.
Fürft ©. erhält jedes Jahr, nachdem feine Großpächter fich genügend
bedacht Haben, 600 000 Lire, Marchefe C. 400 000 und Baron D.
300 000 Fire. Nun zählt der Verfaſſer im einzelnen die Schäden
der Latifundien auf, die zum Zeil jchon befannt find; neu ift nur,
daß er das Zunehmen der Wölfe dem Umftande zufchreibt, daß
die Großjunfer zu viel Gebiet brach Tiegen laſſen, aber allen Wolfs-
jägern, die fi die Prämie von 25 Lire verdienen wollen, den Zu-
tritt zu ihrem Territorium verbieten. Weiter jchildert er, wie die
Großjunker jedes Geſuch von Genoffenichaften, die einen Teil der
Bracjländer zur Bebauung ankaufen wollen, abfchlagen, und wie
oft die Eifenbahnen nach den Wünjchen der Latifundienbefiker
gebaut werden, jo daß die Züge leer bleiben, während volkreiche
Gemeinden abfeit3 liegen müfjen. Bezeichnend für die Herren
Sroßgrundbefiter jeien auch zwei Briefe, die der Marcheje C. und
10 ‚Sizilien: Adel
der Herzog X. ihren Bächtern fchrieben und in denen diefe Höchlich
dafür belobt wurden, weil fie den Afterpächtern die Pacht erhöht
hätten; der Herzog ftreicht aber jährlich 300 000 Lire und der Marchefe
200 000 Lire ein. Und wie benehme ſich da3 Volk gegenüber diefen
Feudalen? So fragt der Berfaffer und gibt die wenig tröftliche Ant-
wort, daß es jich der Heldentaten feiner Adligen gar noch freue,
ja fie fogar in Volksliedern verherrliche. So höre man jet noch viel
auf dem Lande die Gefchichte vom Herzog, der die Zelte fchließen
ließ, und vom Savaliere N., der nicht gemechlelt haben mollte. Als
einjt die Bourbonen in Palermo refidierten, zur Zeit des berühmten
Rofalienfeftes, kam ein Franzofe zum Herzog di M. und bot ihm
ein Diamantenhalsband fiir 200 000 Lire an. Der Herzog fchidte
den Mann zur Königin, dieje aber antwortete, fie bejige nicht Geld
genug für eine folche Ausgabe. Darauf Taufte der Herzog den
Schmud, teilte ihn in zwei Teile und ſchmückte mit den Hälften die
beiden erſten Pferde feines Vierundzwanzigerzuges, mit dem er
ar Galatagen Corſo fuhr. Königin Carolina rächte fich, indem fie
Tags darauf auf dem meltberühmten Rofalienmarfte den Ber-
ſchwender bat, für den neugeborenen Kronprinzen ein Spielzeug
zu faufen. Der Herzog, der fich nicht lumpen laſſen wollte, rief aus:
„Man ſoll die Zelte ſchließen,“ und ſchenkte fo alle Waren, die zum
Kaufe ausgeboten waren, der Königin. Diefer tolle Streich ruinieret
ihn; denn der Rofalienmarlt von damals war einer der größten
Europas. Cavaliere N. reifte einft in Spanien umher, und ver-
geudete während feines Madrider Aufenthalt von zwanzig Tagen
Dauer ein Vermögen, weil er alles, was er faufte, ſogar eine Taſſe
Kaffee, mit einem Goldftüd zahlte und dabei erflärte: „Sizilianifche
Cavaliere laſſen ſich nichtE herausgeben.” An andrer Stelle erzählt
der Verfaſſer von einer Heinen Stadt, in der nur Adelige wohnen,
von denen die reichen freilich meift im Auslande weilen, die armen
aber im Hidalgoftolze darben und — betteln. Schließlich geißelt
der Verfaffer das Unwesen der fogenannten Reifefommiffionen,
Sizilien: Verbrechen 11
die unter allen Miniſterien gleich geiwefen wären; die Herren Ab-
geordneten kämen in der Hauptftadt an, würden von den Behörden
empfangen, teilten zum nächſten Ort, um wieder von den Behörden
bewirtet zu werden, und fo ginge e3 fort von Empfang zu Empfang;
vor lauter befradten Stadtpätern und Beamten fähen fie aber die
Bauern nicht und berichteten dann in langen, auf Koſten des Staates
gedrudten und nie gelefenen Berichten dem Parlament, daß alles Un-
heil in Sizilien von der „mafia‘“ und dem brigantaggio“ herrühre.
Woher aber die Briganten kämen, das fähen die Herren nicht ein, und
e3 ſei doch nicht3 natürlicher; der ehrliche Bauer würde nämlich nur
dann ein Brigant, wenn fein Gebet „Unfer täglich Brot gib ung heute”
unerhört bliebe, und höre fofort auf, Brigant zu fein, wenn man
ihm die Flinte gegen eine Hade vertaufche, an der etwas Land
hänge, da3 ihm Brot verjprehe. So habe wenigitens Kardinal
Alberoni in Spanien da3 Räuberunmefen ausgerottet.
Mit ähnlich düsteren Farben malt der im Vorwort genannte
Soziologe Alfredo Niceforo, der Ende der neunziger Jahre
ein Buch erfcheinen Tieß mit dem Titel: „Das barbariſche
Ktalien”.* Das Buch geht aus von dem Sabe Lombrofo3:
„Italia € una, ma non è unificata“, und beweiſt dann in einer
Reihe von fejjelnden Aufſätzen die Wahrheit, daß Italien in zwei
verichiedene Länder, da3 europäiſche Italien mit einer modernen
Kultur, und Halbafrifa mit einer ataviftischen Kultur zerfällt. Schon
allein die Statiftif beweiſt ven Unterfchied; im Norden überwiegen
bei den Verbrechen die Fälle der modernen Kriminalität, im Süden
die der ataviftiichen. So zeigt die Verbrecherftatiftif Italiens im
Sabre 18% für Gewalttaten: Mord, Überfall, Raub x. folgendes
Berhältnis: Norditalien 142,67, Mittelitalien 279,86, Süditalien
aber 460,49 Fälle, auf je 100 000 Einwohner. Beſonders charal-
teriſtiſch für den Süden find die drei Verbrecherformen: brigan-
*) L’Italia barbara contemporanea von Alfredo Niceforo.
Remo Sandron, Editore. Milano.
12 Sizilien: Verbrechen
taggio, mafia, camorra. In Sizilien und Sardinien wird Der
brigantaggio in denjelben Formen getrieben wie bei den Urvölkern
Afrikas, die Schweinfurt und Livingſtone childern, und namentlich
gleichen die „bardanas“ der Sardinier den Razziad der Abeſſynier
und Gallas. Eine ganze Bande überfällt eine Herde und hoher
Ruhm erwächſt dem, der die meilten Toten erzielt. In milder
Kampfesgier werfen fich die Angreifer auf die Hirten, und über die
toten Kameraden fteigend, rufen fie fich gegenfeitig anfeuernd zu:
„Corraggio! Sopra su mortu su bibul“ (Mut, auf den Toten
pflanze fich der Lebende auf!) Niceforo vergleicht die ſardiniſche
Räuberei mit der theffaliichen und geht dann zur „mafia‘ über.
Nach ihm entipringt die fizilianifche mafia dem noch immer nicht
ausgeitorbenen feudalen Geifte, dem im arabiichen Blute Tiegenden
Sinn für Unabhängigkeit und der mittelalterlihen Schwärmerei
für Ritterlichleit. In Sizilien hat fich nichts geändert; wie für
die mittelalterlichen Barone die Geſetze des Kaiſers nicht eriftierten,
jo gibt e3 für den heutigen mafioso fein Geſetz der Zentralregierung.
Und da3 begreift man, wenn man in3 innere der Inſel zieht. Die
Karren der Bauern find mit Bildern der Heldentaten der alten Ritter
geſchmückt und jedes Bild hat feine Überfchrift, wie: „Karl der Große
und feine Ritter”, „Roland in Roncesvalles”, „Der Zmweilampf Oli⸗
vier3” uſw.; ſelbſt in den größeren Städten fieht man in den Volks⸗
quartieren die alten Rhapſoden, die „cantastorie“, welche dem
gierig Taufchenden Volle die „Chronik Turpins“, den „Orlando
Furiofo” von Arioft und andere Rittergefchichten vortragen. An den
feudalen Geift des Sizilianischen Volles erinmert auch die blumen-
reiche Sprache der Unterwürfigkeit, die das Volk gegen die „capeddi“
(Hüte-Herren) anwendet und die einen Vergleich mit der Sprach⸗
weiſe der Stämme im Imnern Afrikas zuläßt. Auch der Jargon
ber „mafia‘“ hat Ähnlichkeiten mit dem Jargon der Sudanneger.
An die Kultur der Neger erinnert ferner die Tätowierung der gehei-
men Geſellſchaften Siziliens ſowie die Einmweihungszeremonien, die
Sizilien: Die Frauen 13
Beremonie der Blutsbrüderichaft, die Meifertänze zc. der „mafiosi“.
Diefer niederen Kulturftufe entipricht auch das moralifche Bewußt⸗
jein des Volles. „Malandrino“ (Raubmörder) ift in Sizilien ein
Chrentitel, er beweilt, daß fein Träger ein Mann ift, der im Bewußt⸗
fein feiner Stärke vor nicht3 Furcht hat, am wenigſten vor der Yuftiz.
Der Stärke beugt jich der Sizilianer immer; Tann e3 uns da wunder⸗
nehmen, wenn Sizilien für Mord und Totfchlag die höchſte ftatiftiiche
Biffer aufmeift? So hat Girgenti 60,97 Morde gegen Bergamo
hoch im Norden mit 3,06; für Raub und Erpreffung weiſt Girgenti
55,32 Fälle auf 100 000 Einwohner auf, während Bergamo nur
2,62 fennt. Je ſtärker natürlich ein Sizilianer ift, deſto dreifter ift er,
und jo wird jeder Präfekt abgejebt oder verſetzt, der es je wagen
jollte, einem Latifundienbejiter, der feine Taufende von Arbeitern
hungern läßt, zur Rede zu ftellen. Der Herr Baron ift eben fo mächtig,
daß auch die Minifter nachgeben müſſen. Niceforo teilt darüber
recht niedliche Anefooten mit. Leſenswert ijt auch die Befchreibung
der fizilianifchen Haremd. Kein Fremder wird jemal3 bei Tiſche
Frau und Töchter feines Gaftgeber jehen dürfen, und diejenigen
vornehmen Gizilianer gelten ſchon als vorurteilöfrei, die ihren
Damen erlauben, nach dem Ejjen fich kurz dem Gafte vorzuftellen,
damit ſich dieſer, wie der Berfaffer fatirifch bemerkt, davon überzeugen
kann, wie ungebildet felbft die vornehmften Gizilianerinnen find.
Überhaupt die Bildung! Niceforo gibt einige hübfche Schilderungen,
wie e3 in den fizilianifchen Gymnaſien ausfieht und bei den Adeligen,
die wie jpanifche Hidalgos Pomp nad) außen treiben. Das Bolt
aber verjinkt im Fraffeften Aberglauben. So verſchwand, um nur
ein Beijpiel anzuführen, am 3. September 18% in Mefjina ein Kind
von bier Jahren. Bauern aus der Umgegend hatten es geraubt und
den Geiltern geopfert, um einen Schab zu finden. Dem Aber-
glauben entipricht die Grauſamkeit der Gizilianer und auch der
Neapolitaner, wie fie ſich in den legten fünfzig Jahren gelegentlich
der Aufitände und Unruhen beiviefen hat. So boten 1866 die Weiber
14 Sizilien: Verſchwendungsſucht
bon Mifilmeri in den Straßen da3 Fleiſch der getöteten Gendarmen
mit den Rufen aus: „A sei grana la carni du surdatul A otto
chidda du carabinieril“ (Für ſechs grana da3 Fleiſch des Sol-
daten. Für acht das des Karabiniere).”
Sollte jemand glauben, daß diefe Schilderungen übertrieben
jeien, jo führe ich al3 Kronzeugen noch Staliens größten Hiftorifer
auf, Pasquale Villari, der in feinem Buche „Sizilien und
der Sozialismus” u. a. alfo fchreibt: „Die Gemeindeverwaltungen
Siziliens find eine Quelle der graufamjten Ungerechtigfeiten, der
mwildeiten Leidenschaften. Was die Gizilianer darüber erzählen, da3
ließe fich zu emer Ilias der Schmerzen zufammenftellen. Wir
haben diejen Krebsſchaden von den Bourbonen geerbt, und er ſchlägt
in diejer oder in anderer Form den größten Teil Süditaliend, mo
die Rechte der Armen weniger al3 irgendwo geachtet werden. Kann
man fich beifpieläweife etwas Beſchämenderes denten, al was in
Neapel mit der vielberufenen „Ausweidung“ (sventramento)
geihah? Wie find die vom Staate geichenkten Hundert Millionen
verwendet worden? Prachthäufer ſchoſſen aus dem Boden herbor
und ihre Mietzinje ſanken, die Hütten der Armen hingegen wurden
zerjtört, ohne erfeßt zu werden; ihre Zahl ward geringer, die Mieten
stiegen und mit ihnen die fürchterliche Überfüllung, der Schmuß,
das Elend. Auf ihren Ruinen erhebt ſich goldgleißend die Galleria
Umberto I. Und in Palermo? Tat es wirklich Not, nach dem
Baue des Politeama vierzehn Millionen an das Operntheater zu
verſchwenden, während man ich gleichzeitig eine Unterftüung für
da3 Krankenhaus erbetteln muß, meil e3 außerftande ift, feine
Kranken zu ernähren? Sm Galtanijetta gab man eine Million für
ein Präfektur-Gebäude aus, da3 für Florenz zu groß wäre. In
einer andern Stadt erhöhte man die Mahliteuer um 30 000 Xire,
um ein Theater zu bauen. In Sizilien, wo faft alle Bauern in ge-
ichloffenen Städten eben, ift die Verzehrungsfteuer die Haupt-
ertragsquelle für diefe, und die für den Armen unerläßlichiten
Sizilien: ©teuereintreibung 15
Lebensmittel find am fchmwerften belajtet. Die Steuereintreibung
it unmenjchlichen und Habgierigen Pächtern anvertraut, die den
Armen bedrüden, den Reichen aber, den fie fürchten und auf defjen
Gunſt fie zählen, verjchonen. Ein Gizilianer, der aud) ein
tüchtiger Lehrer ift, erzählte eines Tages: „In meiner Vaterſtadt
zahlt die am Ruder ftehende Partei feine Verzehrungsfteuer. Bor
furzem wollte ein Bürger die Torftener nicht entrichten, weil er
der Freund des Finanzaſſeſſors fei. Man begleitete ihn ind Ge-
meindehaug, wo er erfannt wurde, und er zahlte nicht! Die Gegen-
partei hütet jich, Dagegen Verwahrung einzulegen; denn fie handelt,
zur Macht gelangt, nach demfelben Richtmaß. Der Arme aber
zahlt und zahlt und verblutet." Dffiziere erzählten, daß fie, und
nicht in Sizilien allein, die Torwachen zur Annahme der ſchuldigen
Steuern zwingen mußten. Die Wachen fagten: „Sie find Major
und haben daher das Recht, nicht zu zahlen." Das war einmal fo
der Brauch, und die Wachen glaubten, daß e3 dabei bleiben müffe.
Kommt aber ein Bauer mit zwei Broten and Tor, und hat er, wie
e3 gewöhnlich der Fall ift, fein Geld, um den Steuerpächter zu
befriedigen, jo wird ihm das Brot unbarmherzig abgenommen, und
er darf. Hungern. Und ein Präfekt, den Villari fragte, warum
er diefen entjeglichen Übeln nicht irgendwie fteuere, antwortete
offenherzig: „Wie foll ich es tun? Wo finde ich die Zeit dazu? Bon
früh bis fpät bin ich von Abgeordneten, Senatoren, Gemeinde- und
Provinzialräten und Großmwählern umſchwärmt und belagert. Wenn
ich fie nicht empfange, laſſen fie mich — ſtrafweiſe? — verjegen.
Alles, was die Wohlfahrt des Landes berührt, wird vernachläfligt.
Alles ſpitzt ſich politifch zu, und eben darum ift unfere Politik Die denk⸗
bar ſchlechteſte.“ So der Präfelt. Ein beicheidener Tiichlermeifter
bon PBartirico faßte aber fein Urteil wie folgt zufammen: „Hier jpielt
der Präfekt nicht ven Präfekten, der Bürgermeifter nicht den Bürger-
meifter, der Gemeinderat nicht den Gemeinderat, der Lehrer nicht
den Lehrer. Das Volk ſehnt fich nach Gerechtigkeit und kann ie
16 Sizilien: Brigantentum
nicht erlangen.” Was Wunder, wenn die Leute die Gebuld verlieren
und zum Aufruhr fchreiten oder — Räuber werden?
Billari hat auch den wundeften Punkt der italienifchen Sozial-
reform berührt. Es iſt der Umstand, daß die Beamten nicht die
Organe eine3 weiſen und gerechten Staatswillens, fondern nur die
politifchen Agenten des jeweiligen Minifteriums find.
Der Brigantaggio.
Aus all diefen Schilderungen erklärt e3 fich, marum das Übel
de3 Brigantentum3 im Süden unausrottbar ift, oder nur, dank
der Eifenbahn, langſam verſchwindet.
Auch aus Sizilien ift der Brigantaggio noch nicht verſchwunden,
wenn er auch, wenigſtens vorläufig, an Macht bedeutend eingebüßt
hat. Bor zwanzig Jahren etwa beberrjchten drei Räuberbanden,
deren Mitglieder beritten waren, das Zentrum der Inſel. Die lebte
Bande, diejenige von San Mauro, beftand bloß aus elf Männern,
bon denen 1896 acht getötet oder gefangen worden find. Der Haupt-
mann dieſer Bande, Melchiore Sandino, ein Bauer aus San Mauro
ſchlug fi am 15. Mai 1889 in die Büjche, nachdem er vier Morde
begangen hatte. Im Laufe eine Jahres ſammelte er um fich die
Genoſſen Rinaldi, Ortolano, Caroli, di Paola, Botindari, Leonarda,
Scialobbo, Mazzola, Giaconia und PBupillo, alle au der Gegend
von San Marco. Die Bande bildete fich fchnell und ficher, und
begann ihre Operationen. Binnen zwei Jahren hatte fie, um nur
die Schwerften Verbrechen zu nennen, zwanzig Morde verübt. Dan
kann aljo nicht fagen, daß fie untätig war. Das Motiv der Ber-
brechen war fajt immer die vendetta, die Rache, die Rache für ein
erlittene3 Unrecht. In Sizilien liebt man e3 im allgemeinen, ſich
felbft Gerechtigkeit zu fchaffen. Die Vorfchrift des Chriftentums,
die linfe Wange darzubieten, wenn man einen Schlag auf die rechte
Wange erhalten hat, ift ein moralifcher Nonjens auf der jchönen Inſel;
Sizilien: Vendetta 17
bei den Sizilianern ift der Haß ebenfo lang und dauerhaft wie die
Liebe.
Damit hängt auch eine andere Eigenfchaft der Gizilianer zu-
jammen: die omertä, das Schweigen vor dem Richter. Ohnehin
bat der Sizilianer da3 Sprichwort: La virita si dici a lu cunfisuri
e no ad autri, man jagt die Wahrheit dem Beichtvater, aber fonft
niemandem. Es iſt aber nicht bloß der Grundfaß, da der Tote tot
ift und daß man dem Lebenden helfen muß, nicht bloß die Wildheit
des Charafter3 und die Unbildung oder die Furcht, für einen Angeber
gehalten und als folcher behandelt zu werden, wenn man in Sizilien
die Juſtiz nicht aufflärt, fondern die von den Kindern mit der Milch
eingejaugte Lehre des Schweigens über alles, was man gejehen Hat,
zielt einzig darauf, fich jelbjt die Möglichkeit der Wiedervergeltung
borzubehalten. Der Sizilianer, im Gefühl einer gewiſſen Eiferfucht,
will nicht, daß ein anderer, und felbft wenn e3 das Geſetz wäre, die
Beleidigung ftrafe, die ihm angetan worden ift. Daher die allgemeine
Erfahrung, daß Leute, die beftohlen, mißhandelt, gejtochen worden
jind, auch die nächſten Verwandten des Opfers eine Mordes
den Täter durch ihr Schweigen verteidigen, was einzig in der Abficht
geichieht, jich felbft und allein an ihm zu rächen. Und diefe Rache
kommt früher oder fpäter ficher; nur reden darf man nicht von ihr.
Bumeilen freilich vergreift fich die Rache und trifft einen Un-
jchuldigen. Der fchredlichite dieſer irrtümlichen Racheakte ift wohl
jener, der an einem gewiſſen Antonio Rinaldi, einem Bauern aus
San Mauro, verübt worden it. Diejen Rinaldi hielten die Räuber
für einen Spion; er follte über ihre Operationen den Sarabinieri
einige3 verraten haben. Die Räuber raubten nun Rinaldi feinen
zwölfjährigen Sohn, fägten ihm bei lebendigem Leibe langſam den
Kopf ab und riffen ihm das Herz aus.
Bezeichnend iſt ferner, daß gerade zur Zeit der SKata-
ſtrophe von Meſſina und Reggio die italienischen Gerichte fich noch
mit dem „lebten Räuber Siziliens“ Salomone, beichäftigten.
Zacher: Im Lande bed Erbbebens. 2
18 Sizilien: Brigant Salomone
Am 19. November 1908 begann der zweite Prozeß gegen ihn in
Perugia, ein Prozeß, der am 20. Januar 1909 noch nicht beendet mar.
Die Geſchichte Salomones ift ſehr einfach, troßdem aber fehr
intereffant. Im Jahre 1893 entftanden, wie befannt, in Gizilien
die fozialiftiichen Arbeiterbüinde (Fasci dei Lavoratori), die merf-
würdigerweiſe monarchiſtiſch waren, da fie fich nicht gegen den
Staat, fondern gegen die Landbarone richteten, die die ſchöne Inſel
jeit Sahrhunderten ausgebeutet hatten. Auch in Salomones Vater-
jtadt bildete fich ein joldher Bund unter dem Vorſitz eines gewiſſen
Advokaten Bonfirraro. Um ihn fcharten ich alle Unterdrüdten und
Notleidvenden, auch) der intelligente Bauer Giufeppe Salomone. Er
war damals achtzehn Jahre alt und glühte vor Begeifterung. Seit
20 Sahren herrichte in dem Städtchen ein Dorfpafcha, der Bürger-
meifter Benedetto Giordano, der e3 fogar fertig gebracht Hat, einen
feiner Anhänger zum Abgeoröneten wählen zu laſſen, um in Rom
bei der Bentralregierung einen mächtigen Profurator zu haben.
Gegen ihn arbeitete Salomone als den Hauptunterdrüder des
Volles. Sein Chef Bonfirarro blieb fiegreich, wurde Bürgermeifter
und gewann auch da3 politiiche Mandat für einen Gefinnung?-
genoffen. Der ganze Haß des Erbürgermeifters trifft nun Salomone,
er denunziert ihn den Gendarmen mehrere Male ala Übeltäter, aber
immer wird der fälſchlich Angeklagte freigejprochen. Schließlich
wird Salomone gar beichuldigt, einen Raubanfall verübt zu haben;
er erflärt wieder, daß er unjchuldig ſei und zur Zeit des Verbrechens
zu Bette gelegen habe, — tut nichts, fein Feind bringt jo viele Gegen-
zeugen bei, daß er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird, die
er zuerjt in Sinigallia abbüßt.
Salomone führt ſich gut, beteuert aber feine Unſchuld nicht nur
mündlich, fondern auch dadurch, daß er feine Memoiren jchreibt,
durch die er die Königliche Gnade zu erhalten hofft. Als er fich in
feiner Hoffnung getäuscht fieht, geſteht er offen, daß er fich num ſelbſt
Gerechtigkeit Durch Rache an feinem Feinde verjchaffen werde. Sein
Sizilien: Brigant Salomone 19
Haß fteigert jich, als er ſchließlich, um alle gejeglichen Mittel zu ver-
fudhen, mehrere Male die Reviſion feines Prozeſſes verlangt, die
ihm aber ebenfo oft abgeichlagen wird, meil die Gericht3behörden
echt bureaukratiſch ſich nur auf die Gutachten ded Giordano ſtützen,
der mittlerweile wieder Bürgermeijter geworden ift.
Sm Gefängnis hält nun Salomone nur noch der Gedanke an
feine Mutter aufrecht, die nie an ihm gezmweifelt hat. Doch das
Unglüd will, daß er durch Die Schuld der Behörden einen Tag länger
im Gefängnis bleibt, und daß er bei der Heimkehr die Mutter nicht
mehr fieht; denn fie war gerade einen Tag vorher geftorben. Kann
man fich da wundern, daß in der primitiven Geele des Unglücklichen
jih der Gedanke immer mehr feftjegt, daß der Staat den Armen
feine Gerechtigkeit zuteil werden läßt? Nun geht alles feinen folge-
richtigen Gang. Salomone erichießt den Bürgermeifter und etabliert
fich nach allen Regeln der Tradition al3 Brigant (si da alla cam-
pagna, wie der terminus technicus heißt).
Aber Salomone ift fein Räuber wie die andern, die zu feiner
Beit in Sizilien tätig find, 3. B. Turrisciano und Nobili. Diefe find
wirklich Degenerierte, Die aus reiner Mordluft töten. So ſchoß
Nobili einft einen Bauer auf dem elde, der ihm nie etwas zuleide
getan hatte, einfach nieder, um ein neues Gewehr zu probieren.
Salomone aber erwies ſich als der legendariſche Brigant, alfo als
der Rächer feiner Ehre und Schüger der Bedrängten. Oft fchidte
er Nahrungsmittel an arme Bauern oder Geld, wenn er hörte, daß
der Gerichtöpollzieher kommen werde. Die Mittel dazu aber nahm
er al3 Monarch der Campagna dadurd), daß er für die Gutsbeſitzer
ſeines Gebiets eine progrefjive Einkommenſteuer einführte, wodurch
et fie unter feinen Schuß ftellte. Auch fchonte er, wo er konnte, die
Gendarmen, weil fie für die Ungerechtigfeiten. ihrer Vorgeſetzten
nicht verantwortlich wären, wie er jagte. Er ftrafte nur diejenigen,
die ohne ftantlichen Auftrag Jagd auf ihn machten. Der Opfer aber
waren noch zwei, außer Dem Bürgermeifter. Da er auch darauf
9%
20 Sizilien: Brigant Salomone
hielt, daß ihn die öffentliche Meinung nicht falich beurteilte, fo
berichtete er jelbft über jede feiner Erpeditionen an die Zeitungen;
er war in feinen vielen Mußeftunden ein literarifcher Mann gewor⸗
den, der fogar Dante Göttliche Komödie auswendig gelernt
hatte, von der ihm die Hölle am beiten gefiel, weil in ihr der
Dichter auch diejenigen beftraft, die die weltliche Juſtiz verjchont
batte. |
Bor zwei Jahren wird Salomone durch Zufall gefangen, man
macht ihm den Prozeß, gleichzeitig mehreren andern, die feine Mit-
ſchuldigen gemwefen fein follen. Doch Salomone ift ein Ehrenmann,
der alle Schuld vor den Geſchworenen von Ealtanifetta auf fich nimmt
und konſequent leugnet, Mitarbeiter gehabt zu haben. Außerdem
enthüllt er, daß ihm, während er noch unbeſchränkter Herrfcher feines
Gebietes war, von einem Erabgeoröneten, der durch. Verdächtigung
der Sozialiſten wieder gewählt werben wollte, Hunderttaufend Lire
angeboten wurden, wenn er nach Amerika auswandern und in einem
Briefe erflären würde, daß er den Bürgermeilter auf Anftiften des
Sozialiſtenführers Bonfirarro getötet Habe. Aber Salomone be-
drohte den Vermittler, der ihm dies Angebot machte, mit dem Tode,
weil ein Brigant niemals Unjchuldige anklagt. Der Prozeß in
Caltanijetta mußte aus Gründen der öffentlichen Sicherheit abge-
brochen werden und wurde auf das Feitland verlegt. Sicherlich
werden die Geſchworenen von Perugia Salomone verurteilen.
Darüber macht fich diefer auch Feine Illuſionen; aber er will nur das
eine, daß die öffentliche Meinung ihn nicht für einen Banditen halte,
fondern daß fie ihm glaube, wenn er jagt, daß er jeinen Bürger-
meifter nur getötet habe, weil ihn diefer durch falſches Zeugnis
ing Gefängnis brachte und ihm obendrein auch noch die Geliebte
abipenjtig machte. Zu diefem Zwecke hat er auch die mit
feinem Gelbitporträt gejchmüdte Gejchichte feines Lebens in Verſe
gebracht. | |
Sizilien: Mafia 21
Die Mafia.
Was it die Mafia? Deutichland hat es bis zum Jahre 1893
nicht gewußt. Aber ald damals der Direktor der „Banca di Sicilia“,
Notarbartolo im Eifenbahnzuge erdolcht und auf die Schienen
geworfen wurde, kam eine Flut von Brofchüren und Büchern über
diefe Geheimgefellichaft heraus, die auch in Deutichland Aufmerf-
famfeit erregte. Als dann aber die gerichtliche Unterfuchung ich
jahrelang refultatlos hinjchleppte, verlor die Mafia bei und wieder
an aktuellem Smtereffe, zumal der Kondukteur und die Schaffner des
BZuge3, in dem der Direktor der fiziliichen Staatsbank gefahren war,
wegen Mangel? an Beweiſen freigelajlen werden mußten. Das
Intereſſe belebte fich wieder, al3 die Entlaffenen im Juli 1897 von
neuem verhaftet wurden, weil die Polizei unterdefjen neue Bemeije
befchafft, und unter anderem die „Alibi“ aufgededt hatte, welche ſehr
geichiet gefertigt worden waren, indem nämlich Mafiagenoſſen in
Tunis und auf dem italienifchen Feitlande unter dem Namen der
zur Tat Beltimmten Briefe abgeſchickt Hatten.
Es kam zu einem Prozeffe, der abgebrochen und zu neuer Ver⸗
handlung nad) Mailand verwiejen wurde, weil fich herausgejtellt
hatte, daß der „König von Palermo”, der Abgeordnete
Palizzolo, der Anftiftung des Mordes dringend verdächtig jchien.
Mittlerweile hatte die „Mafia“ Anfang 1898 wieder von id)
reden gemacht, weil neue „faits et gestes““ von ihr bekannt gewor⸗
den. Geit dem 24. Dftober 1897 waren nämlich zwei Kutſcher aus
Palermo, Giufeppe Caruſo und Vincenzo Io Porto verſchwunden,
und dag war um jo auffallender, al3 am 12. Oktober der Bäder
Angelo Tuttilmondo und der Wirt Francesco d'Alba ebenfalls
ſpurlos verſchwunden waren. Am 5. November nun fam eine Zoll-
patrouille an dem Gute Lagana in der Nähe des Seehoſpizes vorbei,
als fie einen penetranten Geruch ſpürten. Sie gingen über die
Wieſen zu einer Hippenartigen Anhöhe aus Kalfitein und entberkten
22 Sizilien: Mafia
eine Tropfiteinhöhle, an deren Ende fich ein dreißig Meter tiefer
Brunnen befand. Diefem Brummen entjtammte der Geruch. Die
Polizei erfchien und holte drei Leichen aus dem Schacht, die als die
Leichen von dreien der Verſchwundenen relognosziert wurden. Wo
der vierte Vermißte, der Wirt d'Alba hingekommen, konnte nicht auf»
geflärt werden. Die fizilianifchen Blätter waren einig, daß es ſich
hier um eine Hinrichtung durch die „.mafia“ Handle, und R. Gianelli
Schrieb darauf in feinem Buche „La Sicilia e il commissariato
civile“: „Die mafia ift die unfaßbare vielformige Vereinigung von
Perfonen jeder Art zu dem Zwecke genofjenjchaftlicher Unterjtügung,
wenn e3 fich darum handelt, Geſetz und Moral einen Streich zu
fpielen, zum Beifpiel, wenn e3 gilt, einen Raubmord, eine Entfüh-
rung, eine Erpreffung auszuführen, oder die Lebensmittelpreiſe zu
jteigern und hochzuhalten, oder ein Tejtament zu fäljchen, oder gar
den Gang eines Kriminalprozefjes zu hemmen — unlängjt fpielte
in einer großen Stadt Giziliens ein Prozeß gegen eine ganze Jury,
die fich Hatte kaufen laſſen — fchließlich auch darum, die eigenen
Genoſſen in einflußreiche Ämter und Wahllörper hineinzubringen.
Ihren Urſprung verdankt diejer Geheimbund der Zeit der höchiten
Unfreiheit der Sizilianer, alſo der Zeit, al3 Sarazenen- und Junker⸗
herrſchaft am feftejten begründet war. Weil damals das Volk beim
Richter fein Gehör fand, ja fich durch Anrufung des Gericht? noch
feine Not verjchärfte, jo griff e3 eben zur Selbithilfe. Heute aber ift
die mafia nur noch eine Verbrechergenofjenschaft, zu der ſowohl der
Berbrecher von Profeſſion, wie der Brigant in ven Bergen als auch
der Salonlömwe der feinen Gejellichaft gehört. Und daß dieſe Ge-
noffenjchaft jo erfolgreich wirken kann, verdankt fie eben der Berbrei-
tung in allen Geſellſchaftsſchichten, ſowie aud) der Furcht, die das
fizilianifche Volk vor ihr hat. So kommt es, daß, wenn Sizilien auch
die größte Zahl von Verbrechen aufzumeijen hat, e3 zum Ausgleich
jich auch der größten Zahl von Freifprüchen rühmen darf." Wie die
‚mafia arbeitet, dafür. liefert R. Gianelli jehr hübjche Anefooten,
Sizilien: Mafia 23
Eines Tages erhielt ein fizilianischer Baron einen Erprefjungsbrief,
dem bald andere folgten. Als kluger Mann wandte er ſich nicht an
die Polizei, fondern ging zu einem Herrn der „Gefellichaft”, einem
„signore“, von dem er wußte, daß man ihn für ein Mitglied der
mafia halte. Diefer gab ihm einen Empfehlungsbrief an einen
Amtsrichter im Gebirge, und diejer war jo freundlich, dem Gevatter
Pfarrer eines Nachbarort3 zu fchreiben, er möge den Überbringer
des Briefes, wie einen „Bruder” bedienen und — der Pfarrer tat
auch, wie ihm geheißen, er ftelfte nämlich den Schußflehenden drei
berühmten Brigantenchef3 vor; diefe übernahmen das Patronat
über ihn — und feit der Zeit hatte der Herr Baron über fein Beläfti-
gungen mehr zu Hagen. Viel ungemütlicher erging es dem in
Sizilien jehr befannten Baron Aprigo. Eines Tages erichienen
auf feinem Gute, am hellen Mittag, ſechs falſche Karabinieri und
verhafteten ihn vom Felde weg in Gegenwart feiner Verwalter und
Arbeiter. Die Familie wurde benachrichtigt, daß die Enthaftung
120 000 Lire Eoften würde, und dies Löſegeld wurde auch bezahlt.
Cinige Wochen ſpäter wurden die vermeintlichen Karabinieri ver-
haftet, und man fand bei ihnen auch die Abrechnung für die Verteilung
des Löſegeldes. Die ſechs Pſeudokarabinieri hatten jeder 2000 Lire
erhalten, 8000 Lire waren zur Beichaffung der Uniformen und Aus-
rüftungen und als Trinkgeld an Kleinere Hehler verbraucht worden,
wohin aber der Reit von 100 000 Lire geraten war, iſt nie entdedt
worden.
Sm Dezember 1899 beſchäftigte die mafia auch die Politik. Die
Verhandlungen im Mailänder Prozeſſe hatten die Verdachtsgründe
gegen den Abgeordneten Palizzolo jo verftärkt, daß der Prozeß
Notarbartolo dem Gerichtsfaal entzogen und wegen des Problems
der Abgeordnetenimmunität der Politif überwiejen werden mußte.
Seit Monaten drehte ſich das ganze politische Intereſſe um den
Gegenſatz zwilchen Nord und Süd, und gerade als der Kampf der
geographijch-politifchen Gegenſätze am jchärfiten wurde, erreichte
24 Sizilien: Fall Palizzolo
auch der Prozeß Notarbartolo den Höhepunkt. Die öffentliche
Meinung ftand vor der verblüffenden Tatfache, daß ein Menfch,
den 1893 ganz Palermo als den Anftifter eines Mordes betrachtete,
unbehelligt Abgeoröneter bleiben konnte, und e3 entmwidelte fich all-
mäblich wieder die „Moralität3-Hochflut”, wie fie 1893 zur Zeit des
Banca Romanaſtandals beobachtet wurde. Der Minifter Pelloug
mußte aljo, wenn die Oppofition nicht eine furchtbare Waffe gegen
ihn ſchwingen follte, allen parlamentarijchen Rüdfichten zum Troß,
durch die fich feine Vorgänger beeinflujfen ließen, energifch gegen
die Mafia in Sizilien und gegen deren gefürchtetes Haupt Palizzolo
borgehen. Und wie er vorging, das verdient alle Anerkennung.
Es ſcheint, daß Pellour den Fall Paligzolo benubte, um ſich
mit einem Schlage Gottesfrieden vor der Oppofition zu fchaffen.
Er ließ durch feine Leute zuerft verbreiten, daß er entichloffen fei,
beim geringften Verſuch die Obftruftion zu erneuern, ſofort die
Kammer aufzulöfen, jelbft auf die Gefahr Hin, daß Neumahlen
im Dezember, aljo im ungünftigften Monate, ftattfinden follten.
Dadurch gewann er alle Abgeordnete, denen ihr Mandat lieb ift,
nicht nur bei der Mafje der Ja⸗Abgeordneten, fondern auch auf
der Linken. Zudem fuchte Pellour alles Hinmwegzunehmen, mag,
um mit den italienischen Ordnungsparteien zu reden, geeignet ift,
die „radikale Deklamation” zu fördern.
Den Hauptichlag führte der Premierminifter Pellour am
8. Dezember 1899. Die Sozialiften hatten fchon begonnen, fid als
die einzigen mutigen Vertreter der Moral aufzufpielen, und der
feurige Abg. de Yelice hatte durch feine große Nede gegen
Catilina-PBalizzolo Schon feine frühere Popularität wieder gewonnen.
Es mußte aljo etwas getan werden. Und was Pellour tat, zeugt
von großer Gefchidlichkeit. Palizzolo trat jo dreift in Palermo auf,
daß der Verdacht entftehen mußte, der Geheimbund habe feine Flucht
ichon organifiert, fall der Staatsanwalt bei der Kammer feine
Auslieferung beantragen werde. Schon vor vierzehn Tagen Hatte
Sizilien: Fall Palizzolo 25
daher Pellour die Überwachung des gefährlichen „Königs von
Palermo” befohlen. Auch die große Schwierigkeit, die darin befteht,
daß ein Abgeordneter nur dann ausgeliefert werden kann, wenn die
„prova specifica“ gegen ihn vorliegt, hatte Pellour in aller Stille
überwunden. Wie, das iſt noch unbelannt. Genug, der erſte Staats⸗
anwalt von Palermo, im Gefühl der Sicherheit, daß dieſes Mal die
Regierung ihn dede, verfchaffte fich die Ichlagenden Beweiſe, wie
ed in eingeweihten Kreifen heißt, daß Palizzolo ein Bankräuber
war, und daß, follte er nicht ruiniert werden, der Direktor der Bank
von Gizilien verſchwinden mußte. Nun konnte der erfte Staats-
anwalt Eojenza vorgehen. Am 6. Dezember fchrieb diefer von
Palermo an den Suftizminifter und bat um die ftrafrechtliche Ver⸗
folgung Palizzolos. Trotz der Mafia war es möglich, Died Schreiben
geheim zu halten. Am Morgen des achten erhielt Cofenza von Rom
aus telegraphiſche Empfangsbeftätigung, zugleich aber auch der
Volizeidireltor von Palermo Anweiſung, von drei Uhr ab Fein
einzige Telegramm vom Feillande nad) Sizilien durchgehen und
zugleich da3 Haus Palizzolos umftellen zu laffen. Palizzolo hatte
keine Ahnung; morgens machte er einen Spaziergang und erklärte
ment immer, daß niemand wagen würde, ihn zu verfolgen, da man
feine Enthüllungen fürchte. Nacjmittags kehrte er ebenfo ficher und
ahnungslos nad) Haufe zurüd. Nach drei Uhr präfentierte der
Suftizminifter dem Kammerpräfidenten den Antrag des eriten Staats⸗
anwalts von Palermo, und nun entwidelte ſich Schlag auf Schlag
eine tragifche Szene. Abgeordneter Sonnino empfahl die Dring-
Yichleit der Beratung des Auglieferungsantrages, und zu aller Er-
Staunen tat Pelloux desgleichen mit den Worten: „Wenn heute noch
die Auslieferung beichloffen wird, kann ich die Verhaftung garan-
tieren!” Die Bureaux der Kammer traten zufammen und, obgleich
der Brief des Palermitaner Staatsanwalt3 die „prova specifica“
nicht andeutete, alſo ein Yormfehler vorlag, mußten Doch die Freunde
des Premierminifterd alle DOpponenten mit dem Hinweiſe zu be
26 Sizilien: Fall Palizzolo
ihwichtigen, daß gegenüber einem Geheimbund Ausnahmemaß-
regeln geboten feien. Raſch wurde nun die Angelegenheit erledigt.
Bor fieben Uhr war fchon der Befehl zur Verhaftung Palizzolos
in den Händen des Polizeidireftors von Palermo. Um halb acht Uhr
trat ein Polizeikommiſſar in das Schlafzimmer Palizzolos, der ſchon
im Bette lag und mit feinen Schweitern und Brüdern plauderte,
und jagte: „Die Polizeidirektion wünſcht Sie zu ſprechen!“ Palizzolo,
der gar nicht an die Möglichkeit einer Verhaftung dachte, fagte gleich-
gültig: „Gut, ich komme gleich." Da erſchien ein Polizeiinſpektor,
und jet erjt begriff der aus allen Himmeln der Macht geftürzte
Mann die Wirklichkeit. Cr erblaßte und fragte: „Hat die Kammer
mid) auägeliefert? Haben Sie fchon den Haftbefehl?” und auf die
bejahende Antwort der Polizeibeamten brad er in ein erjchütterndes
Schluchzen aus. Dann nahm er Abjchied von feinen Schmeftern
und einem der Brüder, der Artilleriemajor ift, und bejtieg den
geichloffenen Wagen, der ihn zum Gefängnis brachte. Dem Duäftor
erklärte er dort, daß er hoffe, in Palermo ſelbſt gerichtet zu werden,
denn außerhalb der Inſel würden troß feiner Unschuld feine Feinde
über ihn teiumphieren. Erſt um achteinhalb Uhr wurde der tele-
graphiiche Dienjt mit dem Feltlande wieder aufgenommen, fo daß
die Einwohner von Palermo erft in [päter Nacht von den Kammer⸗
ereigniffen und der Verhaftung Palizzolos erfuhren.
Palizzolo jaß lange in Unterfuchungshaft, erft am 23. Oftober
1%00 wurde er durch Gerichtöbejchluß vor die Geſchworenen ver-
wieſen, zunächit wegen Mitjchuld an dem Morde eines Mafiagenoffen,
Miceli, dann am 18. November wegen Anftiftung zur Ermordung
des Bankdirektors Notarbartolo. Am 9. Juli 1%01 erft begann
der Prozeß gegen ihn und zwar in Bologna, weil man den Ge-
Ihmorenen von Palermo nicht getraut hatte. Wieder verging
geraume Zeit. Über ein Jahr. Palizzolo wurde 31. Juli 1903 mit
zwei Genoſſen zu dreißig Jahren Zuchthaus verurteilt. Doch damit
mar die Affäre noch nicht zu Ende. Palizzolo legte Berufung ein,
Sizilien: Fall Palizzolo 27
und am 28. Sanuar 1903 verfügte der Kaſſationshof in Rom, daß
‚der Prozeß von Bologna als null und nichtig zu betrachten und ein
neuer vor den Geſchworenen in Florenz zu eröffnen wäre. Auch
diefer Prozeß zog fich fehr in die Länge, vermehrte die Koften des
Falls, den die Staatskaſſe zu tragen hatte, um weitere Hundert-
taufende von Lire und — endete zu allgemeiner Verwunderung
mit der Freiſprechung Palizzolos. Diefer hielt ſich darauf ganz
dem öffentlichen Leben fern, erjt Anfang 1908 machte er wieder von
ih reden, alß er nach Nordamerika ging, um ſich dort nach berühmten
Muftern durch eine Vorlefungstournee Geld zu machen.
Das Erdbeben in Ralabrien
vom 8. September 1905.
Von Neapel nach Reggio Calabria.
ur Orientierung de Leſers dürfte e3 fich empfehlen, einen kurzen
3 Blid auf Die Gegend zu werfen, die der Schauplat der lebten
ſeismiſchen Bewegungen mar, namentlich) 1894, 1905, 1907 und
1908/1%9, auch aus dem Grunde, weil der Strom der Touriften,
der ſich nad) Sizilien ergießt, entweder zu Schiffe von Neapel aus
feinem Ziele zuftrebt, oder, fall er den Landweg vorzieht, meift
von diefem jchönen Küſtenſtrich nicht? zu fehen befommt, denn der
einzige Schnellzug fährt nur nachts. Und doch verdient das von
der europäiichen Kultur noch unbeledte Talabrijche Geftade einen
Beſuch aller derer, die für mild romantische Landfchaftspracht und
urmwüchlige3 Vollstum Intereſſe haben. Freilich müſſen fich ſolche
Freunde der Natur und des Folklore jchon einige Tage Zeit nehmen
und dürfen auch nicht erbojen, wenn jie in den Talabrefiichen Fels⸗
neftern nicht allen Komfort finden, den Berlin, Paris, Rom zu
bieten gewohnt find.
Die Eifenbahnitrede von Neapel nad) Reggio Ealabria ift 473km
lang. Schon nad) dem achten Kilometer, bei Bortici, dem Schau-
plab der Oper „Die Stumme”, wird man daran erinnert, daß die
Fahrt in uraltes Erdbebengebiet führt; denn die Stadt ift ebenfo wie
das nahe Refina auf der Stätte des alten Herculanum aufgebaut.
Die Bahn läuft nun eine ziemliche Strede dem Meere entlang und
durchbricht den Lavaſtrom von 1794, der 650 m breit und 12 m tief
if. Bei dem 12, km erreichen wir Torre del Greco, da
Kalabrien: Nach Reggio 29
auf der Lava Steht, die e3 1631 verjchüttete. Es wurde fpäter noch
oftmal3 vom tüdifchen Veſuv heimgejucht, jo 1737, 1794 und 1861.
Dazwiſchen litt e8 noch unter dem Eröbeben von 1857. Km 24
Pompeji, die berühmte tote Stadt. 31 km Angriffmit -
dem Schloß und Park des Principe D’Angri. Hier lag das berühmte
Schlachtfeld, mo 553 n. Chr. Narjes mit feinen Byzantinern den
legten König der Dftgoten, Teja3 fchlug umd tötete. Bei km 35
folgt Bagani, das jedem frommen Katholiten gefallen dürfte,
da in feiner Hauptlirche die Reliquien des Moraliſten, des Heiligen
Alfonfo von Liguori (1696—1787), verehrt werden. Die Eifenbahn
rüdt immer mehr landeinwärts von der Halbinfel Sorrent ab. Bei
km 37 berührt fie die alte Stadt Nocera dei Bagani, in
dejlen Kaſtell Elena, die Witwe des Hohenſtaufenkönigs Manfred,
der von Carl von Anjou 1266 in der Schlacht von Benevent um Leben
und Thron gebracht worden war, als Gefangene ftarb. Zehn Kilo-
meter weiter grüßt das 300 m hoch gelegene Tourijtenzentrum
Cava dei Tirreni, dad auch durch ein weltberühmtes Bene-
diktinerklofter bekannt ift. Nun rajt der Zug in jähen Windungen
zum Golf von Salerno hinunter, zur ſchönen Stadt gleichen
Namens, die nicht nur dadurd) berühmt ift, daß in ihr Gregor VII,
der Feind des deutfchen Kaifer3 Heinrich IV, im Eril ftarb, als ihn
der Normannenherzog Robert Guiscard aus Nom vertrieben hatte,
ſondern auch durch feine Ürztefchule, die das ganze Mittelalter hin⸗
durch eine große Rolle pielte.
Hinter Salerno kommen wir in öde Steppe, wo Büffel und
Rinder meiden und die verheerende Malaria hauſt. In Batti«-
paglia (73 km) gibt es längeren Aufenthalt, da hier die Bahn
nach Brindifi und Tarent abzweigt. Einundzwanzig Kilometer
jüdficher grüßen die Tempel von Ba ejtum, bis wohin die meiften
Neifenden vordringen, die längeren Aufenthalt in Neapel zu machen
pflegen. Dieſe Tempel übertreffen bekanntlich an Schönheit alle
andren, die aus den Tagen der Antike noch in Stalien ragen, und
30 Kalabrien: Landichaftspracht
Nebenbuhler haben fie nur in den Tempeln von Athen. Paeftum,
oder wie e3 urjprünglich hieß, Pofeidonia, war fechshundert vor
Chriſtus von Sybaris am jonischen Meere gegründet worden und
ging 273 dv. Chr. in die Hände der Römer über. Schon in den erſten
Beiten des römischen Kaiferreich3 begann die Verſumpfung feines
Gebiets, jo daß die Malaria um fich griff, und die Stadt, deren
Roſenpracht Dvid, Virgil, Martial befangen, begann zu verfallen.
Im neunten Sahrhundert plünderten fie die Sarazenen, und im
elften Robert Guiscard, der noch viele herrliche Statuen und Säulen
vorfand und fortichleppte.
Km 103. Agropoli. Wieder eine griechiſche Stadt, wie
ſchon ihr Name beſagt. Über ihr thronen die Ruinen eines mächtigen
Kaſtells. Die Bahn verläßt wiederum das Meer, um den Monte
Stella (1130 m) zu umgehen, und nun folgt Tunnel auf Tunnel.
Erſt in Caſal Velino (km 127) berührt fie wieder den Strand,
der von nun an ftarf dem Liguriens zwilchen Genua und Spezia —
auch, was die vielen Tunnel anbetrifft — ähnelt. Km 140 fommt
da3 von Strabon erwähnte Promontorium Piruti, jebt mit dem
Ort Pisciotta, deſſen alte Kaſtellruine an die Zeiten erinnert,
wo Sich die Kalabreſen gegen die Emfälle der Korjaren und faraze-
niſchen Flibuftier Hinter feſten Mauern jchügen mußten. Die Be-
völferung, die vom Fifchfang und Olbau Iebt, zeigt noch alte, pitto-
resfe Landestradht. Städtlein, Felönefter, Bergftröme, Schluchten,
Viadukte, ſchöne Keine Meerbufen, entzüden nun in raſchem Auf-
einander das Auge des Reiſenden. 170 km kommt wieder ein
größerer Ort, Bolicaftro, der auch vielen Sturm im wilden
Mittelalter erlebte, dann Sa pri (180 km), wo 1859 der berühmte
Putſchverſuch Pisacanes fcheiterte, der ein Jahr vor Garibaldi den
Thron der neapolitanischen Bourbons umftürzen wollte. |
Die Berge rüden jet auf eine Strede von 150 Kilometern dichter
und fchroffer an das Meer heran, fo daß die Bahn = " an era
lichen Kunjtbauten.
Kalabrien: Blaue Grotten 3
Landichaftliche Pracht erften Ranges, aud) bizarren Charakters,
bietet vor allem Praia D’Ajeta mit der vorgelagerten Inſel
Dino (isola di Dino), die einem geftrandeten Rieſenwalfiſch
gleicht. Sie hat jchönere blaue Grotten als die von Capri, aber fie
liegt auch zu fern ab vom Weltverfehr. Die erjte, Freisrund, wird
. von einer natürlichen Kuppel überdacht, die 30 m im Durchmefler
hat. Auf Hundertundvierzig Stufen fteigt man zur zweiten, die
ebenfalls Freisförmig ift und einen Umfang von 168 m hat. In
ber dritten, zu der man auf jechzehn breiten Stufen gelangt, findet
man eine Kapelle mit drei Altären, die 1326 ein Handelskapitän
aus Ragufa errichtete. Durch natürliche Offnungen an der Dede
erhalten die von feltfamen Stalaktiten gefüllten Grotten ihr Licht.
Nach) einem Dubend von Städtchen empfängt una bei km 274
Paola, das in feiner malerifhen Lage an Aſſiſi ermnert. Wir
fommen nach dem eigentlichen Kalabrien und zwar in die Provinz
Catanzaro. Hier wurde der Stifter des Ordens der Minimi, einer
Abart der Franziskaner, San Franzesco di Paola geboren, dem
zu Ehren auch über der Stadt noch ein berühmtes Klofter ragt.
Kaleidoffopifch drängt num ein Städtchen das andere, bis Der
ftilfe Golf von Sant Eufemia erglänzt mit der Station gleichen
Namens, an der die Querbahn nah Catanzaro und dem
jonifhen Meere abgeht.
357 km Piz30, malerifch gelegen und Hiftorifch eine Größe;
denn in feinem alten Schloffe endete Murat, Napoleons Marjchall
und König von Neapel, 1815 durch Erſchießung. Drei Kilometer
weiter fchimmert aus einer Höhe von 50 m Monteleone aus
dichtem Waldrahmen hervor, gebildet von Olbäumen und Kaftanien.
Das große Erdbeben von 1783 zerftörte feine Kirchen und Paläfte,
ſowie da3 alte Trußfaftell, das der Normannenherzog Roger errichtet
hatte.
wis Über Briatico, Barghelia,Tropeaund$oppolo
führt und dann der Zug nad Nicotera, das fi) wiederum
32 Kalabrien: Charybdis
einer jehr jchönen, hohen Lage erfreut, ſowie eines ewigen Früh-
ling. Es folgt Gioja Tauro, mwo die Provinz Reggio
Calabria beginnt, und dann die Wald- und Palmenſtadt
PBalmi, wo fchon tropiiches Klima herricht, wie die vielen Baum-
wollplantagen beweiſen. Es ift eine jehr junge Stadt im Vergleich
zu ihren Nachbarinmen; denn fie wurde erſt im flinfzehnten Jahr⸗
hundert erbaut. Charakteriftiich ift ihr Hauptplag, von dem acht
mit Prachthäuſern beftandene Straßen ausgehen. In der Nähe
liegt der ausſichtsreiche Monte Elia (580 m), und öſtlich das Städt-
chen Oppido, das 1783 Zentrum des fürchterlichen Erdbebens
war, das außer Palmi die ganze Ealabrifche Küfte, ja auch Meffina
zeritörte. |
Der Zug windet fich langſam bis Bagnara (441 km), einer
Stadt, die ganz orientalifchen Charakter zeigt, wegen ihrer weißen,
flachdachigen Häufer. Sie ift ſtark industriell, da fie Wachs⸗ und
Alkoholfabriken hat. Die Pracht der Vegetation fteigt jebt von Kilo⸗
meter zu Silometer, überall erblidt man Orangenbäume und
Opuntienkaktus (indische Feige), dazwiſchen folgen aud) Steppen und
Geröllgalden. Dann kommen wir in Haffiiche Gefilde, die Vater
Homer bejang, nad) Scilla, dem fchönften Städtchen an diefer
Küfte. (Schlla und Charybdis ſ. u) Km 452 erfcheint die Meerenge
von Mefjina bei Billa San Giovanni, dejjen Umgebung
ein Zaubergarten zu fein fcheint. Auch es ift ſehr rege in Handel
und Induſtrie, da es feine Lage — e3 ift Meſſina am nächiten ge-
legen — auszunugen verjtand. Bald kommt Catona, das in der
antifen Mythologie des Erdbebens eine Rolle fpielt, und nad
Santa Caterina, Reggio Salabria, die Stadt, deren
Untergang am 28. Dezember 1908 noch jet alle fühlenden Menichen
erichauern läßt.
Kalabrien: Erobebengeichichte 33
Die Rataftrophe vom 8. September 1905.
Rom, 9. September 1905.
Wiederum wurde Kalabrien, das „Haffifche Land der Erdbeben“,
von einer Erdbeben-Kataſtrophe betroffen. Wie groß
fie ift und mie hoch ſich die Zahl der Verlufte an Menfchen beläuft,
ift noch nicht abzufehen, da die Verkehrsverhältniſſe in dem ftarf
vernachläfligten Lande an und für fich fchon zu wünschen übrig laſſen
und der telegraphiiche Dienft durch Unterbrechung vieler Linien
geitört iſt. Dazu kommt, daß in den Heinen Bergneftern oft auch
die Männer fehlen, die imjtande wären, irgend welchen Bericht
abzufaffen. Bis jetzt heißt es, daß mehrere Städte und Dörfer
vollftändig zerftört und 400 Menjchen getötet feien.
Die Kataftrophe brach, wie das furchtbare Erdbeben von Caſa⸗
micciola, mitten in der Nacht — um halb drei Uhr — auf die ahnungs⸗
Iofen Kalabreſer ein. Am meilten betroffen wurde Pizzo und
Umgegend. Die Stadt Pizzo ift faft gänzlich zerftört. Dasfelbe
gilt von den benachbarten Orten Parghelia, Sant Onofrio, Stefana-
coni, Piscopio und Martirtana. Im letzteren Orte fielen alle Häufer
ein, und die Zahl der unter den Trümmern Begrabenen wird ald
jehr groß bezeichnet. Auch in&atanzaro richfere das Erdbeben
großen Schaden an. Hier rebellierten, von Schrecken erfaßt, die
Inſaſſen der Gefängniffe und Hojpitäler und konnten nur mit
Mühe berubigt werden. Hart betroffen wurden in der Nähe Catan-
zaros Borgia, Grifalco, Montauro, Dlivadi. Schwer litten auch
Kicaftro und Reggio Calabria, Palmi, Coſenza. In Meffina,
wo im Nu 60 000 Menjchen an den Strand und in die Yelder flüch⸗
teten und ſich ebenfalls die Gefangenen und Hojpitalfranfen empörten,
ſcheint der Schreden größer gemwefen zu fein alö der Schaden. Privat-
telegramme des „Giornale d'Italia“ aus Monteleone bei
Pizzo melden: In Stefanaconi alle Häufer zerjtört; 100 Tote. In
Piscopio alle Häufer zerjtört, 50 Tote. In Triparni Zerftörung aller
Bader: Im Lande des Erdbebens. 3
34 Kalabrien: Erdbebengeſchichte
Häufer, 60 Tote. In San Gregorio 65 Tote. In Mileto 10 Tote
und 200 Berwundete uſw. Das Beben dauerte fünfundzivanzig
Gefunden. Einzelheiten über die Schredenäfzenen fehlen noch. Es
werden auch von Pizzo allerlei „komiſche“ Zwiſchenfälle gemeldet.
Viele Leute glaubten im erjten Schreden, Diebe feien ind Haus
gebrochen und fchoflen mit Revolver; Brüder, die zufammen
jchliefen, prügelten ſich durch, weil fie glaubten, der andere habe
fie durch böfen Scherz gewedt. Auch von Fällen plöglicher Geiftes-
ftörung wird berichtet. So ftürzte fich in Meſſina ein Priefter in
völliger Geiftesumnachtung vom Balkon, ohne fich aber viel Schaden
zu tun.
Die Kataftrophe wird um fo fehmerzlicher empfunden, al
ſich gerade jest Kalabrien in großen Hoffnungen wiegte. Dies
herrliche Land, das feit einem Menfchenalter vom Norden Italiens
ganz vergeflen wurde, und dag dazu durch den Krieg der Eifenbahn-
gejellichaften litt, war in der leßten Zeit vom Eifenbahnminifter
Ferrari bereift worden und hatte von ihm die feierliche Ver⸗
jiherung erhalten, daß die erjte Sorge der Negierung fein werde,
die großen Städte des jonischen Meeres mit denen des tyrrheniſchen
Meeres zu verbinden. Natürlich wird jetzt ganz Stalien wieder durch
Geldſammlungen dem Eröbebengebiete beifpringen, wie es auch
bei dem legten Erdbeben von 1894 geſchah. Dabei ift aber zu
hoffen, daß fich nicht die Mißſtände wiederholen, die ſich damals
zeigten und die zu einer parlamentarischen Enquete führten, durch
welche arge Unterjchleife entdedt wurden. Wie weit damals die
Korruption ging, zeigte fich auch darin, daß der römische Preffeverein
ſich weigerte, die von ihm gejammelten Beiträge der Regierung
auszufolgen und fir die Verteilung felbit forgte.
Was die Erdbebengejhihte Kalabrien: am
betrifft, da3 zwifchen den drei Vulkanen Veſuv, Stromboli, Atna
liegt, jo wird als erſtes, Hiftorisch beglaubigte Erdbeben dad von
626 verzeichnet. Aus dem Mittelalter fehlen Nachrichten. Aus der
Kalabrien: Nach Catanzaro 35
neueften Zeit find berühmt die Erdbeben von 1783 (5. Februar),
da3 hundert Sekunden dauerte und 32000 Menfichen tötete, und
dasjenige vom 26. Juli 1804. Das Erdbeben von 1894 betraf diejelbe
Gegend mie die jebige, aljo das Gebiet von Reggio Calabria bis
Palmi. Auch diejes wie dag jeige Erdbeben wurden durch eine
höhere Tätigkeit de8 Stromboli = den lipariſchen —
——
Catanzaro, 12. September 1905.
Schon vor Jahren hatte ich das fchöne Land bejucht, von deſſen
Elend jett die Welt ſpricht; doch immer blieb ic) an der Hüfte, die
ich im Weften bid Reggio Calabria, im Often aber nur bis zur Gegend
von Metaponto Termen lernte. Dieſes Mal ging die Reife auch ind
Innere — des Erdbebenſchreckens wegen. Im Coupe
ſaßen außer mir nur Amerifaner. Sie äußerten laut ihre Sehnjucht,
den Befu zu fchauen, — naid, wie dieje Stalienfahrer nun einmal
find. Auch ich war neugierig, den Feuerberg zu jehen, der gleich
zeitig mit dem Erdbeben von Kalabrien eine neue, friſche Tätigkeit
begonnen hatte. Hinter Averſa fah er ganz unfchuldig aus, wie
ein Alter, der ruhig fein Pfeifchen ſchmaucht. Aber plötlich ſandte
er wohl fünfzig Meter hoch eine dichte, fchmarze Rauchſäule
auf, der eine weiße al Dualmbrodem-Bafis diente. Im nächſten
Augenbiide war die Säule zur Form eines Rieſenſchneckenhauſes
zulammengejunfen, dann glich fie einer phrygiſchen Mütze, die einen
riejigen Freiheitsbaum krönte. Am Abend jah ich den Veſuv wieder.
Er war ſchwarz, düſter. Links unter dem Hauptgipfel erglühte die
Lada al unangenehmes Warnungsfignal in der Form einer
tiefigen Zwei, zu der, von Rauchnebel umhüllt, immer neuer Glut⸗
ſtrom herunterfloß. Gleich darauf hatte die große „2" die Form
einer Ellipfe angenommen.
Auf dem Neapler Bahnhof Herrichte einiges Getümmel, aber
wer da weiß, daß zu dem einzigen Schnellzug, der täglich Neapel
38
3 Kalabrien: Nach Satanzaro
mit Reggio Salabria verbindet, jtet3 ein ärgerliches Drängen ftatt-
findet, der vermochte nicht3 Beſonderes zu entdeden, was an das
Erdbeben im Süden erinnert hätte, zumal um diefe Zeit nad) dem
Ende des Manövers jedesmal viele Offiziere und Soldaten zu teilen
pflegen. Erſt als ich auf der langen Fahrt dann und wann durch
übermäßiges Gepfeife der Lokomotiven und das öftere brüsfe Halten
de3 Zuges gemwedt wurde, merkte ich die Folgen der Kataftrophe.
Die Eijenbahnlinie wurde nämlich zwar nirgends zerftört, jedoch fo
ernftlich in Mitleidenfchaft gezogen, daß an vielen Stellen der Zug
jich nur mit der größten Borficht und unter Beobachtung des weiſeſten
Krähwinkler Zeitmaßes vorwärts taften durfte. Das ſetzte natürlich
mehrjtündige Berjpätungen ab, die für einen ftärkungsbedürftigen
Reiſenden recht mittelmäßig angenehm waren; denn wer fich auf
die wenigen „Buffet3” an dieſer vermahrloften Strede verließ, der
mar verlaffen.
Das Erdbeben vergaß ich bald, als ich durch die Mondſchein⸗
landſchaft an Pom peji, an Cava Tirreni vorüberfuhr und
von Vietri aus nach Salerno hinunterſauſte. Welche Pracht!
Bas iſt Monte Carlo mit feinen üppig⸗eleganten Park- und Meer⸗
buchtwundern gegen Salerno, feinen Golf, gegen die amalfitanifche
Küſte bei Vollmond! Die Stadt Robert Guiscards und Gregor VII
lag bald hinter ung. Der Zug flog in verdoppelter Eile dahin, denn
feine Lenker wußten, daß fie im Süden ein Schnedentempo ein-
halten müßten, und ihre Baflagiere: Soldaten, Krankenſchweſtern,
Singenieure, Beamte, Ärzte, hatten es doch eilig, zur Stätte des
Elends zu kommen.
Wieder vergeſſe ich das Erdbeben. Baeftum mit feinen von
goldigem Nebel umfloffenen Tempeln mahnt an das herrliche Einft,
an die Glorie von Großgriechenland! Bald naht die zerflüftete
Küfte mit ihren Felskegeln, Felspyramiden, Buchten, Bergnejtern,
Kaftellen und Wachttürmen. Wem das Glüd beichieden ift, dieje
Reife bei Vollmond zu machen, der kann über Landſchaftspoeſie und
Kalabrien: Eifenbahnen 37
Raturromantik ein Wort mitreden. Und welche Sternenpracht erft!
So phantaftifch, daß man kaum feinen Mugen traut. Ind das Meer!
Blaufilbern leuchtet es herüber.
Um vier Uhr morgens erreichen wir das amphitheatraliich auf-
gebaute Paola (274 km ſüdlich von Neapel), eine Stadt, intereſ⸗
ſant für den Verkehrspolitiker. Sie wäre nämlich eigentlich der
nädjfte Hafen für die Provinzhauptftadt Coſen za. Aber die
Berge und die — Langfamleit in Stalien laſſen e3 nicht fo weit
kommen. Noch erreicht man Cofenza von hier aus mit der Diligence,
die zehn Stunden braucht, der bequeme Eifenbahnreifende jedoch,
der in Neapel den Durchgangsmagen NapoliColenza beftiegen hat,
fährt von Paola zunächſt 57 km füdlich, dann 47 km quer bis zum
Sonischen Meer, hier 173 km nördlich bis Sibari, und von dort noch
68 km ſüdweſtlich, ehe er Eofenza erreicht. — Ich verweile abjichtlich
auf diefem Ummege von nur 345 (!) km, um ein Bild von den Ber-
kehrsſchwierigkeiten in Kalabrien zu geben, unter denen der Hilfg-
dienft jebt jo jämmerlich leidet. |
Im Halbdunfel war in Paola vom Erdbebenfchred nichts zu
bemerfen. Dazfelbe galt von FSiumefreddo (282 km), von
dem die erjten Berichte jehr Schaudervofles hatten melden können,
und von Amantea (289 km), wo vorgeftern noch die halbe
Bevölkerung am Meerezufer kampiert haben follte. Sch fand aber
den Strand menfchenleer. ErftinNoceraTirineje(313km),
d. h. der Station, Denn das Städtchen liegt noch 7 km landeinwärts,
zeigte fich mir der Schredeen des Erdbebens. Gegen den Fahrplan
hielt der Zug hier. Plötzlich erfchienen auf einem Landungsdamm
ein Dutzend ftiller, vertwahrlofter Menfchen und aus vier Eifenbahn-
wagen, die auf einem Seitengeleije jtanden, verjchlafene Infanterie⸗
Offiziere und Soldaten. Aus einem Gepädiwagen wurden Dubende
von Süden, die Brot enthielten, ausgemorfen. Gleich darauf kam
von den Höhen eine Karawane von Eieltreibern und Karren. Lautlos
gingen fie ans Aufladen. Eine Zeitlang dachte ich ang Ausfteigen,
38 Kalabrien: PBrophezeihungen
denn das Brot war für den Nachbarort von Nocera Tirinefe, Mar-
tirana, beftimmt, der volljtändig zerftört wurde, ohne daß zum
Glück viele Menjchenopfer zu beflagen wären. Aber der Stationschef
riet mirab. „Wagen finden Sie nicht, und ein Pferd, mit dem allein
Sie die lebte Strede aus Mangel einer guten Straße machen könnten,
dürfte auch ſchwer aufzutreiben fein.” Unter diefen Umftänden
beichloß ich zu warten und zunädjit; da wegen der Anweſenheit des
Königs in Monteleone, dem Zentrum des Erdbebens, feine
Unterkunft zu finden wäre, nad) der Hauptftadt der Provinz, Satam-
zaro, durchzufahren, wo ich ficher offizielle Nachrichten über den
Geſamtſchaden und Mittel zur Orientierung finden würde.
Der Entichluß war weniger fchnell auzgeführt als gefaßt. Mit
vierftündiger Berjpätung kamen wir in Sant-Eufemia
(331 km von Neapel) am gleichnamigen Golfe an. — Acht Uhr
morgend. Die in malerifcher, aber durch Sumpf und Fieber ver-
pefteter Umgebung liegende Stadt hat ihren Namen von dem einft
berühmten Benediktinerflofter zur Heiligen Eufemia, einer Stiftung
von Robert Guiscard, die 1638 ein Opfer des Erdbebens wurde.
Auch hier fiel mir die Stille auf; man glaubte gar nicht im lebhaften
‚Stalien zu fein. Aber VBerwahrlofung und Schmuß überall. Die
Hauptitation war verlajjen, da fie ſtark gelitten hat. Auch in der
Nebenftation herrfchte ein tolles Durcheinander. Kein Schalter
‚war offen, und die Billet- und Gepädabfertigung fand in einem
Raume ftatt, der, weil am wenigſten beichädigt, einer Rumpel-
Tammer glich, da man hier Möbel, Telegraphenpapierrollen, Tiſche,
‚Stühle, Alten, Bücher kunterbunt durch- und aufeinandergeftapelt
hatte. Die Ruhe der Beamten und Reiſenden — Einwohner der
Stadt waren nicht vorhanden — erflärte fich durch die Marmnad-
richten, die auf Grund eines faljch verftandenen interviews mit Dem
Florentiner Seismologen Pater Alfani im Schmange waren.
Diefer hatte nämlich vorausgefagt, daß fich noch viele Stöße ein-
‚ftellen würden; er hatte freilich hinzugefebt, daß dieſe immer ſchwächer
Kalabrien: Frauentracht 39
werden würden. Das lebtere hatte ein Alarmiſt, der an ein Lofal-
blatt von Catanzaro telegraphierte, auögelafjen, und fo,. nad) der
alten Tradition, wonach jede Erdbeben fich dreimal wiederholt,
glaubte da3 Bolt, daß eine neue Auflage des Unglüds jeden Augen-
blid zu erwarten ſei.
Bon hier aus geht es landeinwärts auf der Sekundärbahn nach
dem jonijchen Meere. Die Kohle der italienischen Eifenbahnen ift
fheußlich, und bei der langfamen Fahrt werden die Tunnels,
— ad, all zu viele find ihrer! — zur Marter. Die Gegend prangt in
lachendfter Fruchtbarkeit. Aber diefe Fröhlichkeit der Natur Scheint
mit einiger Wildheit ihrer Bemohner gepaart; denn an der erſten
Station Sambiafi erblide ich einen Briefträger mit Doppel-
flinte. Das foll eine landesübliche Notwendigkeit fein. Wenigſtens
weiß ich, Daß die Yandbarone diefer Gegend nur mit einer Eslorte
flintenbewaffneter Reiter umberreifen. Nun, diefe Borficht kann
auch einem ſchlechten Gewiſſen entjpringen. Ich jehe viele üppige
Frauen. Dlivenbraune, rotwangige, gelbweiße Gefichter Durch
einander, aber alle umrahmt vom gleichen blaufchwarzen Saar,
belebt vom gleichen Tlammenblid. Und die Flamme foll ſich, jo
jagt man, nicht bloß auf den Blick beſchränken. Schön ift die Tracht
der Frauen in diefen „Weiberbörfern” (denn viele Männer arbeiten
im Norden): Purpurrod, niedrige Mieder, darüber hervorlugend
das Spitzenhemd und ein fpitengefäumter Kopfſchmuck, der die
Mitte hält zwiſchen Nonnenhaube und ciociariichem Duadrattud).
Die ärmeren Bäuerinnen find weniger farbig gekleidet und ihr
Antlitz ift fiebergelb. Doch fchlanten Geftalten unter ihnen fteht die
dunkle Tracht auögezeichnet. Auch wirken fie nicht weniger malerisch,
als die Rotröde, wenn fie unter Ölbäumen oder hinter Heden von
indiſchen Kaltusfeigen ftehen.
Unter den Mitfahrenden bemerle ich große Beklommenheit.
In einer Ede faßen zwei bleiche Herren, die von Neapel zu ihren
Bermandten reifen wollten. Einer davon Hatte vor drei Tagen an
40 Kalabrien: Der König
feine Angehörigen in Olevati telegraphiert und, obgleich er die Rüd-
antwort bezahlt hatte, erſt geftern die Nachricht erhalten: „Städtchen
ganz zerftört. Wir fchlafen im Freien.” Nach zehn Minuten Fahrt
jehe ich unter Olbäumen ein folche3 Lager im Freien. Auf vier bis
fünf Fuß hohen Pfählen war ein rotes Tuch audgebreitet, und
darunter befand fich das Lager einer Familie, die eben Morgen-
toilette machte. Das Schaufpiel wiederholte fich noch mehrere Male.
Während der überaus Yangfamen Fahrt kam ein Geſpräch nur
langjam in Fluß. Ein junger Mann atmete regelmäßig auf, wenn
wieber einer der zahlreichen Tunmel3 glüdlich paffiert war, da er fich
nicht ausreden ließ, daß fie gelitten hätten und jeden Augenblid
zufammenftürzen müßten. Er beruhigte fi) aber bald, ala ihm ein
wiürdiger Herr verficherte, daß die Linie St. Eufemia-Catanzaro
felbft nicht gelitten habe, ebenjowenig wie die Stadt, mo nur einige
Kirchen befchädigt fein follen. Dann kam die Rede auf den König,
deifen Bejuch freudig aufgenommen wurde. Freilich wurde dabei
ernfthaft erörtert, od fein Automobil, das er jich auf feiner Jacht
„Hela“ nad) St. Eufemia hatte bringen laffen, überall durchkommen
fönne, da viele Brüden zerbrochen feien und manche Straße wegen
zu fchlechten Unterbaues das Gewicht des Kraftwagens nicht tragen
könnte. „Zum Glüd hat er Pferde mitgebracht!" Dann ſprach
man von dem Wetteifer der Behörden, Städte, Korporationen in
ganz Stalten, dem beichädigten Lande zu Hilfe zu kommen. Schließ-
lich machte ſich auch ein Steptifer bemerkbar, der ernfthaft erklärte,
im erften Schreden hätten die amtlichen und journaliſtiſchen Berichte
ſtark übertrieben, indem deren Urheber zu viel dem erſten Beten
geglaubt hätten, der Zu Pferde nach dem nächſten größeren Ort
ſprengte, um den Schaden feines Dorfes zu melden. Dann wurde
auch der Komik gedacht, die bei den tragiſchen Vorfällen ja niemals
fehlt. So wurde u. a. das Telegramm des Bürgermeiſters von
Gimigliano bejpöttelt, der dem Präfelten meldete: „Sm
Namen der hiefigen ſtark alarmierten Stadtgemeinde bitte ich
Kalabrien: Sein Hein Paris 4
Ew. Hochmwohlgeboren, uns mitteilen zu mollen, ob ſich in ber
nächſten Nacht das Erdbeben wiederholen wird, Damit ich die Burger
— kann.“
Zweite Station: Nicaſtro, liegt an einer Berghalde, von
den Ruinen eines Kaftells überragt, in dem Friebrich II einft ſeinen
widerfpenftigen Sohn Heinrich zähmte. Die Häufer fehen weniger
neapolitaniſch aus, auch nicht afrilaniich, wie in Tarent, beinah
wie deutſche: rotes Giebeldach, rötliche Ziegelmände. Der Ort gilt
als betriebfam, doch ſoll mit den Einwohnern nicht zu ſpaſſen fein.
Dies Städtchen follte nach den erften Berichten auch jehr ſtark
gelitten haben. Der Stationschef aber fagte, große Schäden feien
zum Süd nicht zu beflagen, doch hätten viele Häufer Riffe befommen.
Kleine Riffe zeigte auch dag nächfte Stationagebäude von Fer o-
leto Antico. Die Unterhaltung bewegte fich noch einige Zeit
über da3 Erdbeben, das einige Flüffe, wie im Winter, mit Waſſer
gefüllt haben follte und ſtellenweiſe den Strand am tyrrhenijchen
Meer verändert und das Uferwaſſer erhist Hätte uſp. Dann ging
man zur Politik über und beflagte die Grundbeliter, die noch jo
dumm feten, bei jeder Wahl 100 000 Lire für ihr Mandat zu opfern.
Auch ſprach man vom jchlechten Eifenbahndienft umd der „jenen“
Regierung, die Kalabrien ganz vergeſſe, fo daß fich die Kalabreſen
in Geduld üben müßten.
Catanzaro, der Hauptort des ſüdlichen Kalabrien, ſein
Klein-Paris. Wie Paris hat es auch ein Faubourg St. Germain,
da die Landbarone darauf halten, hier ihr „hötel“ (palazzo) zu
‚haben, obgleich fie vielfach den Aufenthalt in Rom, Paris, Monte⸗
carlo der Heimat vorziehen. Entfteigt man dem Riefentunnel, der
dicht vor der Station mündet und peſtilenzialiſchen Qualmrauch
entfendet, als märe er ein Krater, fo fchaut man verwundert nach der
Stadt aus. Gie Tiegt Hoch oben; taufend Fuß über dem Meer.
Drum gibt’3 einen Kampf der Wagen und Gefänge, letztere freilich
recht unlieber Art. Mit Ellbogenkraft komme ich in em Geführt,
42 Kalabrien: Catanzaro
ſechs Dann mit mir, und doch ift das Vehikel eigentlich nur für zwei
beftimmt. In endloſen Schleifen wird die Höhe langſam genommen.
Als ich die 35 000 Einwohner zählende Stadt auf dem Wege zum
Hotel durchfuhr, bemerkte ich wenig Erdbebenpanik. Auch erfuhr ich
nicht? Neues. Dasſelbe Schidjal hatte ich im Präfektirpalaft.
Obſchon man mich ſehr Tiebevoll aufnahm, fonnte man mir noch
feine abgejchloffene Statiftif über den Gejamtichaden mitteilen, da
immer noch Ausgrabungen ftattfänden und jo die Zahl der Opfer
noch nicht feitzuftellen fei. Man ftellte mir auch bereitwillig das
amtliche Material im Detail zur Verfügung, doch, wie ift dem
deutſchen Leſer damit gedient, wenn ich ihm eine Reihe von unbe-
kannten Flecken und Dörfern aufzähle ınit dem Materialjchaden und
Opfern an Leben und Gefundheit? Warten wir aljo ab. Auch die
Lokalpreſſe — von der römijchen, die erſt nad) drei Tagen hier auf-
taucht, ift man abgefchnitten — Tonnte nichts Neues jagen. Ich
faufte drei verjchiedene Blättlein, aber fie brachten auch nur die
vorläufige Lifte der Präfektur. Eim Rundgang durch die Stabt,
der wegen der Hite allerdings nicht lange dauerte, bot auch nichts
Auffälliges. Die Menjchen fchienen fich hier entweder wenig auf-
geregt oder aber bald wieder zu ihrem Alltagstrubel zurüdgefunden
zu haben. Plakate verkündeten dazu auch, daß am Abend die
„Negimentstochter” gefpielt werden würde. Die Stadt
gab mir alfo als Kataftrophenberichterftatter wenig zu tun...
Und mas ift fonft über fie zu jagen? In einem Lande, mo die Hifto-
riker mit Jahrtauſenden nur fo jonglieren, ift fie aß zu jung und
ahnenlos verichrieen. Der Urſprung der Stadt wird in das fiebente
Jahrhundert nach Chriſtus gelegt. Man dente! Das kalabreſiſche
Kllein- Paris fieht mit feinen modernen, weißgetünchten Schablonen-
häuſern wenig malerifch aus (d. h. im Kem). Dafür hat es aber
an der inneren Beripherie ein entzüdendes labyrinthifches Gaflen-
geivimmel, deſſen Staffage auch eine Augenweide bildet. Da ſah
th 3. B. einen alten Bauern, der unter feinen Kollegen in jardifcher
Kalabrien: Joniſches Meer 43
Tracht durch den Kegelhut auffiel und an gewiſſe Tanagrafiguren
erinnerte. Die jungen Bäuerinnen hatten jchon alle einen „ven Fuß
freilaffenden” Rod. Die niedlichen Schuhe lafjen die Form des ſchwarz⸗
beitrumpften Fußes und die feinen Knöchel ahnen. Intereſſanter
als die innere Peripherie und da3 Hauptitraßenviertel, deſſen Reinlich-
Zeit ich rühmen muß, ift der äußere Mauerkranz. In ihm, in der foge-
nannten „Bollmwerfftraße” (viadi circonvallazione) beiteht
ja der Hauptreiz aller der ausſichtberühmten Felsneſter Italiens,
wie Macerata, Camerino, Urbino, Ofimo uſw. Pie Reife nad)
Satanzaro lohnt fich ſchon allein wegen der Ausſicht. Sie ift groß
artig, überwältigend. Im Norden, wo Cojenza liegt, erhebt jich die
lange blaue Wand des mwalbreihen Sila-Gebirge3, das
ichon Strabon rühmt. Faſt 2000 Meter hoch zieht es fich hin, ein
Gebiet von 100000 Hektar beherrichend. Plötzlich fällt der Blid
des Betrachterd auf die Stadt, ihre teraffenförmig aufgebauten
Gärten, auf die Schluchten tief unter ihr, auf die vielen Berglegel,
die an den Schroffen Tahl, auf ihrem Plateau üppig bewachſen, von
den Windungen eines braungrauen, waſſerloſen Flußbettes umzogen
werden. Dann fteigert ſich das Entzüden zum Ausruf: „Ihalatta,
Thalatta!”, da das jonische Geftade mit feiner blauen Salzflut fat
greifbar nahe heraufblinkt. Gerade vor uns Squillace, die
Heimat von Theodoxichs Kanzler, Caſſiodor, in Nordoſten die
Gegend, wo Sybaris lag (der jegige Ort und deilen Bewohner
erinnern in nicht? mehr an die fprichmwörtliche Üppigfeit), mweiter
füdlich, fat in derfelben Breite wie Catanzaro, das Gebiet von Kroton
(Heute Cotrone), das 510 vor Chriſtus Sybaris überwand, bald aber
ſelbſt von Loeri (dem jekigen Gerace, in der geographiſchen Breite
von Meffina) in der Schlacht bei Sagras vernichtet wurde. An jene
Zeit erinnert heute nur noch nahe bei Cotrone auf dem Kap Eolonna
‚eine einzige Säule, die von der Pracht des Tempels der Hera-
Lacinia |pricht, — herrliches Kroton, wo Pythagoras lebte und fein
Orden refidierte! Und welch alter Gymnaſiaſt erinnerte ſich
44 Kalabrien: Ketzerei
nicht der berühmten Arzteſchule von Kroton nnd feines Athleten
Milon!
Der Stadtpark zieht mich ab. Er ift ſchön, aber proßig.
Natürlich! Den Stadtgemwaltigen in Süditalien, die alle Vorrechte
für ſich nehmen und die Laften den Armen und den Anhängern ihrer
Barteigegner aufbürden, wollen doch in Park und Theater „fich groß
machen”, wie kürzlich ein beicheidener Landpfarrer einem Journa⸗
tiiten fagte, (in puncto Promenade gilt das au von Monte-
leone, dem ſüdlichen Erdbebenzentrum), und fo ift man überrafcht
durch die Blumen⸗ und Baumpracht, worunter auch früchtetragende
Dattelpalmen zu fehen find. Heiterkeit aber erregt der „ßFo ol o⸗
gifhe Garten“, der zwei — Kaninchen beherbergt. Das
Mufeum lodte mich nicht. Ich ſchwärmte nur für Natur, und die
fand ich am Abend inder Danktprozeffion, welche die Männer-
brüderſchaften veranftalteten. Diefe Inbrunſt war Natur; denn e3
it ja jo menfchlich, dankbar zu fein, wenn nur die anderen beichädigt
wurden. Mich ärgerte bei der Prozeffion nur die Kunſt, — freilich
welcher ſchändlichen Art! — vertreten durch die Siülberbüfte des
Patron Bitaliano. Ya, das Unweſen der „Heiligenverehrung”
— in ihrer ſüditalieniſchen Form — habe ich in diefen Tagen des
Talabrejiichen Elends verabfcheuen gelernt!
SHeiligenverehrung! Auch ich gab nachher Anſtoß. Im EB
zimmer de3 Hotel — Hotel fozufagen, o diefer Schmuß der männ-
Yichen Bedienung, die im Süden Gefeß ft! — war's zu dunkel und
heiß für mich. Sch bat um eine Lampe, um im kühleren Hofe ſitzen
zu können. Eine Lampe gab’3 nicht. Ach ließ Kerzen Taufeti,
zündete drei an und Ind. O, die Erftaunen! Sch galt als Original.
‚Vielleicht entrüftete fih auch mancher; denn wie darf ein lebender
Deuticher (= Ketzer) fich Kerzen anzünden laffen, das ift doch mir
ein Recht, das tote Heilige haben! Freilich machte man in
diefen Tagen für zwei Lebende eine Ausnahme, da man allenthalben
vor den Bildern des Königspaares Votivkerzen aufftedte. Dieſes
Kalabrien: PBatriarchentum 45
Beichen von Berehrung hatte fein Gegenftüd in der Tatfache, daß
der König bei feiner jüngjten Zidzadreife ſich kaum der Leute
erwehren Ionnte, die Iniend zu ihm heranrutichten, um ihm die
Hofe zu küffen. Die guten Leute vermochten es zuerſt auch gar nicht
zu fallen, daß der einfache Offizier ein König fein follte! Ahnlich
wollte ein Bürger von Sant’ Onofrio mir gegenüber es nicht glauben,
daß der Miniſter Terraris in feinem Ort geweſen fei. „Puh! Der
einfach gelleivete Mann mit dem ftruppigen Bart jollte ein Minifter
gemwejen fein. Puh! Ach laffe mir nichts aufbinden!” Wir find
bier eben im Lande der Unterwürfigleit, too der eriwachjene Sohn
dem Bater, der Diener dem Herrn die Hand küßt. Wber wir find
hier aud) im Lande des Ernftes. Nirgendwo in Italien ſah ich jo
viele mit philojophilcher Würde zur Schau getragene Vollbärte
wie in Kalabrien.
Monteleone, 13. September 1908.
Geſtern abend traf ich in Catanzaro einige Mitglieder der Lolal⸗
preife, Darunter auch den Vertreter der „Agenzia Stefani”, der mir
verjicherte, Daß das ficherlich große Unglüd von einigen Senjations-
zeitungen — er nannte mir jpeziell ein neapolitaniiches Volßblatt —
gewaltig übertrieben worden jei. Schon vorher hatten mir einige
- &teptifer merfen laſſen, daß der „Süden” pplitiich Habe Kapital
aus dem Unglüd fchlagen mwollen, um den „Norden” an jeine Ver⸗
geplichkeit und abfichtliche Vernachläfligung der Südhälfte Italiens
zu mahnen. Gerade vor furzem war ja in Kalabrien große Un—⸗
Zufriedenheit ausgebrochen, weil man dort befürchtete, die von der
früheren Regierung verfprochenen Eifenbahnen, deren da3 verkehrs⸗
mittelarme Land dringend bedarf, würden von der jebigen preis-
gegeben. Ob dem auch fo ijt, das laſſe ich dahingeſtellt. Relato
refero. Mein Gewährsmann von der „Agenzia Stefani" beftätigte
mir aud), was mir jchon der Herr Präfekturrat gejagt hatte, nämlich
daß noch feine Überficht über den Geſamtſchaden vorliege.
46 Kalabrien: Die Soldaten.
Heute morgen um ſechs Uhr war die Hauptitraße jchon voller
Menjchen, denn der König war auf ein Uhr angejagt. Deſſen
Einzug konnte ich nicht abwarten, fonft hätte ich einen ganzen Tag
verlieren müfjen, da in diefem ſchönen Erdenwinkel die Züge feltener
find als auf der Berliner Stadtbahn. Zunächft galt e3, für den fahr-
planmäßig um 7.50 abgehenden Zug einen Wagen zu finden, der
mich zum Bahnhof im Tal brächte. Das war freilich mit einigen
Schwierigkeiten verknüpft. Am Bahnhof hieß e3 wieder warten,
denn der vom jonifchen Meer kommende Zug, der mic) zum turrheni-
ſchen Meer bringen follte, hatte fünfviertel Stunden Berfpätung.
Freilich brachte er auch ſechs Wagen Infanterie aus Bari, die zum
gleihen Ort, Monteleone, beftimmt waren wie ih. Die Hibe
legte fürchterlich ein, jo fehr, daß bei der dritten Station, Marcelli-
nara, die Soldaten voller Gier zum Brunnen ftürzten, um mit
allen möglichen Schöpfgeräten Waſſer zu holen. Als fie zu lange
vermweilten und der Zugführer zur Weiterfahrt mahnte, ließen fie
fih nicht ftören, bi3 der Herr Major und einige Offiziere fie mit
Gewalt fortriffen. Das Hätte ein preußifcher Unteroffizier jehen
jollen! Ein folcher würde fich auch über das Ausfehen der Truppe
geärgert haben, denn fie hatte fich des ſchweren blauen Sadrods
entledigt und lief in Hemd und Hofe herum. Zwei Leutnants,
die in meinem Abteil faßen, Hatten dafür nur ein leiſes Achjelzuden.
„& find gute Jungens,“ jagte der eine; „es ift nicht angenehm für
fie, kurz nad} dem Manöver zu dem ſchweren und undankbaren Erd-
bebendienft zu gehen, zumal da man nicht weiß, wie man verpflegt
und logiert wird. In ſolchen Ausnahmezeiten darf man nicht zu
ftreng jein.” Das waren Worte, die jeder billigen wird, der den
italienifchen Charakter Tennt. Dem tragen die militärischen Vor⸗
geſetzten Rechnung; fie wiſſen, daß man mit Güte mehr durchſetzt
al mit Schneidigfeit. „Aber wo bleibt da die Ordnung und die
Pünktlichkeit im Eifenbahndienft?" höre ich manchen ſtrammen
Deutichen ausrufen. Das ift freilich eine andere Sache; denn Punkt⸗
Kalabrien: Martirana 47
lichkeit und Wert der Zeit find Dinge, die der Durchfchnittstialiener
noch nicht gelernt hat.
Die Abteilinfafjen kamen ins Geſpräch. Einer, ein Reifender
in pharmazeutijchen Artileln, meinte, jeine Tour fei ganz verdorben.
Er hätte Ausftände einlafjieren follen, aber wie könnte er jet in den
vom Unglüd betroffenen Orten jeinen Kunden von Gejchäft ſprechen!
Dann beflagte er, daß das Unglüd am Golf von Eufemia noch
größere Dimenfionen annehmen werde, denn das fei ein Malaria-
gebiet par excellence, und dabei wären Taufende im Freien.
Sein Nachbar jtellte fich ala Beſitzer vor, der in dem geſtern er-
wähnten Martirana ein Sommerhaus habe. Er fei mit dem
Abgeordneten des Bezirß zum Präfelten gereift, um ihm über die
Zuftände in diefem Ort zu berichten. Das Elend fei einfach un-
beſchreiblich. Alle Häufer zerftört, oder doch unficher geworden.
Das einzige Rettungsmittel fei, die Stadt an einem andern. Orte
völlig neu aufzubauen. Martirana ſei überhaupt unter den kalabreſi⸗
chen Städten die beflagenäwertefte. Im Mittelalter jo groß, daß
es Kathedrale und einen Erzbiichof Hatte, wurde es durch die Erd-
beben der Neuzeit und die dadurch bedingte Auswanderung derart
reduziert, daß es jet nur noch 2200 Einwohner zählte. Und nun
ift e8 ganz vernichtet. In der vorlegten Station Nicaftro ftieg
eine hochſchwangere junge Frau ein, die fortwährend jammerte.
& war die Tochter des Bahnhofreftaurateurs von Sant Eufemia.
Das Beben hatte die ganzen Wirtichaftsräume und alle Vorräte
zerftört, und fo hatte jie in die Städte der Umgegend fahren müſſen,
um neue Betrieb3mittel aufzutreiben; „denn gerade jebt ift die
Station belagert von Soldaten, Ingenieuren und Reiſenden, die
an diefem Knotenpunfte auf Weiterbeförderung warten”, jo Hagte
fie, „und wir können auch körperlich die vermehrte Arbeit nicht
zwingen.”
Das fand ich beftätigt, als wir um elf Uhr mit zwei Stunden
Berfpätung in Sant Eufemia anlamen. Die Station glich einem
48 Kalabrien: Wohltätigteit
Teldlager; denn jchon wieder jtanden mehrere Kompanien Sinfanterie
bereit, die auf Weiterbeförderung warteten. Hinter ihnen war ein
Lager anderer Art. In einem Dubend Bieh-, einem halben Dubend
Gepädiwagen und mehreren alten Perſonenwagen zweiter Klaſſe
war ein halbes Dorf einquartiert. Das ſah zwar in dem gleißenden
Sonnenlicht jehr reizvoll und maleriich aus. Aber —? Auf dem
Bahnjteig und in der proviſoriſchen Reftauration hatte die Konfufion
den größten Grad erreicht. Da ich durch das Gedränge nicht Durch
konnte, jchlich ich mich zum ſüdwärts ftrebenden Zuge, deſſen Führer
jo freundlich geweſen war, zwei Stunden lang auf unſeren Binnenzug
zu warten. Ein Glüd, fonft hätte ich desfelben Tages nicht mehr
weiter gelonnt, da der nächfte Zug exit um fieben Uhr abging. Wäh-
rend ich einfteige, bemerfe ich den Deputierten des Wahlkreiſes, dem
als Obernothelfer von allen dienftfreien Beamten ſtark die Eour
geichnitten wird.
Monteleone, 14. September 1905.
Bann diejer Brief fertig wird, und wann er ankommt, chi lo sa;
denn wie und wo foll man inmitten all diefer Aufregung zu Ende
kommen, und wie kann die Boft arbeiten, wenn die Eifenbahn verjagt?
Die foeben eingetroffene „Tribuna” fchreibt von hier: „Der Tele-
graphendienft läßt viel zu wünſchen übrig, da die Telegramme in
Catanzaro, dem Sitz der Präfektur, angehalten werden. Die Züge
fommen mit jtandalöfen Berfpätungen an. In Monteleone fehlen
Gafthäufer und Reftaurants; die Stadt ift völlig ungeeignet für den
Strom der fremden Beamten, Soldaten und Xournaliften. Sogar
Wafjermangel macht ſich bemerkbar” uſw. Doc) nehmen wir unferen
Bericht wieder auf. Im Südzug angelommen, hieß es noch lange
warten, und fo hatte ich Gelegenheit, den Gejprächen auf dem Bahn-
jteig zu laufchen. Drei ehrfame Bürger ergingen ſich im Lob der
Wohltätigkeit, die von allen Städten Italiens geübt wird, nament-
lich rühmten fie Mailand, das allein jchon eine halbe Million auf-
Kalabrien: Bauart der Häufer 49
gebracht habe. „Aber,” und da3 war ihr einftimmiges Finale,
„bei der Verteilung reden zu viel Leute mit, und etwas bleibt immer
hängen. Dan müßte ein einziges Komitee aus ehrliden
Leuten bilden.” Der einzige Mitreifende im Abteil, ein intelligent
ausſchauender junger Ingenieur, gloffierte da3 Gefpräch mit einem
Achfelzuden und der Bemerkung: „Vielleicht haben die Leute recht.
Aber felbft zugegeben, daß nichts geitohlen wird, jo wird die Hilfe
doch infolge unferer fchlechten Bureaukratie illuſoriſch, da jede
geichentte Lire durch fo viele Dutzend Behörden und Ober- und Unter-
fommiflionen gehen muß, daß ihre Ankunft nicht nur verjpätet,
ſondern mıch ihre Gefumdheit gefährdet wird. Das ift eben Syſtem
bei uns; ich beflage es, aber ich kann e3 nicht leugnen.” Endlich
fährt der Zug. - Mein Gegenüber beflagt, daß ihn das Erdbeben
in feinem Gefchäft gefchädigt Habe. Er mußte Majchinen in Amanten
aufftellen, was durch das Unglüd unmöglich gemacht wurde, meil
auch in Amanten fich niemand mehr in die Häufer traut. „Willen
Sie," fagte er, „was meine Meinung if? ch habe mir die be-
Khädigten Häuſer angefehen. Natürlich! Wie waren fie gebaut?
Und dabei haben mir fo und fo viele Baukommiſſionen, die mit ihren
bureaufratiſchen Langfamleiten jeven Bau verzögern. Sie werden
auf Ihrer Reife nod) viele Beweife für meine Anficht finden; denn
ich fah, daß alle gut fundamentierten und ſolid gebauten Pillen,
Kirchen, Paläfte uſw. widerſtanden.“ Das Geſpräch kam Hierauf
auf einzelne Epiſoden der Schreckensnacht. Der Ingenieur ſprach
von dem jungen, ſechzehnjährigen Mädchen in einem Dorfe bei
Piz zo, das nackt herauslief und, als es vor ber Türe einige Männer
ſah, aus Schamgefühl ins Haus zurückkehrte, um Kleider zu holen,
und darin erſchlagen ward. Dann erzählte er mir von einem Stein-
grubenarbeiter bet Paola, der fi} gemeigert habe, die Erdhütte
diejer Grube zu verlaffen, und nun jedesmal, wenn ein neuer Stoß
erfolge, der Nachbarichaft ein „Telegramm fende, d. h. ein Trom-
petenlignal blaje, um kund zu tun, daß er noch lebe. |
Zacher: Im Lande des Erbbebens. 4
50 Kalabrien: Sommerſitze
Indeſſen erreicht der Zug die Station Pi z zo. Am Gtrande
jtehen Dutzende von Militärzelten. Auch wird mit dem Bau von
Baraden begonnen, da die Einmwohnerjchaft des Hiftorifch berühmten
Felsneſtes fich weigert, in die Häufer zurüdzulehren. Weiter! Um
halb eins kommen wir nah Porto Venere, der Station von
Monteleone. Ein einziger jogenannter Wagen hält vor dem Bahn-
hof. & ift die „Poſtkutſche“, ein vorfintflutlicder Rappellaſten,
den ich jedem Freund der Sinefitherapie empfehlen Tann. Bier
Sitze hat er. Es glüdt mir, den vierten zu erhalten. Mitinfaffen
find ein Oberleutnant, ein Feldwebel der Karabinieri und ein
Bürgerömann. 560 Meter gilts Hinaufzufteigen. 15 Kilometer Weg.
Aber die Hige! Der Oberleutnant jchläft fofort ein, nachdem er
über die Fliegen- und Müdenplage gejchimpft hat. Sch befämpfe
die Müdigfeit noch; denn hie und da ftehen ſtark beichädigte Bauern-
häujer, deren Bewohner im Freien kampieren. &3 fieht wieder
ſehr malerifh aus. Beſonders ein Haus gefällt mir; denn fein
Portal iſt von fünf Riefenpalmen bewacht. Allmählich fchlafe ich
auch ein. Doch der Oberleutnant, der fich wieder ermannt hat,
flucht mich wach. Zornig zeigt er unten in3 Tal, wo eine Kompanie
Soldaten, ſchwer bepadt, hinauffeucht. „Das wird wieder fchöne
Fälle von Hibichlag geben!" Der Wagen, ein reiner Brütofen,
ſchleicht wie eine Schnede. Wir fchlafen wieder ein. Nach zivei-
ftündiger Fahrt halten wir an einem Brunnen. Alle fteigen aus
und ftürzen der Labung entgegen. Ich begreife jebt das alt-italienifche
Sprichwort: „Wa3 wäre da3 Waſſer für ein herrliches Getränf,
wenn e3 verboten wäre!" Bald darauf folgt ein neuer Brunnen
mit einem Waſchhaus. Diefes ift ftarf belebt. Alſo fcheint in Monte⸗
leone da3 Alltagsleben wieder eingelehrt? Eine Halbe Stunde
jpäter ſtärke ich mich in einem Loch von fogenanntem „Albergo“ —
mich ſchüttelt's noch, wenn ich an da3 Ejjen denke! Kaum bin ich
wieder Menſch, gehe ich auf die Jagd nach relativ befjerer Unterkunft,
finde fie auch, — und dann beginnt der Stadtbummel.
Kalabrien: Dtonteleone 51
Monteleone, da3 viel genannte! Es hat 15000 Ein-
mwohner, ift alfo nach hiefigen Begriffen eine „cittadina“, eine
reſpektable Stadt. Es hat eine Unterpräfektur und demzufolge
außer den Randbaronen noch Beamte. Das gibt der Stadt ein „Air".
Außerlich zerfällt es in eine Bauern-, Bürger- und Herren-Stabt.
&3 hat auch feine Vergangenheit. Davon fpricht da3 von Friedrich II
gebaute Kaſtell, jet Kaferne, das viel Ähnlichkeit mit dem eben-
falls fridericianifchen Kaftell von Lucera in Apulien bat, noch mehr
aber jchreien von dem „Einft” die Straßennamen und Wirtshaus⸗
fchilder. Überall lieft man „Ipponion“ oder „Vibonia“. Xpponion
hieß die Stadt, die von den Phöniziern gegründet fein joll, zur
Griechenzeit, Vibonia bei ven Römern. Cicero Hat hier zweimal
auf der Flucht vor Clodius und einmal vor Antonius in der Billa
jeines Freundes Sica Aſyl gefunden. Diejer hohen Vergangenheit
entiprechend gibt eg auch zwei gelehrte Gefellichaften, die Alademie
der „Inconstanti Ipponesi“ und die 1752 gegründete „Accademia
Florimentana degli Investiganti“. Weniger entipricht. dem
antifen Ruhm die moderne Hygiene. Mit Schaudern gedenfe
ich meines erften Abfteigequartier3, da3 mir ein Gepäckträger fälſchlich
als das Albergo Centrale bezeichnet Hatte. Welcher Schmubß,
welch mijerables Eſſen. Aber was für ein Panorama hat dies Neft!
Vom Kaſtell aus erblickt man die Nordküſte Siziliens, den Atna, die
Straße von Meſſina. Homers Odyſſee, Schillers „Taucher” und
„Ibykus“ werden lebendig; denn auch Ibykus war ein Kalabreſe.
Der. 19658 Meter hohe Aſpromonte, der Südkalabrien beherrſcht,
ſpricht von Garibaldis Putſch und ſeiner Gefangennahme im Jahre
1863, und von den faits et gestes des großen Räuber? Mufolino.
Wie ich ſchon telegraphierte, merkt man im Zentrum der Stabt
wenig vom Erdbeben, objchon alle Häufer im Innern bejchädigt find.
Aber wie wurde mir, al3 ich in den gegen da3 Meer gelegenen
Stadtteil, m die Straßen Enrico Gagliardi, Terra Vecchia und in
die Via Forgiari fam! Die legtere Straße durchichneidet die Stadt
| 48
52 Kalabrien: Erdbebenvermwüftung
bon Südweſten nach Südoſten und fteigt zur Höhe, wo das alte
Normannenlaftell ragt. Sch glaubte, Kriegsberichterftatter zu fein
und in eine Stadt zu kommen, die nach langem Bombardement
genommen wurde. Nur langjam fam ich vorwärts. Jeden Augen-
blid hielt mich ein bleicher Dann an und fragte, ob ich Negierungs-
baumeifter jei. Als ich mich al Journaliſt vorftellte, mehrten ſich
die Leute, die mich anſprachen, um ſich und ihr Leid zu empfehlen.
Ein Herr gab fich als „Direktor” de3 Rofalblattes zu erfennen und
jprach lange und eindringlich auf mich ein, damit ich die Aufmerffam-
feit der Regierung auf dies fruchtbare und doch fo arme Land lenken
follte, dad zugleih vom Großgrundbeſitz, vom Analphabetismus
und von der Gedächtnisſchwäche der Regierung betroffen jei. Eiſen⸗
bahnen, Wege, Urbeitögelegenbeit wollen wir!" Wie joll ich ihm
helfen? Ich erfundige mich nad) den Opfern. Zum Glüd find es
nur fieben Tote und ein fchönes Pferd. Sch gehe bis vor die
Stadt, um auf dem Rückweg die Einzelheiten genauer zu prüfen,
nachdem ich von außen den Sejamteindrud genofjen habe. Zur
Rechten find viele Soldaten emfig im Baradenbau tätig. Daneben
ift ein Lager von fogenannten Zelten. Wie foll ich dad Sammel⸗
ſurium von Lumpenteppichen, Vorhängefegen und fchmusigen
Laten beichreiben? Weiter zurüdgehend ſehe ich links ſechs total
demolierte „Häufer”. Viel Arbeit hatte das Erdbeben mit ihnen
nicht. Ein Holzgeitell, deſſen Rahmen mit Feldſteinen und Schlamm
ausgefüllt waren, etwas anderes find fie nicht gewejen! Weiter!
Rechts ein neues Lager von soi-disant-Zelten. Ich möchte Dialer
fein, um die Typen aufzunehmen. Beſonders auffallend find
mehrere Greiſe in Landestracht, blaue Kniehoſe, aber Iofe, nicht
zuſammengeſchnürt am unteren Ende, Darunter weißleinene Unter⸗
hofe, blaue Jade und auf dem Kopfe die geitridte Sadmüke, wie
fie die Sardinier tragen; ihr Ende reicht über den Naden. Wie
ſeltſam doch das Erdbeben fpielt! Weiter links folgen mehrere
Häufer, die jeden Augenblid einzuftürzen drohen; zwifchen ihnen
Kalabrien: Erdbebenverwüſtung 53
ragt aber ein ebenerdiges Mittelding zwiſchen Haus und Hütte, das
völlig unverlegt if, und in feiner Türe fitt ein fchmieriges Weib,
deſſen proßgige Haltung eine Mluftration zu dem befannten Bibelvers
zu fein fcheint: „O Herr, ich danke Dir, daß ich nicht fo bin, mie jene
Zöllner und Stinder!" Seltſam ift auch, daß an vielen Häufern
die Baltontüre famt Fenstern und Holzrahmen unverlett blieb und
nur ſchräg über das Ballongitter gelehnt wurde, während die Seiten-
gebäude einjtürzten. Nach oben hin mehrt fich der Schutt auf den
Bürgerfteigen. Wie leichtfinnig doch da3 Volk ift; in mehreren im
oberen Teil zu Ruinen gewordenen Häufern finde ic) das Erdgeſchoß
wieder bewohnt! Rechts fommt eine Kirche. Sie muß ſtark be-
ſchädigt fein, denn im ihrem Portal ist ein proviforifcher Altar auf-
gebaut. Esſ wird aljo Meſſe im Freien abgehalten. Die Straße
verbreitert fi) zum Fruchtmarkt. Eine Schuppenbarade fteht
dort neben einer großen Anzahl von Würfelzelten, von denen einige
gar kokett ausftaffiert find. Ihre Bemohner geben fich wie „zu
Haufe”; die Mädchen und Frauen ftiden, ftriden oder ſitzen an der
Nähmaſchine. Sie fcheinen fich ſchon an das Yuftige Lagerleben
gewöhnt zu haben. Daneben fieht man auch armfelige Bettzelte,
die nur vier bis fünf Fuß hoch find. Im höheren Teil der Straße,
wo freilich viele armfelige Häufer ftanden, gibt's arge Lüden, da
viele Diefer elenden Bauten in fich zufammenfanfen. Unterhalb
des Schloſſes ziehen jich Wiejen und Gärten Hin, die alle in Zelt-
und Wagenburgen verwandelt find. Das gleiche gilt von der tiefer
gelegenen Promenadenſtraße und vom Stadtgarten, deren Zelte
und Lumpenhüllen eigentümlich Eontraftieren zu den ‘Palazzi des
Unterpräfelten und der „Herren” der Stadt.
Ich muß jchließen. Im „Saal” Haben fich die Offiziere der
Infanterie und des Pionierforps zum Abendefjen eingefunden und
rufen mir zu, daß much ich feiern foll. Die Armiten; jie find hunde⸗
mübe und heben kaum noch Luft, zum Eſſen Toilette zu machen.
Ich habe ftet3 ein Faible für die italienifchen Offiziere gehabt; aber:
54 Kalabrien: Olwald
feitdem ich gejehen habe, wie fie beim Stützen der Häufer, beim Bau
der Baraden ſelbſt mit zugreifen, fteigt meine Hochachtung noch.
Und mie liebenswürdig find fie erft in der Unterhaltung! ....
„Seduld, meine Herren. Ich bin gleich fertig!" —
—
Monteleone, 15. September 1905.
Pathetiſch möchte ich nicht gerne werden, und doch hält es
ſchwer, ruhig zu bleiben, wenn man ſolches Elend fieht, riecht und
hört, wie wir Sournaliften in den lebten beiden Tagen. Ych bin
nicht der einzige, dem das Gefchaute, Gehörte, Erlebte noch nach-
zittert; Herr Barzini, der Speziallorrefpondent des „Corriere
della Sera”, der erjt vor vierzehn Tagen aus Tokio zurüdgelehrte
Kriegsberichterftatter, und Herr. Malagopdi, der Speziallorre-
ſpondent der „Tribuna”, der font in London wirkt, erzählen mir
jchaudernd, daß auch ihre Nerven kaum ausreichten. Andere Leute,
die Land und Leute fchon feit Jahren Tennen, nehmen freilich die
Ereigniſſe Taltblütiger auf. So fagte mir ein Humoriftiicher Ober-
leutnant der Infanterie, ehe ich meine Rundfahrten begann: „Regen
Sie fich doch nicht auf! Wenn Sie ein Dorf gejehen haben, haben
Sie fie alle gefehen; es ift überall Ja möme chose.” Aber der Herr
hatte unrecht. Nachdem ich mit vieler Mühe ein Wägelchen mit
einer Schindmähre aufgetrieben hatte — denn in Kriegszeiten wird
alles Fuhrwerk von den Behörden requiriert — fuhr ich zunächſt
nach dem Dorf San Gregorio talab, bergauf, auf langen
Schleifen. Nach Halbftündiger Fahrt paffierte ich einen Oliven⸗
wald, der Hana Thoma in Entzüden verjebt hätte. Man
hat eben als Deutjcher, dem Salabrien noch als die ungaftliche
Räubergegend im Kopf herumfpuft, meiſt feine richtige Vor⸗
jtellung von dem natürlichen Reichtum und der wunderbaren
Fruchtbarkeit diefes herrlichen Landes, das der Großgrundbeſitz
und die pfäffiihe Bourbonendeipotie jahrhundertelang ohne
Kalabrien: Kirchen und Pfarrer 55
Bildung, ohne Wege, ohne jegliches Mittel zum Aufſchwung Tießen,
und dem das neue Italien, objchon e3 ihm notdürftig Straßen und
Wege baute, in vierzig Jahren much viel zu wenig gab. Über der
Bewunderung de3 prächtigen Landfchaftsbildes hatte ich beinahe
des Erdbebenſchreckens vergejfen. Doch wie ward mir, als wir um
eine Ede bogen, und ich mich plößlich bei den erſten Häufern vor der
Wirkung der Kataftrophe jah! Eilig gehe ich über einen Pla&, auf
dem ſchon Bauholz aufgeftapelt war, dad von der Küfte mühjfelig
binaufgefchleppt wurde, in die erjte Straße, infofern nıan bon
Straße noch reden darf, da man tatfächlich auf meterhohem Schutt
Borübungen zum Alpenkrareln machen fonnie. Der erfte Anblid
war erichütternd. Kein Haus unbejchädigt. Entweder war die
Borderwand umgellappt oder eine Seitenwand; ſehr viele Häufer
waren auch einfach in fich felbft zufammengefunten; andere — und
das machte den ſeltſamſten Eindrud — hatten da3 Dach unverjehrt,
während an den oberjten Eden links und recht3 große Löcher Hafften,
gerade al3 ob ein Rieſenkind jich damit erluftiert hätte, einige Fetzen
abzureißen. Wieder andere Häufer machten den Eindrud, ala ob
ſolch ein Rieſenkind ihnen von oben einen Fauſtſchlag verſetzt hätte.
Freilich. Wie waren alle diefe Behaujungen auch gebaut? Als
Rippen diente im Feuer verfohltes Holz; die jo gebildeten Rahmen
waren mit getrodnetem Lehm oder Schlamm ausgefüllt, ohne
Mörtel, nur hier und da durch eckige Feldſteine gejtügt und geſtärkt.
Grauenhaft wirkte e3, wenn man in die offen geredten Stübchen
blidte und an irgend einer Wand noch ein armſelig Bild, ein Schränf-
hen, eine Heiligenftatuette hing. Als ich die Wohnungen gefchaut,
fam die Reihe an die Bewohner. Jeden Augenblid nahte jich mir
eine SJammergeftalt, aber — come si fa? — ich veritehe fein Kala-
brefiich. Als ich zum Eingang des Dorfes zurüdtehrte, läuft mir
der Pfarrer entgegen, der mich geradezu zwingt, die Kirche zu
befichtigen. Außerlich zeigt diefe mur wenige Verlegungen, aber
drinnen wohnt da3 Grauen. Das Gotteshaus ift ruiniert und muß
56 . Kalabrien: Rundfahrt
wie alle anderen Häujer von Grund aus aufgebaut werden. ch
jtaunte ob der Leichtherzigfeit des guten Pfarrer; denn der Auf-
enthalt in feinem Amtshauſe war nicht gerade gefahrlos; er aber
tief im Zidgad herum, um mir feine geradezu ſcheußlich ärmlichen
Kicchenfchäe zu zeigen. Hauptjächlich war es ihm aber darum zu
tun, mich den Glasſchrein fehen zu laffen, in dem bisher der „Patron“
der Kirche in Form einer vergoldeten Büfte refidierte. „Ein Wunder !“
ſchrie er förmlich, „lehen Sie doch nur; das Glas blieb intakt!“
Seltſamerweiſe hatte der Gute es doch für rätlich gehalten, die Büfte
deö „patrono“ aus dem intaft gebliebenen Schrein nachträglich
herauszunehmen. Man Tanıı ja nie willen. Die anderen Leute,
die ich ſah, und die mir vergeblich ihr Leid Hagen wollten, jchienen
ziemlich ruhig. War e3 Betäubung oder Rejignation? Wer dag
wüßte? Ich erfundige mid) nach den Opfern. Sieben Tote und
nur wenige Verwundete. Das jchien mir wirklich ein Wunder. Aber
der Pfarrer, den ih um Aufflärung bat, eilte davon, um mit den
Bimmerleuten zu reden, die gerade begannen, eine Barade aufzu-
richten.
Weiter! Nach zehn Minuten Rumpelfahrt komme ich zu dem
Heinen Dorfe Mezzo Cajale. Die Berwüftung ift hier voll-
ſtändig. Der Ort iſt menjchenleer. Erſt nachdem ich durch die
Trümmerftätte Hindurchgellettert bin, fommt mir ein Mann, der in
Kleidung und Haltung ganz gebildet fchien, von vier armfeligen
Mütterchen begleitet, entgegen. Natürlich) fragt auch er, ob ich
„Ingenieur“ (Baumeifter) jei. Ohne Gefte, ohne Pathos fagte er:
„Sie haben gefehen. Fünfundfiebzig Tote zählt unjer Heines Dorf.
Es iſt völlig zerftört. Sch bin allein mit diefen Frauen zurüd-
geblieben. Die anderen Geretteten irren in der Campagna herum
ohne Dach und Brot." Als ich ihm darauf tröftend fagte, wie die
Wohltätigkeit jich in ganz Stalien jo wunderbar geregt, und daß u. a.
Mailand allein ſchon über eine halbe Million aufgebracht habe, da
kam Leben in diejen anfcheinend apathilchen Mann. Bitter lächelnd
Kalabrien: Zammarö 67
tief er: „Ma chd! Zu una kommt doch nichts! Da gibt’3 zu viele
Miteffer!" Was jollte ich al Ausländer jagen? ch wandte mid)
ab und ging weiter, während der Mann feinen Begleiterinmen eine
philoſophiſche Definition des Weſens gab, da3 man gemeineuropäilc)
Publizift benamſt. MS ich mich an einer Straßenede zu nahe an
die Häuferwand wagte, ftießen die Frauen einen Schredenäruf aus.
Sie Hatten Recht. Man wandelt nicht ungeftraft unter wankenden
Dächern. Gleich darauf unterdrüdte ich aber jelbft einen Schredens-
ruf, denn die Kirche, die ich jeht jehe, Hat befonders dran glauben
müfjen. Gteinbroden von ein bi3 zwei Meter Durchmeffer wurden
von ihr zehn, zwanzig Schritte weit fortgejchleudert. Zurück vors
Dorf in den Wagen. Nad) einer Viertelſtunde erreichten wir ein
neues Dorf, Fammar öô. Der im fchönften Lumpenfehen-Anzug
prunkende Kuticher hielt wieder vor dem Ort, da es unmöglich ift,
die Straßen zu durchfahren. Als ich wenige Schritte getan, traute
ich meinen Augen faum. Dies Bild der Zerftörung übertraf alles,
was ich bisher geſchaut. Ich konnte buchjtäblich nicht mehr weiter
und hatte vielleicht zum erſten Dial in meinem Leben eine Ahnung
bon der Bedeutung der Redensart: „Alles kurz und Klein ſchlagen.“
Worte reichen nicht aus, um den Anblick wiederzugeben. Als ich
mich von meinem Schred ein wenig erholt hatte, erblide ich im
Hedentor eines Gartens ein Mädchen, das mir winkt, näher zu
kommen. Ich gehorche und jehe mich vor einer malerijchen Szene.
Eine ganze Familie, Urahne, Großvater, Mutter und Kind. Gie
haben fi aus Brettern, Tüchern, Rufen, Stangen, Körben not
dürftige Lagerftätten gebildet und fiten um ein euer herum, mo
fie feit der Schreckensnacht das erjte warme Eſſen bereiten. Der
Patriarch, der mit feinen hohlen gelben Wangen, den erlofchenen
tiefliegenden Augen, dem zottigen Biegenbart, ganz gut die Rolle
des alten Moor im Hungerturm fpielen könnte, befiehlt, mix einen
Stuhl zu bringen. Ich frage nad) den Opfern. „Unfer Ort zäblte
vierhundert Einwohner; davon find vierundfiebzig tot und hundert⸗
58 Kalabrien: Panik
bierundfechzig verwundet!" „Donner!” rufe ich unwillkürlich. In
diefem Augenblide nähert fich ein ſchlankes, etwa fechzehn Jahre altes
Mädchen, eine Schönheit, die jeden Maler in Efftafe verſetzen müßte,
und fagte ruhig: „Meiner Schwefter wurden beide Beine zerfchmet-
tert." In „Emilia Galotti” heißts belanntlich: „Rönnte man diefen
Ton vor Gericht ftellen!” Ahnlich vente ich auch: Könnte ich die
Ruhe, diefen Tonfall phonetifch wiedergeben! E3 mar herzzerreißen.
Aber wer nicht ruhig tvar, da3 war der Patriarch. Einen Wafferfall
von bitteren Worten in reinem Stalienifch fprudelte er hervor. O
diefe Skepſis! Auch er glaubt nicht an die Beihilfe der Negierung;
auch er weiß ficher, daß fich fein Grofchen in feine Tafche verirren wird.
Weiter! Das heißt, weiter gehts nicht. Wir müſſen nad) San
Gregorio zurüd, weil die Straße verfperrt ift. Unfer nächites Ziel
it Pifocopio. Erft nach einer Stunde erreiche ich das nur
wenige Kilometer entfernte Neft. Auf der Fahrt jehe ich viele Teicht
Verwundete u. a. eine ſchlanke Jungfrau, deren Nafenbein zer-
fhlagen wurde. Auch fchmerer Verwundeten begegnet man, die
auf impropifierten Bahren nach der Stadt gefchafft werden. Schnell
geht das zwar nicht im Gebirgaland, zumal bei diefer mörderlichen
Hitze, mo man fich alle Kleider vom Leibe reißen möchte. Alle ziwei-
Hundert Schritte fegen die Träger die Bahre auf den Weg und ſich
jelbft in ven Graben. Wie ich dur) San Gregori fahre, ſehe ich
plöglich, wie an einem Kreuzwege die Leute derart zufammenlaufen,
als wollten fie fich eine Echlacht liefern. Halt! fermol vetturalel
Ich ſpringe Herzu und — fchade, daß ich Fein Negifjeur bin. Hier
hätte ich Maſſenbewegung der Statiſten ftudieren können. Hat das
Talabrefiiche Volk aber natürliche Schaufpiellunft!! Das war ein
Geheul, ein Gejammer, ein Blidichleudern, ein Augenauffchlag,
ein Geftenfpiel! Und warum? Sie hatten einen neuen Stoß
berjpürt. Noch gellt mir der Notjchrei: „EI terramut!“ in den
Ohren. Vergebens fuchen die beiden Karabinieri, Die würdig ftill für
die Aufrechterhaltung der Ordnung forgen, die Leute zu beruhigen,
Kalabrien: Die Karabinieri 59
vergebens jagen ſie: „Ihr jeid ängftlich, Ihr ſeid nervös, e3 war fein
Erdbeben, fondern nur ein leiſes Echo; Ihr wißt Doch, was gefchieht,
wenn man emen Stein ind Waſſer wirft. So gibt3 auch auf der
Erde leichte Wellen, wenn ein Beben gemwejen iſt!“ Viele tun darob,
al ob fie den Troft glaubten; intelligentere Burfchen aber, die offen-
bar antimilitariftiich find, wollen ſich von der bewaffneten Macht
nicht imponieren laffen und widerſprechen: „Seht doch, der Tele-
graphendraht zittert noch!” Und mich rufen fie zum Kronzeugen
an, doch ich kann nicht3 ausſagen. Ich hatte nichts gefpürt. Offenbar
fehlte e8 mir jebt an Erdbebenſinn; denn auch in der Präfektur von
Catanzaro lächelte ich ungläubig, ald der Herr Rat feinen Vortrag
erichredt unterbrach: „Fühlen Sie nichts? Es ſtößt!“ (Sm beiden
Füllen mar wirklich an anderen Orten jedes Mal durch diefe Stöße
Unheil angerichtet worden.) Bald darauf kam ich nad Pifo-
copio, einem Ort von 1335 Einwohnern. Am Eingang empfängt
mich der Pfarrer. Er fragt mich, mas ich fei. Kaum hat er erfahren,
daß ein Mann der Preſſe vor ihm fteht, fo faltet er die Hände und
beichwört mich um Gotteswillen auf die Regierung einzumirten,
daß die Verteilung der Spenden nicht den bürgerlichen Behörden,
jondern nur dem Militär oder den Karabinieri anvertraut werde.
AB ein Karabiniere herzutritt, der fich freundlich als Führer anbietet,
wiederholt er jeine Worte und befteht darauf, daß ich fie in meinem
Notizbuche firiere. Zum Schluß rief er emphatifch aus: „Und dag
fage ich, Don Antonio Sarulli, königlicher Pfarrer des einſt gemefenen
Bilocopivo!" Das Heine Männchen wirkte beinahe komiſch, und doch
waren feine Worte jehr ernft. Ernſter Hangen fie noch, als der
Bürgermeifter Graf E. zu und hertrat und fie mit größerer Bitterfeit
wiederholte. Der Mann ſah aus, als ob er in den lebten Tagen
plöglich alt geworden wäre. Auch er bot fich als Führer an, und
bald fammelte fi) um und eine Gruppe von zwanzig Männern, die
in allen möglichen Arten von Arbeitskleidern ftalen und taten das.
gleiche, fo daß oft drei bis vier zugleich Iprachen. Der eine zeigte
60 Kalabrien: Die Hilfsgelder
mir die Ruinen, unter denen die meilten Toten hervorgeholt wurden,
der andere warnte mid) vor einer fiurzluftigen Mauer, ein dritter
309 mid) von einem gefährdeten Haus zurüd, der vierte erzählte mir
Fülle von wunderbarer Rettung. „Wie groß ift die Zahl der Opfer?“
— „59 Tote und 200 Verwundete“, jagte der Sindaco. „Ein Glüd,
daß hier meift nur Bauern mohnen, die auf dem Felde waren, um
bie Feigen- und Olbäume zu bewachen, fonft wäre die Dreifache Zahl
geftorben. Die Stadt ift vernichtet. Wollte man die Trümmer
fliden, fo wäre das die reinfle Jronie. Die Negierung muß den
ganzen Ort von neuem aufbauen, fonft geht die Hälfte der Ein-
wohner nach Amerika und der Reſt ftirbt vor Hunger, denn was
follen die Beute anfangen?“ Weit kommen wir nicht, denn nachdem
wir drei Gaſſen vorfichtig abgefchritten hatten, verhinderte der meter-
hohe Schutt jedes weitere Bordringen. Der Herr Sindaco begann
wieder von Hilfägeldern zu jprechen. Ein alter Mann ftrich fich
eifrig durch feinen greifen Bollbart und beftätigte lebhaft, daß die
Regierung die Gelder nur den Karabinieri geben dürfe. „Nicht
wahr, Graf”, fuhr er dann fort, „Du weißt doch, wie e3 und 1894
erging; ic) Habe Damals nichts gekriegt und Du auch nicht. Und doch
war ich, was ich jebt bin, Gemeindearzt. Zum Glüd iſt die Regie-
rung ſchon fo Aug geweſen, den ganzen Rettungsdienft in eine Hand
zu legen. Umd Erzellenz General Lamberti geht auch ſtramm genug
bor.” Als ich mich verabfchieden wollte, erneuerte der Bürgermeifter
feine früheren Bitten und empfahl als beftes Mittel die Auffrifchung
des Geſetzes, das ſeinerzeit für die Erdbeben in Ligurien erlafjen
worden ilt. |
Dann gings zurück nah Monteleone. Beim Abendefjen
ſprach ich mit den Tiſchgenoſſen, Bionteroffizieren, dem Provinzialarzt
und Sanitätsbeamten, über dad Mißtrauen der Bevölkerung und
über ihre Apathie. „Was wollen Sie?" meinte der Provinzialarzt,
„die Apathie könnte man al eine Yolge der Schredensnacht und der
fortgefepten Nervofität, welche die wiederholten Stöße verurfachen,
Kalabrien: Erdbebenpolitik 61
erflären, aber die Kalabreſen find-auch von Ratur aus apathifch und
indolent. Das ift eine Raſſeneigentümlichkeit, für Die ich noch feine
Erklärung, auch feine hiſtoriſche, gefimden Habe.” — „Was aber
das Mißtrauen anbelangt”, fagte ein Journaliſt, „fo lann auch ich
davon erzählen, denn mir haben Pfarrer, Arzt und Bürgermeifter
die gleichen Reden gehalten wie Ihnen. Berechtigt ift die Skepſis,
denn zum Kuckuck auch wozu haben wir derm den häßlichen Streit
zwiſchen den Stadt- und Dorfpmteien? Und muß nicht aud) ein
Erdbeben der Wahlpolitif dienen? Die Gegner des Abgeoröneten
fürchten doc) nicht mit Unrecht, daß deſſen Anhänger bei der Ver⸗
teilung der Liebesgaben bevorzugt. werden.” An diefe Worte mußte
ich denfen, al3 ich eine Stunde darauf im Palazzo des reichiten
Bürgerd, Gagliardi, wo General Lamberti wohnt, den
Heren Abgeoroneten traf. Der Hert, der por wenigen Jahren Unter»
exgellenz; in der Boft geivefen mar, zeigte viel Zuvorkommenheit
und ſtellte fich dem Vertreter eines deutſchen Blattes in allem zur
Verfügung. Sch dantte ihm recht Iebhaft, aber ch habe bis jetzt von
jemer Liebenswürdigleit noch Teinen Gebrauch mechen können.
Monteleone, 16. September 1905.
Geftern Vormittag ſetzte ich meine Bidzadfahrt fort, jah aber
nur noch zwei Orte. Zuerſt gings nad) Dften, nad) Stefan
coni. Diesmal hatte, da es ſtarke Steigungen abzumadjen galt,
mein Kutſcher zwei Pferdlein vorgeſpannt. Im ſcharfen Trabe
ging's talab. Die Sonne arbeitete „voll und ganz”. MB ber. Wagen
bor dem Orte hielt, fand ich die Eingangsſtraße ganz menjchenleer.
Nur ein friſches Mittterchen mit dem maleriſchen weißen Kopftuch,
da3 links und rechts jich zur Haube verbreitert, ſaß vergnägt auf der
Schmelle eines halbierten Hauſes und. Inabberte mit dem einzigen
Bahn, der dafür aber riefig groß war, an einer Feige herum. Das
Mütterchen zeigte fi) auch ſehr ſchwatzluſtig, aber leider. verſtand
62 Kalabrien: Brotverteilung
ich’3 nicht. Mein Kuticher, der Wagen und Pferde verlaffen Hatte,
jchüttelte auch den Kopf ob des Gallimathiad und riet mir, weiter zu
gehen. Wir Hetterten über gewaltige Trümmer an der geborftenen
Kirche vorbei und der Kuticher hörte dabei nicht auf, mir Vorficht
anzuempfehlen, indem er voller Argwohn auf die Kirche zeigte.
Nun ja, das Erdbeben Hatte diefer auch ſchändlich mitgefpielt. Die
Türen ftanden offen, offen aber auch die halbe Hintermand und das
Dad. Der für ein verlorenes Neſt aus dem Hintermald über-
raſchend ſchöne Barodaltar war mitten durchgeriffen und feine präch⸗
tigen korinthiſchen Säulen lehnten Iin® und rechts an der Chor-
wand. „Sehen Sie das Wunder!” rief der Kutſcher ganz begeiftert;
„Die Statue des Patrons ijt heil geblieben, fie fteht noch ganz mie
ſonſt auf dem Altar!”
Wir fchreiten weiter. Ein Haus fiel mir auf; e8 war in eine
rieſige Jahrmarktsbude verwandelt. Plötzlich erbliden wir einen
Photographen und daneben einen Lofaltorrefpondenten. „Gehen
Sie weiter, zur Piazza”, fagte mir der letztere, „dern eben findet
Brotverteilung ftatt. Überzeugen Sie fich felbft, mas man. dem
Volke für Zeug anzubieten magt! Das Brot ift fauer!" Im Laufe
des Geſprächs entpuppte ſich der Mann als Sozialift. ch begann
das übliche Berhör. „Wie viel Opfer?” — „94 Tote und 300 Ver⸗
wundete auf 2000 Einwohner.” Die Piazza war gefüllt mit etwa
Hundert Menjchen, meiſtens Frauen. Ein Gemeindebeamter rief
die Namen aus, und der oder die Gerufene nahm ein halbes Brot,
eine Art Graubrot, "/ Kilo fchmwer, in Empfang. Geftern hatte auch
der Bürgermeijter von Pijocopio über die geringe Menge Brot
geflagt und empört binzugefeßt: „Und mit einem Fünftel Kilo ſoll
man nod) dazır die pappa (Brei) für die Kleinen kochen!“ Hier
fchienen aber die Brotempfänger weniger kritiſch zu fein; ich jah
ältere Männer, die ihr Stüd, als fie es nach Haufe trugen, zärtlich
tätfchelten. Überhaupt fiel mir das gefittete Benehmen dieſer
Armen auf; denn. die Verteilung ging ohne Lärm umd ohne jedes
Kalabrien: Durſt 63
Gedränge vor ſich. Sch wurde auch von niemand angebettelt, wie
e3 mir in Monteleone ſtets gefchah. Der Sozialift gefellte fich wieder
zu mir und jchimpfte auf die Regierung. „Warum baut fie nicht
„cucine economiche“ (Bollsfüchen), damit die armen Leute und
beionder3 die Verwundeten etwas Warmes befommen?” Ich
wollte ihn fchon auf die großen Entfernungen aufmerffam machen,
auf die Verkehrsſchwierigkeiten im Gebirgsland, aber da kamen mir
an eine langgejtredte offene Bretterbude, die Üüberrafchend fchnell
hergeftellt worden war. Sie diente al proviforiiches Lazarett.
Apathiſch Tagen die Kranken auf Bettjäden und Matraken und
ſchienen e3 faum zu empfinden, daß fie jo zur allgemeinen Anficht
ausgeftellt waren. Eine junge ſchöne Frau in Trauerfleidern ſaß
in einer Ede mit ihrem verwundeten Kinde auf dem Schoß, ein
Pendant zu der trauernden Witwe auf Vautiers „Leichenſchmaus“.
Schöne Frauen find in diefer Gegend felten. Gie aber war eine
Schönheit, die der ſchmerzverklärte, in der Gerne fuchende Blick noch
eindringlicher machte. |
Bor der Hojpitalbarade hatte man die Kirchenglode zwiſchen
zwei Pfählen aufgehängt. „Ein einzig Haus ift ftehen geblieben”,
jagt der Kutſcher, und zeigt auf die Ede; „eine Oſteria iſt's.“ Ich
verſtand den Guten, weil auch ic) Durft hatte. Über Durft Hagt man
hier überhaupt allgemein; denn der Wein der Gegend ift zu ſchwer,
und durſtſtillend ift im heißen Sommer Staliens nur der Chianti,
dazu find in Monteleone und Umgegend infolge ded Erdbeben
mehrere Brunnen verfiegt, und Selterswaſſer gibt3 nicht, weil die
einzige Fabrik der Gegend fo befchädigt wurde, daß kein Arbeiter fie
zu betreten wagt. In der Wirtfchaft, einem ſchmutzigen Kramladen,
jagen zwei Karabinieri beim Mittagefjen. Sie Hagten auch über.
Durſt, da alles Brunnenmaffer fett dem Cröbeben warm geworden
it. Sie waren von Caferta hierher kommandiert. Bereitwilligſt
boten fie ihre Dienjte an, beklagten ihre Ohnmacht gegenüber dem
großen Weh und Jammer, aber nicht ihren ſchweren Dienft. Nur
64 Kalabrien: Zigeunerlager
eine3 erfreute fie: daß eben dies einzige Haus feft ftehe und fie fo
wenigftens eine Unterkunft für die Nacht Hätten. „Nette Unter-
kunft“, dachte ich bald nachher, ala ich draußen war und zufällig mit
gelindem Schreden nach oben jchaute; denn das einzige „feftftehende"
Haus hatte eine halbe Seitenwand und einen Teil ded Dach ein-
gebüßt. Als ich zum Wagen zurüdiehre, jagt mir der Kutſcher gleich-
mülig: „Wir müfjen zur Stadt zurüd, da wir hier nicht weiter
können; die Straße iſt blodiert." — „Alſo mas tun?" — ‚Wir müffen
zur Stadt zurüd und aus einem andern Tor herausfahren!“ Schade,
daß der Sozialijt nicht da war. Diefer eine Fall von Verkehrs⸗
jchwierigfeit wird fich bei der großen Ausdehnung des Erdbeben⸗
gebiet3 doch noch ſehr oft twiederholen.
Sehr, ſehr langſam ging’3 wieder hinauf. Die Stadt wurde
durchquert und hinaus ging’3 durch das Rordtor über eine ftattliche
Allee. Links weit vor. dem Tor ift da3 Zeltlager der Soldaten. Nach
einigen Kilometern biegt der Wagen nad) Often ab; in der Tiefe liegt
in einer Mulde eingebettet der Ort San Onofrio. Geine
brauntoten Dächer zeigen keine Beichädigungen. Er jcheint alſo gut
davon gelommen zu fein. Diefer Eindrud mird verſlärkt, als der
Kuticher nicht, wie bei den anderen Orten, vor den erften Häufern
hält, jondern bis zur Piazza durchfährt. Hier erſt Heißt er mid) aus-
fteigen und geradeaus zur Kirche gehen: Hier und da find Bettzelte,
ZTeppichhütten und Lumpenlauben aufgeftellt, ein elender Wohnungs-
erſatz, der an die Lagerftätten bon Zigeunern und Keljelflidern
erinnert. Und wie jehen die Bewohner diefes Elend erft aus! Faft
negerhaft zeigen fich die verküimmerten Gefichter. der alten Frauen.
Stumpf, blöde ftarren fie auf den Fremden. Die Kirche war ein-
mal. Hier hat das Erdbeben ferne Wut ordentlich ausgelaſſen. Das
Trottoir, das rechtwinklig auf ihre Faſſade jtößt, it auf zwanzig
Schritte meterhoch von ihrem Schutt bededt; Schutt, fozufagen;
denn e3 find Steinbroden von anftändiger Größe darunter. „Ein
Süd, daß das Erdbeben nachts paffierte”, jagt mir ein Mann, der
Kalabrien: Beredfamkeit des Jammers 65
aus emem der durch die Kirchentrümmer blodierten Häuſer heraus-
geflettert ift; „wir jigen nämlich im Sommer vor der Türe und”, —
Dabei zeigt er auf die Kirche — „die hätte ung ja alle erfchlagen. Mir
fchaudert’3 noch!" Seine Rede wurde durch feine rundliche, behäbige
Frau unterbrochen, die plößlich emen Heulanfall bekam, wie er fonft
nur von neapolitanifchen: und trafteverinifchen Höferinnen erekutiert
werden kann, wenn fie in Wut geraten. War’3 Naturell oder Schau-
fpielerei? Ihrer Worte Schnelligfeit hätte Ten Parlaments-
jtenograph einholen, ihre Geftenbehendigfeit fein Kinematograph
aufnehmen können. Noch tönt mir aber ihr jchluchzender Singſang
im Ohr. „Mann der Regierung“, hub fie an, „helft, helft! Wir
haben fein Brot, fein Geld, feine Kohlen, fein nichts, und wenn der
inter ommt ....“ — „Willſt Du wohl fill fein! Du verd ...
Lältermaul”, fluchte der Gatte, der ausſah, wie Ludwig XI von
Frankreich in der Darftellung Walter Seottd. Er mar fchäbig dezent
gefleidet. Seht gemeffen, aber mit einer freudigen Bitterfeit, wie
jie der Schmerz annimmt, werm er fi) an der eigenen Dual noch
graufam ergößt, fuhr er fort: „Die Ernte Hatten wir gerade ein-
gebracht; die liegt begraben. Wie follen wir nun die Trauben und
Oliven einholen, da wir nichts haben, wo wir fie Hinfteden förmen?
Alſo wär's beifer geweſen, wir wären: gleich geftorben. Der Tod ift
ung doch ficher, enttweder durch Hunger oder durch Lungenentzündung.
In drei Wochen beginnt: die Winterzeit mit ihrem unendlichen
Regen, und wo bergen wir und: vor ihm? Ein Genieoberſt war hier
und erflärte alle Häufer fiir unbemohnbar. Und dann will Die
Regierung für den Ort mit 4000 Emmohnern nur Baraden Tür
500 Mann bauen. Nette Regierung! Hi, Hi! Ja, laßt nur erſt den
Regen kommen! Der bohrt ſich dann in die Riffe, und da fällt Haus
für Haus en! Hi, Hi.” Der Mann konnte einen rafend machen.
Ich hätte mich gern von ihm getrennt, aber er. mich nicht von meiner
Ceite, da er mich führen müfje, wie er jagte, weil ich nach dem Aus⸗
fehen der Faſſaden fonft glauben könnte, der Schaden fei nicht fo
Bader: Im Lande des Erbbebens. 5
66 Kalabrien: Wilde Gejellen
groß. In der Tat ließ er mich an einzelnen Häufern, die anfcheinend
unverlegt waren, durch die offenen Fenſter bliden. Da jah man
freilich handbreite Riffe. „Wie viele Opfer?" fragte ich, um ihn
abzulenfen. „Zum Glüd nur 14 Tote, aber 300 Verwundete.“ Die
Beit drängte, und, um den Dann loszumerden, fragte ich ihn, ob ich
ihm eine Stärkung anbieten Tönnte. „Wo?" lachte er grimmig;
dann aber fuhr er ſich eine Beſſeren befinnend fort: „a, der
compare (Gevatter), der Kramhändler, deſſen Haus am menigften
abgefriegt hatte, Hat vielleicht Wermut!“
Sm Kramladen faßen einige wilde Gefellen, die an Briganten-
furcht leidenden Leuten wohl nicht gefallen hätten.
Sie wechjeln nur unverftändliche Worte mit dem Kutſcher und
aus den drohenden Mienen und der gleich darauf angenommenen
äußeren Ruhe merke ich, daß es Streit gab. Nachdem ich mich von
meinem Führer losgemacht, frage ich den mürrifchen Wagenlenker,
was 108 war. Zuerſt ſchwieg er, dann aber fagte er mit verhaltenem
om: „Der eine wollte durchaus mitfahren. Aber Leute, die ich
nicht Tenne, nehme ich nicht.” Ich Hatte fo viel von „Ealabrefilcher
Wildheit" gehört, daß ich froh war, daß die Sache bei Worten ftehen
geblieben it, Anſtatt des wilden Gefellen belam mein Wagen,
der langjam nach Monteleone zurücichlich, zwei Fahrgäſte auf einmal.
Kleine Burjchen von ſechs und fieben Jahren, zerlumpt wie die
Betteljungen Murillos. Der Kutjcher machte mid) auf den einen
Barfüßler aufmerffam; er habe Vater und Mutter beim Erdbeben
verloren. „Aber warum kam er denn nicht ins Waiſenhaus?“ Ein
Achjelzuden war die Antwort. „Das Geſuch ift eingereicht!" O
heilige Bureaufratie! „Uber wer fümmert fich um den Kleinen?“
Ein neues Achjelzuden. Ich bat den Kuticher, die Jungen auf den
Bod zu nehmen, aber ed machte ihnen mehr Spaß, ſich Hinten auf-
zuſetzen, und nun ging ein Kichern und Singen hinter mir an, daß
e3 eine wahre Freude war. Al wir zur Stadt kamen, waren die
beiden plöglich verfchtwunden. Einige Zeit darauf machte ich einen
- Kalabrien: Unzufriedenheit 67
neuen Rundgang durch Monteleone, das mir jekt größer erſchien,
da ich viele Straßen pafjierte, die ich früher Üüberfehen hatte. Dabei
fand ich, daß doc mehr Schaden angerichtet worden war, als ich
bisher glaubte. Auch jah ich neue Zeltlager, da in den lebten beiden
Tagen noch ganze Reihen von Häufern für gefährdet erflärt worden
waren und deshalb geräumt werden mußten. Ich treffe einige von
Bürgern der Stadt begleitete italienische Korrefpondenten, von
denen zwei ebenfall3 aus Vorjicht im Zelt kampieren. Sch bat fie,
mic) zum Bürgermeilteramt zu begleiten, was ihre Freunde aus der
Stadt lachend widerrieten. Natürlich wieder die alte Gefchichte.
Die Herren von der Stadtverwaltung fühlen fich durch das Militär
zurüdgejegt und beflagen fich, daß dieſes alles allein tun wolle. Wer
Necht hat, wie kann das ein Fremder entſcheiden? Beſonders
berriche, fo erzählen die Kollegen mir, große Animofität gegen den
General, der zu aufgeregt und reizbar ſei. Auch habe man ihn im
Verdacht, daß er feine Soldaten in Monteleone zufammenhalte,
anftatt fie nach auswärts zu ſchicken, um für den Fall, daß die Unzu-
friedenheit des Volkes fich in Demonjtrationen, wenn nicht Schlim-
merem entladen follte, vorbereitet zu fein. In einzelnen Städten,
wie in Tropen, gab es ja auch ſchon Zufammenzottungen. - „Gott
gebe nur, daß kein Regen kommt“, jagte einer der Kollegen, der das
Leben im Zeltlager mitmacht und fo die Stimmung feiner Lager-
genoſſen fennt. „Dann werden die Leute mild vor Verzweiflung;
denn nicht nur alle ihre Vorräte an Ol und Frucht gehen in den halb
zeritörten Häufern zu Grunde, nein, fie ſelbſt liegen im Waſſer und
holen fich Krankheiten. Der Baradenbau geht auch viel zu langjam
vorwärts!" — „Aber“, warf ich ein, „mo foll derm das Holz her⸗
tommen? Sn der ganzen Provinz ift ja Teind aufzutreiben,
und die einzige Bahn, die von Norden Hierher führt, it un-
zureichend.” — „Ach“, fagte er, „das ift es nicht allein; aud)
unfer Militär arbeitet bureaufratifch." Stets das alte Lied vom
Schema F! Zu |
he
68 Kalabrien: Mutige Pioniere
Einige Zeit darauf treffe ich einen Pionieroberleutnant von
unjerer Tifchgefellichaft. Ich fpreche ihn wegen des Baradenbaus
an. Da wurde er fuchäwild. „Sa, find denn die Leute bier toll!
Alles foll die Regierung tun. An Selbithilfe wie unfere Bauen in
Oberitalien denken fie nie! Da hat die Provinz Catanzaro das große
Waldgebirge Sila, aber bis jebt ift es noch Feiner Gemeinde diefes
Gebirgswaldes eingefallen, Zugangsſtraßen zu bauen, und fo
können wir da3 Holz, das vor unjerer Naſe liegt, nicht haben, ſondern
find auf den Transport vom Rorden angewiejen. Und dann, meine
Soldaten arbeiten freudig und eifrig, aber nicht alle Pioniere find
auch Zimmerleute. Memen Sie, e3 hätte fi) auch nur ein Biefiger
Bimmerntnn aus freien Stüden angeboten, una zu helfen? Im
Gegenteil. Sie verlangen einen exorbitanten Tageslohn. Und die
Kuticher erſt! Wir müfjen fie durch die Karabinieri zur Arbeit
zwingen. Die Kerls verlangen für die Fahrt an die Küfte finfzehn
bis zwanzig Lire, und das bei einer Strede von elf bis fünfzehn
Kilometern! Und nun fommt die andere Schwierigleit: jeden Tag
meldet fich ein neuer Ort und bittet um Soldaten. Ich weiß nicht
mehr, wie ich die überall zeriplitterten Mannſchaften — oft Ionn
id) an einen Ort nur drei Mann ſchicken — überſehen, wie ich fie ver-
pflegen ſoll!“ Sch frage nach fonftigen Neuigfeiten. „Unjere Pioniere
begnmen den Kirchturm von San Michele abzutragen. Hoffentlich
paffiert ven magemütigen Kerls nichts, fonft gnade Gott ung Offi⸗
zieren; denn wir werden für alles verantwortlich gemacht. Warum
helfen uns die Arbeiter aus der Stabt nicht?”
Bor dem Palazzo Gagliardi begegnet mir der Abjutant bes
Generals. „Gibt's noch feine Überficht über den Gefamtichaben ?“
Achlelzuden. „Jeder Tag bringt neue Ungllicksmeldungen; das
Unglüdsgebiet breitet jich immer mehr aus. Sch Tomme eben aus
der Provinz Coſenza zurüd, um den Schaden von Ajello zu kon⸗
ftatieren, mo ein Bergfturz die Erdbebenjchäden vergrößerte." Als
ich auf die Außerungen der Unzufriedenheit in der Bevöllerung hin⸗
Kalabrien: Ein Antillerikaler 69
wies, zudte der Kapitän wieder die Achſeln. „Selbituerftändfich
fann man e3 nicht allen recht machen und bejonders jet, mo die
Ralamität jo ſchauderhaft ift.” In dieſem Augenblick zog eine Schar
junger Leute vorüber; ein ſtarler Burſche mit energifchen, harten
Bügen fchrie unausgefett: „Mein Bater liegt im Sterben, meine
Mutter ift frank, und man gibt ung Tein Zelt!" — „Recht hat er!”
ruft ein Bürgerämann, der in der Nähe fteht; „Ichreien muß man,
fchreien! Wir in Monteleone werden ganz vergeſſen, die bon aus-
wärts werden bevorzugt!" Die weiteren Worte erjtidten in Flüchen.
„Ja wohl”, rief ein anderer Mann fo laut, daß alle Offiziere es hören
mußten, „jchreien wir, und wenn man ung nicht hören mil, fo greifen
wir zum Blei!" Alle dieje Heinen Epifoden wurden natürlich beim
Abendeſſen von unjerer Geſellſchaft durchgefprochen. Da einer der
jungen Arzte die Kalabreſen in Schuß nahm und fagte, fie feien gut⸗
mütige Leute, Die man mit freundlidem Wort zu allem führen könne,
tief ein Pionieroffizier: „Nein, fie find indolent, ja faul! Und die-
jenigen, die am meiften fchreien, find die Heinen Rentner, die vor
der Beſchädigung ihrer Häufer mit einem Jahreseinkommen von
1000 Lire die „großen Herren“ fpielten und nun befiicchten, eventuell
arbeiten zu müljfen. Der Heine Dann fchimpft viel weniger; er
weiß, daß ihm eine Bretterhütte geſchenkt wird, die ihm die Miete
in ben ſchlecht gebauten Löchern part, jo Daß er fich finanziell befjer
ſtellt!
Ein Aushilfskellner, der heute zum erſten Mal antrat, miſchte
ſich in das Geſpräch und rief mit Pathos aus: Ich habe acht Chriſten
zu ernähren; ich habe ſechs Kinder, meine Wohnung iſt zer⸗
ſtört; ich habe kein Obdach und bei der Brotverteilung bin ich
bis jetzt leer ausgegangen!“ Schließlich ſchimpft er im Abgehen
über die Barone und Prieſter, die Kalabrien verdürben. „Nanu,
fieh einmal den Antillerifalen an, ſpottete der junge Arzt, der vorher
die Kalabreſen verteidigt hatte. Laſſen Sie es nur gut fein“, fiel
ihm ein Kollege vom römijchen Geſundheitsamt ins Wort: „Sch
70 Kalabrien: Erdftöße
habe bei meiner heutigen Inſpektion doch auch meine Beobachtungen
gemacht. Die meiften Ortfchaften Haben drei oder mehr Kirchen,
aber feine Schule und feine Apothele. Und in diefem Gebiet des
tompletten Analphabetismus, von was reden die Leute nur? Nur
bon dem Wunder, daß der „Heilige” des Orts heil geblieben! In
Piſocopio haben fie jet jchon Drei Wunder! Da fchlag doch einer!
Warum Hat denn Feiner diefer Ortöheiligen dag Wunder fertig
gebracht, auch die Kirche zu retten? Diefe Egoiften! Nur an ihre
Statue Haben fie gedacht!“ Die Unterhaltung ging nun auf den
Großgrundbeſitz und die Untätigfeit der Yandbarone über. Doc)
dabon ein ander Mal.
m.
Tropea, 17. September 1905.
Der erfte Akt der Tragödie ift aus. Dem gewiſſenhaften Bericht-
erftatter bleibt nichts anderes übrig, al, nachdem er die Haupt-
Ichäden in den am meijten betroffenen Provinzen Catanzaro und
Reggio Calabria Tonftatiert hat, zum Hauptquartier zurüdzufehten
und die dort oft nicht ganz einwandsfreien Einzelnacdjrichten auf
Grund feiner Erfahrungen an Ort und Stelle zu fichten. Sch trennte
mich um fo leichter von Monteleone, als die Berhältniffe — nicht nur
mas Unterkunft und Verpflegung anbetrifft — ungemiitlich geworben
waren, wie aus meinem legten Briefe hervorgeht. Auch ift es nicht
jedermanns Sache, nach mancher fchlaflofen Nacht in der Eifenbahn
durch die wiederholten Stöße ftet3 aufgeftört zu werden. Sind dieje
Stöße aber fo ſtark, wie in der vergangenen Nacht, fo traut man in
einem fo durch und durch gerüttelten Ort wie Monteleone zulebt
der anjcheinend feiteften Burg nicht mehr. Und feit war unfer Haus;
denn am Tag und abends eſſen alle Offiziere und Beamte drin, ohne
jede Furcht, und nur nachts gingen fie mit allen Einwohnern aus
der Stadt hinaus, um im Freien zu jchlafen. Sch aber hatte mit
meinem deutſchen Dicklopf alfo gefolgert: „Was tags hält, muß auch)
Kalabrien: Flucht vor dem Erdbeben 71
nachts halten“, und mar, aller Stichelei zum Trotz allein im Hotel
geblieben. Dieje Nacht aber weckte mid) gegen Halb drei ein folcher
Stoß, daß ich in höchſter Panik zum Fenfter ftürzte und dort rittlings
dad Morgengrauen erwartete. Mein alter Freund, der Baurat-
Aquarelliit Albert Genid, der die Kataftrophe von Cafamicciola mit»
gemacht, hatte mir nämlich immer empfohlen, bei Erdbeben Schub
zu juchen unter Tür- oder Fenfterrahmen. In meinem Yuftigen
Sit harrte ich aus, bis die erſten Menfchen zur Stadt zurückkamen,
nahm meine Garderobe und mein Gepäd, eilte auf die Straße, mo
ich Toilette machte und dann einen Knaben ausfandte, um mir ein
Gefährt zu fuchen; denn im Eiſenbahnwagen an der Küfte fchläft
ſich's Doch ficherer.
Um neun Uhr war id) ſchon in Pizzo. Auf der Talfahrt
vegegnieten mir große Karawanen von Ochſenwagen, von denen aber
jeder nur etwa fünfzig Bretter Hinaufichleppte. Was ift das unter
fo viele? Auf dem Wiefenplatenu über dem malerifch gelegenen,
jest auch halb zerftörten Städtchen traf ich das größte Zeltlager,
das ich big jet gefehen Habe. Und dabei hatte die Stadtverwaltung
die Kirche ©. Crocefiſſo in ein Hofpital und das Teatro Follia in
Schlaffäle verwandelt. Yon Zeit zu Zeit ſchaute ich erjchreckt zum
Himmel, der morgens durch den glühend heißen Scirocco ganz mit
Wolfen bededt worden war, jet aber glüdlichermweije fich aufzu-
heitern begann. Nur langfam Tonnte ich mich durch die engen
Straßen winden, da fortwährend neue Ochſenkarren Bretter brachten
und in wildeftem Gewirr in- und durcheinander fuhren. Bald faß
ich am Tisch eines emfig fchreibenden Feldwebels an der Station,
die fo ftarf mitgenommen wurde, daß das Telegraphenamt in eine
Wärterbude hatte verlegt werden müjjen. (Sn Cerello liegt dag
Bahnhofstelegraphenamt au Mangel an ficheren Räumen fogar
in dem notdürftig gereinigten Aborthäuschen.)
Da hodte ich nun mit der Föftlichen Auzficht, auf den einzigen
Schnellzug, der fahrplanmäßig um 10'/. Uhr nacht3 kommen follte,
72 Kalabrien: Parghelia
jicherlich vierzehn Stunden warten zu müſſen. Plötzlich taucht aus
der Feldkaſerne, die aus jieben Waggons befteht, der Photograph
eined Neapler Blattes auf, der jich zur Konllavezeit einen Namen
gemacht hat. Er war eben im Begriffe, Toilette zu machen. Als ich
ihm mein Leid lagte, rief.er: „Sehen Sie doch mit nad) dem Süden,
nah Barghelia, denn, wenn Gie das nicht gefehen haben, fehlt
Ihnen das Eharakteriftiichite. Für das Wie forge ich; denn wollten
wir auf den Schnellzug warten, wären wir angeführt!" Wichtig!
Bald darauf kommt ein Güterzug, der Bretter bringt. Kurz ent
ichloffen, läßt der Neapolitaner unſer Gepäd in den Wagen des
Zugführers bringen, ohne auf deſſen Protefte zu hören, und geht
zum Gtationächef, dem er fiegreich auseinanderfegt, daß die Preſſe
zu Audnahmeregeln berechtigt it. Außer uns reilten noch zwei
Slektrizitätsarbeiter mit, welche die Telegraphenapparate an den
beichädigten Stationen revidieren mußten. Es waren Oberitaliener,
die an den Kalabreſen fein gutes Haar ließen. Sie zeterten ob deren
Faulheit, durch die fich befonders die Einwohner von Monteleone
und Barghelia auszeichnen follen. Letztere hätten ich ſogar geivei-
gert, ihre eigenen Toten zu bergen, was die Soldaten tun mußten,
und auch die mühſelig ausgegrabenen Leichen zu beerdigen, mas fie
twieder den Soldaten überließen. Dann Iprachen die Elektriker von
der Panik der legten Racht. UÜberall hätten die Einwohner die noch
jtehenden Häufer verlajfen, weil einer der Stöße ebenfo ftark war,
wie der in der Nacht der Kataſtrophe. „Und wie lange das wohl
noch dauern mag! Denn 1894 hörten die legten Stöße erſt nad)
acht Dionaten auf!" Während der Weiterfahrt, auf der wir einen
neuen Zug mit Soldaten trafen, ward auch der Zugführer gefprächig
und gar galgenhumoriftiich, denn jedes Mal, wenn wir über das
tiefe Bett eines tradenen Bergfluſſes fuhren und zwar recht vor-
fichtig, zeigte er faſt mit gtimmem Behagen auf die Bejchädigungen,
die die Brüde erlitten hatte. Und jedes Mal riefen die Elektriker,
fall die Brüde Hinter und war: „Eccoci salvi un’ altra voltal“
Kalabrien: Parghelia 73
Am Mittag inmen wir am Bahnhof von Barghelia an,
das nächſt Palmi als das ärgſte Räuberneit der Küfte gilt, und ich
empfing fogleich den ftärkiten Eindrud, den ich auf meiner ganzen
Gtreife gehabt habe. Im Nu maren wir von einem Heer von
Qumpengeftalten umringt, wie fie Hoffmann, der Freund nächtlichen
Spuß, nicht ſchlimmer Hätte erdichten Tönnen. Und dag Elend erft
in den fieberkranfen Gefichtern und die Frucht des Elends, die Bo3-
heit! Das Gekreiſch, dad Gebettel, dad Seufzen und Wimmern
wollte fein Ende nehmen. Biele alte Megären entblößten ihren
Oberleib, um deſſen erjchrediende Magerkeit zu zeigen. &3 war zum
Übelmerden. Der Bhotograph Half fich, indem er ſich autoritär
geberdete und eine derartige Salve von Schreien und Ylüchen los⸗
ließ, daß die Ärmſten fich eingefchüchtert zurücdgogen. Nun kamen
wir vom Regen in die Traufe. Fünf Herren, deren feifter Führer
ſich vomehm in die Bruft warf, ftellten fich als Lokalkomitee zur
Berfügung, wobei der Feifte es nicht unterließ, über. die mangelhafte
Berichterftattung zu Hagen. Was hatte mir doch der Vertreter des
„Sortiere della Sera”, freilich mit andern Worten, als das Charafte-
riftifchfte feiner Wahrnehmungen im Eröbebengebiet bezeichnet?
„An der Preſſe hängt, zur Preſſe drängt doch alles!” Auch dieje
Störenfriede jchüttelten wir ab, bis auf einen ſchäbigen Mann,
bei dem alles grau war, Blid, Haar, Anzug und Haut. Er jchlidh
Hinter und her wie ein Hund. Wenige Schritte vom Bahrıhof
fommt man zum Eingang des Städtchens, das 3000 Einwohner
zählte und vor der Berjtörung weniger dörflich ausgejehen haben
muß, als die andern „paesi“, die ich fennen lernte. Jetzt fieht
man’3 freili” ande. Der Photograph wurde wieder nervös;
denn jebt nahten fich und Studenten aus Reggio Calabria, die als
Hilfskorps Kleider gebracht Hatten. Sie boten fich großartig als
Führer an. Das erite, mas ſie verlangten, war aber, daß wir auch
ichön ihre Namen druden laſſen follten. Auch fie wurden deutlich
entfernt. Bei ung blieb nur ein junger Staatsingenieur, der offenbar
74 Kalabrien: Diebe
froh war, fern von läftiger Begleitung dem ihm befreundeten Photo-
graphen jein Herz ausfchütten zu können. Die erjten hundert Schritte
fahen wir in der Hauptftraße nur die ſchon gewohnten Bilder der
Beritörung, dann aber folgte eine Kapelle, von der nur eine Wand
und die Heine Orgel heil geblieben mar, drauf ſechs bis fieben voll⸗
ftändig zerpulverte Häufer. Überall lagen noch Heu und Stroh und
Hobelfpäne umher, auf denen man die 47 Toten und die Hunderte
von Verwundeten gebettet hatte. Alle Häufer find fo verlegt, daß
ihr Betreten verboten ift. Karabinieri und Soldaten ftehen überall
Wache. Unverlegt blieb nur der Palazzo des „Signore“, der ein
Sahreseintommen von 200,000 Lire hat, trotzdem aber fich tapfer
an der Entgegennahme von Spenden beteiligt. „Ein anderes Bild !”
jagte der ingenieur. „Hier nahm ich ein fünfjähriges Mädchen
heraus, da3 zweiundachtzig Stunden eingefchlojfen war. WS ich,
um das Rettungswerk zu erleichtern, die Matrabe, auf der das Kind
lag, zerichnitt, kratzte mir die Mutter deshalb faft die Augen aus.’
Weiter. „Hier fanden”, jo fagte der Ingenieur, „die Soldaten
die Leiche der größten Schönheit des Ortes, die erft feit zwei Monaten
verheiratet war. Da — ſchauen Sie noch das blutbefledte Bett!...
Auch komische Noten fehlen nicht. So traf ich geftern einen Mann,
der heimlich in fein Haus eingedrungen war und das einzig ber-
ſchonte Zimmer mit einem Flederwiſch abſtaubte.“ Beim Weiter
fchreiten machte fich der Verwefungsgeruch noch fehr unangenehm
bemerkbar, obgleich die Leichen jchon feit mehreren Tagen beerdigt
find. Und nun erzählte der Ingenieur von der triften Art der
Zeichenbergung. Er beftätigte, daß fich Fein Einwohner an ihr
beteiligt habe, und im Gegenteil die Einwohner fpäter die Soldaten
und Ingenieure beichuldigten, fie hätten die Leichen beraubt. „Und
das fagen diejelben Leute, die jede Nacht das Lager verlafien, um
in Schutt nach Juwelen zu fuchen! Natürlich, wenn's and Stehlen
geht, find fie nicht zu feige!" Kaum Hatte er das gejagt, fo fchallte aus
einem äußerlich ziemlich gut erhaltenen Haufe verbächtiges Klopfen.
Kalabrien: Vom Photographieren 75
Ein Pfiff, und im nächſten Moment war das verdächtige Haus von
Soldaten und Karabinieri umftellt. Nach zehn Minuten erfchien der
Ingenieur, der indeſſen das Haus vorfichtig Durchfucht Hatte, wieder
bei una und fagte: „E3 war der Hauäherr, der den Dieben zuvor⸗
fommen wollte. Wenn er nun erichlagen worden mwärel Wen
hätte die Schuld getroffen, wen anders ala und? Aber fo find die
Leute hier!“
Wir fchritten vor Dorf zurüd, ftärkten una im Lager der
Offiziere mit Wein und Waſſer — viel mehr hatten die Tiebens-
würdigen Wirte auch nicht — und gingen dann zum Lager der Ein-
twohner. Für diefes „Lager der Vertriebenen” hätte Goethe wohl
feine Töne wie in „Hermann und Dorothea” angefchlagen. Keine
Spur von Trauer! Das merkte man befonderz, als der Neapolitaner
für Illuſtrationszwecke einige Gruppen aufnehmen wollte und
dabei in feiner draftiichen Weife immer wiederholen mußte: „Um
Gottesmwillen, ihr Tieben Leute, fo lacht doch nicht, fonft glaubt
man ja nicht, daß ich Erbbebenhilder Tiefere!" Widermillig und
traurig zeigten fich eigentlich nur in der Nähe der Zelte die gefefjelten
Hühner, unter denen ein mächtiger Hahn gar manches prometheifche
Zornkikeriki erfchallen Tief. Widerwärtig aber gab fich der Komitee-
mann, der und nachgeichlichen war; er wollte durchaus in jeder
Gruppe mit pofieren. Unter diefen Umftänden verlor der Photo-
graph bald alle Luſt. Er photographierte nur noch das gerettete
Kind und deſſen freudeftrahlende Mutter; denn diefe denkt jekt
weniger an die Matrae als an da3 durch die Zeitungen berühmt
gewordene Kind. Sch fragte nun den Ingenieur, wie er fich das
Rettungswerk weiter vorſtelle. Er ermwiderte: „Das willen die
Götter. Vorerft bauen wir jeder Familie eine Barade, dann fuchen
wir ihnen aus den Häujern zufammen, was wir an Habjfeligkeiten
retten können; denn da3 Tann man dod) nicht gut verlangen, daß
der Staat auf feine Koften jedes Haus wieder neu aufbaut. Was
aber die Brotverteilung anbetrifft, jo wird fie wohl fo lange dauern,
76 Kalabrien: Ein ſchöner Pfarrer
bi3 fich die Panik legt, und die Leute wieder an die Arbeit gehen.
Da3 hängt aber von der Dauer der nachträglichen Stöße ab. Wir
können bei der Apathie der Leute nicht? anderes tun, um jo mehr,
al3 die ärmeren diejer lieben Leute willen, daß fie durch die Erd-
bebenpanif noch viel gewinnen.” — „Uff!” unterbrad) der durch
zu viele Arbeit nervös gewordene Photograph; „jebt muß ich aber
zu Mittag ejfen. Sch bin feit fünf Uhr auf den Beinen und habe
aus Mangel an Fahrgelegenheit jchon vierzehn Kilometer zu Fuß
machen müſſen. Alſo auf nah Tropea!"
Zum Glüd trafen wir einen mit drei Stunden Verſpätung
angelangten Bummelzug. Auch die drei Kilometer lange Strede
bis Tropen zeigte wieder einige verlegte Brüden. Das Gepäd
biieb am Bahnhof, der ringsum von Zelten, Segeltuchhütten,
Baraden und Wohnwaggond umringt ift; denn auh Tropea
bat mehr gelitten, als es anfangs hieß. Zwar hat die 6000 Ein-
wohner zählende Stadt wenige Tote und Verwundete zu zählen,
aber zu drei Bierteln ift fie zerjtört, und doch war fie ſchon vor dem
Erdbeben ruinenreich und dazu ſchmutzſtarrend umd vermwahrloft.
Berjtört ift auch dag große Hotel, jo daß jetzt das gegenüberliegende
Gaſthaus zur Ehre fommt, den Mittagd- und Abendtifch für die
Behörden, Darunter einen Oberft, liefern zu müffen. Als wir an den
einzigen langen Tiſch des Speiſezimmers kamen, fanden wir eine
lebhafte Gejellichaft vor, beitehend, wie ſich ſpäter heraußftellte,
aus einem im Venezianiſchen gebürtigen Gemeindearzte, dem
Polizeikommiſſar des Ortes, einem Staatöingenieur und emem
diden jungen „Kanonikus“ der Umgegend, etiwa dreißig Jahre alt,
an dem alles glänzte: Rod, verhältnismäßig reine Baden, fett-
ftarrender Hut, Zähne, Lippen und Augen. Er entwidelte, was
mir bei der unmenjchlichen Sciroccohitze fchier eine phyſiſche Un-
möglichkeit dünkte, nicht nur einen Niefenappetit, ſondern aud)
eine oft ftarf weltliche Beredſamkeit, die nicht eben leije mar.
Während fich die anderen darum firitten, wer am meiften beim
Kalabrien: Der Polizeilommiffar 77
Erdbeben gelitten Habe, ob die Grundbefiter, oder die Armen,
Die Bauern und die Tagelöhner, und der Gemeinbearzt gerade fagte,
die Leute von freien Berufen und die Rentner, die von der Ver⸗
mietung ihre3 einzigen Befites, dem Haufe, lebten, feien am meiften
geichädigt, rief der rottwangige Priefter: „Und von una fpricht man
nit? Richt nur — Berbeugung und Bekreuzung — ift da3 heilige
Sakrament noch begraben, fondern wir können auch feine Prozefjion
veranftalten! Und doch Habe ich, ich allein mit diefen Fäuſten für
alle die Leichen meines Ortes in der Nähe von Parghelia geforgt,
und id) mar ſchon um zwei Uhr fertig, ehe jich der Bfirgermeifter von
Parghelia regte. Seht aber, mo e8 an die Verteilung der Spenden
geht, will der Bitrgermeifter alles für den Hauptort behalten, wir
Bororte kriegen nichts! O, jo haben wir — folgte ein Fluch — nicht
gemettet, nein, jet ijt die Zeit gefommen, mo man die Stimme
erheben und fchreten muß!” Als er fich noch mweiter in Die Giede-
hitze Hineinfchrie, mußte ihn der Polizeikommiſſar bitten, fich zu
mäßigen, damit. er dem armen Bolfe, da3 amtlich zu ihm komme,
— denn er ilt im Wirtshaus einquartiert, da fen Bureau bejchädigt
ift — kein böſes Beifpiel gebe. Und da3 arme Volk am in vielfacher
Geſtalt. Zunächſt als Schifferfnecht, der fich beffagte, daß er noch
fein Brot befommen habe; der Polizeikommiſſar reichte ihm da3
feine. Dann ein arme Schmutzweib, da3 getroft al3 erſte Tragöbin
hätte auftreten können; wenigſtens hätte jede deutiche Schaufpie-
lerin von ihr Lebhaftigfeit lernen fünnen. Dann Im gleich ein
ganzes Parlament, beftehend aus zwölf armen Frauen und zehn
Kindern. Ich bemwunberte die Ruhe des Polizeimannes. Gleich
darauf bewunderte ich fie noch mehr. &3 trat nämlid) ein ſchlanker
Mann ein, den. man mit Advolat anredete; er.jah fiebrig, hohläugig,
unelegant aus und trug ftatt Des Kragens ein ſchmutziges rotes Tuch
um den Hals. Buerft beklagte er ſich noch-Ieife itber feine viele Arbeit
als SKomiteemitglied. Cr komme gar nicht mehr zum Schlafen.
Und die Polizei laſſe ihn auch im Stich, und das Militär äftimiere
18 Kalabrien: Bolfreunde
ihn nicht. Plöglich fuhr er aber mit folcher Berferfermut auf den
Polizeitommifjar los, daß ich fürchtete, e8 lomme zum Handgemenge.
Der Kommiljar lachte aber nur ſpöttiſch auf und erklärte: Er habe
die Regierung fo lange mit Telegrammen bombardiert, bis fie
1500 Lire für Brot zugefagt habe. Jetzt fei dag Geld an dag Komitee
gelommen, ohne daß dieſes e3 für der Mühe wert gehalten habe, ihm
Davon Anzeige zu machen; dafür erhalte er aber jebt Vorwürfe, weil
er nicht mehr berbeilchaffte, während die Herren vom Komitee
jelbft nichts beifteuerten. Der Photograph fchlichtete den Streit,
indem er vorfchlug, zum Hofpital zu gehen. Alle fagten zu,
bis auf den Kanonikus und den Herrn „Comitato“. -'
Auf den: Wege nahm mich der Arzt zur Seite. „Das, was Sie
joeben erlebten, fagt mehr al3 lange Erklärungen. Sch bin auch
froh, daß ich zu einer beiferen Stelle und von hier fortfomme. Der
Kanonikus ift fehr reich, er gibt ſelbſt aber nichts, fondern fchreit nur,
um die Oberen auf fich aufmerffam zu machen. Die Stomitee-
mitglieder find Herren, die auch nicht geben, die früher mit ihren
jchnell fahrenden Kutſchen das arme Volk überfuhren und jebt jich
plöglic als Volßöfreunde entpuppen, mweil es eine Abmwechilung
im Eintag3leben und ein Reflamemittel darftellt! O wie gern Tehre
ic) diefer Gegend des von Herren und Prieftern auögebeuteten,
analphabetiftiichen Elends den Rüden!“ Gleich darauf nahm mid)
der Polizeitommiffar zur Seite. „Da fehen Sie's! Überall fehlt
e3 an dem einen Willen. Die Polizei hat eben feine Macht,
weil die politiiche Regierung immer Rüdficht auf die Einmifchung
der Deputierten und deren Freunde nehmen muß. Iſt's in Deutfch-
land aud) jo?" Der Eintritt ins Hofpital, wo eben eine vermundete
Frau in einer Sänfte, die den vor 1870 in meiner Heimat üblichen
Cholerafänften glich, eingeliefert wurde, überhob mich einer Antwort.
Überall ſah e3 traurig aus. Traurig das erft 1903 erbaute und jetzt
geitügte Gebäude, traurig die ärmlich gefleiveten Nonnen, traurig
die verwundeten Mädchen und Frauen. Sch machte nachher einen
Kalabrien: Die Stadt Tropen 79
Rundgang durch den Ort. Überall, auch an riefigen Baläften, die
bon einftiger Herrlichkeit zeugten, wurden wankende Mauern von
Militär eingerijjen, überall waren aber auch die noch jtehenden
Tore, Zelt- und Baradengebäude mit Heiligenbildern gepflaftert;
dazu hatte man noch auf Pläben und Chaufjeen Leinwandkapellen
hergerichtet, in denen da3 Volk um ein Heiligenkild teils ſchwatzend,
teild betend herumjaß. Syn den Straßen hodte aber dad Bolt —
gerade wie in Monteleone — vor oder in den Haustüren, ganz un⸗
tätig, auf einen neuen Stoß und auf den Abend martend, wo alles
Hinauspilgert zum Zeltlager; denn fein Einwohner von pe
wagt e3, in einem Haufe zu fchlafen.
Tropen heißt die Stadt der Dummen und Narren. Man
ſieht, die Talabrefiichen Städte find recht gut aufeinander zu fprechen.
Mir erichien Tropen nur al Ort der äußerſten Verwahrloſung.
Geitdem ich in Kiew im Volksviertel war, ſah ich ſolchen Schmuß
nicht mehr, ſelbſt Neapels äußerfte Vorſtädte müſſen fich fchon
gewaltig anjtrengen, wenn fie folch leere Fenſterhöhlen, ſolche Erd⸗
gejchoßlöcher, ſolche rauchgeſchwärzten Häuferfafiaden und die
entiprechend widerliche Staffage aufbringen wollten! Auch jah
ich noch nirgendwo fo ſchmutzige Priejter. Eine Stadt der Faulenzer
icheint die Tropen zu fein, mo Griechen, Sarazenen, Ralabrefen,
Albaneſen fich zu einem feltiamen Mifchvolf zufammentaten, und
doch foll ein ziemlicher Handel hier blühen, dies „zientlich” allerdings
nach dem bejcheidenen Ortsmaße gerechnet.
Der Maler wird hier gern verweilen. Er kümmert fich ja nicht
um Bollswirtichaft und ähnliche trodene Dinge, er lechzt nach Form
und Farbe, und die hat er hier, befonders gegen Abend am Strande.
Wie malerifch ift jchon der riefige Yelsblod, auf dem der Kern der
Stadt ſteht! Architelten würden aud) ihre Freude daran haben,
wie die Stadt, einer Pflanze auf Yelsboden vergleichbar, die ihre
Wurzeln fuchend nach unten treibt, riefige Mauerklammern und
Steinftreifen aB Stützen immer tiefer und tiefer trieb. Jeder
80 Kalabrien: Die Verbrecherſtadt Palmi
Kunftentäufiaft muß aber verblüfft werden, wenn er die Berge
ringsum an der Küfte, die Stlippeninfeln am Strande mit den
jetzt zerftörten Kirchlein darauf, das Farbenſpiel im Waſſer, oder
gar in der Nebelferne die Baden dee Stromboli fieht, der
ſich noch toller geberdet, al3 jein Bruder im Kontinent, der Veſuv.
Doch, wie gejagt, der Tünftleriiche Standpunkt ift nicht maß-
gebend. Der Politiker, der Menſchenfreund empfindet die heutigen
Zuftände in Tropen und Umgegend al3 einen Hohn auf Staat,
Regierung, Fortichritt und Chriftentum, al3 einen FYauftichlag in?
Geficht der Zivilifation. So find die meiften. diefer ſchönen Städt⸗
chen im ganzen zum Elend verurteilt, und der Schmuß und das
Berbrechen gedeihen in ihnen! Wer de3 lebteren interefjantefte
Formen ftudieren will, ziehe weiter nad Palmi, das in der
frimmaliftiichen Literatur berühmt ift. Ich fürchte jedoch, daß er
die in dem Städtchen begonnenen Studien über die dort graffieren-
den Tamorriftiichen Delinquentengeheimbünde auf den „Inſeln“
fortfegen muß, mo die Hälfte von Palmis männlicher Bevöfferung
auf Staatskoſten „Zwangswohnſitz“ Hat
Beim Einbruch der Dunkelheit erfchienen außer dem Polizei⸗
kommiſſar auch viele Offiziere mit dem Oberſt im Wirtszimmer,
mo ich bis dahin gejchrieben Hatte. Es kam bald wieder ein gemein-
james Geſpräch zuftande, denn große Kataftrophen führen Männer,
ſo jehr auch ſonſt der SKlafferumterfchied fein mag — mittlerweile
Hatten fich auch befjere Arbeiter zu uns geſetzt — hier in Italien
wenigſtens leicht zujammen. Da3 Leitmotiv der Unterhaltung
war die Autorität. Der Oberſt aber ſchmunzelte nur. Zuletzt
wurde aud) das heiffe Gebiet der möglihden Unruhen gefteift.
Ein Kapitän griff das Thema Iebhaft auf; der Polizeilommiffar
fagte, auch er bedauere e8 lebhaft, daß das Militär fo oft zur Aufrecht-
erhaltung der Ordnung ablommandiert werde, darunter nicht nur
die Ausbildung der Soldaten, jondern auch deren Stellung gegen-
über den Bürgern leide. Sch will auf diefen böſen Gegenſtand
Kalabrien: Charakter des Volles 81
nicht weiter eingehen, aber ich muß doch erklären, daß ich überraſcht
war, als ich merkte, wie tief der Groll im Herzen der Offiziere ſitzt,
weil ſie ſo oft vor die Notwendigkeit geſtellt ſind, auf das Volk zu
ſchießen. Die Leute Haben Recht. Aber fo lange man jeder Ge-
meinde, felbit in dem moraliſch und politiſch zurüdgebliebenen Süd⸗
italien, das Recht läßt, fich felbft aus dem Parteiwirrſal den Bürger-
meijter zu wählen, der natürlich al3 Chef der Sieger feine Autorität
über die unterliegende Partei hat, fo lange man neben ihn einen
Bertreter der bürgerlichen Polizei ftellt, ohne ihm genügenden
polizeilichen Schuß zu geben, fo lange Daneben noch drei bis vier
Karabinieri in jedem Ort liegen, die von einer anderen Behörde
abhängen, jo lange fehlt es in aufgeregten Zeiten an einer ver-
antmwortlichen Autorität. Der Blrgermeifter fchiebt alles auf die
Karabinieri, diefe auf den Polizeikommiſſar, diefer wendet ſich in
feiner Machtlofigfeit an den Präfekten, und der an dag Militär.
Noch ein Wort über die Bevölkerung. Ein Talabrefifcher
Journaliſt ſchrieb von ihr in diefen Tagen, fie fei zu indolent, apathifch,
tefigniert und verſtehe e3 nicht, ordentliche Deputierte zu wählen.
Die einzelnen Orte verjtänden e3 nicht, zufammenzugehen, um im
gemeinjamen Intereſſe wichtige Lokalfragen zu regeln, dafür fei
der gegenjeitige Neid, die Mißgunſt zu groß. Alles werde von einer
Dligarchie beherricht, die ſtark fei durch Zenfus, aber nicht durch
Intelligenz. Der reichſte Mann Calabriens habe jein Bermögen
durch Güterfchlächterei und Wucher gemacht. Bon der Unwiſſenheit
des Volles brauche man in einem Lande nicht zu reden, mo die Poſt
aus Turin erft nad) ſechs Tagen anfomme. Wie die Poft, fo jchlecht
jei auch die Eifenbahn. Privatinitiative ſei ausgefchlojfen, mern
ſich die Produktion nicht Iohne, da der Transport aufder einzigen
Eifenbahn, die nach dem Norden führe, zu teuer ſei. In den Städten, -
die ohne Stadt-Vermögen ein elende3 Dafein friſteten, ſeien die
Bermwaltungszuftände präadamitiih. Geld finde fich wohl, aber es
fehle an Banken, die leichten Kredit geben könnten: Der Wucher
Bacher: Im Lande des Erbbeben?. 6
82 Kalabrien: Trägheit
graſſiere daher, und fein Fluch werde durch den enormen Gteuer-
druck gefteigert, fo ziwar, daß viele Bauern fich nur von Zwiebeln
nähren fönnten. Dazu komme, daß die Ölfliege (mosca olearia)
neun Zehntel der Olproduktion vernichtet habe. Zum Schlufje
heißt es: „Der Charakter des Volfes ift gut, leider hat es aber noch
den altipanischen Ehrbegriff (punto d’onore), den Hang zur Eifer-
ſucht und bei allen Leuten, die feine Bauern oder Arbeiter find,
die Üiberhebuingsfucht, die fich darin äußert, daß fie fich alle „Don“
benamjen. Alles das find Übertreibungen, die zu den häufigen
Blutverbrechen, dem Cliquenweſen, der Arroganz der herrichenden
Parteien in der Stadtverwaltung Beranlafjung geben. Sonſt,
wie gejagt, ift der Kalabreſe ein guter Kerl, er hält fein Wort, er iſt
edelmütig, mutig und arbeitfam, äußerlich jtattlich und würdevoll
in feinem Benehmen. Gein Sinn für die Einheit des Vaterlands
ift geweckt, feine monardjifche Treue ift traditionell. Kurzum,
Kalabrien ift noch ganz jungfräuliches Gebiet, das auf eine Negie-
rung wartet, die feinen Einwohnern Wohlitand, Bildung und
Sicherheit gibt. Wollen wir hoffen, daß da3 italienijche Solidaritäts⸗
gefühl, das durch das gegenwärtige Unglück gefteigert wurde, fich
in eine ftändige Ngitation: „Pro Calabria“ verwandelt!" ...
Rom, 22. September 1%05.
Sin den meijten Berichten unbefangener Beobachter aus dem
Erobebendiltrift murde auf die Indolenz der Bevöl—
ferung hingewieſen. Seht erhebt ſich auch ein freimütiger
Mann, der freilich oft genug an die Öffentlichkeit tritt, der ehemalige
Sekretär Garibaldi3 und jetzige Gutsbeſitzer Achille Fazzari,
um ſeinen Landsleuten, die Millionäre ſind, wegen ihrer Indolenz
zu Leibe zu gehen. Er fordert ſie auf, doch auch einen Teil ihres
koloſſalen Vermögens zu opfern, das fie vom Schweiße ihrer Mit-
bürger erworben hätten. „Wenn hr Euch fernhaltet”, jchreibt er,
Kalabrien: Eigenartige Menfchenfreunde 8
„ſo ſeid Ihr unwürdige Söhne Kalabriens!“ Fazzari ſelbſt ſchenkte
2000 Lire und 9000 Bretter, und feine Frau verpfändete ihre Ju⸗
mwelen für 7000 Lite, die fie gleichfallö opferte. Aber, ob der Appell
an die Großgrundbejiger nutzen wird? Erzählt man fich doch die
twunderbarlichiten Sachen von ihnen, befonders von einem, der
200 Millionen befibt. Er zeigt fich gerne bereit, in Not geratenen
Bauern Geld zu leihen, wenn fie ihm ihr Land verpfänden. Können
fie beim Termin das Geliehene nicht zurüdzahlen, jo nimmt er das
Land. Vergebens weilt der Bauer darauf hin, daß er auf dem Land
ein Haus ftehen Habe. „Das ift nicht mit inbegriffen, das könnt
hr anderswo aufjtellen”, ift feine ftereotype Antwort. Schließlich
ift der Bauer froh, wenn er fein früheres Eigentum dem neuen
Beliter abpachten kann. Nicht ſchön follen fich auch die Großgrund-
bejiger in den Malariagegenden zeigen. Gie loden die Kleinen
Bauern aus den Bergen für die Ernte mit hohem Lohn an. Nach
vierzehn Tagen kehrt der Bauer mit fünfzig Lire in der Tafche,
aber auch mit der Malaria heim, die ihn zwei Monate aufs Bett
wirft und ihm die fimfzig Lire wieder aufzehrt; denn der Herr
Großgrundbeſitzer kümmert fich nicht um das Staatschinin und Die
gejegfich vorgeschriebene Prophylaris.
Die Erdbeben-Kalamität iſt gejtern durch Gewitterregen ver-
Ichlimmert und dadurch die Verzweiflung der Betroffenen erhöht
worden. Der Ausbruch von Krankheiten wird befürchtet. Die
Unzufriedenheit des Volkes äußert jich in Lamentationen gegen die
Regierung. General Zamberti wurde in Sant’ Onofrio und der
Verkehrsminiſter Yerraris in Amantea Gegenjtand feindlicher
Demonftrationen. Der „Popolo Romano” wendet fi), und wie
mir fcheint mit Recht, gegen die Oppofitionspreffe, welche vie
Regierung tadelt. Die Opponenten, jagt das Blatt, rechnen nicht
mit der force majeure und mit den Berfehräichwierigfeiten.
Beklagenswert fei es auch, daß Turin und Mailand einen jelbjtän-
digen Unterftügungsdienft arrangierten ımd jo das Beltreben der
6*
83 Kalabrien: Erdbebenſtatiſtik
Regierung, ein einziges, allein verantmwortliches Nationallomitee zu
bilden, vereitelten. Jetzt erft ift es möglich, eine freilich noch unvoll-
fommene Statiftif des Gefamtichadend zu geben. Danach find be-
teoffen die drei Provinzen Catanzaro, Coſenza und Reggio, die
zujammen 413 Gemeinden zählen, von denen 212 gejchädigt find.
ME Gejamtzahl der Toten wurde bisher Tonftatiert 592, als Zahl
der Berwundeten 2255, doch wird befürchtet, daß die Zahl beider
Kategorien in Wirklichkeit größer iſt. Was die einzelnen Provinzen
betrifft, jo wurde am meilten die Provinz Catanzaro mitgenommen.
Bon 152 Gejamtgemeinden find 83 bejchädigt, 20 vollftändig zer-
ftört; Tote 546, Verwundete 2 055. In der Provinz Cofenza find
71 von 155 Gemeinden bejchädigt und 10 völlig zerjtört; Tote 46,
Berwundete 200. In der Provinz Reggio find von 106 Gemeinden
52 leicht bejchädigt; feine Menfchenopfer. In vielen Orten, bejon-
der3 in Martirana (Provinz Catanzaro), find die Toten noch nicht
aus den Trümmern ausgegraben.
Aus dem Erdbebengebiete ift ſonſt nicht viel Neues zu berichten.
In einigen Orten beginnen Ausbrüche der Unzufriedenheit, in
andern zeigt ji) Typhus. Um der Malaria entgegenzutreten, plant
man die Entfendung von alten Schiffen nach dem Golf von St.
Eufemia, welche die Kranken, Alten und Kinder aus den verfeuchten
Gtrandgebieten aufnehmen follen. Der Holzmangel macht fich
immer fühlbarer; der Präfeft von ReggioCalabria, aljo der am
wenigſten betroffenen Provinz, forderte allein 15 000 kbm, kann
aber einſtweilen nur auf 2000 rechnen. Es wird wohl noch einen
Monat dauern, bis alle notwendigen Baraden errichtet find. Die
Regierung tut, was in ihren Kräften fteht und fucht alle Schäden des
verrotteten bureaufratiichen Syſtems zu vermeiden, was freilich
ſchwer hält. Noch Taboriert fie an der Frage herum, wie fie die ein-
heitliche Leitung des ganzen Hilfsdienftes ordnen foll; ob diefe nänı-
ih in der Hand des General Lamberti bleiben, oder ob fie
in die des Nationalfomitees übergehen joll, an deſſen Spige der
Kalabrien: Ein Soldatenbrief 8
Bürgermeifter Roms fteht, und für das jetzt ſchon ca. 700 000 8.
gejammelt und an die Banca v’Stalia abgeführt wurden. (Was
die Banken betrifft, jo erließ der vorhin genannte Achille Fazzari
auch einen Proteft gegen die Bank von Neapel, die nur 10000 Lire
hatte zeichnen wollen; er forderte fie auf, ala Mindeftmaß wenigſtens
ſechs Millionen beizufteuern, da fie ja doch nur auf Koften Kalabriens
groß geworden fei.) Schließlich erwägt die Regierung auch die
Frage, ob fie nicht einen königlichen Kommifjar für Kalabrien
ernennen ſoll. Ale diefe Vereinheitlichungstendenzen jcheinen den
Abgeordneten des Südens nicht recht zu fein; fie erbliden darin
einen Verſuch, ihren Einfluß, ihre Smitiative (lies: Pafchatum)
zurüdzudrängen. Gegen dieſe Einheitöbeftrebungen kämpfen auch
die Spezialtomitee3 aus Turin und Piemont.
Intereſſant ift auch, zu verfolgen, wie die Prefje die Haltung
des Papſtes gegenüber dem Unglüd beurteilt. Zuerft [pottete
ein reſpektloſer Teil der antiflerifalen Blätter darüber, daß Pius X
nur feinen Segen gejpendet habe; dann kamen katholiſche Zeitungen,
die von einer päpftlichen Spende von einer halben Million ſprachen,
und zuletzt erhöhte ein konſervatives Blatt diefe Spende auf eine
Million.
Schließlich jei nod) ein Soldatenbrief vom 17. September 1905
aus dem Unglüdsgebiet mitgeteilt, den der, Meſſaggero“ veröffentlicht.
Er lautet: „Liebe Mama! Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, Dir
zu ſchreiben, weil ich vom Morgen bis zum Abend beſchäftigt bin,
um den Krankenpfleger oder den Totengräber zu machen. Ich bin
faſt taub geworden von dem fortwährenden Geheul der vielen Ver⸗
wundeten, und ich mußte meinen, als ich Hunderte von armen Men-
jchen, die ihren Hunger ſtillen wollten, die Hände auzftreden ſah.
Brot Haben wir weder viel gemacht, noch ift viel von außen gefchidt
worden; bis jett mır !/, Kilogramm pro Kopf. Ich habe nicht auf
mein Leben geachtet, als ich Den Armſten helfen mußte. Die Briefter,
die Armſten, tun auch das Menjchenmöglichfte. Nicht einen Fluch
86 Kalabrien: Seltfame Telegramme
hört man aus dem Munde der Hungrigen und vom Erobeben Be-
ichädigten. Ich habe im ganzen etwa 20 Frauen und 30 Männer vom
Tode gerettet. Der König ftand einmal dabei, al ich einen alten
halbtoten Mann aus den Trümmern herauszog, und all die hohen
Tiere ringsum haben gehört, mie fich der König beifällig äußerte.
Dieſe Worte haben mid) begeiftert. Hier unten hat Geld feinen
Wert, hier jind nur greifbare Dinge nötig: Brot, Kleider und vor
allem Bauholz. Euer N.“
Rom, 8. Oktober 1905. Die Nachrichten aus dem kalabriſchen
Erdbebengebiet merden immer trauriger. Seitdem die
meiſten unparteiiichen Spezialberichterjtatter abgereift find und die
oft befangenen Lokalkorreſpondenten, oder auch Privatperjonen Das
Feld der Berichterftattung allein beherrichen, kann man fich von hier
aus kaum mehr in den widerfprechenden Nachrichten zurechtfinden.
Da3 ſchlechte Wetter und die Furcht vor dem noch jchlechteren des
Winter vergrößert die Konfufion. Am meiften hört man die Klage,
daß e3 beffer fei, den nur langſam fortfchreitenden Bau von B a-
raden einzuftellen und den Gefchädigten Geld zu geben, damit
fie fich die Nefte ihrer Häufer für den Winter notdürftig zu einem
Unterschlupf ausfliden können. Dann wollen auch die Klagen gegen
die Bureaufratie nicht verftummen. Der Bürgermeifter von Moen⸗
teleone murde fchon dilziplinarifch gemaßregelt, weil er feiner
Anficht über die chlechte Hilfsaktion des Staates einen zu lebhaften
Ausdrud gegeben hatte. Andererſeits werden die Beamten des
Staates auch durch die Bevölkerung gereizt. So telegtaphierten
einige Bürger von Pizzo, wie der „Popolo Romano” mitteilt,
nicht an den Präfekten von Catanzaro, oder an den Unterpräfelten
des 16 Kilometer entfernten Monteleone, fondern an den Minifter
de3 Innern: „Hofpital eingeftürzt; 70 Kranke müfjen untergebracht
werden.” Der Minifter des Innern telegraphierte fofort nach
Catanzaro und Monteleone, von mo General Lamberti durd) dag
Rote Kreuz ein Automobil mit fünf großen gelten, Verbandszeug
Kalabrien: Organifationamangel ; 9
umd Arzneien nach Pizzo abgehen ließ. Als diefes Automobil mit a
feiner Bemannung anfam, fand letztere das Hofpital unverfehtt, ‘. -
aber leer von Kranken. Diefe lagen in der Kirche und e8 waren .
auch nicht 70, fondern nur 4. Ein Honoratior des Ortes erkläre
darauf, das Telegramm ſei mißverjtanden worden; denn e3 habe nur
bedingungsmweife gelautet: „Wenn da3 Hofpital einftürzt, jo muß
für etwa 70 Kranke (auf jo viel beläuft fich der Jahresdurchſchnitt
in gewöhnlichen Zeiten) gejorgt werden.” Weiter wurde zur Er-
Härung gejagt, dag Hofpital fei Schwer beihädigt und Tünnte
alfo jeden Augenblid einftürzen. — Auch Scarfoglio (Tartarin), der
den „Mattino” in Neapel und die „Ora“ von Palermo leitet, greift
in feinen Briefen von Catanzaro, denen er die Überfchrift „Die
Anarchie” gibt, die Bureaufratie an. Cr trägt dabei vielleicht aus
politiichen Gründen etwas zu ftarf auf, denn er gibt fich ſchon feit
Sahren als Vorkämpfer für ven vernachläffigten Süden und feheint
jich jet mit der Hoffnung zu tragen, daß die lebte Kataftrophe
endlich einmal den Norden und die Bentraltegierung zu einer
energifchen Sanierung von ganz Kalabrien aufrütteln werde. Er
findet vor allem, daß e3 ein Fehler war, das Hauptquartier für die
Hilfsaktion in dem ſchwer zugänglichen Monteleone aufzufchlagen,
da hierfür fich unbedingt nur ein Ort an der Küjtenbahn geeignet
hätte. Außerdem hätte man da3 Gebiet in drei Zonen einteilen
und den erften Hilfsdienft durch Kriegsſchiffe ausführen laſſen müſſen.
Scarfoglio weist auch darauf Hin, daß der Baradenbau energijcher
betrieben werben müßte. 6 Millionen Bretter feien unbedingt
erforderlich und jetzt feien höchſtens 600 000 zur Verfügung. — Im
„Meſſagero“ und in anderen Zeitungen wird aufs neue betont, daß
die kalabriſchen Millionäre bisher noch nicht? für ihre Landaleute
getan Hätten. Dabei ift Herrn Fazzari, der, wie ich früher
ſchon mitteilte, ebenfalls einen Appell an die Millionäre richtete,
folgendes pafliert. Sein Klageruf drang auch zu dem großen Finanz⸗
mann Raggio in Genua, und diejer telegraphierte hierauf
88 Kalabrien: Urteil Lombroſos
zurüd: „Geehrter Herr Fazzari, verwenden Sie die 50 000 Fres.,
die Sie mir ſchon fo lange ſchulden, für die Opfer des Erdbebens!“
Millionäre und Latifundienbefiter beichäftigten fehließlich auch
Ceſare Lombrofo, der im „Avanti“ an feine früher ge-
drudten Schriften über Kalabrien erinnert und dabei bemerkt, es
babe fich jeit den Tagen der Bourbonen, wo die Kalabrier die Sklaven
von Baronen, Prieftern, Mönchen und Beamten waren, nur das
eine geändert, daß an Stelle der Barone die Bankiers getreten
jeien, die aber das arme Land ebenjo ausfaugten wie jene. Auch
jetzt fomme es den Großgrundbejigern gar nicht darauf an, weite
Länderſtrecken unbebaut zu laffen, wenn es ihrem Agenten — denn
jie ſelbſt kümmerten fich nicht um ihren Beſitz — zu wenig lohnend
dünke, alle Streden zu bebauen. Ein einziger Großgrundbeliter,
Senator Baracco, feiein weißer Rabe, der allgemein angeftaunt
wurde, weil er fein Land nicht nur bebaue, fondern dazu aud) moderne
Mafchinen benute. Kein Wunder fei es daher, fo meint Lombroſo,
daß die Zahl der Heinen Beſitzer immer Heiner werde. Die Provinz
Reggio Calabria hatte bei 350 000 Einwohnern im Jahr 1870 nod)
18 000 Kleine Befiger, jegt aber viel weniger, obgleich die Einmwohner-
zahl auf 420 000 jtieg. Mit diefem Elend de3 Heinen Grumdbejites
Hänge auch die Zunahme der Zwangsverkäufe zufammen. 1898
erließ allein das Amtsgericht von Catanzaro 404 Urteile auf Zwangs⸗
verkäufe von Möbeln und 151 von Grundftüden. Bei letzteren belief
fi der Grundftüdswert noch nicht auf 50 Lire. Bei den Möbel-
verfäufen betrug die Schuldfumme in 83 Fällen unter 50 Lite, in
91 unter 100. „Und da foll man fich noch wundern”, fährt der
Turiner Gelehrte fort, „daß das Verbrechen blüht und der Schuß
auf feinen Nebenmenfchen nur ein wenig koftender Scherz ift? Ich
fannte zwei Bürgermeifter und einen Polizeibeamten, die wegen
Totſchlags beftraft waren.” Zum Glüd fei all diefes Elend durch
die Auswanderung gemildert worden, da die Gelder, welche jich
die Auswanderer erfparten, notdürftig ausreichten, um deren von
Kalabrien: Epilog 89
dem Latifundium und dem Steuerfisfus genngerte Familien
am Leben zu erhalten.
Epilog.
Rom, Anfang Oftober 1907.
Unter der Überfchrift „Ralabrien nad dem Erd-
beben von 1905. Wo endeten die Gelder der Wohltätigfeit?"
jchreibt die „Sazzetta di Venezia”:
Bald werden im Talabrifchen Apennin die neuen Dörfer Mar-
tirana und Jacuſo eingeweiht werden, die da3 Mailänder Komitee
neu erbaute, Favelloni-Piemonte, das vom Turiner Komitee
errichtet wurde, wird ebenfall3 bald inauguriert werden. “Diefe
drei Feſtlichkeiten find aber nur eine Ironie. Der edle Begeifterungs-
ſchwung der Wohltätigkeit, der ſich 1905 in den Städten Italiens
und den größten Zentren de3 Auslandes zeigte, hätte hinreichen
fönnen, den Hunger und den Schreden in jenen Gegenden zu
lindern. Und doch wurden nur drei Dörfer refonftruiert. Und wenn
die Komitees von Mailand und Turin nicht unabhängig bon der
Regierung gehandelt hätten, wäre auch dies magere Rejultat noch
nicht einmal erreicht. Die Organifation der Unterftügungen löſte
fich auf in ein wunderbares Werk der Verſchwendung, das Wimmern
der betroffenen Bevölkerung wurde übertönt von dem Lärm der
Wählerklientel. Man muß einmal diefe fchändlihe Vergeudung
denunzieren, die eined Landes würdig ift, wo man dad Pflicht-
gefühl nicht Tennt. Dort unten fieht man noch eine Mafje von
Menſchen, die in Ställen, Erdhöhlen, ſchmutzigen Gelaſſen jchläft
und der Sonne widrige, zerlumpte Nadiheit zeigt. Dort ift ein Bol,
da3 von dem Strom der Wohltätigleitgaben nicht? gejpürt hat,
das, vom Erdbeben auf die Straße gerworfen, unter der Kälte leidet
und feine Finder aus Mangel an Brot und Schulen der Korruption
überläßt. Die Intereſſen diefer Phalanx von Unglüdlichen wurden
90 Kalabrien: Wahlpolitit
mit Füßen getreten von den Intereſſen der Wählergruppen, der
Wucherer von Beruf, der Bauunternehmer, kurz aller Raben, die
fih von öffentlichem Unglüd mäften. Wenige Monate waren erft
nach den Wahlen von 1904 vergangen. Man weiß, wie in Kalabrien,
wo der Volkßwille myftifiziert wird, Wahlen zuftande fommen. Da
vielen Abgeordneten die Frechheit ihrer Wahlfnappen, die wegen
ihrer Verbrechertaten Furcht einflößen, den Sieg allein nicht ver-
bürgen Tonnte, mußten fie ſich dadurch helfen, daß fie Amter ver-
ſprachen. Natürlich wurden fie wiedergewählt, aber viele ihrer
Freunde blieben ohne Amt. In dieſer ihrer Verlegenheit Tam das
Erdbeben ala günftige Gelegenheit. Die Präfekturen verwandelten
fih in Gtellungsvermittlungsanftalten, alle Bagabunden, die bei
ber wahlpolitiſchen Amterverteilung leet ausgegangen waren,
wurden mit 200 Lire Monatögehalt ala Affiftenten des Zivilbau-
amt3 angeftellt, oder als Magazinverwalter für da3 Baumaterial.
Unterftüßt wurden alle Wucherer, die Unterftügungsgelder zu 80 %,
auzliehen. Die Preſſe, die allein hätte Wandel jchaffen können,
wurde betrogen. Die Nachrichten, welche die Präfekturen lieferten,
waren gefäljcht, Dörfer, die feinen Schaden gelitten hatten, galten
al zerftört, halb zerftörte als unverlegt. Diefe Lügen lagen im
Intereſſe einiger Wahlkreiſe. Wer Hörte je etwas von Martirana
mit feinen vierzig Toten und zweihundert Verwundeten? Freilich
bat dieje3 Dorf einen Abgeoröneten, dejfen Wiederwahl unter allen
Umständen gefichert ift, der fich aljo um Details nicht zu kümmern
braucht. Aber ift e3 wirklich wahr, daß der lebte König beider Sizilien
Franz Il ein Prophet war, als er, während er das Schiff beftieg,
das ihn aus dem Lande brachte, ausrief: „Es werden euch nur die
Augen übrig bleiben, damit ihr weinen könnt“?
Man braucht diefer Darftellung eines angejehenen einheimijchen
Blattes nichts hinzuzufügen.
Sie Befuveruption im Jahre 1906.
Land und Leute.
a3 heißt, ich habe zwar den tonventionellen Titel beibehalten,
doch über das Land, aljo über Neapels Landfchaft noch etwas zu
— wäre überflüſſig. Das macht jedes Reiſebuch beſſer. Tibrigens
babe ich ſelbſt ſchon in dem Roman „Aſſeſſor Aſſemacher in
Stalien” der unvergleichliden Schönheit der parthenopäilchen
Golfſtadt meinen Tribut dargebradit.
Hingegen über die Leute muß nod) etwas gefagt werden, denn
ſonſt werden verfchievene Begleiterfcheinungen der Kataftrophe von
1906 unverftändlich bleiben. Zwar paßt vieles, was im erften Kapitel
über Siziliens Bevöfferung mitgeteilt wurde, auch auf die neapoli-
tanifche, nur ift diefe ein populus sui generis, weil fie im Ber-
gleich zur Einwohnerſchaft der großen Städte Sizilien von grö-
Berem wirtjhaftlidem Elende heimgefucht wird, dem
wie e3 jeheint, auch in Jahrzehnten noch) nicht abgeholfen werden
kann. Dem Elend entfprießen al3 Unkrautpflanzen das Lot to-
unweſen, die Kamorra, der Wucher und der kraſſeſte
Aberglauben.
Süditalien hat dreimal fo viel Lottobanken als der Norden;
während Genua nur 15 beit, zählt Neapel allein 146. Der Spiel-
aberglauben ift um fo fürchterlicher, als er infolge der kraſſen Un-
wiffenheit fich mit faljchen Religionsvorftellungen verjchmilzt. So
find die Mönche und andere Herenmeifter „stregoni“, bie beften
Quellen für fiegteiche Nummern. €3 it richt? Seltenes, daß ein
92 Nenpel: Lottojpiel
armer Bettelmönch von [pielwütigen Frauen angefallen wird, die
bon ihm „Nummern“ verlangen; und oft kann fich der Ärmſte nur
durch Fauftichläge vor den Spielmänaden retten. Vor eimigen
Sahren traf die nenpolitanijche Polizei einen fterbenden Mönch auf
der Straße liegend. Der Unglüdliche erklärte, vor Monaten hätten
ihn einige Unbelannte aufgegriffen und in einen Keller eingefchloffen,
wo fie ihn jede Woche um Nunmern fragten. Da diefe Nummern
aber natürlich meift nicht herauskamen, wurde der Armſte gefoltert
und gemartert, bi3 feine Kräfte jchmanden. Ein anderer Fall.
Am 19. September 1892 fand die Polizei auf der Straße einen
gemwilfen Luigi Calligari, genannt Cagli-Sagli. Diefer Un-
glüdliche friftete fein Leben dadurch, daß er fich als „stregone“
ausgab, der Geilteroffenbarungen habe und infolgedeſſen ftet3 ſieg⸗
reiche Nummern fände. Eines Tages glaubten fich einige Kunden
betrogen; fie luden ihn zum Eſſen ein und überfielen ihn dann
plöglich, entfleideten ihn und träufelten fiedendes DI und Speck
auf feinen Rüden, indem fie zugleich um Nummern fragten in der
Meinung, daß der Schmerz ihn injpiriere. Ungeheuerlich ift aber
die „ſchwarze Meſſe“. Oft findet fich ein armer, aber gemiljenlofer
Priefter, der, um einige Soldi zu ergattern, die Mefje zur Ehre des
Teufels lieſt, um fo unfehlbare Lottonummern zu erzielen. Über die
Ramorra
ichrieb ich am 14. Juni 1906 folgenden Brief:
Augenblicklich ift ganz Neapel in Aufregung, weil das höchſte
Tribunal der Kamorra ein zu ihr gehörende Ehepaar,
da3 ſich wahrjcheinlich des Verrats jchuldig gemacht hatte, auf grau-
fame Weile ermorden Tief. Die Henker waren vier Ma-
trofen, die man jet eifrig fucht, ihr Auftraggeber jcheint ein
gewiſſer Afonfo Rapi zu fein, der bereit3 verhaftet wurde. In
jeinem Haufe fand man u. a. auch viele Briefe von Politikern, in
denen ihm ihr Dank für feine Unterſtützung ihrer Abgeoröneten aus⸗
Neapel: Kamorra-Duell 93
gefprochen wurde. Man kam den Tätern dadurch auf die Spur,
daß kurz vor der Ermordung des Ehemanns, die in Torre del
Greco ftattfand — die Stau wurde in ihrem Haufe in Neapel
überfallen — einige Matrojen in einem Kaffeehaufe von Torre
del Greco ein opulentes Mahl eingenommen hatten, das Verdacht
erregte.
Sole „Liebesmahle”, um einen deutſchen Ausdrud zu ge-
brauchen, fpielen überhaupt in der Kamorra eine große Rolle. In
einer Meinen Schrift berichtet ein Neapolitaner der unter dem
Pleudonym U. Lam b fehrieb, darüber wie folgt: „Eines Morgens
ſah ich in einer ländliden SchenTe des Bomero eine Gefellichaft
bon zwanzig Perfonen, die fröhlich baufettierten, obwohl fie fich
faum auf den Beinen halten konnten, und von Zeit zu Zeit mit
einem bartlofen Syünglinge, dem reinſten Galeerenfandidaten, der
neben einem alten Rauhbein faß, glüdwünjchend anftießen. Einige
Beit nachher Tehrte ich zur Kneipe zurüd und fand die luſtige Gefell-
ſchaft nicht mehr vor, nur eine alte Frau, die mir erflärte, daß der
Alte en Kam orra-Häuptling gemefen fei, der mit den Jüngern
die Aufnahme eines neuen Kandidaten gefeiert hätte.
Weiter erzählte fie mir, daß diefe Feier erft dann ftattfände, wenn
ein Kandidat inemem Pflichtduell (vergl. die Beitimmungs-
menfur der deutichen Studenten) Proben ſeines Mutes abgelegt
hätte. Das fei heute morgen gefchehen. Zudem Mefjerfampf
dienen befondere Meffer, und Bedingung ift, daß der Neuling, wenn
auch felbft verwundet, nur dann al3 Sieger gilt, wenn er feinen
Gegner verwundet hat. Da3 gelang ihm. Nachdem er dann noch,
wie der „Komment” vorjchteibt, die vom Blute de3 Gegners gefärbte
Klinge abgeledt hatte, gab ihm der Häuptling den rituellen Hände-
drud, ftellte ihn den Genoffen vor und ur ſchworen, ihn als Ver⸗
bindungsmitglied anzuerkennen.“
In einem andern Buche „Usi e costumi di camorristi“ von
De Blafio erfährt man noch anderes Authentijche, und zwar
94 Neapel: Steuern der Kamorra
meift neues Material über die geheimnisvolle Kamorra, die er
einen Polypen nennt, der feine Fangarme in alle Städte des Befup-
gebiet3 hineinftredi. Die Kamorra, ſpaniſchen Urjprungs, zerfällt
ineine Höhere und niedere Klaſſe. Die erftere ift die der
„camorristi“, zur zweiten gehören die „picciuotti“, aud) „ge
ehrte Zimglinge” genannt. Aljo die Zmeiteilung nach deutjcher Art
in „Burſchen“ und ‚Füchſe“. Die Klaſſe I wählt drei Borfteher,
den „capintesta“ („Senior”), den „capintrito‘“ oder „capo-
societä“ („Bizepräfes”) und den „contajuolo“ („Kaffentvart”).
Klaffe I wählt nur einen Chef, der auch „contajuolo“ heißt. Der
„capintesta“ oder Kamorrachef über ganz Neapel wird
gewöhnlich aus dem Viertel der Porta Capuana (beim Bahnhof)
gewählt. Die anderen Stadtviertel haben je einen ihm untertänigen
Unterchef, deſſen Befugniſſe in den rituellen Worten ausgedrüct find:
„Recht zu geben, Dem es zukommt, und Untecht Dem, der’s verdient.“
Die „contajuoli“ find nicht nur Zahlmeifter, fondern auch Sekre⸗
täte, und im Bedarfsfall Staatsanwälte. Die einzelnen Mitglieder
haben, wie auch in andern geheimen Gefellichaften, verfchiedene
Grade: der niedrigfte ift der de3 „guaglione € mala vita“,
dann folgt der „geehrte Füngling“ („giovinotto onorato“), Darauf
der „picciuotto“, hierauf der „camorrista“, der je nach Verdienft
noch höhere Stufen erflettern kann.
Als Rangabzeichen dienen fichtbare Tätowierungen, eine Linie
bezeichnet den „geehtten Simgling”, eine Linie mit zwei Punkten
den „picciuotto“, eine Linie mit drei Bunlkten den „camorrista“.
Neben den gewöhnlichen verdedten Tätowierungen gibt es noch
folche, die ein Gelübde, 3.8. der Liebe oder der Rache fymbolifieren.
Die Hauptaufgabe der Mitglieder der Kamorra bildet die
Steuereintreibung. Die Steuer „tangenda“ mwird er-
hoben von den PBroftituierten, den Spielern, den
Heiligen und au von den Kaufleuten md Indu—
ttriellen, die nicht weiter beläftigt jein wollen. Doch den größten
Neapel: Kamorratribunale 95
Ertrag liefert dad Spiel. Jede Spielhölle wird von einem
„Picciuotto“ Eontrolliert, der einen beftimmten Prozentſatz der
gejpielten Gelder erhebt. Dieje Kontrolle ift oft nicht ungefährlich.
Iſt der Beauftragte aber gehörig legitimiert, fo fügen fich ihm die
Spieler meift willig, ja fie wählen ihn fogar bei GStreitigfeiten zum
Schiedsrichter. Weigert fi) aber doc jemand, den Tribut zu ent-
richten, jo bedroht ihn der Tontrollierende „picciuotto“, wirft zu
gleicher Zeit den Hut in den Naden, dreht ſich den Schnurrbart,
ſpeit zwiſchen den aufeinandergebifjenen Zähnen hindurch, zieht
die Hofen in die Höhe — niemals wird eine diefer Formen ver-
nachläſſigt — und das Duell beginnt. Alle Beiträge ded Tages
werden gewiſſenhaft dem höchſten Vorgeſetzten ausgeliefert, der
die Hälfte für jich behält und den Reft je nad) dem Grad verjchieden
unter die Mitglieder verteilt. Faſt nie kommt e3 vor, daß ein Mit-
glied die gefammelten Gelder für fich behält; gefchieht e3 aber doch,
jo hat der Delinquent außer den ordentlichen Strafen noch die zu
erwarten, daß ihn ein niederes Mitglied heimlich ermordet, um
durch diefen Beweis von Bravour um die höchſten Grade Ton-
furrieren zu können.
Die Gerichtshöfe der Kamorra heißen die „Mamas.
Die Strafen find meift folgende: Suspenfion von der Emp-
fangsberechtigung des Gteueranteils, zeitweiliger oder perma-
nenter Ausſchluß aus der „jchönen, reformierten Gejellichaft”,
Ohrfeige auf der Straße, Berunzierung des Geſichts durch Glas⸗
jcherben, glatte Raſiermeſſer, ſchartiges Rafiermeffer, Bewerfung
mit Kot. Die Todesurteile werden mit dem Mefjer vollzogen,
je nach der Schwere des Verbrechens durch Stiche in den Bauch,
in die Bruft oder in den Kopf.
Über Aberglauben und Volksanſchauungen in Neapel
belehrt uns am beiten die große Schriftjtelleein MatildaSerao,
die im „Mattino”, dem Blatte ihres Gatten Edoardo Scar-
foglio (Zartarin) unter dem Pfeudonnn „Gibus“ aß Pythia
96 Neapel: Matilda Serao al3 Pythia
den Brieffaften redigierte.*) Diejer Brieflaften iſt für die Bevöl-
kerung Neapels ſehr charalteriftiih. Sind auch fehr viele Antworten
der berühmten Dichterin ftereotyp, fo erfreuen doch auch viele durch
eine gefunde Originalität, die manchmal an Grobheit ftreift. Dies
ift verzeihlich da die Naivdetät der Neopolitaner, die zum
Drafel kommen, and Unglaubliche grenzt. Staunenswert ift aber
Matilda Serao’3 Bielfeitigfeit, fie enticheidet als letzte Inſtanz über
alles und jedes. Nur muß man bedauern, daß Frau Matilda
feine Erzieherin ift, fondern als Mitbefiterin ihrer Zeitung e3 nicht
mit dem Publilum verderben, dieſes aljo aud) in feinem Aber-
glauben nidt ftören mill.
Faſt täglich finden fich im „Mattino” Anfragen über glüd-
bringende Edelſteine und „Gibus“ beanttvortet fie regelmäßig. So
erfahren wir, daß im Januar geborene Kinder zu ihrem Schuße des
Onyx bedürfen. Die Februarkinder ſchützt der Saphir; die
des MärzderChryfolith. Aprilfinder müfenden Amethyſt,
Maitinder ven Achat wählen. Im Juni ift größere Auswahl:
Beryll,Algamarinaund Rubin tun die gleichen Dienfte.
Smaragd hilft im Juli, Rubin auch im Auguft. September-
finder müfjen zum Jaſpis, im Oktober Geborene zum Dia-
manten, Novemberjprößlinge zum Granaten greifen, wäh-
rend der Dezember wieder im Schutze des Onyr flieht. Über andere
Formen des Aberglaubens belehrt und Frau Serao, wenn fie jagt,
daß fie an den „böfen Blick“ glaubt, daß der Freitag ein Unglüdstag,
die Schildkröte aber glüdbringend fei; hingegen leugnet fie, daß
die Karben irgendwelche myſtiſche Bedeutung haben, oder daß die
Monate Mai und Oktober fchledte Hochzeit monate feien.
AS glückbringende Brautgeſchenke zählt Matilda Gebetbücher,
Roſenkränze und Opalſchmuck auf; denn der Opal bedeutet Treue
bi3 in den Tod. Nicht genug damit ftellt „Gibus“ auch Prognoſen
*) Seit einigen Jahren lebt Matilda Serao von ihrem Gatten
getrennt und befämpft ihn in einem Konkurrenzblatte „Giorno“.
Neapel: Volksſitten 97
und Horoffope, ift aber ehrlich genug, zu geftehen, daß fie diefe
dem Buche des Magierd Ely Star entnehme, da fie felbft Teine
Magierin fei.
Amüfant wirkt der „Brieflaften“ de3 „Mattino” auch, wenn er
und über die neapolitaniihen Sitten belehrt. Einige Proben
aufs Geratewohl: „An der Trauer um den Vater darf mehrere
Monate lang Neapel® Hauptpromenade Via Caracciolo nicht
betreten werden.” „Einem Fräulein darf man zum Geburtstage
feine Blumen fchiden.” „Außerhalb der Schule ift der Profeffor
ein Dann und muß feine Schülerinnen zu erft grüßen.” Ä
Bezeichnend find folgende Antworten: „Kein Beruf ift jo an-
ſtrengend, daß er nicht erlaubt, für perfönliche Reinlichkeit zu ſorgen.“
... „Da Sie Student und noch dazu Fein Neapolitaner find, dürfen
Sie getroft bei einer älteren Dame wohnen.”... „Geld anzubieten,
um eine Stelle zu erlangen, ift unmoralifh.”... „Wenn der Gatte
abweſend ift, ift es unfchidlich, der Gattin einen Beſuch zu machen —
falls diefe noch fehr jung ift.”... „Sm der Öffentlichkeit muß fich
der Ehemann mehr der Schwiegermutter, al3 der Gattin widmen.“
.. „Gegen die Schwefter Xhrer Braut müffen Sie ftet3 referbiert
fein.”... „Ein junger Mann, der fi} in der Theaterloge mit einer
demi-mondaine zeigt, büßt den Ruf der Sorreftheit ein.“...
„&3 iſt erlaubt, eine Frau ftandesamtlich zu ehelichen, nachdem man
ſchon mit einer anderen kirchlich getraut war, aber es iſt unſchön.“ ...
„In der Trauer iſt Schminken unerlaubt.”... „Es iſt lächerlich,
in jungen Jahren ein langgeſtieltes Lorgnon zu tragen.”... „m
ber Kirche darf man nur in gewiſſer Entfernung die Damen grüßen.”
.. „gungen Damen darf man nie, verheirateten Damen nur felten
dert Arm bieten.” .... „er fich auf einen Balle einem Fräulein’
ſelbſt vorftellt, ift ein Tölpel.“ ... a az
Ausgiebig wird dad Kapitel Liebe behandelt: „Die beſie
Definition der Liebe? — Die Dummen kenmen fie nicht,” fagt Ma-
tilda Serao, die auch mit Ovid metteifert und Anmeifungen über
Zacher Im Lande bes Erbbebens, 7
98 Neapel: Liebe und Che
die Kunſt zu lieben gibt: „Sie willen nicht, wie man eine Liebe3-
er!lärung madt? Kommen Sie zu mir." — „Iſt der Verehrer
fchüchtern, lächelt ihn an.” — „In den Augen des Verehrers leſen
Gie, ob Sie geliebt werden.” — „Sie willen nicht, was ein ftarfer
Händebrud bedeutet? O, find Sie unſchuldig!“ ... „Alle Welt
flirtet von der Straße zum Balkon hinauf, da ift nicht? Böfes Dabei.”
... „Dem Beichtvater müßt Ihr es fagen, daß Ihr Liebes-
briefe erhaltet.”.. „Bfeift der Verehrer auf der Straße, fo ant-
worten Sie ihm, aber mit Vorſicht.“ ..... „Es ift frivol, einem dreizehn⸗
jährigen Mädchen von Liebe zu ſprechen.“ .. „Die Frau muß rund⸗
Yich, nicht beleibt fein, um zu gefallen.”.. „Laſſen Cie doch die
Nonnen in Rube, es gibt genug Frauen fonft auf der Welt.”...
„Blatonifche Liebe zwifhen Mann und Frau gibt's nicht.“...
„Korreſpondenz mit Herren, mögen fie nun Vettern oder. Nicht-
bettern fein, ift immer gefährlich.” .... „Sie find vierzehn Jahre
alt und wollen fich. aus Liebesgram töten? Nehmen Sie Eis.“.
„Er hat Sie verlaſſen, bändeln Sie jofort mit feinem os
Borgefegtenan, das ift die befle Rache.“ „Beten Sie zu San
Pasquale, er. Hilft in der Liebe.” |
. Seltjame Begriffe haben die Neapolitaner vom Anſtand in
Brautſchaft und Ehe, ſonſt lonnte Matilda Sera o.nicht folgendes
ſchreiben: „Diefe Sorte von — dürfen Sie dem
Bräutigam nicht geſtatten.“... „Sie dürfen mit dem Bräutigam
nicht zu.oft allein ſprechen. — —— die ſich achten, dürfen
nicht aus der Reſerve herausgehen“ ... „Ein Brautpaar, das ſich
umarmt und küßt, ſchadet der Moral.“ .... Ihre Braut. verlegte
den Anſtand, als ſie Sie öffentlich inßte .. „Eine Braut darf nie
einen. Jugendfreund. duzen.“ ... „Dieſe Art Küſſe dürft Ihr Eurer
Braut nicht bieten.“ „unge Eheleute, die ſich Denn tüffen,.
find tadelnswert.“
Mit der Liebe hängt die Che zufammen. Dieſe jcheint in
Neapel wie andermärts vielfach ein Gejchäft zu fein; denn „Gibus“
Neapel: Liebe und: Ehe g0
wird täglich mehrere Mal über die Höhe der eventuellen Mitgift
befragt, bie man beanfpruchen könne. Wir, finden u. a. folgende
Antworten: „Sie können nur wenig beanfpruchen, da Sie nur
Amtzrichter find.“ .... „Ein Arbeiter, der bloß 3.30 Lire täglich
verdient, hat feinen Anfpruch auf Mitgift.” ... „Mit einem Eim-
fommen von 4000 Lire können Gie dochſtens 20 000 Lire bean-
Ipruchen” uſw.
Es mwürde zu weit führen, „Gibus“ auf andere Gebiete ; zu
folgen, wenn fie 3. B. Vorſchläge für die Mode macht, angibt,
wo man gewiſſe Waren bezieht, die Bedeutung der Vornamen
erklärt, Gejundheitövorfchriften macht, Anſtandsregeln lehrt uſw.
Folgen wir lieber den „ Sprüchen” und „Bedantenfplit-
tern” der Dichterin. „Sie fragen, ob und warum da3 Ideal
eriftiert ? Fragen Sie Ihren Portier. „Diegeitung3fprade
hat nicht3 mit der Philologie zu tun.” ... Nur ein Kahlkopf
lennt das Weſen der Kahllöpfigkeit.”.... „Das Warum des Todes?
Ohne ihn wirde die Welt die Dummlöpfe nicht fallen.” ... „Die
Eiferſucht, die aus der Liebe enifpringt, beleidigt nicht.” . .. .
„Die Liebe ſchadet dem Manne mehr, ald der. Schmerz.” . . . -
„Der Altersunterſchied in der Ehe bildet fein Hinbernig,
ſpäter betrügen doch alle Ehemänner.”.... „Gs iſt beſſerFreunde
zu haben, als fie nicht zu haben, notwendig tft mır d er Feind.” ... .;
„Der Zweifel nährt die Liebe.” .... „Das Spiel tötet die Liebe.” .
„Die Yreundfchaft, die der Siehe folgt, ift immer bitterfüß.“ —
„Viele Verratene kehren zur. Verräterin zurück“. |
Nod einige Worte fiber dad öffertlidhe Seren "Bon:
den 600.000 Einwohnern Neapels wiſſen 80 000 täglich beim Auf
ftehen nicht, wie fie ihr Mittagbrod finden follen, 300000 ftiften
mühjelig ihr Dafein im. Handel und Handwerk, andere 150 000 leben
bon Regierung und Kirche, und umter dem Reſt find einige reiche
Adlige, viele verarmte Adlige, viele Wucherer, Gelegenheitögeauner
und Gauner von Beruf. Lebtere müſſen natürlich in einer Stadt
7%
100 Neapel: Yeine Verbrecher
gedeihen, die nach ihrer Degradierung von der Refidenz- zur Provinz⸗
ftadt ſtark verlor, und jetzt noch nicht genug Induſtrie und Handel
hat, um fich felbft zu ernähren. Wo der regelmäßige Verdienft aber
fehlt, entwickelt fich leicht der Sinn für mühelofes Reichiverden, und
wo man für die traurigen Eriftenzbebingungen nur den Staat ver-
antwortlich macht, gedeiht auch leicht die Überzeugung, daß es ein
verdienftliche Werk fei, ven Staat zu betrügen.
Anfangs 1899 wollten die Klagen über Neapel Zuſtände
nicht verftummen, Einheimifche und Fremde wurden in den beleb-
teften Straßen beraubt, ermordet, Damen, die zum Theater gingen,
um ihre Jumelen erleichtert, einige unglüdlihe Männer fogar bis
aufs Hemd geplündert. Die Spielhöllen, die Brivatlottobanten,
die Wuchererburenur mehrten fi. Die Polizei blieb untätig. Bald
fiel e8 auch auf, daß gewiſſe Lebemänner, die ſchon ein tüchtig Stück
Geld verpußt hatten, nach langem unfreimwilligem Streik ihre Tätig.
feit wieder aufnahmen. Auf dem Korſo zeigten fie die luxuriöſeſten
Gefpanne, ihre Damen vom Caf&-Ehantant die evelfte Steine. In
den Gefchäftzftunden fuhren jie vom Notar zum Bankier, von diefem
zum Wucherer und Advokaten, und nachmittags ſah man fie in
erregten Gruppen im Cafe. mit gewaltigen Banknoten prunfen, oder
mit Wechieln.. Jetzt find die Herren — alle im Ausland; denn zur
Operette gehört e3 ja auch, daß die Polizei ſtets zu ſpät ommt.
Der Hauptflüchtling ift ein Advokat Su to, der ftet3 ein Grand.
GSeigneur-Leben geführt hat. Vor anderthalb Jahren mußte er
nad) Griechenland fliehen, weil er einer Kaufmann um 50 000 Lire
betrogen hatte. Sieben Monate blieb er in Griechenland, fand: dort
die Mittel, um fich mit dem betrogenen Kaufmann zu vergleichen
und kehrte ſo unbehelligt nad) Neapel zurück, wo er eine Genoſſen⸗
ſchaft zur Ausbeutung der Gewinnſucht gründete. Die großen
Betriebsfonds lieferten mehrere geldkräftige Wucherer. Man
führte ein üppiges Geſellſchaftsleben und freundete ſich hoffnungs⸗
vollen Sproſſen der Ariſtokratie an. Das erſte Opfer war ein Graf
Neapel: Korruption 101
aus Salerno. Ihn köderte Herr Suſio und feine Agenten
Tarafchi, del Forno und Merenda mit einem Projekt zur Yabri-
faton falfherBantnoten. Ein Freund des falernitanijchen
Edlen wurde Opfer Nummer zwei ald Teilhaber einer Gejellichaft,
die vom Staate das Monopol zur Herftellung des Banknotenpapiers
erhalten hatte. Beide Gejchäfte gingen glänzend, und fo verlegte
ih die Gaunerbande, zu der auch ein jchmweizeriicher Bankier Felix
Hermann trat, auf immer neue Branchen. Mehrere Leicht-
gläubige opferten große Summen für ein „englijhes Gold-
pulder”, das Silber- und Kupfermünzen in Sovereigns wandelte,
oder für eine neue Erfindung, die Binjenholz ohne chemilchen
Brozeß zu Gemüfe umformte, wieder andere kauften Hand-
preffen, die Banknoten herftellten uſp. Da die Neapolitaner ſtark
romantisch angehaucht find, fo erzielte die Bande bei ihren Opfern
umſomehr Vertrauen, je mehr fie die Unterhandlungen mit myſti⸗
ſchem Beiwerk umgab. So Tam man meift in dunklen Grotten
zufammen, zu ungewöhnlichen Tagezzeiten und übertrieb Schauer
und Gefahr der Heimlichkeit. Selbitverjtändlich wurden die Banl-
notenſpekulanten durch echte Scheine ſtets ficher gemacht.
Oktober 1901 wurde die Korruption des öffentlichen Lebens
auch Gegenftand der parlamentarischen Beratung, da der Minifter
de3 Innern, Giolitti, durch den Senator Saredo eine Enquöte ver-
anftaltet hatte, deren Bericht allein an Druckkoſten 60 000 Lire ver-
ſchlang. Die Unterfuchungstommiffion hatte feit 1900 gearbeitet
und al eine Behörde gewirkt, welche die ganze Verwaltungs⸗
mafchinerie der Stadt prüfte und vor ihr Forum alle Beamten,
auch Abgeordnete und Stadtverorönete Neapels zog, ſowie alle Per⸗
ſonen, die Zeugnis ablegen oder Beſchwerden beibringen konnten.
Es war eine Heidenarbeit, wie der boloſſale, recht objektive Bericht
beweiſt, der auch für Hiſtoriker von großem Intereſſe iſt. Streng
wiſſenſchaftlich beginnt er mit der Krankheitsgeſchichte des Pa⸗
tienten. In einer langen Einleitung, die einer beſonderen Be-
102 Neapel: Patrone und Klienten
ſprechung wert ift, wird der Charakter der neapolitaniichen Bevöl⸗
lerung analyſiert und ihr Leben unter dem bourbonifchen Defpotis-
mus gejchildert. Als die Bourbonen verjagt wurden, zeigte e3 ich,
daß Neapel nicht reif mar für das neue Regime, das ihm zwar Frei-
heit, aber auch viele Laften brachte, da die guten Seiten des deſpo⸗
tifchen Regimes fortfielen. Neapel, das verhätichelte Schoßkind
der Bourbonen, das geringe Steuerlaften kannte und künſtlich auf
Koften des übrigen Königreichs in einer gewiſſen mwirtichaftlichen
Blüte gehalten worden war, verlor jet plöglich den Rang und die
wirtfchaftlichen Vorteile einer Hauptitadt; e8 wurde vom Süden
wirtfchaftlich Iosgeriffen und ohne Übergang mit den Segnungen
des italienischen Zentralismus in Verwaltung, Steuerſyſtem ufw.
beglüdt. Ebenſo raſch ging es vom Protektionsſyſtem im Handel,
da3 von Neapel jede Konkurrenz ferngehalten hatte, zu dem ent-
gegengefegten über, fo daß das an modernen Handel nicht gewöhnte
und auch unwiſſende Gemeinmefen ſich von der Konkurrenz andrer
Städte erbrüdt fand. Auch tat die italieniſche Regierung nichts für
den Hafen, weil fie anders zu viel zu tun hatte, und fo begann dag
Elend, weil der Handel das nicht erſetzte, was die kaum nennens-
werte Induſtrie hätte einbringen follen, aber nicht embringen fonnte.
Als 1870 Rom Hauptftadt Italiens wurde, verjchlimmerte fich das
Elend noch, weil der valliierte Adel und die höhere Bourgeoifie zum
neuen Stern 30g, der bald Neapel Üüberflügelte. So kam es, daß das
Volk, das feinen Organifationsgeift befibt, fich durch Heine Mittelchen
zu helfen fuchte, und fo fchloß e3 jich an die parlamentarifchen Führer
an, von denen e3 al von Patriziern Hilfe erivartete, wie die altrömi⸗
chen Klienten von ihren Patronen. Die Haupt- Patrone aber waren
Lazzaro, San Donato, Nicotera und Billi. Natürlich wurden deren
Freunde nun große Herren, und die Freunde der Freunde auch,
und fo entwickelte fich ein ganzes Syſtem von ſtliquen und Sippen,
die nach oben hin nur den Zweck hatten, den „Herten“ von Reapel
die Herifchaft zu fichern und nad) unten hin eine immer größere
Neapel: Mlüingel 103
Gefolgichaft durch Stimmen- und Amterfchacher und durch Begün-
ftigungen jeder Art zu gewinnen. Zu den vier Herren gefellte fich
als fünfter Rocco di Zerbi, der ſich als Abgeordneter eine
große Klientel fchaffte (er erſchoß fich im „Banca Romana” Krach
etwas zu voreilig, da er vielleicht auch gerettet worden wäre, wie
fo diele andere, wenn er nicht den Kopf verloren hätte) und fein
Adjutant Caſale, der bis zum Borjahr Abgeordneter war.
Diefe „Herren“ benutzten natürlich die hohe und Die niedere
Kamorra, die fich üppig entwidelte, und ungejtraft hohe Summen
verdiente durch da3 heimliche Qottofpiel, durch Hehlerei, Raub und
Diebftahl. Zugleich aber entwidelte ſich auch das Unweſen der
„interposta persona“, d. h. der „Bermittler”, die von der Un⸗
wilfenheit des Volles leben und diefem alle Gefchäfte, ja jeden
Gang zu den Behörden vortun, die es ebenfo gut felbft tun könnte.
Diefe Vermittler, die auch die Säle der Themis erobert haben, ſetzen
fich zumeift aus den „Studierten” zufammen, die in Neapel lieber
ftellenlos fein, al3 zu ihrer Provinzheimat zurückkehren wollen, und
wie groß das Gelehrtenproletariat in Neapel iſt, kann man daraus
ermeffen, daß 1897/98 von den 7356 juriftiichen Studenten in
ganz Italien auf Neapel allein 2043 fielen. Wie fehr auch die
Regierung gegen diefe Vermittler und gegen die Kamorra an-
kimpfen mochte, fie biieb machtlos. Im Jahre 1898/99 Hagten die
Bolizeibehörden in 633 Fällen auf Stellung unter Bolizeinufficht,
in zwei Jahren aber erteichten fie nur in 107 Fällen das richterliche
Blacet, alle anderen Fälle wurden durch geheime Einflüfje mit
einem non liquet abgetar.
In einem folgenden Kapitel geht dann Saredo die Geſchichte
aller ſtädtiſchen Verwaltungen ſeit 1860 durch. Der Raum verbietet
es leider, auf die Einzelheiten einzugehen, die oft von einer rührenden
Naivität der Herten Stadtväter zeugen, welche es oft fertig brachten,
in einer Sitzung bis zu einer halben Million Lire an Begünſtigungen
Fir ihre Freunde zu bewilligen. Kein Wunder, daß Neapel jährlich
104 Neapel: Stellenvermittlung
ein Defizit von 21/, Millionen Lire und im ganzen jetzt ein Ge⸗
famtdefizit von 16-18 Millionen aufweilen kann. Wie gewirt⸗
ichaftet wurde, geht aus dem höchſt erbaulichen Kapitel „Stadt-
verwaltung und Lolalpreffe” hervor. Die Preffe war: natürlich
gekauft. Mit großer Rüdfichtölofigkeit nermt Saredo alle Namen,
zählt auch alle Redakteure auf, die zugleich Beamte der Gemeinde
und Beamte der Trambahn waren, abgejehen davon, daß e3 ihnen
auch fonjt an gut bezahlten Nebengeichäften nicht fehlte. Dabei
werden natürlich Sachen enthüllt, die auch anderswo und nicht nur
in Stalien vorlommen. Aber im romantischen Deutjchland wird
man jehr enttäufcht fein, daß au) Matilda Serao auf die
Anklagebank gezeret wird. Daß ihr Mann Scarfoglio mit
feinem „Mattino“ fehr lohnende Nebeneinnahmen hatte, da3
jchloß man fchon aus dem verfchiwenderifchen Leben, das er führt;
denn er hatte nicht nur eine eigene Dampfyacht, fondern redigiert
jein Blatt gerne von der Riviera aus. Aber daß auch die große
Dichterin in Geldgeichäften fündigte, dad mußte noch niemand.
Freilich gleich auf Ganze, wie ihr Gatte, ging fie nicht: der Tieß
fih für einen Strohmann die Pacht der Karrenfteuer zuſprechen,
verlangte 30000 Lire von einem Ingenieur, der die GStraßen-
reinigung pachten wollte, und forderte für fich, für Cafale, für
Summonte und Bollaro de Lieto 500 000 Lire von dem Bankhauſe
Weill-Schott, das eine ftädtiiche Anleihe negotiieren wollte.
Bon der Gasgeſellſchaft verlangte er 30000 Lire, die Tramway⸗
gejellichaft aber zahlte dem „Mattino“ im Dezember 1898 3000
Lire und Scarfoglio perjönlich im Januar darauf 10 000 Lire uſw.
Matilda Serao verlegte fich auf das Geichäft, ftädtifche Amter zu
vergeben und bediente fich zu dem Zmede eines „Reifelorrejpon-
denten” ihres Blattes. Ein gewiſſer % o ti, der im Stabtpoliziften-
korps befördert fein wollte, mußte ihr 200 Lire gegen einen Wechjel
leihen, ein ausgedienter Militärmufiler aber 3000 Lire gegen Wechjel
dafür, daß er durch ihre Vermittlung einen Poften als Pedell in
Neapel: Ergöbliche Kunſtpflege 105
einem Mujeum erhielt. Da aber Minifter Gtanturco nur einen
proviſoriſchen Posten als PBedell in einem Gymnafium frei hatte,
fo reflamierte der Militärmufifer fein Geld zurüd, das er aber erft
nad) Jahren wieder erhielt, freilich mit einem Abzug von 350 Lire,
den fi Matilda Serao für ihre Bemühungen ausbat uſw. Der
„Don Marzio“ war auch nicht übel. Als die Stadt wegen eines
neuen Kontraktes mit der Tramwaygeſellſchaft verhandelte, forderte
er vom Bürgermeijter fchlanfweg einen Pump von 100 000 Lire.
Dann geht der Bericht ausführlich alle Zweige der ftädtifchen Ver⸗
waltung durch, wobei namentlich auf dem Gebiet der Schule be-
deutende Skandaloſa herausfommen, die beweilen, daß die Lehrer
bon der Kamorra ein- und abgejeßt und zu unehrlichen Prüfungen
und Zeugniſſen gezwungen wurden,
Gleicherweije verfuhr man mit den Advokaten der Provinz, fo
daß e3 fein Wunder war, wenn 60 %, aller Provinzialprozejje ver-
Ioren gingen. Was den Grundbefis der Provinz anbetrifft,
jo fehlte es ftet3 an einem regelmäßigen Inventar und alle Grund-
jtüde und Häufer hatten Unterbilanz. So brachte ein auf 200 000
Lire bewertete Grundftüd jährlich nur 1000 Lire ein ufm. Bei
einem andern Belit, dem Gut von PBortici, ließ man einen Pächter
ruhig auf eigene Rechnung Holz jchlagen und ließ ihn die Gebäude
ruinieren, bloß mweil er der Gläubiger eines Provinzialrat3 war. In
der Provinzialbibliothef befanden fich fo viele Beamte, daß alle
müßig gingen. Noch fchöner erging es mit den Kunſtſchätzen
der Provinz. Sie hatte ungefähr vierhundert Gemälde und hatte
dafür auch einen Inſpektor, doch wurde nie ein Inventar auf-
genommen oder ein Katalog angefertigt. Der famoſe Herzog von
San Donato, welcher Borfitender der „Gejellihaft ‚zur
Förderung der Fünfte” war, bejorgte troß diejer Eigenjchaft und
privatim den Anlauf der Bilder, ja er veranlaßte die Provinz, für
52.000 Lire Aktien diefer Geſellſchaft zu Taufen, für welche dieſe
Anteil an den Losgemwinnen haben ſollte. Aber niemand Tontrol-
106 Nenpel: Provinzliientel
lierte jemal3 diefe Verlofung. AB San Donato den Borfit der
Kunftgejellichaft niederlegte, wurden auch Teine Bilder mehr an⸗
getauft (1). Greulich geradezu waren die Zuftände im Pro
vinzial-$rrenhaufe. Obfchon mehrere Kommiffionen feft-
ftellten, daß die Kranken Hunger Titten und mißhandelt wurden,
blieb der Bermaltungsdireftor ruhig in feinem Amte. AB ein neues
Irrenhaus gebaut werden follte, übergab man den Bau nicht dem
Architekten, der den erften Preis von 20000 Lire davongetragen
hatte, fondern eimem Gevatter des Klümgels, der gleich darauf
falfierte, worauf der Eigentümer des Grundftüds, auf dem der Bau
entftehen follte, eintrat, ohne die Baugelder zu befiten, jo daß ein
Nattenkönig von Prozefjen entitand, der noch nicht gelöft if. Es
folgt nun ein riefiges Kapitel über die Straßenbauten, bei
denen die Voranſchläge ftet3 mindeſtens um das Dreifacdye liber-
ſchritten wurden.
&3 würde zu weit führen, ins einzelne zu gehen. Die gleichen
Veruntreuungen und Korruptionzfchäden zeigen fich in der Unter-
haltung der Straßen und bei den Trammays und edef-
triihen Bahnen der Provinz. Die Finanzverwaltung mar
natürlich unter folchen Umftänden nicht minder grotesk. Saredo
ſchließt: Kurzum, die Provinz war immerfort in den Händen von
Berjonen, die ein engmafchiges Neb von Patronen und Klienten
darftellten und die Provinz zu ihrem privaten Vorteil ausbeuteten.
Einmal nur habe ein Mann, der Senator Codronchi aß Prü-
fett Ordnung geichaffen; er habe neue Wahlen gemadht und erreicht,
daß die Klerilalen ftreilten, und jo habe er die Hauptübeltäter aus
der Provinzverwaltung entfernt. Unter dem folgenden Minifterrum
wurde er abberufen, und die Entfernten kamen alle wieder zur
Krippe zurüd.
Am meiften brandmarlt Saredo den Herzog di San Do
nato, der ohne eine Spur eigenen Vermögens flet3 den Herrn von
Neapel fpielte, allgemein populär war und dabei eine, Verſchwen⸗
Neapel: Herzog di San Donato 107
dungsfucht und Pompofität” zeigte, die grenzenlos waren. Dabei
war die Feigheit der Neapolitaner jo groß, daß ſelbſt Männer, die
ihm öffentlich angegriffen hatten, jchließlich fich doch herbeiließen,
mit igm den Vorſitz im Provinziaftat zu teilen. Der Herzog beftritt
feinen Lebensunterhalt durch die reichen Trinkgelder, die er bei Ver⸗
gebung von Amtern, öffentlichen Arbeiten und Konzeſſionen ein-
ſtrich; langte es nicht, fo Tieß er ich gnädig größere, auch Heinfte
Beträge pumpen, die er nie mwiedergab. Geine Naivität ging fo
weit, daß er an ſeinem Namenstage mit all den Gefchenfen Staat
machte, die ihm die Beamten, die Pächter, die Direktoren der Bahn-
geſellſchaften machten. Noch größer aber war die „Naivität” feiner
Trabanten, die feine ftadtbefannten „Untegelmäßigfeiten” öffentlid)
als Tugenden priefen. Ja, al er 1894 im Barca Romana- Prozeß
m der Kammer von der Kommillion der Sieben gebrandmarft
wurde und deshalb anftandshalber feinen Rücktritt vom Vorſitz des
Provinzialrat3 nehmen mußte, erhoben fich in dieſem ſelbſt Räte,
die ihn al einen verleumdeten Mann entichuldigten.
Solche Zuftände laſſen natürlich tief bliden, fie laſſen aber
auch nicht die Hoffnung auflommen, daß es fo bald in — beſſer
werden wird.
Die Eruption des Veſuvs im April 1906.
Meine erfte Bekanntſchaft mit dem Veſuv machte ich im Auguft
189%, einen Monat nach feiner damaligen Eruption. Am Wbend
unferer Ankunft — ic) halte mich einer Künfilergefellichaft ange-
ichloffen —, zeigte fich der Vulkan in jeiner ganzen Pracht. Kaum
war die violette Farbe, die er bei Sormenuntergang zeigt, dem
Dunkelgrau und dem Schwarz gewichen, da leuchtete e3 in der
Mitte des Berges flammentot auf: e3 war die neue Lava, die feit
einigen Tagen wieder dem Berge entfloß. Man hat das Gefühl,
aß ob man dem Guß in einer Riefeneifenhütte zufchaut. Wir
108 Neapel: Aufftieg zum Veſuv
berieten lange hin und her, wie wir die Beſteigung des Vulkans
anfangen follten; er ift ja nur 1300 Meter hoch, aber troßdem er-
fordert feine Bejteigung mehr Arbeit al3 ein doppelt fo hoher Berg,
weil er über die Hälfte des Weges mit einer tiefen Schicht von
Bimfteingeriefel und Lavaajche bedeckt ift, Die dem Fußwanderer
Schwierigkeiten macht. Nun gibt e8 mehrere Arten des Aufſtiegs.
Bequeme Leute, denen da3 Geld recht Ioder figt, zahlen an die be-
fannte Firma Cook fünfundzmanzig Franc, dann werden jie in
Neapel mittelft Wagen abgeholt und bis zur halben Höhe des Berges
gefahren. Dort beiteigen fie die Drahtfeilbahn, die in zwölf Minuten
bis an den Fuß des Aſchenkegels führt, und gehen von dort aus
auf feitgeftampftem Promenadenweg bis zum Krater, in einer
halben Stunde etwa. Andre Leute fahren bis nad) Reſina, dag auf
der Stätte des alten Herkulanum liegt, und fteigen von dort in Sänfte
oder auf Pferdes Rüden langſam hinauf.
Der gebräuchlichite Aufftieg iſt aber der von der Rüdfeite des
Berges aus, von Pompeji. Man Tann ihn dort in drei Preifen
haben, zu fünf Francs vom Hotel Sole, zu fieben Francs vom Hotel
Suiffe und zu zmölfen vom Hotel Diomede. Letzteres hat nämlich
einen eigenen Weg bahnen lafjen, der aber durch feine Einförmigfeit
ermüdet. Als der beite wurde der mittlere Weg gewählt. Wir
fuhren alfjo nah Bompeji nach dem Schweizer Hotel, da3 für
fünf Francs gute Penfion, Wein einbegriffen, bietet, und nachts
um elf Uhr ftand für jeden Teilnehmer ein Pferd bereit. Der Führer
mar auch beritten und nur der Heine Pferdejunge war zu Fuße,
freilich profitierte er auch von der Kavallerie, da er ich abwechſelnd
bon dem einen oder anderen Pferde ziehen ließ, wobei der Schweif
jedesmal da3 Verbindungsmittel abgab. Vor dem Aufbruch machte
uns der Wirt darauf aufmerffam, daß wenige Stunden vorher in
Neapel ein leiſer Erdftoß vernommen worden fei und mahnte zur
Borlicht, und dann ging’s hinaus in die laue Vollmondnadht. Der
Ritt wird und unvergeßlich fein. Zwei Stunden lang ging’3 durch
Veſuv: Auf dem Aſchenkegel 109
die prächtigfte Landfchaft, Olbaumgärten und Weinberge, freilich
recht langſam, denn die Pferde hatten Mühe, durch den Aſchenſand
borwärts zufommen. In Boscotrecaſe, dem hödjiten Dorfe,
ſchloß fichh ung ein Jagdhund an, der, wie unjer Führer fagte, aus
Liebhaberei jede Veſuvpartie mitmacht. Gegen zwölf und einhalb
machten wir an einem einfamen Wirtshaus, der casa bianca,
Halt, um die Pferde verſchnaufen zu laſſen, und ftärkten uns felbit
mit feurigem Veſuvwein, den fich der Wirt in Anbetracht der Höhe
höher bezahlen ließ, woran er recht tut. Die Flaſche koſtet fonft
nur fiebzig Gentefimi, während wir eine Lire zahlten. Nach halb-
ftündiger Raſt ging es weiter auf jteilem Zickzackweg durch die
Schlackenwüſte. Kein Baum und Strauch war mehr zu fehen,
braun war der Boden und ftellenmweife ſchwarz. Doc) diefe Wüfte
war verklärt durch den Vollmondglanz und verichönt Durch das
entzüdende Panorama. Unjer Blid ſchweifte über den filbernen
Golf, der von Hunderten von Lichtern umſäumt und bejegt war,
und weit links glikerten die ftarren Fellen von Capri. Gegen
zwei Uhr erreichten wir den Fuß des Aſchenkegels. Die Pferde wur⸗
den angebunden, und nachdem wir und eine Zeitlang an dem.
herrlichen Anblid gemweidet, den tief unter und die glühende Lava
bot, gingen wir in die niedrige Schußhütte, um bort auf einent nn
Rohrlager die Dämmerung abzumarten. Ä £
Um halb fünf Uhr begann der Aufitieg. Ein Bildhauer aus
Leipzig, der die alte Bergfteigerregel nicht kannte, wonach man im
Anfang des Aufftiegs jchleichen muß, kraxelte jugendmutig die fteile
Höhe empor, aber fchon nach zehn Minuten hielt er erfchöpft inne,
denn es erfordert nicht wenig Kraft, in der Aſche emporzuklettern.
Schließlich zogen wir es vor, auf Ben Lavablöcken emporzuffimmen,
freifich auf Koften unſeres Schuhwerks, das fich an den fcharfen
Nadeln des morjchen Geſteins heftig verwundete. Auf halber Höhe
des Kegels trafen wir endlich eine Art von Zickzackweg, der aus roh
ineinandergefügten Schladen hergeftellt war. Unterdeſſen war
110 Veſud: Ausbruch 1906
die Sonne aufgegangen und ergoß ihren rötlichen Schein über den
ihimmernden Golf, und nun ſah man all’ die herrlichen Städte,
Caſtellamare, Torre Annunziata, Torre di Greco, Portici, die
den ſüdweſtlichen Teil des Golfs jchmüden. In einer Stunde war
der alte Krater erreicht, der jebt öde und ftumm daliegt, aber durch
die wunderbar gedrehten und gedrechlelten Steinmafjen, die feinen
Boden bededen, nody Zeugnis ablegt von der Schmelzarbeit, bie
einft der heiße Odem des Berges hier verrichtete.
Und Höher ging’s, bis wir, von den Aufjehern des Teuer-
riefen an unferen Beinen gehalten, in den Kraterfchlund Hinab-
Ichauten. Das aljo war der Malefieus, zugleich der Segen und der
Fluch des ganzen Gebiet3 und feiner Bewohner, die, wie Lord
Byron Sagt, ftet3 zwiſchen Gott und Satan eingefpannt find! Da 3
der Verräter, der fich Jahrhunderte lang vor Chrifti Geburt ſchlafend
geſtellt und jo die Menjchen in Sicherheit gelullt Hatte, daß Strabon
und- Diedor ihn für erlofchen hielten. Wie wurden aber 79 n. Chr.
die Bewohner Pompeji's und Herculanums aus ihrem trügerifchen
Glauben aufgeichredt! Wer e3 wiſſen will, Iefe es nach in Bulwers
„Leiten Tagen von Pompeji"!
-- Über die mehr al fünfzig Eruptionen, die dem Unglüdstag
des Yahres 79 folgten, berichtet jedes Neifebuh. Wozu alſo Eulen
nach Athen tragen?
. tt.
- Der Ausbruch des Vulkans vom 5. April 1906 ift dem
von 1872 zu vergleichen. Der Lavaſtrom war fünfzig Meter breit und
zwei Meter tief und hatte eine Geichivindigkeit von ſechs Dieter in
ber Mimtte. Mit Inutem Krache, der einer Kanonade ähnelte, ſtürzten
die inneren Wände des Kraters zufammen. Profeſſor Matteucci
bom Obfervatorium befürchtete ſchon am 6. April, daß der ganze
Kegel in fi) zufammenftürzen winde. Am Morgen des gleichen
Tages war die Lava nur noch einen Kilometer von Boscotrecafe
Veſuv: Kolgen der Eruption 111
entfernt. Wenige Stunden darauf wurde die Eruption ſtärler.
Es trat dazu noch Regen ein, der die Bauern zur Verzweiflung
brachte, weil er die fogenannte „pluvia caustica“ bildet, die Bie
ganze Vegetation verbrennt. Allüberall hieben fie Weinſtöcke
und Bäume ab, um fie vor der verfengenden Lava zu ſchittzen.
Gegen Nachmittag verließ die Benölferung von Boscotre
cafe den Ort, nachdem fie vergeblich verfucht hatte, den Lava⸗
from dadurch zu hemmen, daß fie ihm die Gtatue der Heiligen
Anna entgegentrug. Auch in Portici brach eine Panik aus, weil
in der Nähe der Stadt Lava und Dampf ausftrömten, |
Am 7. April lauteten die Nachrichten vom Veſuv immer.
trauriger. Ein neuer Krater hatte ſich vormittage am Weftabhange
geöffnet, der Lava nad) Dttajano entjandte. In der Nacht
vom 7. auf den 8. April geftaltete jich die Eruption zur Kataſtrophe.
Unter großem Getöfe des Vullans erfolgten zwei gewaltige Erdbeben⸗
ftöße. Ganz Nenpel war auf den Beinen, alle Kirchen füllten ſich,
al3 die Nachricht eintraf, der Haupifegel ſei eingeftürzt, das Obſer⸗
batorium : zerftört, Cools Drahtſeilbahn vernichtet. Der Veſuv,
der Boscotrecaſe jchon vernichtet hatte, glich) einem einzigen Feuer⸗
herde. Große Panik rad in Torre Annunziata aus,
weil bie Stadt nicht mur von der Lava bedroht, fondern auch von
glühendem Aſchenregen heimgefucht wurde. Stürmiſch verlangte
man Extrazüge und Kriegsſchiffe, um die Sau, aus den
gefährdeten Städten fortzuichaffen.
Immer trofilofer wurden die Meldungen im Laufe des 8. April.
In Zorre Annunziata meuterten die Gefangenen, die Einwohner von
Ottajano flohen nad: Neapel, San Sebaſtiano wurde
geräumt, in San Giuſeppe ſtürzten durch den Steinregen
viele Häufer und die Pfarrkirche ein. Die Panik war unbeſchteiblich.
Die Behörden befütcchteten Plünderungsſzenen, auf den Landſtraßen
herrichte das Chaos, weil die Karren und Wagen der Flüchtigen
ineinander fuhren. Der Nordweſtwind trieb am Morgen den
112 Veſuv: Afchenregen
Aſchenregen 200 Kilometer weit bis nach Apulien, fiberall die Luft
verfinfternd, fo daß in Gerignola, Barletta, Andria dad Volk glaubte,
der jüngfte Tag fei gelommen. Am 9. April verftärkte fich der
Aſchenregen, Ottajano bedeckte er zmei Meter hoch, in Neapel ftieg
die Ajchendede auf fünf Zentimeter. Die fremden Touriften flohen
aus der Stadt, da die aufgeregten Inſaſſen der Vorftadtquartiere
die Kirchen ftürmten, um Prozeffionen zu veranftalten, und fo Auf⸗
ruhrſzenen befürchtet wurden. In der Vorfladt Giovanni Teduccio
blieb ein Zug mit taufend Flüchtlingen fteden, weil das Zugperjonal
im Schred. vor dem Aſchenregen auf und davongegangen tar.
Bon den 30000 Einwohnern Torre Annunziata’3 blieben nur
2000 zurüd. Neapel allein barg fchon über hHunderttaufend Flücht-
linge au3 der Umgegend. Der Lavafttom, der Torre Annunziata
als Ziel erwählte, hatte eine Front von 150 m und war haushoch,
er zerfchnitt die Eifenbahn, zerftörte die elektrifche "NRingbahn um
den Veſuv und bedrohte die Hauptitation der Stadt. Ein Arm:
der Lava wälzte fich, nachdem diefe fich vor dem Kirchhof von Torre:
Annunziata gejpalten hatte, auf Pompeji zu, blieb aber zum
Glüde jtehen. Gegen zehn Uhr morgens brach Sturm in Neapel
aus, ein warmer Regen ergoß fich über die Stadt, die von zehn
Zentimeter hoher Schlammſchicht bedeckt wurde und vielfach Titt,
weil: zahlreiche Dächer unter der Laft von Aſche und Un
einftürzten. -
Am Abend des 9. April traf ich auf Veiehl meiner Zeitung in
Neapel ein. Im folgenden gebe ich Rurz meine Aufzeichnungen
wieder:
Ä Neapel) 9. April 1906, 10 Uhr n. Die Stadt Hat ſich von ihrer
Panik zum Teil wieder erholt. Die Hauptftraßen find notbürftig
gereinigt, die Heineren aber mit Aſche bededt, die ſchmutzigem Schnee
gleicht. Der Veſuv ftößt eine riefige Rauchwolke aus, die wie ein
ſchwarzer Vorhang über dem Meere hängt. Das Wetter ift fchön.
Der Zufall, daß der Umfchwung des Wetter und der teilmeife Stilf-
Bein: Seine Enthauptung 113
fand der Lava in dem Augenblid begannen, als das Königspaar
im Automobil in Torre Annunziata einteafen, wird vum aber»
gläubifchen Volle als gute Omen betrachtet. Der König wollte
nachher nad, Dttajano fahren, fand aber alle Wege unpaffierbar,
anf der Rüdfahrt geriet er in einen Zyklon. In Ottajano ftürzten
durch den Steinregen da3 Bezirkgefängni3 und die Karabinieri-
Inferne ein. In San Giufeppe haufte der Steinregen noch fchlimmer.
An alle Unglüdaftätten wurden Soldaten gefchidt, um die verlaffenen
Häufer zu ſchützen. Der Veſuv hat feine frühere
Form eingebüßt, da der Hauptlegel glatt abrafiert erfcheint.
Neapel, 10.April 1906. Erſt jet lommen Nachrichten über das
geftrige große Unglüd in San Giujeppe. Die Kirche, die fchon
alt und baufällig war, wurde meterhoch mit Aſche bededt. Am
Morgen waren breihundert Perſonen in ihr verfammelt, als dag
Dach einftürzte. Etwa Hundert Perſonen konnten fich retten, die
übrigen wurden verfchüttet. Gleichzeitig ſtürzten andere Häufer
ein und erfchlugen Hunderte von Menfchen. Nad) der lebten optimi⸗
ftifchen Schäbung zählt man über vierhundert Tote und zahliofe
Berwundete. Die Aſche in den Straßen liegt vier Meter Hoch.
Die Bernnmdeten blieben lange ohne Pflege. Auch die Soldaten
des Rettungsdienſtes maren außerftande zu helfen, da fie felbft,
weil der Ort vom Berlehr abgeſchnitten ift, des Nötigften erniangelten.
Es ſcheint fich zu beftätigen, daß der Lavaausfluß zum Stillſtand
gelommen ift; gut unterrichtete Leute aber betrachten diefe Meldung
a8 zu optimiſtiſch. Profeffor Di Lorenzo, der Vullangelehrte,
berechnet die Höhe der Rauchfäule, die der Bullen ausftößt, auf
5 bi3 7000 m. Der „Mattino” meint, die in fei jetzt in
ihte letzte Phaſe eingetreten.
Neapel, 11. April 1906 (Dienstag).
MB die erften Nachrichten von der erhöhten Tätigkeit des Veſuvs
eintrafen, gab es in Rom, auch unter den nicht italieniſchen Ein-
Bacher: Im Lanbe bed Grbbebens. 8
114 Veſuv: Der Lavaſtrom
wohnern, viele Skeptiker, die wieder Hotelierphantaſie witterten.
Wie es nämlich Hoteliers in Sizilien geben ſoll, die jeden Augenblick
den Beſuch irgend eines gelrönten Hauptes in befreundete Blätter
Ianzieren, jo gibt es in Neapel Leute, die den Veſuv fremden-
induftriell ausbeuten, indem fie ihn von Zeit zu Zeit toben laſſen,
um die Anziehungskraft der bella Napoli zu erhöhen. Weniger
jteptiiche Leute aber wiejen auf die Tätigleit des Stromboli und das
Erdbeben von Uftica Hin; auch bemerkten fie, daß die römiſchen
Blätter im Intereſſe der eigenen Yremdeninduftrie nicht fo aus⸗
führliche Berichte jenden würden, falld die Eruption nicht wirklich
bedeutend wäre. Aber den Ernft der Lage begriff man doch erft
am Sonntag den 8. April. Nun hätte am liebften jedermann nad)
Neapel reifen mögen, um dad Yeuerjchaufpiel zu genießen. Doc)
die Schauluftigen, die am Montag anlamen, waren enttäufcht; denn
der Veſuv war ein Obſturant, der feine wilden Taten hinter einer
Rieſenwand von Rauch- und Aſchenwolken verübte. Wenige Erup-
tionen, felbjt die von 1872, waren fo aufregend wie die jeßige, weil
der Veſuv nicht nur mit Lava arbeitete, jondern auch weithin Aſche
verftreute, die durch den folgenden Regen zum Üßfchlamm wurde,
der alle Vegetation im größten Teile feines Gebietes verwüſtete.
Was die Lava anbetrifft, jo zerftörte fie von Nord nach Südoft
laufend alle Randhäufer bis Bo3cotrecafe, diefes zum Teil
felbft und rüdte bi8 Torre Annunziata vor, der imduftriellen,
fleißigen Stadt, diejes derartig bedrohend, daß neun Zehntel der
Einwohner flohen. Der flüſſige Strom war unüberjehbar: groß
und an Gtellen, mo er fich ftaute, haushoch und dabei von einer Kraft,
daß er Blöde von mehreren Metern Durchmeffer wie Nußichalen
ipielend herummarf. Ein Wunder fcheint e3, daß er vor Torre
d'Annunziata Halt machte. Freilich fand er außer natürlichen Hinder-
niffen noch Tünftliche, die fchnell von Menſchenhand aufgemworfen
wurden. Die Errichtung von Dämmen gab man zwar als nutzlos
auf, dafür zog man tiefe Gräben, die fich ſchäumend füllten und durch
Veſuv: Bevöllerung feines Gebietes 115
ben Anprall Lavawellen erzeugten, die felbft ftauend wirkten. Ein
Schredenzfchrei ging durch die ganze gebildete Weit, als es hieß, daß
fi) ein Strang der Lava füdmeltlich von Torre Annunziata nad)
Pompeji Hin bewege. Zum Glüd blieb es bei der Panik. Die
Pioniere hatten aber auch alles getan, um die Gefahr abzuwenden
und den Feuerſtrom möglichſt weit abzulenken.
Außer den Landhäuſern und Boscoreale zerſtörte der Vullan
auf der Südſeite noch die Ringbahn um ſeine mächtigen Flanken,
im Weſten die Cook'ſche Drahtſeilbahn und das Obſervatorium. Dann
betheerte er auch noch die Nordoitfeite nach Ottaian o und deſſen
Anhängfel San Giufeppe Veſuviano Hin, ſowie einen Teil des Nord-
weftgebiet? auf San Sebaftiano zu. Wie groß der Schaden
ift, der auf den Feldern angerichtet wurde, läßt fich noch nicht ſchätzen.
Wenn man aber bedenkt, daß der Boden teurer ift, al3 der im Por
Tale, jo daß für einen „moggio“ 2000 Lire bezahlt werden, mern
man ferner erwägt, daß die Aderbeftellung auf lange Zeit unmöglid)
it, wern auch die Bauern fofort in ihrer optimiftiichen Weiſe zum
Pflug greifen werden, jobald erſt wieder gutes Wetter eingetreten
iſt, fo wird das dide Ende erft nachlommen, Dafür Spricht jchon die
Bevölferungsdichtigkeit des Gebiets, die faft ebenjo groß ift, wie die
auf den fruchtbaren Hängen des Atna. So hatten 1901 Bosco⸗
trecaſe 10 361 Einwohner, Boscoreale 9 352, Torre Anmunziate
28 664, Torre de Greco 35 328, Barra 11 973, Refina 20 152, Portici
14 329, Somma 10 096, ©. Giorgio a Cremona 5 798, ©. Giovanni
Zeduccio 20 891, ©. Anaftafia 8 742, Ottaiano 12 764 Einwohner.
Ein Teil diefer lebt zwar von der Induſtrie an der Küfte (Mühlen,
Waffenfabriten, Nudelfabriken ufm.), aber die Mehrzahl der Be-
wohner find doch Adersleute. Zum Schaden auf den Feldern gefellt
ſich noch der an den Häufern. Nicht umjonft wurde in diefen Tagen
viel von den legten Tagen Pompejis gefprochen; denn in der Tat,
es gibt viele Berührungspuntte in der legten Zeit mit Pompejis
Untergang. Auch damals mwütete der Afchenregen, der die Dächer
| ER
116 Veſuv: Einfturz der Neapler Markthalle
durchbrach und die Wege und Straßen unpafjierbar machte. Es
ſcheint eine Jronie des Schichſals; je gefährlicher ein Erbbebengebiet
ift, defto leichtfinniger werden die Menfchen. Die Kataftrophe von
Kalabrien — nur mit Schaudern gedenke ich noch der Ruinenſtädte
— wäre nie jo groß geworben, wenn die Häufer anders und jedenfalls
elaftiicher gebaut worden wären. So ift es hier mit den Dächern.
Das leichteſte an den fo wie fo fchon leicht gebauten vieredigen
Kaſtenhäuſern ift das flache Dach. Kommt auf dieſes eine auch nr
zwanzig Zentimeter Hohe Schicht von Ajche, dann ift Die Kataſtrophe
da; denn die „lapilli“ des Veſuvs find fo fchwer, daß eine Schicht
von fünf Zentimeter Höhe auf 20 Duabratmeter acht Bentner wiegt.
Das Dach ftürzt ein und erichlägt alles. Noch lachte man, als man
in Neapel hörte, da am Sonntag in Rola, das doch drei Mal jo weit
vom Befun entfernt ift wie Torre Annunziata, die Aſche fo dicht
gefallen ſei, daß die erichredten Einwohner die Stadt verließen.
Da kam heute Morgen dad Mene Tekel der Marithalle
bon Neapel. ch ſaß gerade beim Morgenkaffee, als ein itafienifcher
Kollege eiligft zu mir kam und mich mit dem Rufe aufſchreckte: „Haft
du nicht den Lärm gehört, ven Plumps, den Tratratrac?“ Schnell
eilte ic) zum Monte Oliveto, nahe der Hauptpoft. Die ganze Um⸗
gebung war in Aufruhr. Weiber, Kinder, Mädchen, Sünglinge,
alles befreuzte, jegnete jich und jagte jammernd ben Einſturz vom
ganz Neapel voraus. Ich wand mich durch den Militärlorbon und
teat in den großen Innenhof, in dem vor einer Viertelftunde noch das
intenfipfte Marktgewimmel geherrfcht hatte. Zum Gflüd hatte es
noch nicht die Dichtigkeit angenommen, die e& gegen halb zehn Uhr
zu zeigen pflegte. Doch da die Markthalle der Zentralmarkt für
Fleiſch, Wurft, Geflügel und fo weiter bildete, war dad Gedränge
Schon groß genug. Das Dach war in einem Nu unter der Ajchenlaft
azufammengeftürzt, hatte die Seitenwände mit ihren Eijenpfeilern
zum Teil zervrüdt, zum Zeil beifeite gebogen, und mım fah man nur
eine Pyramide von Eifenftangen, Brettern, Tafeln, Latten, Roll-
Bejun: Die Markthalle nach dem Einfturz 117
lüden. Die Rettungsarbeiten waren erft im Beginn. Nach einer
halben Stunde kehrte ich wieder. Nun aber lie mich der Korbon
nicht mehr durch, doch ein Polizift führte mich nebenan auf die
Zerraffe der arabinierilnferne, die man jet auch (!) mit fieberhafter
Eile zu ſäubern fich mühte. Das Gewimmel unter mir war greulich.
Mit einiger Phantafie konnte man glauben, man fähe ftaubige
Ameifen in einem Haufen graugelber Tannennadeln. Die Kara⸗
binieri arbeiteten rafch mit den Feuerwehrleuten um die Wette und
Ichichteten in den Eden ganze Byramiden von Stangen und Brettern
auf. Daneben ftanden Hunderte von Krankenträgern des Roten
Kreuzes mit Bahren. Dann am das fchnell mobilifierte Korps der
Straßentehrer in blauer Blufe. Bon Zeit zu Zeit fchleppt man einen
Verwundeten oder Toten herbei. Die Menfchenmenge fließt über
ihnen zufammen, wie da3 Waffer eines großen runden Bedeng,
deilen mittlerer Abflug geöffnet iſt. Man fieht, wie Tücher und
Deden um die Opfer gelegt, wie fie aufgehoben werden, und in der
nächften Sekunde ehrt wieder alle zum Bergungswerk zurüd.
Auch an komiſchen Bildern fehlt es nicht, wie immer bei folchen
Schredensfzenen. Ein aſchgrau gemordener Kapuziner dreht fich,
die Hände zufammenfschlagend, taumelnd herum, ein Polizift trägt
gravitätifch einen Zahltiſch, ein Feuerwehrmann zwei gerupfte,
ganz verſtaubte PButerhähne. Auf einem Berg von Scherben und
Biegeln ſtehen die faft geiltesgeftört blidenden Verwandten der
Verichütteten. Fünf Tote find ſchon geborgen, darunter drei Kara⸗
binieri, die Einkäufe für die Kantine gemacht hatten; auch ſchon vier-
zehn Verwundete. Im Laufe der Nettungsarbeiten wurden nach
und nach zehn Tote, fünfundzwanzig Schwerverwundete unb Hundert
Verletzte herauögezogen. Zu gleicher Zeit wurde auf allen Dächern
Neapels fleißig gearbeitet; denn der Magiſtrat hatte befohlen, daß
nun — nach dem Unglück — jedes Dad) mnerhalb zwölf Stunden
gereinigt fein mülje. Kenner der Stadt erflären jebt, eö fei ein
SA, daß zu dem Aſchenregen nicht auch ein Erdbeben kam, zumal
118 In der Afche des Veſuvs
viele große Häuſer auf durchhöhltem Boden ſtehen; denn den unter⸗
irdiſchen Stößen und dem gleichzeitigen Drud vom Dache her würden
wenige alte Gebäude ftandgehalten Haben. Intereſſant war dag
Verhalten der Zeitungen. Viele ermahnten zur Ruhe, hebten aber
ihre Leſer gegen die Behörden auf, die durch ihre Saumfeligfeit die
Markthallenkataftrophe verurjacht hätten. Freilich fcheinen die
Behörden der Stadt und Provinz Neapel Leute eigener Art zu fein,
wahre Ritter der Gemütlichkeit; ſagte doch heute ein Provinzialrat:
„jest Hilft nur noch Mitleid und Gebet!“
Sn der Afche des Veſuvs.
| Wer möchte noch das alte Bette finden
Des Schwefelfttomd, der glühend fich ergoß?
Des unterird’fchen Feuers ſchreckliche
Geburt ift alle, eine Lavarinde
Liegt aufgefchichtet über dem Gefunden,
Und jeder Fußtritt wandelt auf Zerftörung.
(Braut von Meſſina).
Dienstag, 10. April 1906. Morgens elf Uhr. Hellſter Sonnen⸗
ſchein. Faſt möchte man wieder abreiſen; denn die neueſten Nach⸗
richten beſagen, daß die Eruption zum Stillſtand gekommen. Doch
wollten wir noch einen Ausflug nah Torre Annunziata
und Bo3cotrecaje machen, um die Verwüftungen der Lava
zu ſchauen. Bor dem Rathaus in Neapel tun wir einen Rundblid.
Welche Zerftörung in den Gartenanlagen! Alle Pflanzen zerftört,
die Denkmäler braun bemehlt, die Palmen erftiden im Staub-
überzug, an Stelle der grümen Farbe des Graſes ift ein einförmiges
Gelbbraun getreten. Ein friicher Wind zerteilt die hellblaue Rauch⸗
müßte des Veſuv. Dean kennt den alten Friedenäftörer richt wieder,
Er hat buchitäblich den „Stopf verloten” und fo den beruflichen Veſub⸗
Befun: Die Flüchtlinge 11
malern und -Photographen den alten Lagerbefland verdorben.
Unfer Blick wird abgelentt. Ganze Scharen von Schuttfchauflern
und Afchenkehrern kommen; denn das Oberhaupt der Stadt hat
befohlen, daß innerhalb zwölf Stunden alle Dächer rein gefegt fein
jollen. Freilich ift drei Stunden vorher das große Unglüd in der
Markthalle auf dem Monte Dliveto pafliert. Die Leute nehmen
jebt den Befehl des Bürgermeilterd ernſt. Wer zu nahe an den
Häufern vorbei geht, wie ich, kann das merken, wenn er unter eine
Lawine gerät, die ihn im Nu in einen „Erdmann“ verwandelt.
EI ein Viertel. Fahrt zum Bahnhof. Der Wind Hat fich
erhoben. Die Straßen find neblig, gelb-braun, Staub und Afche
fünt fie. Dan begegnet vielen Männern mit verbundenen Nafen
und Köpfen, — es find Opfer des Steinregens in der Umgegend.
Die Bahnhofhalle fcheint im Kriegszuſtande. Überall verſtaubte
Soldaten mit ſchwarzen Gefichtern. Überall auch Flüchtlinge,
meift Weiber und Kinder. Der Zug nah Torre Anmunziata fol
halb zmölf abgehen, aber bei der allgemeinen Verwirrung wird er
erft um ein Uhr zufammengeftellt; denn alle zehn Minuten fommen
Züge, die Militär bringen. Endlich nach eins fahren wir ab. In
unfern Korridorwagen fommen Flüchtlinge: eine Frau, ein Kind,
ein Mädchen aus Torre del Greco, die in der Nacht geflohen waren,
fuchen zurückzukehren, um zu fehen, ob fie fich wieder in ihr Haus
getrauen können. Sie find furchtbar aufgeregt. Der Zug geht
langfam. Die Wagentüre wird aufgeriffen, ein dider Herr Teucht
hinauf, der auf dem Trittbrette einhergegangen, und fällt der rau
in die Arme. Sie waren in der Nacht getrennt worden, und er hatte
Frau und Kind in Eaftellamare, in Caferta, in Neapel auf Gratis-
zidzadfahrt vergebens gefucht; denn wer denkt daran, den armen
Bertriebenen Geld abzunehmen? Die Freude des Wiederfeheng
dauert nicht lange. Nachdem der Dide feufzend, weinend, lachend
Frau und Kind abgefüßt, ftotternd feine Erlebniſſe erzählt, Schauer⸗
gerlichte mitgeteilt hat, hält er inne; denn Dunkelheit umfängt ung.
120 Veſuv: Beichießung mit Südfrüchten
Der Bug Steht feit in einem Heinen Tunnel. Was ift gefchehen? Wir
können vor Ajche nicht weiter. Die Schwägerin ftößt einen gellenden
Schrei aus und fährt in ihrem Fluchteifer mit dem Kopfe gegen das
Soupefenfter. Dann wimmert fie: „Madonna mial Nur hinaus!
Sch fterbe in der Dunkelheit!” Der Dide flucht, die Mutter, von der
Panik angeftedt, prügelt nervös jammernd ihr Kind. Wieder ſpringt
das Mädchen auf. Ihr Schwager hält fie mit aller Kraft feſt und
ſagt fataliftiich: „Was nut das Jammern! Wenn wir fterben follen,
auch gut! Mbe, dann flerben wir. Nur laß das Flemnen!“ Nach
zehn Minuten geht der Zug weiter. Bald kommen wir zur erften
Station San Giovanni Teducci. Wie der Blib ver
ſchwindet der Dide mit feiner Yamilie und erklärt draußen, daß er
nicht für eine Million weiter fahre. Er babe genug an feinem
früheren Schrecken.
In uns Deutſchen — wir find zu viert — regt fich die nordifche
Überlegenheit, die fo gern über füdliche Furcht und Angft fpottet.
Doch die Landſchaft rings umher lenkt uns ab. Alles iſtgrau
oder braun beſtreut, berieſelt, betupft. Das Geſträuch gleicht den
gepuderten Ruten auf unſern Weihnachtsmärlten. Die Felder ſehen
aus wie ſchneebedeckte deutſche Acker am Ausgang des Winters.
Doch dabei ift es berüdend warm, fo daß die optifche Täufchung einen
Halten bat. Ein Genoffe jammert. „DO Torre del Dredol” und
zeigt auf Das graue Meer, „dad nennt man den blauen Golf. O bella
Napolil“ Ein Bug, vom Veſuv Tommend, fährt an und vorüber.
Cr zeigt die gleiche Farbe, wie die modernen Kriegsſchiffe. Seine
Fenſter gleihen gejprenkelten Bafaltplatten. Ich öffne mein
Fenſter und pralle erjchredt zurüd. Straßenjungen bombardieven
unfern Zug mit Zitronen und Apfelfinen. Der Zug hält und ruticht
dann vorfichtig weiter. Mein Schreden fteigt, denn auf dem Neben-
geleife ragen libereinander getürmt die Wagen und Lokomotiven
zweier Züge, die in der Nacht infolge des Aſchenregens ineim
ander gefahren find. Ein Waggon mit Früchten ift total
Veſuv: Ein Zug im Aſchenſand 121
aufgeichlitt und die Bahnarbeiter verteilen unter die Paflagiere
unfere3 Zuges faftige Apfeljinen, die aus den geöffneten Flanken
de3 Wagens herunterkollern. j
Langſam gehts weiter. Jede Sekunde wechſelt das Wetter
und die Beleuchtung. Der Wind wird Kühl. Über dem Golf liegt
Höbentauch, das Meer fcheint zu brennen. Ein Torpedoboot zid-
zadt, velognosziert auf der graugrünen, Dampfenden Ylut. Der
Rauch treibt nach Capri, das feit einigen Tagen vom Verlehr abge-
ſchnitten ift.
Zwei Uhr. Station Bortici. Eine malerische Menge hodt,
lauert, ſtiert, ſchweigt, flucht, heult, ſeufzt, ächzt und Feucht auf dem
Bahnſteig. Ein Ribera, ein Guſſow würden ob der ſchönen Modelle
jauchzen und ein Menzel jofort fein Sklizzenbuch herausnehmen.
Flüchtlinge find’, die auf Beförderung warten. Der Himmel ift
plöglich ſchwefelgelb, geipenftig gleißen gegen biefen Hintergrund
die Gebäude. Cave oculos! Wie das brennt, wie;die Zähne
knirſchen! Der Aſchenregen iommt. Bald ift der Veſuv und
die Luft ringsum eine einzige Symphonie in braun. Auf dem Dache
des Waggons prajlelt ed, al3 ob Taufende von Erben niederfielen.
Nun ommt warmer Regen dazu, die Tenfter find im Nu von Heinen
Schlammzungen beledt, die herausgeftredte Hand ſtarrt ebenfo-
fchnell von Dutzenden von Schlammwarzen. Auf dem braunen
Meer find weiſe Giſchtſtreifen. Stetig wechſelt die Yarbe des
Himmels, jett ift fie rotbraun. Zwei Kriegsſchiffe ericheinen und
verfchivinden; denn Dämmerung umgibt und. Das Nebengeleife
verſchwindet unter einem Schlammüberzug, der bald wie Porzellan-
erde, bald wie Ehololade erfcheint. Unſer Zug humpelt, ſpringt und
— bums — fteht ftill auf freier Strede.
In dem trüben Dämmerjchein wirkt das Praffeln der Heinen
Steinen (lapilli) nervösmachend. Auf dem Nebengeleife erjcheinen
phantaftiiche Geftalten. Sie beginnen zu ſchaufeln. Ihr Geficht
haben fie mit TZüchern verbunden, die Aufjeher tragen Regenſchirme,
122 Veſuv: Faft wie im Samum
deren Farbe undefinierbar if. Die Kriegsſchiffe dräuen wie ſpuk⸗
hafte Nachtgefpetifter. Die Wagenfenfter gleichen Scheiben aus
rotem Granit. Unſer Zug macht verzweifelte Anftrengungen, um
vorwärts zu kommen, er fährt zurüd, um einen Anlauf zu nehmen,
und fteht wieder fill. Zum Glüd wird’3 heller und das wechſelnde
Schauspiel auf dem Meere und an der Küfte verkürzt uns die Beit
des Wartend. Torre del Greco vor ung ftarrt in einer braunen
Kapuzinerkutte, das Küſtenwaſſer ift rot, wie ein Heiner Stamander
nach einer homerifhen Schlacht. Die Arbeiter rufen und fchreien
fich an. Doch was ift das? Ohne ung, die wir im hintern Teil des
Zuges ſitzen, zu benachrichtigen, dampft der Zugfüihter mit den fünf
erften Wagen auf und davon. So fit unfer Zug-Rumpf hilflos in
der Afche, die allmählich, aber ficher höher fteigt. Da neuer Schlamm-
hagel einſetzt, wird da3 italienijche Reifevolf aufgeregt. Vergeben
ind alle Zurufe: „Ci vuole. pazienza. Forza maggiore vince
tuttol“ Ja, die force majeurel Wie mächtig werden die Heinen
Aſchenſtäubchen, die der Menſchenfuß zertritt, wenn fie zu Milliarden
anrüden! = |
Das Meer ift grau, zerriffen, wie die Dede eines Gletſchers.
Seine Klippen ſchauen aus, als ob alle Kaminlehrer Neapels den
gejamten Ruß der Stadt über fie ausgefchüttet. Die Hüfte Sorrents
icheint von dem Strahlenmantel des Haares eines Rieſenkindes
berfchleiert, daS fich Spielend über fie beugt und den Kopfichmud
herunterhängen läßt. Wieder ein Farbenwechſel: dad Meer gleicht
füffigem Lehm oder brodelndem Tifchlerleim. Um zwei Uhr
zwanzig wird der Himmel gelb, wie dazumal, als vor einigen Jahren
der „Blutregen” ganz Unteritalien rappelköppiſch machte. Beinahe
kann man ſich vorftellen, was ein Samum ift. Unſere Geſichter
glühen gelbrot, wir fcheinen in Indianer verivandelt. Bald wird
die Quft teeriger, braumer, wie der berühmte Londoner Nebel. Der
Wind dreht ſich und fchüttet die Aſche nach Neapel. Nun fcheint der
Himmel außer Rand und Band, er wird beängftigend rot, orange.
Veſuv: Neifende in‘ Gefahr | 123
Blitze durchzuden ihn. Das Meer ift in graue Platten zerjebt, die
die Erinnerung an einen Eisgang auf dem Rhein weden. Die Küften-
feen und Inſeln ragen fo ftumpfbraun hervor wie höher gelegene
Aderzipfel in einem überſchwemmten Flußtal. Wer jebt die Hand
ausſtreckt, Tanıı erproben, wie fich der Himmel an Spritmalerei
erluftiert. Röter wird er, er ſchwält und qualmt.
Das ift zu viel für unfere italienifhen Mitreifenden.
Bon Zeit zu Zeit erjcheint ein Grei3 oder ein Jüngling und fragt
ung mit jeinen beredten Augen, ob wir nicht eine Unterhaltung
anfangen wollen, die ihm tiber die beginnende Furcht hinweghilft.
Diefes Angftgefühl verftärkt fich, als jebt Erde, Waſſer, Luft in ein
einziged Sepia-Dunftmeer zufammenfließen. Die Oberfläche des
Waſſers fiedet; denn zifchend fallen Millionen von heißen Afchen-
körnern. Eine breitbruftige Dome, deren Geficht und Büſte an ein
befanntes Bild von Tizian erinnert, kommt Troft fuchend zu uns.
Sie fpriht von Tod und Untergang und zerzauft mit bebenden
Fingern ihre fchöne weiße Boa. Noch will ſich troß des Mitleids
die fpöttifche Überlegenheit des Nordens bei und regen, doch nicht
mehr ganz jo ehrlich wie vorher; denn die Situation ift wirklich
unangenehm,. weil. Minute auf Minute verrinnt und feine Lolo⸗
motive erjcheint, und zu holen.
Der Kocrridor füllt jih. Man flucht, betet, mahnt zur Ruhe.
Ein älterer Herr hält ein Zeitungspapier heraus. Es rafchelt und
riefelt und pridelt zu verdächtig. „Das find lapillil” ruft er entſetzt.
Lauter Angftruf antwortet ihm. Man rekognosziert durch die halb-
blinden Fenſter — denn öffnen darf man fie nicht mehr, mweil die
feinen Körner fich in Auge, Nafe, Mund brennend hineinbohren, —
die Umgebung. Rechts droht bei einem Fehltritt, falls einer jo
wahnfinnig fein follte, außzufteigen, der Sturz ind Meer, links ein
Beinbruch auf dem ſechs Meter tiefer Tiegenden Straßenpflafter.
Wir figen alfo auf einem ſchmalen Viadukt feit, deſſen Dede von
glitfcheriger, dreißig Zentimeter hoher Aſche gebildet wird!
124 Veſuv: Todesfurcht und Sterbegebete
Drei ein Viertel. Wir nähern ung dem dritten Alte, dem
Kulminationspunft. Finfterfte Nach t umgibt und. Kein Licht im
Wagen. ch begreife die Klage des engliichen Prinzen in Shafe-
ſpeares Königsdrama, der feiner Augen Mörder anfleht, ihm nicht
die Quelle des Licht zu verſtopfen; denn der Aufenthalt im Aſchen⸗
wirbelwind war noch erträglich, ala man leidlich ſehen konnte. Aber
jest! Streichhölzer Flammen auf und fteigern nach ihrem Per-
glimmen die Unbehaglichkeit. Die Panik beginnt und zeitigt alle
die Begleiterfcheimungen, die mancher, der behaglich am Dfen von
ihnen lieſt, gern als „Berrüdtheiten" bezeichnet. Ein junger Mann
taftet fich zu und herein, entzündet ein Streichholz und grapft nach
dem Notſignal. Wir lächeln nicht; denn wozu dem Aufgeregten
jagen, daß mangels einer Lokomotive fein Beginnen blödfinnig ift!
Im Nebenabteil intoniert jemand die Totenlitanei! Schaurig Hingt
das bebend geleierte „Ora pro nobis!“ Eine Frau weiter hinten
vergleicht flüfternd unfjere Lage mit derjenigen der Bergleute von
Courrieres, eine andere jchrillt zornig gegen die Gmadenftätte von
Balle di Pompei, der fie doch fo reiche Spenden gegeben, und die ihr
jest nicht helfe, trotzdem fie jo nahe fei ... . Ora pro nobis! Selt-
fam: die nordifche Überlegenheit ſchweigt auf einmal... Das
Geräusch der niederpraffelnden Aſchenſchloſſen fcheint fernes Klein-
gemwehrfeuer. Der alte Mann von vorher Ichlurft hinein zu uns,
jpricht von Tod, Verderben, fleht ung um Rettung an. In den
anderen Abteilen tobt man. Die Ängftlichen wollen die Vernünftigen,
die zur Ruhe mahnen, lynchen. Dan reißt Fenfter auf, fchrille, häß⸗
lihe Angſtrufe, die im Wagen ein fchauerliches Echo wecken,
draußen aber im Sturm verhallen, jagen fich einander: „Hilfe, eine
Laterne, Licht, eine Kerze, Rettung!" Es bilden ſich plöglich Aktien⸗
gejellichaften. Da Tein Zugperfonal vorhanden ift, will man ein
Kapital von Hundert Lire aufbringen, um den beherzteften von den
armen Mitreifenden zu bejtimmen, zur Station zu gehen, die zehn
Minuten entfernt ift. Aber niemand meldet fi. Die Hitze fteigt.
Veſuv: Flucht der Neifenden 125
Die Luft wird fiidig. Man ringt nad) Atem. Viele Hagen über
Drud im Hinterlopf. Dazwiſchen flucht wer Über den Stationächef
bon Torre del Greco, fiber Die Beamten, die Eifenbahnen Italiens.
Und wieder ertönt: „Ora pro nobis“. Ein Deutſcher erbietet fich,
die Laterne, die am Schlußwagen hängt, zu holen, und wird nur mit
Mühe zurüdgehalten; denn draußen fieht man nicht die Hand vor
den Augen, und ein Audrutichen in der Aſche —? Man wagt den
Gedanken nicht auszudenken.
Die Angſt weckt die Phantaſie. Man ſiellt ſich den Vefuv
als Webermeiſter vor, der mählich, aber ſicher die Decke webt, die
ſich üuber unſern Wegen legen und und erftiden wird. Man glaubt,
zu jehen, wie da8 Niveau der Aſche fteigt, und doch ift Duntelbeit.
Man ftarrt zur Wagendede, die man nicht fieht und prüft fie zweifelnd
auf ihre Teitigleit. Endlich — eine Emigleit fcheint vergangen —,
dDämmert e3 drmißen. Rufe erichallen draußen, Konımando-
fiimmen. Wir fteigen aus. Ein hoher, jchwarzbärtiger Mann, der
eine Yadel trägt, ift mit Arbeitern von der Station gelommen,
„Karamane gebildet”, ruft er mit Stentorftimme, „alle halten
jih an den Händen. Alles bleibt zwiſchen den Geleifen!" Lichte
Helle umfließt uns. Mondfchein bei Nebel fcheint e3. Innerlich
heil wird es auch den Paffagieren. Der Zug bildet fich und flampft
erregt vorwärts im kniehohen, braunen Schofoladenpulver. Gegen
vier Uhr iſt's. Plötzlich droht die Luft jich von neuem zu verfinjtern.
Zum Glüd find wir über den Viadukt heraus. „Nette fich, wer kann!“
Und jet beginnt ein Dauerlauf, der gewiß für einen unbetei-
ligten Zuſchauer recht komiſch gewirkt haben müßte. Wir kommen an
einem Holzfeuer vorüber, da3 die Arbeiter angezündet haben,
Dubende von Händen greifen ſich einen Span. Und neu belebt
feucht man vorwärts. Aber wie die Augen breimen! Verwimſchter
Feuerregen!
Wir erreichen die Station Torre del Greco. Sie iſt
von Tauſenden beſetzt. Alle Ausgänge zur Stadt find geſchloſſen,
126 Veſuv: Bu den Schiffen
verjtopft durch Tebende Mauern. Es fommt zu Fauſtkämpfen, da
wir nur den einen Gedanken haben, unter Dach zu kommen. Aber
die Behörden haben den Befehl gegeben, die Stadt zu räumen, da
die Häufer einzuftürzen drohen. Das LKicht fteigert jich, aber auch
der Aihenregen, der brennenden Durft erzeugt. Aber wo gibts
Wafler? Die Stationsbeamten find wie wahnfinnig, die Soldaten,
die einen Kordon ziehen, wie afchgraue Phantadmen, die Hin und
herzuden, ohne Bemwußtjein, wie von unfichtbaren Drähten gezogen.
Neuer Kommandoruf: „Zum Hafen! Zu den Schiffen!“
Man verbindet fich den Kopf, macht Schirme oder Helme aus
Zeitungen, um die Augen zu ſchützen. Jetzt kommt weißes, ätzendes
Pulver in Myriaden von Stäubchen, in fünf Minuten find alle
Kleider weißgrau, zentimeterhocdh auf Hut und Rüden liegt die
Kruſte. Eine unabfehbar lange Schlange formiert fih, Bauern,
Signori, Bettler, Fremde, Handwerker, Nentner, deren foziale
Unterfchiede vom Staube nivelliert werden. Eine Karawane in der
Wuſte Scheint vorwärts zu ſchwanken, die fich zu Fuß duchlämpft,
da Kamele und Pferde eingegangen find. Doch — der Kopf wird
dumpf. Der Neft ift — Schweigen, Gleichgültigfeit, Stumpfheit.
Man ſchiebt fich, ftößt fich über Treppenichluchten, die zu Staub-
pulvergießbächen verwandelt find, man ftrauchelt, ftürzt, erhebt fich,
wankt weiter. Endlich jteht da3 Gemwühl auf dem zwei Meter breiten
Molo, eine Mauer hinter fich, vor ſich das Meer. Man verichnauft.
Viel zu langfam kommen Schaluppen und Kähne. Wer fein Bad
nehmen mill, rettet fich an Die Mauer, denn die Herde von wahnſinns⸗
blöden Flüchtlingen drängt und ftößt, daß die Lage wirklich
‚bedrohlich wird. Die Gendarmen, die ſich fchon Heiler geheult,
heben verzweifelt die Hände hoch. Zwar find nod) andere Führer
des Volles ın der Menge, gut genährte, aber ſchmutzige Prieſter,
doch fie denken nur an ſich, oder an ihre weiblichen Verwandten. Ein
Kaplan, der gar zu rüchſichtslos ftößt, wird unter lauten Rufen der
Entrüftung von Gendarmen und Bauern am Talar zurüdgezogen.
Veſuv: Entgleifte Lokomotiven 127
Die ſüditalieniſche Geiſtlichkeit habe ich auch im verfloſſenen Sep⸗
tember in den Schredenstagen von Kalabrien kennen gelernt! Am
Waſſer Schwimmen viele tote Filche, Opfer der Aiche. Aber aud)
der Hafen ward ein Opfer der Aſche. Die erfte ———
hat fett.
‚Unter diefen Umftänden lann die Einſchiffung Stunden dauern:
Unfere Gruppe hält Kriegsrat. Am geicheiteiten ift, wir Tehren zum
Bahnhof zurüd, warten die Treilegung der Schienen ab, fahren
nach Caftellamare und von dort über Caferta nach Neapel; denn durch
die Alchenzone von Torre del Gteco bis Reſina mögen wir nicht, noch
dann irgend ein Zug hindurch. Geſagt, getan. Die Kletterei nach
dem hochgelegenen Ort beginnt. Zwei Züge liegen vor-dem Bahn-
hof. Ohne langes Befinnen Stürzen wir in ein Abteil zweiter Klaſſe
de3 Kaftellamare-Zuges. Zwei Minuten [päter wird der Zug von
den Torrefern geftürmt, wir figen eingefeilt zwiſchen fieben Frauen
und zwölf Kindern, Dieje find zwar ſchmutzig, zerlumpi, aber doc
entzüdend fchön. So figen wir eine Stunde in ſtumpffinnigem
arten. . Dann reißt die Geduld. Ich fteige aus in den Aſchenregen,
arbeite mich zur Spitze de3 Zuges durch und finde, daß die Lolo-
motive entgleift it. ch kehre zu den Gefährten zurüd. Was
tun? Torre dei Greco ift verlaffen, Obdach, Speife, Trank vacant,
folglich bleibt nichts übrig, al in den Zug nad) Neapel zu gehen
und, fofte e3, was es wolle, der Aichenzone zu trogen. Wiederum
fteigen wir aus. Die Soldaten halten und an. Das Loſungswort
„Preſſe“ gibt ung freien Durchgang. Doch alle Wagen find befept,
zweifach, dreifach. Im lebten, der zwar vollgepökelt ift, erlümpfen
wir und Stehpläße in drangvollſter Enge. Welche Stidluft! Welcher
Geſtank! Wieder vergeht eine Stunde, Wiederum rebelliert unfere
Ungeduld. Draußen geſtikulieren aufgeregte Gruppen, Yadeln kom⸗
‚men und gehen. Rufe erichallen: „Kein Zug geht weiter. Wir müſſen
die Nacht hier bleiben. Die beiden Lolomotiven des Neapelzuges find
‚zu ſchwach, man verlangt-eine dritte, aber der Telegraph ift unter-
128 Veſuv: Nächtlicher Marfch
brochen!“ Da fchreit man: „Sch gehe zu Fuß. In Borticigibt’s
Tram oder Wagen!” „Gut!“ ruft ein andrer, „bilden wir eine
Karawane, zu vielen gehts beſſer!“ Das leuchtet auch uns ein.
Wiederum arbeiten wir uns zwiſchen den Zügen durch und auf der
anderen Seite zurüd bis zum Bahnhof. Deſſen Chef verteilt Pech
fadeln. Der Marjch beginnt, zuerft durch die verlaffene Stadt, in
der melancholiſch Straßenlaternen brennen, dann über die zum
Hugelplateau gewandelte Chauſſee. Kein Wagen ift zu fehen. Nurein
Automobil kommt, da3 die hohe Afche Uberwindet. Den Marſch zu
Schildern, vermag ich nicht. Dumpf „tippelten“ wir einer hinter dem
anbern, bis an die Waden und die Knie in Afche, während der Veſuv
brülfte, der Himmel donmerte und Lavabomben durch die Luft
ziſchten. Gedankenlos „tippelten” wir nur mit voller Wut gegen den
unaufhörlichen, augenmarternden Ajchenregen.
Hinter Portici, das auch verlaffen war, fchleicht eine Drofchte
mit elender Mähre. Wir fürmen fie. Ber Kutſcher fordert einen
hoben Preis. Was tuts? Langjfam keucht die Mähte. Wir aber
empfinden Erleichterung, weil ung das Wagendach gegen den Stein-
regen fchüßt. War dad eine ſpukhafte Fahrt! Wie graue Geſpenſtet
Schlichen Soldaten einher, den Vefuvorten zu. Arme Kerle! Gonft
begrüßen fie Ablommandierungen freudig, aber dieſer Dienft ift
doch Schlimmer, als in dem erbbebengeplagten Stalabrien. Erft an det
Barriere von Neapel wird die Straße feiter, der Aſchenregen
dünner. Die erften Trams kommen, zugleich eine Flut von Menfchen,
die und zum Halten zwingt. Eine Prozeſſion ifts, die ohne
Geiftlichkeit daS heilige Bild des Vorſtadtviertels rund trägt und
dabei Häglich Bittgefänge heult. Kläglich rafjelt auch der Blech⸗
franz, den das Bild als Weihgefchent trägt, an feine hölzernen Beine.
Kläglich ſchaut auch das Hafenviertel aus. Auch im Innern der
Stadt herricht Ode und Verlaſſenheit. Der beißende Ajchenregen
ſchteckt das ſonſt jo firaßenfrohe Volk in feine vier Wände zurüd,
Zurüchſchrecken Täßt una aber auch unfer Spiegelbild, als wir ins
Neapel: Unheimliche Stille 129
Hotel kamen. Halb zehn ward. Und dazu empfing ung die Meldung,
daß der Veſuv neue Lava in der Richtung von Pompeji auzfende.
Die ganze Nacht riefelte die Ajche über Neapel. Am Morgen
um jieben Uhr war die Luft braun. Sch fchritt zur Poft. GStellen-
weiſe lag der braune Ajchenjand auf der Straße. Alle Läden waren
noch geichloffen, und auch im Laufe des Morgen3 wurden wenige
geöffnet. Neapel trauert; denn fchlechtes Wetter im Kulminations-
punkt der Fremdenſaiſon ift an fich fchon eine Kataftrophe. Dazu
kommt die Panik. Die Poſt it von Hunderten von Leuten belagert,
die telegraphiich nad) dem Befinden ihrer Angehörigen in Torre del
Greco, Sarno, DOttajano und den anderen verlaffenen Veſuvorten
fragen wollen und vielleicht nie Antwort erhalten werden.
Panik herrſcht auch im niedern Volle. Soeben, Mittag, zieht
wieder jingend und betend eine Prozeſſion über den Rat-
hausplatz.
Neapel, 11. April 1906. Wer Neapel kennt, iſt ganz erſtaunt
über die unheimliche Stille in der Stadt. Wieder ziehen bedrohliche
braunrote Rauchwolken über die Häuſer. Alle Läden find geſchloſſen.
Selbſt in der großen Paſſage Vittorio Emanuele, wo fonft. mittags
das lauteſte Leben erbrauft, ift feine Menſchenſeele. Bleiche Furcht
hat alle Bewohner erfaßt. Die reicheren Leute mwetteifern mit den
Fremden im Erodus. Der Bahnhof ift militärifch beſetzt. Auf. dem
Rathausplag Tagert Kavallerie. Die Verbindung mit Rom iſt
erſchwert. Dubende von Prozeflionen durchziehen die Stadt und
feuern Schüjfe ab, um die böſen Geilter zu bannen. Der Ajchen-
regen hört auf. Die Lage in Torre del Greco ift jo bedrohlich, daß
jogar das Militär, da3 den verlafjenen Ort gegen Diebe fchübte,
zulidgezogen wurde. Yebt ertönt wieder einjchüchternd der Donner
über Neapel.
Neapel, 11. April 1906 (nachmittags). Die —— er⸗
ſcheinen in ſechs bis ſieben Sonderausgaben; ſie mahnen zur Ruhe
und warnen vor falſchen Gerüchten. Die Schulen und Theater ſind
BZacher: Im Lande des Erdbebens. 9
130 Neapel: Der Dom gejtürmt
geichloffen. In der Stadt wird Schwefelgeruch verjpürt. Ganz
Neapel wird vom Militär beherricht, da man Unruhen fürchtet.
Ein Aufruhr ist Schon erfolgt und zwar im Stadtviertel Vafto. Die
Häftlinge de3 Gefängnifjes San Francesco meuterten, ein Bataillon
Infanterie fchaffte Ordnung. Die Arbeiter einer Tabaksfabrik er-
zwangen die Schließung der Lokale. Die Panik erhöht jich, weil
der Veſuv wieder donnert, objchon Kenner darin ein gutes Zeichen
erbliden. Die Menge türmte den Dom und zwang den
Klerus, die Statue de3 heiligen Januarius herum-
zutragen. Im Irrenhauſe Miano flohen ſechs Wärter mit den
Schlüffeln fämtlicher Zellen. In Bortici drang ein Bollshaufen
in da3 Rathaus, weil er die Verteilung des Brotes zu geringfügig
fand. Die Lage in Torre Annunziata hat fich gebeffert.
Der Lavaftrom fteht fHll. Am ganzen Veſuvgebiet herricht wegen
der Brunnenverihüttung Waſſermangel.
Neapel, 12.April 1906 (Donnerstag). Ein ganz eigenartige3
Gefühl der Wurftigleit — sit venia verbo — überlommt den Zu-
ſchauer hier; denn die Ereigniſſe ftoßen und drängen fich zu ſehr
in diefer wunderlichen Stadt und dabei find die Außerungen der
Panik fo feltiam, daß jie ſelbſt dem verhärtetften Spötter wehe tun
fönnten, wenn fie nicht oft eine zu tragifomijche närriiche Seite
hätten. Ein Teil der Zeitungen Tennt feine Pappenheimer; denn
am Sonntage jchon ermahnte Scarfoglio in feinem „Mat-
tino” zur Ruhe und beichivor Die Neapolitaner, nicht durch Gebete
und Spenden den unterirdifchen Göttern zu opfern. Matilda Serao
aber verzapfte des Kontrafts halber Sentimentalität und larmoyante
Übertreibungen glei) en gros. Daneben ſchimpften alle Blätter
auf die Behörden und wieſen auf da3 Königdpaar hin, das ſchneller
als diefe an Ort und Stelle gewefen fei, um ſich von der Größe des
Unglüds an allen Orten zu überzeugen. Freilich haben nicht alle
Behörden Automobile wie der König, oder Pierde wie der Fühne
Neiter Herzog von Aoſta. Auch darf nicht vergefjen werden, daß
Neapel: Uneinigleit der Gelehrten 131
von heißer Afche erfüllte Luft nicht gerade verkehrsfördernd wirkt.
Wer es nicht felbft miterlebt Hat, kann e3 nicht glauben, mie die
Aſchenkruſte, die das ganze Veſuvland bededt, den Verkehr erſchwert.
Die Eifenbahnen find gejtört, Telephon und Telegraph, die beide
überangejtrengt find, verfagen oft, zumal die Flut der behördlichen
Telegramme riefig ift, Wagen fommen ſchwer durch, das einzige,
was noch Hilft, it das Automobil, aber wer kann da3 bezahlen ?
Der „Mattino” freilich arbeitete mit Automobil und jchlug die Be-
börden um Hunderte von Verfügungslängen. Cr meldete zunächſt
die Kataftrophe vom Slircheneinfturz in Ottajarno. Die Regierung
glaubte, ihn dementieren zu miütffen, weil fie noch Feine offizielle
Nachricht hatte, wurde aber ſpäter gezivungen, reuig ihren Yehlgriff
einzugeftehen. Auch das Militär konnte bisher wenig ausrichten;
e3 mußte an zu viele Orte zu gleicher Zeit verzettelt werden, und
jo war die Verbindung zwiſchen den einzelnen Abteilungen und
ihrer Verpflegung ſchwer durchzuführen. Dazu kam, daß aud)
Soldaten Menjchen find. Sie waren zwar jo aufopferungsfreudig
wie in Kalabrien, aber der Aufenthalt in der Stidluft des Ajchen-
tegeng, der Brand in den Augen, der Durft in der verftaubten Kehle,
das Donnern de3 Veſuvs, die Bomben, die er ſchoß, alles das geht
auf die Nerven, zumal auch die Panik und die übertriebenen Streiche
des Aberglaubens unter dem flüchtigen Volke anftedend wirken.
Darum verlangt der „Mattino”, daß das ganze Vejungebiet Italiens
bewährteftem General Baldiſſera unterftellt werde, damit
er mit 100000 Mann den Rettungsdienſt mie eine Triegerijche
Aktion organifieren und fo in ihn Einheitlichfeit bringen könnte.
*< Wneinigfeit herrſchte auch in den mehr oder weniger miljen-
ſchaftlichen Gutachten, welche die Vullanologen in unzähligen Inter⸗
views äußerten. Für Montag fagten fie Stilfitand der Eruption
boraus, und Dienstag abend Hatte man außer der Kataftrophe des
Aſchenregens in Torre del Greco und San Gennaro, über welch
legteren zur Stunde noch feine näheren Nachrichten vorliegen,
9*
132 Neapel: Übertreibungen
den neuen Lavaausbruch, der auf Pompeji zufloß, jebt aber zum
Stillſtand gelommen ift. Heute jagen die Veſupgelehrten, nach aller
Erfahrung bedeute der Afchentegen, daß die dynamifche Kraft des
Vulkans einftweilen erjchöpft fei und morgen wieder jchönes Wetter
eintreten werde. „Wollen’3 hoffen”, meinte darauf ein englifcher
Kollege; „ich Habe genug Aſche geichludt und Schwefelftaub ein-
geatmet.” Das ift auch im Intereſſe der viel geplagten Bevölferung
zu hoffen, die von der Todesfurcht nervös zerrüttet ift. Unglaub⸗
lich find aber auch die gedruckten Übertreibungen, welche diefe Furcht
nähren. Scarfoglio meldet im „Mattino” zuerft die Kataftrophe
von Dttajano, gleich darauf übertrumpft ihn feine Gattin a. D.
Matide Serao mit der fetten Überjchrift in ihrem „Giorno“:
„Die Kataftrophe von Pompeji wiederholt fi) in Dttajano, ©.
Giufeppe und Terzigno!" Ahnlich find die mündlichen Übertrei-
bungen. Weil der Hauptfegel des Vejuvs einftürzte, heißt es im
Volke, der ganze Vulkan würde verſinken, und fich an feiner Stelle
ein. Rieſenſee bilden, und was dergleichen Zeug noch mehr ift.
Bejonders erfchraf auch da3 Vol, weil fich der Veſuv jetzt im weißen
Kleide zeigt; man kann ihm aber nicht Har machen, daß dieſes nur
der glafige Niederfchlag der Dtineraldämpfe ift, die er ausgehaucht
hat. Und doch, wie kann auch Vorſicht irren! Geftern morgen fagte
der „Mattino” noch im Sinne der Gelehrten: „Die Eruption des
Veſuvs it zu Ende. Die Bewohner des viel geprüften Gebiets
fönmen ruhig in ihre Häufer zurückkehren. Die Stadt Neapel läuft
feine Gefahr. Heute wäre auch die Heinfte Panik unbegründet.“
Tags darauf kam die fchon drahtlich geichilderte Panik dennod)
und zwar mit Riefengewvalt, und die Einwohner von Sarno, meit
im Often des Vulkans, flohen nach allen Himmelsrichtungen. Was
ſoll ich mich im Detail von Schilderungen ergehen?
Das Wort reicht auch nicht aus, um all das Elend zu zeichnen,
zu malen. Da müßte ſchon die Kunft eines Werejchtichagin kommen
Nur eind möchte ich erwähnen: den Eindrud, den mir das Verhalten
Neapel: Wirkungen der Panik 133
der Flüchtlinge gemacht hat. Wer die Geduld und die Ergebung
der Campagnabauern, die Arbeit juchend umberziehen, oder der
neapolitanischen Auswanderer kennt, die oberflächliche Betrachter
oft mit Stumpfheit verwechleln, muß da3 füditalienifche Wolf, wie
ih e3 in Kalabrien und jebt im PVefupgebiet ſah, lieb gewinnen.
Es ift impulfiv, aljo leicht erregbar und im Augenblid der größten
Craltation des Schredend Opfer; ift diejer Augenblid aber über-
wunden, jo fommt eine fajt fataliftiiche Selbjtverftändlichfeit der
Ruhe, die imponiert. Ich jah Flüchtlinge in Caniello, Neapel,
Portici, Torre del Greco, die Männer ernjt, die Frauen würdig.
Gie litten Hunger und Durft, mußten nicht, wohin fie vom Zufall
verichlagen würden, die beiten ihrer Habſeligkeiten Hatten fie im
Stich lafjen müfjen und dafür Kleinigkeiten in armfeligen Bündeln
mitgejchleppt, und doc) Hagten fie nicht. Soll man das Sorglojigfeit,
Optimismus, Leichtjinn nennen? Ich weiß nicht. Die italienische
Volksſeele iſt an und für fich ſchon Tompliziert, aber das Bauernvolf
Süpitaliens ift bis jegt felbft noch manchem italienischen Piycho-
logen und biologiihen Nationalölonomen ein Rätſel. Rührend
ift die Anhänglichkeit unter den Verwandten, rührend die Vorjorge
für Kranke und Schwache, faft ehrfürchtig die Achtung, mit der man
Ichwangere Frauen behandelt. Es jtect viel Herzensbildung in dem
guten Volke; jchade, daß ihr nicht die Volßerziehung, der Unterricht,
die Aufklärung entſpricht. In diefen Tagen bin ich oft gefragt
worden, ob mich die jegige Katastrophe an die von Kalabrien erinnere.
Bum Teil ja. Zuerſt fiel mir nochmal auf, daß alles, mas Beamten-
ſchaft heißt, wieder glattweg verſagte. Das kann natürlich nicht
anders fein in einem Lande, wo alle Behörden zentralifiert find,
wo jede Initiative, jeder Mut, auf eigene Verantivortung zu arbeiten,
durch die zopfige Oberbureauftatie am grünen Tiich erſtickt wird,
bie jedes jelbjtändige Handeln als Verbrechen brandmarft. Und dann
die Schreibarbeit, das taujendfache Anfragen per Telegraph! Ordre,
contre-ordre, desordre. Auf der andern Eeite ift aber auch Süd⸗
134 Neapel: Götzendienſt
italien ein Volk eigener Art; durch die väterlich deſpotiſchen Re—
gierungen der früheren Zeit verwöhnt und verdorben, erwartet
e3 alle von der Regierung, gerade fo wie e3 fonft alles von feinen
Dorfheiligen fordert. Gelbithilfe ift unbefannt. Dabei fehlt die
Solidarität. Jeder Lokalpatriotismus ſchaut argmöhnisch auf den
andern. Dazu kommt die Einmilchung der Abgeoröneten, kommt
ferner der Kompetenzlonflift zwiſchen den einzelnen Zweigen der
Bureaufratie und zwiſchen Zivil und Militär. Scarfoglio
hat recht: Bei Kataftrophen Hilft nur Diktatur — in Süditalien.
Daß der Eifenbahndienft mangelhaft ift, ift noch entichuldbar. Wir
jind in der Oſterwoche, der Reifeverfehr ftellt riefige Anforderungen,
und der Velup treibt mit Lava und Aſche Obftruftion, nach Hundert-
taufenden zählen aber die Armen, die Eoftenlos befördert werden
müfjen, weil jie dem Rayon des Todes nicht überlajjen bleiben
dürfen. Ganz wie in Kalabrien ftellten fich auch jet wieder die
Meutereien der Gefängnisinſaſſen ein, und das Unheil der Diebe
und Leichenfledderer, das jo viel Militär zur Prophylaxis abforbiert.
Ganz wie in Kalabrien grafjierte auch wieder der panikgenährte
Aberglauben. Welche Summen wurden in diefen Tagen in Neapel
für Kerzen ausgegeben! Welche Zeit vergeudet mit Wallfahrten,
Prozeſſionen, welche Fabeln erzählt von Wundertaten, während doch
fein einzige8 Wunderbild im Kampfe die Probe aushielt! Man
mag über Religion und Konfefjion denken, wie man will, aber die
Prozeſſionen des ſchmutzigſten Volkes in Neapel find jo würdeloſer,
heidnifcher Götzendienſtkram, daß man fich an den Geiftlichen ver-
greifen follte, die nicht allez dran jegen, um dem Volke feine Scheu
vor den Fetiichen zu nehmen.
Aber auch die Prefje verdient Tadel. Kein neapolitanijches
Blatt wagt etwas gegen den Unfug zu jagen, den Klerus und Boll
mit Neapel3 National-Santo, dem heiligen Sjanuarius treiben.
Es werden fich fogar noch Leute finden, die die frommen „Gründer”
von Balle di Pompeji lobpreijend unterftügen, wenn jie demnächſt
Neapel: Staatögeier"und Diebe 135
gemwinneshalber der einfältigen Menge, auch in gewiſſen deutichen
Gegenden, verkünden, daß nur die Madonna von Pompeji den
berühmten Ort bewahrt habe. Das glaubt dann die einfältige
Menge. Daß der Dorfheilige in San Giufeppe die Kirche nicht vor
dem Cinfturz, der berühmte Santo von Nola, obgleid) man ihn
jährli auf einem mehrere Stockwerke yohen Gerüft herumträgt,
jeine Klienten nicht vor der Ylucht rettete, daß die Lokalpatronin
von Bo3cotrecaje, die heilige Anna, verfagte, das wird der heiligen
Einfalt verſchwiegen. Diefe Ausbeutung der Traffen Unwiſſenheit
des Volles hat nun leider eine fchlimme Begleiterjcheinung; denn,
wenn ſich da3 Bolf hier von feinen Patronen im Himmel ver-
laſſen fieht, wird es umfo erxbitterter gegen die Regierung, die
Polizei und das Militär, und fo kommt e3 leicht zu Aufruhrſzenen,
wie fie heute fchüchtern begannen, aber rechtzeitig erſtickt wurden.
Darum iſt wirklich zu wünfchen, daß bald wieder der blaue Himmel
über Neapel lacht, und der Veſuv wieder feine Sturmhaube mit dem
beicheidenen Rauchkäppchen vertaufcht, das er ſonſt trägt.
Neapel, 13. April 1906. Geftern abend herrichte wieder
Panik, da fich der Aſchenregen erneuerte. Sie wird von Leuten,
die im Trüben fifchen tollen, durch Ausſtreuung von faljchen Alarm⸗
gerüchten ausgenutzt; diefe Kamorriften wollen die Bürger zur
Flucht antreiben, damit fie in den leeren Häufern plündern können.
Aus Brivatgefprächen mit neapolitanifchen Gentlemen und aus den
Undeutungen der Zeitungen — zwiſchen den Zeilen — geht hervor,
(der „Pungolo Parlamentare” fpriht 3. B. von „Staat
geiern”), daß gewiſſe Kreiſe durch Nufbaufchung des Unglüds
auch die Mildtätigfeit der Regierung und des Publikums anftacheln
wollen. Es ereignet fich aljo ganz dasſelbe wie im September de3
Vorjahr in Kalabrien. Ein Regierungstommiffar ift
zur Verteilung der Hilfsgelder eingefeßt. Gerade
wie in Kalabrien treten auch Diebesbanden auf, die die
halb zerftörten Städte der Umgegend unficher machen. In Otta—
136 Neapel: Die Gefahr zu Ende
jano mußte der Abgeordnete Bugnano mit dem Revolver in der
Hand gegen Leihhenfledderer vorgehen. Dazu regt ſich
der Iofalpatriotiiche Neid des einen Orts auf den andern. Eine
jede Ortichaft fucht in ihren Angaben den erlittenen Schaden auf
Koften der Nachbarpläße zu verichlimmern. Ein Blatt proteftiert
Dagegen, daß alle Bürgermeijter immer nur Soldaten verlangen,
um fie als Straßentehrer und Afchenfeger zu benüten, anftatt daß
lie zu jolden Zweden bürgerliche Arbeiter anwürben. Nicht gerade
günftig ift auch die Bildung allzu vieler Komitees,
die einander eiferjüchtig verfolgen. Unter diefen Umständen muß
eine ruhigere Zeit abgemartet werden, wo ein objeltiver Überblid
über den Gejamtichaden möglich wird. Jetzt fcheint 3. B. das
Obfervatorium des Veſuvbs, das doch als zerftört galt, Heil zu fein.
Der Direktor, der geflohen war und unauffindbar blieb, deshalb
auch viel beipöttelt wurde, wird jet plößlich, da er wieder auf dem
Posten ift, ala Pflichtheld gepriefen. — Nach den neueften Nachrichten
ift es fraglich, ob Ottajano, mo auch die Felder auf Jahre hinaus
verwüſtet find, wieder aufgebaut merden kann. Alle Blätter
ind einig im Lob des Königs, der Königin und des Herzogs
von Nofta, die unermüdlich feier. Der König zeigte fich äußerft
erjtaunt über die unhygienifchen Lokale, in denen man die Flücht-
linge unterbrachte und hieß zweihundert Leute in die Logis des
Gtallperjonal® des Königzfchloffes transportieren. Er hielt aud)
eine Standrede an den Pfarrer von Ottajano, weil diefer floh und
jeine Pfarrfinder im Stich ließ. Die Hiefigen Blätter wiederholen,
daß die Eruptiondgefahr vorbei fei.
— —— ———e — ⸗ — —⸗ꝰ —
Eine Frühjahrsreife in Sizilien.
Mai 1906.
Don Meffina nah Palermo.
„And nahe hör’ ich wie ein raufchend Wehr
Die Stabt, die völlermimmelnde ertofen;
Ich höre fern das ungeheure Meer
An feine Ufer dumpferbraufend tofen.”
(Braut von Meilina.)
n Meſſina weile ich, das die Staliener „la Eroica“ nennen, die
Heldenjtadt. Und wahrlich bewunderswert ijt’3, wie dieſe Hafen-
veite ſich Jahrtauſende hindurch gegen Erdbeben, Peft, Cholera
und feindliche Heeregmacht wehrte, mochte diefe nun von fremden
Furſten und Korfaren, oder von ſtammesverwandten Unterdrüdern
und Deipoten gejmdt fein. Bis zu den Zeiten de3 Homer fteigt
diefer Stadt Gefchichte Hinan; denn der Sage nad wurde fie von
Giganten gegründet, die von den Läftrygonen Homers abftammten!
Und nochmal ſpricht Schiller in jener „Braut von Meffina“
bon der Heldenftadt:
„Der fürſtliche Gemahl,
Der mächtig waltend dieſer Stadt gebot,
Mit ſtarkem Arme gegen eine Welt
Euch ſchützend, die Euch feindlich rings umlagert.
Er ſelber iſt dahin, doch lebt ſein Geiſt
In einem tapfern Heldenpaare fort,
Glorreicher Söhne, dieſes Landes Stolz!...“
138 Meflina: Prozeſſion
Seltſam! Nur Schiller und Goethe haben die „bella Messina“
gepriefen, jonft fein fremder Dichter, weder Platen und de Muffet,
noch Byron und Chelley, die doch fonjt Italiens landſchaftliche
Perlen verherrlichten, und non italiichen Dichtern nur Carducci:
„Sai tu l’isola bella, alle cui rive
Manda il Jonio i frangenti ultimi baci“ ...
und D’Anmunzio, der von dem an Reben reichen Meſſina fpricht,
deſſen Füße ich in der Enge baden, nahe der ſchlimmen Charybdis.
Und das Gumnafium taucht mir auf. Im Geifte lefe ich wieder
Ciceros Reden gegen Verres: „Tam ipsa Messana, quae situ et
moenibus portuque ornata est, ab his rebus, quibus iste
delectatur, sane vacua atque nuda est!“
Wie unvergleichli ift das Hafenbild, der Hügelfranz, wie
herrlich der Blid auf die im Abendglanz roſa und violett ſchim⸗
mernden Berge Kalabriens! — — — —
Am nächſten Morgen loden mic) Mufifllänge. Kirchenfeft !
Eine malerifhe Prozeſſion zieht Durch die Stadt, gebildet aus weißen
Kapuzenbrüdern, die drollig genug ausjahen. Den Hauptglanzpunft
aber bildete ein rieſiges Schiffauß3 Silber, das von zehn weißen
Zunilamännern getragen und von vier Lakaien in roter, blauer,
goldener Frackuniform und Bonapartehut estortiert wurde. Der
Tabakshändler, an deifen Laden ich ftand, belehrte mich, daß Gott
im Mittelalter einft bei einer Teuerung ein Schiff voll Getreide nad)
Meſſina geſchickt habe, und zu Ehren dieſes Wunders fei das Silber⸗
bild geftiftet worden. Da höre ich neben mir Berlinerijd
fprechen, zwei joviale Herren ſind's. Wir gelangen ins Geſpräch.
Sie wollen nnd Taormina. Ich jchließe mich an und komme
jo zu einer neuen Prozeſſion. Ganz Taormina bildete fie; das
Sakrament aber wurde von fünfzig bis fiebzig Männern geleitet,
die weiße, mit dem Senatorenpurpur beränderte Havelods und auf
dem Rüden den Pilgerhut trugen. Hinter dem Baldachin zog die
ſtädtiſche Mufifbande und fpielte Yuftige Opernmeifen, während die
Milazzo: Thunfifchfang 139
Mädchen von den Balkonen Blumen ftreuten. Das war ein Bild in
diefer Lichtflut! Auf der Piazza wird der Segen erteilt, die Mufil
fpielt dazu die italienische Königshymne und die Feuerwerker brennen
— am lichten Tage — tnallendes Feuerwerk ab.
Nach der Prozefjion ging ich zum Theater, das einft die Römer
erbaut. Wa3 foll ich jagen? Das höchſte Entzüden kennt nur
Schweigen. Und hätte jemand die ganze Welt bereift, vor dieſer
einzigen Landſchaftspracht müßte er jtaunend fagen: hic mane-
bimus optime. Und da follte ich Taormina ſchildern! Ich ver-
ſuche e3 gar nicht. Es würde mir ja auch nicht gelingen. Vater
Atna würde fonft fein fchneeiges Haupt fchütteln .
Nah Meſſina zurüd, in den Zug nach Palermo längs der
ſiziliſchen Nordküſte. Ferne blaue Zaden nähern jich dem Meere.
Bei Rometta fchauen wir auf ſchluchtenumrahmtem Hügel ein
großes Schloß. Bald kommt da3 durch feinen Wein und feine
Geichichte berühmte Milazzo, das ſchön an den Hügel gedudt liegt.
In feiner Hafenstadt aber erhebt jich die erite Ka brif, die wir bis
jett geſchaut; eine chemiſche ift’3, die von dem Schmwefelreichtum
Siziliens zeugt. Dies ift aljo die Stätte, wo 1860 Garibaldi
nad) der Einnahme Palermo3 die Neapolitaner jchlug und jo den
Übergang nad) Kalabrien ermöglichte.
Der Zug fährt plöglich vorfichtig; denn eine Brücke wird geflidt.
Sunge Mädchen fungieren al Handlanger. Wie ſchön die Ichlanfen
Geftalten am Hügelrain ſich von dem azurmen Himmel abheben, wie
wirkungsvoll ihr braune Geficht von dem gelben Kopftuch! Die
Landſchaft wird jegt interejfanter, tiefe Schluchten furchen die Berge,
Olwälder reihen fich an Olmälder. Plötzlich zeigt mein Fahrgenoſſe,
ein Genielapitän, lebhaft auf3 Meer. Dort jehe ic) eine Schar von
Fiicherbooten, die ein Filometerlanges Net im Halbfreije bewachen.
Eine „tonnara“ iſt's, d.h. ein Apparat zum Fang der riejigen Thun-
fiſche, die gleich den Heringen und Sardellen ftet3 die gleiche
Gtraße ziehen. &3 ift ein graufamer Fang; denn die ſchönen Tiere
140 Palermo: Die beite Reifezeit
werden, wenn fie in Maffe ind Neb gegangen, mit Beil und Lanze
abgejchlachtet, worauf fie in Blechbüchjen Tonjerviert werden.
Nach Tängerer Fahrt berühren wir Ce falu, in deifen Diözele
die neuefte Schmach Sizilieng, der Prieftergeheimbund der „Engel-
Sekte“, kürzlich von fich reden machte. Sie beweift ung, daß in
diefem gottgefegneten Lande die durch da3 Elend erzeugte Unwiſſen⸗
heit des Volfes ans Bodenlofe grenzt. Wie groß dag von der Lati-
fundienmwirtichaft gezeitigte Elend ijt, beweiſen und weiter die
vielen leerjtehenden, zerfallenden Bauernhäufer, die zerlumpten,
früh zu Greifen gewordenen Landleute nit ihrem verwüſteten
Antlitz und auch die Armfeligkeit der Stationen. Wir pafjieren nun
Weinberge, die ganz wie im Rheinland angelegt find, recht? tauchen
die Aeoliſchen oder Liparifchen Inſeln aus der blauen Flut empor,
hinter ihnen auch der fpite Kegel des Felſeneilands Stromboli,
von defjen vullanischer Tätigleit man nichts gewahrt.
Bor dem als Schwefelbad berühmten Termini Imereſe
werden die Berge Tahler und fchroffer, Die Sandflüſſe, die „fiumane“
die den Beſchauer den Mangel an Smitiative in Sizilien beflagen
lafjen, mehren fich; denn wie leicht Zönnte durch Talfperren im
Gebirge und Flußkorrektion der Schaden verhütet werden, den dieſe
Flüſſe zur Regenzeit anrichten.
Die weitere Fahrt, nah Palermo, war wundervoll. Und
wieder Tonnte ich feftitellen, daß, mie ich fchon hundertemal durch-
reiſenden Touriften gejagt, die Stalienfahrer gemeiniglich vielzu
früh nad) dem Süden fommen; denn auch hier entfaltet die Natur
ihre Schönste Pracht erft Ende April und zur Maienzeit. — Man fährt
durch einen Wald von Drangen- und Bitronenbäumen; dazmwilchen
jtrogt das fatte Grün der Yeigenbäume, da3 mit dem dunklen Glanz
des japanischen Mifpelbaums metteifert, deſſen goldbraune Früchte
im blendenden Sonnenlicht wie Goldperlen funfeln. Links glänzt
das tiefblaue Meer, rechts zu den grünen Höhen hin Hlettert da3
Silbergrau der unermeßlichen Olhaine, umrahmt von dem Opuntien-
Balermo: Das Goethehaus 141
kaktus, der golone Blüten und goldne Frucht (die Kartoffel Siziliens)
zugleich trägt. An dem Saum der Eijenbahn aber wachen Palmen,
Dleander und riefige Geraniumftauden mild, und das Not des
legteren flammt wie Rubinenbrofhen auf grünjamtnem Polſter.
Eine folch tolle, finnvermwirrende, glühende Farbenſymphonie fucht
man anderömo vergebend. Bald kommt auch der Funkentanz de3
flammenden Ginfter3, dazwiſchen die mit violettem NRitterfporn
geſprenkelten Wiejen, abwechſelnd mit Rohr und Weidengefchling,
deſſen Blumenkelche in nie gejehenem Glanze leuchten. Selten ſieht
man eine einſame Zypreſſe oder eine Pappel. |
Auf dem Bahnhof von Balermo überraichte mich die
Reinlichkeit in Gebäuden, Beamtenuniformen und Wagenmaterial.
Balermo, 4. Mai 1906.
Panormus! Balermo! Wie ſchön bift pn! Daß ganz Si⸗
zilien ſchön fei, glaubt jeder zu wilfen, der mit Coof oder Stangen im
Luxuszug hierhergelommen und mit Extrazug zu den Ruinenſtätten
und zu den Monumentalbauten im Zweiſpänner herumgejchleppt
morden ift. Und doch find diefe armen Reichen zu beflagen. Vom
Lande jelbft und feiner übermältigenden Pracht, vom Volle und
feinem malerischen Leben fehen und merfen fie nichts. Zwar kann
nicht jeder à la Seume zu Fuß fpazieren, aber viele könnten fich
doch Zeit zum Flanieren nehmen, fei es per pedes, im Wagen oder
Bummelzug, und — das Reiſebuch mit feiner indigesta moles
von Hiftorifchem Überkram in der Tafhe — die Augen rundum gehen
lafjen.
Mein erster Gang nad) der Ankunft in Palermo war von der
Marina aus durch die beiden Hauptadern der Stadt. Es war früh
am Morgen. Biegen mit Maulförben belebten die Nebenjtraßen,
der Melkung Harrend. Wenige Schritte weiter auf dem Corſo
Vittorio Emanuele, und ich ftand vor dem Goethe-Haug
142 Palermo: Farbenfinn des Volkes
Früher war es Gafthof, jet dient e3 nur im Untergeſchoß der Frem⸗
deninduftrie. Nebeneinander wohnen ein Spediteur, ein Mofail-
händler, ein Photographienverkläufer, ein Antiquar. Die oberen
Stockwerke imponierten mir durch die weißen Balfone, aber auch
dadurch, daß der erite und zweite Stod grüne Läden an den hier
üblihen QTürfenftern, der dritte braune, der vierte graue Hatte.
Das ift jo recht bezeichnend für Sizilien, mo die Bewohner der ver-
jchiedenen Etagen fich von den anderen gern differenzieren wollen.
Ganz bejonder3 aber gefielen mir die klaſſiſchen Thyrjusftäbe an
den Balkonen. An einem beftanden fie aus Kupfer, und der Pinien-
apfel war aus blauem Glaſe. Auch das ift fizilianifch. Auf die Tlaf-
jiiche Form mag man zwar nicht verzichten, aber, two die Klaſſik zu
einfach ift, hilft man ihr durch Farbe nach.
Sa die Farbe! Belonders in den Kravatten der Männer, die
alle im Sonntagsſtaat zu jteden ſcheinen. Welcher Gegenſatz zu
Rom! Auch dort pußen fich die Dandies; aber jo vornehm jehen fie
doch nicht aus, wie die hieſigen „beſſeren Leute”, und warım? Bei
ihnen ift jeder Rod „individuell”. Wer Rom und Neapel kennt, ift
auch überrafcht von dem reinlichen Ausfehen der Läden, ihrer Be-
jißer und der Kommis. Neinlichkeit ft — in den modernen Stadt⸗
teilen — überhaupt Palermo Signatur. Darin ift ed noch „une
italienischer” als ſelbſt Turin.
Doch bummeln wir weiter! Sieht man ſich das Gtrußen-
publifum an, fo enidedt man, daß die Männer im Gefichtö-
ausdrud viel franker und freier find al die römischen. Auch blickt
ihr Auge ruhiger als da3 der Neapolitaner. Die Balermitaner find
überhaupt ftolzer, gemeſſener und ruhiger ala die Einwohner Neapel3.
Das ſchließt nicht aus, daß man ab und zu einen Blumen- oder Filch-
händler trifft, der feine Waren in melodiihem Geſang empfiehlt.
Aber der Lärm der Camelot3 fehlt auf den Straßen. Palermo macht
eben den Eindrud einer Stadt, die in vornehmer Ruhe repräfen-
tieren, will. Es fieht nicht geme, daß man ihm in feine Altſtadt
Palermo: Die bemalten Karren 143
hineinſchaut und prunkt lieber mit feinem Teatro Massimo, da3
tatſächlich das größte der Welt ift, mit feinen feenhaften Palmen⸗
gärten, feinen Corji, feinen Promenaden. Das ſoll und aber nicht
abhalten, in die engen Gaſſen der Altitadt einzutauchen. Eins fällt
uns vor allem auf. &3 gibt feine Bettler und Lazzaroni.
Alles arbeitet. Der Fleiß der Frauen auf den Balkonen, oder im
Erdgeſchoßraum, der Wohn-, Schlafzimmer und Küche zugleich ift,
ift geradezu erftaunlich. Malerifch ift das Gajjenbild, Wäfche hängt
neben zum Trocknen an Bambusſtäben angehefteten Makkaroni.
Beſonders reizvolle Blicke bieten der alte Hafen, die Cala, und die
Nachbargäßchen, mo die Magazine der Südfrüchte Tiegen. Die
badenbärtigen Bauern mit ihrer roten Tajchentuchmüte, die alten
Spinnfrauen, die in gelb-braunem Englifchlederanzug auftretenden
Kärrner, das find Typen für einen Maler. Auch die Karren,
die durch den Handel mit Photographien und Anfichtslarten welt⸗
befannt geworden, verdienen einen Augenblid der Betrachtung,
nicht nur ihrer originellen Bauart, auch nicht ihrer bunten Ejel-
befpannung, fondern der Bilder wegen auf ihren Seitenwänden.
Sehen wir hin: Auf dem Bilde links ſteht der Name des Künftlers
mit Geburt3- und Wohnort. Rechts der Name des Karrenarchitelten.
Dann beitaunen wir aber die unteren Auffchriften: „Hannibal Stellt
jeine Braut vor”, „Im Lager Hannibal wird der Kopf feines
Bruders gefunden”, „Duell Caſſios“, „Othello mit Desdemona
bor dem Dogen”, „Ei des Columbus”, „Roger I. zieht in Palermo
ein”. Wie vertraut muß das Volk mit diefen Gefchichten fein, wenn
e3 jie immer und immer wieder auf feinen Vehikeln reproduziert
zu ſehen wünſcht!
Überhaupt die Geſchichte! Ohne Geſchichtskenntnis
kommt man in Sizilien nicht aus. Doch hüten wir uns, Palermos
Geſchichte a priori aus dem Reiſebuch auswendig zu lernen. Treiben
wir jie lieber peripatetijch, indem wir und an jedem biftorischen
Punkte ber Stadt defjen Vergangenheit erinnern. Bei diefer Methode
144 Palermo: Arabiiche Toleranz
belebt fich die Phantafie, und den Flaneur begleiten auf feinen Zid-
zadgängen die lebendig gewordenen Geftalten der Völlkerführer, die
jich feit drei Jahrtauſenden hier ablöften. Beginnen wir mit dem
Hafen, in dem Elymer, Phönizier, Griechen, Römer, Karthager
landeten. Nach dem Hafen gehen wir n3 Mufeum, um die
Griechen fennen zu lernen. Nun geht’3 zu San Giovanni degli
Eremiti, der in eine Kirche vermandelten Mofchee, und zu den
Kormannenbauten, der Kirche La Martorana und den Schlöffern
Cuba und Ciſa, jowie nad) Monreale. Schönere Zeiten jah Palermo
nie als unter den Arabern. Man leje nur im alten Amari.
Was wir heute vergeblich erjtreben, die Toleranz, damals blühte fie.
Die Araber wandten auf die Befiegten diejelbe Politif an wie einft
die Römer. Go jchreibt Amari nad) einer Chronif au dem
10. Sahrhundert: „Wenn man den Khalifen die Einkünfte brachte,
jo nahmen diefe auch nicht eine Gold- oder Silbermünze an, wenn
nicht zehn Notabeln aller Konfeſſionen bei dem Gotte, Der einzig in
der Welt ift, geſchworen Hatten, daß da3 Geld gemäß dem Rechte
erhoben worden, und fein Soldat um feinen Sold und keine Familie
in ihrem Beſitz gekränkt worden wäre.” Damals mwetteiferte Palermo
mit Cordova im Glanze. Bei 300.000. Einwohnern hatte es 300
Moſcheen im Innern und 200 in den Borftädten. Sie dienten dem
Kultus, der Schule, der Wilfenjchaft und waren zugleich Verſamm⸗
Iung3häufer. Die Normannen behielten die arabifche Tradition bei.
Nur drei Sprachen erkannten fie als offiziell an, die griechiiche,
lateinische, arabifche; die eigene ofiroyierten fie aus Schonung nicht.
Sn die Verwaltung teilten fich die an Stelle der vicecomites
tretenden bajuli und die cadi. Die Apellinftanz ftellien die Richter
des Königs, denen ein zu gleichen Teilen aus Chrijten und Muſel⸗
manen gebildete Schiedägericht zur Seite ftand. Nebeneinander
beitanden die Quartiere der Sarazenen, Araber, Franken, Griechen,
Zombarden und Juden. Der Ton der chrijtlihen Kirchenglocken
mifchte fich mit dem Auf des Muezin auf den Minaretd. Kreuz
Palermo: Sizilianifche Vesper 145
und Halbmond in ſchönſtem Frieden. Nie fah die Welt folch eine
Toleranz.
Bon den Normannendentmälern pilgern wir zum Dom, um
uns beim Anblid: feiner berühmten Gräber in die Poeſie der
Hohenftaufenzeit zu verfeßen. Gchade, daß man die
Statuen der Fürften diefer Zeit nicht von der Faſſade des Neapler
Königsſchloſſes fortnehmen und neben diefen Gräbern aufitellen
fann! Der Anjhaungsunterricht wäre volllommen. Die Anjous
fommen jet. Wer Stimmung fucht, gehe durch die Vin ©. Anna
nach der Piazza Veſpri. Hier ragt ein alter Palazzo mit mittel-
alterlihem Turmjtumpf, an deſſen äußerfter Kante eine zierliche
Säule eingebaut ift. Daneben meldet eine Inſchrift: „Nach jahr-
hundertelanger Tradition mar hier die Wohnung von Giovanni
de Saint Remy, Richter von Val di Mazzara im Namen Karls
von Anjou, und hier fiel der rächende Zorn de3 Volfes über den
jtrengen Unterdrüder am 31. März 1282.” Wie widerjpruch3boll ift
doch der Sizilianifche Charakter; denn der Wildheit der ſizilianiſchen
Besper folgte Jahrhunderte lang fein Ausbruch des Zorns mehr!
Sehen wir uns den Plab an: In meinem Reijebud) ift er nicht ver-
zeichnet; denn er liegt abfeit3 vom großen Verkehr. Und doch, wie
einzig ijt er! Dem Inſchrifthaus gegenüber liegen große grandezza-
reiche ſpaniſche Paläſte. Der des Principe Gangi ift Schon durch
feinen Hof eine Sehenswürdigkeit, auch der des Principe Campo-
Franco — in Palermo mwimmelt e3, wie befannt, von PBrincipi,
Marchefi, Duchi und Conti — it vornehm impofant. Bornehme
Ruhe liegt auch Über dem ganzen Plabe.
Weiter! Die Spanier! Um fie verjtehen zu lernen, gehe
man an die Piazza Quattro Fanti, wo ſich Palermos Hauptitraßen
kreuzen, und jchaue die vier Fafladen an, die 1609 Bigliena,
der Statthalter, errichtete. Auch ſehe man auf Piazza Bologni den
im Nachthemd frierenden Karl V. und zum Schluffe den Palazzo
Chiaramonte, das jehige Tribunale. Wie würde die arabilch-nor-
Zacher: Im Lande des Erbbebens. 10
146 Palermo: Die Epopoe Garibaldis
männijche Toleranz gefchaudert haben, hätte fie dort die Greuel der
Inquiſition wahrnehmen und die Kerfer für die Ketzer Schauen können,
die jet noch in ihrem Namen „Filippine” das Gedächtnis de3 grau-
ſamſten Inquiſitionskönigs Philipps III. fefthalten! Furchtbar ift,
was die Spanier und die in ihren Bahnen wandelnden Bourbonen
an Sizilien fimdigten. Unter ihnen war die Inſel ein übertünchtes
Grab. Kein Wunder, daß die Kunftfreunde e den Spaniern und
Bourbonen zujchreiben, wern Sizilien, wie ganz Süditalien, in der
Kunst Fein einheitliches Leben, feinen eigenen Stil hat!
Schließlich fuhen wir ©. Domenico, die Ruhmeshalle der
Inſel, auf. Dort liegt der Mann, dem nächſt Garibaldi Sizilien
feine Freiheit verdankt, Francesco Crifpi. Ich weiß, in Deutich-
land verfennt man ihn. Gewiſſe Leute zuden auch die Achjeln über
Garibaldi. Aber wer kennt denn bei und die Gejchichte dieſes
autofuggeftionierten Hypnotiſeurs der Maſſen, dieſes Mahdi, dieſes
alten anachroniſtiſchen Longobardenſprößlings, der für die deutſche
Romantik viel zu ſpät zur Welt gekommen? Was mich betrifft, ſo
kann ich in Sizilien und im Weſten von Süditalien keinen Schritt
tun, ohne an ſein Epos vom Jahre 1860 zu denken, das den Titel
hat: „Die Expedition der Tauſend“'. Am 20. Mai erſchien der
„Flibuſtier“, wie ihn die bourbonischen Generäle nannten, in Mon-
reale, jüdmeftlich oberhalb Palermo3 mit feiner Streitmacht, Die
mittlerweile auf 5000 Mann angewachfen war. Liftigerweile befahl
er, einzelne Streifforpg im Süden und Often der Stadt herum-
ſchwärmen und nachts Feuer anzlinden zu lafjen, um die feindlichen
Generäle über feinen Anmarjch zu täufchen. Einer derjelben, Co-
Ionna, ließ fich Dadurch auch irreflihren, jo daß er nach Neapel meldete,
Garibaldi fei vor ihm geflohen. Am 27. Mai erjchien diejer aber
im Südoſten, überrajchte die Bejabung des Monte dell’ Ammirag-
liato und nahm nad) zwei Stunden die Borta Termini (jet Porta
Garibaldi), den ftrategifchen Schlüffel der Stadt. Beim Erwachen
fanden die jauchzenden Palermitaner die Garibaldianer innerhalb
Palermo: Monreale 147
der Mauern. Sie ſtiegen auf die Kirchtürme, um Sturm zu läuten,
aber die bourbonifchen Truppen hatten die Klöppel entfernt, und
jo mußten fie auf den Gloden hämmern. General Lanza, der
neapolitanijche Obergeneral, hätte mit feiner Übermacht die Ein-
dringlinge, denen die waffenlofen Einwohner nicht zu helfen ver-
mochten, in den Straßen vernichten können, aber er zog e3 vor, die
Stadt von der Flotte und von der Burg aus bumbardieren zu lafjen.
1300 Bomben fielen. Der Verwüuſtung halfen die Bourboniichen
duch :Brandlegung nach. Aber Garibaldi kämpfte weiter, bi3 ganz
Palermo außer dem Königspalaft in feinen Händen war. Am
30. Mai bat General Lanza um Waffenftillftand, zur größten Freude
Garibaldis, der alle Munition verjchoffen Hatte. Was Lanza zur
Nachgiebigfeit verleitete, ift noch unbelannt. Offenbar hatte man in
Neapel, mo Palmerfton gegen die Beſchießung von Palermo pro-
teftierte, ven Kopf verloren und wollte die Inſel preisgeben, um
das Feſtland zu retten. Die Verhandlungen dauerten bi zum
7. Juni, wo die Bourboniichen 15 000 Mann ſtark abzogen. Die
wenigen Monate, die Garibaldi in Sizilien als Diktator herrſchte —
als Zivillifte nahm er acht Lire täglid — waren nad) dem Urteil
der damal in Palermo refidierenden Fremden ſegensreich. Si⸗
zilien machte in der kurzen Zeit mehr Fortjchritte als in den fol-
genden Jahren. Großen Anteil am Erfolge hatte dag PAIR
talent Criſpis.
Doch kehren wir zur Gegenwart zurüc. Den Glanzpunkt von
Palermos Beſuch bildet für die meiſten Reiſenden der Dom von
Monreale. Mit Recht. Doch warum beſchränken dieſe meiſten
Reiſenden die Beſichtigung des Ortes nur auf den Dom? Monreale
iſt eine Stadt von 23 000 Einwohnern, und bequemer als Hier kann
man das intenjiv-jüdliche Leben einer. fizilianichen Dorfitadt nicht
ſtudieren. Alſo nur hinauf die Hauptitraße bis vor der Stadt zum
Kreuze, um die Ausſicht auf dag bunte Dächermeer vom Monreale,
das einzige Tul der „goldenen Mufchel”, auf Palermo und das Meer
10*
148 Palermo: Winterkurort
zu genießen. Dann zurüd und links und rechts in die Geitengäßchen,
die trockenen Gießbächen im Telfengebirge gleichen. Das find ma⸗
ferifche Bilder. Aber troß aller äußeren Verwahrloſung der Woh⸗
nungen find deren Inſaſſen nicht arm; denn — und das ift bezeich-
nend — Fein Kind läuft barfuß, jondern alle prunken mit ftädtifchen
Schuhen. Hat man da3 Straßenleben, das Volk in den Häuſern,
dieje ſelbſt in ihrem wirren Durcheinander gejehen, darm erft betrete
man den Dom, und man wird ſtaunend erleben, was Kontraſtwirkung
bermag. Ich menigftend habe jeme Mofaitpracht nie ſchöner ge-
funden, als jegt, wo ich ihn als legte Sehenswundigleit von Mon⸗
reale beſuchte.
Ehe ich's vergeſſe: Die Sizilianer find doch dankbare Leute.
In Momeale gibts eine — Guglielmo II.“ Freilich iſt
- fie ziemlich Hein.
Ein von Vincenzo Florio präſidiertes Komitee ſucht Pa⸗
lermo zu einem Winterplatz à la Nizza zu machen. Ob es
gelingen wird? ch halte es für ſchwer. Zuerſt muß der Paler⸗
mitaner zur modernen Yremdeninduftrie erzogen werden. Damit
hapert es. Es fehlen gute vornehme Reftaurationen. Alle Berjuche
fie zu: fchaffen, jcheiterten daran, daß die Palermitaner fie nicht
während der fremdenlofen Zeit in Nahrung feßten. 3 fehlt an einem
langen Quai, da die Verbindung der Marina mit der Stadt zu fehr
durch die Paläfte der Großen gehemmt wird. &3 fehlt an den leichten
Bergnügungsftätten. Auch duldet der ernite Palermitamer da3
ambulante „Fröhlich-Weibliche” in der Öffentlichkeit nicht, das doch
für viele Reifende Nizza und Monte Carlo fo anziehend madit.
Nichtsdeſtoweniger führt fich das Komitee wacker. Bis jebt jedoch
befteht der Fremdenzufluß (im der Saiſon tauſend Perſonen täglich)
faft nur aus Deutſchen.
In der Heimat wird man es ſeltſam finden, daß die Zahl der
mutigen Landsleute ſchon ſo groß iſt. Nun, nicht alle ſind mutig,
drum veifen fie eben in Karawanen und lugen mit innerlichem
Balermo: Der Florio-Schild 149
&rujeln rechts und ImB nad) den Staktusheden an Eifenbahn und
Landſtraße. Auf der Fahrt ja neben mir jold ein Heimntgenoffe..
Sein Auge funfelte jedesmal, fei e3 vor Aufregung oder por Aben⸗
teuerluft, wenn .er wieder einen Reiter, einen Bauer mit Gewehr
ſah. Und aß er gar auf einer Zwifchenftation einen ſizilianiſchen
Zandlord in elegantem Reitanzug aus ſchwarzem Samt erblidte, da
war ich ficher, daß er zu Haufe erzählen würde, er hätte einen Teib-
haftigen Räuberhauptmann gejehen. Hoffentlich ſchwor der Dann
nicht auch auf Statiftil und hatte nicht etwa gehört, daß 1879—1883
noch in der Provinz Girgenti 70,79 Morde auf 100 000 Einwohner
borfamen. Zu feinem Glüde will ic) auch annehmen, daß er im
Neifebuche die Vorbemerkungen zu Sizilien gelejen hatte, in denen
e3 heißt, daß fo angenehme Dinge wie Raubanfälle und Morde
als Yamiliengeichäfte von den Gizilianern unter fi abgemacht
würden.. Auch vor der Mafia zeigte ſich mein Gefährte bejorgt
und fragte mich, ob Denn wirklich in Palermo noch dann und wann
Menichen auf geheimnisvolle Weife verſchwänden.
In den mabonifchen Bergen.
TZermini Imereſe, 6. Mai 1906.
(Da3 Automobiltennen um den Florio-Schild.)
So etwas ift nur in Gizilien möglich: durch die Smitiative
eines einzelnen Mannes wird ein Gebiet, das 2300 Jahre geichlafen
hat, zu neuem Leben gewedt und der Gejchichte wiedergegeben.
Wenigen nur, die von der Station Bonfornello aus dem von
Bincenzo Florio, den man vor 2300 Jahren den „Tyrannos“
von Palermo genannt haben würde, geichaffenen Automobil-Run
um den Florio⸗Schild (50 000 Franks) beimohnen, wird e3 bewußt
jein, auf welch berühmter Stätte fie ftehen, Wenige Schritte nämlich
150 Himera: Karthager und Griechen
bon den Zufchauertribiinen liegt der Plab, auf dem 648 v. Chr. von
Einwohnern des dorischen Syrakus und des jonifchen Zankle (Meſſina)
die Kolonie Himera gegründet und jo dem Borpoften des kartha⸗
giſchen Beſitzes Soloeis (dem heutigen Solunt, öfllic von Palermo)
bedenklich nahe gerückt wurde. Über 150 Jahre lang, wenn auch
unmillig, ertrugen die Karthager die nahe Nachbarfchaft. Erſt als
im Jahre 481 Selinus mit den andern Griechenftädten zerfiel und
die Karthager zu Hilfe rief, erfchienen diefe wieder vor Himera, aber
zu ihrem Unglüd; denn Himera wurde von Gelon, dem Tyrannen
von Syrakus, und von deffen Schwiegervater, Theron, dem
weiſen Tyrannen von Agrigent, unterftügt und fiegte. Den Kartha⸗
gern blieb nicht3 anderes übrig als 2000 Talente zu zahlen und fich
fo den Befig von Banormos (Palermo), Soloeis und
Motye (= Lilibaeum, dem heutigen Marfala) zu retten. Diefer
Gieg von Himera wurde bedeutungspoll, denn von ihm datiert die
Blütezeit des griechifchen Sizilien, die mit dem Namen Hiero3T.,
dem Sohne Gelons, einfegt, der Syrakus und Agrigent (Girgenti)
zugleich beherrichte. Himera erfreute fich aber nur 70 Jahre Yang
de3 Friedend. Denn im Jahre 410 entfeffelte wiederum griechische
Eiferfucht den Krieg, der bi3 340 dauerte. Segeſta wollte Selinus
unterwerfen und rief die Hilfe der Karthager an. Dieſe erfchienen,
begnügten ſich aber nicht mit der Riederwerfung und Eroberung von
GSelinu3, jondern nahmen und zerftörten Himera 409, ſowie im Süden
Agrigent und Gela, die Stadt des Aeſchylos, der dort 456 geftorben
var. Syrakus mußte einen chmählichen Frieden jchließen und die
Herrschaft der Kathager über die weftliche Hälfte Siziliens anerkennen.
Bon dem alten Himera aus beginnt alſo da Automobil.
rennen, fo daß die kulturell und wirtſchaftlich total vernach⸗
Yäffigten und vergeffenen Madonier mit einem Schlage mit der
neueften Errungenfchaft des internationalen Verkehrs befannt
werden. Gie hoffen, daß die Befucher den Eindrud erhalten, daß
da3 Innere Siziliend nicht eine’ Art abeffynifcher „Amba“ fei, die
Palermo: Frauenjchönheit 151
nur einen grünen Saum an der Küfte habe, fondern fich überzeugen,
daß die fiziliichen Alpen klimatiſche Schönheiten aufmeifen, melche
denen der Schweiz nicht3 nachgeben — natürlich einftweilen ohne
modernen Komfort. Der „Circuito delle Madonie“ umfaßt eine
Gtrede von 149 Kilometern, die dreimal durchfahren werden muß.
Die erjte Etappe geht nah Cerda. Die Propinzialitraße ift
eingeengt von Zahlen, verbrannten Bergen, auf denen taujend-
jähriger Fluch: zu laſten fcheint. Sie duden fich vor den größeren
Bergen, die hinter ihnen liegen und in Hunderten von Farbentönen
gleißen. Gerda, erſt 200 Jahre alt, ift der Typ des heutigen fizilifchen
Binnendorfs, es ift arm, von der Auswanderung entvölfert und
bon ewiger landwirtichaftlicher Krifis geplagt. Es liegt 274 Meter
hoch. .:
Die Fahrt von Palermo zum Tribimenplaß bei Gerda war ein
Wonneraufch! Die Mitreifenden, palermitanifhe Sportsmen und
Ariftofraten dazu, jchimpften über den „disservizio“ der Eijen-
bahn, doch ich wurde nicht müde hinauszufchauen und innerlich
aufzujauchzen; denn welche Vegetation! Und dann diejes Vicht,
diefe Farben, in den Riefengeranien, welche das Geleife umfäumen,
und in den bizarr gezadten Bergen ringsum!
Was Palermos Frauen anbetrifft, jo befommt fie der
fremde Tourift meift nicht zu fehen, aber im Tribiinenlager habe
ich doch fo recht erkannt, was Palermos Frauenſchönheit bedeutet.
An Werktagen fieht der Fremde die Damen der fizilianischen Haupt-
ftadt nur auf fteifer Korjofahrt. Aber bei dem Autofeft und feiner
dur den Eiſenbahnwirrwarr erzeugten Konfufion und feinem
Mifchmafch aller Stände konnte man die natürlihe Anmut in
Haltung, Kleidung, Gang der Damen und Bürgersfrauen be-
wundern. Biel fchlanfere Geftalten fieht man als in Rom, darunter
Haffiich griechifche. Am meiſten frappierte mich die Iingeziwungen-
heit und Munterfeit der Damen; denn ich hatte doch fo viel von der
orientalifchen Knechtſchaft der fizilianifchen Frauen gehört. „Pah,
152 Palermo: Hafenverfehr
das find Legenden! Wir find doch im Zeitalter des Sports, des
Lawn Tennis, des Automobils,” fagte mir ein Tribiinennachbar,
„die Uriftofratie reift mehr und lacht jetzt ſelbſt über ihre frühere
Ipanifche Grandezza, und die reich gewordenen Bürger find nicht
mehr unterwürfig — in Palermo wenigſtens.“
TZermini Jmerefe, 7. Mai 1906.
Auswanderung ift das erfte, was jebt dem Beobachter in
Palermo auffällt; denn die Auswandererbureaur haben fich
vermehrt; über fie ſprechen aud) die von mir aufgefuchten Kaufleute,
italienische und deutfche, am meiften. Sie nimmt ftändig zu, fo
daß ein großer Teil des Auswandererverkehrs, der früher von Neapel
bejorgt wurde, jebt direkt von Palermo ausgeht, mas ſich auch in
der Bewegung der deutfchen Schiffe bemerkbar macht; dieje hat jich
im Laufe der legten zehn Jahre verdreifacht, da jetzt 120 deutjche
Dampfichiffe von Palermo abgehen. Im Jahre 1902 verließen
11 843 Auswanderer den Hafen von Palermo, 1903 ſchon 16 531, und
diefe Zahl ftieg ſeitdem ſtetig. Im ganzen belief fich 1904 der
gejamte Schiffsverkehr Palermos (die Segelichiffe nicht gerechnet)
auf 1988 ankommende und 1996 abgehende Schiffe.
Man erjieht aljo, daß Palermo ein ganz bedeutender Verkehrs⸗
platz iſt. Daher berührt es eigentümlich, Daß alle Kenner der hieſigen
Berhältniffe von der jchlechten Lage des Kleinhandels ſprechen und
darauf Hinweilen, daß allein im Jahr 1904 mit den vom Vorjahr
noch als fchrwebend übernommenen 82 Konfurje vorfamen. Einen
Grund zur Erflärung kann man wohl in den Worten eines Gewährs⸗
manns finden, der jagte: „Das Land ift reich, aber das Geld rollt
nicht, da gerade wie in Apulien, die Beſitzenden ihr Geld zurüd-
halten wegen der Furcht, es möchte bei dem geringiten Riſiko ver-
loren gehen.” ALS ich darauf anfragte, ob noch das alte Mißtrauen
wegen ber Mafia mitipiele, wurde mir geantivortet, daß man
Termini: Segen der Auswanderung 153
von diejer, was die Stadt betreffe, kaum mehr ſpreche, da die Schreier
Hill geworden und auch die als Mahner aufgetretenen Sozialiſten
nicht mehr jo rührig jeien. Freilich auf dem Lande wiſſe man nicht,
wie ed ausjähe; dort bejtünde jedenfall das alte Unweſen un-
geſchwächt fort. Übrigens Herricht augenblidlich eine Krifis in der
Direltion der Barca di Sicilia, der gewiſſe Parteien vorwerfen,
daß fie zu ftreng fei. Wie ward doch 1892? Wurde damals nicht
Rotarbartolo, der Direktor der Banca di Sicilia, ermordet, weil
er im Kreditgeben zu rigoros war? Doch wer fpricht bon
Kotarbartolo und feinem Gegner Palizzolo ?
Sn Termini Jmerefe, dad auf den erften Blid, wie
der ganze ſiziliſche Meeresſaum, die Tatjache ins Auge fallen läßt,
daß das Meer die Küſtenbewohner fleißiger macht al3 die Inländer,
fällt auch die zweite auf, nämlich, daß an der Küſte das ländliche
Eigentum viel zerteilter ift al3 im Innern. Dem ift es wohl aud)
zuzufchreiben, daß die Inſel, die man ſtets als den Hort der Lati-
fundien bezeichnet, ganz gut den Vergleich mit anderen italieni-
ichen Gebieten aushalten kann. Auf den Dundratfilometer fallen
in Sizilien 93 Eigentümer, in der Emilia 9, in der Bafilicata und
in Kalabrien 8, in der Romagna 5, in den Marken und in Umbrien 6.
Termini ift auch ſonſt fehr lehrreich. Es liegt an der Spike eines
Landſtreifens, der über Corleone nach Sciacca am libyſchen Meer
zieht, und in diefem Streifen verringert jich die Bevöllerung, während
der Wohlſtand wächſt. Früher war in diefem Gebiet die Au 3-
mwanderung ganz unbelannt, aber die erſten Amerikafahrer
famen zurüd und veranlaßten andere zur Fahrt nach dem gelobten
Lande jenſeits des großen Waſſers. Dort aber vergeſſen fie die alte
Heimat und die zurüdgebliebenen Verwandten nicht, im Gegenteil.
Zaufend Auswanderer verlaſſen Termini Imereſe jedes Jahr, und
jede Woche kommen allein aus Amerika hunderttaufend Lire per
Poft an. Eine Marmorfapelle, welche die „Amerikaner“ haben
errichten laſſen, zeugt von diefem Segen; vierzig Maflaronifabrifen
154 Sizilien: Auswanderung und Löhne
arbeiten allein für die Brüder in Amerika, die Barken der Fiſcher
find reinliher und freundlicher als in anderen Häfen, und fogar
eine Fabrik Künftlichen Düngers wird angelegt, während noch vor
einigen Jahren die Bauern in dem nahen Campofelice fich den
Eigentümern widerſetzten, als dieſe einen rationelleren, moderneren
Betrieb einführen mollten, gerade wie jet noch im Innern Die
- Bauern ich mweigern, in auf den Feldern verjtreuten Dörfern zu
wohnen, und troß de3 weiten Weges zur Arbeit’ es vorziehen, in
den Städten zu 20 bis 30 000 zufammenzuhoden,-obfchon die Sicher-
heit im Innern nichts mehr zu wunſchen übrig Täßt: Und aud) das
ift zum Teil eine fegenvolle Wirkung der Auswanderung. Sowie
die fizilianifchen Auswanderer, kaum daß fie aus ihrem Milieu heraus
find, die ruhigften Leute werden, fo kann man auch ſagen, daß gerade
die begabteften und untuhigften Menfchen, die früher aus Un-
zufriedenheit mit ihrem Milieu Briganten geworden wären, e3 find,
welche am begierigften die Ausmwanderungsgelegenheit ergreifen.
Dann wird auch Durch den wachſenden Wohlftand in den größten
Auswanderungsgebieten der Anreiz zum Brigantentum genommen.
Der Segen der Auswanderung zeigt ſich ferner darin, daß die
Gemeinden dieſes Gebiets keine Schulden haben und daß ihnen
auch nicht die religiöſen Feſte zur Laſt fallen, die ſonſt ſchon fo viele
Gemeindefinanzen ruiniert haben; denn az für die Feſie kommen
die „Amerikaner“ auf.
Ein weiterer Nuben der Auswanderung ift dag Steigen des
Lohnes; denn da die Hände zu fehlen beginnen, muß ſich der Padrone
den Reſt ſichern. Außer gutem Lohn gibt's auch beſſere Verpflegung
für die Landarbeiter. Der Arbeitermangel zeitigte auch die Neue-
rung, daß die Frauen, was früher nie geſchah, an der landwirt⸗
Ichaftlihen Arbeit teilnehmen und jo den Verdienſt der Yamilie
erhöhen helfen. Überhaupt fcheinen die Frauen in Sizilien in vielem
beſſer zu fein als die Männer; dern nad) einer von Senator Angelo
Moſſo, dem Turiner Phyſiologen, mitgeteilten: Statiſtik betrug
Gizilien: Die „Herren“⸗Krankheit 155
der Prozentſatz der Alphabeten in der Provinz Palermo 1882:
32,37 Prozent unter den Männern, 19,33 Prozent bei den Frauen,
während 1901 die alphabetiichen Frauen auf 32,68 Prozent geftiegen
waren und die männlichen Alphabeten nur auf 42 Prozent. Geit
der Zeit haben id) die Männer anjcheinend wieder eines Beſſeren
beſonnen; denn in den Vereinigten Staaten befteht ein Einwande⸗
rungöverbot für Analphabeten, folglich fuchen die Unwiſſenden fich
belehren zu laſſen, um drüben nicht zurüdgemwiefen zu merden.
Leider werden viele Bauern, die aus dem Innern fommen, nod)
aus einem anderen Grunde fchon im Inlande zurüdgemiejen, weil
fie nämlich) mit der Augenkrankheit tracoma behaftet find, die durch
Waffermangel und die dadurch vernachläſſigte Gejichtöpflege ent-
fteht. Die Armſten follen überhaupt fehr ſchlimm dran fein, da fie
wegen der Anftedlungsgefahr in den Hofpitälern nicht aufgenommen
werden, fie alfo ruhig fortfahren können, ihre Verwandten zu infi-
zieren. Seit einigen Jahren hat die Regierung nicht nur der fizilia-
nifchen, fondern auch der gefamten itafienifchen Auswanderung ihr
Augenmerk zugewandt; fie hat ein Auswanderungsgeſetz gefchaffen,
Auswanderungskommiſſare und Auswanderungskomitees eingejeßt
und das Untvefen der Auswanderungsagenten befchnitten, indem
fie beftimmte, daß in jedem Bezirk (Departement-Unterpräfektur)
nur ein Agent pro Reederei erijtieren dürfe.
Zum Schluß noch ein anderer moralijcher Erfolg der Aus-
mwanderung. Die rüdfehrenden Auswanderer wirken nämlich auch
als Heilmittel gegen die ſchlimmſte Krankheit des Südens, gegen die
„signoritis“. Gie verlieren den Reſpekt vor den Gignori, der den
im Land zurüdgebliebenen Brüdern noch derart im Blut fikt, daß
fie es gerade wie die Signori ſelbſt für felbftverftändlich halten,
daß e3 eine Schande für einen Signore wäre, zu arbeiten, und daß
auch die Heinfte Arbeit diefem den unauslöjchlichen Charakter der
Signoria nehmen würde. Ihr Beifpiel wirkt anftedend, und fo
verliert ſich aud) in Sizilien der aus der alten Feudalzeit ftammenbe
156 Sizilien: Landichaftspracht
unmürdige Zuftand der Unterwürfigfeit unter die Reichen, die dieſe
zu jeder Augfchreitung ermutigte. Die „Amerilaner” lächeln jebt
auch gerade wie die Nordeuropäer, wenn fie in Süditalien und auf
Sizilien den „Klub“ der Signori auf der Hauptitraße zu ebener Erde
bemerfen, wo die Dorfprinzen die Auslage von Schaufenftern bilden
und fo durd) ihre bloße Gegenwart den anderen, niedrigeren Menjchen
ſtets zurufen, daß fie adlig find, weil fie dank ihrem Geld jozulagen
die Pflicht haben zu faulenzen.
Girgenti, 9. Mai 1906.
Die Fahrt nah Girgenti ift entzüdend, zumal das Eifen-
bahnmaterial vorzüglich if. Auch das Perjonal fticht freundlic)
ab gegen da3 des Kontinents, e3 iſt eleganter gekleidet, fauberer,
und die Schaffner tragen fogar Handſchuhe. Langeweile kommt
feinen Augenblid auf, der Farbenrauſch ringsum beichäftigt das Auge
fortwährend. Cine Zeitlang begleitet und da3 Meer mit feinen
„tonnare“ (Thunfischichlächtereien). Kaum haben wir den Iahlen
Monte Salegaro rechts Liegen lajjen und der Küſte den Rüden ge⸗
dreht, fo hört dag Urwalddidicht, gemischt aus Mifpeln- und Zitronen-
bäumen mit ihren goldenen Früchten, mit NRofenbäumen, Ol⸗ und
Feigenbäumen und Opuntienkaktus auf, ftatt deſſen kommen die
bunten Orgien der aus Wiejfenblumen gewebten Teppiche. Das
leuchtet und flimmert, daß man jchier geblendet wird, und ab und zu
ſchlagen Nachtigallen. Bald kommt ödere Gegend, wo, wie die
vielen Eufalyptusbäume verraten, die Malaria herrſcht. Auch
zeigen fich an den vielen Erdrutichen der Hügel die Folgen des Winter-
regen, den kein Wald als Schwamm aufgejaugt hat. Nach und
nad) werden Geranium und Purpurflee bleichlüchtiger, der flam⸗
mende Golöginiter tritt an ihre Stelle, begleitet von dem weißen
Traubengewimmel der Alazien. Vergebens fpäht man nach Pinien
und großen Cypreſſen aus, ohne die man fid) nun einmal Teine
Girgenti: Ein Quidam 157
iafienifche Landſchaft denken kann. Doch dafür wird es bald alpin,
die Felſenhäupter der höchiten Ketten erjcheinen und der dem
abruzzefifchen Monte Velino ähnelnde Zwillingsberg Monte Camma-
tata (1576 Meter Hoch), an dem, wie in der Fabel, Regen und Sonne,
Waſſer und Hibwind fo lange ihre Kraft erprobt haben, daß er
tefigniert bejchloß, einfach nadt zu bleiben. Noch jieht die Land-
ſchaft nicht dejolat aus; denn grüner Frühlingsflaum deckt fie noch,
doch im Sommer wird fie zu verbrannter Wüfte. Hier alſo hauften
einft die von Italien herübergelommenen, die den Römern ftamm-
verwandten Sikeler, die samiolder der homerifchen Cyklopen und
Läſtrygonen!
Hundert Kilometer von Palermo! Station Aqua v iva.
Hier riecht's nach Hölle. Gelbe trapezoide Kuchen ſind aufgeſchichtet
Die Schwefelgrubenregion beginnt.
35 Kilometer weiter Girgenti. Man ruft mich an. Es
iſt einer von jenen internationalen Duodlibet3, an denen Rom fo
reich ift, und bei denen man immer fragen möchte: „quis, quid,
ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?“ Beſonders das
legte: quando, feit wann?, denn heute präfentierte fi) mir der
Erarzt, Erphilologe, Exjournaliſt, Crzeitungäherausgeber ala
Fremdenführer, der eine von Tunis herüberlommende Karawane
in Empfang nehmen foll. Doch was geht’3 mich an! Lieber hinein
in den Wagen zur fröhlichen Wettfahrt nach der hochgelegenen Stadt!
AB ich in Girgenti auf der Eiplanade ftand und vergebens
nach Afrika hinüber zu lugen verfuchte, kamen mir zwei Sprüche nicht
aus dem Sinn: „Hic Rhodus, hic salta“ (da3 letztere vor Freude)
und „Die Stätte, die ein edler Menfch betrat, ift geweiht für alle
Zeiten”. Das alte Akragas ift nämlich als Tochterftadt von Gela
eine Enkelin von Rhodus, man ſteht alfo auf einent heiligen Boden,
wo fich drei Weltteile in der Gefchichte die Hand reichen. Der edle
Mann aber, der diefen betrat, war Empedokles, der Vorläufer
von Darwin, der zuerſt Die Formel von dem „Übrigbleiben des Taug-
158 Girgenti: Empedokles
lichſten“ im Daſeinskampf fand. Er war der Begründer der atomilti-
ſchen Lehre nicht nur, fondern aud) ein Demokrat im wahren Sinne
des Wortes; denn er hätte Beherrfcher und Tyrannos feiner Vater⸗
jtadt werden können, aber er gab ihr eine vollstümliche Berfaffung.
Er jtarb als Verbannter im Peloponnes. Welche Widerjprüche zeigt
diefer Mann! Der Sizilianer Giorgio Arcoleo, Abgeordneter
und Unterftaatzjelretär a. D. des Unterrichts, fieht in ihm alle
charakteriftiichen Eigenjchaften des homo sicilianus vereinigt: „Er
war der geborene Wahlredner, der im Helldunfel der Worte die
Dunkelheit der Gedanken verbarg. Eine typiſche Perſon, ſchwankt
er zwiſchen Gejchichte und Legende. Ein Genie als Gelehrter und
Dichter, verſchmäht er nicht einige apofchphe Formen in Lehre und
Kunft. Halb Augur, halb Prophet Ipricht er nicht, nein fentenzt,
plaudert er nicht, ſondern fpricht Urteile, jpaziert er nicht, ſondern
ftolziert im Purpurmantel, den Lorbeerkranz im Haar. Reich und
Freund der Großen, jucht und liebt er das Volk. Er ift Arzt, Philo-
foph, Muſiker, Aftrolog, Wundertäter. Au Griechenland nimmt er
Symbole, Dogmen, Syfteme, aus Ägypten die Kunſt der Magie, die
er auf Anziehung und Abftoßung, auf Liebe und Haß gegründet hat.
So vibriert in ihm mächtig die hauptfächlichfte Note des vielförmigen
fizilianifchen Charakters, die hohe Auffaffung von und die Freude
an der eigenen Größe, ein maßloſes Sehnen nad) Superiorität, eine
weiſe Kunft des Verſchweigens, wenn die Idee fehlt, eine Kunſt der
Phraſe, wenn die Phantaſie durchgeht!“ Hatte nicht Criſpi ähn-
liche Züge? Um das Bild des Empedokles vollſtändig zu machen,
ſei noch hinzugefügt, daß ihn die Sage Tote erwecken und ihn ſelbſt
gleich Elias in feurigem Wagen gen Himmel fahren ließ. Seine
Feinde behaupten allerdings, er jei wieder Menſch geworden und zur
Strafe in den Atna geftürzt, der entrüftet feine eifernen Sandalen
ausgeſpien Habe.
Me ih nach dem Beſuch der Tempel wieder auf der Eiplanade
ſtand, beftaunte ich das unvergleichliche Bild dieſer goldiggleißenden
Girgenti: Gelb in Gelb 159
Auinenherrlichkeit inmitten der heroischen Landichaft. Nicht Kunfte
finn allein rief diefe Bauten feiner Zeit hervor, ſondern die prafs
tische Rüdficht, fie waren Mittel zum Zweck für Ehrgeizige, die zur
Stadtherrfchaft gelangen wollten . « »
Im Hotel fchimpft ein deutjches Driginal über die Touriften-
faramane, die ihm den Genuß der Tempel verborben hätte. „Eigent-
lich follte man fie nur. bei Mondichein in Separatvorftellungen ge-
nießen !” meinte er, „und ein unfichtbarer Chor müßte „die Himmel
rühmen”, oder „das Lied an die Freude dazu fingen!”
Was die Neuftadt Girgenti anbetrifft, die auf der Stätte
der alten Akropolis ragt, jo fieht man es ihr nicht an, daß hier der
Schauplag großer Tatert war, daß hier Weft- und Oftgoten, Sara-
zenen vermweilten, daß hier 1050 Ali Xbn Mama die Veranlafjung
wurde, daß die Normannen nach Sizilien famen. Es ift eine ein-
förmige Stadt, gebaut aus dem gelblichen Muſchelkalk, aus dem aud)
die Tempel gebaut find. Nur hier und da find einige Faſſaden blau
übertüncht, ein Palazzo ift fogar rot, das verlaſſene alte gotifche
Rathaus. Sonſt alles gelb. Die Häuferlöcher der ärmeren Stadtteile
laſſen ſich kaum vom Felfen unterjcheiden. Viele Priefter gibt's,
— bei einem Begräbnis zählte ich vierundfechzig, — aber aud) viel
Armut und fogar im Dom und in den anderen Kirchen, die in ihrer
weißen Tünche, mit ihren künſtlichen Blumen auf den Altären, den
fchauderhaften Bildern und Skulpturen unbefchreiblich elend aus⸗
fehen. Girgenti ift eben eine Stadt armer Bauern, unter denen die
wenigen „cappeddi‘ (Hüte-Herren), Pächter und Beſitzer um jo
progiger auffallen. Probig find auch die beiden Clubs“ der Signori
zu ebener Erde an der Hauptftraße; zu ebener Erde natürlich! Denn
das ift füditalienifcher Brauch nad) dem Motto: „Sehen und gejehen
zu werden, ift da3 größte Glüd auf Erden.” Kann man fi) da
wundern, wenn die „cappeddi“ nicht beliebt find, und die Männer,
die ſchwarze Zipfelmügen, und die Frauen, die ſchwarze Umfjchlage-
tücher tragen, gern Spottverfe fingen wie: „Di il-cappeddi pärrani
160 Girgenti: Sprichwörter
Beni, chi mali ’un ti ni veni.“ (Sprid) von den Herren gut, damit
Dir Böſes nicht geichieht) oder „Di li scecchi menza canna,
di li cavalli na canna, di li cavalieri tre canni“ (Bon den Ejeln
halte Dich eine Halbe Rohreslänge fern, von den Pferden eine, von
den Herren drei). Groß ift aud) die Erbitterung gegen die reich
gewordenen Bauern: „Lu Vidannu fattu riccu, nan cunusci
ne parenti, ne amicu.“ (Der reich gewordene Bauer (villano)
fennt weder Verwandte noch Freunde.) Wenn id) noch ſage, daß
die Waſſerkrüge in Girgenti die alte Amphoraform haben, daß die au
Stein gejchnigten Balkone den fpanifchen gleichen, daß die Leutchen
ſich auf offener Straße kämmen, daß man fich in den Höhlengäßchen
vor unmwilllommenen Güſſen hüten muß, fo habe ic) von Girgenti
genug gemeldet.
Doch nod) eins: Ein berühmter italienifcher Phyfiologe jagte
einft: „Ein trauriger Gedanke verfolgt mic) immer, wenn id) Bauern
und Arbeiter jehe. Man arbeitet nämlich in der Neuzeit mehr ala im
Altertum und verdient weniger. Troß der größeren Mühe wächſt
da3 Elend.” Und Alt-Girgenti? Man fagte von feinen Bewohnern,
daß fie jeden Tag in ſolcher Wonne lebten, als wenn fie den Tag
darauf fterben jollten, daß jie aber Häufer bauten, al3 ob fie unfterblich
wären. Als einft Ejemos von den olympilchen Spielen heimfehrte,
gingen ihm feine Mitbürger in feſtlichem Zuge entgegen, in dem
300 Paare Schimmel gingen. Der Reichtum kam vom Wein- und
Ölerport nad) Afrika. Ein Gutsbeſitzer Gellia hatte in feinen Kellern
300 000 Amphoren voll Wein und vor dem Tor feines Haufes richtete
er Bantettiiche her, zu denen jeine Sklaven die Vorlbergehenden
einluden. Heute dient fein Name noch als Titel eines Hotels.
Saltanifetta, 11. Mat 1906.
Bon Girgenti ind Innere, nah Caltaniſetta. Nach
kurzer Fahrt beginnt die Region der Schwefelgruben. Ich
Sizilien: Seumes Zom 161
habe ſchon viele traurige Oden gejehen, doch der Anblick diefer braun-
‚grau weißen Hügel, jeder Vegetation bar, fchnürt dem Betrachter
das Herz zufammen. Die einzige, freilich triſte Abwechſlung bilden
die gähnenden ſchwarzen Tore, durch die der kaum erwachſene Berg-
arbeiter, der „caruso“ zum tiefen Schacht Hinabfteigt. Ab und zu
fieht man auch die trapezoiden Ofen, in denen der gereinigte Schwefel
bergeftellt wird. Kilometer über Kilometer zieht fich die Einöde,
Die weit ringsum durch den Schwefeldunſt jede landwirtſchaftliche
Arbeit jtört und die Felder unfruchtbar macht. In Comitini Zolfare
‚it jogar für den Durchreifenden der Geſtank kaum erträglich. Und
da foll man noch von Fortjchritt reden? Nach einem altgriechiichen
‚ex voto, da3 fich im Berliner Mufeum befindet, zu fchließen, fcheint
fi) die Ausbeutung der Gruben in Jahrtauſenden nicht geändert
zu haben; auf ihm find zwei nadte „carusi‘“ abgebildet, die das
Material tragen, das zwei ebenfall2 nadte Männer auögraben. Ent-
Iprechend der Einöde liegt der Ort Canicatta in grauefter
Trübfal an den Hängen des Berges. Solch ein düfteres Gerümpel
von Gteinbuden wirkt faſt wie erftarrte Lava oder wie ein Haufen
riejiger Scherben aus unglafiertem Steingut. Hinter dem Bahnhof
erhebt fich auf ummauertem Hügel eine Nachbildung von Golgatha.
Wie traurig ftimmen die drei leeren Rieſenkreuze! Wenn das zur
Religion gehört, fo ijt diefe Art von Religion mindeftens recht nieder-
prüdend. Wie gerne wäre ich weitergezogen, aber Sanicatta ift ein
Knotenpunkt, und die fizilifchen Eifenbahnen find nur eingleilig. Wie
entjeglich lang dauert’3, bis „freie Strede” gemeldet wird.
Weiter! Man fieht an den Stationen Bauern, grau in Kleid,
Barett und — Shawl, daneben die Angehörigen der beſſeren Stände,
alle im ſchwarzen Sadettanzug, der für die „signori‘ dieſes Gebiets
.de rigueur zu fein jcheint. Bald wird die Gegend wieder grüner,
‚alpin, aber Zahl bleibt fie noch immer. Auch Seume entrüftet
ſich in jenem „Spaziergang nad) Syrakus“ über die Armut, das
Elend des Innern von Sizilien. Er ſpricht von Wüfte und fluchend
Zacher: Im Lande des Erbbeben?. 11
162 Segeſta: Malaria
wünſcht er alle Barone und Abbaten Siziliens mit den Miniftern
an der Spibe in einer Reihe vor ihm aufgeftellt, damit er fie nieder-
kartätſchen könne. Was würde Seume erjt über die Entdedung der
neueren italienischen Soziologen jagen, daß in ganz Sühitalien ſich
die Bauern noch beſſer jtellen aß in Norditalien? Wehmütig
gedenkt man der früheren Sruchtbarfeit der Inſel, die im Altertum
jo gefeiert wurde, daß der Kultus der Ceres in Sizilien entſtand!
Wie eine Ironie berührt ung der Ausdrud „Kornkammer Roms”,
unglaublich Horazens Vers: „te greges centum Siculaeque
circummugiunt vaccae“; denn wo find heute die Beſitzer von
Hundert Herden? Freilich welcher Art find auch die heutigen Land⸗
arbeiter! Nach den Revolten der fascı blühten allenthalben Land⸗
arbeiterliguen auf, die aber jede für fich beitehen und auch Teinen
Anschluß an die fozioliftifche Partei Haben wollten. Dafür ſetzen fie
als Statutöparagraphen feit: Unterdrüdung der Gemeindeichulen —
Teilnahme an Kirchenfeften und Prozefjionen. Zu all diefen mehr
oder weniger angenehmen Dingen gejellt fich nod) die Malaria,
der Reiſende merkt ihre Eriftenz an den Gitterkäften vor Türen und
Fenſtern der Wärterhäuschen. Ganze Streden Giziliens find Der
Malaria wegen unbewohnbar, am jchlimmiten ift in der Neuzeit
die Gegend von Segefta und Selinumt daran. Al 1822
die beiden engliichen Architekten Angell und Harris die Ruinen von
Gelinunt durchſuchten, jtarb der legtere binnen weniger Tage an
emem heftigen Malariaanfall. Empedokles befämpfte einjt die
Malaria, indem er zwei Gießbäche in den Selinusfluß führte und
durch die Flußkorrektion das Waſſer und damit auch die allgemeine
Gejundheit beſſerte. Das möchten ihm die heutigen Machthaber
nachmachen, aber die Berge find kahl. Und da foll man ſich vor-
ftellen, daß die alten Dichter den Waldreichtum Siziliens bejangen,
und daß e3 feine Wälder waren, die die Maften lieferten, und daß
die vielen, zum Teil ſchiffbaren Wafferläufe die erften griechiichen
Koloniften anlodten, die ihrer felligen Heimat fatt waren. „Warımm
Sizilien: Waldvermüftung 163
foritet Die Regierung denn nicht wieder auf, warum errichtet fie Teine
Taliperre, wie fie doch das antike Sizilien hatte?” Dieſe Frage
höre ich oft von Durchreifenden. Wir Anfäfligen haben aber längjt
verlernt, im fchönen Stalien nad) dem Warum zu fragen. Unter
den heutigen Beitläuften iſt an eine Au fforftung gar nicht zu denken;
es ſei denn, daß die Negierung ſich dazu entichlöjfe, das neu zu
ichaffende Waldgebiet ein Menjchenalter hindurch militärisch bejeben
zu laffen. Dafür ein Beifpiel: MS ſich em Principe Borgheje im
Hernikerlande anjchidte, einen Wald zu gründen, begann er
damit, das Gebiet mit einem Zaun zu jihern. Als die erſten Schöß-
linge kamen, riſſen die Bauern den Zaun nieder und trieben ihre
Biegen hinein. Und dabei fanden fich noch Sozialiſten, die gegen
die graufamen Ariftofraten donnerten, welche den armen Biegen
das Futter vorenthalten wollten. In Sizilien Tiegen die Dinge
aber noch jchlimmer. Während auf dem Kontinent fich doch menig-
ftend die Individuen zur Kollektivarbeit zufammenjchließen, fennt
man auf der dreiedigen Inſel bis heute noch feine Konſum⸗ oder
Produktionsgenoſſenſchaft. Bei Leuten, die jo wenig Gemeinfinn
haben, ijt an da3 fulturelle Werk der Aufforftung nicht zu denken.
Auf der Weiterfahrt, kurz vor Caltanijetta, kommt eine Dafe,
die mit ihrem Reichtum von Olbäumen und CHpreffen an Tivoli
erinnert. Aber die Freude dauert nicht lange. Landſchaftlich beſſer
nimmt ih Caltaniſetta felbit aus. Beſonders abends, wenn
man vor der Stadt in die Bergichluchten Hineinfpaziert, wirkt fein
gebirgiges Panorama mie eine Bartie im Harz. Die Stadt ift modern,
da3 heißt in ihren neuen Häufern und den Brunfbauten; denn
ohne dieje kommt feine fizilianische Stadt aus, die etwas auf ſich
hält. Am Norden nennt man jo etwa „Megalomanie”, vielleicht
nicht mit Unrecht, wenn man hört, daß Caltanifetta mit feinen 30 bis
40 000 Einwohnern, eben um feine Prunfbauten, vor allem das
Thenter, bezahlen zu können, eine Anleihe von 7 Millionen auf-
nahm. Freilich ging Licata an der Südküſte, das nur 9000 Ein-
11*
164 Sizilien: Zu viel Advokaten
wohner zählt, noch weiter; Denn e3 leiftete jich eine Anleihe von
9 Millionen. Um diefe Züge von „Größenbemwußtfein” zu vervoll-
jtändigen, erinnere ic nur an eine fizilianische „Volls!“⸗Bank, die
jtatutenmäßig für die Erhaltung der Stadtmufif auflommen mußte.
Saltanifetta, obgleich Hauptzenttum der GSchmwefel-
induftrie und Provinzhauptftadt, ift im Grunde nur eine Stätte
für Bauern. Sie weiſt nicht3 Bejonderes auf, höchſtens daß in den
Hauptitraßen jedes dritte Haus einen „salone‘“ (Frifeurladen) hat.
Sieht man die ärmere Bevölkerung in den Straßen und Pläßen,
jo fällt eg einem ſeltſam auf, daß das Volk fo farbenernit ift. Ver⸗
gleicht man damit das Volk in den Sabinerbergen, da3 in bunter
Farbenpracht fchmwelgt, jo fteht man vor einem Rätſel, das viel-
leicht nur die Rafjenforichung löft. Wa3 die „signori“ anbetrifft, jo
faulenzen diefe natürlich im Klub herum, der ebenjo natürlich an
der Piazza Tiegt. Im Hotelreitaurant trifft man ebenfo natürlich
die Beamten, die dort „Penfion” ejjen. Arme Leute. Sie be-
deuten als Puffer zwiſchen „signori“ und Bauern nicht viel, außer
wenn fie juriftiich gebildet find, denn in Sizilien gilt der Herr
„avvocato“ noch mehr al3 in dem feftländifchen Stalien, weil die
Siziliner neben den Süditalienern die größten Prozeßhansl
der Welt find. Man erjchridt förmlich, wenn man die fizilifchen
Gerichtsſtatiſtiken lieſt. Dementfprechend ift auch die Zahl der
Advokaten unverhältnismäßig hoch. Kein Wunder, daß dieje Prozep-
jucht dem Handel ſchwere Wunden ſchlägt. Das Vertrauen in den
Nebenmenſchen ſchwindet, und jo treten oft Stodungen im Klein⸗
handel ein. Gerne hätte ich von Caltanijetta aus einen Abjtecher
nach) dem nahen „Nabel Siziliend”, wie Strabo jagt, nad) Ka ftr o-
giovanni, dem aus den Sklavenkriegen befannten alten Henna,
gemacht; denn es liegt faft 1000 Meter hoch und gewährt einen Über-
blid über die ganze Sinjel. Um fo lieber hätte ich diefen Blid aus der
Bogelihau getan, weil ich mit der lebten Reife meine Kenntnis
von Gizilien derart erweiterte, daß mir nur noch die Weſtküſte zu
Sizilien: Das Rätſel des Volkes 165
bereifen übrig bleibt. Vielleicht, jo dachte ich mir, gewährt dir dieſe
Gefamtichau neue Einblide, vielleicht einen Anhalt, um die Wider-
fprüche im Leben und Charakter der Bermohner zu erflären. Zum
Glück hütete ich mich, diefes naive Gelüfte einem Eingeborenen zu
verraten; denn ich erinnerte mich noch rechtzeitig, Daß alle diejenigen
bedeutenden Staliener, die über ‚Trinacria“ jchrieben, verzweifelt
zugeftehen mußten, daß fie fich feinen Vers darauf machen könnten,
mochten fie nun Sonnino, Franchetti oder P. Villari heißen.
Letzterer jchrieb jogar vor zehn fahren: „Die Sizilianer jagen und
vielleicht nicht ohne Grund: Es ift unnütz, fich anzuftrengen. Um
©izilien verftehen zu fünnen, muß man dort lange gewohnt haben,
oder vielmehr dort geboren jein. Unjere Zuftände find ganz eigen-
artig. Sie wechjeln von Ort zu Ort, von Schritt zu Schritt. Die
Leute vom Feſtlande werden e3 nie dahin bringen, eine richtige
Borftellung davon zu befommen.” „Auch gut!” bemerkt Der große
Hiltorifer dazu, „aber mir jcheint, daß auch die Sizilianer ſelbſt jich
noch nicht darüber einig find, wie fie jich beurteilen follen.“
—
Saltanijetta, 12. Mai 1906.
Geftern ſprach ich von dem traurigen Eindrud, den der Reijende
in der Provinz Caltanijetta erhält, der Region der Schwefel-
gruben, dem Sit des Elends der minderjährigen Bergarbeiter
(carusi). Syn jeinem Buch „La Sicilia e il Socialismo“ jchreibt
der Hiftorifer P. Villari:
Eines Tages bat ich in Caltanijetta einen Freund, mid) eine
der tiefften Gruben jehen zu laffen, in denen die carusi arbeiteten.
Und als ic) zur Stadt zurüdfehrte und ganz außer mir war ob des
herazerreißenden Elends, das ich geſchaut hatte, traf ich einen ober-
italienifchen Schüler von mir, Profeffor am dortigen Gymnafium,
und erfuhr von ihm, daß er durch Heirat Bejiter gerade jenes Berg-
werks gervorden war, das ich bejucht hatte. „Wie?“ rief ich ent-
166 Sizilien: Das Elend der Schmwefelgruben
rüftet, „Sie ein Herr von „carusi“? Und jo, bemährt fich bei
Ihnen meine Lehre?" — „Ah, Profeffor, wenn da3 Bergwerk
Ihnen gehörte, müßten Sie ebenfo handeln wie ich tue, oder es
einem andern verlaufen, der die Zuftände verfchlimmern würde!"
Wie diefe Zujtände aber beichaffen find, erfahren wir vom
Abg. Colajanni. Der eigentliche Bergarbeiter, der „Hauer“,
ftellt fich verhältnismäßig noch gut. Er wird pro Produftionsmenge
bezahlt, arbeitet acht Stunden täglich und Samstags und Montags,
um den Sonntag zu Haufe zubringen zu lönnen, nur einen halben
Tag. Er verdiente vor der Schwefelkriſis ſechs Lire, jet die Hälfte
täglid. Aber zum Unglüd wird nicht wöchentlich, fondern nur
monatlich abgerechnet. Er muß aljo Vorſchuß bei dem Eigentümer
oder Aufjeher (gabellotto) machen, was dem Wucher Tür und Tor
öffnet, und er muß die Lebensmittel in der „bottega“ der Grube
eintaufen. Dazu ſoll es fogar vorkommen, daß fich Eigentümer oder
gabellotti auch die Beiträge für die Unfallsverficherung zahlen
lafjen, ohne fie jemals zur Verſicherungskaſſe abzuführen. Die
carusi haben e3 noch fchlimmer; oft find fie Taum zehn Jahre alt, nadt
jteigen fie in den tiefen Schacht hinein und tragen aus ihm Gtein-
laften herauf, die oft ſchwerer find ala fie ſelbſt. Dabei find die
Gänge der Gruben eng, niedrig, haben Treppen mit Stufen von
15 bis 90 cm Höhe, find heiß und mit Schmwefeldämpfen gefüllt.
Haben fie jo den Ausgang des Schacht3 erreicht, nadt, ſchwitzend,
feuchend, halb erjtidt, fo müffen fie noch im Freien, wo im Winter
oft die Temperatur auf Null Grad finkt, eine große Strede mit ihrer
Rajt zurüdlegen. Zehn Stunden dauert die tägliche Marterarbeit,
und der Lohn ſchwankt zwilchen 40 Centeſimi und einer Lira. Doc
hören wir weiter. Der „caruso“, der im Durchſchnitt Laften von
3 Kilogramm tragen muß, wird vom Hauer (picconiere) at-
geworben, der feiner Familie einen „Vorſchuß“ gibt, der von 50 bis
zu 150, ja 300 Lire reicht. Aljo der reine Sklavenkauf. Oft entzieht
jich ein caruso feiner Marter durch die Flucht, und dadurch entjtehen
Sizilien: Kinderausbeutung 167
dann blutige Streitigkeiten, zumal wenn der Flüchtling, der den
„Vorſchuß“ noch nicht abverdient hat, bei einem andern Hauer
angelommen ift. Auf die Frage, ob man dem Übel nicht fteuern
fönnte, erhält man an Ort und Stelle die Antwort, daß man erfteng
ohme carusı nicht auskommen könne, und daß, wenn man fie ab-
ihaffen wollte, viele Familien dem Hunger überliefert würden;
belief fich doch die Zahl der carusi unter dreizehn Jahren im Jahre
1892 auf 7613!
Die Klaſſe der carusi ift eigentlich durch Atavismus entjtanden.
Früher lag der Schwefel an der Oberfläche, der Schultertransport
war daher die natürlichjte Sache der Welt. Faſt ohne e3 zu merken,
ging man tiefer und tiefer und zivar ohne Methode, ſodaß die Gänge
jo kreuz und quer angelegt wurden, oft bis zu 150 m Tiefe, daß in
die meiften Gruben feine Maſchine emöringen fonnte. Die einzelnen
Gruben gehören aber meift einem Eigentümer, der jelbft fein Kapital
bat, fondern auf die in der RegelinMejfina mohnenden Bankiers
angewieſen ift; wie jollte er daher an modernen Mafchinenbetrieb
denken fünnen? Im ganzen hat Sizilien nur 25 große Gruben;
500 jind Hein umd ihre Beliger leben von der Hand in den Mund,
jo daß fie zum jofortigen Verlauf der Produktion gezwungen find,
wodurch fie das Sinken der Preije befördern, aljo ihren eigenen
Gewinn ſchmälern. Im Jahre 1892 betrug die mechanijche Schwefel⸗
ertraftion 73 000 t, die durch die carusi vermittelte 301 354 t. Man
jieht, da3 Problem kommt einem circulus vitiosus fehr nahe. Daß
bei einem fo alteingewurzelten Syſtem natürlic) auch die Volks—
gejundheit leidet, geht daraus hervor, daß die Dienftuntauglichkeit
bei ven Militärpflichtigen im Schwefelgebiet 40 bis 44 %, erreicht.
Die Übelftände werden noch dadurch vermehrt, daß die fizilifche
Schwefelinduftrie, von der etma 200 000 Perſonen leben, von vielen
Krifen geplagt ift.
Wie die Dinge heute liegen, erfuhr ich vom Direktor der Filiale
der Banca di Sicilia in Girgenti, der mir bereitwilligft die neueften
168 Sizilien: Schmefelproduftion
Publikationen, vor allem die legten Nummern der „Rassegna dell’
Industria Zolfifera“ und die jüngften Denfichriften der Produ-
zenten überließ. Aus diefen Berichten ergibt fi), daß 1903 die
gejanıte Schwefelproduftion Sizilien 522 274 t betrug, und die
Zahl der Arbeiter 37 000. Im Bezirk Caltanijetta waren davon
19 337 bejchäftigt und zwar 8005 in den Gruben, mo feine mecha-
nische Kraft half, 11 332 Mann in den Öfen mit 349 Pferdekräften
mechaniſcher Hilfe. Die Produktion der Konkurrenz betrug im jelben
Jahre im italienischen Feftlande 33360 t, in Vfterreich 4475 t,
Frankreich 8021 t, Deutichland 1588 t, Japan 29800 t, Spanien
39573 t, Nordamerika 34 943 t. (Die lettere foll aber ganz bedeu-
tend zugenommen haben.) Sn den legten Jahren hatte die Schwefel-
mduftrie Siziliens verhältnismäßig ruhige Zeiten dank der „Anglo
Sicilian Sulphur Cy. Ltd.“ Aber deren Kontralt läuft in diefem
Jahre ab. Sie hätte jegensteicher wirken können, wenn fid) ihr alle
Grubenbeſitzer angejchlojfen und wenn fie es verftanden hätte, Die
Produktion zu regeln, was aber nicht gefchah, jo daß augenblicklich
4200 000 quintali überproduziert und unverlauft find. Heute
iſt natürlich der ganze Intereſſenkreis im Zuſtand der höchſten Auf-
regung, da man an die Stelle der Sulphur Company ein ſizilianiſches
Konjortium fegen und die Sulphur Cy. veranlaffen will, in diejes
einzutreten.
63 reizte mich, nah Trapani zu gehen, um dort in jeiner
Hochburg den Fall Naſi, der Anfang Juni vor den römischen
Kafjationshof kommt, an Ort und Stelle zu fiudieren. Leider mußte
ih von meimem Vorhaben abftehen. Nichtödeftomeniger einige
Worte über Nunzio Nafi, den feine Vaterſtadt troß feiner Ber-
urteilung immer und immer wieder zum Abgeordneten wählt, für
den ſogar die Kirche betet und Prozefjionen veranftaltet. Nafi iſt
einer der eriten „signori“ von Trapani, und den Gizilianern liegt,
wie gejagt, der Feudalismus im Blut. Naſi war Abgeordneter und
Minifter und galt al3 Anwärter auf die Premierfchaft, und wie wir
Sizilien: Heroenverehrung 169
oben fahen, beten die G©izilianer die Macht an. Nun wird Nafi
von der Regierung verfolgt: Grund genug, um durd) feine Unter-
ſtützung der Regierung Oppofition zu madjen. Für ein oberfläch-
liches Urteil mögen diefe Gründe genügen, aber um dag Phänomen
zu erklären, daß eine Stadt von 50 000 Einwohnern wie ein Mann
fi) gegen Geje und Recht erhebt, find jie eigentlich doch nicht
triftig genug. Vielleicht weiß Arcoleo Rat? An einer Stelle ſpricht
er bon der „omertä,derBegleiterfheinung der
„Mafia“: Sin einem Duell A la cavalleria rusticana wird einer
verwundet... Ein Gendarm kommt. Bei deſſen Anblid knöpft er
feinen Rod zu, umarmt den Feind, um ihn vor der Verhaftung zu
Ichügen, und fällt tot nieder. An einer anderen Gtelle fchreibt er:
„Der. Feudalismus ftedt im ganzen intellektuellen Sein. An der
Spite aller Handlungen Steht immer ein großes Etwas, ein Numen
oder ein Heros, der notwendige Mann, der alles beherricht, das
Geſetz Ichafft, den Elementen troßt und den Stürmen de3 Lebens.
Es iſt vom Schickſal bejtimmt, daß er fiegen muß, mag nun der
Sieg Schuld oder Tugend fein. Und fällt er als Held, um fo größer
fteht er als Märtyrer da. In der kranfhaften Entwidlung dieſes
Gefühl bewundert man auch den Banditen, den Profkribierten.
So erklärt e3 fich, Daß jederzeit die Verbannten ihren Einfluß jtärkten.
Der Märtyrer gilt eben mehr, als der Triumphator.” Wohlgemerft!
Diefe Zeilen wurden von Arcoleo im Jahre 1897 gejchrieben.
Nachtrag.
Der Prozeß Naſi.
Rom, 11. November 197.
In einem großen Teile Deutjchlands hat man einen durchaus
falſchen Begriff vom Falle Naji, dort glaubt man, daß der Senat
170 Sizilien: Prozeß Nafi
als höchſter Gericht3hof eigentlich degradiert fei, weil er fich, wie ein
gewöhnliche Gericht, mit den faits et gestes eines gewöhnlichen
Diebe befaffen muß. Diefe Meinung wird hier, mas die Degradier-
ung betrifft, völlig geteilt, nicht aber in bezug auf den Died. Man
ift empört, daß vor dem ganzen Auslande Stalien durch einen
Monſtreprozeß blamiert wird, deſſen feierlichder Apparat in feinem
Berhältnis fteht zu den corpora delicti. Die Vorgeſchichte des
Prozeſſes ift befannt. Nachdem Naſi 1903 im Spätherbit das
Unterrichtsminiſterium verlaffen hatte, tauchten plößlic” Gerüchte
auf, daß in feiner Amtszeit Staatögelder in der haarjträubendften
Weiſe veruntreut morden jeien. Die Wiffenden fagten mit bedeut-
famem Augurenläcdeln: „Tant de bruit pour une omelette! Hat
Naſi denn mehr getan al feine Vorgänger?" Die Politiker aber,
welche in Staatsintriguen bewandert find, tujchelten laut genug,
Naſi jei nur das Opfer des politiichen Konkurrenzneides.
Freilich Hatte Naſi den in allen Ländern unverzeihlichen Fehler
begangen, zu jchnell groß zu werden. Als ganz junger Abgeordneter
fiel er ſchon auf durd) feine an Criſpi, jeinen Heimatsgenoſſen,
erinnernden Attitüden, er ſprach intelligent, warm, feſſelnd und
hielt fogar, was die meiften Abgeordneten hier für das Höchite
halten, Reden Über auswärtige Politik, die zudem noch Hand und
Fuß hatten. Dann zeichnete er ſich durd) feine Geichäftsgervandtheit
in den Kommiljionen aus. Früh wurde er Poſtminiſter und ver-
hältnismäßig jung — ein angehender Fünfziger — Unterrichtö-
minifter. War da der Sprung zum Premierminifter noch weit,
zumal Naſi einen hohen Grad in der Freimaurerei befleidete? Wen
verwundert’3 da, wenn beſonders in Naſis Baterjtadt Trapani und
in ganz Sizilien und Süditalien die Meinung unausrottbar wurzelt,
Naſi jei ein Märtyrer. Die Anklagen gegen ihn werden formuliert,
die Kammer überweiſt Nafi an die gewöhnlichen Gerichte. Naji
flieht aber ins Ausland. Als Sizilianer ift er zu ftolz, um ins Unter-
juchungsgefängnis zu wandern, als Mann der „Macht” zu vorlichtig,
Sizilien: Nafi und das politifche Syſtem 171
jeine Zukunft für immer durd) die Berührung mit der Anflagebant
zu ruinieren. Cr verlangt, daß er nach dem Geſetz in feiner Eigen-
haft als Minifter vom Senat verurteilt werde. Das Reichägericht
gibt ihm im Sommer 1907 — alfo nad) vier Jahren — recht, indem.
e3 den in contumaciam gegen ihn eingeleiteten Gejchworenen-
prozeß als ungejeßlich bezeichnet und erklärt, er fönne nur vom Senat
al3 dem politischen Gerichtähofe abgeurteilt werden. Damit fam
die leidige Angelegenheit nicht nur vorerſt wieder an die Kammer,
jondern Nafi erhielt auch die Freiheit wieder und das Necht, ſelbſt
in der Kammer zu ericheinen; denn feine Vaterftadt hatte ihn iminer
wieder zum Abgeoröneten gewählt, jo oft auch die Kammer ihn feines
Mandats für verluftig erklärte. Am 27. Juni 1904 erſchien Naft
vor feinen Kollegen und hielt eine umſomehr Eindrud machende
Rede, als er nicht nur feine Unschuld beteuerte, fondern auch verhüllt
mit Skandalen drohte. Die Kammer entichied auf feine Verweiſung
zum Senat. Deſſen Präfident ordnete zu aller Überrafchung Nafis
Berhaftung an, objichon fein Fluchtverdacht beftand, und trieb die
Rigorofität jo weit, daß er ihn fogar, anftatt ihn im Senatspalaft
zu inhaftieren, ins gewöhnliche Gefängnis transportieren ließ, wohin
auch fein mitangellagter ehemaliger Privatſekretär Lombardo
wanderte. Nach einigen Tagen machte ver Präfident des Senats
jeine Strenge dadurch wieder gut, daß er von den eigens zufammen-
berufenen Senatoren die Gefängnishaft in Hausarreit umwandeln
ließ. In Trapani brach die Unzufriedenheit des Volkes in Lärm-
ſzenen aus, die fich über ganz Sizilien augbreiteten und inBalermo
zu Blutvergießgen führten. Der Hausarreft Najis
dämpfte die Proteftberwegung Siziliens, da3 dann ruhig auf den
jegigen Prozeß wartete.
Der Grund, weshalb Naſi jest angeklagt ift, ift ein
Tehler des politifhen Syſtems. Stalien gibt feinen
Miniftern feine Amtswohnung, feine Repräjentationögelder und auch
feine Normen für Reifeentichädigungen, ſowie feine Kilometergelder.
172 Sizilien: Naſi und BZanardelli
Dabei ijt das Miniftergehalt Hein. In der Theorie nimmt es fich
fehr ſchön aus, daß Minifter in einem demokratiſchen Lande mit
Staatögeldern rigoro3 umgehen follen, aber leider ift in Italien
auch die Demokratie nur eine Theorie. Die Minifter werden nicht
vom Könige ernannt, das Volk betrachtet fie aber al3 Kleine Könige,
und bon Königen erwartet das italienische Volk — die Gefchichte
Roms beweiſt es — panem et circenses. Ein Franzofe nannte
e3 deshalb auch die Trinkgeldernation. Ein Minifter muß dazu immer
bereit fein, daS Anſehen feines Amtes und das de3 ganzen Kabinetts
vor den Wählern, die feine trogig fordernden Herren und Gläubiger
jind, durch äußeren Glanz, Gaben, Begünftigungen uſw. aufrecht-
zuerhalten, will er nicht riskieren, geftürzt zu werden. Dann darf
man auch nicht vergefien, daß Nafi zulegt Minifter unter Zanar-
delli war, dem Prototyp des theoretiich und chemilch reinften
Demokraten, der aber in feiner fenilen Periode Anmwandlungen von
Cäſarenwahnſinn hatte. Vergeſſen darf man aud) nicht, daß bei
der Mehrheit de3 italienischen Volles Staatögelder — brauche ich
an Kalabrien zu erinnern? — Freigut find, und daß im intelligenten
Stalien, mo Schlauheit mehr geachtet wird als Tugend, jeder, der
den Staat betrügt, al3 Held gefeiert wird, falls er nicht ertappt wird.
Der Erfolg ift auch hier entſcheidend. Was immer auch Naſi begangen
haben mag, er hatte eben feinen Erfolg, weil er früher zu viel Er-
folge gehabt hatte. Es ift ein öffentliches Geheimnis, daß andre
Unterrihtsminifter viel fchlimmere Sachen ſich zu Schulden fommen
ließen, aber fie fchienen denen, die die Macht als ihr Monopol be-
trachten, nicht gefährlich, während ver intelligente, durch feine Bered-
famfeit faszinierende, ſtaatsmänniſch veranlagte Nafi ſich zu früh
als gefährlihden Mitbewerber um die Premierfchaft entpuppt
hatte. Auch dieſes hinc illae lacrymae muß in Rechnung gejtellt
werden; denn politiiche Feindichaft [pielt im Prozeß Nafi eine große
Rolle, ebenjo wie der Partikularismus. Naſi ift Sizilianer.
Man kann über den modernen und politiich gejchulten Norden
Sizilien: Der zweite Criſpi 173
Sttaliens denken, wie man will, aber Tatjache ijt’3, daß er Jahrzehnte
lang den Süden veradhtet und mißhandelt hat, indem er ihn als
minderwertig betrachtete. Viele einflußreihe Dradtzieher des
Nordens fürchteten daher, Nafi, der Huge, energifche Sizilianer,
möchte ein zweiter Criſpi werden und als Premier imperia-
liſtiſche Politik treiben.
Nach diefen allgemeinen Vorbemerkungen zur Sache ſelbſt.
Naſi enthüllte fofort am erſten Tage feine Gejchidlichkeit. Er gab
einfach zu, daß er Unregelmäßigfeiten begangen habe, fügte aber
jiegesgewiß Hinzu, er habe e3 getan zum Teil auf Wunjch des
Premierminijterd® Zanardelli und ftet3 nur für politifche, nicht für
Privatzwede. Die Eingemeihten atmen auf, weil er nicht deutlicher
‘wird. Dan darf aber nicht vergeffen, daß Zanardelli in feiner jenilen
Periode ftark in Irredentismus machte und daß unter feiner Regie
der antiöfterreihiiche Rummel von Udine injzeniert wurde, der
beinahe zum Bruch mit Wien, ja beinahe zum Kriege führte. Wieder
halten die Eingeweihten den Atem an, als Nafi mit kaum verhaltener
Ironie jagt: „sch tat nur, was meine Vorgänger taten.” Und
wirklich, die Spaben pfeifen e3 ſeit Jahrzehnten von den Dächern,
daß das Unterrihtsminifterium den Gipfel der Mißwirtſchaft und
Korruption darftellt. Und kann e8 anders fein bei der Berficherung
auf Gegenfeitigfeit, die ver Parlamentarismus in Stalien darftellt?
Das Unterrichtsminiſterium hat viele Dispofitionsfonds für Kunft,
Wiſſenſchaft, Unterftügung von Lehrern, Lehrerwitwen, Lehrer-
waiſen, hat Univerfitäten, Mufeen, Monumente, Gymnajien,
Elementarſchulen, Kunftalademien und eine Menge anderer Inſtitute
unter jih. Der Andrang der Klienten, der Wähler-Gläubiger, der
„Patrioten” uſw. ift aljo noch größer, al3 beim Minijterium der
öffentlichen Arbeiten. Und da follte ein Minifter, dem bei der
Art der Minifterernennung hier zu Lande alle technijche Vorbereitung
fehlt, nicht den Kopf verlieren, zumal die beften Tages» und Nacht-
ſtunden ihm durch die politifche Wühlarbeit entzogen werden; denn
174 Capri: Die Affäre Krupp
er muß jeden Abgeordneten und Senator, etwa taufend Mann, und
alle die von ihnen Empfohlenen liebenswürdig anhören, um jid)
nicht nur felbjt, jondern auch jenem vorgelegten Premierminifter
feine Feinde zu machen, falls ihm feine ſpätere Karriere lieb ift.
Aber Nafi fennt fich und die Seinen. In bezug auf feine Betätigung
auf dem Gebiete der auswärtigen Politik jagt er mit fühlem Tone:
„Nun ja, was kann ich dafür, daß ich fo ein Ausnahmemenjch bin
und mehr tat, al3 mir zukam?“ Kurz und qui! Mit dem erften
Tage hatte er brillant abgejchnitten.
Zum Schluß nod) eine Bemerkung. Wer Stalien Tennt und
zum Beilpiel weiß, daßdie Affäre Krupp auf Capri nur
durch eine Parodie der ſich ftet3 in Stalien erneuenden Kämpfe der
Montecchi und Capuletti entjtand, muß noch ein anderes Naſi ent-
laftendes Moment erwägen. Der Hauptankläger Nafis, der Mann,
der Die Enquete gegen ihn bearbeitete, Abgeordneter Saporito,
it Provinzgenoſſe von Naſi. Er ift aus Kirchturmspolitik feit Jahren
der erbittertjte Feind des jetzt Angeflagten, dem er nicht verzeibt,
daß er der erſte Mann in der Provinz Trapani ift. Seit Jahren
tobt die Fehde zwiſchen Saporito und Nafi, wie in Capri die Fehde
des Bürgermeilterd Serena, des Freundes von Krupp, gegen
den Rivalen und Möchtegernbürgermeifter Morgano. Auch
das muß gebucht werden. Noch immer gilt in Italien Julius Cäſars
Wort: „Sch will lieber der erfte Mann in einem Dorfe, als der zweite
in Rom fein.” Die Wurzeln der jetzigen Berfolgung Nafis Tiegen
eben im — Dorfe. |
Und woher kommt Saporitos Haß? Er, der ganz in feinen
ſizilianiſchen Anschauungen jtedt und deshalb noch auf Blutrache
und Vendetta ſchwört, Hatte, als jein Bruder ermordet morden,
vom Unterrichtöminifter Nafi verlangt, daß er von feinem Kollegen,
dem SJuftizminifter, die unbedingte Verurteilung der des Mordes
Angeklagten, die jeine politischen Gegner waren, fordere, Nafi Hatte
ihm aber diejen zweifelhaften Freundfchaftsdienft nicht getan. Daher
Trapani 175
betrachtete Saporito Nafi als Verräter und bezeichnete ihn in jeinem
Haffe jogar als heimlichen Anhänger der mutmaßlichen Mörder.
Naſis Teitnagelung diefer Deſſous in den moraliihen Motiven
Saporito blieb nicht ohne Eindrud. Als begofjener Pudel zog
Saporito ab.
(Nachtrag. Nafi wurde am 24. Februar 1908 wegen Unter-
Ichlagungen zu elf Monaten zwanzig Tagen Gefängnis verurteilt,
jomwie zu vier Jahren bürgerlichen Chrverlufte. Da ihm die Unter-
ſuchungshaft (Hausarreft) angerechnet wurde, ging feine Gefangen-
ſchaft am 28. Juni 1908 zu Ende. Seine Baterjtadt Trapani feierte
da3 Datum der Befreiung durch einen Feitzug und Illumination
der Häufer.)
Trapani, die Vaterftadt Nafis.
Rom, 18. Juli 1908.
„Die Aufmerkſamkeit Italiens ift in diefem Augenblide auf
Trapani gerichtet, das mit jener Solidarität für Naſi uns
ein der Phänomene der Kollektivpigchologie gibt, deren äußere
Manifejtationen man nicht billigen kann, obfchon fie ein mit Be-
wunderung gemilchtes Staunen erregen.” So beginnt Luigi
Fabbri im „Meflaggero” einen intereffanten Artifel über die
Stadt, die fünfmal hintereinander einen von der Yuftiz geächteten
Mann zum Deputierten wählte. Nicht erklärlich, fährt er fort, werde
Trapanis fonjequente Haltung durch die Gunftbemeife, die Nafı ihm
als Abgeoröneter und Minifter gab. Mit bloßen Wohltaten Taufe
man nicht fünfzigtaufend Gewiſſen. Und dann werden gemäß der
menjchlichen Natur diejenigen, die Nafi am meiften verdanfen, jebt
nicht unter feinen begeiftertften und treueften Freunden zu ſuchen fein.
Auch durch die Kirchturmzpolitit des Lofalpatriotismus könne das
Bhänomen nicht erklärt werden; denn wenn der Fall Nafi eine italie-
176 Trapani: Berbrecherftolz
niſche Stadt außerhalb Siziliens, oder jelbft manche andere Sizilianifche
Stadt betroffen Hätte, jo würden wohl Freunde und Verwandte
lich aufgeregt haben, doch alle übrigen gleichgültig geblieben fein.
Bielleicht hätte fich in einer Stadt der Provence ein ähnliches Phäno-
men zeigen können; vielleicht jogar lärmvoller und leidenjchaftlicher.
ber den Enthufiasinus der franzöfifchen Weinbauern könne man
lähen, der tragiihde Schmerz der fünfzig-
taujfend Trapanefen made uns ftumm Dam
ſchreibt Fabbri weiter:
Italien iſt jenen Göttinnen der Mythologie vergleichbar, die
Kinder von den verſchiedenſten Vätern hatten. Seit den vorgeſchicht⸗
lichen Zeiten hat es im Laufe der Jahrhunderte die verjchiedenften
Völker durch feine Schönheit und Fruchtbarkeit angezogen. So
finden wir in jeder Landichaft die Abkommen diefer Völker. An
der Hand dieſer Tatjache will auch Trapani beurteilt fein. Es liegt
meit ab vom Weltverfehr, fern jogar vom Leben Giziliend. Und
jelbft die Sizilienreiſenden ftatten ihm felten einen Bejuch ab. Diefe
Abgeſchiedenheit hat dazu beigetragen, ihm feinen ethnijchen
Charakter, den e3 von den Sarazenen und Normannen erhielt,
bewahren zu helfen.
Sch Hatte das freilich nicht begehrte Glüd, die Stadt im Jahre
1900 Tennen zu lernen, al3 ich fie paflierte, um auf der nahen Inſel
Fapignana einige Monate in politiicher Miſſion Giefta zu
halten. (Die Inſel ift Zwangswohnſitzort.) Bei dieſer Gelegenheit
konnte ich von Trapanis Sehensmwürdigfeiten nur da3 Gefängnis
kennen lernen und befam fo mit dem ſizilianiſchen Volkselement nur
in deſſen kranfhafteften Typen Fühlung. ch traf einige Delin-
quenten aus der Provinz Trapani, die mir voller Stolz fagten, daß
fie nicht wegen Diebftahls im Gefängnis jeien, jondern — und drum
betrachteten fie ihre Verhaftung als Unrecht —, weil fie Flinte und
Meſſer gebraucht hätten. Als ich mich bemühte, ihnen Kar zu machen,
daß fich die Folgen eines Diebſtahls wieder gut machen ließen, aber
Trapani: Verbrechernaivität 177
Tote nicht wieder auferjtehen könnten, fchauten fie mich — ich ſehe
noch die funkelnden ſchwarzen Augen — mit einem ſolchen Ausdrud
der Verachtung an, als wenn ich, der ich fo hätte ſprechen können,
in ihren Augen jelbft ein Dieb wäre. Eines Morgens fragte mid)
ein trapanischer Bauer, der wegen eines grauligen Falls blutiger
Vendetta in Unterfuchungshaft ſaß, welche Strafe ihm von den
Gefchworenen drohe. Ach war damals angehender Juriſt und des⸗
Halb fchien ich ihm ein Sachverjtändiger. Der Fall war jo ſchwer,
daß ich, um menfchenfreundlicher und Tangmütiger zu erjcheinen,
antwortete: „Na, im Minimum können fünf bis ſechs Jahre Ge-
fängnis herausſpringen.“ — „Fünf, ſechs Jahr Gefängnis fürmeine
Geſchichte? Aber ich habe doch recht und muß meine Freiheit
wieder kriegen!“ Und dabei jah er mich mit folch zorniger Wildheit
an, daß ich froh war, daß der Wärter in der Nähe ftand, ſonſt hätte
mic) der Kerl erwürgt. Ich erinnere mich noch lebhaft, mas zwei
Tage darauf pajjierte. Der Bauer kehrte von den Geſchworenen
zurüd, die ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt hatten.
Er heulte wie ein wildes Tier, das verwundet ift. Meine Adern
wurden zu &i3 vor ſolch elementarem Schmerzensausbrud. Was
‚mich. ‚aber am meiften überrajchte, war, daß die Mitinjaflen des
Gefängnifles die ſchwere Strafe ebenfalls al3 perjönlichen Affront
fühlten; fie hatten fo troßige3 und wildes Feuer in den Bliden und
waren dabei von ſolch tiefer Melancholie befallen, daß jeder erjtaunt
fein mußte, wer die dDumpfe Verzweiflung oder ftille Refignation
kennt, welche die Inſaſſen anderer Ber —— gewonne
zu zeigen pflegen.
Als ich von Favignano zurüdlehrte, frei von jeder dienſtlichen
Verpflichtung, hatte ich Muſe, mir Trapani zu betrachten und
empfing den Eindrud, in einer Zauberjtadt zu mweilen. Ich kam in
einem Segelboot an, das der Küſte entlang gefahren war, wo id)
die vielen Galzpyramiden bewunderte. Der Hafen erjchien mir
nicht geräufchvoll. Die Herbftjonne, die über dem Monte San
Zacher: Im Lande des Erbbebens. 12
178 Trapani: Charakter der Stadt
Giuliano fand, ließ die weißen, reinliden, mit Säulengängen
geihmücdten Häufer der Stadt Hell erfcheinen Hinter einem Wald
bon Schiffsmaften. Der Handel Trapanis geht nämlid) bis zur Le-
bante, Rußland, England und Nordamerika. Ein Freund machte
den @icerone. Trapani, die „unbefieglichite Stadt”, mit der Zitadelle
des Staufen Friedrich IL, dem Feitungsgürtel Karls V.,
zeigte fich mir als eine der anmutigften Städte Italiens. Es hat
breite, gerade Straßen, darunter die befonder3 prachtvollen Paſſe⸗
giata della Marina, die Bia della Torre di Ligny und den Corſo
Vittorio Emanuele. Unterden Denkmälern fiel mir das von Dupre
geichaffene für Viktor Emanuel auf, das ein Spitzengewebe
aus Marmor if. Aber das Charakteriftifchfte waren die vielen
alten PBaläfte, meift im maurifchen Stil, andere im Barod. ch ſah
auch die Torre degli Ebrei (lo Spedalolello), die Renaifjancefathedrale,
die ein Bild von van Dyd befikt, die Kirche der Tempelritter uſw.
Aber da3, was mir am beiten gefiel, war die fröhliche und enthufia-
ſtiſche Gejellichaft, die ich fand, Arbeiter, Studenten, Beamte, von
denen einer jegt ein nafianifcher Agitator if. Unter anderem erinnere
ich mich eines anarchiſtiſchen Exagitators, der mich mit feiner Tiebe-
vollen und dabei Doch pornehm-ftolzen Gaftlichkeit aufnahm, mie fie
felbft in Sizilien felten if. Auch erinnere ich mich der Iebhaften
Debatten, die abends unter den Bäumen ded Strandes geführt
wurden. Beim Abichied Hatte ich den Eindrud, wie fchon gejagt,
in einer Stadt geweilt zu haben, die eine ſpezifiſch eigene Geele,
einen Charakter für fich hat. Trapani ift eben ftet3 fich gleich geblieben.
Palermo, ba3 doch auch feine fizilianifche Eigenart ganz bewahrt hat,
it ſchon ganz verſchieden, mehr italienisch und europäiſch. Trapani
zeigt noch die Spuren feines griechiich-puniichen Urfprungs: man
merft noch, daß ed Stolonie der Römer, der Sarazenen und Nor⸗
mannen war. 1848 mar e3 diejenige Stadt Italiens, die zuerſt
mit feparatiftiihen Tendenzen infurgierte. Auch nach der Bildung
des einigen Italiens ift e8 noch ganz unitalieniſch geblieben. Seine
Trapani: Der Sohn der Stadt 179
Einwohner haben ein nur ihnen eigenes Urteil, befondere Kriterien
in der Moral, in ihrem Stolze. Sie rühmen fich auch, patriotifch
zu fein, vorausgeſetzt, daß da3 Vaterland fie in dem nicht beleidigt,
was ihre Vorliebe bildet. Nun hat Trapani aberaß Gegenftand
feiner heifeften Borliebe Nafi, den „Sohn
Trapanis". Dieſe Vorliebe will es der ganzen übrigen Welt aufe
zwingen, gleich al3 obdie Eigenschaft, ein Bürger von Trapani zufein,
ein unmiderleglicher Beweis der Makelloſigkeit und Größe märe.
Die Tatjache, daß Nafi ein Gefallener ift, hat die Liebe für ihn
gejteigert — ift das nicht ein Zeichen de Edelmuts? — und die
Mitbürger zu Übertreibungen, ja zum Delirium geführt. Die Hike
des Wraberblut3 wurde entfacht zu einem Elan, der uns ruhiger
denkende Zuſchauer verwirrt.
Italien, ſchließt Fabbri, müſſe dem Rechnung tragen und in
Milde und Geduld abwarten, bis die Zeit die Erregung dämpfe.
Der Triumph Naſis.
Rom, 23. Juli 1908.
Naſi hat —* ſeinen feierlichen Einzug in Trapani
gehalten. Wie ſein Charakterbild im Urteile der Preſſe, ſo ſchwankt
auch die Berichterſtattung über dieſen Triumph, der dem Kenner
der römiſchen Geſchichte den Vergleich mit der ſprichwörtlichen
Nähe von Kapitol und tarpejiſchem Felſen aufdrängt. Die meiſten
römiſchen und norditalieniſchen Blätter tun das Ereignis kurz ab.
Naſi reiſte, von einigen Heimatgenoſſen begleitet, denen ſich mehrere
feiner Advokaten angeſchloſſen hatten, zunächſt von Rom nad) Neapel.
Den Berichterftattern hatte er feinen Wunſch ausgeiprochen, daß
Demonjtrationen vermieden werden möchten; in Rom ging dieſer
»Wunſch auch in Erfüllung, nur vereinzelte Hoch wurden dem
„Märtyrer ausgebracht, während er in Neapel von den Studenten
12*
180 Trapani: Naſis Triumph
jehr gefeiert wurde. Die Trapanejen hatten für die Seefahrt von
Neapel einen eigenen Dampfer gemietet, auf dem dreihundert
Bürger fich einfchifften. Über den Verlauf der Triumphreife gehen
die Berichte auseinander. Vorher hatten die Zeitungen gemeldet,
daß die Aufregung in Trapani nur künftlich fei, da die „Weißen”,
d.h. die Anhänger Naſis, in der Minderzadl feien, die „Schwarzen“
aber zu viel Stolz befäßen, um Dppofition zu treiben. Nach dem
Spezialberichterftatter des „Meſſaggero“ war jedoch der Enthufind-
mus beim geftrigen Empfange echt, der Straßenjchmud überwältigend
reih. Die „Schwarzen“, deren Anführer, der aud) Naſis Gegen-
fandidat bei den Abgeordnetenmwahlen war, Türzlich ftarb, wurden
zu Tode verflucht, weil juft am Feittage die Wafferleitung, die Naſi
der Stadt verichafft Hatte, unterbrochen ward. Die Anführer der
„Weißen“, der Domherr Romano und der Bolognefer Patrizier
Pepoli, der fih in Trapani dauernd angejiedelt hat und als
der Rothichild der Nafianer gilt, ſowie der Bürgermeifter ſtrahlten.
Um vier Uhr kam der Feſtdampfer in Sicht. Der Triumphator
ftand auf der Kommandobrüde. Ein Boot, von ſechs trapanefischen
Kapitänen gerudert, brachte ihn ans Land; wo er von Taufenden
bon Armen zum Wagen getragen wurde, der ihn zum Rathaufe
führte. Die Mufitbanden und das Volk ſtimmten die Rafi-Hymne art.
Bald darauf erſchien der Gefeierte auf dem Balkon, bleich und
zitternd. Und das Volk fang die Naſi 2 ymne, die in freier
— alſo lautet:
Und ſiehe, er kam wie ein leuchtender Stern.
Verdammten ihn auch die römiſchen Herrn,
Was kümmert es uns? Wir bleiben ihm treu,
AUmarmen ihn fröhlich heute aufs neu,
» Der mit der Rede lieblichem Laut
Italien beziwungen, Italien erbaut.
Du unfer Engel, bewundert, verehrt,
Wo wäre das Schwert wohl, das Dich verjehrt?
Trapani: Die Nafi-Hymne 181
Das Banner empor!
Wir ſchwören im Chor
Den Eid ihm der Treu’;
Daß von Schuld er frei,
Ganz Stalien weiß.
Und Ehre und Ruhm
Gebühren. ihm drum,
Dem Reformator und Weiſen,
Den als Engel wir preiſen.
Mit uns iſt er jetzt!
Die ihr unverletzt,
Ihr Soldaten, Heroen,
Laßt Freudenfeuer lohen,
Laßt hell eurer Bruſt
Entſteigen voll Luſt
Das liebliche Wort,
Das töne fort:
Es lebe der Märtyrer
.Nunzio Naſi!
Bebrichtes Sizilien, das jet erwacht,
Das ftet3 du verraten wardſt und verlacht,
Deſſ' Klaglaut verhallte ftet3 unerhört,
Naſi Gehorfam und LXiebe dir fchmört!
Dein treuer Sohn. wird ewig er fein,
As Mutter, al3 Freundin gedachte er dein,
Er Hat dich verteidigt, beſchützt und bewacht,
Seitdem ihm gemorden der Segen der Madit.
Nachdem der Gefeierte lange mit jeiner Rührung gefämpft
hatte, hielt er darmıf eine Rede, die ein Dofument für
ſiziliſche Beredfamteit, für fizilifde Welt
anfhauung ift. — Er begann mit den Worten: „hr ſeid
nicht meine Mitbürger, meine Freunde, nein, meine Brüder.
182 Ttapani: Nede Nafıs
Sch bin nicht? mehr (Widerfprud), aber e3 genügt mir,
Bürger von Trapani zu fein. Ihr jedoch jeid groß und Euere Kraft
ift ftet3 die meine getvefen, und dag genügt, Euere Solidarität ift ein
Gieg; denn einen Sieg muß ic) e3 nennen, wenn jelbft unfere
Gegner insgeheim Euch bewundern und ihre Ohnmacht eingeftehen
müffen. Sch bin Stolz auf Eure fittliche Größe, ftolz darauf, Euer
Mitbürger, ftolz darauf, Sizilianer zu fein. Ich möchte mein Unglüd
jegnen, weil es Euere Tugend nur noch mehr ftrahlen läßt. ch
möchte mein Unglüd jegnen und deshalb fchreie ich nicht, pereat
der und der. Freilich betrübt mic) und Euch der Gedanke, daß es
Gizilianer waren, weldye die Hauptſchuld an einem Fall hatten,
der ein politiicher Mord war. (Minutenlanger Beifall.) Dieſe Leute
haben fein Vaterland, verzeihen wir ihnen, oder vergejlen wir fie
wenigſtens.“
Dieſe Anſpielung auf den Hauptankläger, den ſizilianiſchen Ab⸗
geordneten Saporito, wurde beklatſcht. Die Menge wandte ſich
an die anweſenden Journaliſten und rief: „Wehe Euch, wenn Ihr
nicht die Wahrheit ſchreibt!“ Naſi ironiſierte dann die Regierung,
weil ſie die Stadt mit Soldaten und Poliziſten überſchwemmt habe;
der Prozeß habe doch ſchon Millionen gekoſtet und jetzt werfe die
Regierung auch noch das viele Geld für dieſe unnütze Machtent-
faltung hinaus. Dann fuhr er fort:
Und dabei gibt es Leute, die gegenüber der edlen Aufwallung
eines Volkes, das eine heilige Sache vertritt, von Klientelen, Cliquen,
Kunitgriffen, Intereſſenwirtſchaft, Gunfthafcherei zu Iprechen wagen.
Inzwiſchen danten wir Gott, daß, als man den großen Gedanken
hatte, einen Erminifter vor den höchiten politiichen Gerichtshof zu
ziehen, man nicht von Banken und jchimpflichen Submiljionen,
jondern vom Lehrerkongreß in Cremona und von Porzellanartikeln
der Firma Ginori fprah. Ihr Tennt unfere Paſſion, unjere Liebe
zu nicht fernen Ländern, die wir im Haren Licht unjerer Sonne
erbliden können, aber was wollt Ihr, auch meine tripolitanischen
Trapani: &3 lebe Sizilien 183
Pläne wurden al verdammungsmwürdige Phantafien erflärt. Ich
bin alfo verurteilt und freue mich deifen. Jubeln wir daher, mweil
nah diefem Sturm der Narrheit, der durd die
offizielle Welt Jtaliens fegte, dur meine
Abſchlachtung Ktalien endlih erlöft ward,
überall im Lande Bolllommenheit herrſcht,
furzum die Moral gerettet ift. (Heiterfeit.)
Man hat gejagt, Ihr wäret vom Kollektivwahnfinn ergriffen.
Auch mich Hat man einen Verrüdten genannt. Aber freilich, die
edlen een waren ftet3 Verrüdtheiten in den Augen der Egoiften,
der Elenden und Schufte ohne Gewiſſen. Jetzt gibt es zwei Urteils-
iprüche, den de3 Senats und den des Volles; die Zeit wird zeigen,
ob der erjtere gerecht war, und der legtere definitiv wird.
Naſi ſchloß mit einem Gruß an Sizilien und an defjen größte
Städte, Palermo, Meffina, Catania, dem die Worte folgten: „Man
Hat von Separatis mus gejprochen, aber wir hoffen auf ganz
Stalien, den Vater von uns allen, den Stiefvater von niemandem.
Doch ein letztes Wort fage ih Euh: Seit Heute abend be-
ginnt Italien für un3 zu eriftieren. Es lebe
Sizilien!” Gelbftverftändlich Herriht nun große Spannung
bei allen Politifern, welche Taten wohl diejer jehr Icharfen Rede
folgen werden. (Siehe den Schluß des folgenden Kapitels.)
Das Erdbeben in Kalabrien 1907.
Der Stromboli.
a3 Erdbeben, da3 im Herbft 1907 Kalabrien heimfuchte, ward im
Mai desjelben Jahres durch eine erhöhte Tätigkeit des Vulkan⸗
eilands Stromboli angekündigt.
Profeſſor Riccö vom Obfervatorium in Meſſina jchrieb am
16. Mai 1907: „Die Gruppe der äoliſchen Inſeln liegt im Norden
von Sizilien. Die neun Smfeln, aus denen fie fich zufammenfeßt,
liegen nach drei Richtungen, die vielleicht ebenſovielen Brüchen der
Erdkruſte entfprechen: Nordweſt liegen Banaria, Befiluzzo
und Stromboli, Siöfüdoft: Lipariund Bulcano, nad)
Weiten: Salina, Felicuri, AlicuriumdUftica. Strom
bo li ift alfo die nördlichſte Inſel der Gruppe, fo daß fie Kalabrien
genau gegenüberliegt. Ihre Länge beträgt viereinhalb Kilometer,
ihre Breite drei, Die höchſte Spiße fteigt zu 926 m auf. Der eruptive
Apparat liegt etwa 180 m unter der Spite, jo daß der bewohnte Teil
der Inſel von der Lava nicht getroffen wird, die übrigens auch zwei
natürliche Wälle links und recht? von den Kratermindungen auf«
halten. Die Inſel bejteht durchaus aus vulfanifchem Material
(Balalt, Tuff, Lava, Lapilli, Aſche). Das aus der Vermitterung
dieſes Materials entjtandene Erdreich ift äußerst fruchtbar, jo daß die
Hänge des Feuerberges von einer fubtropifchen Vegetation bedeckt
find (Opuntienkaktus, Oliven- und TFeigenbäumen, Weinftod,
Stromboli: Seine Eruption 185
Ginfter), obgleich e3 an Wafjerläufen fehlt. Die Gefchichte der Inſel
ift uralt, von ihr zeugen jedoch feine größeren Reſte von Pracht-
bauten, weil die Bevölkerung vielleicht nie ſolchen Wohlftand hatte,
daß fie ſich Baulugus gejtatten konnte. Bielleicht wurden folche
Bauten auch das Opfer der häufigen Erdbeben. ‚Die vulfanifche
Tätigleit des Stromboli iſt ebenſo uralt, die antiken Seefahrer
betrachteten ihn auf der Fahrt von Großgriechenland nad) Sizilien
als einen natürlichen Leuchtturm, da er nacht3 weithin Flammen
entjendet. Im Mittelalter war er Gegenftand der abergläubilchen
Furcht; man: betrachtete ihn ala Strafort der verftorbenen Stinder,
deren Wehrufe man von Zeit zu Zeit zu hören glaubte. In den
neueften Zeiten ift er Gegenftand der wiljenichaftlichen Forjchung,
weil er der einzige Vulkan ist, deffen Tätigfeit nie ausfeßt. Seit 1898
wird er von einem Obfervator und den Beamten de3 Semaphors
täglich beobachtet, fo daß wir eine fortlaufende Gejchichte von ihm
befigen. Gemöhnlich haben feine Eruptionen folgenden Verlauf:
Der Vullan beginnt mit Getöfe, Erplofionen, Krachlauten, ähnlich
denen, die beim BZufammenftürzen von Balfengerüften erjchallen,
dann folgt Ziſchen, wie aus einer Dampfpfeife, Rauch umhüllt den
Krater, dann bricht das Coke ähnliche Material, da3 feine Lava
bedect, auf, und die Lava fteigt zur Höhe und wirft Bomben in die
Luft. Augenblidlic) aber wird der eruptive Apparat des Vulkans
aus mehreren Kratermündungen gebildet, deren Eruptionsarten
jehr verfchieden find. Die einen entjenden nur weißen Rauch), die
anderen jchleudern Bomben, andre laffen Lava überftrömen; wieder
andre pfeifen nur, ohne ein fichtbares Zeichen der Tätigkeit. Wie
gejagt, die Einwohner Haben von feiner Lava nichts zu leiden, mehr
jedoch von den Erdbeben, die gleichzeitig mit denen in Kalabrien
erfolgen, zulegt 1894 und 1905. Aber diefe Erdbeben haben ihr
Zentrum ftet3 in Kalabrien und nicht im Stromboli.
Über den einzigen Ort der Inſel San Vincenzo, berichtet
ein Reiſender in der „Kleinen Preſſe“: Die Taltweißen Häuschen
186 Stromboli: Die Bemohner
bon San Vincenzo find jehr niedrig und nad) orientaliicher Art ohne
Dad. In der Ferne gleichen fie mehr Ställen, und erſt wenn man
im Orte mweilt und die fauberen Fenfterchen und Weinteben ſieht,
die ſich um die Häufer fchlingen oder Lauben bilden, gewahrt man,
daß man e3 mit menschlichen Wohnungen zu tun hat, primitiv und
Hein, aber der Umgebung angepaßt und zum Schute gegen größere
bulfanifche Ausbrüche gleich Kafematten praktiſch eingerichtet. Ober-
halb des Dorfes erhebt fich der Kuppelbau einer Kirche und rings um
Vincenzo bis hoch zum Berge hinauf ziehen ſich die Rebenanlagen,
die den mächtigen glutvollen Malvafier des Stromboli liefern, deſſen
Trank die matten Geifter wieder ftärft. Diefer Weinbau und dazu
noch Fiſchfang find für die Strombolianer die einzigen Erwerbs⸗
quellen. Viele von ihnen gehen in jungen Jahren zur See, aud)
nach Afrika und Amerika, und fommen Später, zu einer gewiſſen Wohl-
habenbeit gelangt, wieder in die Heimat zurüd, die ihnen troß allen
vulkaniſchen Gefahren lieb und teuer geworden ift. Das „Pflaſter“
in und um Vincenzo ift zwar billig — die Bewohner hatten un mie
liebe willflommene Gäfte aufgenommen — aber, aber ſehr, jehr
heiß. Weder am Strande noch an den Berghängen kann man
barfuß laufen, der Aſchenſand glüht förmlich und felbft der heilige
GSebaftian würde e3 Hier kaum mit nadten Sohlen auögehalten haben.
Aber die Strombolianer find daran gewöhnt, und ihre Freiheit geht
ihnen über alles Ungemad) und alle Entbehrungen. Nur einem
Tyrannen fügen fie ich, ihrem Vulkan, und ihm gegenüber vertrauen
fie mit rührender Kindlichkeit auf den Schußpatron der Inſel, den
heiligen Binzentius Ferrarius. Nur diejes fromme Vertrauen und
die Liebe zur Heimat hält die Bewohner an die vullaniſche Inſel
gefeſſelt und läßt fie vergeſſen, daß fie „auf einem Vulkane tanzen”.
Rom, 17. Oltober 1%7.
Auf meiner Fahrt im Jahre 1905 durch die vom Erdbeben
betroffenen Gebiete Kalabrien frappierte mich nicht3 mehr,
Kalabrien: Reife de3 Königs 187
als wenn Bürgermeifter und Pfarrer der Heinen Orte jtet3 baten,
die Preffe möge darauf hinwirken, daß alle Geldbeträge nur an die _
Karabinieri zur Verteilung übergeben würden. Später begegnete
ich Hier vielen Skeptifern, die fich über den Spendeeifer des
In-— und Ausland3 luſtig machten. Mittlerweile hat die
Kammer ein eigenes Geſetz für Kalabrien ge
Ihaffen, die Regierung ordnete eine der üblihen Erdbeben-
Enqudten an, um den Modus der Verteilung der
Liebesgaben zu kontrollieren, und fchließlich Hagte der foziali-
ſtiſche „Avanti“ den Befiter eines neapolitanifchen Blattes wegen
Berichwindens von 40,000 Lire Erdbebenfpenden an. Es kam zum
Prozefie, der aber wegen Verjährung eingeftellt wurde. Dann
ward's wieder ftille. Freilich hat die italienische Preſſe auch anderes
zu tun, als ſich um da3 vergefjene Kalabrien zu kümmern, da3 felbft
der Prefje entbehrt. Doch einer fcheint zu glauben, daß Kalabrien
auch noch italienifches Gebiet fei, Der König. Wie ein ver-
ipätetes (!) amtliche Telegramm meldet, unterbrady er auf der
Rückkehr von den Manövern in Eizilien die Seefahrt in Parg-
helia, einer Stadt, die, wie id) feiner Zeit an Ort und Stelle
fonftatieren Tonnte, am meiften von der Kataftrophe heimgejucht
worden war. Dieje3 amtliche Telegramm bejagte nur u. a.:
„Der König hat feitgeftellt, daß ein ganzes Baradendorf
und zwar hauptjächlich auf Betreiben und Koften des Mailänder
Hilfskomitees errichtet wurde, die Stadt aber nod)
in der gleiden Lage ift, wie am Tage nad
dem Erdbeben Nur die Kirche wurde zum
größten Teile reftauriert. Die Fahrſtraße deren
Bau nah dem Unglüd Sofort in Submiſſion ge-
geben wurde, muß noch gebaut werden, da Stadt
und Bauunternehmer noh im Prozeß liegen.”
Zwei Beitungen nur, die offiziöfe „Tribuna” und die radifale
„Dita“ bringen hierzu bittere Kommentare.
f
188 Kalabrien: Erdbeben
Das Erdbeben vom 23. Oktober 1907.
Rom, 24. Oktober: An demfelben Tage, wo in Kalabrien die
vom Mailänder Komitee neu erbauten beiden Dörfer eingeweiht
werden follten und faſt zur gleichen Beit, als der zur Feier gelommene
Finanzminiſter Lacava in Monteleone dad Gröbeben-
zentrum von 1905 betrat, ereignete jich abends nad) neun wiederum
eine Erdbebenkataftrophe, die die gleiche Zone, wie 1905, umfaßte.
Sn Cantanzaro, wo die Gefangenen zu rebellieren drobten,
blieb die Bevölkerung in wilder Panik in der Nacht auf den Straßen.
Sn Gerace fiel ein alter Feitungsturm um, und der Dom erhielt
Riſſe. Ferruz za no bei Gerace, das 1905 verſchont blieb, ſoll
ganz zerſtört fen, m SantEufemiaAjpromonte wurden
drei Berjonen verfchültet, in Sinopolivier, Brancaleone
am Kap Spartimento ift halb zerftört. Das Unglüd wird durch
gewaltige Regengüffe gefteigert. Die Stöße wurden
weder in Palermo, noch in Catania vernommen, wohl aber in
Meffina, wo eine Stärke des fünften Grades konſtatiert wurde.
Sm Sant Xlario am jonifchen Meere ftürzte das Ram ein,
fünf Perjonen find tot.
Rom, 24. Oftober (abends). Die „Tribuna” beflagt die neue
Erdbeben⸗Kataſtrophe und Stellt feit, daß wegen der ſchlechten
Berteilung der Wohltätigfeitsfondgs noch nicht?
geichehen jei, um die Schäden von 1905 zu heilen. Prof. Palazzo
vom römischen Objervatorium erklärt, Kalabrien jei von
einer Erdfpalte durchzogen, die eine Frei
linie darftelle, deren Mittelpunft die aeoli-
ſchen Inſeln bildeten. Alle am Rande diefer
Spalte liegenden Ortſchaften feien natürlid
ftet3dem Erdbeben ausgeſetzt.
Nach den neueften Nachrichten ftürzten auch n Mamertino,
Dppido, Monteleone Häufer ein. In Gerace um
Kalabrien: Opfer des Erdbebens 189
Sant Eufemia Ajpromonte erneuerten ſich heute die
Stöße.
Ein Überblid über die ganze Größe der Kataftrophe ift noch
unmöglich, da e3 fich bei den betroffenen Plätzen meijt um hod)-
gelegene Bergnejter Handelt, die ſchwer erreichbar find. Die [chlechten
Berbindungen find durch andauernden Regen gejtört. Dazu ift die
Umgegend de3 Stark heimgeluchten Ferruz za no überſchwemmt.
Die Zuftände in Ferruzzano find troſtlos. Die Bevölkerung ift ganz
betäubt und daher unfähig, fi) am Rettungswerk zu beteiligen,
deswegen war erft am Spätnachmittage die Ausgrabung der Leichen
möglich. Die Zahl der Opfer beträgt 400 Tote, mehrere Hunderte
bon Bermwundeten. Pater Alfani vom Florentiner. Objervatorium
erklärt, die Größe des Unglüds ſei weniger durch die Gewalt der
Stöße, als durch die ſchlechte Bauart der Häujer ver
Ichuldet, die kunſtlos aus leichten Steinen errichtet werden, die man
durch mit Stroh vermilchten Schlamm verbindet.
Rom, 25. Oktober 1907. Die Nachrichten laufen ſpärlich ein.
Amtlih wird die Zahl der Unglüd3orte auf fünfund-
zwanzig geichäßt, doch dürfte fie größer fein, da aus vielen
Dörfern noch jede Nachricht fehlt. Überall Hagt man über den
unzureichenden Hilfsdienſt. Es wiederholt fich die Erfcheinung von
1905, daß die einheimische Bevölkerung feine Hand rührt und alles
den Soldaten überläßt. Die Größe der Kataftrophe in Ferruz⸗
zano erklärt fich daraus, daß im Augenblid des Erdbeben ſchon
alle Einwohner im Bett lagen. Eine Familie verſchwand ſpurlos
in einer Erdſpalte. Viele Berjchüttete talent u Yebend unter gen
arumen, liegen.
Heute morgen wurde der König in Reghio Calabria
torte: ; doch bis jetzt iſt n o ch n icht s über jeine Abreiſe
beſtimmt (!).
Rom, 27. Oktober 1907. Die Unbilden des Wetters laſſen nach
den Berichten der wenigen Spezialkorreſpondenten das Erdbeben⸗
190 Kalabrien: Wirtfchaftliches Elend
unglüd al3 vielleicht Schlimmer ericheinen ala das von 1905. Die
Überfhmwemmungen erjchweren das Rettungswerk. Zelte,
Brot, Medizin, Holz müfjen auf dem Rüden von Maultieren trans-
portiert werden. Das Kriegsichiff „Umberto“, das vor Gerace
als Hofpitalichiff dienen follte, fonnte nicht landen. Das naſſe
Wetter erzeugte auch Krankheiten unter den Flüchtlingen. Kein
Wunder, daß der Nachrichtendienft widerſpruchsvoll ift. Offiziell
werden jebt ahtundzwanzig Orte alsſchwer, zwei-
unddreißig als leichter beſchädigt angegeben.
Private Nachrichten leiden an Übertreibungen. Vielleicht ift daran
die lebhafte Phantafie der Korrefpondenten fchuld, vielleicht auch
die Kirchturmpolitik, da, wie im Sjahre 1905, jede Gegend
auf Koften der andern die Aufmerkſamkeit der Regierung auf fich zu
lenken trachtet. Die Regierung tat ihrerſeits alles, um die Ver-
teilung der Hilfsgelder fo zu organilieren, daß die im Jahre 1905
beklagten Willkürakte ausgeſchloſſen find.
Das Elend im Talabrifchen Erdbebengebiet.
Juſt zur Zeit der jegigen Erdbebenkataſtrophe ericheint ein
Buch*), das mehr als alle Berichte der ins Unglüdsland gereiften
Spezialtorrefpondenten Zeugnis ablegt von den Zuftänden an der
äußerften Spite Italiens, Zuftänden, die nicht nur eine Schande
de3 jungen italiichen Königreichs, jondern einen Hohn auf die Neu-
zeit darstellen. Das Buch behandelt die Gefchichte der letzten Br i⸗
ganten von dem „ungekönten König Etruriend” Tiburzi
angefangen bis zum „Herven Kalabrien", Mujolino. Bejonders
intereffant find die Stellen, welche das Königreich Mufolinos und
deſſen Hauptorte Schildern, die heuer auch wiederum von fich reden
machen, weil auch fie von Erdbeben ſtark betroffen wurden:
*) Da Tiburzi a Musolino. New York. Editore F. Tocci.
Kalabrien: Totenbeftattung 191
„24. März. Bon Bova Marina nad Bova Alta.
Morgens um acht, nach einftündiger Eifenbahnfahtt von Reggio
Calabria angelommen, verjchaffe ich mir eine „vettura“, wie
hier zu Lande ein Maultier heißt, und beginne den Aufftieg nad)
Bova auf der Höhe im trodenen Bette eines Gießbachs. Die mic)
begleitenden SKarabinieri zeigen hoch über mir ein verbranntes
Haus. Es gehörte dem Bilchof von Bova. Der Gute Hatte die
Gewohnheit, im Winter in Bova an der See und im Sommer in
Hoch⸗Bova zu leben. Einmal feßte er feine Sommerfrifche aus.
Deshalb ftiegen die Berg-Bovaner zu ihren See-Bovanern herunter
und mahnten den Oberhirten an feine Pflicht. Als er dennod) nicht
gehorchte, verbrannten fie ihm die Sommermohnung. Bon der
Gießbachſchlucht kommen mir auf einen fteinigen Pfad. „Auf
dieſem“, fo jagen die Karabinieri, „Ichleppen die Küſtenbewohner
ihre Toten zum Kirchhof von Bova Alta, anjtatt fich einen eigenen
zu bauen. Der Transport, zu dem acht Träger, die zwei Lire erhalten,
nötig find, Dauert dreiundeinhalb Stunden." — „Werden die Leichen
wenigſtens in einen Sarg gelegt? Ich hörte, daß das in dieſer
Gegend nicht Uſus wäre?" „Hier geichieht ed noch, aber nicht in
Ihrem Reifeziel Caſalnuovo, mo man fie, fall3 man ein folches
hat, in ein Leintuch hüllt und in eine Grube in der Kirche fentt, Die
nur mit drei Steinplatten bebedt ift.” — „Iſt's möglich?" — „Sm
Roghudi geht’3 noch fchlimmer zu, da der Kirchhof nur eine
durchlöcherte Hede als Schuß hat, ſodaß Schafe und Rinder auf ihm
meiden und mwühlen. In Amandolea legt man die Toten
einen Fuß unter die Erde in einer Kirche, die weder Fußboden noch
Dad) Hat. Bor einigen Tagen zerbrachen Schweine die morſche Türe
und fraßen die Leichen. Einige Einwohner des. Orts kamen zu
unferem Unteroffizier und baten ihn, er folle eine Eingabe an den
Präfekten machen.” — „Am einigen diefer Gemeinden herricht ein
Schmutz wie ſonſt nirgends in Europa. Sn Africo murden
Lehrer und Lehrerin feit fieben Monaten nicht bezahlt.”
192 Kalabrien: Waſſerſcheu
"Unter diefen erbaulichen Gelprächen krochen wir weiter zu dem
800 Meter Hoch gelegenen Felsneſt. Halb zwölf famen wir an. Auf
der Piazza ftanden einige Hirten in Kniehojen, Wadenftrümpfen,
kurzem Wams und langer Zipfelmüte. Ihre Vaterjtadt befteht meift
aus Leuten, die ſchon das Gericht fennen. Vierzig Bürger jtehen
unter verjchärfter Polizeiaufficht. Sie ſprechen einen griechiichen
Dialekt. Nach einer halben Stunde ftieg ich auf neuem Maultier
höher hinan. Bei taufend Meter hört die Baumvegetation auf. Der
Pfad, der an Schlünden und Abgründen vorbeiführt, wird jo eng,
daß ich zu Fuß gehen muß. Ich jehe die Hirtendörfer Rocca
forte und Roghudi, ftarrend vor Schmuß. Ihr Elend ift heuer
doppelt groß; denn der verfloffene Winter dezimierte die Herden.
Die Bewohner können nicht jeden Tag ihren Hunger ftillen. Ihre
Hauptnahrung bildet ein Gebäd aus Kleie, Hafer und Erbfen. Auch
Roghudi ift ein VBerbrecherneft.. 1895 wurde eine Delinquenienbande
ausgehoben, die unter anderem einen Dann zerhadt und eingepödelt
hatte. Die Häufer des Orts find feine Wohnungen, in denen auch
die Schweine haufen, jondern Schweineftälle, die auch ala menjchliche
Behaufungen dienen. Vieh und Menichen wimmeln durcheinander
wie Würmer im Mift. Aber die Menfchen haben kein Gefühl: für
ihre: Entwürdigung;. fie lieben ihre vermahrloften Felslöcher ſogar
amd haben kein Verſtändnis für die NReinlichkeit in den Städten
anderer Gegenden. Mein Yührer, ein halber Sarazene aus Bova,
deſſen Leib nie Waffer geſpürt hat, fo daß fein Geficht eine ſchwärz⸗
liche Krufte bildet, Hat ala Soldat in Venedig und Udine geftanden.
„Was ift Schöner, Venedig oder Bova?“ frage ich ihn. „Venedig?“
antwortet er, indem er ſich die Nufenlöcher zuhält, a eine
ftintende Stadt! Und Udine Hat die Malaria!"
Um Halb drei fomme ich) auf das Plateau bon Bode. Im
Winter ift Dies wegen Nebel und Schnee von allem Verkehr abge-
Ichnitten, und die Herrfcher der Gegend find die Wölfe, von denen
einige vor zwei Monaten fünfunddreißig Schafe in einer Nacht
Kalabrien: Felſenfleiſch 193
töteten. Oft erfrieren hier im Winter die Polizei- und Karabinieri-
patrouillen, wenn fie fi) im Nebel verirren. Überhaupt. ift das
felſige Gebiet bei jedem fchlechten Wetter gefährlich. Auf den engen
Steigen an den Felswänden genügt ein faljcher Tritt, um Blöcke
lo3zulöfen, die im Herunterrollen Steinlaminen erzeugen. Bon
Beit zu Beit ftürzen auch Karabinieri in die Abgründe, ebenfo Hirten,
wenn fie verirrte Schafe fuchen. Falt jede Woche fällt aud) eine
Kuh oder ein Schaf in den Klüften und Schlünden zu Tode, und
diefe Opfer der Berge — „Felſenfleiſch“ nennen das die
Bewohner — bilden dann die einzige Fleiſchnahrung der Bevölke⸗
rung. Gegen fünf erreiche ich auf Gemjenftegen Caſalnuovo. Der
Ort ift damit gefchildert, mern ich fage, daß er aus Schweineſtällen
befteht, die durch fteinige Schmutzgaſſen von einander getrennt find.
Der Doktor und der Bürgermeifter find die beiden einzigen Perſonen
im Ort, die eine quasi anftändige Wohnung haben. „Wir gehören
nicht zur Welt”, fagte der Doktor. „Der einzige Zugang zum Ort
ift der Steg, den Sie fennen. Alſo entblößt von allen. Verkehrs—
mitteln können mir unfer Vieh, Früchte und Obft zu feinem Markte
ſchicken. Auch Haben wir feinen Poftdienft. Steuern zahlen wir
ungeachtet deſſen doch." Mit einer Laterne hatte man mich zu dem
gaftlichen Haufe des Doktors gebracht. Ohne Licht hätte ich Arme
und Beine gebrochen. Im Schlafzimmer fand ich ftatt Schrank
und Kommode, die man auf dem fteilen Bergpfade nicht trans-
portieren könnte, nur Koffer.
25. März. Am anderen Morgen erreichte ich auf Zickzack⸗
pfaden in fteiler Schlucht Africo. Der Ort ift ein Sammelfurium
rauchgeſchwärzter Schmußhütten, durch deren Türen man nichts
ſieht ala Mift, in dem fich Schweine wälzen, und daneben ein Lumpen-
bündel, auf dem die Familie nachts jchläft. Ein wenig Ajche, ein
Waflerfrug und einige Beile ftellen Herd, Möbel und Geräte dar.
Die Kinder zeigen al3 einzige Tracht ein Hemd aus gröbfter Lein-
wand; einige alte rauen, barfuß mit Wunden und ZYumpen bededt,
Bacher: Im Lande des Erbbebens. 13
194 Kalabrien: Mufolino
die Augen tränend und entzündet, erregen Mitleid und Abſcheu
zugleich.
Der „Heros Kalabriens“, Mufolino.
„Rufolino ift fein gemöhnlicher Räuber, obfchon er mit
lechzehn Jahren fchon Mitglied der Kamorra mar”, jo jchrieb im
März 1900 ein Kenner der Zerhältnifle aus Reggio Calabria an
ein neapolitanifches Blatt. Seine triminelle Laufbahn begann er
mit achtzehn jahren. Er wurde angeflagt, nacht3 mit einem Revolver
auf einen gewiſſen Boccali gefchoffen zu haben. Obgleich nur Indi⸗
zienbeweiſe vorlagen, wurde er 1898 zu zweiundzwanzig Jahren
Gefängnis verurteilt. Diefe Strafe erfchien nicht nur dem primi-
tiven Mufolino, der ftet3 feine Unfchuld beteuert Hatte, enorm,
jondern auch der ganzen Bevölferung, die e3 verjtändlich fand, daß
Muſolino Vendetta ſchwur. Er entwich bald (am 9. Januar 1899)
aus dem Gefängnis von Gerace — einem Kerker sui generis — und
nun fielen unter jenen Schüflen alle Belaftungszeugen und viele
Leute, die zu feiner Verhaftung beigetragen hatten. Am 28. Januar
erichoß er die Frau eines gewiſſen Stefano Crea und verwundete
diejen felbft, am 10. Februar den „Berräter" D’Agoftino, am 11. Juli
den jungen Saraceno, weil diefer gedroht hatte, fein Aſyl zu denun⸗
zieren. Am 7. Auguft dringt er bis nad) Mileto in der Provinz
Catanzaro vor, wohin fich fein Gegner Zoccali zurüdgezogen hatte,
und erichießt deſſen Bruder, am 19. Auguft in fein Gebiet San
Stefano zurüdgelehrt, erichießt er den Gemeindepoliziften, der ihn
verhaftet hatte. Am 9. Januar 1900 feiert er gemeinfam mit einem
Freunde Princi in einer Waldgrotte da3 Jahrgedächtnis feiner
Flucht aus dem Gefängnis mit einem Gericht längft entbehrter
Maccaroni. Princi, der ſich den von der Polizei ausgejebten Preis
bon 10 000 Lire Hatte verdienen mollen, wartete vergebens darauf,
daß da3 Opium, mit dem er da3 Eſſen gewürzt, feine Schuldigfeit
Kalabrien: Das Programm eines Räuber 195
tun und Mufolino einjchläfern ſollte. Da3 Opium mar in der
Bauernapothefe, der e3 entftammte, zu jehr hohen Jahren gekommen.
Als beide bald darauf die Grotte verließen, verrieten fich die Poli-
ziſten und Karabinieri, die im Hinterhalte lagen, zu früh. Mufolino
\hießt auf den Begleiter und entlommt im Walddidicht. „Der
Sturm auf die Grotte” wurde fchon nach kurzer Zeit in vielen
Balladen vom Bolfe befungen, da3 feinen Mufolino ala Rächer der
Ehre vergötterte. Wenige Tage jpäter vermundete diejer einen
Karabiniere tötlich, der fich, um ein Bedürfnis zu befriedigen, von
jeinen Gefährten getrennt hatte, nach einigen Wochen entging er
einem neuen Hinterhalt, am 14. Februar erſchien er am lichten Tage
in dem belebten Sant Eufemia A3promonte und ver-
wundete tötlich einen gewilfen Angelone, von dem er fich verraten
glaubte. Aus demfelben Grunde bereitete er am 5. März einem
gewiſſen Sincropi in Rocca Forte dasſelbe Schiefal. Wie jchübte
ih Mufolino nur fo lange gegen die Polizei? Er kannte feine
Gegend auf Schritt und Tritt, wählte fich als Nachtlager die unzu-
gänglichiten Felshöhlen und erfreute fich der Unterftügung der
Mehrzahl feiner Landsgenoſſen (darunter ſogar Bürgermeifter),
die ihn mit Proviant, Geld und Munition verjorgten.
Am 24. September 1900 hatte Muſolino fein Programm,
wenigſtens was die vierzehn Belaftungszeugen anbetrifft, pflicht-
ichuldigft durchgeführt. Keiner lebte mehr, dazu hatte der „Rächer“
noch zwei Berfonen aus Verfehen erichoffen. Die Regierung ver-
doppelte nun den Preis auf feinen Kopf, der aljo 20 000 Lire betrug,
und verſprach 5000 Lire jedem, der einen Helferöhelfer tötete. Aber
Mufolinos Rachewerk war noch nicht zu Ende; denn er mußte auch
noch Genugtuung für feine Familie haben, jeine Mutter hatte der
Schlag getötet, als fie feine Verurteilung vernommen, und ſeine
Schweſter war an gebrochenem Herzen geſtorben.
Die Regierung bietet jetzt größere Streitkräfte auf in allen
Orten, wo die Bürgermeiſter verdächtig ſind, werden beſondere
13*
1% Kalabrien: Mufolinos Ende
Polizeibeamte mit der Leitung der Operationen betemut, zu denen
man jet auch Truppen binzuzieht. Ende November 1900 hört die
Polizei, daß Mufolino ſich mit zwei Genofjen auf dem Monte Scifo
eine Winterhütte gebaut hat. Polizisten, Karabinieri, 50 Mann
Soldaten umzingeln die Hütte und finden das Neft leer. Tags
darauf erfahren fie, daß der Gefuchte ſich in Stilo, fiebzig Kilometer
entfernt, befinde. Am 10. Januar 1901 ift Mufolino wieder allein,
die bewaffnete Macht hat feine Genofjen aufgegriffen. Nicht lange
nachher jegt fich ein Ausmanderungsagent mit dem Präfeften in
Verbindung. Durch gute Freunde erfährt Mufolino, daß an der
Küfte ein Schiff für ihn bereit liege, das ihn ficher ind Ausland
bringen würde. Die Regierung wolle ihn entfliehen laſſen, da die
Jagd auf ihn doch erfolglos bliebe. Mufolino ging auf alles ein.
Als aber zwei Torpedoboote das verdächtige Schiff anhalten, findet
man anjtatt des Räubers deilen Bruder.
Doch wozu weiter noch Einzelheiten erzählen? Als die Regie-
rung ein Heines Heer aufgeboten hatte und den ganzen Berg Aspro⸗
monte umzingeln ließ, verlor Mufolino die Geduld: Er entwich im
Herbite 1901 und brachte es fertig, zu Fuß auf den Gipfeln des
Appenin bi3 nad) Urbino in Oberitalien zu fommen. In deſſen
Nähe wurde er von einem Karabiniere angehalten, er lief davon
und er würde fich gerettet haben, wenn er nicht über einen Draht
gejtolpert wäre. Die Karabinieri, die ihn nicht kannten, wurden
jtußig, als er bei der Verhaftung zornig in jenem Dialekt rief: „Der
verfluchte Draht hat mich ruiniert!" Seine Ergreifung war alfo
ein Werk des Zufalls. Am 11. Juni 1902 verurteilten ihn die
Geſchworenen von Lucca (Toscana) unter Ausfchluß mildernder
Umftände zu lebenslänglichem Zuchthaus. Eine Talabriiche Jury
würde ihn freigefprochen haben. Wie e3 heißt, foll der Held des
falabriihen Volkslieds jetzt wahnſinnig fein.
Kalabrien: Erbbebenenquöte _ 197
Eine Erdbebenenquöäte.
Rom, 6. November 1907.
Nach dem großen Erdbeben in Kalabrien von 1894
veranlaßte der Entrüftungsfturm der öffentlichen Meinung die Ein-
jegung einer parlamentarijhen Unterfuhung
kommiſſion zur Prüfung der Verteilung der eingegangenen
Hilfsgelder. Derjelbe Vorgang erneute ſich nad) dem Erd⸗
beben von 1905. Am 14. November 1906 ernannte die Regierung
eine Kommilfion, die ihre Arbeiten anfangs Oktober diejes Jahres
beendete. AS die legte Erdbebenkataſtrophe kam, verlangte die
öffentlihe Meinung die Veröffentlichung der Unterftügungs-
ergebnifje, aber erjt geitern entichloß Jich die Regierung, das o mr i»
nöjfe Urfundenmerf der in einigen Wochen zulammen-
tretenden Kammer vorzulegen. Die Blätter find in der Tage, heute
ihon einige belehrende Auszüge zu bringen. Der von Anekdoten
gemwürzte Bericht ift für die Piychologie des italienifchen Abge or d—
neten im allgemeinen und des kalabriſchen im bejonderen recht
bedeutjam. Abgeordnete und deren Großmähler, al3 Provinzial-
abgeorönete, Bürgermeijter und Beigeordnete ließen e3 an feiner
Preſſion fehlen, um die Wohltätigfeitägelder in die Taſchen ihrer
Freunde zu leiten. Das ift den Lejern in der deutichen Heimat
nicht8 Neues mehr; denn es wurde auf Grund von Berichten unab-
hängiger italienifcher Zeitungen fchon mitgeteilt. Neu ift, daß auch
Regierungsbeamte, zum Teil aus moraliſcher Feigheit, ich
an dem lukrativen Gejchäfte beteiligten. Dazu kam, daß gerade die
Reichen in den Eröbebengegenden am meilten nach Unterjtügung
jchrieen und jich ſogar Baraden bauen ließen, wenn ihre Häufer intaft
geblieben waren. Syn einem Orte bedurfte man eines Raumes, um
Baumaterial, Deden, Zelttuch uſw. bergen zu können. Ein Guts-
beſitzer ftellte ihn Eoftenlos zur Verfügung, als aber eines Tages feine
enormen Unterjtügungsgefuche für angebliche Beichädigung feiner
’
198 Kalabrien: Erdbeben und Charitas
Bauernwohnungen abgewieſen wurden, verlangte er die Zahlung
einer Miete von zehn Lire täglich. Ein anderer reicher Bürger ſchrie,
als ein Proviantzug angekommen tar, jo lange um Berüdfichtigung,
daß er nur durch Übergabe einer Kognakflaſche beſchwichtigt werben
fonnte. „Es ift natürlich”, fagt die Enquäte, Daß die Hono—
tatioren fih den Löwenanteil fiherten; denn
fie finden ſich ftet3 in Berührung mit den Be-
börden; die amdern jmd meit vom Schuß und ihre ſchwache
Stimme dringt nicht bi3 zu den Ohren der Beamten.” Nicht genug
damit, dDemolierte man au am Eingang von
Dörfern einzelne Häufer, um von vomherein Eindrud
auf das weihe Gemüt des Königs zu maden, falls er
borbeifahren follte. In einem Hojpital legte man alle Krüppel und
Kranken der ganzen Gegend zufammen, um fie dem Könige ald Opfer
des Erdbebens vorzuftellen. Da diefe Dinge mehr oder weniger
befannt geworden find, fo erklärt es ſich wohl, dag in Romin
diefem Jahre nur eine einzige Zeitung den
Mut Hatte, eine Sammellifte für den Erd-
bebenjhaden zu eröffnen, und jo erklärt e3
ſich aud, Daß der König dieſes Jahr nit nad
Kalabrien reifte. Ihm genügte wohl fchon der Beſuch in
PBarghelia, den er Mitte Oktober machte. Die demokratiſche
„Vita“ läßt übrigens durchbliden, daß die Beröffentlichung des
Enqueteberichts die Regierung nicht weiß waſche. Es gehe nicht an,
daß fie ihr Nichtstun damit entſchuldige, daß fie die Übeltaten anderer
denungziere, zumal die fchuldigen Abgeordneten doch alle minifteriell
geweſen jeien, aljo von der Negierung viel Nachſicht erfahren hätten.
Die Enquöte habe folglich doch nur die Mitjchuld der Regierung
eriwiejen. =
Kalabrien: Naſi und Erdbeben 199
Rom, 19. Dezember 1907.
Die Kammer, die ſeit ihrem Wiederzufammentreten fehr
läffig mar, zeigte ſich in den legten Tagen recht belebt. Freilich
handelte e3 ſich auch um Lebensfragen — der Sorte von Parla-
mentarismus, ala welcher der italifche befannt ift. Vorgeftern kam
und die Kammer kalabriſch. Die kalabriſchen Abge-
ordneten hängen von den großen Gutöbefißern
ab. Diefe waren von der Regierungsengquöte
über die Verteilung der Erdbebenfonds gebrand-
markt worden, folglich mußten fich die Abgeordneten gegen die
Beamten, welche die böfe Enquöte angerichtet Hatten, enträften,
wenn ihnen ihr Abgeordnetenmandat lieb war, und folglich) mußte
den Abgeordneten zuliebe der Premierminijter die der Wahrheit
jchuldigen Beamten desavouieren. Eine Komödie, die man zu den
übrigen legen kann.
Komödie war aud) die geftrige Nafi-Situng. Die Mehr⸗
heit der Kammer hätte ſich gern, wie jchon drahtlich gemeldet, an der
Enticheidung darüber, ob der Senatspräſident Recht Hatte, als er
Naſis Immunität ignorierend die Verhaftung anordnete, borbei-
gedrückt. Aber die öffentlihe Meinung Staliend namentlih im
Norden ift moralifch und will ihr Opfer haben; außerdem fürchtete
die Regierung den Senat. Denn der ift zu allem fähig. Hätte die
Kammer Naſis Verhaftung für ungeſetzlich erklärt, jo hätte er einfach
den ganzen Naſi⸗Prozeß abgebrochen und die Akten der Kammer
zurüdgefchidt. Das wollte aber Giolitti nicht, und da er der Herr ift,
wurde Naſis Verhaftung beftätigt. Bon Recht? wegen. Ein fonder-
bares Schaufpiel war's, wie die Mehrheitsahgeordneten fich mit
juriſtiſchen Spisfindigkeiten herumfchlagen mußten. Die einzig
richtige Note brachte dverradifale Abgeordnete ®uerci,
der gerne als freiwilliger Komiker auftritt, um den alten Hofnarren
gleich deſto bitterere Wahrheiten fagen zu können. Seine Rede
gipfelte in deutlichiten Anfpielungen auf den Exgouverneur von
200 Kalabrien: Seltiame Kammerrede
Erythrea, Martini, der als Vorgänger Nafi3 im Unterrichtd-
minifterium auch recht unfchöne Dinge begangen haben ſoll, aber
nicht verfolgt wurde, der Fürzlich zum Beifpiel von einem joziali-
jtiichen Blatte Neapel3 unlauterer Beeinfluffung des Börjenfpiels
bejchuldigt wurde, aber es vorzog, zu leiden, ohne zu Hagen. U. a.
jagte Guerci:
N afi konnte mit feiner Intelligenz, mit feiner hohen Stellung
ganz andere Mittelund Wege finden, um Geld
zu machen. Cr konnte ſich zum Beiſpiel zum Senator und als
jolcher zum Präfidenten anonymer Handelsgefellichaften ernennen
lallen, deren Bankerott nicht gerade ihn mit Notwendigkeit ins
Gefängnis gebracht hätte. Er hätte Konſulent werden können, ohne
je ein Urteil zu fällen. Er hätte Goldminen in — Benadir erfinden
fönnen. (Anfpielung auf Martini.) Statt dejjen war er jo dumm,
den Weg der Unterjtügungen zu wählen, und blieb, das iſt Die Wahr-
heil, in der größten Armut. Wäre er reich, fo hätte er jegt ein Heer
bon Advokaten, deren Rinnbaden fie zu ftarker Eßluſt qualifizieren,
oderermwäre ſogar Rommifjar einer Enquöte
über die Fonds des kalabriſchen Erdbebenzc!!!).
Aber gegen Nafı führt man die öffentliche Meinung ins Teld. Ya,
jo fagten viele Abgeordnete, wenn die nicht wäre, jo würden wir für
Naſi ftimmen. Ä
Das Erdbeben vom 28. Dezember 1908.
ie Kunde von der unglaubliden Kataſtrophe, der
Meffina und Reggio Kalabria famt einer zahllofen
Reihe von Städten und Dörfern in der Umgegend von Meilina und
der Südküſte Kalabrien zum Opfer fielen, wurde nad) Deutichland
morgens de3 28. Dezember gegen elf Uhr injofern vorbereitet, als
die Erdbebenwarten von Heidelberg und Hohenheim ein heftiges
.. Erdbeben meldeten, deilen Herd in einer Entfernung von 1300 big
1400 Kilometer liege und wohl in Südfalabrien zu fuchen fein werde,
Rom erfuhr ebenfalls erſt im Laufe des Bormittags, daß ein
beftiges Erdbeben in Kalabrien ftattgefunden habe. Erſt um Halb
zehn Uhr abends verlautete, daß Meſſina Halb zerftört fei; und erft
nachts ein Uhr erfuhren Eingemeihte, daß Meſſina brenne und in der
Gewalt von Plünderern fei. Die völlige Zerftörung Meffi-
nas meldete nad) Rom erjt mittags des 29. Dezember ein Privat-
telegramm de3 fozialiftiichen Abgeordneten De Felice aus Catania,
ſpät abends am jelben Tage erklärte dann der fozialiftiiche „Avanti“,
daß auch die völlige Zerſtörung Reggio Calabrias amtlich
beitätigt fei. So verftärkte fich die Meinung, daß die Regierung
mehr wiſſe und aus Furcht noch zögere, die ganze Wahrheit zu fagen.
Einen guten Eindrud machte e3, al3 bekannt wurde, daß nachmittags
das Königspaar nad) Meſſina gereift fei.
Am 1. Januar 1909 berichtete der Kommandant des Kreuzers
Herthaüberden Verlauf des Erdbebenzg, deſſen erjter
Stoß am 28. Dezember morgens fünfeinhalb ohne jede vorherige
Ankündigung erfolgte. Er genügte, um die ganze Stadt in einen
Trümmerhaufen zu verwandeln; ed erhob fich über der
202 Meſſina: Die Katafttophe von 1908
ganzen Stadt eine ungeheure Staub molfe, und zugleich brachen
an mehreren Stellen Brände aus, wovon fich der bedeutendfte
in einem am Rathausplate belegenen Haufe entwidelte. Das Teuer
griff von diefem Haufe aus auf weitere über, ftedte das Hotel
„Trinacria“ in Brand und ſprang von hier auf das Rathaus über,
wo e3 da3 zujammengeftürzte Innere im Laufe des nächften Tages
völlig verzehrte, wodurch ſämtliche Urkunden des Archivs der Stadt
vernichtet wurden. Bei den Rettungsarbeiten an diefer Brandftätte
beteiligten fich in hervorragender Weife der Kapitän und die Mann-
ſchaft des deutſchen Bergungsdampfers „Salvator”. Ihr Verhalten
erregte allgemeine Bewunderung und dieſes umſomehr, als zu jener
Zeit andere Hilfe noch nicht zur Stelle war. Es waren nämlich durch
den Erdſtoß ſämtliche Raſernen eingeſtürzt und ein Teil
der Truppen darunter begraben. Sämtliche Straßen waren von den
eingeftürzten Häufern durch ungeheure Trümmerhaufen erfüllt.
Wenn auch fichere Zahlen nicht gegeben werden können, jo jchäßt
man doch die Anzahl der unter den Trümmern Begrabenen auf
mindeftens 60 000 bis 110 000 Einwohner. Im Laufe des folgenden
Tages fanden fortgejeßt neue Heftige Stöße ftatt, welche die
Tatkraft des Überbleibjels der Bevölkerung, die ſich anfänglich an
den Rettungsarbeiten beteiligte, vollftändig lähmten und fie nur
mit ſtarrem Entſetzen erfüllten. Die Überlebenden leiden an
Waffermangel, da die Wafferleitungen zerftört find. Das
andauernde Regenmetter bat die Lage der im Freien kam⸗
pierenden, meift nur dürftig Belleideten und Verwundeten weiter
verichlimmert. Die Hafenkais haben fich ſämtlich um 2—4 Meter
geſenkt und find zum Teil vom Waffer überjpült. Während des
Stoßes fam von Often ber eine Ylutmwelle, die die Hafenhalb-
infel überſchwemmte, aber den im Hafen anlernden Schiffen feinen
Schaden zufügte, das Dod jedoch zerftörte. Bahnverbindung be-
jteht nur nody) mit Catania. Der Berfonenverkehr über die Meer-
enge hat aufgehört, da die kalabrifchen Bahnen ſämtlich zerftört find.
Meſſina: Goethes Reife 203
Die jebige Kataftrophe erinnert an die vom 5. Februar 1783.
Nach den alten Chroniken dauerten damals in Meſſina die Stöße
zwei Stunden lang. Die Faſſade der Kathedrale ftürzte ein, ebenſo
. die der Kirche Sarı Giovanni di Licata, ein Teil des Rathaufes und
das ganze Viertel Boccetta, die heutige Univerjitätsftadt. Die Zahl
der Opfer betrug über 12 000. Die Stadt Catania, die neunzig
Jahre vorher ebenfall® von Erobeben heimgejucht und dabei von
Meſſina unterftügt worden war, revandjierte ſich, indem fie im
Verein mit den Malteferrittern Lebensmittel und Kleidungsftüde
ſchickte. Die Not dauerte über ein Jahr, da alle Geidenfabriten
zerftört waren, welche die Hauptquelle des Reichtums der Stadt
gebildet Hatten. König Ferdinand gewährte Steuerfreiheit
auf zwanzig Jahre und fchuf am 5. September 1784 den Freihafen.
Infolge des Unglüds z0g die Bevölkerung von den Höhen zum
Strande, wo fie zunächſt in Baraden wohnte.
Über das Erdbeben von 1783 berichtet bekanntlich auch
Goethe in feiner „Stalieniichen Reife”. Am 8. Mai 1787, aljo
bier Jahre nad) dem Unglüd, gelangte er von Taormina aus nach
Meffina und empfing fofort „beim Eintritt den fürchterlichſten
Begriff einer zerſtörten Stadt”.
Donnerstag den 10. Mai berichtet er von dem unjeligen Meſſina:
„Einzig unangenehm ift der Anblic der fogenannten Balazzata,
einer fichelfürmigen Reihe von wahrhaften Baläften, die wohl in
der Länge einer Biertelftunde die Reede einfchliegen und bezeichnen.
Alles waren fteinerne, vierftödige Gebäude, von melden .
mehrere Vorderfeiten bis aufs Hauptgefims no) völligftehen,
andere bi3 auf den dritten, zweiten, erjten Stod heruntergebrochen
find, fo daß dieje ehemalige Prachtreihe nun aufs mwiderlichite zahn-
lückig erſcheint und auch Durchlöchert; denn der blaue Himmel ſchaut
beinahe durch alle Fenſter. Die innern eigentliden
Wohnungen find ſämtlich zufammengeftürzt.
An dieſem jeltiamen Phänomen ift Urfache, daß, nach der von
204 Meſſina: Das Erdbeben von 1783
Neichen begonnenen architektoniſchen Prachtanlage, weniger be-
güterte Nachbarn mit dem Scheine metteifernd, ihre alten, aus
größeren und Heineren Flußgeſchieben und vielem Kalf
zujammengefneteten Häufer hinter neuen, aus Duaderftüden auf-
geführten Vorderfeiten verftedten. Jenes an jich ſchon unfichere
Gefüge mußte, von der ungeheuren Erjchütterung aufgelöft umd
zerbrödelt, zufammenftürzen ... Daß jene aus Mangel naher
Bruchſteine fo fchlechte Bauart hauptſächlich ſchuld an dem völligen
Ruin der Stadt geweſen, zeigt die Beharrlichfeitfolider
Gebäude. Der Jeſuiten Kollegium und Kirche, von tüchtigen
Duadern aufgeführt, jtehen noch unverlegt in ihrer anfänglichen
Tüchtigfeit. Dem fei aber, wie ihm wolle, Meſſinas Anblid ift
äußerft verdrießlich und erinnert an die Urzeiten, mo Sikaner
und Sikuler diefen unruhigen Erdboden BERIEEN und die weſtliche
Küfte Siziliens bebauten.”
Noch einen anderen Bericht aber aus dem Jahre 1783 felbft
teilt die „Kleine Preſſe“ mit, der aus einem alten Buche
ftammt, das in Straßburg erjchienen ift und fich betitelt: „Hit o-
tiijhe und geographiſche Beſchreibung von
Meſſina und Kalabrien und meteorologijde
Beobadhtungen über das Erdbeben, welches
diefe Stadt und Landſchaft den 5. Hornung
173 vermwüjftet hat.” Es heißt da u. a.:
„Neapel vom 15. Hornung 1783. Die Neapolitaniiche Fregatte
©. Dorothea bradite geſtern die betrübteſten Nachrichten von
dem Unglüd der Stadt Meſſina.
Den 5. ds. Mt3. um 1 Uhr nachmittags, Hat das fürcchterlichite
Erdbeben, das ſich jemals ereignet hat (und deſſen ebenjo heftige
ala oft wiederholte Stöße noch bei der Abreife der Fregatte, drei
Tage hernach fortdauerten) dieſe berühmte Stadt faft gänzlich zu
Grunde gerichtet. Wirklich zeigt fi) dem Auge nur ein Haufen von
Trümmern, unter welchen eine große Anzahl der Einwohner, die
— —
Meflina: Das Erdbeben von 1783 205
man borderhand auf zwölf Tauſend ſchätzt, begraben liegen. Der
Königliche und Erabiichöflihe Palaft, das Lazarett, ein Teil der
Bitadelle, die vornehmften öffentlichen Gebäude, die meiften Kirchen,
Klöfter und Häufer, wie auch die ganze Palazzata, oder der halbe
Mond von Paläften, die um den Hafen herum ſymmetriſch gebaut
waren und die Schönste Zierde dieſer unglüdlichen Stadt ausmachten,
find alle in den Abgrund verfchlungen worden. Was das Erdbeben
verichont Hatte, wurde vom Teuer verzehrt, welches man den 5. und
folgenden Tag nicht zu löſchen vermochte.
Meſſina und feine umliegende Gegend hat nicht allein die Ver-
wüftungen diejer jchredlichen Erſchütterung erfahren; auch auf das
gegenjeitige Ufer der Meerenge hat fie jich erftreckt und gleiche Ver-
wüſtung angerichtet. Die Städte Neggio, Palmi, Bagnara, Oppido
und viele andere Orte des jenfeitigen Kalabrien, bejonder3 Scilla,
Catanzaro und Monteleone haben das nämliche Schichſal erfahren.
Man kann die Anzahl der vielen tauſend Menſchen, die unter den
Trümmern begraben worden find, noch nicht genau beftimmen.
Sogar bis Neapel hat man eine Bewegung gejpürt; jie war aber
jo ſchwach, daß kaum der achte Teil der Einwohner fie bemerken
fonnte.
. Schon zählt man unter den Toten in Mejfina den 9. Bretel,
Hoflänbif chen Konſul, den reichiten Hamburger dieſer Stadt (alſo ein
ganz ähnlicher Fall wie 19081); in Seilla den Prinzen diefes Namens,
der erjoff, da er fich in einer Barke retten wollte, Die aber bon einem
Felſen zertrümmert wurde. 5 Ä
Im weiteren laſſe die aus meiner Feder ſiammenden
Berichte folgen.
206 Meffina: Konfufion
| Don Rom nah Palem.
An Bord der Solinunto, 30.31. Dezember 1908.
Aufregung auf dem Poftamt in Rom, gefteigerte Aufregung
auf dem Bahnhof, Chaos im Schnellzug nad) Neapel. Faſt nur
olivenfarbige, fchwarzbraune Menſchen keilten fich in fürchterlicher
Enge. Kalabrejer und Sizilianer waren e3, die nad) der Heimat
jtrebten, um fih vom Schichſal ihrer Verwandten zu überzeugen.
Ungft in den Augen und im verzerrien Mund, der aber nicht ftill
jteht, denn der Süditaliener muß jeine Angſt ausflagen. Ein Offizier
in Zivil fißt mir gegenüber und fpricht von dem Heldentum ber
Soldaten, von denen jebt wieder alles erwartet wird. Mit
Bitterkeit jagt er: „Seht wird die Armee gefeiert, aber die vom
Unglüd betroffenen Autochthonen, die jetzt Feine Hand rühren,
fennen im Glüd keine Dankbarkeit, und kommt dag Manöver, ſo
geben fie ihren Helfern nicht einmal ein Glas Wafjer. Und mas
noch ſchlimmer ift, fie wählen antimilitariftiiche Wbgeorönete.” Der
Dffizier hat recht. Seine Anficht ftimmt mit den Beobachtungen
überein, die ich 1905 während des Erbbebenfchredens in Kalabrien
madhte.
Unterdeffen wurde der graue Himmel ſchwarz, auch .er jchien
zu trauern ob dem unfaßbaren nationalen Unglüd. Sm Neapel
weinte er jogar ſchmutzige Regentropfen. Das erſte war, mich an
amtlicher Stelle nad) Beförderungsmitteln umzuſehen, die mich
dem Zentrum der Kataftrophe nähern follten. Wohin ich aber kam,
ſchien alle außer Rand und Band. Konfufion auf der ganzen
Linie. In einem Dampfſchiffahrtsbureau (italienifch) hatte ſogar
ein höherer Beamter einen gelinden Tobfuchtsanfall. Es dauerte
lange, bis ich mich endlich überzeugte, daß für Private die Fahrt
nad) Meſſina ausgeſchloſſen fei, falle man nicht Zufallsglüd hatte.
Zudem nahm mid) die Suche nach den deutichen Geretteten aus
Meſſina jo in Anſpruch, daß ich die Gelegenheit verfäumte, den
Meſſina: Belagerungszuftand 207
Norddeutſchen Lloyd-Dampfer „Therapia” zu nehmen. Als ich
auf ihn aufmerkſam gemacht wurde, war es zu fpät. Zwei Stunden
nach der Abfahrt! Achtzig Verwundete deuticher Nation follten dem
„Don Marzio“ zufolge aus Meffina angelommen fein. Im deutichen
Hofpital liegt aber, wie mir Schweiter Adele jagt, nur eine Dame,
die Frau des deutichen Pfarrerd. Sie dürfte kaum auffommen. In
einem anderen Hofpital liegt Herr Bogeljang, der feine ganze
Familie verlor. Die Frage nach den übrigen beantworten die
Landsleute, die ich angehe, mit Achlelzuden: „Nicht? heraus-
zubtingen, alle geifteswirr, nicht? am Leibe. Wird lange dauern,
bis fie imftande find zu fprechen!” Ich treffe den Vertreter des
Norddeutichen Lloyd. Er ift ftolz auf den Kapitän der „Therapia”,
der geftern auf der Fahrt nach Konjtantinopel in Meffina auf eigene
Smitiative ftoppte und ſoviel mie möglich an Bord nahm, was krank
und elend war, um e3 nach Neapel zu bringen.. Dort erfuhr man
erit auf großem Ummege von dem Routenmwechjel der „Iherapia”.
Das ruffiiche Kriegsſchiff „Makarow“ telegraphierte die Nachricht
nad) Malta, von dort ging fie nach Bremen, und Bremen drahtete
zur Golfftadt. „Und was fagte der brave Kapitän?” Die Antivort
lautet: „Die Wirklichkeit in Meffina ift ſchlimmer als die ſchlimmſten
Zeitunggmeldungen!” Auf der Redaktion des „Mattino” wird mir
das beftätigt und hinzugefügt, daß einige Deutiche von Meſſina die
Zahl der Opfer auf 110000 (!) ſchätzen. Auch die Kollegen des
„Mattino“ Toben die Soldaten, die fich bei dem Transport der nach
und nad) eintreffenden Verwundeten al3 zarte Pfleger ermwiejen.
Gegen Abend ging’3 zum Hafen. Belagerungszuftand
oder Krieg fchien dort zu herrfchen. Auf dem kurzen Weg vom Hafeit-
palaft bi3 zum. Dampfer, der fonft die Fahrt nach Tunis macht,
Spaliere von Zollfoldaten, Matrofen, Infanteriften, Karabinieri,
Überall wird man angehalten, ausgefragt. Someit das Auge reicht,
fieht man auf den Kais nur Soldaten und Gendarmen! Auf dem
Schiffe dreht fich natürlich die Unterhaltung mır um die Kataftrophe.
208 Meſſina: Augenzeugen
Ein Leutnant, der Augenzeugen geiprochen hat, fagt, das merf-
würdigſte jei, daß Meflina, vom Meer aus gejehen, kaum verändert
Scheine, da von den Häufern der berühmten Palaftitraße (palazzata)
jeltiamermeife die Faſſaden ftehen geblieben feien. Augenzeugen!
Die erften Berichte von ſolchen bringt die Prefje Neapels. Zunächſt
handelt e3 ſich um zwei Neifende, die in der Nacht vom 27. auf den
28. Dezember mit der Eifenbahn von Neapel in der Richtung nad)
Reggio fuhren. Der eine erzählt:
SnTropea find wir alle um 5 Uhr 45 Min. durd) eine plöß-
fihe Bewegung gemwect worden. Zuerſt legte man der Störung
feinen großen Wert bei, aber bald gaben herzzerreißende Schreie,
die durch die finftere Regennacht drangen, Aufflärung. Der Zug
jchlich bi Palm ii, etwa 40 km vor Reggio. Es zeigt jich der fahle
Schein der Dämmerung. Wir jehen, daß die meiften Häufer der
Stadt zerftört find. Aus den Trümmern ertönen Jammerrufe und
Geufzer. PVierzig Soldaten irren umher, um zu helfen. Aber. e3
find zu wenige. Einer von ihnen will eine Frau mit zwei Kindern
retten. Eine Mauer fällt um und erfchlägt ihn. Unterdeſſen ſchickt
der Bahnhofsinſpektor eine Majchine zur Relognoszierung aus.
Dieje kommt nach zwei Stunden zurüd, und wir fahren nach Bag-
nara meiter. Die Ortichaften, die wir auf der Fahrt paflieren,
jind mehr oder weniger Ruinen, Seminara ift zeritört und
Bagnara eriftiert nicht mehr. Ein Karabinieri-Feldivebel mit
zwei Untergebenen fucht zu retten, unterftüßt von einigen über-
lebenden Bürgern. Wir zählen im Nu 58 Tote. Plötzlich jehen mir
zwei Torpedoboote am Horizont. Sie nähern fi). Die geretteten
Einwohner eilen zum Strande und werfen ſich auf die Knie. Zwei
Offiziere fteigen au3 und fragen nach dem Telegraphenamt. Es
funktioniert nicht mehr. Sie jagen aus, daß Meſſina und
Reggio faſt ganz vernichtet find. In der Richtung von Mefjina
erheben ſich Rauchwolten. Die Stadt brennt. Auch die Rumen
bon Bagnara beginnen zu bremen.
Meilina: Veränderungen in der Meerenge 209
Wenn Palmi ein Rätſel war, fo bot ſich Bagnara als den Gipfel
des Unbegreiflichen, al3 einen Haufen von Ruinen. Wir laufen zum
Strande und wollen mit Barken nad) Sizilien. Aber wir können
ven Schiffern hundert, zweihundert Lire bieten, fie jchütteln ftumm
den Kopf. Sie jind betäubt, fie verjtehen gar nicht, was wir wollen.
Zwei unſerer Mitreifenden wollen zu Fuß mweiter. Nachdem fie
einen Kilometer gegangen find, ftehen fie vor einem Abgrund; die
Landſtraße war auch einmal.
Über diefe Vernichtung der Landftraße habe ich ſchon tele-
graphiert. General Marazzi befindet ſich fchon über vierund-
zwanzig Stunden 30 km nördlich von Reggio, ohne einen Schritt
weiter zu fommen. Zu Lande vermehren e3 ihm die Erörutiche,
und zu Wafler bietet fich feine Möglichkeit. Der Kommandant des
Zorpedoboot3 „Spiga” telegraphiert, es fcheine, Die Spibe Des
italienifchen Stiefels fei mit einem Beil ſenkrecht abgehauen worden.
Die jo erſchwerte Landung wird noch durch die hochgehende See
erichwert. Zu alledem kommt, daß da3 Erdbeben den Untergrund
der Meerenge verändert hat. Die „Iherapia” nahm von Neapel
einen Inſpektor des Lloyd mit, der Unterfuchungen anftellen ſoll,
inwieweit die Veränderung die Großſchiffahrt bedroht.
Das tote Meffina.
Palermo, 31. Dezember 1908.
Aus Holbeins „Totentanz”, aus Bußpjalmen, aus Schillers
Wort von den Elementen, die das Gebild der Menichenhand haffen,
webte ſich mir auf der Fahrt nach dem ſikuliſchen Eiland eine makabre
Symphonie zufammen, die mein geiftiged Ohr ftetig umſummte.
Ich kannte fie jehr gut, die beiden fo jäh Dahingefchiedenen: Reggio,
die lachendſte Stadt Stalienz, die Königin Kalabrienz, und Me f-
jina, la regina del Faro, die Königin der Meerenge. Zuletzt
Zadher: Im Lande des Erbbebens. 14
210 Meffina: Seine Geſchichte
ſchaute ich fie, zwei Jahre jind’3 her, im Sommerglanz, wo die Farben⸗
pracht des Baum- und Waldſchmucks am reichiten, dag Blau des
Meeres am tiefjten ift und das Sonnenlicht rofigen Schimmer zeigt.
Und durchduftet waren die beiden Stadtperlen von den Gärten, mo
Ricinus, Palmen, Opuntien, Orangen, Zitronen, Rofen und
Hunderterlei andere Blumen um den Preis der Schönheit ftritten.
Nie vergeſſen werde ich auch die abendliche Fahrt auf dem Fährboot,
al3 der Atna in blaffem Purpurmantel huldvollſt herasfchaute und
fein altes Herz an der Schönheit dort unten labte. Welch ſchöne
Lage hatte Meſſina, die amphitheatraliich von duftigblauen Höhen
und grünen Wäldern gefrönte Stadt! Dabei war fie regelmäßig
gebaut in Form eines Parallelogramms und Iroß der Regelmäßigfeit
Ihön. Dazu hatte fie Straßen, die mit denen von Catania wett-
eifern konnten, jo die Palazzata, ihr parallel den Corso Garibaldi,
der den Mittelpuntt abgab für den eleganten Verkehr. Auch die
Brunnen der Stadt waren berühmt. Und nun erft das Hafenbild
und die malerijchen Spazierwege um die Stadt herum, die reizvolle
Blide auf die Talabriiche Küfte gewährten! Und heute? Alles
verfunfen. Der Fluch des unficheren Bodens.
Skeptiker würden ſich wohl damit tröften, daß fich Städte wie
Menſchen an alles gewöhnen. Wahr ift freilich: Meifina ift reich
an Prüfungen geweſen, das erzählt ung fchon feine Geſchichte.
Griechen aus Kymae oder Narier gründeten Zankle, die Sichelftadt,
die jchon früh jo bedeutend war, auch als Hafen-Bollwerk und
Emporium, daß fie den Neid der Nachbarn mwedte. 493 v. Chr.
begann daher ihre LXeidenzzeit, al3 der Tyrann von Rhegium,
Anarilas, fie mit Gewalt einnahm und nad) feiner urfprünglichen
Heimat Mefjena nannte. 405 wurde fie Zankapfel zwilchen dem
Karthager Himilfo und Dionyfius von Syrakus, und der erftere
zeritörte fie, um dem Gegner einen Stützpunkt zu tauben; 310 v. Chr.
trat gegen jie als Zeritörer Agathofles von Syrafus auf. Nach deſſen
Tode fam neuer Graus. Die kampaniſche Bejabung der Marsſöhne
Meſſina: Peſt und Cholera 211
(Mamertiner) vertrieb die Bürger, raubte deren Frauen und
begründete eine eigene Herrſchaft. Als diefe ins Wanken geriet,
riefen fie, wie befannt, die Römer gegen die Karthager zu Hilfe und
veranlaßten jo den Ausbruch des zweiten punifchen Krieges. Die
Römer nahmen 264 von der Stadt Beſitz, die nun 230 Jahre lang
in Ruhe blieb. Aber 35 v. Chr. erſchien Oftavian und beftrafte fie
dafür, daß jie Pompejus Schuß und Schirm gewährt hatte. Eine
faft neunhundertjährige Periode des Friedens folgte nun, bis
Meſſina 831 von den Sarazenen verheert wurde; 965 kam der Fati⸗
mide Achmed, nachdem er in einer Seejchlacht in der Meerenge die
Flotte der Oſtrömer vernichtet hatte. 1190 waren es die frommen
Kreuzfahrer unter Richard Löwenherz, die ihre Gottjeligfeit duch
Plunderungswut und Zerſtörungsluſt bewieſen. Das größte Leid
erfuhr die Stadt aber zur Zeit Ludwigs XIV. Zwei Parteien, die
„Merli“ (Adligen) ftritten mit der Pleb3 (Malvezzi). (Ein Schneider
hatte die Merli durch ein Bild verfpottet, worauf die Fehde auf-
geflammt war). Gegen den reaktionären ſpaniſchen Vizekönig
Gonzaga rief das Volk den Sonnenkönig zu Hilfe. Ex ſchickte auch
eine Flotte, zog jie aber nad) vier Jahren (1678) wieder zurüd. Die
der jpanifchen Grauſamkeit überlajfenen Bürger wanderten darauf
in der Mehrzahl nach der Provence aus, und die Einwohnerzahl ſank
von 120 000 auf 15 000. Kaum hatte jich das vielgeprüfte Gemein-
weſen wieder erholt, jo half die böfe Natur dem Zerſtörungswerk
der Menjchen nad. Die Best forderte 1743 40 000 Opfer, und
vierzig Jahre ſpäter fam das große Erdbeben, das die Stadt
vernichtete. Die Menſchen jchufen dann wieder Ungemad), indem
lie al3 Vertreter der neapolitanifchen Ordnung die Meſſineſen, die
fih 1847 freigemacht hatten, 1848 durch Bombardement zur Raijon
brachten. Dann feßte die Natur wieder ein: 1854 mit der Cholera
(10 000 Opfer), 1887 nochmals mit diefer Krankheit, 1894 mit dem
Erdbeben und fchlieglich jetzt mit der dreifachen Kataftrophe der
entfejlelten Elemente Erde, Waller und Teuer.
14*
212 Meſſina: Kunftgejchichte
Meffina war einmal. Manche Kunftliebhaber erichauern
oft, wenn fie fich vorftellen, die italienischen Weiheftätten der Kunft
fönnten einmal bedroht fein. Nun, Meſſina war feine Kunftftadt
eriten Ranges. Aber fie war doch auch mit der Kunft verfnüpft und
darum vielen wert. In ihr ftarb Antonello da Meſſina, der meift
in Venedig ſchuf und flandrifche Kunſt und Oltechnik nach Stalien
verpflanzte (1493); in ihr befand ſich das Grab Caravaggios, des
großen Naturalilten, den erjt die moderne Zeit wieder gegen die
Berläfterung durch frühere Kunftbrahminen in Schuß nimmt. Auch
jein Schüler Mario Menitti (gejt. 1640) fand in Meifina feine lebte
Ruheſtätte. Selbſt der Kunſt Michelangelo begegneten wir bier
in feinem Schüler Montorjoli aus Florenz. Und dann der Dom!
Er war normanniſchen Uriprungs und ein großartiges Monument,
da3 die vandaliſchen Reftaurationen von acht Jahrhunderten nicht
zu zeritören vermocht hatten. Noch leuchteten bis auf die legten Tage
die alten herrlichen Mofaiten, der polychrome Marmor, die phan-
tafiereihen Basrelief3! Noch ragten die ſechsundzwanzig Granit-
fäulen, die dem antiken Neptunstempel entftammten, der am Strande
geftanden. Und vor dem Dom der herrliche Brunnen Montorfolis,
der den Ruhm des mythologiſchen Stifters der Stadt, Orion, pries,
und die Reiterftatue Karla III., welche die Spanier 1678 au3 der
größten Glode der verwülteten Stadt gießen ließen. Auch um
andere, Heinere Kirchen [chmerzt uns der Verluſt Meſſinas, namentlich
um ©. Andrea, two Caravaggios „Ecce Homo“, und um San
Niceolo, mo da3 Antonello-Pradtbild „St. Nikolaus in der Glorie”
hing. Bon demjelben Meifter befaß das Museo Civico auch das
fünfteilige Altarwerk zu Ehren de3 hl. Gregor.
Meilina war einmal! Wie die alten Römer über eine zerjtörte
Stadt den Pflug führten und Salz ftreuten, jo wird wohl unſere
hygienische Zeit, um dem Ausbruch einer Epidemie zu fteuern,
ungelöjchten Kalk über Meſſinas Weichbild ausgießen. Was find
die Trümmer von Pompeji gegen ein ſolches Bild des Sammers!
Reggio Calabria: Geichichte 213
Das tote Reggio Calabria.
„So wandert er am leichten Stabe
Aus Rhegium, des Gottes voll!“
Auch Reggio war. Die Stadt des Ibykus! Unvergeßlich wird
jedem Reiſenden der Anblick dieſer Stadt ſein, der ſie, von Norden
kommend, ſah, nachdem er die an Weinbergen und Olivenhainen
reiche Gegend von Villa San Giovanni paſſiert hatte. Wie thronte
ſie vornehm und doch zart lieblich über dem tiefblauen Meere, auf
ein grünes Samtkiſſen gelagert, deſſen oberes Ende Buchen- und
Eichenmälder jäumten. Freilich) mar das heutige Reggio nicht das
Rhegion, das der Tyrann Anarilas gekannt und beherricht hatte,
auch niht dad Rhegium Julii, da3 Julius Cäfar wieder
aufbauen ließ, nachdem er Bompejus aus Sizilien vertrieben hatte,
da3 Rhegium Julii, mo de3 Auguftus einzige Tochter, die ſchöne
Julia, im felbftverjchuldeten Eril ftarb. Aber auch Rhegium hatte
des Schichſals Wechjel oft erfahren, nicht minder oft als fein jchönes
Gegenüber ward es im Laufe der Jahrhunderte zerftört. Schon vor
den PBerferkriegen hatte die Stadt, die das Alter von 2652 Jahren
erreicht hat, eine große Blüte, die von dem Schüler des Pythagoras,
dem Geſetzgeber Carondas gefördert wurde. Sie konnte 3000
Bürger zur Hilfe nad) Tarent [chiden und bejaß zur Zeit des Dionys
von Syrakus achtzig Kriegsſchiffe. Die Periode der Zerftörung
begann 280 v. Ehr., als nach der Schlacht von Heraclea zwiſchen
Pyrrhus und den Römern kampaniſche Söldner Rhegion ein-
nahmen und zu der Hauptjtadt ihres Brigantenftaat3 machten, der
garız Großgriechenland auffaugen wollte. Dann nahmen die Römer
die Stadt ein, die fie 205 züchtigten, weil fie wieder abgefallen war.
Mittlerweile hatte vor dem marſiſchen Krieg auch ein Erdbeben
Schaden angerichtet. Mehrere Jahrhunderte Schonzeit famen ala
Intermezzo. Aber 410 erſchien Mari. Er zeritörte gründlid).
Die Tempel der Iſis, der Diana, des Serapis und dad Prytaneum
fielen ihm zum Opfer. Es war feine lebte Arbeit. In der Nähe
214 Reggio Balabria: Tata Morgana
von Rhegium fand er feinen Tod.*) Alarichs Rivale in Zerftörungs-
operationen war 549 Totilas. Dann ward die Stadt wieder ber-
geilen, bis jie die Sarazenen 918, die Pifaner nad) 1000, die Nor-
mannen unter Roger und Robert Guiscard 1060 zur blutigen Arbeit
verlodte. Was jie ungetan gelafjen, vollendete 1210 Friedrich II.,
der Hohenftaufe, und ihm folgte 1282 Peter von Aragonien, der die
Anjous verjagte. Preihundert Jahre Paufe. Dann febten die
Sarazenen oder die Türken ein, 1519 Barbanera, 1542 und 1558
Barbarojfa und 1594 der Talabrefifche Renegat Haffan Cicala, der
20 000 Bürger als Sklaven fortichleppte. Den Menfchen folgten
dann die böjen vulfaniichen Gewalten, welche die Erdbeben
bon 1783, 1894, 1908 ſchickten.
Die Stadt Hat zu eriftieren aufgehört. Wo find ihre Gärten
voll balſamiſchen Duft3, wo ihre Paläſte, deren Balkone und Fenster
die Reifebücher rühmten, weil jie aus dem „Ichönften Architektur⸗
ftein der Welt”, dem Syrakuſaner Sandftein, gejchnigt waren? Und
wer wird noch vom Hafendamm Reggios aus dag Schauspiel der
Fata Morgana **) genießen, die es jo berühmt gemacht? An
lauen Sommermorgen ſah man jo die ganze gegenüberliegende Küfte
von Sizilien in der Luft gejpiegelt mit ihren Kaftellen, Kirchtürmen,
Schiffen. Mit dem Dom aber fintt eine Erinnerung an die
Apoftel dahin. An feiner Fafjade war die Stelle der Apoftel-
geichichte eingemeißelt: „Da wir umſchifften, famen wir nad)
Rhegium." Der Upoftel Paulus mwar’3 mit feinen Genoffen.
Im Dom war auch die Paulskapelle mit der Säule, die der Apoftel
*) Bol. Platend: „Nächtlih am Bufento raujchen.“
**) Manchmal, wenn in den Tagen des glühenden Sommers die untern
Schichten der Luft durchglüht bei völliger Stille de Windes
Wenige Zoll Hoch zittern, und Strahlen von oberen Schichten
Dann in die andern dringen, und nun gebrochen, gebogen
Plötzlich den Boden entfernen, erblidt man ftaunend Ruinen,
Schlöſſer, Paläfte als Iuftige Bilder der Fata Morgana.”
Neggio Calabria: Garibaldi 215
nad) der Legende wunderbarer Weije in Teuer einhüllte, ala die
Heiden der Diana opferten. Übrigens hat auch Meffina ein
Andenken an den Apoftel Paulus verloren, die Statue der „Mutter-
gotted vom Brief" (Madonna della Lettera), der Hauptpatronin
der Stadt. (Der byzantinifche Gelehrte Konftantin Laskaris (1434
bi 1501) hatte einen Brief „entdedt”, den die Gottesmutter an die
Meſſineſen gefchict und den Sankt Paulus aus dem Hebräifchen ins
Griechiſche überſetzt hatte.)
Noch eines andern Apoſtels Name war mit Reggio verknüpft,
der Garibaldis. Ihm zu Ehren hatte man, wie ſchon erwähnt, eine
ſchöne Straße Corso Garibaldi genannt, in der auch ſein Stand⸗
bild ftand. Über der Stadt ragt der Bergrieſe Aſpromonte, deſſen
mit Tomnendidicht bejtandener Gipfel fait unzugänglicd iſt. Auf
ihm ward der italienifche Freiheitsheld am 29. uni 1862 von
General Pallavieini gefangen genommen. Der Held „zweier
Welten”, der auf Rom Iosmarjchieren wollte, hatte vergebens Blut-
vergießen vermeiden wollen, einer feiner Freijchärler troßte und
ſchoß gegen das Berbot auf die italienischen Brüder, worauf diefe
antmworteten.
Bei dem Bauernvolf der Umgegend ift jedoch nicht mehr Gari⸗
baldi der Held des Aſpromonte, ſondern der legte Brigant Kalabriens,
Mufolino, gegen den vor jieben Jahren die italienijche Regie-
rung eine Heine Armee aufbieten mußte.
Palermo, 31. Dezember 1908.
— herrſcht lebhaftes Treiben. Derjenige, der nichts
von * Kataſtrophe weiß, würde durch nichts aufmerkſam gemacht.
Doch aus einem Dampfer quillt jetzt ein „Zug der Vertriebenen“
hervor, wie ihn Hermann im Goetheſchen Epos wohl auch nicht
ſchauerlicher ſah. Der Himmel, der ſich erheitert hat, kontraſtiert
grell mit den Leidensmienen der Gequälten, die von Karabinieri
216 Balermo: Sizilianische Trauer
geführt, langſam zwei und zwei dDaherjchleichen. Biele find leicht
verwundet. Es ijt unnüß, mit ihnen zu reden; fie find verftört,
gänzlich teilnahmslos, Automaten. In der Stadt felbit ftehen die
Frauen auf den Balkonen, um nad) Neuigfeiten, nach anlommenden
Flüchtlingen zu ſpähen. Die Läden find halb geichloffen und tragen
über den Schaufenftern breite Florbänder mit der gedrudten Auf-
ichrift: „Lutto siciliano“ (Sizilianische Trauer). Auch der Berufs-
menſch im mir trauert. Voller Ungeduld ftrebe ich nach Meffina,
ungeduldig möchte ich auch telegraphieren, aber die Regierung hat
den Draht monopolifiert; die Depeichen werden mit der Boft
geichidt. Ach fahre zur Station. Gie ift verödet. Der Stationd-
vorfteher weiſt mich an einen höheren Poliziſten. Als Antwort
wurde mir: „Um nach Meſſina zu fommen, brauchen Gie einen
Erlaubnisſchein des Präfekten. Der einzige Weg ift über Catania;
denn die Linie der Nordküfte ift fünfzehn Kilometer vor Meſſina
zerftört. Privatreijende werden auch über Catania nicht befördert.
Aber vielleicht werden die Journaliſten als Amt3perjonen betrachtet.“
Und jo jaß ich feft; denn der einzige Tageszug geht nur morgens
um halb neun. Mio ein Tag verloren.
Balermo, 1. Januar 1909.
Geſtern Nachmittag jebte der Plabregen wieder über ganz
Sizilien ein, wodurch das Rettungswerk in Mefjina nicht gerade
gefördert wird. Die Trauerkundgebungen nehmen bier zu, Die
Straßenmwände bededen ſich mit Aufrufen, aus den Fenftern hängen
umflorte Fahnen halbmaſt. Die Zeitungen bringen faum neue
Nachrichten und meilt nur neben Klagen über den geringen Depeſchen⸗
verkehr, Erzählungen von Augenzeugen. Intereſſant ift darunter
der Bericht eines Gefchäftsreifenden aus Trient, der n Reggio
dienftlich zu tun hatte, aber am Abend des 27. Dezember, um fich
zu amüfieren, nah Meſſina gelommen war. Hier hatte er die
Meſſina: Die Schredensnacdht 217
ganze Nacht durchgeſchwärmt und ging um Halb fünf Uhr zum
Hafen, um die erjte Fahrt des Ferry⸗Bootes zu benutzen. Als er,
der Abfahrt gemwärlig, ji) über Dad Geländer lehnte, wurde da3 Boot
bom Meer in die Höhe gehoben:
Das Land, mit dem wir nod) durch das Tau verbunden waren,
zitterte; wir hörten Häuſer einftürzen und wurden dam gegen die
Kaimauer gejchleudert. Ich zog Pelz, Rod und Hut aus, um mich
ins Waller zu jtürzen. Aber dieſes wid) zurüd, und ein Abgrund
trennte und vom Lande, dann fchleuderten Riejenmwellen das Boot
landeinmwärts, und ich kugelte auf das feſte Land, während die Eifen-
bahnwagen auf der Fähre übereinander gervorfen wurden. Rajend
vor Angſt lief ich zur Station, die aber fat ganz zeritört war. Eine
Türe fteht noch; auf ihr fteht: „Stationsvorfteher”. Ich dringe ein,
falle und greife mit den Händen in eine Lache von Blut und Gehirn-
maſſe. Eine ſchreckliche Viſion! ch lag auf Leichen, denen die
Köpfe zerichmettert waren. Zuerſt war ich gelähmt, dann erwache
ic) und renne wie ein Beſeſſener davon. Ich ftoße auf einen jungen
Mann, der eine Reiche an den Füßen aus dem Schutt zieht und dabei
gräßlich „Water, Bater!” fchreit. Endlich hat er den Toten geborgen,
ala er ihn aber als tot erkennt, ſtürzt er fich mit dem Kopfe gegen
die nächfte Mauer, um ich jelbft zu morden. Ich fuche ihn daran
zu hindern; unmöglich, im nächften Augenblide hat der Rahnfinnige
fein Ziel erreicht. Darob fliehe ich dem Meer entgegen; denn dort
winkte Rettung, weil die Stadt nicht mehr eriftierte. Leute begeg-
neten mir, wimmernde Klagemenjchen und Verbrecher, d. h. Leute
aus Gefindelfteifen, melche die Überlebenden beraubten. Mir
nahmen fie Uhr und Kette. Dabei riefen jie: „Wir haben alles ver-
loren, die ganze Samilie, gebt und Geld, gebt und irgend etwas, wir
müffen leben!” Vielleicht waren auch dieſe Unglüdlichen mwahn-
finnig. Doch nur wenige Hunderte von Menſchen jah ich, jo daß
ich mich überzeugte, daß vier Fünftel der Einmohnerjchaft zu Grunde
gegangen fein mußten. Bald war ich am Ferry-Boot. Für zehn Lire
218 Meſſina: Plünderungsizenen
mietete ich einige Matrojen, die mich zu ihm ruderten. So Tonnte
ich mir Rod und Pelz holen. Wie ich nach der Station zurückkehre,
werde ich wieder von Gefindel angehalten, das mir zwanzig Lire
abnimmt.
Dem Neifenden gelang e3 dann, auf dem Umweg über Catania
nad) Palermo zu kommen, wo er aber vergebens ein Echiff fuchte,
da3 ihn nach Reggio brächte, wo er noch feine Mufterkoffer zu finden
hoffte. Ein höherer Eijenbahnbeamter, der feine Rettung dem
Umftande zufchreibt, daß er jeine Familie für die Feſtzeit nad) Meifina
hatte kommen laſſen, weil er fonft im Hotel (alle Hotels find, wie
ſchon gemeldet, eingeftürzt) gejchlafen hätte, und dem e3 gelang, feine
ganze Familie aus dem nur halb zerftörten Haufe feines Schwagers
zu retten, |pricht auch von den wilden Plünderungsbanden, die die
Eifenbahnitation ausraubten, ohne daß die Karabinieri dem wüſten
Treiben Halt zu bieten vermochten. Ein dritter Augenzeuge rühmt
den Heldenmut einer Dienſtmagd, die heimlich in ihr wankendes
Haus zurückkehrte und Kleider holte, weil fie es nicht mit anjehen
fonnte, wie die halbnadten Kinder ihrer Herrjchaft im Regen froren.
Ein Blatt berichtet, daß geftern Najfiaug Trapanimit
einer Hilf3erpedition in Palermo ankam und
mitdemnädften Zuge bi3 Rometta, dem jegigen
Endppunft der Nordbahn, weiterreifte, um von
dort nah Meſſina zu gehen. Die „Dra” hat auch lange Beſchrei⸗
bungen von dem gefährlichen Zuftand in dem ehemaligen Meſſina.
Bejonderd werde das Rettungswerk durch die Telegraphen- und
ZTelephondrähte erjchwert, die fih auf den Trümmern zu Neben
und Schlingen verwandeln. Auch erzählt da3 Blatt von einer
traurigen Szene im Gefängniffe, mo von dreihundert Gefangenen
dreißig und von ſechszehn Nonnen fieben gerettet wurden. Weil
Lebensmittel fehlten, mußte der Direktor alle frei laſſen.
Abgeordneter De elice, der Sozialift, der am 29. Dezember
die von mir gemeldete Alarmdepeſche an Giolitti fandte, wurde
Meflina: Menſchenſchlamm 219
nach feiner Rückkehr aus Meilina in Catania vom Korrefpondenten
der „Ora“ interviewt. Was er fagte, ift nicht befonders tröftlich.
Er war vierundzmanzig Stunden in der „toten Stadt” umbergeirrt,
ohne viel helfen, aber auch ohne ſich jelbit ftärfen zu können. Al
er nacht3 erſchöpft zur Station kam, bettelte er vergebens um Brot
und Waſſer. Auch fehlte es an Sibgelegenheiten: „Wir ließen ung
auf die Erde nieder. Unterdejlen wurde die Station von einer
Menge Wahnfinniger erftürmt. Um Gotteswillen, jchreiben, reden,
fchreien Sie doch in Ihrem Blatte, daß feiner mehr nad) Meſſina
reifen foll, fie ftören nur! Man braucht Arbeiter mit Haden, Spaten,
Schaufeln und Freimillige, die bereit find, Verwundete zu trans-
portieren. Die Züge, die mit Taujenden von Neugierigen ankommen,
erichmweren die Abreife der Verrmundeten. Die Verwirrung ift gerade
groß genug. Keiner foll mehr kommen, nur noch Arbeiter und Ärzte.
Und was das Schlimmite ift, zu den Arbeitämilligen und Rettung3-
eifrigen gefellt ich der Menfchenfchlamm, die Delinquenten, die aus
den bäuerlichen Gemeinden der Provinz wie Aasgeier herbeieilen.
Sie werfen fich auf die Leichen und rauben fie au, fie plündern und
verwüſten die Läden. Dazu kommen die entiprungenen Gefangenen.
Sie ftiften fat mehr Schaden als das Erdbeben. Unſere Freimilligen
zwingen fie aber mit dem Revolver in der Hand, den Raub heraus-
zugeben, und überliefern fie jelbft den Karabinieri. Meifina ift im
Buftand der völligften Anarchie. Es gibt feine Regierung, feine
Polizei mehr. Der Präfekt ift zu Tode matt. Auch weiß man nicht,
wer das Kommando hat. (Ganz wie in Kalabrien beim Erdbeben von
1905; Staliend Regierung lernt eben nie.) Die Karabinieri tun,
was ihnen beliebt, da3 Militär tut, mag e3 will, und die Polizei ift
mit dem Tode des Polizeipräfelten verſchwunden. Man braucht
eine Eifenhand, ein Organifationstalent, in deſſen Hand alles
bereinigt iſt.“
Das wird wohl wieder ein frommer Wunſch bleiben, Auch
1905 hatte man in Kalabrien in General2amberti einen Diktator
220 Meifina: Kein Paß
ernannt, aber er wurde bald durch parlamentarifche Einflüffe bejeitigt.
Ebenfo hatte man für Meſſina einen Diktator in der Perfon des
römijhen Korp3fommandeur3 ernannt. Gleich nach
feiner Ankunft mußte er ſich aber zurücdziehen, weil der bisher
frante Korpsfommandantpon Palermo, Gene-
tal Mazza, aus kollegialifcher Eiferjucht (?) fofort wieder gefund
wurde und fich jelbft als zuftändig meldete. Dazu kommt, ganz wie
1905 in Kalabrien, der Umftand, daß die Zentralregierung am grimen
Tiſch in Rom auch über das Kleinfte befragt fein will, wo doch
ſchnelle Entſcheidung an Ort und Stelle die Hauptfache wäre. Daher
die Monopolifierung der Telegraphenleitungen, die von den Staats-
depeichen fo belaftet find, daß Preß- und Privatdepefchen gar nicht
befördert werden können. Daher aud) die Kopflojigkeit. Heute
mittag verſprach mir das Kabinett des Präfelten einen Paß für
Meilina und fchrieb ſogar das Formular; heute abend wurde mir
gejagt, daß das Formular vom Präfekten nicht unterfchrieben werden
fünne, da mittlerweile von Rom aus die Meldung eingelaufen jet,
feinen ‚Außenfeiter mehr durchzulaſſen. Auf meine bejcheidene
Einrede, daß ich der Bertreter eines Blattes fei, das 1905 große
Sammlungen für die Erdbebenopfer und feinerzeit auch für die
Bejupopfer zuftande gebracht habe, erhielt ich feine Antivort. Roch
eins. Wiederum waren ed e ut ch e Hotelier3, die hier in Balermo
Flüchtlinge aus Meſſina Eoftenlos aufnahmen, während fizilia-
niſche Hotelbefiger jedem die Aufnahme vermeigerten,
der Tein Gepäd als Bürgichaft hatte. Und dabei jchwelgen die
Palermitaner in Manifeften, in Trauerfahnen und Trauerplafaten.
Was mich betrifft, fo reife ich morgen nad Catania, um zu leben,
ob der dortige Präfekt auch jo wenig Verſtändnis für die Preſſe hat,
daß er bei einem Journaliſten, der feine Pflicht tun will, die Aus⸗
nahmegeſetze buchitabengemäß anwendet, die gegen das Zuftrömen
des Geſindels beliebt wurden. Übrigens hat der auögiebige Plap-
regen die ganze Nacht Tonfequent angedauert.
Meflina: Dejerteure 221
Catania, 1. Januar 1909.
Einen wahren Kampf um einen Plab im einzigen Schnellzug,
der von Palermo zum Ätna führt, mußte ich beftehen, denn alles
ftrebt in die Nähe von Meffina auf der Jagd nach vermißten
Berwandten. Der Zug, der jonft für die Touriften dient (in nor-
malen Zeiten hat er auch einen Speiſewagen) war jchon eine Stunde
bor der Abfahrt überfülli. Die jonft jo ſchöne Strede ſchien auch zu
trauern. Schwere Regenwolken bingen am Himmel. An den
GStatienen verfrochen fi) die Bauern in ihren charakteriftiichen
Shawl; denn außer der Näſſe herricht auch die Kälte auf der „jonnigen
Inſel“. An dem Knotenpunkt, wo die Bahn nah Girgenti
abgeht, ftieg ein Feldwebel de3 83. Inf.Regts. ein. Er war ſchmutzig,
ohne Säbel, und fein Geficht jchien eine Mifchung von Dummheit,
Roheit und Geiſtesabweſenheit. Aufgeregt fchimpfte er gegen
jeinen Oberften, der ihn als Dejerteur behandeln wollte. „Aber
nachdem ich meine Familie, die buchitäblich nadt war, gerettet hatte,
mußte ich fie doch von Meſſina fort- und zu Berwandten in Sicherheit
bringen. Mich Dejerteur nennen, ich, der ic) allein zwanzig Per-
jonen, darunter jogar einen alten Profeſſor der Univerfität gerettet
habe! Da Hört doch alles auf! Ich werde mich beim Kriegs—
minifter beſchweren!“ Es gab fein Mittel, ihn zu beruhigen. „Sch
habe jeit dem 28. Dezember nicht gefchlafen!” Nur mit Mühe gab
er Ausfunft über feine Eindrüde. Er jagte nur, daß beim 83. Regi-
ment von fünfhundert Mann zwanzig übriggeblieben jeien. Damm
wiederholte er mehrere Male: „Mein Säbel liegt unter den Trüm-
mern!” und kehrte dann zu feinem Oberjten zurüd. Als er hörte,
daß ich nach Meſſina wolle, gejtitulierte er heftig: „Die Linie ift
unterbrochen. Sch habe in Girgenti nur ein Billet bis Taormina
befommen.” Der Mann it als Typ für viele bezeichnend. Das
Unglüd hat alle etwas größenmwahnjinnig gemacht. Sie find jozu-
jagen ftolz darauf, Zeuge der größten Kataftrophe der Welt gemwejen
au fein, und werden in dem Ton, wie Iphigenie jagt: „sch bin
222 Meſſina: Die Soldaten
aus Tantalus’ Geſchlecht“, noch ihren Kindeskindern ftolz jagen: „Sch
bin ein Überlebender aus Meſſina!“ Ein Piychologe könnte hier
bei den Gizilianern viel lernen.
ch frage den Feldwebelnahden Plünderungsjzenen.
&r beftätigt fie. Schon um fünf Uhr nachmittags des erften Tages
habe eine große Menge die Zolldepots geftürmt und Tuchpalete,
Bündel von Stockfiſchen, Lilörflafchen ufm. maſſenweiſe davon-
geichleppt. Neben mir ſitzt ein aus Neggio Calabria ſtammender
Karabinieri-Sergeant. Er ift ruhig, obgleich er jeit fünf Tagen keine
Nachricht über jeine Familie hat. Ihn bejchäftigt nur der Qual⸗
gedanfe, wie er es möglich machen foll, von Catania aus zu feiner
gewejenen Baterjtadt zurüdzufehren. Bor fünf Wochen hätte er in
Meſſina jtationiert werden follen; nun freut’3 ihn, daß daraus nichts
wurde, ſonſt wäre er jebt auch tot. Der Feldwebel ftärkt ſich unter-
dejjen. Er frißt hörbar. Als er jatt ift, Schweigt er. Und nun kommen
die übrigen Inſaſſen zu Wort. Für jie ift’3 ausgemacht, daß Meſſina
nicht wieder aufgebaut, und daß Milazzo an der Nordfüfte
Provinzialhauptitadt wird. Dann beichäftigt jie der Gedanke, was
aus den Millionen wird, die in den Staatsbanten, Privatbanten,
großen Gejchäftshäufern an bar vorhanden waren. Darauf kommt
Catania an die Reihe. Die Stadt ift überfüllt, e3 ift fein Logis
zu haben. Und was wird aus den Flüchtlingen, die die Regierung
doch nicht Monate Yang füttern kann? Und wieder kommt dag
Thema der Räubereien an die Reihe. Ein Bürger jagt, bei
einem Snfanterie-Unteroffizier feien 16 000 Lire gefunden worden.
Der Karabiniere brauft auf, erhält aber die Antwort: „Auch unter
der Uniform können Schurken fein. Vielleicht war e3 nur in diefem
Augenblid ungejchidt, die Sache zu veröffentlichen; denn wir dürfen
die Soldaten nicht ärgern, auf die wir jebt angemwiejen find.”
In Caſtro Giovanni laden Artilleriefoldaten 30 000
Konfervenbüchlen ein für Meſſina. Das Abfahrtzfignal ertönt.
Zum Glüd wird der Stationschef darauf aufmerffam gemacht, daß
223 Meſſina: Energie des Königs
auf der eingeleifigen Strede ein Zug jichtbar if. Der Armſte; auch
er hat, wie alle Beamten, den Kopf verloren. Der Zug fommt, er
ift vollgepfropft mit Flüchtlingen und Verwundeten. Grauenhafter
Anblid! Ahnliche Züge treffen wir in Aſſoro, in Bicocca.
Mit Starker Berfpätung iommen wirin&ataniaan. Der Bahnhof
ift geftopft voll von Meſſineſen, die ihre Angehörigen erwarten. St
da3 ein Jubel, ein Umarmen, ein Küffen! Auch vor dem Bahnhof,
mo Kot und Schmublachen liegen, fteht eine ungeheuere Menge von
Reugierigen. Und über diefer Aufregung tagt ruhig der Atna im
fchneeigen Unjchuldsfleid. Er ift heute Nichtraucher. Im Hotel
angelommen, jehe ich, wie eine vornehme verwundete Dame aus
Meſſina die Treppe Hinuntergetragen wird. Mein Kellner vergißt
mid) darob. Erjt nad) dreimaligem Anruf kommt er zu fich und num
lamentiert er über die grauenhafte Kataftrophe und über den König,
der jich täglich nur zehn Minuten lang nach Meſſina begebe. ch
will dem Dann nicht widerfprechen. Die unabhängige Prefje weiß
nicht genug die Energie des Königs zu preifen, der jelbit die Rettungs-
arbeiten dirigiert. Mein erfter Gang ift zum Präfelten. Ich treffe
einen römijchen Kollegen, der darüber Hagt, daß alle Telegramme
liegen bleiben. Er gibt mir einen Kollegen aus Catania mit, durch
deſſen Hilfe ich die Erlaubnis zum Beſuche Meſſinas erhalte. Das
erregt den Neid vieler Bürger im Vorſaal, die auf einen Anjchlag
zeigen, der befagt, daß auf Befehl des Miniftertums niemand mehr
nad) der verſchwundenen Stadt reifen dürfe. Seht habe ich auch
draußen Muße, mir das Stadtbild anzufehen. Die Straßen find
gefüllt, überall bilden fich Gruppen um Mefjinejen mit verbundenen
Köpfen, an allen Läden prangen Plakate in Riejenlettern: „National-
trauer”, an allen Eden leuchten Manifejte, Edikte, darunter eines
befagend, daß die Bürgerjchaft ruhig fein folle, denn von gejtern
drei bis heute früh um neun Uhr fei in Catania nur ein leichter
Erdftoß wahrgenommen worden. Beim Weitergehen jtellt mir
der Kollege den Abgeordneten Carnaz za dor, der mich deutſch
224 Meſſina: Streik der Schiffer
anſpricht und erklärt, zu meiner Verfügung zu jein, gleich darauf
aber jagt, Telegraphieren wäre für mich wohl undenkbar; auch die
Briefe erlitten unglaubliche Berjpätungen.
Nach und nach fammle ih Nachrichten über die Zuftände in
Meffina. Der Mangel an Rebensmitteln ift grauenhaft. Man
Tann fie nicht ausladen, weil die Schiffer ſtreiken. Erft um elf Uhr
abends de3 30. Dezember konnte man ein Depot an der verſchwun⸗
denen Fährbootbrüde zuftande bringen und geftern langſam mit der
Berteilung beginnen. Am meiften drüdt der Wafjermangel. Dann
fehlt e8 an Tragbahren. Und erjt geftern begann man mit der
Beerdigung der geborgenen Leichen. Auch konnte man die Tele-
graphenverbindung erft geftern wieberherftellen und zwar mit einem
einzigen Apparat, der einen Kilometer vom Bahnhof im Freien
iteht. Und dabei regnet e3 in Strömen; die Ärzte müffen im Freien
verbinden, da nur wenige Baraden errichtet werden Tonnten. Der
Buftand der Bevölkerung, die noch an Ort und Gtelle ift, hat fich
verichlimmert, dem moralischen Starrktampf der eriten Tage folgt
jet die von Hunger und Durft genährte Wut. Die Unglüdlichen
fluchen, was das Zeug halten will; alle wollen auf einen Dampfer
geführt werden, damit fie wenigſtens troden werden. Einige drohen
jogar, ſich ins Meer zu ftürzen, wenn man ihnen nicht helfe. Die
Barkenführer aber find durch das Unglüd jo ftörrifch geworden —
vielleicht haben fie auch abergläubiiche Furcht vor dem Meere —,
daß fie jelbit gegen die höchiten Angebote nicht fahren wollen. Ein
armer Familienvater mit fünf halbrnadten Kindern warf in der Wut
feine einzige Habe, ein Bündel Wäſche ind Meer, ala er feinen
Schiffer beftimmen konnte, ihn zu einem Schiff zu bringen. All-
gemein wird der Rettungseifer der ruſſiſchen Matrofen gelobt, von
denen fieben verunglüdten. Dan hält fie den italienischen Soldaten
ala Beifpiel vor, aber diefe haben in Meſſina Befehl, fich nicht eher
zu rühren, als bi3derGeneralftab in Ro m-— (!)den Opera-
tionsplan ausgearbeitet und dag Stadtgebiet in Zonen eingeteilt
Meffina: Piychologie der Maffen 225
hat. Die Plünderungen dauern an, überall hört man Revolver⸗
ichüffe. Auch die Stadtpoliziften, die fich vier Tage lang nicht ſehen
ließen, jchießen mie verrüdt auf die herrenlofen Hunde, die alle als
tmwutverdächtig erklärt worden find. “Dabei fteigt die Panik, weil die
Erdftöße fortdauern. Auch in Reggio, wo fiebzig Gefangene
ausgebrochen find, foll geplündert worden fein, mobei das Landvolk
der Umgegend mithelfe, weil, wie fie fagen, der ftrenge Winter die
Not vermehrt hat. In Meſſina wird das Arbeiten außer durch
die Plünderer und Müßiggänger durch den peftilenzialifchen Leichen⸗
geſtank erfchwert. Viele Verwundete fterben, auch nad) der ärzt-
lichen Hilfe, weil man fie nirgends. betten oder aus Mangel an
Transportmitteln nicht in Sicherheit bringen fan. Der König
ſoll außer fich fein über die allgemeine Kopflofigfeit und den Mangel
an Drganifation. Er kann feine Erregung, feine Nervofilät
laum mehr meijtern. Selbft die Höchften leiden; der Erzbiſchof,
der gerettet wurde, hat vier Tage lang weder zu eſſen, noch zu trinken
bekommen. Auch die Soldaten und Karabinieri find nervös gewor⸗
den. Geſtern nahmen ſie ſechshundert Leichenfledderer feſt und
daraufhin unterſuchen ſie jeden Paſſanten, der ihnen verdächtig
ſcheint. Wehe dem, der widerſpricht; ihm wird klar gemacht, daß
der Belagerungszuſtand erklärt iſt. Die Aufregung wird noch durch
allerlei Gerüchte geſteigert. So heißt es, die Lipariſchen Inſeln
ſeien verſchwunden, das Kap Peloro, nördlich von Meſſina, ſei nahe
daran, verſchluckt zu werden uſw. Auch von Reggio Calabria lauten
die Nachrichten immer ungünſtiger, weil wegen des hohen Meeres
eine Landung unmöglich iſt.
Soeben veröffentlicht der Abgeordnete Aprila de Cimia
einen offenen Brief an die Behörden von Catania, der in ſeiner
Art auch) ein Beitrag zur Piychologie der Maffen in Sizilien ift. Er
konſtatiert zunächlt, daß er, da er feine Landsleute Tenne, an ftarfe
Übertreibungen geglaubt habe, als die erſten kalaſtrophalen Nach-
richten aus Meſſina kamen, daß ihn aber der Augenschein an Ort und
Zacher: Im Lande bes Erbbebens. 15
226 Catania: Der Mob
Gtelle gelehrt habe, daß die Tatfachen die ftärfiten Phantajiegebilde
übertreffen. Dann mettert er dagegen, daß Hunderte, Taufende
von Catania aus bloßer Neugier nach Meſſina, aud) ohne Billet, auf
der Lolomotive, auf den Trittbrettern nad; Meſſina gefahren feien,
um ein Schaufpiel zu genießen, das fein Kinematograph ihnen bieten
fünnte. So feien am Abend des 30. Dezember 10000 Menjchen
auf dem Bahnhof von Meffina geweſen, die mit Gewalt die Rückkehr
erzwingen wollten und die Beamten mißhandelten. Kein Privat-
mann dürfe mehr in Meſſina geduldet werden, und alle Aufrührer
verdienten, auf der Stelle erjchoffen zu werden. In Catania follte
man aber, wenn es angehe, auf die Kanaille achten; denn die Stadt
jei von Militär und Polizei entblößt. Dazu feierten alle Arbeiter,
aus Trauer, aus Neugier, aus Angft, aus Suggeſtion, felbit die
Hafenarbeiter ftreilten, ohne allen Grund. Zum Schluſſe heißt es:
„Das mohltätige Wirken darf nicht Ausfchreitung werden, da3
Gefühl des Mitleid darf nicht zum Rauſch werden. Die edelite,
leidenſchaftliche Aufmwallung, aud) wenn fie von.idealer Begeifterung
getragen wird, erliſcht bald, wenn fie nicht vom Verſtand geleitet
wird." Damit ift de3 Pudels Kern getroffen. Die Gizilianer, wie
viele Süditaliener auch, haben bei Unglüdsfällen zu viel Herz, oft
auch auf der Zunge, aber fie werden Zopflos.
Die Überlebenden über Meffina.
Catania, 1./2. Januar 1909. :
Es will den hier vereinigten Überlebenden der Kataſtrophe
bon Meſſina noch immer nicht in. den Kopf, daß das graufame
Militär ihre Heimatitadt bombardieren und ftratifizieren und mit
Kalk zudeden will. „Calce sopra (Kalk drüber!).” Das Wort
iprechen fie mit jolch ingrimmiger Bitterfeit aus, daß es wohl bald
ſprichwörtlich werden wird.
Meſſina: Millionär und Bettler 227
Wie viel Menjchen habe ich in den lebten fünf Tagen gefprochen,
im Hotel, im Cafe, im Hofpital, im Rathaus, auf der Präfektur, der
Poft, im Eifenbahnmwagen! Und wie viele Leidtragende drängten
jich zu und Männern der Preſſe! Heute abend im Hotel erlebte ich
die Heftigften Schauer. Ich ſprach mit einigen Mailänder Kollegen
über die Kopflofigfeit des Präfekten von Catania. Der
Mann mußte von der Kataftrophe am Morgen des 28. Dezember.
Er mußte, daß die Telegraphenverbindung unterbrochen war —
warum telegraphierte er da nicht über Malta und London nad) Rom ?
Dann wäre dort das Riefenunglüd mittags bekannt geworden ftatt
abends, und man hätte fchneller Vorkehrungen treffen fönnen. Die
Mailänder gaben mir Recht. Doch ein Chaupin ſchimpfte derb in
allen Tonarten gegen die Fremden, die nur kritijieren könnten. Aber
nun jammelten ſich verjchiedene Herren aus Meſſina um mich und
nahmen meine Partei. Da ging e3 denn los. Kein Theater ver-
mag fold) lebendige Darſtellungskunſt zu zeigen. Ein alter würdiger
Herr, deilen Gejicht voller Schtammen und Beulen: ift, jagt dumpf:
„sh war Millionär, jet muß ich um. Almofen betteln, und
Dabei ift Die Ecke des Haufes, mo mein Geldſchrank fteht, intakt. Ich
mache mich anheifchig, mit Feuerleitern wenigſtens die wertvollſten
Papiere innerhalb tveniger Sekunden zu bergen, aber man wehrt
mir die. Rücklehr.“ Diefelbe: Klage wiederholt ein junger Mamt.
„Mein Onkel hat feinen Schreibtiich im erſten Stod. Er ift ganz frei
in einer ſicheren Ede. Mit einer. Leiter lann ic) heran, aber ich darf
nicht.” Und mit typiſcher Poſe kommt ein Dritter. „Sch Hatte. den
größten Bazar, meine Magazine ſind intalt, aber wer ſchützt fie?
Ich bin fallit, und Meſſina ift mir verſchloſſen!“ Und unifono ruft
der. Chor: „Was wird aus unferen Bapieren, Dokumenten, Geldern,
Geſchäftsbüchern, Juwelen, wenn erft der Kalk über den Trüm⸗
mern liegt!" Sa, der Kal, der Kalk brennt wahrlich fchon in ihren
Gehirnen. Ich hüte mich wohl, von der Peftgefahr zu reden; es
wäre ja Grauſamkeit, dem Elend mit Verjtandesgründen zu kommen.
15*
228 Meſſina: Leichenfledderer
Und nım tritt der Kellner auf und entichuldigt ſich, daß er jo ſchlecht
bedient habe: der Meffinafchreden Tiege ihm noch in den Gliedern.
Dann kommt ein fchöner Typ. & ift der Reifende aus
Trient, deffen nächtliche Fahrt in Meffina ich ſchon an anderer
Stelle geichildert Habe. Er ift ſchon fo oft interviewt worden, daß
er feine Rede am Schnürchen, wie ausgelerntes Zeug herfagt, aber
auch mit Wichtigkeit; denn wer einmal Gegenftand der Aufmerkſam⸗
keit der Prefje gemwejen, verträgt das nicht jo leicht. Er fühlt ſich
dann als höheres Weſen. Auch er zetert. Ich rate allen, da man
doch im Eldorado der Advokaten lebe, ſchon jett mit Advokat und
Notar einen Brotefta kt aufzujeten und durch Gerichtövollzieher
der Regierung übergeben zu laſſen, fo hätten fie doch für ſpätere
Reklamationen eine juriftiiche Unterlage. Das leuchtet ihnen ein.
Geltfam aber finden fie es, daß ein fo verflucht gefcheiter und echt
italienischer Gedanke gerade aus dem Hirn eines dummen Fremden
fommen konnte. Ein anderer Herr unterbricht und. „Wo blieb die
Flotte? Aha, Tittoni wollte fie mohl für den kommenden Ballan-
frieg aufiparen?” .... Ein anderer verlangt, daß der König
nad Catania — ſolle, um allen Geretteten ein Wort des
Troſtes zu ſpenden.
Im Veſtibül des Hotels große Verſammlung. Es Gerrit
flammende Entrüftung; denn ein Spezialforrefpondent der Tribuna
hat e3 gewagt, die fizilianijche Kopflofigkeit, den Mangel an
ſchneller Hilfe ſeitens der Sizilianer zu geißeln, die alle von der
Regierung erwarteten. „Der Elende! Wenn wir ihn für dieſes
Attentat auf Siziliend Ehre mißhandeln Lönnten!...” Als mar ich
beruhigt hat, feufzt einer: „Meſſina iſt Hin! Das fagt alles!" Ein
anderer Hlagt: „Was ift das Leben!" .Ein Dritter lieſt die Zeitungs-
überfchrift vor: „Ein Karabiniere von einem Leichenfledderer
getötet." Jetzt find wir beim Thema. Ausgebrochene Sträflinge
erdolchten Taltblütig jeden, der ihnen begegnete, um jeine Kleider
gegen die Gefängniskleidung zu vertaufchen. Die Bauern der
Catania: Rhetorik 229
Umgegend, die zwei volle Tage der Gejehlofigfeit Hatten, kamen
mit leeren Säden, die fie gefüllt forttrugen. Das Gefindel von ganz
Eizilien und Neapel war in Scharen angelommen und hatte fich
unter dad Kommando der einheimijchen Berbrechergilde geftellt.
Und wieder lieft jemand die Beitung vor. Im Stadtrat von Satania
hat ein Stadtverordneter über die Rebellionsgefahr gefprochen, die
in der Anweſenheit der vielen Taufende von Unzufrievenen liege.
Dabei hat der Stadtrat männiglich gegen den Fiskus proteftiert und
dann brav eine — Kommiljion zur Enquete gewählt. Das ift echt
italienisch, nur immer drauf auf die Regierung al3 Simdenbod. Der
Corriere von Catania hat heute die Überjchrift: „Il flagello governo
accresce le rovine del terremotol“ (Die Gottesgeißel-Regie-
rung vermehrt die Ruinen des Erdbebens.)
Semand eifert gegen den Shemati3mus der Offiziere
und den Zynismus der Bürger von Meſſina. „ch habe, da
niemand da war, dem ich meine arme Yamilie anvertrauen Tonnte,
mit der ich vier Tage in Hunger und Durft im Freien zugebracht,
zuerjt alle Meinigen nach Catania gerettet. Syebt höre ich, Daß jeder,
der feinen Poften verließ, als Dejerteur behandelt werden foll. Das
wollen wir einmal jehen! Ach war im Konflikt zweier Pflichten.
Welche war die größere?" — Und der Zynismus der Bürger? Eine
Dame lag ſechsunddreißig Stunden unter den Trümmern, über ihr
ihr toter Mann, neben ihr die fterbenden Kinder. Sie war leicht zu
retten, aber ihr Hilfegefcjrei beantworteten die Paſſanten mit den
fühlen Worten: Kümmern wir uns nicht drum!
Gehen wir weiter!" Eine andere Verjchüittete, die jammernd rief,
wurde von oben angerufen: „Bit Du Märietta?"” Als fie die Wahr-
heit fagte: „Nein!”, erwiderten die anderen mır: „Dann bleib
unten!" er
Sch habe genug. Auf der nächtlichen Straße fuche ich Erholung
und finde me Rhetorik. An den Wänden grinft fie in Formen
bon unzähligen ‘Plakaten, voll der hochtönendſten Phrafen, an den
230 Catania: Panik
Armen Hunderter von Eitelleitsprotzen lobt fie in feurigroten Kreuzen
auf weißem Grunde, aus dem Munde von zahlreichen angeblich
Geretteten prahlt fie vor Gruppen von Neugierigen. Dabei hätten
vielleicht zwanzig- oder dreißigtaufend Menjchen gerettet werden
fönnen, wenn ftatt fizilianiicher Rhetorik, ftatt römischer Zentrali-
Plöglich gedenke ich des Reiſebuchs. Es lobt die langen und
breiten Straßen Cataniag, die bejonder3 abend3 bei Lichterpracht
einen liberwältigenden Eindrud machten. Faſt fluche ich dieſem
Bude. Wie ich die leuchtende Zeile binaufblide, wo die beiden
Lichterreihen fich zu einer einzigen zufammenfpigen, da ift es mir,
al3 müſſe ich zwijchen Feuerbränden Spießruten laufen und unauf-
haltſam einem Ylammenfchwert entgegeneilen, dad meine Bruft
erwartet.
Und dumpfe Gloden höre ic) Hingen im Geilte. Der Trauer-
chor Schiller3 ertönt mir:
„Dem dunklen Schoß der Heiligen Erde...
... Bertraut der Sämann feine Saat... .”
Sa, Sämann Tod hat viele Saaten dem dunklen Schoße Meſſinas
anvertraut ... .
Doch wie leer find die Straßen! Wo find die Dämchen und ihre
Beſchützer, Dies Gejindel, über das ſonſt in Catania die Reifenden
jo oft Hagten? Und der Spottteufel packt mich, als mid) ein Kutjcher
gar zu widerlich beläftigt, ich frage heuchleriſch: „Wie ſchlägt man
hier den Abend tot? Gibt's Fein Variete, Fein Theater?" ..... Und
ftrafend fieht er mich an, fagt mit echt fizilianischer Würde: „Dio
mio! Bei diefer allgemeinen Trauer, bei diefem Leid, diejer Geißel,
diefer Gottesplage! ... Und auch an ung fommt die Reihe! Wer
weiß, ob wir morgen noch leben!" — —
Plötzlich wimmelt der Domplatz mie ein Ameilenhaufen. Ein
leichter Erdfto Hat die Bevölkerung auf die Beine gebracht.
Catania: Der heilige Sihleier 231
Sie will im Freien die Wiederholung des Meffinafchredens erwarten,
der unzmeifelhaft fommen muß ... Auf der Ylucht zum Hotel
treffe ich den tragischen Reifenden. Er ift mit mehreren Genoſſen
auf der Nachtreife von Bar zu Bar, wie früher in Meſſina vor der
Kataftrophe . . . | —
Wie ich nicht nach Meſſina kam.
GFahrthinderniſſe).
Catania, 2. Januar 1909.
„Mentre sovrano regna il dolore!“ (Während als Herrſcher
der Schmerz gebietet). So überſchreibt die hieſige „Azione“ die
Rubrik aus dem Erdbebengebiet. Eine ſchöne Geſte finden die
Süditaliener eben immer. Wir Leute des Nordens ſind anders;
unſere Trauer findet nicht ſo wohlklingende Laute. Die Trauer
äußert ſich in Catania auch ſonſt noch mit uns fremden Begleit-
ericheinungen. Ich möchte feinem begeifterten Stalienfahrer, der
da3 Land nur mit Goethes Augen zu beirachten pflegt, raten, jet
hierher zu fommen. Man muß fchon von italienischer Stepfis
angekränfelt fein, um nicht aufzubraufen über das Benehmen des
Bolfes. Ich Ichilderte bereits dag Chaos mit dem Leitmotiv: Ordre,
contre ordre, desordrel“ Ich ſelbſt habe auf der eindrüdereichen
Reife bis hierher faft ſchon verlernt, zu kritifieren und zu ftaunen.
Catania ift freilich die am meiften in Mitleidenfchaft gezogene
Stadt, weil e3 der Unfalfftätte am nächften liegt. Infolge des fort-
währenden Eintreffend von Flüchtlingen, des Anblides der Ver⸗
legten und der Wiederholung der. Erdftöße ift die Bevölkerung in
eine Panik verfegt worden, die ſich kaum mehr beherrichen Täßt.
Die niederen. Volksklaſſen fuchen einen Troft darin, daß fie den
„heiligen Schleier der heiligen Agatha, der
Schußheiligen der Stadt, in Prozefjion durch die Straßen tragen.
232 Meilina: Eine Hamletizene
Sobald der Schleier aus der Kirchentüre getragen wird, ftrömen
Männer, Frauen und Kinder herbei, um ſich, weinend und betend,
der Prozefjion anzufchließen und die Heilige um ihre Fürſprache
zu bitten.
In aller Frühe brach ich heute Morgen zum Bahnhof auf, ftolz,
bom Präfekten von Catania den Paß nach der „toten Stadt” erhalten
zu haben, den mir fein Amt3bruder in Palermo verweigert hatte.
Ich mußte lange warten, bis die Fahrlartenfchalter geöffnet wurden.
Ein arbeitlofer Gepäckbeamter ſah meine Ungeduld und erbot fich,
für mich den Fahrichein zu erjtreiten. ME ich ihm Geld für Hin-
und Rüdfahrt gab, meinte er lächelnd: „Das lettere ift überflüflig;
auch ohne Billett kommt man zurüd.” Sch hieß ihn ſchweigen.
Noch länger mußte ic) warten. Die Ungeduld machte mid) nervös,
und immer mehr umdrängte mich ſchmutzſtarrendes flüchtiges Bolt
aus Meifina, aber meine Augen waren fchon fo des Elend? jatt und
konnten kaum Neues ertragen. Und fein Lichtblid! Vom ſchwarzen
Himmel gießt es wie aus Kübeln. Wie meinen Augen, jo erging’3
auch dem, was die Deutichen „Gemüt“ nennen, bei mir. Sonſt
bin ich elaftifch, aber noch glich mein Inneres einem Gummiball,
den eine ftarfe Hand zufammenpreßt. Zuviel der Aufregung hatten
mir geftern die Schilderungen einiger Opfer aus Meſſina und zu
viel Arger ein Gang durch die Straßen geichafft.
Zwei Jäger fommen mit Hunden. Es ſcheinen Philojophen.
Meſſina ift ihnen Hekuba! ...
Meine Gedanken wurden Traumſpuk; an Vineta, an die ver-
ſunkene Glode, dachte ich, an Chidher, den ewig Jungen, auch an die
Szene, wo Hamlet mit dem Geiſt feines Waters ſpricht. Ganz
dasfelbe ereignete fich in Meifina. Der Abgeordnete Ful ei ftand
drei Tage lang an der Schwelle des Haufes, in dem ſein Bruder,
der auch Abgeordneter war, unter den Trümmern lag. Anderthalb
Tage lang fprach der Gerettete mit dem lebend zum „Unterirdifchen”
gewordenen Bruder, der dumpf antwortete, wie Hamlets Bater.
Meſſina: Räuberjagd 233
Und als er fchon den Geift aufgegeben hatte, wartete der andere
immer noch auf einen Zaut. Dann denfe ich an Schiller; denn der
„Zaucher" jpielt in demfelben Meſſina, deſſen „Braut Schiller
dramatijch behandelte.
Wie jagt doch Manfred von Meſſina?
„Wir bewohnen ein glüdliches Land,
Das die hHimmelummandelnde Sonne
Anſicht mit immer freundlicher Helle... .”
Bon Schiller zu Goethe ift nur ein Sprung. Man begreift jebt
den prometheilchen Troß, den Goethe in dem Helden feiner Ode gegen
Zeus ausbraufen läßt. Wie Zeus dem Knaben gleich ift, der Difteln
köpft, glich jet die Zerſtörungswut der Natur dem Wanderer, der
mit feinem Stod einen Ameifenhaufen zum Einfturz bringt. Bin
auch ich ein Opfer der Suggeftion? DerTrambahnfchaffner, mit dem
ich zur Station fuhr, Hatte refigniert feufzend jedem, der es hören
wollte, gejagt, daß auch Catania dem Zorn der Erde zum Opfer
fallen werde. Vielleicht blieb auch die Erzählung einiger Mailänder
Kollegen nicht ohne Eindrud. Sie hatten mir gejagt, daß fie geftern
in Taormina von den Soldaten mit dem Revolver zum Rüdzug
gezwungen worden feien. In Meffina felbft werde wegen der
Räuberjagd aud viel geſchoſſen. &3 fei daher nicht
geheuer. &3 Heißt, die Revolver in Meſſina feien hygieniſcher
Natur, da die Leichen zu verweſen beginnen, und die Regierung den
Ausbruch der Peſt fürchte, aljo die Berührung von Lebenden und
Toten vermeiden wolle... .
„Mefiina teilte ſich ...
„Schwert traf auf Schwert, zum Schlachtfeld ward die Stadt.”
Noch immer warte ih. Immer neues Elendsvolk kommt mit
den elendeiten Bündeln. Seht ergreift mich die Bedeutung des
Wortes: Bettelſack! Es find verhungerte, vielfah an Stim und
Kopf verbundene Leute. Bon ihnen kann man Geduld lernen.
234 Meſſina: Der Zorn des Todes
Oder ift es Stumpffinn? Endlich höre ich das Geräufch des Fahr⸗
ſchein⸗Schalters.
Wie ſich die Bilderverknüpfungen überſtürzen! Ich glaube
eine Heine Guillotine zu hören. Hat man nicht die große in Frank⸗
reich abjchaffen und fo den Tod um feinen Tribut betrügen wollen?
Sa, das war der Tropfen, der des Todes Zornesſchale überfließen
machte! Schon feit langem hatte jich der Ingrimm-Tod darüber
erboft, daß die Ärzte des Heinen Erden⸗Volles ihm mit ihren neueften
therapifchen Künften da3 Handwerk legen wollten. Ind da ftatuierte
er in Meffina ein Beifpiel, er hob die Riefenfauft, um zu zeigen, daß
er noch der Herr fei, und... Meſſinas, Reggiod Trümmer fchufen
200 000 Leichen. Zum zweiten Male holte Tyrann Tod aus. Und
iharfe Kanten hatte feine Knochenfauft. Glatt jchnitt fie Die beiden
Ufer der Meerenge ab, und als fie da3 Waffer traf, erhob ich dieſes
und ſchwemmte hinweg, was der. erfte Graus verfchont ..... Und
wallend und zifchend und braufend fehrte da3 Meer mit feinem Raub
zurüd in fein altes Bette.
Dreiviertel Stunden nad) der fahrplanmäßigen Zeit geht der
Bug ab. Bei einer Wendung bietet ſich ein ſchöner Blid durch den
Regenſchleier auf Catania, deſſen Schlote rauchen. Hier Leben und
in der Schweſterſtadt Meſſina Tod! Freilich ift e3 fein fröhlich
Leben, das Catania führt; denn fein Handel ftoct durch die Kata-
ſtrophe. Fröhliches Leben zeigt hingegen die phantaftiihh reiche
Begetation umher. Noc immer glühn, wie zu Goethes Zeit,
im dunklen Laub die Goldorangen. Doc) über diefer grünen und
goldenen Pracht jchallt eine dumpfe Kirchenglode. Der Trauer
ipottet das übermütige Meer. Mit weißen Schaumhänden, ein
mutwilfige3 Kind, kitzelt e8 den gezadten Bart der Küſte. Yon Zeit
zu Zeit zerreißt die Wolkenwand am Himmel. Und leuchtender
prangt dad üppige Grün ringsum. Aber bald zieht der Himmel
wieder den ſchwarzen Flor vor fein tränendes Sonnenauge. Auf
der Landftraße traben buntgejchmüdte Maultiere, die den befannten
Meſſina: Verwundetentransport 235
bemalten ſiziliſchen Karren hinter ſich ziehen. Herrlich gleißen die
Prachtgärten von Acireale, in denen mit ſpaniſcher Grandezza gelb⸗
geſichtige Leute mit Rieſenbackenbärten, pechſchwarz und glänzend,
und mit ſchwarzem Samtanzug prunken. Und Bäume tauchen auf,
die man im Norden nicht kennt.
Der Zug ſchleicht wie eine Schnecke. „Das geſchieht wegen
der Zuſammenſtöße, denn auf der Strecke herrſcht Durcheinander.
Geſtern fand en Zuſammenſtoß ftatt, den die Präfektur
freilich dementieren ließ, um der Panik vorzubeugen”, fagt mein
Gegenüber, ein Artilleriehauptmann. Ein Kontrolleur erfcheint;
er läßt mich meinen Paß vorzeigen; denn paßloſe Leute dürfen nicht
über Scaletta hinaus beförderi ‚werden. Ich frage ihn, ob ich in
Zaormina durchlomme. Er zudt die Achjen. „Mit dem Durd)-
einander ift’3 nicht genug,” fährt mein Gegenüber fort, „auch der
Boden hat Riſſe, und ich Habe aud) Angft vor den unfichern Tunnels.”
An Station Mangana Hält ein Zug mit Verwundeten. Mein
Gegenüber zeigt auf die elenden Geftalten: „Nur das ärmſte
Bolt hat fih in Meffina gerettet; die Reihen
mußten dran glauben.” Auch in Scaletta ift ein Verwun⸗
detentransport eingetroffen. Viele Bahren werden herangeichafft.
Ein Mitreifender weiſt auf das Beifpiel von San Franzisko Hin,
das fo fchmell wieder aufgebaut wurde, worauf der Artillerietapitän
jagt: „Das geichieht in Stalien n ich t, dafür bürge ih!" Wie bitter
das herausfam! Dann zeigt der Offizier auf feinen Bruder, der
gleich ihm gerettet wurde. Diefer zieht einen Hausſchlüſſel aus der
Taſche: „Mein Erdgeſchoß fteht noch, Diebe können nicht hinein,
aber auch ich nicht. Sch bin ruiniert. Sch Habe ſtets geglaubt,
Srundftüd-Befig fei jicherer als Börjenpapiere. Ich Tor! Jetzt
gebe ich nach Giarre, um bei reichen Verwandten zu betteln!” Ein
Schaffner kommt. Er bittet den Kapitän um Hilfe. Leute ohne
Billett find eingeftiegen, die entfernt werden follen. Nach zehn
Minuten hat der Kapitän, dem die Sache ſehr unangenehm ift, mit
236 Meffina: Deutihe Hilfsaktion
Hilfe von Gendarmen die Elimination durchgeführt. Der Zug geht
weiter. Der Kapitän erzählt eine Epifode, würdig der Feder eines
Montepin oder Dumas. Im Viertel San Priorato läßt fich ein
Retter am Tau in einen Keller hinab. Unten liegen ein Greis und
ein Yüngling. Beide kämpfen beim Anblid des Taus, wer der erite
fein fol. Der Greis erdroffelt den Jungen. Der Retter
umfaßt den Greiz, beide werden hinaufgezogen. Trümmer fallen
nieder, und der Greis kommt oben mit zerſchmettertem
Kopfe an!... Ein anderer Mann wird mit vieler Mühe gerettet.
Im Freien liegt er einen Augenblid im Starrkrampf, dann ſpringt
er auf, läuft wie toll zum Strande und fpringt ind Meer, vom
trodenen in den naſſen Tod... .
Der Kontrolleur zeigt fich wieder. „Der Leichengeftanf in
Meffina ift unerträglid. Heute beginnen wir mit der Mafjen-
verbrennung der Leichen. Überall ftürzen fich die verhungerten
Hunde auf die aufgeftapelten Toten und zerfleifchen fie...“ Der
Bruder ded Kapitäns lobt den Heroismus der ruſſiſchen
Marinefoldaten. „Ach was!” fagt erzümt der Kapitän,
„vie Kerl hatten fich zuerft in den Lilörläden befoffen. In der
Betrunfenheit Hat man’3 leicht, heroisch zu fein! Umfonft find auch
nicht fieben Ruſſen zugrunde gegangen. Dieenglifchen Marine-
joldaten waren vorfichtiger. Sie waren in Gruppen von vier zu
vier und beratichlagten vorher. Waren fie alle einig, fo gingen fie
ans Werk. Wenn nicht, fo risfierten fie nicht unnötig ihr Leben.“
Ich frage: „Wie kommt's denn, daß die fiziliiche Preſſe die Aktion
derdeutſchenLloydſchiffe nicht lobt, ja ſogar verfchmweigt ?"
Der Kapitän zudt die Achfeln. „Sa, es ift fonderbar! Immer lobt
man die Ruſſen und unjere Soldaten waren zur Untätigfeit ver-
urteilt, weil fein Offizier ohrre Befehl aus Rom zu handeln wagte!
Einfach ſcheußlich! ...“
Langer Aufenthalt. Ein anderer Offizier ſteigt ein und ſagt:
„Wir werden wohl erſt in der Nacht in Meſſina ankommen! Mir
Taormina: Militärkordon 237
gilt3 gleich. Seitdem ich die Kataftrophe mitgemacht habe, gilt mir
Beit nicht? mehr.”
Nach vierftimdiger Fahıt erreichen wir Giardini. Bald
fommen wir nah Taormina. No zehn Minuten. Halt!
Unſer Zug wird umzingelt. Truppen bilden Kordond. Alles muß
ausfteigen. Ich fühle mich gefeit, denn ich habe den Schußbrief des
Präfekten von Catania. Doch bald ſchwindet die Zuverjicht. Der
Platzkommandant, ein NRittmeifter, läßt jich die Päſſe vorzeigen.
Meiner ift ungültig. Der Präfekt hat nichts mehr zu jagen. In
Meffina ift der Belagerung3zuftand prolla-
miert. Diktator ift General Maz z a; nur Soldaten, Ärzte und
Beamte werden in Meffinad Gebiet eingelaffen. In meiner Nieder-
geichlagenheit Hoffe ich auf den Telegraphen; ich will an General
Mazza telegraphieren und bleibe zur Not in Taormina. Mühſam
winde ich mich durch die Menge, die ven Bahnhof füllt. Dort jieht
man deutiche Reifende, die verdrießlich find und ſchimpfen, Flücht-
linge und Verwundete aus Mefjina, die fluchen, was das Zeug
halten will, weil ihnen nach ihrer Meinung keiner Hilft, Kranken⸗
wärter mit Zazarettgehilfen vom Roten Kreuz, engliiche Damen aus
Taormina, die ein Hilfsfomitee gebildet haben. Endlich erwiſche ich
den Bahnhofsinſpektor. Er ift nervös: „Wenn Sie telegraphieren
wollen, müffen Sie hinauf zur Stadt fahren, aber das fage ich Ihnen:
vor drei Tagen befommen Sie feine Antwort!" Betrübt fuche
ich das Herz des Adjutanten vom Dienst zu rühren. Er ift die voll»
endetite Liebenswürdigkeit, aber er bleibt feft, fragt mich auch, ob
ih Soldat geweſen. Als ich bejahe: „Nun, dann kennen Gie die
Kriegsartifel. Befehl iſt Befehl! Sprechen Sie mit dem Kom⸗
mandanten!" Ich tu's. Der Nittmeilter ift ebenfall3 Tiebens-
wirdigfter Gentleman. „Mir blutet das Herz. Aber ich darf nicht!"
Vergebens appelliere ich als Kamerad an ihn: „Auch ich bin im
Dienſt. Ach bin als Soldat der Prefje kommandiert und muß meine
Pflicht tun; ich darf mir doch nicht den Vorwurf zuziehen, meine
238 Taormina: Zorn der Flüchtlinge
Pflicht verfäumt zu haben.” — „Sch veritehe volllommen. Aber
bitte, lejen Sie.” Und damit überreicht er mir Die Ordre Des Generals.
Mir flimmert3 beinahe vor den Augen; faft könnte man das Gruſeln
lernen, jo graufam ftreng ift fie. „Niemand darf durch, auch zu Fuß
nicht, alle Zugänge zu dem Gebiet von Meffina find abzufperren.
Bumiderhandelnde werden ſofort erſchoſſen!“ Das Militär
paßt nicht. Es machte mir ja auch in meiner Dienftzeit ſtets einen
eigentümlichen Eindrud, wenn bei der Verlefung der Kriegsartikel
der Refrain viel zu oft wiederfehrte: „Wird mit dem Tode beftraft!”
Der Stationsvorfteher tritt tröftend Hinzu. „Geftern wurden much
zwei Korrefpondenten vom „New York Herald" abgemwiejen. Gie
find nad) Taormina gegangen, von dort aber heimlich ent-
wichen. Gott gebe, daß jie ihren dummen Gtreich nicht zu be-
reuen haben.“
Alſo Hart vor dem Ziel gefcheitert. Aber das iſt force majeure.
Und „ultra posse nemo obligatur“, fage ich mir. Mein Entſchluß
iſt gefaßt: ich Lehre nah Catania zurüd. Diejer Entſchluß
kräftigt ſich, al ein ndrer Zug von Süden kommt, angehalten wird,
und diefelbe Sonderung der Reifenden erfolgt wie vorher. Aber
nicht alle Schidlen fich mit meiner Ruhe in da3 Unvermeidliche. Biele
Meflinejen, die gelommen waren, um aus den Trümmern ihrer
Häufer Wertjachen zu retten, fluchen und ſchimpfen gegen die Regie-
rung, den König, gegen Gott. Und die Offiziere hören alles mit
Geduld an; denn in dem glüdlichen Italien gibt es feine Majejtäts-
beleidigung und feinen Paragraphen 166, der von der Gottesläfte-
rung und den Einrichtungen der aneriannten Kirchen handelt.
Sch muß wieder warten. Und dabei wird der Regen zum
Wolkenbruch. Zum Glück Iommt ein Zug mit Flüchtlingen, dem
einige Paſſagierwagen vorgeſpannt find. Im Sturm auf Dieje
Habe ih Glück. Im Trodenen geborgen, kann ich die Geduldsprobe
bis zur Abfahrt beſſer beftehen. Aber der armen Soldaten, Ärzte,
Beamten gedenfe ich, die ohne Obdach in Meſſina und ohne Waller
Meſſina: Erdbebenmythologie 239
und Proviant hantieren, und der Taufende von Opfern, die vielleicht
noch lebend unter den Trümmern begraben liegen.
Dann jehe ich durch die Wollen nad) Kalabrien hinüber zur
Gegend, mo Reggio lag. Im Geijte fliege ich dann über die ganze
Cröbebenzone, die lipariſchen Inſeln, die Scylia, die Charybdis,
und mit einem Male erinnere ich mich an die naturgeſchicht—
lide Deutung die Mythologieprofefforen
der Sage von den Sirenen, von der Schlla und Charybdis gegeben
haben. Unter den zerjtörten Orten der Bone befindet fi) aud)
Catona, deffen Namen auf lateinifch unterirdifcher Ort oder
Hölle bedeutet. Nach Profeſſor Manzi von Palermo ift e3 nicht
unwahrſcheinlich, daß der Ort diefen Namen erhielt, weil er als die
Türe oder der Vorraum des finjteren Erebus, aljo der Stätte galt,
wo die Verdammten vom Teuer, dem heißen Waſſer und den mephi-
tifchen Erhalationen des Erdinmern geplagt wurden. Bei Catona
lag aud) der Sage gemäß der Fluß Crataia, perjonifiziert als die
Mutter der Schlla, die ihre Herrſchaft über die Schatten mit Schred-
gejpenftern und dem Geheul der ſtygiſchen Hunde ausübte, das als
Borbote der ſeismiſchen Kraftäußerung galt. Ohne Ziveifel haben
die älteften Erdbebenkataſtrophen an der Meerenge von Meſſina
zur Ausbildung der Diythologie geführt, wonach neben dem Meer-
beherricher Neptunus Aeolus, der Windgott, auftritt, der vom
Vulkan Stromboli und den äoliſchen (jet lipariſchen) Inſeln aus,
wie Neptun die Erde, fo durch die Stürme da3 Meer erjchüttert.
Und in ihrem Gefolge tritt dann mit ihrer Tochter Scylla die fürchter-
liche Crataia auf, die unterirdifche Göttin, der fi) als Schweſtern
zugefellen Circe, Erate und Proferpina, die befanntlich nach der.
griechiſch⸗ römiſchen Legende in Sizilien ober in Kalabrien von Pluto
geraubt wurde. Der Mythus al naive Erklärung der Natur-
fataftrophen verlegte nach Theflalien den Sieg des Olymps tiber
die Titanen, welche die zügellojen, rohen Erdgewalten ſymboliſierten,
aber der parallel laufende Kampf zwifchen den Menfchen und den
240 Meilina: Birgil und Erdbeben
vullanifchen Kräften findet feine Stätte an der Meerenge von
Meilina. Der lateiniihe Olymp ift der über Reggio di Calabria
dräuende Alpromonte, die Gegend zwiſchen Catona und Meſſina
entfpricht dem griechiichen Tal Tempe. Co findet ſich auch der
Name crataia, der einen Hohlkegel bedeutet, der von der Wirkung
des Waſſers immer mehr verbreitert wird, auch in dem cofentiniichen
(bei Coſenza in Calabria) Tal Erati, ſowie in dem Crati, da3 bei
Aegea lag, einer Stadt Kleinafieng, die ebenfalls ftet3 von Erdbeben
heimgefucht wurde. Ihr Name wedt aber die Erinnerung an den
Giganten Aegaeos, den fünfzighändigen Mann mit fünfzig Bäuchen,
den Jupiter mit Ketten binden ließ. Aber der Name Aegaeos wird
mit dem der anderen Giganten Enceladus, Antaeus verwechielt,
auch mit dem des Typhoeus, der nach der virgiliihen Sage vom
fiegreichen Olymp mit Blitzen gebändigt wurde und dann mit feinem
maßlo3 großen Leibe unter den ävliichen Inſeln, dem Veſuv und
dem Epomeo (auf Jschia) lag und feine Krallen über Kalabrien und
Meſſina ausftredte. Er galt als tot (al3 die vulfanifche Tätigfeit in
der Meerenge aufhörte), aber er erwachte mit [chlimmer Wut, öffnete
die flammenden Augen in den Vulkanen der äolifchen Snfeln,
verbrannte Städte und Wälder und feine Flammen fpiegelten ſich
wider zwifchen der Schlla und der Charybdid. Bon diefem gigan⸗
tiihen Drama ift die Legendenmwelt der Meerenge von Meſſina
infpiriert, und nad) Olympiadoros (bei Photius) wird daran
erinnert, daß die Antiken in der Nähe von Catona als Abwehr gegen
Gröbeben eine. Statue errichtet hatten, die aus einem Fuße. ewig
Feuer und aus dem andern ftetig Waffer ſpie, womit wahrſcheinlich
auf den Strom des Magma angefpielt werden follte, der zwiſchen
Scylla und Charybdis durd) das Waffer der Meerenge von Meſſina
getrennt ift. Und noch eine Erinnerung taucht mir auf. Viele
Geologen behaupten, daß die heutige Kataftrophe tektoniſch, d. h.
durch die Bildung fchüffelartiger Höhlen in der Erdrinde entſtanden
jei. Nun hat aber ſchon Birgil von einer Höhle geſprochen, die unter
Taormina: Ein weicher Spötter 241
den äoliſchen Inſeln Tiege und in der das Echo von den Ambos-
Ichlägen der Zyklopen in ihrer Atnaſchmiede ertöne. Alfo wiederum
nicht3 Neues unter der Sonne!
Ein Stoß weckt mid; auf. Der Zug fährt weiter. Der Regen
läßt nach. In feiner ganzen Herrlichkeit ragt Taormina, hinter
deſſen Bergen das Grauen wohnt. Bald, denn diefer Zug ift ein
Schnellzug, fommen wir wieder in die Zaubergärten von Giarre
und Acireale. Drangenhaine mit dem Untergrund von grünem
Blätterplüfch erblice ich wieder, anheimelnd halbdunkel, Taufchig
und. fo ſtimmungsvoll, als hätte fie Botticelli gemalt.
Ich jehe mir meine Mitreifenden an. Zwei Meffinefen, zwei
elegante Neapolitaner, zwei weinende jech3zehnjährige Buben und
ein totgejichtiger Beamter aus Palermo. Der Iettere Hatte lachende
"Augen, jedoch auch ein weiches Herz. Wie beredt fchilderte er feine
Arbeit am Morgen des 29. Dezember in der Trümmerftadt und die
Kopflofigkeit der von all zu viel Herren ommandierten Beamten und
Offiziere, welch’ Iettere mit ihren maderen Soldaten vor Wut
Tchäumten, weil fie Opfer der finnlofeften Befehle waren und auf
eigene Fauft nicht retten durften! „Es wäre zum Lachen, wenns nicht
zum Weinen wäre! Und da ſoll's einmal Mobilmachung werben!
Ha, Ha! das kommt vom grünen Tiſch!“ Wiederum beftätigte jo
der gute Mann, daß viele Spötter nur fpotten, um nicht an der
Weichheit ihres Herzens zu Grunde zu gehen.
Das Geheul der Jungen wird ftärker. Einer der Neapolitaner,
die ſechs Tage lang vergeblich verfucht Hatten nach Meſſina zu
fommen, um ihre Verwandten zu fuchen, gibt ihnen Brot und Fleiſch.
Das tröftet fie ein wenig; fauend fagen fie, fie Hätten Mutter und
Geſchwiſter aus den Trümmern gezogen und nad) Catania gebracht.
Jetzt hätten fie zurückfahren wollen, um Wäjche zu holen, aber man
Tieß fie nicht nur nicht durch, fondern zwang fie auch, die legten zehn
Lire, die fie befaßen, zur Rückfahrt nach Cataniazuopfern. Der zweite
Neapolitaner fagte darauf mit ſchalkhaftem Ernſte zu dem größeren
Zacher: Im Lande bed Erbbebens. 16
242 Acireale: Moral des Südens
Sungen: „Es iſt beifer jo, mein Junge! Du wärſt doch er
ſchoſſen worden, da die Soldaten Dich wegen Deiner fchlechten
Kleidung für einen Leichenfledderer gehalten hätten. Bielleicht
wärſt Du auch der Verſuchung erlegen; denn wenn im Schutt
Golduhren und Diamantbrojchen frei herumliegen, jo zuden Die
Hände, und da wärft Du noch unfehlbarer erfchoffen worden!“
Diefe Anfprache tat ihre Wirkung. Einige Zigaretten, die man
den Jungen fchentte, wirkten noch mehr; fie verftummten von
nun an. |
Und nun wird die Trage aufgeworfen, ob Meſſina auf-
erftehen wird oder nicht. Der erjte Neapolitaner jagt
lehrhaft: „Sicherlih. Laffen wir alle Sentimentalität beijeite.
Der Drangen- und Bitronenhandel der Provinz muß einen Ausweg
haben; denn durch den Transport nach Catania wird die Provinz
durch Verteuerung der Produkte konkurrenzunfähig. Sie werden
jehen, in ſechs Monaten fteht auf dem Boden von Mefjina eine
Pavillon- und Baradenftadt.” — „Aber wo baut man denn?" wirft
der luſtige Palermitaner ein. „Der Hafenkai ift eingeftürzt, in der
Unterftadt ift dag Meer auf gleichem Niveau mit dem Lande.
Übrigens ſoll auch die Infel Uftica verschwunden fein und der Vulkan
Stromboli rumort. Lachen Sie doch, meine Herren, Über die Wiſſen⸗
ſchaft. Sie hat bankerott gemacht, und da fie das Phänomen nicht
erklären kann, fand fie das Wort „tektoniſch!“ Stöhnen und Geufzen
de3 Dideren von den beiden Mefjinejen unterbricht die Rede. Der
Palermitaner fieht forfchend, mit den ängftlichen Augen eines Arztes
auf ihn. „Sch fterbe”, jagt der Dide. „Seit dem Unglüd habe id)
Kolik, und Hier ift feine ritirata; auch hält der Zug nicht.“ In der
„Frankfurter Zeitung” las ich Fürzlich ein Feuilleton über „Die
Moral de3 Süden?" Daran wurde ich erinnert, ald das
ganze Abteil, ſoweit die Inſaſſen italienisch waren, fich wie ein Mann
boll Mitleid erhob: „Nur feine Umftände, Urmfter! Vorwärts! Wir
drehen und um!" Und fo geichah’s. Nach fünf Minuten atmete
Acireale: Siziliicher Stolz 243
der Mann, der vor Angft und Aufregung dem Schlagfluß nahe
gemwejen war, erleichtert auf.
Wie gelbe Diamanten chillen die Zitronen aus dem Dunkel
heraus, denn da3 Regenbad hat ihnen frifchen Glanz verliehen. Aber
mit der Schnelligkeit hat’3 ein Ende. In Acire ale werben, da
Catania überfüllt ift, viele Verwundete ausgeladen. Das dauert
lange. Zum Glüd fteigt ein alter Herr ein, der launig fich jelbft und
feine Landsleute perjifliert und ung jo die Zeit vertreibt. Er zeigt
unter anderm auf einen großen Palazzo, der bloß einen Oberbau
hat und unfertig liegt. „Den zweiten Stod errichtet der Beſitzer,
wenn feine Kinder heiraten; denn dafür find wir zu ftolz, um unwür⸗
dige Mietsſpekulationen mit dem Haus zu treiben, das und gehört.
Gerade jo ftolz waren früher unfere Nobili, die fich nicht herabließen,
jchreiben zu lernen. Jetzt iſt's freilich anders. Wechjel unterfchreiben
können fie heute wenigſtens.“ Dieſe böfe Satire auf fiziliiche Gran⸗
dezza wird durch die Ungeduld zweier feiner Neapolitaner unter-
brochen, die erboft über das lange Warten beratichlagen, ob fie nicht
ausfteigen follten; denn fie fürchten ji), da fein Zug jie am Nach-
mittag mehr weiter bringt, in Catania zu bleiben, dag nach ihrer
Anſicht zum Untergang verurteilt ift. Diesmal laſſe ich mich aber
nicht fuggeftionieren. Zum Glüd beitimmt der Heine Herr Satiriker
die Neapolitaner, wenigſtens bis Ealtanifetta weiter zu fahren und
dort zu übernachten; zum Dank für ihre Nachgiebigfeit hält er nun
einen lehrhaften, aber durch Humor gemilderten Vortrag über die
Gegend und ihre Namen, die alle noch griechifchen Urſprungs ind.
Meffina und feine Toten find vergeffen. Der Lebende hat recht.
Über feltiam bleibt e8 doch, daß auf diefem Hiftorifchen Boden der
Lebende, wenn er ſich geiftig ergöben will, unmilltürlich wieder zu
den Toten — vor 3000 Jahren zurückkehrt. Als diejes Thema
erſchöpft war, ging man zur Poeſie über. Denn auch dieſe pflegt
‚man in Sizilien, wenn auch nicht in dem Grade, wie in Sardinien.
Der Heine Satirifer wird feierlich und Tieft aus der neueften Zeitung
16°
244 Catania: Die Zyklopen
ein Gedicht des Stolzes von Catania, des vaterländiichen Poeten
Mario Rapifardi vor, da3 aus Anlaß der Kataſtrophe die
Charitas feiert. Gemaltiger Regenfturm macht der weihevollen
Stimmung ein Ende. Bon naſſem Schleier bededt jchimmern Die
„Seogli dei Eiclopi”, jene bizzarren Felsinſelchen, die einjt Der
Zyklop dem fliehenden Odyſſeus aus feiner Höhle mit Wucht als
Wurfgeichoffe nachgefandt. Bald kommen wir auf den Bahnhof
bon Catania, mo der Waflerguß die allgemeine Konfufion noch
fteigert. Schnell rette ich mich über Kot und Schmußlachen des
Vorplatzes auf da3 Lavapflaſter der Hauptitraße. Wie jagt Schiller?
„Auf der Lava, die ber Berg gejchieden,
Möcht ich nimmer meine Hütte bauen.“
Auf der Rüdfahrt von Catania.
Palermo, 4. Januar 1909.
Geſtern, Erin: reifte ich nach Palermo weiter, mit Neid
betrachtet vom fchmeizerifchen Hoteldireftor. „Auch ich möchte fort,”
fagte er. „Die Panik ſteckt an. Bei jedem leichten Stoß mache ich
nacht3 auf, fahre ich am Tage zufammen. Dazu das Gefindel hier!
Wenn das anfängt! Gejtern nacht haben fie auf der Straße mit
Nevolvern gekämpft!“ Vor dem Bahnhof treffe ich eine Schar Kol-
legen aus Rom, Staliener; fie find außer ſich. „Wir leben ohne
Fühlung mit den Erdbewohnern“, jagte einer. „Die Leute vom
Militär haben einen Vorzug; fie können menigftens telegraphieren.
Sch glaube, die Regierung hält alle Telegramme zurüd, worin fie
getadelt wird, abgejehen davon, daß hier nicht nur Draht, jondern
auch Poftmeldungen liegen bleiben. Es ift unerhört, daß eine fo
‚große Inſel und noch dazu jet nur durch ein Poftichiff täglich und
nur durch ein nebenbei noch krankes Kabel mit dem Kontinent ver-
bunden ift !” In der Bahnhofshalle hätte ich mir gern den Gtift eines
Meſſina: Das Chaos ! 245
Menzel, den Pinjel des Landstnechtmalerd Diez gewünſcht. Wie
viele „fragwürdige Geftalten”! Unmillkürlich kommt mir Shafefpeare
in den Sinn. Hier könnte fein Coriolan mit Recht von dem „ftinfen-
den Atem der Pleb3" reden; denn Knoblauch ift an der Tagesordnung.
Und dieſes Sammeljurium in den hergeliehenen Kleidern, die aber,
denn „ſtolz lieb ic) den Sizilier“, mit der Grandezza eines Hidalgo,
namentlid) von würdigen Greifen, zur Schau getragen werden.
Und wie fie ſich gegenfeitig die einzelnen Stüde zeigen und mitteilen,
wo und von wem fie fie erhielten! Die Einleitung der lebhaften Unter-
haltung ift aber immer: „Ich war vollftändig nadt!" Ein Lizentiat
Bohn würde erjchauern vor Scham. Ein Beamter erzählt laut:
„Ich hörte e8 vom Mailänder Abgeordneten ve Andreis. Yın
haben fie in Reggio faft gelyncht, weil er Brot hatte. Übrigens
ift die Stadt Hin. Geftern haben ne 2500 Flüchtlinge per Salt
gerettet.”
Eine Stunde vor der Abfahrt gelingt's mir mit Hilfe meines
Paſſes, auf den militäriſch abgeſperrten Bahnhof und in ein Abteil
des Schnellzugs zu kommen. Zwei Regierungsbau—
meifterau3 Palermo folgen mir nach. Die Wartezeit ver⸗
fürzen fie mit dem Cröbebenthema. Am Nachmittage des Kata-
jtrophentages hatte man fie amtlich nad) Meſſina gefchidt, um den
Nettungsdienft organijieren zu helfen. Zwanzig Silometer vor
Meſſina hörte die Eifenbahnverbindung auf. Wagen gab es nicht,
Sie requirierten — e3 war Nacht — Arbeiter, die ihr Gepäd tragen
jollten, und mit Fadelichein ging’3 zu Fuß mweiter. Nach vier. Kilo-
meter Marſch ließen die Arbeiter das Gepäd ftehen und brannten
mit den Fadeln durch. Die Herren mußten aljo im Dunkel und mit
ihrem Gepäd meiter. In Meſſina Chaos; feine Behörde war dort,
die Offiziere Hatten feine Ordre, die Organijatoren mußten aljo un-
tätig bleiben. Dazu fümmerte jich niemand um ihre Verpflegung.
Sie erhielten nicht einmal Waffer. Eine Kifte mit Orangen, die fie
erptopriierten, war ihr einziges Subfiftenzmittel. Am fünften Tage
246 Catania: Der Harem
wurden fie fortgejchidt; da jetzt das Militär befehligte, hatte bürger-
liche Baukunſt nichts mehr zu jagen.
Da mid) Palerno auch ſozial ſtets interefliert hat, frage ich
nad) der Mafia. „Eriftiert fie no?" Ein fcheuer Blick ringsum
und dann: „Und wie! Aber man Hat im Norden eine faljche Vor⸗
ftellung von ihr. Es ift feine Organifalion, fein Bund. Mle Gleich-
geſinnten, die fich von feinem Geſetz befehlen lafjen wollen, ver-
fammeln fich, wenn's not iut, zu lieblidem Tun!” „Und der Er-
abgeorvnete Palizzolo, der dreimal wegen de Mordes des
Direktors der Bank von Gizilien, Notarbartolo prozeffiert wurde ?“
— Auch den Fall verfteht man im Norden nicht. Der Mord ift
myſteriös. Sicherlich wurde Notarbartolo getötet, weil er einer
mächtigen Stlique zu ehrlich war. Ob aber Palizzolo zur Mafia
gehört, ob er am Mord beteiligt ift, chi lo sa? Er lebt jehr ftill von
einer Heimen Rente, die er durch eine Vortragstourmde in Nord»
amerika vermehrt hat; er ift jehr beliebt, und wenn er im Frühjahr
fir die Sammer kandidiert, wird er wiedergewählt.” — „UUnd Naſi?“
— „Auch er ift wie Palizzolo da3 Opfer einer Intrigue. In drei
Jahren erjteht er wieder, dann ift er ein neuer Mann. Und er muß
wieder an die Macht kommen; denn es ift das einzige politifche Talent,
das Sizilien hat!"
Seltſam! Wie anders als in nordifchen Köpfen malt ſich in
biejen hier die Welt! Meine Neugier wird reger. „Wie fommt’z,
dag in Satania das Leben fo ftill ift? & fehlt an
Cafés, Reftaurants!" — „Sa, wir jind hier ſchon in Afrika. Es gibt
nur Yamilien-PBatriarhieen, Stämme, Kliquen, wie Sie ed nennen
wollen. Dieje Sippen haben leine Berührung miteinander. Die
Frau ift Eigentum. Man jieht fie Sonntags nur zur Mefje gehen,
bewacht von ſechs bis acht männlichen Mitgliedern des Clans. Wird
ein Fremder zu Tiſch geladen, befommt er kein weibliche Weſen zu
Geſicht!“ Der Erzähler lachte vor ji) hin: „Und dann erft der ultra-
ſpaniſche Yamilienftolz! Denken Sie ſich nur: Wenn ein Familien-
Centuripo: Wohltätigkeit der Bauern 247
mitglied ftirbt, und man hat fein Geld zur feierlichen Beftattung, fo
wie e3 die Familienehre geftattet, jo verheimlicht man den Tod,
ſcharrt die Leiche ein — und veranftaltet bei finanzieller Hochflut
en Sheinbegräbni3.. .”
Unterdeffen wird e3 lebhaft. Unſer Zug ift mit Verwun—
deten vollgeftopft. Mir gegenüber jiben drei, ein gefchundener
Eifenbahnarbeiter, und zwei Frauen aus dem Volke, fchredlich ver-
bunden an Kopf, Bruft, Armen. Der Mann ächzt, die rauen
ſtöhnen, huſten, wimmern.
Der Himmel hellt ſich auf. Der Atna ſtrahlt. Eine dichte
Rauchwolke ſtößt er vergnüglich aus. Ein Burſche von ſechzehn
Jahren bengelt ſich in unſer Abteil hinein und ſchreckt die Verwun⸗
deten: „Auf der Strecke iſt's nicht geheuer! In Caltagirone ſind
Häuſer eingefallen, mehrere Tote, die Tunnels ſind beſchädigt!“
Und dann entwickelte der frühreife Lump einen Plan, wie man jetzt
als Reſtaurateur in Meſſina Tauſende verdienen könne. Hätte ich
den Kerl doch ohrfeigen können —, aber wir find im Lande der Frei⸗
heit. Und gegen den Fremden hätte jich ganz Sizilien, fo weit es
im Abteil vertreten war, empört. |
Der Zug fährt bald durch grüne Hügelfteppe. Kein Haus weit
und breit. Nur die roten Blüten des Opuntiusfaftus zeugen von
Leben. An den einfamen Landftationen find dann und mann flinten-
bewaffnete Hirten zu Pferde zu jehen, die Indianern gleichen.
Plöglich, an der Station Genturipo, wird e3 wieder leb-
haft. Biel Volk iſt verfammelt, gleichwie zur Speifung
der Fünftaufend. Hat die Erde e3 ausgejpieen? denn ringsum fein
Dorf zu erbliden. „Das ift da3 Herz Siziliend! Die Bauern haben
Mitleid!" ruft irgend wer im Abteil. Richtig, ich ſehe Komitee-
Männer mit der roten Kreuzbinde. Und Rieſenkörbe voll Brot,
Wafferkübel, Wein- und Lilörflafcehen werden herangetragen. Und
— ich ſchäme mich für fie — felbft elegante Neifende nehmen die
Gratisfpende an, Unfer frühreifer Gaunerbengel ergattert gar zehn
248 Palermo: Wohltätigfeitäfpaziergang
Brote und Stapelt fie im Gepäcknetz auf. Und die liebreichen Bauern,
bon denen manche durch hochintelligente Gefichter überrajchen,
werden nicht müde, neue Gaben zu reichen. Und von jet ab an
allen Stationen dasſelbe Bild der Opferfreudigfeit de3 niederen,
wahrhaft guten Volks. ch glaubte mich in die Zeit von 1870 verſetzt,
wo ich die Schule ſchwänzte, um am Bahnhof den Kriegern Liebes⸗
ſpenden zu reichen.
Heute früh Wärme, Sonnenfchein, blauefter Himmel. Das
Frühlingsmetter tut feine Wirkung. Gefchäftiges, fröhliches Leben
in den Straßen von Balermo. Die Trauer ift verfchwunden.
Wer denkt noch an die Mefjinefen? Doch Halt! Um zwölf Uhr er-
tönen: Trompetenftöße. Die Studenten in ihren farbigen
Barett3 machen emen „Spaziergang der Wohltätig-
feit”. Das Komitee fährt in Wagen voraus. Neben ihm rafjeln
luftige Studenten mit großen Sammelbüchfen. Hintendrein folgen
Leiterwagen, auf die die Ummohner Kleider und Wäfchebindel
legen. Ich kamn mir nicht helfen, aber die ganze Sache riecht nach
Rarneval.
Auch am Abend gedenkt man der Verwundeten. Die Theater
find gejchloffen, folglich eilt alles zu den Rinematographen,
wo liebliche Muſik ertönt; denn die erften authentifchen Bilder vom
Kriegsſchauplatz Meffinas find eingetroffen.
Der wifjenfchaftlicde Bericht.
Palermo, 4. Januar 1909.
Jetzt erjt liegt der erite offizielle wifjenfchaftliche Bericht über
die Kataflrophe vom 28. Dezember vor. Er entitammt dem Leiter
de3 meteorologijchen Obſervatoriums von Catania, Profeſſor
AU. Riccòô. Darin heißt es:
„Das Erdbeben zeigte feine größte Stärke am
Kap PBeloro bei Meſſina und in der Südſpitze von Kalabrien,
Meſſina: Erdbebenbericht 249
Die größte Verheerungszone erjtredt ſich von Caftroreale (meftlich
von Meſſina) bis Balmi in Kalabrien auf einer Strede von 60 Kilo-
metern. Die ſchweren Verlegungen von Häufern liegen in der Zone
bon Ripofto bei Catania bis Pizzo in Kalabrien auf einer Strecke
bon 140 Kilometern. Schwere Erdftöße wurden vernommen von
Noto (Südoſtſpitze Siziliens) bis Cofenza (Nordlalabrien) auf einer
Gtrede von 300 Kilometern. Mle italienischen Obfervatorien ver-
zeichneten das Erdbeben. Das erfte ausländische, da3 ung telegra-
phierte, war das von Laibach. Das Erdbeben war ein doppeltes;
e3 hatte vertifale Stöße und Wellenbewegungen. Es wurde auch
auf den Liparifchen Inſeln wahrgenommen. Seit dem erſten Stoß
um 5 Uhr 20 Minuten morgen? am 28. Dezember wurden in
Catania fünfzig immer ſchwächer werdende Stöße regi-
friert. In Meſſina mwurden in der Nacht vom 28. auf den
29. Dezember 38 Stöße gezählt. Das Erdbeben war von einem
Meerbeben begleitet. Die Wellen hatten mehrere Meter Höhe,
und das Meer berubigte ſich erit nach zwölf Stunden. Es forderte
in Catania zwei, in Ripojto fiebzehn Menfchenleben und zeritörte
dort auch viele Barken. Die Kataftrophe verurjachte auch überall
in ihrer Zone Erdlawinen nd Erdrutjche, die unzählige
Dpfer forderten. Bemerkt muß merden, daß während des Erd-
bebeng und der folgenden Stößedie Bullane Atna, Strom-
boli und Bejup ſich ruhig verhielten, man kann
aljo die vulfanifche Natur des Phänomens ausfchließen. Die Richtung
des Erdbebens war diejelbe, wie 1783 und 1894, nämlid) von N. N.
O. nah ©. S. W. Diefe Richtung fällt zufammen mit der großen
Bruchlinie in der Erdlinie, auf der der Atna ruht, und die durch die
Meerenge von Meſſina und unter Meſſina herzieht. Die Gegend,
die fich bis Noto Hinzieht, ift geologifch genommen roch ſehr jung,
alſo noch von den eſogeniſchen Kräften zu jehr bedroht, die dem
Boden noch nicht die definitive Stabilität gegeben haben. Der
Menjch Hatvielzu früh diefe Region bewohnen
250 Meflina: Leichtfinn im Bauen
wollen, da ihn das warme Klima, die Schönheit der Landfchaft
und die Truchtbarfeit des Bodens lockten; abgejehen von dem
ihönen Meer und der Verkehrsmöglichkeit in der Meerenge. Er
errichtete Hier feit undenklichen Zeiten ſtolze Städte, aber von Beit
zu Zeit beftraft die Natur den Leichtfinn und die Tollkühnheit. Zu
diefem Wagemut der Menfchen gefellte fich vie Un wiſſenheit;
man wählte als Baugründe Stellen, die ſehr gefährlich waren, und
man war auch zu leichtjinnig im Baumaterial. Auch war dieſes
Baumaterial dazu infofern noch ungeeignet, als e3, was die Steine
anbetrifft, polygon oder unregelmäßig war, mobei noch ein zu ſchlechter
Mörtel verwandt wurde. Und, ala ob alles das noch nicht genügt
hätte, wagte man es fogar, Balazzi von vier und fünf Stodwerlen
zu errichten. Das war eine Herausforderung der Natur.”
Diefer Bericht hat einen großen Eindrud gemacht und die Leute,
die e3 ſich leiſten können, zur Flucht aus der Erdbebenzone vermodht.
Sie wollen mwenigftens die unausbleiblichen Nachſtöße abwarten,
meil der Erfahrung gemäß neue Ruhepauſen von mehrjähriger
Douer darauf folgen.
Politiſche Stimmungsbilder.
Palermo, 5. Januar 1909.
Viel Neues liegt heute nicht vor. Ich kann alfo nur eine Leſe
von vereinzelten Nachrichten ſowie Stimmungsbilder politischer
Natur jchiden. Sehr bezeichnend für fizilianifche Zuftände if, daß
die „Sicilia“ von Catania in einem Artikel mit der Über-
jchrift: „Nehmen wir die Arbeit wieder auf!" gehamifchte Protefte
losläßt gegen die Eitelfeitsritter nd falſchen Wohl⸗
täter, die wie Pilze aus der Erde ſchöſſen, um fich einen Namen
zu machen, fich Kredit zu verfchaffen, oder Orden, Gehaltözulagen,
Avancement oder Reichtümer einzuheimfen. Gegen diefe Spefu-
lanten des Unglüds, die die herrſchende Verwirrung nur vermehrten,
Catania: De Felice 251
müſſe mit aller Energie vorgegangen werden. Wie unverfhämt
freilich diefe Spekulanten des Unglüd3 find,
bemeift ein Zeitartifel der „Azione” von Catania, worin ein Herr
Simili die Rachricht fommentiert, daß die Regierung einen Kredit
von 600 Millionen für Meſſina bewilligen wolle. Dann jchreibt er:
„ME Catania im Sahre 1693 duch ein Erdbeben vernichtet
wurde, zählte es 25000 Einwohner. 18000 Einwohner gingen zu
Grunde, der Reit von 7000 blieb aber an Dirt und Gtelle, folglich
war der Wiederaufbau der Stadt logiſch. Aber in Meffina ift niemand
geblieben. Es fei alſo befier, daß die Regierung 100 Millionen für
Catania gebe, Damit e3 für die geflüchteten Meſſineſen neue Stadt⸗
teile bauen und fie bi3 dahin verpflegen fünne. Die andern 500
Millionen aber müßten erſt recht Catania gegeben werden, damit
dieſes feinen Hafen ausbauen und fo den Hafen von Meſſina erjegen
könne.“ Die Ausführungen, womit diefe Unverſchämtheit begründet
wird, mag ich nicht wiedergeben. Sie find zu heuchleriih. Was
fol man zu dem Ganzen jagen? „Niedriger hängen!”
Smemer Stadt, wo ſolche Auswüchſe des krafjeiten
Egoismus möglich find, lohnte es jich, eine Heine Enquöte über ihren
„Herrn“ zu veranftalten. Es ift der Abgeordnete De Felice,
der feinen Ruhm und fein Mandat als Opfer der Unruhen der
„fasci“ von 1894 erhielt. Seine Gegner jagen von ihm, er ſei erit
1893 Sozialift geworden, weil ihm der Präfekt fein leichte? und nahr⸗
haftes Staatsamt geben wollte. Ich kenne den Mann perjönlich,
wie unfereina die Abgeorbneten in Rom kennen zu lernen pflegt.
Etwas andres ift e3, die Herren in ihrem natürlichen Milieu zu ſtu⸗
dieren. Hier jagt man von ihm, er fei jehr mtelligent, ermangle
aber der Kultur; das niedere Volk ſchwöre auf ihn als feinen Tri-
bunen. Ein Wink von ihm, und die Stadt jei in Revolte. Er ſtehe
gut mit Giolitti, der ihm nach Art liebender Väter zugleich mit
einem Badenftreid) eine Liebkoſung zu geben pflege. Solche Ele-
mente, wie er, feien aber [chädlich; denn da er kein Vermögen, aljo
252 Catania: Müßiggang
nichts zu verlieren habe, könne er nur alle gewinnen durch politifche
Machenſchaften. Augenblidlich fei er von einer wunderbaren Afti-
bität, er reiſe zwiſchen Catania und Meſſina Hin und her, bearbeite
die Preſſe, um den Präfekten von Catania, feinen Feind, zu ftürzen,
Der Zufall wollte, daß ich, nachdem ich alles das gehört hatte, vor⸗
gejtern Nacht im Veſtibül meines Hotel3 De Yelice traf, mo er einem
Chor von Abgeordneten und Sournaliften geoße Reden gegen den
Präfekten und die Regierung hielt. Als er mich fah, ftürzte er auf
mich zu, überhäufte mich mit Liebenswürdigkeiten, und al er erfuhr,
daß ich zweimal vergeblich verfucht hatte, nach Meffina zu kommen,
erbot er fich, mich perjünlich Hinzugeleiten. Außerdem bat er mid),
am andern Morgen in da3 Schweizer Bierhaus zu fommen, da er
alle Speziallorrefpondenten in die Hofpitäler führen wolle. Sch
ging auch Hin der Wifjenfchaft wegen, aber ala De Yelice auch dort
zunächſt ala Volksredner auftrat, drüdte ich mich Still. Als ich geftern
abend Hier in Palermo ankam, traf ich mit einigen Mailänder
Politikern zufammen, die ebenfall3 von De Felices Ehrgeiz ſprachen
und dabei bemerkten, er wolle zur Belohnung dafür, daß er das
Bolt im Zaume halte, Vizekönig von Gizilien werden (!!). Auch
das ift bezeichnend für die hiejigen Zuftände.
In der Tat ift der Umstand, daß, wie ich ſchon fchrieb, in C a-
tania alle Arbeiter feiern und die Zahl der wirklichen
und angeblichen Flüchtigen aus Meilina immer mehr wächſt, ein
Moment der Beunruhigung. Die Polizei ſchiebt zwar von Amts
wegen alle nicht aus Meſſina gebürtigen Opfer de3 Erdbeben —
bi3 gejtern 1200 — nad) ihrer Heimat ab, aber e3 bleiben der arbeits-
Iofen und unzufriedenen Mäuler, die von der Stadtverwaltung und
der bürgerlichen Mildtätigfeit gefüttert und gefleidvet werden müſſen,
noch viel zu viele — und Müßiggang ift aller Lafter Anfang! Darum
bombardieren die ſizilianiſchen Abgeordneten den Minijter der
Urbeiten mit Telegrammen, er möge doch fchleunigjt öffentliche
Bauten in Angriff nehmen, Nun wird zum Unglüd die Arbeitz-
Meflina: Polemiken 253
lofigfeit durch den Aberglauben gefteigert; denn fortwährend er-
folgen noch Erdftöße, die dem Volk jede Luft zum Arbeiten nehmen,
‘da diefes doch unnüß fei, wenn Catania da3 gleiche Schidjal wie
Meffina haben werde. Außerdem fordern alle Abgeordneten von
der Regierung, fie möge verhüten, daß fich die Skandale von 1905
wiederholen, weil damals bei dem Erdbeben im Kalabrien jede
‚Aktion der Regierung durd) den Zwiſt zwischen dem Militär und den
bürgerlichen Beamten gelähmt wurde. Der Bürgermeifter der von
De Telice beherrichten Stadtverwallung jendet Protefttelegramme,
weil die Regierung die erjchöpfte Stadtkaffe nicht füllt. Die Be-
fitenden in Catania find voller Unruhe, weil die Stadt von Militär
entblößt iſt. Die Handelswelt wünjcht, daß die Verfallszeit aller
Wechſel auf Monate prolongiert werde. Kurzum, es ift ein Chaos.
Die hiefigen und die von Rom eintreffenden Zeitungen
jind unterdeffen — auch ein Zeichen der Zeit und des Milieus —
vollvon Polemiken. Die „Ora“ ſchimpft auf die römische
„Tribuna“, weil dieje gegen die jizilianifche Indolenz wetterte. Die
„Tribuna“ jchrieb nämlich unter anderem, die Zuftände in Meffina
feien jeßt ſchlimmer als am Tage nad) der Kataftrophe, wie felbft die
Meſſineſen jagten. „Wenn Stalien im Stiege die Hälfte feines
Heeres verloren hätte, könnte das Unglüd nicht größer fein. Es iſt
eine Schande, wie Sizilien Meffina vernachläfjigt hat!" Der Abg.
Colajanni (Republ. Sizilianer) Hatte an die Prejje Brote ft-
telegrtamme über die ſchlecht Aktion der Flotte
und der Regierung gejchidt. Der „Avanti“ in Rom bejtätigt Cola-
jannis Bejchwerden und rügt, daß die Regierung Kalabrien ganz
vergeffen habe. Die italienischen Behörden hätten immer Kopf-
loſigkeit gezeigt, auch Die Marine, die ſich jo 1866 die Niederlage von
Liſſa zugezogen habe. Gegen diefe Angriffe proteftieren aber nicht
nur Marineoffiziere, fondern ud) Giolitti Hat fich zu zwei
Unterredungen herbeigelafjen, in denen er alles aufzählt, was die
Regierung geleiftet habe, und drei Übel nennt, von denen alien
254 Palermo: Schöne Humanität
in diefem Augenblide betroffen worden fei: da3 Erdbeben, die Lei-
chenfledderer und die Baiſſiers an der Börſe, welch Iebteren er
freilich da3 Handwerk gelegt Habe, indem er ihnen die Börfe mit
dem Vorwand der Nationaltrauer ſchloß. Zum Shluß de-
mentierte Giolitti wiederholt die Meldung,
daß Meffina bombardiert würde. Freilich ſechs
Monate lang müffe deſſen Gebiet durch einen Truppenktorbon zerniert
werden, um Infektionen oder gar den Ausbruch) der Peſt zu verhüten.
Bon Palermo nad) Neapel.
Bor der Abfahrt nad) Neapel machte ich einen Rundgang durch
die Straßen Palermos. Da im Hotel die Zeitungen immer
die gleichen blieben, fuchte ich in den Cafés und konnte feſtſtellen,
daß Sizilien immer noch von der Welt abgeschnitten ift; die Blätter
au3 Deutjchland reichten bi3 zum 30. Dezember. Ab und zu be-
merkte man vomehme Damen, die, von verwandten Herren be-
gleitet, Geld für die Verwundeten fammelten. Wie häßlich flach
Dagegen da3 Benehmen der „Signori“ ab! Schon bei meinem
legten Aufenthalt in Sizilien fchrieb ich bittere Gloſſen über das
unjoziale Verhalten der „Herren“, der „capeddi“ (Hüte), die es
lieben, ihren elegant ausgeftatteten Klub an der Hauptittaße zu
ebener Erde anzubringen, wobei Schaufenjter in unglaublicher
Größe beliebt find. Da3 macht fi) nun abends bei heller Beleuchtung
fehr vornehm, wenn die Herren jo ihre Großmächtigleit zur Schau
tragen. Wenn fie fich aber jet erjt recht proßig auf ihren Fauteuils
täfeln, jo ift das ein Schlag ins Geficht der Humanität. Und das
laffen fich die Armen hier bieten? Am Main. und am Rhein winde
das demokratiiche Volk die Herzlofen ſchon Mores lehren.
Underthalb Stumden vor Abgang des Dampfers — das Billet
hatte ich drei Tage vorher beftellen müfjen — verfuchte ich an Bord
Meſſina: Ruſſenfreundſchaft 265
zu kommen. Ach mußte mich durch ein Knäuel balgender Menjchen
Hindurcharbeiten und verlor mein Handgepäd mehrere Male aus
den Augen. Auf dem Ded traf ich einen deutichen Kollegen, der
feit dem 29. Dezember ohne Verbindung mit feiner Redaktion war;
auch er jammerte über den unbefchteiblichen Wirrwarr. Während ich
mit ihm rede, fehe ich, wie einige Gizilianer die Beſchwörungsgeſten
machen. Sie trauen dem Dampfer „Marco Polo“ nicht. Vor
Monaten brach ihm mährend der Fahrt die Achje, fpäter noch die
zweite Schraube. Er wurde in Reſerve gejtellt, aber jeßt bei dem
großen Mangel an Schiffen auf gut Glück wieder herangezogen.
Nette Ausfichten! Und nun höre ich den Stewart noch jammern:
„Wo foll das Hin! Das Schiff ift ja ſchon geftopft voll! Und immer
neue „profughi“ (der Ausdrud für die geretteten Meſſineſen)
kommen!“
Zwei Stunden müſſen wir warten. Die Abfahrt verzögert
ſich, weil die Poſt (ſie hat auch Telegramme von mir) noch nicht
fertig geworden iſt. Das Meer iſt ſtill und glatt. Friedlich erglänzt
es im Mondſchein. Beim Nachteſſen komme ich ins Geſpräch mit
meinen Nachbarn; & find Regierungsbaumeiſter, auf
der Rückkehr von Kalabrien und Meſſina. Sie erörtern als Faſch—⸗
leute die Kataftrophe: „Bon Kalabrien wollen wir nicht
reden; dort find in den Heinen Städtchen die Häufer aus Feldſteinen,
Schlamm und Kot zufammengefügt, wahre Maufefallen. Uber auch
in Meffina hat man zu leichtiinnig gebaut und geradezu tollfühn
mit den Eifenträgern gewirtſchaftet. Unverantwortlich!“ Und dann
kam das Geſpräch auf den Heroismus der Ruffen. „Ja,
jo find wir Staliener. Im ruſſiſch⸗japaniſchen Krieg haben wir die
Japaner gepriejfen und die edlen braven Ruſſen verachlet. Jetzt
ſehen wir, mo Edelmut iſt.“ Nach dem Eſſen erlebe ich eine Szene,
die in Deutjchland undenkbar wäre. Ein Smfanteriehauptmann,
dem man die Mattigleit vom Gelicht ablieft, wünfcht, daß man ihm
nachferviere. Der Stewart zudt grob die Achſeln. „Militärbillette
256 Meffina: Zeitunggmandver
zahlen dritte und geben Aufenthalt in zweiter Klaffe; hier darf ich
Sie nicht dulden!” — „Uber, wenn die zweite Klaſſe von Verwun⸗
deten überfüllt ift, mas foll ich tun?" — „Das geht mich nichts an!"
Und der Hauptmann geht mit Bliden ab, die töten könnten. Ich
wende mich wieder zu den Baubeamten. Sie glauben, daß Meffina
zur Zeit der Kataftrophe 180000 Einwohner hatte; auf 20.000
Ichäten fie den Zuzug der Urlauber und Verwandten, die zum Weih-
nachts⸗ und Neujahrsfeft dorthin gelommen waren. Dann fragen
fie ſich warum man die Leichen nicht verbrenne, da die Beerdigung
im Kallkgrabe doch auch eine Verbrennung darftelfe. Dann kommt
das Thema der Kopflojigkeit der Beamten wieder an die Reihe.
In Bagnara rettete man ein Mädchen, dem die Beine zerichmet-
tert waren. Die Erpedition des Roten Kreuzes hatte aber feine chir-
urgiihen Mefjer. Das Mädchen ging alfo, weil Amputation un⸗
möglich twar, zu Grunde. Auch die Sentimentalität fommt zu ihrem
Rechte. Ein ruffiicher Offizier verliebt fich in ein verwundetes
Mädchen, das er gerettet hat. Es wird an Bord gefchafft; al er
ipäter nachkommt, findet er es tot. Dann fehlt auch die wunderbare
Rettung einer Familie durch einen Papagei nicht, die wohl die
Runde durch alle Blätter machen wird. Ich bin ficher, daß es ſich
um Erfindung eines Reporter? handelt. Sie find überhaupt
findig, au mande Zeitungen Man Tief
TZelegramme aud Orten, wo gar feine Tele-
graphenperbindungen eriftieren; aud operiert
man mit falfher Datierung — der Konkurrenz
wegen. Go reproduzieren fizilianifche Blätter, die von den
Baubeamten herumgereicht wurden, da3 Telegramm eines Pariſer
Blattes aus Reggio, von einem Tage an datiert, mo auch die Re-
gierung aus jener Unglüdsftadt noch feine Nachricht haben konnte.
EI Uhr. Das elektrifche Licht erlifcht. Aus der Ede des Salon
ertönt ein Proteftfchrei: „Aber ich muß arbeiten!" — „Tut nicht8“,
erwidert der Stewart, „Ordre des Kapitän; die Leute, die Teine
Meſſina: Alpdrud 257
Kabine haben, wollen und müfjen hier fchlafen!” Ich fehe mir
den Proteitierenden an. Es ift der norwegifhe Dichter
Bernt Lie, der dem jugendlichen Björnſon gleicht. Er ift ver-
zweifelt. „Sehen Sie”, fagt er mir, „ich fam durch Lift vor dem
Belagerungszuftand nach Meffina. Ich bin hundemüde, phyſiſch,
geiftig, moraliſch. A die Tage war ich unfähig zu arbeiten, zu
denken. Das Elend ift unfaßlich. Und dann der Leichengerud), der
mic mein ganze Leben lang verfolgen wird! Dazu feine Kabine.
Schlafen kann ich ſchon feit einigen Tagen nicht, und ob mir's in
diejer Ede gelingt?”
Sch gehe auf's Ded der dritten Klaſſe. Neben mir jagt ein
höherer Offizier: „Ganz wie in Kalabrien!” In der Tat, wie dieſe
Armſten der Armen auf den Platten liegen, wie Pakete, kunterbunt
übereinander. Leben ſie überhauptnoch? Einzelne zerlumpte Männer
haben fich in Deden fo eingehüllt, daß fie Säden gleichen. Und
dazwiſchen eine Idylle. Ein Rotkäppchen, pausbädig, drei Jahre
alt, figt heiter und ftill zwiſchen all dem Elendspolf und ſpielt mit
einem Tuchfeben, den e3 fich zur Puppe gewandelt hat. Das Bild
wirkt im Mondſchein noch Tieblicher.
In der Kabine find wir zu drei Mann. Nummer eins ſchnarcht
fchon, daß die Wände zittern. Nummer zwei, der ſich gerade jchlaf-
fertig macht, ein jympathifcher, vornehmer Herr: „Ob wir fchlafen
können? Dies Schnarchen ift ja Erobebengetöfe!" Cr hatte recht.
Schlaf fanden wir alle beide nicht. Das war fchon Fein Schnarchen
mehr Hinter dem roten Borhang, nein, Schluchzen, Stöhnen, unter-
drücktes Schreien eine Gewürgten. Am andern Morgen, ald der
Schnarcher für einige Nugenblide die Kabine verließ, jagte Nummer
zwei mit gepreßter Stimme zu mir: „Sch muß um Entichuldigung
bitten. Gejtern abend mußte ich nicht, wer der Herr war. Syebt
Tenne ich ihn. Es ift der dritthöächite Beamte im PBoftminifterium.
Er hat acht Verwandte in Meſſina verloren und ift bis heute ohne
Nachricht. Den hat diefe Nacht der Alp gedrüdt.”
Bader: Im Lande bed Erbbebens. 17
258 Meilina: Ein braver Mann
Nachher komme ich mil dem Schwergeprüften ind Geſpräch.
Nachdem ich ihm. vergebens Troft zugeiprochen, lenkt er ab und
Ipricht von dem braven PBoftbeamten,dem es zu ver—
danken fei, daß die Regiecung fo verhältnis-
mäßig ſchnell unterrichtet wurde. Er tat Dienft
im Poftwagen zwiſchen Meffina und Siracuſa. In der Unglüds-
nacht war er frei und ſchlief in Mefjina. Als der Stoß erfolgte,
hatte er die Geiftesgegenmwart, fich unter die Türpfoften zu flüchten
und blieb jo heil. Er wartete von halb ſechs bis halb jieben auf
neue Stöße, damn Hetterte er über die halb erhaltene Treppe ins
Freie, rollte jeinen Dienftmantel über den Rüden, um jich gegen
herabfallende Steine zu fchügen und kroch über die Trümmerberge
bis zum Strande. Bon dort lief er zum Zentralbahnhof, und, als
‚er diefen zerjtört und feinen Zug fand, ging er zu Fuß über Giarbini
(Taormina) längs der Geleife bis Scaletta, wo er ein dringendes
Telegramm an den Provinzialpoftdireftor von Siracuſa abgab.
Durch ihn erfuhr das Unglüd als der erfte der Poſtminiſter, der den
Minifter de3 Innern benacdjrichtigte. Leider glaubte man zunächft
in Rom, die ſüditalieniſche Embildungstraft habe übertrieben; als
man aber die ganze Größe des Unglücks kannte, verheimlichte man
ſie, um dem Volke die Kunde ſtückweiſe beizubringen; denn der Ein⸗
druck der Wahrheit hätte bei den vielen Meſſineſen und Kalabreſen
in Rom, Neapel, Palermo Tumulte hervorgerufen. Und ſo ſprachen
wir noch lange über den Gegenſatz zwiſchen Nord und Süd, über die
Vorherrſchaft der nordiſchen Plutokratie, die Süditalien wiriſchaft⸗
lich gerade ſo behandle, wie früher Frankreich ganz Italien gegen⸗
über verfuhr. Auch das Thema Naſi wurde angeſchlagen; denn es
beherrſcht die Sizilianer noch immer. | rn
Doch ich ging auf neue Kunde mı3. Beim Kaffee treffe ich
mehrere Abgeordnete und den Senator Paterno, den Direktor
des Zentralgefundheitsamtes; er erklärte, „Seneral Mazza iſt
ein guter Soldat, aber fein Mann der Aktion, von einem: Bom-
Meſſina: Nervenchok 259
bardement Meſſinas iſt feine Rede mehr, höchſtens würden partielle
Sprengungen vorgenommen, aber erft nad) Wochen”. Die Stadt
ift in acht militäriiche Zonen eingeteilt; jede Zone erhält an der
Peripherie einen Spezialkirchhof, mo die Leichen in Kalt
beerdigt werden, Man glaubt, da der Transport äußerft ſchwierig
ift, mır 1000 Zeichen jeden Tag beerdigen zu fünnen. — In Meifina
dauert das Erdbeben fort. Am 2. Januar erfolgte ein
folder Stoß, daß das halbzeritörte Rathaus ganz einfiel. Selbſt die
Kriegsſchiffe wurden derart gefchüttelt, daß die Königin“
Kontujionen erhielt. „Wir find noch in einer Beriode ſeis—
miſcher Aktivität und es ift fein Bergnügen, in der Erd—
bebenjtadt zu weilen, Die Leichen, die unter den Trümmern liegen,
werden dort gelajjen, da der Dauerregen den Kalkverputz der Häufer
über fie ſchwemmte und ihnen jo mit Sand und Mörtel ein hy⸗
gieniſches Grab bereitete, Nur an vereinzelten Stellen wird Kalt
geichüttet. Ob die Überlebenden, die in Niſchen und Kellerhöhlen
noch atmen, geborgen werden können, ift fraglich, denn die Au f-
räumungsarbeiten werden jelbft bei weiſeſter Organi«-
fation drei bi3 vier Jahre dauern.” Nun verbreitete fich der Herr
Senator als Arzt und Phyſiologe über ven Nervencdoc, den
Kataftrophen mit fich bringen. Er fand bei vielen Geretteten in
Meſſina Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Amneſie. Auch Fälle
von feiger Furcht und Zwangsvorſtellungen teilte er mit. Ein.
Mediziner, Profeſſor Ga b bi, lag ganz heil unter den Trümmern;
er war ganz bei Sinnen und konnte noch logijch denken. So fagte
er ih: „Auf meinen Knien liegt ein Stein, den ich mit einem
Händedrud entfernen kann.“ Aber er hatte nicht die Kraft, fich zu
bewegen. Zum Glüd rettete ihn fein Sohn. Dann wich der Starr-
Trampf. Und derſelbe Mann trennte ſich dann von feiner Yamilie,
um fich fofort der Pflege der Verwundeten zu widmen. Weiter
ſprach Senator PBaterno über die Ruſſen. „Man hat es ala
etwas Staunenswertes gepriefen, daß fie alles Handwerkszeug zum
17*
260 Meilina: Der Sournalift als Räuber
Ausgraben, ja ſogar Armhandſchuhe hatten zum Schuß gegen In⸗
feltion. Aber man darf nicht vergeffen, ihre Schiffe waren nad} der
Mandichurei beftimmt, mußten aljo wie zum Kriege ausgerüftet fein,
während unjere und die fremden Striegsichiffe, wie immer im
Frieden, ſich darauf verlaſſen konnten, daß fie alles Yehlende in
irgend einem Hafen ergänzen könnten. Die Kataftrophe traf fie
aljo unvorbereitet.”
Die Ausfchiffung bei Sonnenaufgang, der das Hafenbild
überaus malerijch machte, war wieder eine einzige Balgerei. Ord⸗
nung lernen die Süditaltener nie”, rief mir der norwegiſche
Dichter zu, der in einem Knäuel von Matrofen, Flüchtigen und
Gepädträgern eingeleilt war. Am Nachmittag traf ich ihn wieder
auf dem Telegraphenamte: „Nein, dieſes Chaos auf der Präfektur!
Was mid) das an Trinkgeldern Toftete, um big zum Präfelten vorzu-
dringen! Und dann habe ich doch nicht? erfahren.” Auch ic) Aagte
‚mein Leid. Ich Hatte am Morgen eine Statiftit der in
Keapel eingetroffenen „profughi“ erfahren wollen.
Auf keiner Redaktion konnte man mir Antwort geben, dafür verwies
man mic) and Arjenal. Aber da3 war von einem Kordon Marine-
foldaten umijtellt, die feinen Menjchen ducchliegen. Auf den Re-
dakionen erfuhr ich, mir zum Trofte, daß es jelbft italieniichen Spe-
zialkorreſpondenten jehr jchlecht erging. Einer der Korrefpondenten
des „Sorriere della Sera”, der wadere Feuilletonift Civinini,
wäre ſogar beinahe aß Räuber behandelt, d.h. erſchoſſen
worden, al3 er in Meſſina neben der Leiche eines jungen Mädchens
ein Pad Liebesbriefe aufhob. Ein Kollege, der Militärmübe und
Offiziersmantel trug, rettete ihn. Auch wurden mir die Schwierig-
leiten der Nachrichtenübermittlung berichtet. Die Korreipondenten
des „Corriere“ beginnen alle ihre Meldungen mit den Worten:
„Ich weiß nicht, ob das folgende ankommt.“ Im Zeitalter der
Funkentelegraphen und im Baterlande Marconis miſſſen fie
ihre Briefe einem in Mejlina improvijierten Telephon anvertrauen.
Neapel: Deutiche Wohltätigteit 261
Die Bhonogramme kommen dann von Palermo per Poſt (ein ein-
ziger Dampfer täglich!) nach Neapel und gehen von dort tele-
graphiſch weiter. Und dabei handelte e3 fich um das größte, reichite
Blatt Italiens, das wahrlich feine Koſten zu jcheuen bat. Wie foll
ed da auswärtigen Korrejpondenten ergehen, die ſelbſt mit den
größten Geldopfern nichts machen können, da man fie vielfach als
läftige Eindringlinge und Störenfriede betrachtet.
Am Nachmittage befuchte ich das deutſch⸗ſchweizeriſche Klub⸗
haus „Mufeum”, den Si des „Hilfsfomitees der Fremdenlkolonie“,
dem Deutiche, Schweizer, Engländer, Amerikaner und Oſterreicher
ongehören. Alle Räume, aud) der Balljaal und das Theater find
zur Aufnahme, Verpflegung und Kleidung der italienischen Flücht⸗
linge eingerichtet. Welch herzerquidende Charitas, welch jchnelle
Drganifation und Bejonnenheit und welch praftiiher Sinn! Und kein
italiſches, fein neapolitanifches Blatt hatte bisher von diejen Fremden
Notiz genommen, die bis zum 6. Januar über 150 000 Lire aus⸗
gegeben, zwei Hofpitäler eingerichtet, 200 Flüchtlinge gebadet,
desinfiziert, gelleidet, verpflegt, untergebracht hatten, ja ſogar
einen Dienst eingerichtet haben, um auch für die Zukunft der Pilege-
finder zu forgen, indem man ihnen Wrbeit vermittelt und ihnen
Wohnungen beforgt, die man mit den notwendigften Möbeln aus-
Hattet! Meine Bewunderung Tannte feine Grenzen, als ich die
Küche, den Desinfektionzfaal, da3 zum Schlafſaal verwandelte
Theater, die Schneiderwerfitatt im Balljaal ſah. Ehre den waderen
Landaleuten! Aber eins befümmert fie: Während fie jo für die
Gizilianer forgen, können fie fich nicht der eigenen Landsleute an-
nehmen, die in Meſſina Hab und Gut verloren haben. Da muß die
Heimat einfegen, um diefen Armſten zinsloſe Vorfchüffe zu geben,
damit fie ſich eine neue Eriftenz grümden können. Man adrefliert
an Konjul Karl Aſelmeyer oder an das Hilfefomitee der
Fremdenkolonie, Via Egiziaca 41, Circolo Museum, Villino
Weiss.
262 Meſſina: Bureaukratie
Neapel, 6. Jamuar 1909.
Belcredi vom ‚Meſſaggero“ entwirft ein ſchauerliches Bild
vom Chaos der Bureaufratie m Meffina Der
Minifterpräfident Siolitti habe alle Vorkehrungen getroffen,
aber den Fehler begangen, zu viele Chefs zu jchiden. Die Folge ſei
höchfte Konfufion. Die Boote der Kriegsfchiffe konnten zur Rettungs-
altion nicht benüßt werden, weil Gegenbefehl gebracht wurde.
Alles war an Bord vorhanden: Waller, Brot, Arbeitswerkzeuge,
aber fie wurden nicht verteilt, und da Hafenpolizei mangelte, mußten
die Kriegsfchiffe zu weit vom Lande ankern. Der Dampfer „Duca
di Genova”, der wegen jener Neuheit vorzüglich zum Hofpitalichiffe
geeignet gemwejen wäre, wurde vom LOberlommandanten zum
Generalquartiererkoren, anftatt daß dieſer auf? Land unter
eine Barade ging; freilich, in der Baracke wäre vielleicht eine gute
Berpflegung unmöglich, die das Generalquartier derart befümmerte,
dag zwei Stunden verloren gingen mit der Feſtſetzung der Tiſch⸗
ordnung. Während unterdefjen die Soldaten am Lande laut darüber
Hagten, daß fie zur Untätigfeit verurteilt waren, und das Brot auf
den Schiffen ſchimmelte, wies man da3 Angebot eines fremden
mit Lebensmitteln beladenen Dampfers zurüd, der felbft die Aus-
Ihiffung der Güter bejorgen wollte. Die Einjegung eines bürger-
lien Diktator wäre notwendig, der über den Rivalitäten einzelner
Waffengattungen jtünde. Hand in Hand mit der Konfufion geht die
Abneigung der Behörden gegen die Journali Be en, die wie
Räuber behandelt werden.
Nachrichten aus Scilla in Kalabrien melden se
Elend. Die Stadt ift ganz zerftört und verlaffen; infolgedeflen ent⸗
wideln die unbeerdigten Leichen einen ſolchen Geſtank, daß die An⸗
näherung unmöglich ift. Ein englifches Schiff, das retten mollte, war
zur au gezwungen. |
Meſſina: Die Geretteten 263
Neapel, 7. Januar 1909.
Geftern veranftaltete der Erzbiſchoff von Meſſina eine
Prozeſſion zum Kirchhof Maregroffo, und fegnete dort das
Maffengrab; dann zog er zum erzbijchöflichen Balaft, wo er die dort
verſchütteten Geiſtlichen ſegnete. Die Verteilung der Lebens⸗
mittel wurde plötzlich eingeſtellt, da vorgeſtern 50 000 Rationen
verteilt wurden, während die Zahl der Fl üch tig een, der Beamten,
und Soldaten 20 000 nicht überſteigt. Dies iſt ein Zeichen, daß die
Bauern der Umgegend Meſſina als Wohltätigkeitsaſyl betrachten.
Der Oberkommandant verfügte, daß Lebensmittel nur noch vom
Kriegsſchiff „Regina Elena“ ausgegeben werden. Hier werden
alle zurüdgehalten und vor die Wahl geftellt, in Meſſina zu
bleiben ohne das Recht der Berpflegung, oder
fihnahdemKontinenttransportierenzu lafjen.
Dieſe Maftegel erbitterte die in Meſſina weilenden Abgeord⸗
neten; fie proteftieren und verlangen den Wiederaufbau der Stadt
und einſtweilen die Staatsverpflegung aller ihrer Bürger. Die in
einem Eiſenbahnwaggon verſammelten ſiebzehn übrig⸗
gebliebenen Provinzialabgeordneten forderten ener-
giſch, daß ihnen die oberfte Zivilgewalt in der Stadt übergeben
werde, ein Anjinnen, das den Spott Antonio Scarfoglios
über ihren naiven Egoismus herborruft. Scarfoglio meldet weiter,
alle Kirchen feien zerftört bis auf St. Andrea Avellino, die vor
Monaten wegen Baufälligfeit gefchloffen wurde. Die Aufzählung
der in der Nähe von Meffina zerftörten Orte fei fchwierig, eine
Statiftit unmöglich; Italien werde nie erfahren, mie biele- jeiner
Söhme i im Meffinagebiet zu Grunde gingen.
Giolitti erließ ein Dektet, um den Fällen der Ausbeutung
von flüchtigen jungen Mädchen zu fteuern. Der Marineminifter
befahl die fchleunigfte proviforifche Herftellung der Leuchttürme,
um die Schiffahrt in der Meerenge von Mefjina wieder zu Jichern.
Die Spezialfortefpondenten des „Giornale d'Italia“, eines Oppo⸗
264 Meſſina: Die Meerenge
jition3blattes, beflagen es, daß der Zugang nad) Meffina den
Sournaliften vermehrt fei.
Geftern vollendete ein neuer Erdftof die völlige Zer—⸗
jtörung de3 berühmten Campo Santo von Mefjina. Yrei«
lich ift diefes ſelbſt jebt ein einziger Kirchhof oder ein verlaffenes
Schlachtfeld, das mit Leichen überfät ift. Der Abgeordnete Principe
Scalea, der eine Hilfserpedition von Rom nad) Kalabrien
bringen wollte, meldet die höchſte Eifenbahnmiläre auf der kalabri⸗
ſchen Strecke.
Sn Reggio iſt die Jacht „Emma”, an Bord Dr. Grae⸗
veniß vom Geologiichen Inſtitut in Jena eingetroffen. Dr. Grae-
veniß hat Mefjungen in der Meerenge vorgenommen. Im
Süden der Meerenge, wo bisher die Tiefe 1000 Meter war,
wurden nur 450 Meter gefunden. Die Tiefe zwilchen Capo Beloro
und Punta Pezzo, die bisher 80 Meter betrug, ift nur noch 12 Meter.
Dr. Graevenig erflärt, die Konbulfion des Bodens dauere fort;
alfo dürfe die Dauer des Phänomens noch nicht als beendigt betrachtet,
jedenfall müfje die Hydrographie der Meerenge wiſſenſchaftlich eu
bearbeitet, auch da3 Relief der Küften neu aufgenommen werden.
— — —
Weitere Hinderniſſe.
Neapel, 8. Januar 1909.
In der Heimat kann man jich den hieſigen Wirrwarr nicht vor-
jtellen. Weiß Gott ! ch bin bei den fchlaflofen NächteninCatanie,
wo die Erdbebenpanif alle ergriffen hatte, nicht nervös ge-
worden, wenn auch der Wind an den fchlecht jchließenden Fenſtern
ſehr oft rüttelte und fo manchmal Erdbeben vortäufchte; ich hielt auch
jehr oft, jelbft wenn e3 ſehr ſchwer fiel, dem Schmerzendausbruch
der Vertriebenen und dem Weinen der Frauen aus Mefjina ftand,
aber hier drohen meine Nerven zu verjagen. Ich glaube, man
Neapel: Fahrthinderniſſe 265
müßte zuerjt in einen Gefrierraum gehen, um jich eifige Ruhe zu
erwerben. Seit geitern Mittag werde ich nicht nur von Pontius zu
Bilatus, jondern auch von Herodes zu Kaiphas geichidt; ich bin ein
Rohrpoftbrief, der von Station zu Station gepuftet wird, ein Tennis
ball, von Ede zu Ede gejchleudert. Auf der „Navigazione Generale“
fing’3 an. „Gehen Sie zum Seelommando!" Das heißt, ich fahre
in den Marterwägelchen, die die Form der Mufchelboote haben, in
denen die Meergöttinnen, vor allem Galathen, zu reifen pflegten;
nur find fie nicht fo bequem. Dabei find auch Neapels Kutſcher alle
unjicher geworden; jie fahren mit großer Konſequenz an die faljche
Adreſſe. Dad Seelommando im alten Anjoujchloffe ift von
Marinejoldaten umzingelt. Em Offizier weiſt mich zum Dipi-
jionsfommando. Dort angelommen werdeihzum Korp3-
fommanDd ogewiefen, das fich glüdlicherweife im gleichen Palazzo
befindet. Ein Mdjutant liebenswürdigſter Art will mir jogleich einen
permesso ausftellen und fragt, ob ic) noch am gleichen Abend ab-
reifen wolle. Ich fage natürlich freudigſt Ja. Er verſchwindet, um
den Schein auszufertigen. Nach zehn Minuten kommt er zurüd und
bedauert, daß der meinem Gejuche al3 Grundlage dienende Paß des
Bräfelten von Catania das Bifum des Präfelten von Neapel haben
müffe. Alſo auf zur Präfektur. Hier werde ich, nachdem ich
bi3 zum Borzimmer des Allerbeiligften dDurchgedrungen bin, zunächſt
mit großem Mißtrauen betrachtet, von Kopf big zu Füßen gemuftert
und jchroff abgefertigt. Nach längerem Barlamentieren läßt ſich der
Zerberus herab, zum Präfekten zu gehen. Ihn jelbft dürfe ich nicht
ſprechen. Gut! Nach zehn Minuten ehrt Herr Zerberus zurüd.
„Unmöglich. Sie müſſen Erlaubnis vom Minifterium in Rom haben,
Wenn Sie feine Geduld haben, auf Antivort zu warten, fo fahren Sie
nach Palermo und Catania, Sie haben ja von der dortigen Präfektur
Erlaubnis!" Co höflich da3 auch gejagt wurde, es Hang wie Hohn.
Sofort eile ich zum Telegraphenbureau und telegraphiere an den
Minifter des Außern, dann zum deutichen Generallonfulat. Die
266 Neapel: Berliner Hilfsaktion
Bureaus find gefchloffen, der Herr Generaltonful dienftlich abweſend.
Heute morgen wende ich mich mit dringendem Telegramm perfönfich
an den Korpslommandanten, den Herzog von Ao ſt a. Dann fahre
id) wieder zum Generaltonfulat. „Geben Sie mir, bitte, irgend eine
Legitimation, oder eine geftempelte Erflärung, die mic) ausweiſt
und mich vor dem Präfelten legitimiert“, fage ich zum Sekretär,
da der Herr Generallonful amtlich draußen bejchäftigt ift. Mir wird
zur Antwort: „Fahren Sie zum Bahnhof, dort kommt der Luxus⸗
zug an mit der Berliner Hilf3erpepdition; der Her
Bizelonful Freiherr von Stein wird Ihnen weiterhelfen.” Alſo zum
Bahnhof. Dort treffe ich nach langem Suchen den Herrn Vizekonſul.
Auch er ift untröſtlich; er meint, der Präfekt fei zu ängftlich geworden.
Auch geftern habe er einen deutfchen Kollegen darauf aufmerfam
machen müfjen, daß der amtliche Weg über Generallonfulat, Bot-
haft, Minifterium in Rom bei dem Andrang der Gejchäfte drei,
vier Tage erfordern könne. „Werm ich mich dann der Berliner
Erpedition anſchließe?“ — „Warum nicht? Aber fie geht über
Palermo nad) Catania und Syracus; foeben hat da3 Note Kreuz
in Rom diefe Weifung erteilt." Das kann mir nicht? nüßen. Schließ-
lich findet der Herr Vizelonful einen Ausweg. Er fchreibt eine Karte
an den Präfekten, worin er die „Frankfurter Zeitung” nach ihrer
Bedeutung charakterifiert und darauf Hinweift, welche großen Sum⸗
men die Zeitung ſchon für die Opfer der Erdbeben in Stalien in ihrem
Leſerkreis zufammengebradht hat. Sofort fahre ich zur Stadt zurüd.
Auf dem Wege komme ich am deutichen Konful vorüber. Wir leben
im 2ande der Konnerionen, vielleicht fennt Herr Ajelmeyer
einen Präfekturrat perfönlih? Alſo Halt! Herr Konful Ajelmeyer
ift jehr freundlich, aber er erflärt: „ch bin nur kaufmännijcher
Konſul!“ |
Unterdefjen ift eg Mittag geworden. Bor drei Uhr darf ich auf
der Präfektur nicht ftören. Ich habe ja auch noch Zeit, da Schiff oder
Bug erft abends nach Süden gehen. Im Hotel treffe ich den Aller⸗
Meflina: Wiederaufbau? 267
melt3-Korreipondenten Belcredi, der in China, Amerika,
Marokko, Abeſſynien und fonft wo noch befannt if. Er kommt von
Meffina zurüd. „Sie wollen dahin? Machen Sie fich feine
Illuſionen! Der Säbel herrfcht. Auch ich habe in Rom am 29. De-
zember allen meinen Einfluß aufbieten müffen. Kommen Sie den-
noch durch, fo riskieren Sie, ald Räuber erfchoffen zu werden." —
„Aber auf dem Umweg über die jonifche Küſte komme ich wenigftens
nad) Reggio.” — „Samohl, verfuchen Sie ed. Auf der Linie Neapel-
Reggio kommen Sie nicht durch; denn nicht achtzehn Kilometer, nein
bietzig find nördlich von Reggio zerftört, Wagen finden Sie nicht
und ein Schiff, eine Barke auch nicht, und wenn Sie fünfhundert
Lire bieten. Gelbft der Abgeordnete de Napa, der in Reggio
alles verloren Hatte, mußte mit einem Wiener Korrejpondenten
von Bagnara nach Neapel zurüdiehren.” Ich frage ihn nad) dem
Eindrud, den er in Meffina erhalten habe. „Schredlich, der Wort-
ſchatz verfagt. ch habe viele Schlachtfelder gejehen, viele Zer—
ſtörungen durch Erdbeben, Überſchwemmung, Erdrutſch, Brand,
aber Meſſinas Grauen iſt einfach unbeſchreiblich!“ — „Und was
fagen Sie vom Wiederaufbau Meſſinas? Die Abgeordneten,
bie ich in Palermo traf, befürworten ihn?” — „Io wollen Sie hin?
Die Abgeoröneten denken nur an ihr Mandat, objchon viele alle ihre
Wähler verloren haben. In Meffina find 100,000 Leichen, wenn nicht
mehr. 25,000 Gerettete erflärten, unter feinen Umständen mehr
dorthin zurüdfehren zu wollen. Der Wiederaufbau Toftet anderthalb
Milliarden. Der Hafenkai ſenkt ſich beftändig, die Unterftadt ift be-
droht, die Eröftöße dauern fort. Welche Regierung will die Ber-
antwortung für da3 Leben derjenigen übernehmen, die leichtjinnig
genug find, es zu riskieren.” Ich fpiele dann auf die ftrategijche
Bedeutung Meſſinas an, die den Wiederaufbau empfiehlt, bemerfe
auch, daß nach den Zeitungen Frankreich zwölf Millionen für Meifina
angeboten habe unter der Borausfegung, daß die: Stadt wieder-
errichtet werde, daß nad) dem „Daily Telegraph” auch England
268 Meflina: Vestigia terrent
Regierung ſich an der Erneuerung der Stadt beteiligen wolle, weil
deren Erhaltung in ihrem Intereſſe liege. „Ma che!“ antwortet
Belcredi, „Stalien läßt ſich weder von Frankreich noch von England
Bedingungen vorjchreiben. Die ftrategiiche Bedeutung Meſſinas
hört auch jeßt nicht auf, die Forts haben wenig oder gar nicht gelitten,
und im Notfall können wir neue Yort3 auf den felligen Höhen er-
richten.” —
Sch habe mich wohl gehütet, diefe Außerungen Beleredis zu
telegraphieren, denn die Zenfur ift Doppelt ftreng, und ihr oberjier
Herr, der Minifterpräfident Giolitti, nervös geworden; hat
er doch an alle italienischen Zeitungen eine energiiche Mahnung
gerichtet, worin er fie vor den phantaftiichen Berichten der Korre⸗
jpondenten warnt. Dabei hat auch der Diltator-General
Mazza in Meſſina jebt ein Preßbureau für die Yournaliften
eingerichtet, damit fie authentiſche Nachrichten erhalten. Alles
ſchön und gut! Aber wenn man die Sournaliften hindert, nad
Meſſina zu gehen, um an dieſer lauteren Quelle der Wahrheit
zu jchöpfen? Erkläret mir, Graf Derindur! Doch ich verzichte
auf Antivort. |
Andere unangenehme Töne Hingen in das allgememe Elend
hinein. Aus Kalabrien dringt an die Prefje der Notſchrei: „Schüßet
uns vor den Bauunternehmern und den Spelulanten, die und 1906
auögebeutet haben!" Bon Palermo und Neapel aus warnen
angejehene hochgeitellte Perſonen in der Preſſe zur Borficht in der
Berteilung der Rohltätigfeitögelder; denn „vestigia terrent“. Die
Erfahrungen von 1894 und 1905, die zu den befannten parlamen-
tariſchen Unterfuhungen führten, find noch in aller Gedächtnis.
Ein Blatt jchreibt aus Kalabrien: „Wir haben nur Vertrauen in da
Pionierkorps!“ Ganz wie 1905, mo mir in den zerjtörten kalabriſchen
Dörfern die Pfarrer Händeringend entgegenfamen: „Bitte, jchreiben
Sie in den Beitungen, daß man die Hilfägelder nur den Karabinieri
anvertraute!”
Meſſina: Lebendig im Schutt 269
Unterdejjen ift Profeſſor Spinelli, der emen erſten Trupp
des Roten Kreuzes nah Meffina geleitet hat, hierher zurüd-
gelehrt. Er dringt darauf, daß man die Rettungsarbeiten nicht
einſtelle. Das Beilpiel von Safamicciola beweife, Daß man
noch Xebende finden müſſe. Port habe man noch nad)
fünfzehn Tagen Lebende entdedt. In Meffina aber hätten in vielen
Häufern die Trümmer Schußdächer über Kellern und Parterre⸗
räumen gebildet. Aberhunderte feien alfo noch dort zu finden, mit
aller Wahricheinlichkeit Hätten dieſe auc noch irgendwelche Nahrungs-
mittel. Viele jeien auch in Starrkrampf gefallen; das habe er jelbft
bei der Braut eines Soldaten gefehen. Sie wurde nad) fieben Tagen
gerettet und hatte da3 Beitgefühl verloren; fie meinte, das Unglüd
fei an Weihnachten paffiert, und fie hatte die Empfindung, daß fie
nur kurze Zeit ohnmächtig gewejen fei. „In Meljina brauchen wir
Arzte anftatt der vielen Gewehre. Auch foll man die Geretteten nicht
abichieben, nein, im Gegenteil, fie militäriſch mobil machen, in
Gruppen ordnen, damit fie angeben können, wo ihre Verwandten
lebten. Ihr Rat vermag mehr al3 die unbelehrte Hilfe der Soldaten,
die von auswärts fommen und Stadt und Gegend nicht Tennen.”
Auch Profeſſor Spinelli ift für den Wiederaufbau von Meffina. Doc)
empfiehlt er nur zweiftöcige Zementhäufer und die Anlegung großer
Plätze. Am beiten freilich wäre es, wenn man dag Beifpiel eines
Arztes aus Meffina befolge, deffen Haus Heilgeblieben fei. Allerdings
fei fein Syſtem fehr foftfpielig. Er hatte ein anderthalb Stockwerke
hohes Haus mı3 armiertem Zement, da3 rings von Eifenbändern
umfchient war; denn er war ftet3 von der Erdbebenfurdjt geplagt
geweſen. Römiſche Baubeamte empfehlen dagegen Häufer aus
Holzfachwerk, deſſen Zwiſchenräume mit Zement ausgefüllt werden.
Wann ich den nächſten Brief fchreiben werde und mo, das
wiſſen die Götter.
270 Meffina: Abfahrt
Auf der Fahrt nach Meffina.
An Bordder „Sardegna”, 10. Januar 1909.
Endlich — ich traue meinen Augen kaum, — habe ich Erlaubnis-
ſchein des Präfekten von Neapel, Paß des Minifteriums des Innern,
Bifum des Armeelorpstommandanten! Ach darf in allen Exd-
bebengebieten frei umbherftreifen. Haftig treibe ich meinen Kutſcher
zur „Navigazione Generale”. Dort neue Schwierigleiten. Der
Kafjierer will mir die Paſſierkarte des Präfekten zurüdhalten. Als
Beleg. Das ift Vorfchrift. ch ſtürze in die oberen Stodiwerfe zum
höchften Herrn. Cr ift Genuejer. Sofort jchide ich alle meine ge-
nuefifchen Bekannten ind Gefecht, darunter auch General Canzio,
Garibaldis Schwiegerfohn; zur Uinterftügung zitiere ich den Mäch-
tigjten der Gejellichaft, Bincenzo Ylorio. Der Sieg ift mein.
Man macht eine Ausnahme. Doch wird mein Schein zunächſt mit
der Mafchine Topiert; denn Dokumente für die Oberften der Striegs-
diktatur find nötig. Der Herr Sekretär aus Genua gibt mir fogar
eine Empfehlung an den Kommandanten der „Sardegna” mit.
Um ſechs Uhr abends fahre ich zum Hafen. Im Ohr fummt
mir das Wort des Adjutanten des Herzogs von Xofta: „Wir über-
nehmen feine Beramtwortung, Sie gehen auf eigenes Riſiko!“
Auf dem Dampfer (ein transatlantifcher, der fonft nach Brafilien
fährt) wirkt die Empfehlung des Genuejen. Ich erhalte eine pracht-
volle Einzellabine. Gejchäftiges Treiben an Bord; Lebensmittel,
Riejenflafchen („damigiane“) werden eingeladen, Soldaten, Poli-
ziften eingejchifft. Aber die herrlichen Salons find leer, In eriter
und zweiter Klaffe nur ein Dubend Paflagiere, Offiziere, Polizei-
Tommiffare, Mailänder Herren vom Roten Kreuz. Wir haben ſtarke
Berfpätung. Um zehn Uhr erichallt Kanonendonner. Was ift paj-
fiert? Amerikanische Kriegsſchiffe fahren ein. Neuer Schred! Wie
die Anker gelichtet werden, haben wir einen Zujammenftoß mit
dem Dampfer „San Giorgio”. Am Badbordgeländer werden
Meſſina: Vorbei am Stromboli 2371
armdide Eijenftangen geknickt. Der Kapitän flucht vor jich Hin.
Bewegtes Meer! Dem Befuv gegenüber erhebt fich ſcharfer Wind.
Das Schiff rollt. Wie prächtig werde ich in meinem Bett gemiegt!
Zum eriten Male in diefen Tagen denke ich nicht an Meſſina.
Früh bin ic) auf Ded. Das Schiff tanzt. Das Waller ringsum
icheint zu fieden; es wirft Blafen auf. Bald gleicht es flüffigem
weißgeädertem Schwarzmarmor, bald breiigem Graufchiefer, Ein
Gejpeniterichiff ſcheint's. Kein Menfch zu jehen. Jetzt betrachte ich
‚mir die Batterien der „damigiane“; fie jind nicht mit Wein, wie
ich dachte, fondern mit Lyſol gefüllt. Über finfhundert Stüd. Am
fernen Horizont taucht der Stromboli auf. Er gleicht einem
Riefentarabinierehut mit weißem Federbufch. Und fchaut fo unfchuldig
aus, der von Jules Berne verherrlichte Maleficus! Freilich hat er
ſich diesmal auch ruhig verhalten. Auch die Sonne fleigt in un-
ſchuldiger Klarheit auf; was ftört fie der Heine Erdenjammer?
Hinter mir ruft ein Berfagliereoffizier. Er Hat furz vor der
Abfahrt noch eine Abendzeitung ergattert. Und ich Iefe den Be-
zicht Über die Erobebenfitung der Kammer. Wie kleinlich ſcheint
die Tonventionelle Rhetorik vor der gemaltigen Sprache des
Meeres! Und einzelne Abgeordnete weinten, jogar der Sozialiſt
von Catania, De Yelice !
Ein Teil der kalabriſchen Küfte ericheint im Nebelflor. Bor
ihm ſchaukelt ein Heiner Zweimaſter. Der Scirocco pfeift und tobt,
daß ich zum Salon flüchte, Wir fteuern dem Stromboli zu. Das
Meer iſt etwas ftiller geworden, Nicht mehr tanzen am Horizont
‚wie hufchende Möven die weißen Wogenkämme. Die Sonne nimmt
ihren Schleier vor. Im Weften reden fünf Inſeln die Köpfe hervor.
Es find die Stätten, in denen Odyſſeus einft den Windgott Aolus
aufjuchte. Ein Polizeilommiffar kommt von draußen und fchimpft
über die Kälte; dann fpricht er über die Zuftände in Neapel und den
Belagerungszuftand im Süden. „Früher kommandierten wir, jest
rächen fich die Gamajchen an und!”
272 Meifina: Der Leuchtturm
Über dem Meere liegt graue Ode. Wir nähern ung der Stätte
des Verderbens. Faſt jcheint’3, al3 jähe man die düjteren Fittiche
des Todesengeld. Nur die Stöße der Mafchinen; font hört man
feinen Laut. Der Stromboli rüdt näher. Der Rauch des Kraters
hat phantaftiiche Form; man glaubt, ein weißer Riefenelephant
ftehe hinter dem Vulkan und ftedfe Kopf und Rüffel fürmibig herüber.
Und jeden Augenblicd gibt der Wind der Rauchwolle andere Geitalt.
Und näher fommt der Stromboli. Er fcheint uns anzujaugen, wie
der Magnetberg aus Taufend und eine Nacht. Am Saum feiner
blauen Schleppe fchimmert e3 weiß, wie Unterrodjpigen unter
einer Damentobe hervorlugen. Es find die weißen Häufer von
San Bincenzo.
Sm Süden werden die madonilchen Berge der Nordküfte
Siziliens fihtbar, und auch die Spige von Kalabrien rüdt heran.
Die Meerenge zeigt fich. Die Schroffen des Aſpromonte find ſchnee⸗
bedvedt. Das Wetter hellt fih auf. Dunkelblau find die Berge, fo
daß da3 Meer graue Schlammfarbe zeigt. Das zerftörte Bag-
nara taucht auf, dann lin davon auf der Höhe Palmi; das
durch den Schwertfiſchfang berühmte Scilla folgt ſüdlich;
trußig ragen noch die Trümmer des geborftenen Kaftell3 auf dem
fteilen Kap, mo einft da3 Ungeheuer Schlla die Genofjenichar des
Odyſſeus lichtete. Dann folgt das gleichfall3 hart mitgenommene
Ganitello. Zwei ſchwarze italienifche Kriegsſchiffe fteuern auf
Seilla zu, drei gelb-meiße amerifanische kommen ung entgegen.
Ha! Wir reden die Hälfe. Der Leuchtturm der Meer-
enge, der berühmte „Faro“ fommt. Wir fahren hart an ihm vorbei.
Er hat anfcheinend nicht gelitten, ift aber dienjtuntauglih. Doc)
das Dorf zu feinen Füßen hat alle feine Dächer verloren; in einigen
Häufern haben die Krallen des Erdbebens die Bruft aufgewühlt,
die Schulterblätter auägeriffen. Umgeftürzte Batken liegen im Waſſer.
Die Bevölkerung lebt in Zelten. Regenwolken verdeden den Bid
auf den Ama und ſchweben unheildräuend über Meffina, das gelb-
Meſſina: Gartenpradht 273
rot durch den Nebelduft gleißt, anjcheinend Heil und ganz. Aber
Billa Sar Giovanni gegenüber hat Schweres erduldet.
Kirchen liegen am Boden. Häufer find halbiert. Ein italienijches
Kriegsſchiff, begleitet von einem Torpedoboot, liegt zum Trofte vor
der Reede. Auf der Seite Meſſinas folgen jet Ruinen auf Ruinen.
Bier, fünf, ſechs italienifche Kriegsſchiffe zeigen ſich. Auch ein
deuticher Handelsdampfer, der zum Hofpital gewandelt iſt. Hinter
ihm folgen graue engliiche ſchwimmende Feſtungen, dann zwei
amerilaniſche.
Und nun ſchimmert die grüne, lachende Pracht der Gärten
Meſſinas. Wir kommen in den Hafen. Nur an einzelnen Stellen
iſt die ſtattliche Palaſtſtraße am Kai (die Palazzata) von grinſenden
Lucken unterbrochen. Doch bei näherem Hinſchauen erblickt man in
den noch ragenden Faſſaden, wo das Dach direkt auf den rieſigen
doriſchen Säulen aufſitzt, ſchwere Haffende Wunden. Zelte und
Baraden ftechen mit ihrer Armlichkeit gell ab. Zwei Barlaffen der
Polizei nahen, fragen und aus. Am Strande fchleicht eine Droſchke
vorbei. Wie ein Ameiſenhaufen Trabbelt an einer anderen Stelle
gefchäftiges Soldatenvolk, aber lautlos. Überhaupt dieſes Schweigen
ringsum) Wie ein Alp Jiegt’3 auf der: a Und dabei wimmelt’3
bon Schiffen im Hafen.
Ein Gang durch das zerftörte Meffina.
„eh Dir Meffina ! Wehe! Wehe! Wehe!
Das gräßlich Ungeheure ift gefcheh’n
In deinen Mauern — Wehe deinen. Müttern
Und Kindern, deimen Sünglingen: unb —
Und wehe der noch ungebornen Frucht!“.
Ein ecinenfigier beitieg das Schiff, beorderte fofort alle an
Bord befindlichen Poliziften und Karabinieri zum Abiperrungsdienft
und rief: „Niemand darf ausfteigen!" Mit größter Umftändlichfeit
Bader: Im Lande des Erbbebens. 18
374 Meſſina: Wo bleibe ih?
wurden alle Bälle geprüft. AB ein Berfagliere-Offizier an die
Reihe kam und meldete, daß er nad) Reggio kommandiert fei, erhielt
er die Antwort: „Kümmert uns nicht; dort befiehlt General Mazzi⸗
telli; jehen Sie zu, wie Sie nach Reggio kommen!“ Einem S$n-
fanterie-Oberleutnant fagte er halb fpöttifch: „Sie bringen Brot?
Brauchen wir nicht! Die Bivilbevölferung haben wir abgejchoben.
Bringen Sie Ihre Ladung nad Reggiv oder Palmi; ic) mache Gie
aber darauf aufmerffam, daß morgen früh bloß ein Fährboot geht.“
(Beide Offiziere fehrten in der Nacht nach Neapel zurüd.) Ich frage
den Polizeiherrn von der Marine, ob noch viele Sournaliften in
Meſſina feiern: „Deren haben wir ſchon Üübergenug, und da wollen
Sie auch noch Hin?” Ein Major, der dabei jtand, nahm den Faden
auf und fagte mir: „Der Marineleutnant hat recht. Was wollen
Sie in Meffinn? Wo mollen Sie nacht? bleiben? Es gibt feine
Unterfunft; der Präfelt ſelbſt muß in der Sabine eines ausran⸗
gierten Fährbootes ſchlafen.“
Neuer Aufenthalt. Der Poſtmeiſter kommt. Der Kapitän
fordert Ordres. „Wir haben kein Schiff. Sie müſſen Poſtdienſt
tun”, wird ihm zur Antwort. Verzweifelt reckt der ftämmige Seebär
die Hände in die Höhe. „Aber meine Leute, meine Mafchine, meine
Ladung! Bor neun Uhr kann ich nicht ausgeladen haben. Alſo
fahre ich um vier; denn um acht Uhr riskiere ich die Fahrt durch die
Meerenge nicht ohne Leuchtfeuer; höchſtens wage ich es bei Mitter-
nacht, wenn dann der Mond ſcheint. Ich bin auch meiner Gefell-
ſchaft verantwortlich und nicht nur dem General Mazza.“ Nun
erforſche ich auch den Poftmeifter iiber mein Schidjal; er erwidert:
„Logis gibt’3 nicht; alle Schiffe find beſetzt.“ Endlich wird mein
Name verlefen. Mit-zehn anderen beſteigen wir eine Dampfbar-
kafſe, die und nad dem Generalquartier, dem jchönen Ozeandampfer
„Duca di Genova“ bringt. Dort werden wir von einer Poſtenkette
gemuftert und vor den Salon, das Allerheiligite des Obergenerals
geführt. Unfer Marine-PBolizeiherr verſchwindet hinter der Türe,
Meſſina: Verwüſtungsgraus 275
die von zwei Poſten behütet wird. Kurz darauf erſcheint er und ruft
ein Mailänder Mitglied vom Roten Kreuz auf, das zum General
darf. Der Aufruf wiederholt ſich mehrere Male. Durch die offene
Tir erblicke ich dann eine Menge von eleganten Generälen (im
ganzen find acht in Meſſina verfammelt!), Oberften, Majoren. Eine
illuſtre Berfammlung. Mir will diejer große Aufwand von Uniform-
prunf nicht recht behagen. Während des Wartens habe ich jehr viel
Zeit, mir da3 vermüftete Stadtbild zu betrachten. Endlich werde
auch ich aufgerufen; ſchon will ich eintreten, al3 mir der einführende
Beamte jagt: „Sie müſſen auf die Präfeftur!" Ein Karabiniere
begleitet mich zum Strande und dann durd) die Hafenftation zum
alten Fährboot, auf dem Holzbuden aufgefchlagen find. Bor einer
Kabine, einem Verſchlag von acht Meter Kubik fteht eine große
Schar von Leuten, die über die Langſamkeit der Bureaukratie
Ihimpfen und mit Mühe von einem Polizeikommiſſar in Schach ge-
halten werden. Sch habe Glüd. Über die Köpfe der Fluchenden
hinweg . zeige . ic) meine Papiere. Der Präfekturbeamte ſieht,
nimmt und — —J Das — von en
. * —
Endlich bin ic) am Strande! — betäubt, verblufft ſtarre
ich in ein Haus, deſſen ganzes intimes Leben ſich dem Fremden faſt
ſchamlos preisgibt. Noch hängen die Familienbilder an der Wand,
noch das Meihmafferbeden über der. Stelle, da fonft das Chebett
ſtand. Andere Häufer gleichen großen Baumluchen, die lüfterne
Kinderhand an zehn Stellen zugleich angefchnitten, wieder andere
riefigen Schinkenknochen, an denen noch Tettrefte Heben. Wer gibt
mir. Bilder, um das Graufen zu verdeutlichen? Sch fomme an eirie
Straße, drin blattlofe Bäume, die wie gerungene Hände ihre Alte
und Biveige ausftreden. Anfangs ift die Straße trünmerfrei, dann
aber fommen Schutthügel, Trümmerhaufen, die eines Alpiniſten
Beinfchnelligkfeit fordern. ch kehre um, an der Balazzata
18*
276 Meilina: Ein gerettetes Haus
vorbei. Der Palazzo di Citta, wo die Bank von Stalien, dag Hotel
„Zrinacria” und viele Privatwohnungen untergebracht —
— ein einziges Elend!
Zurück. Auf dem Kai liegen Kalkfäſſer, Kiſten mit Orangen,
Mehlſäcke, Bauholz. Die ſchweren Lavaplatten ſind eingeſunken,
Loch an Loch, Riß an Riß, Spalte an Spalte ringsum. Eiſenbahn⸗
ſchienen ſind über einem Abgrund zu Elefantenzähnen oder zu
Spiralen gebogen, gewunden, gedrechſelt. Ein Wärterhäuschen im
Waſſer zeigt nur noch das Dach. Telegraphendrähte, zu einem
Weichſelzopf zuſammengeknäult, überall. Via San Martino
landeinwärts. Soldaten zimmern Baracken. Schildwachen fragen
mich nach dem Paß, Patrouillen ebenfalls. An einer Ecke eine
Proklamation, aus rohen Rieſenbuchſtaben hingeſchmiert: Die
Verteilung der Lebensmittel iſt eingeſtellt. Die Bevölkerung muß
ſich am 8. Januar auf den Schiffen „Nord America“, „Savoia“,
„Regina d'Italia“, „Citta di Napoli” einfinden. Noch liegen dieſe
Dampfer im Hafen. Ach fah fie bei der Vorbeifahrt. Zrümmer-
haufen blodieren die Straße. Auf Zickzackſpringen fomme ich in
die Bial.Settembre. Traue ich meinen Augen? Ein Haus
ragt noch inmitten de3 Ruinengrauſes? Und gar Sarabinieri
haben im Erdgeſchoß ihre Station? Neugierig trete ich näher,
aber mit Borficht; denn wie Schlinggewächs⸗Unkraut wuchern
hier Fußfallen aus Zelephondrähten. Stolz kommt der Bortier.
„Unjer Hausherr hat fich die Erfahrungen de3 Erdbebens von 1894
zu Nube gemacht; ſehen Sie, er hat überall Ketten und Quer⸗
ftangen angebracht, auch befteht das Haus aus Hart gebadenen
Biegelfteinen.” Cr mwill noch mehr erklären, nad) ſchwatzhafter
Greifen Art; auch die Karabinieri fragen nad) Woher, Wohin, doch
ich ſchütze den ſtrömenden Negen vor und eile vorwärts. Kurios!
Die Straße fcheint auch intafl? Das Portal des Norddeutichen
Lloyd ift mit Querbrettern vernagelt. Andere Portale find offen,
unter ihren feiten Bogen fnuern frierende Menjchen, die aljo dreift
Meffina: Leichengeftmt 277
der Erdbebenfurdht und dem Gebot de3 General? Mazza troken.
Weiterhin erblide ich dad Hotel ‚Nunzio Naſi“; e fieht
leidlich erhalten aus, nur oberflächlich ramponiert! Das werden
die Anhänger des Erminifterd zum guten Zeichen nehmen.
Plöglich fperrt mir haushohes Geröll aus Steinen, Schutt,
Erde, Staub, Ballenfeten den Weg. Hier hat das Erdbeben Revo⸗
Iution geipielt und Barrifaden gebaut. Doch die Füße der Netter
haben ſchon eine Art Maultierpfad getreten. Der Kalfgeruch, der
Leihengeftant erfhwert das Steigen. Traurig
läßt ob meinem Leid eine gefnidte Laterne ihr Haupt hängen. Ein
Faun, der allein aus einem Eckbrunnen übrig blieb, verlacht mich
grinfend.. Der Spuk macht mich faft toll. Und dazwiſchen Tniftern
halbverbrannte Ballen, knirſchen Glasſplitter, Fracht morjches Ge-
bälf. Ein halbes Klavier läßt feine Saiten ertönen. Ein Portal
gleicht dem Maul des Laſters, da3 fich nach einer Völlerei erbricht.
Bemalte Eijenbetten Sprechen jentimental von Liebesglück. Das ift
ichlimmer, als was die Zeitungen bisher meldeten.
Aber die Ode, die fchaurige Stille, das Iaftende Schweigen!
feine Menjchen! Lebende nicht, noch tote. Vergebens fuche ich
mir Vernunfi zuzureden. Die Lebenden find verbannt, die Toten
aus den Hauptitraßen entfernt. — Es nübt nichts. Ich mache die
Qualen des Taucher? durch. „Unter Häuferlarven die einzig fühlende
Bruft.” Zur Zauberftunde auf dem Kirchhof kann's ängjftliche
Menfchen nicht mehr grufeln.
Doch das Entjegen fteigert ſich noch. Ich ftehe plöglich auf
dem Domplap, verjteinert, faſt Salzſäule. Jetzt braucht nur
noch ein Cieerone zu kommen und mir aus dem Baedeler die Sehens⸗
würdigleiten des Doms aufzuzählen! Eine Kate miaut. Der Dom
war! Das rotweiße Marmorfaltenhemd, da3 feine Bruft ſchmückte,
liegt in Feten am Boden, nur an der linken Ede, die einem Spitz⸗
Dreied gleicht, Hebt noch etwas über dem intakten gotifchen Seiten-
portal. Uber dem zertrümmerten Hauptportal ſchwebt zitternd das
278 Meſſina: Der Humor der Natur
Standbild der Madonna. Sonſt nichts. Ein Trupp Poliziſten naht;
es ſind fremde. Einer ſcherzt: „Es braucht nur ein Stoß zu kommen,
und in den Zeitungen ſteht, daß zwanzig Mann der öffentlichen
Sicherheit unter den Trümmern begraben liegen!“ Den Dom
ſchmückten ſechsundzwanzig Granitſäulen aus dem alten Poſeidon⸗
tempel. Wo find fie? Bor der berühmten Domfontaine von
Michelangelo Schüler Montorjoli Hoden Berfaglieri um ein Feuer
aus Trümmerholz. Sie haben Watte in den Nafen; fie find auch
mißmutig. Freilich, der Negen ift naß und das Wetter kalt. Der
Brunnen Hat nur am Marmorbeden einen tiefen Einfchnitt; ſonſt
ift er heil. Dumm glogen feine ſchwarzen, Kamelen ähnliche Meer-
pferde auf den geweſenen Dom. Auf feinen Stufen haben fich eine
Standuhr und eine Petroleumlampe niedergelafjen.
- Über nafjes Bettzeug Hlettere ich zur Straße, die an der linken
Ceite de3 Doms vorüberführt. Sie ift ganz zerwühlt, die Dom-
flanke aufgerifien, aufgejchligt, wie ein Eifenbahnmwagen, in den
ſeitwärts eine Zolomotive hHneingefahren ift. Manjieht die braunen,
goldverzierten Schränke der Sakriſtei; fie find offen, wertvolle
Leuchter blinken daraus. Kein Dieb Hat ſich an fie herangemagt,
dem die Mauer links droht jeden Augenblid einzuftürzen. Soll ich
an ihr vorüber? Da fällt mein Blid auf ein offenes Scheunentor
auf der anderen Ceite. Fat lache ich auf, faſſe mich an den Kopf.
In dem jcheunenartigen Raum ftehen fünf Meter hohe Riefen-
reiterftatuen, grotesf, plump, eine Frau, ein Mann. Welch
blutiger Hohn: dieſe Inrnevaliftifchen Erzeugnijfe aus Karton find
intaft! Sronifch ftarren die tellergroßen Augen. Das ift mir zu
viel. Ich ftürme fort und einer Kate nach, die mir als Schrittmacher
dient. Zu ſpät erft, al ich in einem Hügelwirrwarr von Stein-
blöden taftend den Weg fuche, merfe ich, daß ich unter der gefähr«
lihen Dommauer ftehe. Und nun ſehe ich doppelt, meine eigene
verftümmelte Leiche mit zerichmettertem Kopf. Die Pulfe fliegen,
der Atem ftodt, kaum kann ich mich meiter jchleppen.
Meifina: Unter Palmen 279
Eine Stimme wedt mid. Ein ameritanifcher Kollege fragt mic
nad) dem erzbiichöflicden Palaft. Ich zude die Achjeln und fchaue
um mid. Bia Garibaldi, die Corſoſtraße Mej-
fina3? Wie bin id) hierher gelommen? Dabei blide ich ftarr auf
einen Prachtipiegel, der von der Rüdiwand des zufammengeftürzten
Hotel3 „Biltoria” Heruntergleißt. Aber auch er weiß feine Antwort.
Dad nahe Hotel „Meffina” fcheint äußerlich unbeſchädigt. All⸗
mäbhlich gehe ich weiter, menn es da3 Pflafter nur immer erlaubt.
Auch das Tor der Banca d'Italia ift vernagelt. Plötzlich wirds
meinen Füßen zu mohl; fie tanzen. Oder ift eg der Boden? An der
nächſten Ede fejjelt mid) eine Gardine; da3 ift ſonſt fein allzu interef-
fantes Möbel, aber das dazu gehörige Fenſter macht den Eindrud,
als gehöre e3 zu einem gemütlichen Zimmer, und e3 müfje jeden
Moment ein liebliche3 Frauenbild ſich zeigen und herunterneigen,
wie einjtend des Nitterd Braut auf der Inſel Rolandswert.
Nathausplag! Unter Palmen wandeln gemächlich Kara-
binieri, denen ein Greis mit feuerfarbenem Mantel ein Teuerchen
ſchürt. Idylle im Schreden. Ungeftraft jtanden aber nicht neben
den Balmen da3 Rathaus und fein. Gegenüber, vie Handels-
fammer, ein Palaft, der mich an die Frankfurier Börſe denken
läßt. Er ift inmmen ganz mit Trümmern gefüllt, als jei er dad Opfer
einer Doynamiterplojion geweſen. Aber in eherner Ruhe ftreden
braune Bronzejungfrauen ihre Lampen hervor aus dem veritiim-
melten Portal. Es find törichte Jungfrauen; denn ihre Lampen
haben fein Ol. Das ftolze, mit ſchweren dorifchen und jonifchen
Säulen prunfende Municipium ift ein ausgeblafenes Ci. Bier
Wände umd nichts dahinter!
Der Mann im Feuermantel fcheint gefprächäluftig zu ſein. Er
nähert jich mir mit den leider mir fchon ftereotyp gewordenen
Jeremiasphraſen. Sch unterbrecdhe: „Was find das für Puppen,
die id am Dom ſah?“ Er lächelt gejchmeichelt und verſchmitzt:
„Die Giganten, der Grifone und die Matta; fie wırden in
280 Meilina: Kennſt Du dag Land?
der Prozeſſion vom 15. Auguft, am Himmelfahrtzfeit Maria herum-
getragen”. Dom und Puppe! „Und Patroflus mußte fterben,
doch Therjites blieb zurüd." Unſer Geſpräch wird durch ein Rieſen⸗
geräufch unterbrochen. „Sprengt man, oder ift ein Haus eingeftürzt ?"
— „Nein, e3 donnert”, jagt der Yeuermmtel, „wir befommen
Schnee.”
Ich irre weiter, die Kreuz, die Duere, Hetternd, rutichend,
gleitend, fpringend. Doch mag foll ich das Einzelne noch beichreiben ?
Die Wahrheit ift und bleibt: Meffina ift ein Hundertfaches Pompejii.
Die Lage der Dinge ift fchlimmer, als bis jebt es die Schilderungen
der Preſſe ahnen ließen!
Gegen Abend war id) wieder an der Balazzata. Die
meijten Häufer ohne Dach und vielfach zerriffen. Die größten Pa⸗
lazzi zu Feten zertrümmert, oder Scheinbilder A la Potemkinſche
Dörfer, da nur noch die Faffaden ragen. Die große Filchhalle ift
ein grauenhafter Schutthaufen. Kein Bombardement hätte jchlim-
mer haufen können. Die Neptunftatue vor dem Palazzo Littä iſt
rundum gedreht und zeigt jebt nur den Rüden. Emmen unjagbaren
Eindruck macht wiederum das tiefe Schweigen, dag troß der An⸗
mwejenheit der vielen Schiffe über dem Hafen und der Stadt ruht
und fo jeltjam Eontraftiert gegen da3 laute gejchäftige Treiben, das
jonft den Reifenden in der fröhlichiten Stadt Sizilien? empfing.
Doch was foll ich weiter ſchildern? Erwähnen will ich nur noch:
Auch auf der Höhe Haufte die Kataftrophe mit ungeheurer Wut.
Das „Mufeo civico“ mit feinen Schäßen ift zerftört. Nebenan ift
in ©. Gregorio die Stätte, mo Goethe gedichtet haben foll: „Kennft
du das Land?" Mber ich muß Menfchen fehen. Alſo zur Station
am Hafen und Präfektur, um Nachrichten zu ſammeln, eine Er-
friſchung zu finden, ein Wort der Unterhaltung zu betteln, denn
des Todes fatt, dränge ich zum Leben.
„All mein Blut in den Adern ftarrt
Bor der gräßlich entichiedenen Gegenwart!”
Meſſina: Der zerftörte Kai 281
Mir beginnt zu ſchwindeln. Ich eile an eine freie Stelle am
Hafenkai, um Luft zu fchöpfen. Hier ift das Berftörungs-
bild ebenfall3 phantaftiih. Das Meer hat gleiches Niveau mit
der hundertfach gefpaltenen Straße. Man fchreitet durch dag Waſſer
und glaubt jeden Augenblid von dem tüdischen Boden verſchluckt
zu werden.
„Stürzet ein ihr Wände!
Berfin®, o Schwelle
Unter der ſchrecklichen Füße Tritt!
Schwarze Dämpfe entfteiget
Dualmend dem Abgrund! Berjchlinget des Tages
Lieblichen Schein!”
Uberſchwemmung ringsum.
Um Abend mar ich wieder an der Palazzata auf dem Hafenkai.
Diefer jcheint das Opfer einer Uberſchwemmung. Laſtwagen fahren
borfichtig an den heilen Stellen, denn auf Schritt und Tritt trifft
man Gruben, Trichter, Höhlen im Pflafter, das fich ftändig ſenkt.
Bleiernes, ſchwefelgelbes Licht zuclt über den Hafen. Sch habe das
Gefühl, als bedrohe mid) da3 Meer, denn e3 ſcheint Heranzufchleichen,
um mich einzufaugen. Jetzt ſchmettern Trompeten auf den Kriegs⸗
ſchiffen, hie und da leuchtet eine elektriiche Lampe; denn Dr. Helbig,
der Sohn des römischen Archäologen, hat aus alten Schiffskeſſeln
eine eleftriiche Station improviſiert; fonft zittern nur Fadeln, gleich
Irrlichtern. Über das Waſſer hufchen wie Glühwürmer die Lichter
der Barkaffen und Motorboote. Hinter der Hauptftation herrfcht
rege3 Leben; Zelte und Baraden find dort für die Soldaten errichtet.
Bon dort fällt ein bleigraues Licht auf die verwüſtete Stadt, die wie
eine Ausgeburt der Phantafie Edgar Poe's erfcheint. NArmfeliges
Volk, das vorüberichleicht, fcheint von Ribera gemalt zu fein. Bei
fortichreitendem nächtlidem Dunkel wird die Szene ringsum
Phantaftifch-gejpenftiih. Das Grauen wird noch dadurch vermehrt,
daß die Scheinwerfer der Kriegsfchiffe eifrig die Echutthalden ab-
juchen und plöglich zu grell beleuchten. Gefpenftifches, phantaftiiches
282 Meſſina: Unmetter
ſpukhaftes Bild! — Doc) jetzt prafjelt Hagel auf mich ein. Blik
und Donner folgen. Unglaubliche Waſſermaſſen ftürzen hernieder.
„Jene gewaltigen Wetterbäcdhe,
Aus des Hagel unendlihen Schloſſen,
Aus den Wollenbrüdhen zufammengeflofien,
Kommen finfter geraufcht und gefchoffen,
Reißen die Brüden und reißen die Dämme
Donnernd mit fort im Wogengejhwemme*)"...
Und ich habe fein Obdach. Alle Unterkunftsgelegenheit ift be-
jet. Alfo zurüd zur „Sardegna“, die erft morgen früh weiter fährt.
Aber kein Fährmann. Über ein Dubend Barkenführer rufe ich an.
Bergebend. Sie antworten nicht. Zum Glüd legt ein Boot mit drei
PBionierfodaten an; fie haben Mitleid und nehmen mid) mit. Sie
rudern mich vorüber an den in vornehmer Lichterpracht gleißenden
ſchwimmenden Paläften. In einem derjelben Iogiert ver Herzog
bon Genua, deraufden Wunſch des Königs nicht ala Komman-
dant der Slotte, iondern als Pertreter des Konigshauſes nach
Meſſina kam.
Von Meſſina nach Neapel.
Neapel, 11. Januar 1909.
Geſtern abend um acht eine neue Überraſchung! Der Kapitän
kommt: „Ich habe Gegenbefehl. Ich muß ſofort nach Neapel zurück,
darf ſogar nichts mehr ausladen!“... Was ſoll ih tun? Mich
nochmals ausſchiffen laſſen und in dieſer Schauernacht meinen ſchon
ſo oft durchnäßten Leib nochmals von Baracke zu Baracke ſchleppen?
Und wer fährt mich zu dieſer Stunde zu dem ſehr weit ankernden
*) Diefe Stelle aus der „Braut von Meſſina“ entſpricht den Tat-
ſachen. Wie ich zwei Tage fpäter Ins, dauerte das Unmetter die ganze
Nacht, brachte viele Mauern ‚um Einfturz und riß noch zwanzig Meter
Kai ind Meer.
Meſſina: Rückkehr der Bewohner 283
deutſchen Schiff, das auch ſchon überfüllt iſt? Es ift alfo beſſer: Zurüd.
Um fo mehr, da von Mefjina doch fein Telegramm abgeht. Mit uns
fam auch da3 Lyſol nad) Neapel zurüd.
Wie wir die Anker lichten, ertönt aus der ftillen Stadt der
unheimliche Ruf des Käuzgchens. .. .
„Und wie der Eulen nachtgewohnte Brut
Bon der zeritörten Branditatt, wo fie lang
- Mit alt verjährtem Eigentum geniftet,
Auffliegt in düfterem Schwarm, den Tag verdunkelnd,
Wenn ſich die lang vertriebenen Bewohner
Heimkehrend nahen ....“
Ja? Wann? Wann werden die Bewohner Meſſinas, ſoweit
ſie ſich retteten, zu der auch vom Brande verwüſteten Trümmerftadt
zurückkehren? —
Auf der Fahrt ſprach mir der Kapitän von den Zuſtänden in
Reggio. Sie find unglaublich nach dem, was ihm die zurückkeh⸗
enden italienifchen Spezialforrefpondenten jagten. Die Stadt ift
ein einziger Schmußhaufen, ein Kotmeer. Die von Aufregung,
Regen und Kälte hart mitgenommenen Einwohner jmd ſtark zu
Snfeltionsfrankheiten geneigt. Dazu findet eine wahre Völker⸗
wanderung aus den Bergen ftatt. Eine bunte Menge in.der chnrafte-
riftiichen Landestracht ſtrömt nach Neggio, geführt von Prieſtern,
gefolgt von hachbeladenen Eſeln. Was fie will? „Fare la sua
speculazione!“ Was das heißt, erflären die Leute nicht näher.
Sie verhalten fich ruhig, fchlagen ihr Lager auf und harten der Dinge,
die da fommen follen. Auch viele Flüchtlinge, die im erften Schreden
die Stadt verlafjen hatten, Tehren zurüd, um „fich pflegen zu laſſen“.
In Palmi follendie ſchwarzen Blattern ausgebrochen
ſein, doch ſchweigen die Blätter und die offiziellen Telegramme
darüber. Daneben herrſcht Panik, weil ſich am 8. Januar heftige
Erdſtöße wiederholten, die den Dom vollſtändig zerſtörten. Ein
höherer Offizier, der fich an unſerer Unterhaltung beteiligte, äußerte
284 Meſſina: Elend im Hinterland
ſich mißbilligend über die Vielköpfigleit der Behörden in Meflina,
worauf der Kapitän einfiel: „Auch ich weiß nie, woran ich bin.
Heute habe ich wieder nicht ausladen können. Na, ich jage nichts,
aber geftern nacht hätten Sie zuhören follen, al3 mehrere Ab-
geordnete und Spezialkorreſpondenten von Meſſina zurüdfuhren.
Das Geihimpfe! Doch, wir wollen gerecht fein. Die Behörden
jtehen einer zu großen Kataftrophe gegenüber. Alles ſpricht nur
von Meſſina, aber in deſſen bergigem Hinterland
ind Hunderte von Fleinen Ortfhaften um die
fihindererfien®ode feiner fümmern konnte;
denn fie haben weder Straßen und Wege, die fie mit der Außenwelt
verbinden, noch Poft und Telegraph. Bis jebt konnte man an die
dortigen Toten und Verwundeten noch nicht denken; erſt allmählich
werden Soldaten dorthin gefchidt, die Brot tragen. ch jelbit
habe vor ein paar Tagen einen Umweg nad) Spadaro machen müſſen,
um Soldaten dorthin zu bringen.”
Unfer Dampfer war geftopft voll von Abgeoröneten und
Senatoren. Außer den beiden Offizieren, von denen ich oben ſprach,
mußte auch ein Nachlömmling des Hl. Borromäus, Graf Bor-
rtomeo, unverichteter Sache nach Neapel zurüd. Im Salon
war e3 nicht auszuhalten. In allen Tonarten wurde über die Re-
gierung und den Belngerungszuftand gefchimpft; am meiften tat
ich in der Kritif der Senator Todaro hervor, der bekannte
Mediziner und Präfident der italienifchen Turnerichaft.
Bei der Ankunft neue Panik, wie bei der Abfahrt. Die Mann-
ſchaft ift übermüdet. Wir tollivieren mit dem Hafendamm. Zum
Glück Fein Led! Denn jonft! Bei der Menjchenmenge an Bord!...
Hier in Neapel ftieß ih auf unſern Marineattadhe, Kapitän
Rampold. (Sein Amtögenoffe, der Militärattach& Oberft-
leutnant v. Hammerftein, war fchon vorher von Meſſina nad)
Rom zurückgekehrt.) Er jchilderte mir die Schwierigkeiten, die fie
gehabt hatten, um eine Fahrgelegenheit nach Meſſina zu finden.
Meſſina: Chauvinismus 285
Dann ſprach er auch über die Mißſtände, die ſich in Meſſina gezeigt,
nahm aber General Mazza in Schutz, ebenſo die italieniſche
Marine. Der General ſei ſo von Briefen, Telegrammen und Beſu⸗
chern überlaſtet, daß er feinen Augenblick Ruhe und noch nicht ein-
mal Zeit gefunden habe, an Land zu gehen und nachzufchauen,
ob feine Befehle auch befolgt wurden. Der italieniijhen Marine
aber mache man ungerechte Vorwürfe. Ein Teil der Flotte befand
fich auf einer Übungsfahrt nad) dem atlantifchen Ozean, mußte
alſo durch Funkenſpruch zurüdgerufen werden, der andere hatte
Winterliegezeit und feine Mannfchaften waren durch die Feſturlaube
ſtark gelichtet. Es handelte fich alfo um ein Zufammentreffen von
unglüdlichen Zufällen.
Nachher ſprach ich noch mit vielen Deutſchen von der
Kolonie. Sie zeigten ſich empört darüber, daß die italienifche Prefje
die Aufopferung der deutihen Wohltätigkeit ſyſtematiſch ver-
ſchweige, geradezu erbittert aber fühlten fie fich gegen den „Mattino”,
der am 9. Januar einen maßlofen Schimpfartifel gegen Sfterreich
und den Dreibund losgelaſſen hatte. In der Tat, der Artikel ift etwas
ſtark, aber ſtarke Töne pflegt Edoard Scarfoglio („Tartarin”),
der au einem Preibundpaulus ein Bierbundjaulus gemorden ift,
eben immer anzufchlagen. Er behauptet unter anderem, die Breffe
Öfterreich3 habe Ktalien höhniſch zugerufen, es könne doch froh fein,
daß man in Wien die jebige Kataftrophe nicht ausgenügt und den
Befehl gegeben habe, über Italiens Grenze zu marſchieren. Dann
verfichert er, da in Meflina nur ruſſiſche, engliſche und franzöfiiche
Kriegsſchiffe (von den deutichen ſchweigt er), aber kein öſterreichiſches
erjchienen fei, jo könne man freilich fagen, daß in Meffina die neue
Duabdrupelallianz proflamiert worden jei.
286 Kalabrien: Die Küfte
An der Anglücksküſte Kalabriens.
An Bord der „Yombardia”, 14. Januar 1909.
Montag, den 11. Januar, fuhr ich gegen Mitternacht mit dem
Schnellzug ſüdwärts. Aufs Geraterwohl, da über die Eifenbahn-
berhältnifje die miderjprechendften Meldungen umgingen. Von
Überfüllung des Zuges war feine Spur, denn die Behörden ziehen,
um zur Südſpitze Kalabriens zu fommen, den Seeweg vor. So—
lange wir da3 Gebiet von Neapel pafjierten, war an der Schnellig-
feit der Fahrt nichts auszufegen, doch in Kalabrien gab’3 an jeder
Station langen Aufenthalt.
Die kalabriſche Bahn ift befanntlich eine der fchönften Italiens,
aber in gewöhnlichen Zeiten Tiegen die Fahrzeiten der Schnellzüge
jo, daß man die malerifchiten Streden nur nacht3 durchfährt. Die
eriten Schönheiten traf ich morgens um halb acht Uhr, an der Station
Praia Ajeta. Dem Ort liegt als Poſten die. einem Riefen-
kriegsſchiff ähnelnde Inſel Dino vor, die es lohnt, Halt zu machen,
wegen ihrer jchon erwähnten: blauen Grotten,. vie eine Sehens⸗
würdigkeit etjten Ranges darftellen. Bon jebt ab. löſt ein maleriſches
Bild das andere ab, Tunnel auf Tunnel, große Viadukte über bie
Bergflüffe (fiumare), die. alle mit ſchäumendem Braunwaſſer
gefüllt find, Kap-auf Kap, Schlucht auf Schlucht. Die zerrifferie
Küſte ift wilder, großartiger al3 der Felſenſtrand von Genua bis
Spezia.. An ſie erinnert auch die große Zahl von Wachttürmen und
Mininturlaftellen, Die. das ausgehende Mittelalter gegen Korſaren
und Sarazenen errichtete. : Beſonders ſchön ift das alte Schloß und
der Sarazenenturm von Scalea. Auf der Weiterfahrt tauchen
ab und zu, wenn die unendliche Reihe der Tunnels nach langem
- Dunkel einen Lichtblid bietet, bizarı geformte Inſelchen auf.
sn Diamante merde ich zum erftenmale an die Zeit der
Not erinnert. Ein Güterzug, hochbeladen mit Brettern und Balken,
harrt der Weiterbeförderung. Das Land ringsum belebt fich, viele
Sant Eufemia: Eifenbahnftodung 287
Maultiere und Ziegen fieht man und Bauern mit den charatteriſti⸗
ſchen Spitzhüten, die einft die Briganten trugen, und mit Flinſen.
Ab und zu fieht man noch Spuren des vorleßten Erdbeben, bar-
häuptige Kirchen, podennarbige Palazzi in den größeren Ortſchaften. i
Die Gegend wird reicher. In Fuscaldo (268 Kilometer) find
die Häufer auf mehrere Kilometer hin auf und ab an der Berghalde
zerftreut, weiße, fchmude Häufer mit roten Biegeldächern in allen
Stilarten.
Um 12 Uhr mittags erreihen wir Sant Eufemia, den
Knotenpunkt für die Bahn zum jonifchen Meere. Wir halten lange.
Kein Stationschef, ich jehe ihrer fajt ein Dubend, weiß den Grund
des Wartend zu erklären. Endlich Heißt’: „Ausfteigen! Der
Schnellzug hat hier ein Ende! Wir brauchen rollendes Material
für die Flüchtigen aus Reggio, die. von der jonijchen Küſte über
Catanzaro ommen. Heute morgen haben wir jchon 700 meiter-
geſchafft!“ Und fo ftehen wir Reifenden frierend im NRegenmetter,
ringsum angegähnt von der elenden Malariaſteppe. Wir hätten
Beit, an Stärkung zu denken, aber in dem ſchmutzſtarrenden foge-
nannten Bahnhofsbuffet iſt einen et augen
nichts. zu finden. ..:
Vergebens frage ich alle Schaffner. ‚Ber weiß, wer verſteht
bein noch etwas in diefer Konfufion!” antwortet mir brummig ein
Dberitaltener, „würde doch ganz Kalabrien pulverifiert! &3 wäre
ein Glüd für Italien!“ Lange überlege ich, ob ich den bereittehenden
Bug nad) Catanzaro nehmen. und morgen in aller Frühe den jo-
nifchen Cilzug nach. Reggio benüben joll, Aber. dann ‚verliere ich
zwei bis drei Tage für den Nachrichtenbienft. Auch rät mir ein
Kontrolleur wegen der Unordnung und des vielen Umfteigens ab.
Auf jeden Fall gibt er mir fehon ein Billet 68 Bagnara; der
Billetichalter felbit bleibt geſchloſſen.
Eine Gruppe Offiziere geht fluchend auf und ab. Wir kommen
ins Geſpräch. „Uns werden fie mahrjcheinlic in die Bergneſter
288 Reggio: Augenzeugen
ſchicken“, brummt einer, „denn wir find von der Provinzinfanterie!“
Ein anderer zeigt komisch feufzend auf eine Matrabe, die porüber-
getragen wird. „Wenn id) die hätte! Geit zehn Tagen Tiege ich auf
dem nafjen Boden!” Mein Kontrolleur fommt. „Ecco, ein
Bummelzug ift formiert. Steigen Sie jchnell ein; bis Balmi kommen
Gie fiher. Morgen früh geht verſuchsweiſe ein Dienftzug weiter
ſüdwärts. Benuben Sie brav Ihre Päſſe!“ Unglaublih! Der
Bummelzug nimmt mid) wirklid) mit. Fahrtgenofjen find ein ftiller
junger Mann, ein gutgenährter Berjagliere-Feldwebel, ein ener-
gifch ausfehender Jüngling und ein in fich verjunfener Bierziger.
Nach einigen Stunden neuer Aufenthalt. Der energijche Jüngling
mit den fchmalen Lippen und den bligenden Augen fährt jluchend
auf: „Natürlich, wir Kalabrefen find ja das Aſchenbrödelvolk!“
Damit ift plöglich die Unterhaltung im Gange. Der in ſich Zer-
funfene beginnt dumpf und leife: „Sch war am Unglüdstag in Neapel,
reife jofort zurüd und gehe vierzig Kilometer zu Fuß in anderthalb
Tagen bi3 Reggio, um meinen Bruder zu fuchen; ich finde ihn heil.
Aber die Zuftände in Neggio find noch ſchlimm. Die Toten find
noch nicht geborgen. Und zu alledem kommt der Wirrwarr auf den
Bahnen. Dieje Nacht gab e3 einen Zuſammenſtoß. Die Regierung
wird ihn natürlich dementieren. Freilich, da3 Perjonal auf dieſer
Linie ift demoralifiert; ein großer Teil ift tot, die Yeute vom herge⸗
ſchickten Erfat werden zu Dienften bommandiert, die ihnen neu jmd.
Dabei Schlafen fie nicht. Zum Unglüd Hatte man in den erjten Tagen
an allen Stationen die Züge gejtürmt und in Wohnungen ber-
wandelt. Das einzige Geleife war aljo blodiert, und e3 dauerte
lange, bis e3 frei wurde.” Der energifche. Züngling ſchimpft auf
die Regierung und auf da3 Regierungsbauamt. Und jeit drei Jahren
fei das Hilfsgefeb für Kalabrien in Kraft, aber noch nicht in einem
einzigen alle angewandt worden. Verfluchte Bureaukratie!
Wir fahren weiter. Der ftille Mann brauft auf: „Sch bin vom
Regierungsbauamt. Ich verbitte mir alle Angriffe!" Der energifche
Kalabrien: Die Advokaten 289
Süngling zeigt nach der Methode der Ablenkung auf die Station
Francavilla und fagt zu mir: „In dreizehn Stunden erreichen
Sie von hier aus auf einem Maultier dad Gut Yerdinanden, dag
Königreich von Achille Fazzari. Welche Schäte an Mineralien
und Wäldern und Wafjerkraft liegen dort brach! Fazzari erlaubt
feine Privatinitiative der Fremden; er hauft wie ein Pafcha, die
Regierung läßt ihn gewähren; denn er iſt allmächtig. Als Privat-
jefretär und Teftamentsvollitreder Giufeppe Garibaldis
ſcheint er wichtige Staatsgeheimniffe zu fennen. Zu fchredlich!
Und was haben die Auswanderung und der Sozialismus au3 unferem
ſchönen Kalabrien gemacht! Früher war unjer Volk gut, wir hatten
patriarchaliſche Zuftände. Und jet! Vom Sozialismus lernt e3
nur die bequemen Rechte und von der Auswanderung das Lafter.
Wenn jie von Amerika zurückkehren, bringen unfere Bauern 10 bis
12 000 Lire mit, ruhen aber nicht eher, al bi3 fie alles verjuckt
haben, und dann ziehen fie wieder über? Waſſer!“
Wir kommen nad) Pizzo. Der energiiche SJüngling fährt
fort: „Pizzo hat wenig gelitten. Seltſame Stadt! Schlechtes Ejien,
ichlechte3 Logis. Und die Bildung! Bei 12000 Einwohnern ver-
faufen die römifchen Zeitungen nicht 15 Eremplare. Überhaupt!
In ganz Kalabrien gibt es feine Druderei, fein Buch!”
Wir iommen nah Monteleone Santa Benere.
Heilige Venus? Auch nicht übel! Vor drei Jahren jtieg ich Hier bei
drüdender Septemberhite aus, um in den Bergen meine Gtreife
durch die vom Erdbeben betroffenen Dörfer zu beginnen, die mir
jpäter noch vierzehn Tage lang Unterleibzftörungen ſchuf. Nun,
das Talte Regenwetter heuer ift auch nicht gerade hygieniſch, aber
was tut’3? Die Flüchtlinge unten im Süden leiden noch mehr!
Sn Tropea empfängt una Sturm und Regenichauer. Der
zornige Kalabreſe fteigt aus und nun padt der Stille „Zivilingenieur"
aus: „sch bin aus den Abruzzen. Der Teufel hole dieje Advokaten⸗
kerls in Kalabrien! Das war auch fo einer. Sie find’3, die da3 gute
Zacher: Im Lande bed Erbbebens. 19
290 Kalabrien: Südliche Vegetation
Volk verderben und verhetzen!“ Längerer Aufenthalt. Ich frage
den GStationaporfteher nad) den Opfern. „Wir haben nicht viel
gelitten, defto mehr die Umgegend. Dort ift fein Haus unverleßt.
Geftern gab’3 Hier eine neue Panik. Ein Erdſtoß forderte vier
Tote!"
Bei der Weiterfahrt regt ſich auch der Feldwebel. „Ach bin
jelbft Kalabreſe. Wollte vorher nicht? jagen. Aber wahr ijt eg,
die Leute in den Bergen tebellieren gegen das Regierungsbauamt;
fie verlangen nur Pioniere!" In Ricadi neuer Aufenthalt.
Sch Tpreche mit dem Bugführer. „Komme ich durch?” — „Chi lo
sa? Es iſt 3 Uhr. Um 3 Uhr 15 Minuten fährt ein Zug von Bagnara
zurüd, wenn Gie vorziehen, über Catanzaro zu reifen. Um 8 Uhr
jollte auch ein Schnellzug gehen, aber alle Schnellzüge jind unter-
drüdt. Warten Sie! Vielleicht bekomme ich Ordre zur Weiterfahrt.
Dann können Sie ja in Palmi bleiben.” — „Balmi? Willen Sie,
teuerjter Herr, in Palmi find die ſchwarzen Blattern, und ich bin
Familienvater!"
Endlich! Neue Ordre. Der Zug geht weiter. Neue Gälte
fteigen ein. Die Gegend hat nichts von Erdbebenſchrecken. Haben
die italienischen Korrefpondenten in den Heinen Neftern aus Lolal-
patriotismus, auf Wunjch der Abgeordneten, übertrieben? Das
Beilpiel von 1905 lehrt, daß ſo etwas vorfommt. Soweit dad Auge
reicht, die herrlichſte Gartenpracht. Das reinjte Nordafrika. Die
Olhaine von unvergleichlicher Schönheit, der indifche Feigenkaktus
mit feinen roten, leuchtenden Blumen von feltenfter Größe. Lind
dann erſt die Orangenmwälder! Station Nicotera. Der Ort
fiegt malerifch auf fteiler Höhe, überragt von einer langgeſtreckten,
ichmalen Feſte und einer ftattlichen Barodfirhe. Der Stations-
borfteher erflärt: „Die Stadt Hat feit 1894 allen Erdbeben wider⸗
ftanden, jebt ift faft fein Haus unverlegt. Die Leute kampieren im
Freien.” Mitreifende machen mich darauf aufmerfjam, daß in ber
Nähe Mileto Tiegt, die Reſidenz des Biſchofs Morabito,
Kalabrien: Das Elend 291
der in Palmi unermüdlich fei und von dort aus in allen Nachbar-
orten Bollsfüchen organifiere.
Wir fahren langfam weiter. Olwälder wechſeln ab mit Geröll:
halden aus Granitbroden. Eine Landbucht öffnet fich, die im Süden
bon einer herrlich geformten blauen Alpenwand abgejchlofjen wird.
Ein breiter Fluß folgt. Kaftanienbäume blühen, wie in Roms
Bergen im Juni. Station Rofarno. Biele Offiziere. Sie ver-
fimden, daß der 5000 Einwohner zählende Ort ftark gelitten hat.
Noch fehlt’3 am Notwendigiten. Auf einem toten Geleife Tiegen
zwanzig Güterwagen, voll von flüchtigem Elendsvolk. Stoff für
noturaliftiiche Maler, die Schmuß, Dred, Not und Sammer
ſchildern.
An Gioja Tauro nimmt das Elend ſchon größere Aus-
dehnung an. Eine Zeltſtadt ift aufgeblüht. Blauweiße Kegelzelte
wechjeln ab mit graugrünen polygonalen Pavillons. Viele Eifen-
bahnmwagen 1. und 2. Klaſſe find in Wohnungen umgemwandelt.
Ein mfanteriehfauptmann ſpricht von Palmi. & ift halb zer-
ſtört. Die Station wurde unbrauchbar. Ein Mitreifender mifcht
ih ein. „In Intrignoli find alle Häufer entweder eingeftürzt oder
gejpalten, in Radicena vollitändiger Einſturz. Zwei Kirchtürme
zeritört, jchlimmer als 1905. In Molchockhio alle Häufer zerftört,
8 Tote, 24 Berwundete. ©. Chriftina ganz zerftört, Oppido halbe
Ruine, die Hauptlirche eingeftürzt. Cittanova wenig, Caſtellacci
ganz zerſtört; in Oliſtena 57 Tote, 20 Verwundete, in Palmi 600
Tote, in Bagnara 1000 Tote, Seminara, Santa Eufemia Aſpro⸗
monte vollftändig verwüſtet. Im letzteren 2000 Tote.“ So trocken,
wie ich dieſe Aufzählung hinſchreibe, ſo trocken, nüchtern, ſelbſt⸗
verſtändlich — Dickens würde ſagen: „matter of fact“ — Tam fie
auch aus dem Munde des Erzählenden. Das ift eben die Folge der
ungeheuren, unfaßlichen Kataftrophe: die Toten werden billig.
Man wird abgeitumpft. Das menschliche Auffaſſungsvermögen
dat eben auch feinen toten Punkt.
19*
292 Kalabrien: Zigeunerlager
Station Palmi. Die „Palmenſtadt“ ift unfichtbar. Gie
liegt in einem Gürtel von Kaftanien- und Obftbäumen vier Kilo-
meter entfernt auf der Höhe. Soll ich ausfteigen? Aber ich bin zum
Umfallen müde. Gehe ich zu Fuß hinauf, wo fichere ich in diejer
Konfufion mein Handgepäd, meine Dede? Iſt denn PBalmi nicht
die berüchtigte Stätte der Kamorra, der Delinquenten in Süditalien,
der Schreden der SKarabinieri? Und findet man Gefährt oder
Unterfunft? ch bleibe figen und vertraue mich dem Zufall an.
Mein Entichluß beftärkt fich, ala ich im Dämmerlicht das Lagerleben
am Bahnhof jehe. In Clondyke konnte e3 zu deſſen Anfängen nicht
ichlimmer ausjehen, die Station funktioniert nicht mehr. Provi-
forifche Bauten find in Angriff genommen. Überall liegen Betten,
Ballen in Kot und Schlamm, vermifcht mit Wellblechhaufen. Offi⸗
ziere eilen gejchäftig hin und her, flehen fich gegenfeitig mit auf-
gehobenen Händen an: „Bitte, zwei Soldaten! Nur fünf Minuten.
Ich kann nicht mehr!" Die Verwirrung wird gefteigert, weil unjer
Zug viel Material ausladet. Mein Magen Inurrt, Schofolade be-
ſchwichtigt ihn. Seht tauchen viele Automobiliften auf, Herren vom
Mailänder und vom Turiner Roten Kreuze.
Unglaublih! Der Zug fchleicht um halb ſechs Uhr nach dem
zehn Kilometer entfernten Bagnara durch einen Rielen-
tumnel, in dem wegen de3 Erdbebenſchadens mit äußeriter Vorſicht
gefahren werden muß. Der unangenehme Eindrud, den das
Schnedentenipo macht, verwandelt einen ftillen Mann, der jchon
feit langem in der Ede Tauerte, zum Sprechen: „Auch ich bin aus
Neggiv. Beamter. War auswärts. Auch ich mußte zu Fuß hin,
um nach meiner Familie zu fehen. Sie ift gerettet. Aber meine rau
hat einen Arm gebrochen, der erft nach drei Tagen verbunden werden
fonnte. So ging’3 allen Verwundeten. Drei Tage lang haben jie
am kalten, naffen Strande gelegen. Jetzt erft Hat man im Stadtpark
‚ein Hojpital organifiert, mo aber zum Teil die Verlegten noch auf dem
nadten Boden liegen. Seht erſt beginnt die Arbeit der Mafjengräber.
Bagnara: Die Suche nad dem Paß 293
Die reinfte Einpöllung, Schicht auf Schicht, wie bei den Sardellen
nur ftatt Salz Kalt! Warum brachte man die Verwundeten nicht
auf die Kriegsſchiffe? Zwei Drittel der Bevölkerung von Reggio find
vernichtet, Hunderte von Leichen liegen noch unter den Trümmern.
Der große Palazzo Marangoni allein, der vier Stockwerke hatte —
Sie werden ihn fehen, an der Marina — dedt 150 Tote. Und ich habe
alles verloren! Der Staat zahlt mir als Entichädigung zwei Drittel
eined Monatögehalt3!" Sechs ein viertel Uhr. Nacht! Ankunft in
Bagnara. Bon ihm jagt das Schulbuch für Geographie: „Es
iſt eine Heine Induſtrieſtadt, 36 Kilometer von Reggio entfernt; es
hat Altohol-, Wachskerzen⸗, Stuhl- und Geilfabriten und erfreut
jih eines lebhaften Handel3 in Honig, Wein, Holz und Wachs.
Seine Fijcherfolonie ift bedeutend. Das Stadtgebiet ift ſehr frucht-
bar, fein Wein berühmt. 1783 wurde es vollitändig zerftört, feine
Bevölkerung vermehrt fich ftändig.”
Bon Bagnara nah Villa San Giovanni.
Neapel, 14. Sanıar 1909.
Der Bahnıhof von Bagnara hatte elektriiches Licht. Alſo
waren die Pioniere Herren der Lage. Mein erjter Gang war zum
Militärlommando. 3 refidiert im Wartefaal erfter und zweiter
Klaffe. Ein mit Blauftift gejchriebener Zettel befagt: „Gepäd wird
al3 Depotgut nicht angenommen.” Nichtsdeſtoweniger gejtattet mir
ein Reutnant da3 Gebot zu übertreten. Dann wird mir ein Infan-
teriſt als Führer mitgegeben. Er jchreitet munter duch Pfützen
und Sümpflein hügelan, unbekümmert aud) um den beharrlid) nieder-
tropfenden Regen. Er führt aber jchlecht; denn er macht mid) nicht
auf die Gruben und Erdbudel aufmerkfjam, die ich im Dunkel nicht
jehe. Uber plößlich |pricht er mich in gebrochenem Deutſch an. Er
294 Bagnara: Der Generalinfpettor
war Modellichreiner in Köln, Eſſen, Mülheim und meint, in Deutjch-
land gefalle e3 ihm doch befjer als in Kalabrien.
Unter Geſprächen kommen wir in eine Zeltftadt. Der Herr
Führer irrt jich im Dunkeln; endlich findet er unjer Ziel. Eine hohe
Geſtalt taucht aus einem Zelte auf. Ich ftelle mich vor, |preche von
meinen Päſſen. „Wohlan, gehen Sie jet zum bürgerlichen Be-
fehlshaber, dem Generalinſpektor des Minifterium3 des Innern;
morgen gebe ich deifen Paß das Viſum, und Sie können dann als
„Mann im Dienft” amtlich weiterfahren. Gegen acht Uhr geht ein
Probezug bis Billa San Giovanni mit Arbeitern, um die Strecke
zu reparieren.” Nun neue Strauchelei im Dunleln, bergabmärts
zum Strand und hügelan zur Stadt. Drinnen fieht’3 fchauerlich
aus. Einzelne Straßen find durch Holzverfchläge gefperrt, weil die
ZTrümmerhäufer zu ftürzen drohen. Nur zwei Häujer haben nicht
gelitten, ſie waren aber aud) au Holz. Der Einfturz der übrigen
forderte 1000 Opfer.
Bor die Stadt. Durch neue Köcher, Lachen, Seen, über Belt-
drähte in ein Baradenlager, bizarr, phantaſtiſch. Nach vielem Hin
und Her übernimmt jetzt ein Karabiniere die Führung. Bald ftehe
ich in einem einftödigen Holzhaufe, in einem Wachtlofal, qualmig,
rauchig, ftidig, gefüllt mit Staatspoliziften. Ein kurzer Ausweis,
und man führt mich ind Mllerheiligfte, zum Generalinipeftor. Ein
liebensmwiürdiger Herr. Mein Geleitichein vom Minifter des Innern
wirkt. Einige Namen von höheren Funktionären aud. In fünf
Minuten habe ich die Weiſung, wonach ich mit allen Mitteln und auf
jedem Wege meiterzubefördern bin. Ich fungiere aljo als Eilgut.
Aber wo ejjen, wo jchlafen? Und der Regen regnet jeglichen Tag.
„sh würde Sie gerne einladen”, jagt der Generalinfpeltor, „aber
ih habe jelbft dort in der Ede nur zwei Matraben für mich und
meinen Sekretär!" Und von neuem beginnt die Wanderung.
Zurück zur Station; d. h. zu der Barade, die als folche dient. Beim
Borfteher große Erörterung. Ich erkläre mich aß „Mann vom Dienft“,
Bagnara: Ein Göttermahl 295
lafje auch da3 Zauberwort: „Minifterium de3 Innern“ fallen. Es
wirkt wie der Spruch: „Seſam, tu' dich auf!“
Ein ſtattlicher Herr, Oberkommiſſar der Polizei, tritt vor: „Ich
teile ab. ch trete Ihnen mein halbes Abteil ab.” Drob taucht ein
blonder Yüngling in Zivil auf. „Folgen Sie mir!" Vorüber an
einer endlofen Reihe von Eifenbahnmwagen. Ein Abteil zweiter
Klaffe ſchließt er auf: „Hier ift Ihr Hotel! Wo ift Ihr Gepäd?"
Das wird geholt. „Gut! Haben Sie ſchon gegeſſen?“ — „Seit
Mitternacht nur Schololade und Zigarrenrauch.“ — „Gut! Dafür
forge ih.” Hinter dem Bahnhof ift ein wild west-Schuppen, ein
camp für tramps. Mit jchnellen Augen überfliegt mein Jüngling,
ein Gizilianer, den alle refpeltvoll mit „brigadiere‘“ (Polizei-
jergeant) anreden, den zugigen, dämmerichten Raum und feine
rauhborftigen Inſaſſen. Nachdem er einige Worte in mir unver-
ſtändlichem Dialekt mit einer Alten gewechjelt, die man im Mittel-
alter ficherlich zu der Ehre des Scheiterhaufens befördert hätte,
ſagte er kurz: „Nichts für Sie”, und führt mich zu einer Holzbarade
neneften Datums. In dem Kleinen Geviert, mo Betten, Möbel,
Tiiche, Bänke wie in einer Rumpellammer auf- und meinander ge-
ichichtet find, ruft er: „ch Stelle eine Reſpektperſon vor!" Drob
erheben fich vom größten Tiſch ſechs baumlange Kerl, anjcheinend
Eifenbahnarbeiler. ch bitte fie, fich zu fegen und mir nur ein Eckchen
zu gönnen. Mein Schubengel gibt kurze Befehle und verläßt mich,
da er. Dienjt Habe. Meine Nachbarn erhalten eine Brotjuppe in
einem Napf und auf emem Tijchtuch, das mich an den Schmuß
der Vorſtadtsteekneipen von Peteröburg erinnert. Bald erhalte
ih Brot, Wein und gefotternen Stodfiih. Ein Göttermahl! Der
Wein ift gut. Bald beftelle ich neuen für meine Nachbarn; denn
‚darunter ift ein Amerikaner. Ein geſprächſamer Herr, nur hat er
die Eigenheit, zu behaupten, Chikago liege nicht in den Vereinigten
Staaten. Viele Kinder tauchen plötlich auf. Ein Wink des Herberg-
vaters, und meine Konkneipanten müljen fort, denn draußen find
2% Bagnara: Ein fideles Gefängnis
Hungrige Zollfoldaten. Mailänder. Sie jprechen von den Deutichen
in Mailand. Nachdem fie gefättigt jind, kommen neue Verhungerte,
diesmal höhere Eifenbahnbeamte. Dieſer Perſonenwechſel ift ment
faleidoftopifch, nein, kinematographiſch.
Die Unterhaltung bewegt ſich jegt um die Katajtrophe. Zwei
Tage lang war Bagnara ohne jede Hilfe, dann erhielt e3 vor allen
Städten der Umgegend die erfte vom Meere her. Den Tag drauf
wurde die Eijenbahn durch Erdlawinen blodiert, und die Aufräu-
mung3arbeiten dauerten zwei Tage. Nun bommen auch die Frauen
des Wirtes zum Borjchein. Welche Güte, welche Zartheit, welche
erhabene Einfachheit entwideln Frau, Großmutter, Schwägerin in
der Erzählung ihrer Schidfale und in der Sorge für die Gäfte!
Manche Damen von Wohltätigfeitäbazaren müßten bejchämt werden
von jolcher Wohltätigfeit, die aus gutem Herzen, aus angeborenem
Takte kommt. Selten habe ich mich bei Fremden fo heimifch und fo
gemütlich gefühlt, wie bei diefen armen, rührend guten Leuten.
Mir tut's faft leid, daß ich gegen halb zehn von meinem Schubengel
abberufen werde. An meinem Räderhotel angelommen, murmelt
‚mein Mentor etwas wie „Umlogierung aus dienftlichen Gründen”,
und führt mid) in ein anderes Abteil. Dort ift ein Untergebener
bon ihm. Nebenan find noch vier jüngere Herren. Unter ——
rendem Geſpräch der letzteren ſchlafe ich ein.
Um ſechs Uhr ſtand ich ſchon am Fenſter und — mir
die dunkle Landſchaft. Ganz alpin. Theaterdekoration für „Fra
Diavolo”. Schwere Wolfen am Himmel. Grell fchimmern die
weißen gelte. Von den zadigen Feljen raucht braufend ein Berg-
ſtrom. Eine halbe Stunde darauf ertünen die Signalhörner. Aus
den Waggons in der Nähe treten Frauen im ſchmutzigſten Neglige
hervor. Mem Brigadiere kommt mit Handtuch und Geife: „Avanti,
zum Flug!" Meine fünf Schlafkamecaden gehen mit. Zmweihundert
Schritt weit, zum Damm. Auf einer Hühnerleiter hinunter zur
Schlucht. Und nun beginnt die Toilette. Ein Bild aus einem Gold⸗
Bagnara: Blinde Paſſagiere 297
gräberlager! Zum Glüd iſt Regenpauje und die Luft lau und lind.
Bei der Rückkehr ſetzt Regenſchauer ein. „Wilfen Sie auch, wer die
bier jungen Herren find?” fragt mid) der Brigadier mit ver-
ſchmitztem Lächeln, „es find verdächtige Kerle, die ich verhaftet habe.
Noch warte ich auf Befehl für ihren Abſchub.“
Nachdem ic) bei dem Wirte von geftern abend noch Kaffee
getrunfen, made ic) Jagd auf den höchitlommandierenden Major.
Er ift noch nicht präfentabel, er rafiert ſich. Unterdeſſen regt ſich am
Bahnhofsbrunnen fröhliches Leben. Frauen mie %ellahmeiber,
die die Amphora quer auf dem Kopftuch tragen, Mädchen und halb-
nadte Buben fommen und gehen, Offiziere und Gemeine waſchen
ſich kunterbunt im Freien.
Um acht Uhr habe ich vom Major mein Viſum. Unfer Dienftzug,
mehrere Wagen mit Brettern, Telegraphendraht, Ballen, Dach⸗
pappe beladen, wird langſam gebildet. Sch befteige einen Gepäd-
wagen. Dachpapperolien find mein Sit. Viele Paflagiere hat unfer
Wagen. Höhere Eijenbahnbeamte, ein Dutzend Telegraphenarbeiter,
Mechaniler, einen Hauptlafjierer und Betriebsinſpektor, dann drei
Dberitaliener vom Roten Kreuz. Wir rangieren hin und her, vor
die Stadt und hinter fie, einmal einen Kilometer weit bi3 unter einen
Zumel. So erhalte ich Gelegenheit, die einft jo liebliche Stadt zu
betrachten und die reiche Vegetation ringsum. |
Um neun Uhr fol’3 losgehen. Ein Oberbahnmeifter kommt
mit und beginnt die Telegraphenarbeiter zu inftruieren. Sie find
noch ganz blödfinnig vor Furcht. Unterdefjen Flucht der Betriebs-
injpeftor mie bejejlen. Der reinjte Türke! Blinde Paflagiere find
zu und hineingeflettert. Einige widerjegen ſich, werden fogar frech.
Nun wird der Inſpektor Humoriftiich, läßt aber insgeheim die Polizei
rufen. Mein Brigadiere erjcheint und nimmt Berhaftungen vor.
Aufatmend wiſcht fich der greife Inſpektor die Stim und erzählt
dann mit unterdrüdtem Schluchgen, daß er Frau und Kind verloren.
„Ich war auf einer Dienftreife. Gott jei Dank, meine Frau hat nicht
298 Bagnara: Erdlamwinen
gelitten, fie lächelte noch im Tode. Aber meine jüngfte Tochter ift
zerqueticht. Hier ift der Trauring meiner rau!” Neue Störung.
Ein fein gefleideter Herr, der aus Nem-Pork herbeieilte, um feine
Verwandten in Reggio zu fuchen, wird hinausbefördert, wieder
zugelafjen, von neuem durch die Polizei an die Luft geſetzt, wiederum
durch das Militär hineingewieſen.
Unterdejjen fallen jich die „Standesperfonen” bei jedem Stoß
des Wagens in die Arme oder an die Köpfe. Langfam fahren wir,
borjichtig taſtend. Inzwiſchen höre ich einen Vortrag über die Re⸗
patatur de3 Telegraphen. Beim erjten Wärterhaus Halt. Einige
Telegraphenarbeiter jteigen aus. Bretter und Ballen werden zum
Bau eines neuen Wärterhaufes Hinausgermorfen. An jedem ehe-
maligen Wärterhaus dasjelbe Spiel. Die Iandfchaftliche Szenerie
ift malerifch. Weinberge wie am Rhein. Aber von Beit zu Zeit find
jie durch furchtbare Erdrutſche, die oft die Telegraphenitangen bis
ins Meer gejchleudert haben, verwüſtet. Die zurüdgebliebenen
Arbeiter jchauen jich mit Kermermiene in die Augen. Offenbar trauen
fie der Strede, den Tunnels nicht. Auch die Landſtraße ift durch
Schuttlawinen ftellenmweije unterbrochen. Jetzt begreife id, warum
General Marazzi am 29. und 30. Dezember vergeblich ver-
fuchte, zu Fuß nad) Reggio zu kommen. In Favazzina wird rangiert.
Ich benüge den Aufenthalt. Der Direktor der zerftörten Papier⸗
fabrif begleitet mich an den .Ort. „Zwanzig Tote, viele Ver-
wundete. alt. fein einziges Haus bewohnbar. Ich rettete mid)
durch Sprung vom erſten Stod und hatte nur einige Schentel-
wunden. Em Mailänder Komitee arbeitet fchon Hier. Die
‚Baraden find im Bau. Sehen Sie, welch” fchöne Gegend!" Und
er zeigt mir in der Ferne die Landzunge, auf der dad Schloß
des fagenberühmten Scilla thront. Wir gehen dann durch die
Station zur Unterftadt. Die Vertvüftung ift graufig. Eine Hobl-
äugige, hohlwangige Menge, in — gehüllt, winſelt: „Brot
und Bretter!“ |
Cannitello: Die Magenfrage 2%
Scilla! Ein amerilaniſches, ein italienisches Kriegsſchiff
liegen vor der Reede, ein pittoresfes Zeltlager lacht am Strande,
flankiert von buntichedigen Baraden. Der Stationdvorftand fagt:
„600 Tote, 700 Verwundete. Piemonteſiſches Hilfsfomitee. Die
erite Hilfe brachten die Engländer. Bis jebt wagt nod) niemand in
die Oberftadt Hinaufzuflettem. Der Leichengeitant ft fürchterlich
und alles Gemäuer morſch!“ Ich blide hinauf. Wie ſchön muß dieſe
Oberſtadt geweſen fein, die jet nur Ruine ift! Faft Capri!
Elf Uhr: Sannitello! Wiederum geht mein Vorrat von
Ausrufen und Adjeltiven aus. Zerflörung vollftändig! Station ein
Schutthaufen von einem Meter Höhe; er birgt nod) die Leiche eines
Affiitenten. Geltfamer Eindrud. An der Station glaubt man in
freiem Felde zu fein. Es ift der größte Verwüſtungsgraus, den ich
bisher auf der ganzen Strede gefehen habe. Ich treffe in einem
großen Baradenbau den Bürgermeilter: „Bon 1500 Einwohnern
fehlt jede Spur. 850 Tote haben wir wenigſtens, 200 find erſt aus⸗
gegtaben.” Er geht fort; denn foeben wird an eine große hungrige
Schar Schiffsztwiebad verteilt. Gern nehmen fie ihn nicht; Nudeln
wären ihnen lieber, denn die wärmen. Und das foll man fi in
Deutjhland merken: Scidt feine Konferven mit Gemüfe
oder Ochſenmaulſalat, laßt in Neapel landesübliche Gerichte ein-
faufen, vor allem Makkaroni und Mehl! Der Negen hört auf.
Deſſen freuen fich die Kinder, die fcherzend umherjpringen. Wenn
doch nur ein Maler hier wäre, um dieje griechiichen Charafterköpfe
unter den Schiffern aufzunehmen in ihrer ſpaniſchen Bauern-
tracht, oder den alten Mann, der pfiffig lacht, weil er fich Tabak
erbettelt Hat! Unſer Betriebsinſpektor Hat unterdeflen Brot für
feinen Hunger gefunden, als er aber die begehrlichen Augen der
Umftehenden Sieht, kann er’3 nicht ertragen. Er verteilt da3 Brot.
Ein befjerer Bürger, der ein großes Stüd ergattert hat, jchleicht Davon,
als ob er ſich ſchäme. Nicht weit davon ftehen Gruppen von Frauen,
regungslos in Gliedern und Miene, jtumpf, nur ihre großen ſchwarzen
300 Billa Sarı Giovanni: Verwüſtungsgraus
Augen haben den Augdrud des vermundeten Rehs oder des fter-
benden Hundes. Andere Frauen balgen fich aber wie Megären,
um zuerjt an die „signori furestieri“ heranfommen und betteln
zu fönnen. Welcher Schmuß in den Zumpen, welch edle Geftikulation
troß allem häßlichen Gebahren!
Der Zug gebt jchneller. Zwei Kriegsſchiffe kommen in Sicht.
Bald find wir m Villa San Giovanni. Gegenüber ſchim⸗
mert durch das Negennaß die meſſineſiſche Küfte. Der Hafen ift
ein riefiges Dofument für die elementare Kraft des empörten Meeres.
Das Seebeben hat die gewaltigen Dundern des Hafendammes
überall Hingeftreut, jo daß fie Körnern oder Perlen eines Rofen-
franzes gleichen, dejjen Schnur geriffen if. Landeinwäris fieht
man die Trümmer einer großen englijchen Nudelfabrif.. Zehn⸗
taujend Zentner Mehl liegen unter dem Schutt. Die fertigen Nudeln
wurden zum Teil gerettet und dienten der Bevölkerung vier Tage
lang aß Nahrung. Die Station, anjcheinend Heil, ift unbrauchbar;
jchon baut man eine Barade für fie. Die Stadt Hatte 6000 Ein-
wohner und erfreute fich eines gemwillen Wohlitandes dank den
vielen Seidenetablijjements. Kein Haus iſt mehr heil. Die Zahl
der Toten, die fich über tauſend beläuft, ift noch unbekannt. Bisher
war's nicht möglich, genaue Zahlen feftzuftellen, denn die Über-
lebenden find faft alle wahnſinnig vor Schmerz, Schred und Trauer.
Der reichjte Bürger, der vor einem Jahre für fein Seidenetablifje-
ment Majchinen im Werte von anderthalb Millionen angefchafft
haben Soll, hat die Sprache verloren. Die Offiziere und Soldaten,
die eifrig Baraden bauen, haben gegenüber den Geretieten einen
harten Stand.. Das Bild der Zerftörung ringsum ift unbefchreiblidh.
Ganze Häuferreihen zerqueticht, wie liegen unter einer Knaben⸗
fauft. Der Hauptlaflierer, der den Aufenthalt benubt, um einigen
Arbeitern der Station die Löhnung auszuzahlen, unterbricht jich, wirft
einen Blid auf den Rattenkönig von Dachſparrenwerk und Ziegeln
und philojophiert über die unbändige Niejenfraft des Erdbebens.
Billa San Giovanni: Abreife 301
Plötzlich ommt der Zugführer zu mir: „Drüden Sie ſich in
eine Ede! ch tu’3 wegen des Brigadiere von Bagnara, der Gie
mir empfahl. Wir haben neue Weifungen. Offiziell hört der Zug
hier auf. Wir fahren nur mit zwei Wagen weiter und befördern
Offiziere nach Reggio. Ale Privatperfonen müſſen hinaus!” Und
jo geſchah's. Selbjt der New⸗Yorker, der inftändigft flehte, entging
feinem Schidjal nicht. Der Zugführer drohte ihm mit Verhaftung
und Klage wegen Beamtenbeleidigung, und jo mußte er gebüdt
davonſchleichen. Mit tat er leid; aber im Dienft wird man egoiftiich.
Kurz nach zwölf Uhr ging’3 weiter. Ich wage mich an’3 Licht.
Auf dem Bahnhof fteht ein neapolitanijcher Kollege und weiſt auf
feinen Nachbar, einen Kollegen vom „Petit Journal”. Ich kann
ihnen nur noch zurufen: „Gehen Sie zum Militärtommando !"
Schluß
In dem zerftörten Reggio Galabria.
„Hier wird der Reiche fchnell zum Urmen
Und der Armſte dem Fürften gleich."
(Braut von Meffina.)
Neapel, 15. Januar 1909.
aß ich diefen Brief wieder in Neapel fchreibe, ift auch einer
der Zufälle, die jet an der Tagesordnung find.
Um zwölf Uhr verließ ih Billa San Giovanni. Der
ftarf dezimierte Zug entwidelte eine größere Schnelligkeit. Ein
Geſpräch wollte lange Zeit nicht auflommen, da wir Paſſagiere und
faum noch von dem zuleßt erfchauten, ja erlebten grauenvollen
Schreden erholen konnten. Mein Nachbar, ein Pionierhauptmann,
der mit feuchten Augen auf die Berge blidte, unterbrach zuerjt die
Stille: „Sch laſſe es mir nicht ausreden, da3 Erdbeben war doc)
vulfanischer Natur. Dafür fpricht die Veränderung des Bodens der
Meerenge, dafür auch die Spalten, die fich in Reggio gebildet haben,
und denen heißes Waſſer entftrömt.”
Wir ommen nad) Catona, dem Ort, der in der Erdbeben-
Mythologie als Eingang zur Hölle berühmt ift und halten einige
Minuten. Das ganze Gebiet ift jebt felbft eine Hölle des Schredens.
Die Station ift völlig zerftört. Dazfelbe gilt von den Häufern. Bor
una winken gar zu verlodend die faftigjten Orangen, blutrot. Eben
jteigt eine Alte auf einen Baum. Im Nu ift eine Apfeljinenbörje
im Gange. Unſer ganzer Wagen beteiligt jich lebhaft.
Reggio Calabria: Trifte Fröhlichkeit: 303
Was zitiert G'ſell Fels von Reggios Landichaft?
„Obſt und Orangen find trefflih, es ftroßet der Boden von Früchten,
Wie aud) von Blumen der zwei Hemifphären in üppigfter Fülle;
Und zu bedeutender Höhe ſchwingt fi die Palme und reifet
Datteln, der Rizinus füllt mit den riefigen Blättern die Gärten,
Ringsum leuchten im Laube, Drangen, Zitronen, Limonen...
. „Und an den Straßen nad) Süden und Norden begleitet die Ränder
Fleiſchiger Kranz von Opuntienblättern und indifchen Yeigen;
Und fo fchließt der italifche Boden mit einer Idylle.“ ...
Begleitet dieſe Idylle ein Satyrjpiel? „Nur immer Tuftig!”
ruft der Hauptlafjierer, nachdem er einen fchnellen Bli auf den
greifen Inſpektor geworfen, dem etwas in der Kehle feitjit, „ich bin
aus dem fetten Bologna. Luftig, Kinder! Wein hab’ .ich mir
erichmuggelt und Brot und Wurſt! Orangen gibt’3 auch! Auf zur
fröhlichen Tafel!" Ich ſtutze. Aber mit Iuftigem Blinzeln, das
beinahe jchon wie drohendes Weinen wirkt, jchielt der Kaſſierer
wieder auf den Inſpektor, der mit Mühe das Schluchzen erftict.
Nun verftehe ich, e3 gilt, den fchmerzgefolterten Alten über eine
Kriſis Hinüberzubringen. Raſch tue id) mit, aber nur unter der
Bedingung, da ich an der nächiten Station für die Gefamtheit die⸗
jelbe Schmuggelquelle benuten darf. Wird mit Jubel angenommen.
Und jet geht’3 los. Die Flajche wandert von den Offizieren zu den
Beamten, von diejen zu den Arbeitern. Heimlich flüftert mir der
Anftifter der Fröhlichkeit zu: „Still, der arme Inſpektor Hat ben
Trauring feiner Frau verloren, al3 er Brot kaufte!“
Die mitleidige Lift wirft. Auch der Inſpektor hat fich wieder
zurecht gefunden — freilich, wer weiß wie, war doch der Ring das
einzige Andenken, was ihm von jeiner verlorenen rau verblieben.
— Sin einer Zechpauſe werde id) des Stationächef3 habhaft. „Wie
groß ift die Zahl der Opfer hier?" Die Antwort lautet: „1500 Tote
bei 2000 Einwohnern!”
Nächſte Station, Gallico. Das Grauen der Verheerung
mächlt. Aber hier hat fie einmal die Rolle des Komiker3 ſpielen
304 Gallico: Der Herzog von Connaught
wollen. Geradezu Humoriftiih wirken die Bilder an einzelnen
Stellen. Da fieht man zum Beifpiel den Oberftod eines Haufes,
von dem nur das Dach und die Seitenwände blieben, und jo eine
bizarre Leere grinft, die fein Verſtand eines Bauverjtändigen als
logijch denkbar oder möglich demonftrieren könnte. Dann ſieht man
Häufer, die gleichſam geblendet jind, das Heißt, einzelne Zimmer
gleißen wie die leeren Augenhöhlen eines Gemarterten, dem man
die Augen auögerifjen bat. Die anderen Trümmer erweden den
Eindrud von Baulaftengebilden, die findlicher Übermut umgeftürzt,
von Kartenhäufern, die er umgeblajen hal. Und über dieſes Sammel-
jurium von buchjtäblicher Zermalmung leuchtet ein Regenbogen.
„Er tommt täglich”, jagt der Zugführer nicht ohne einen Anflug von
Ironie. Auch der Smipeltor hat feinen Humor wieder. „Wißt, Ihr
Herren, e3 fommt ein Salonmwagen an den Zug. Ich Hätte ihn gern
für Euch geöffnet, aber der Herzog von Connaught ift Euch zuvor⸗
gelommen!” Ach fteige aus. Wichtig, unfer Züglein ift durch
Zuwachs wieder zum Zug geworden. Die königlichen Herrichaften
frühftüiden gerade. Da treffe ich den Gtationdporfteher. „m
Gallico Marina haben wir 100 Tote, in Gallico superiore 1000!
Überhaupt das Elend in den Bergen! Einfach fcheußlich !”
An dem nächſten Halt ftürzt ein jugendlicher Oberft auf ung zu
und fragt die Offiziere: „Bringt Ihr Mehl? Es ift zum Verzweifeln!
Seit acht Tagen fchreibe ich, und es kommt nichts. Oben aufden Höhen
ift es entjeglich. Und an diefe Armſten hat noch niemand gedacht!"
Unwillkürlich Schaue ich auch zu diefen Höhen hinauf, von deren
Opfern fein Lied, Tein Heldenbuch, aber auch fein amtliches Tele-
gramm meldet. Ein mfanterieleutnant ruft laut: „Gut! Hier
lkann man doch noch Überſchau halten, aber oben wird der ganze
Sammer wie aus blutigem Hohn von einer grünen Flut von Orangen-
bäumen bededt!” j
Doch weiche Überjchau hier unten ringsum! Die ganze Gegend
gleicht einem einzigen Militärlager; freilich ift auch, außer Meſſina
Neggio: Der Staden 305
und Reggio, feine Strede jo geplagt und mißhandelt worden tie
diefe. Ein Rieſe fcheint in blinder Wut mit eiferner Keule finnlos
um ſich gehauen zu haben oder ein Dampfhammer von zwei Kilo-
meter Durchmeffer war fo freundlich, hier einen gelinden Drud
auszuüben. Und ruhig ftarrt über dem Entjegen der ſtolze Ajpro-
monte in Fühler Ruhe.
„Oſtwärts raget der Aſpromonte mit Tannen zu oberft,
Rings an den Flanken von Wäldern mit Eichen und Buchen umgürtet“ ...
Santa Baterina Reggio! Wiederum kam ich mid)
nicht um den Gemeinplag herumdrüden: „Spottet jeder Beichrei-
bung!” Hunderte von Arbeitern find durch das Zuſammenkrachen
der Seidenetabliſſements brotlos, d. h. fomeit fie überhaupt nicht
durch den Tod an mweiterem Kauen verhindert wurden. Ein Herr
fommt mit bitterem Ausdrud an unfern Wagen: „ch hatte achtund-
fünfzig Verwandte, mir blieben vier!” Und fröhlich hören die Kinder
die Stunde, dieſe Tiebliche Jugend, die Kapuzen trägt, wie die Alben
und Wichtelmänndhen bei Mori von Schwind und die Hirtenfnaben
bei Ludwig Seitz zeigen. Und die Gefamtitatiftif? 3000 Einwohner
und 1200 Tote! | B
Reggio kommt in Sicht. Der Zug fährt ſchneller. Bald ſieht
man vier Schiffe im Hafen, dann mehrere Panzerkreuzer und Torpedo⸗
boote. Neben der Bahn zeigen ſich Hoſpitalzelte und unfertige
Baracken. Eine lange Zeile. Dann drängt ſich unſeren Blicken das
auf, was einſt vor dem vier Meter hohen Wellenberg des Seebebens
der Staden, die Uferwerft war. Eiſenbahnwagen ſtecken halb im
Boden, die Kaimauer iſt verſchwunden, der Bord der Straße ver⸗
ſchluckt. Run werden halbierte Häufer fichtber, dafın eine lange Zeile
bon Eiſenbahnwagen, die in Bureau und Hofpitäler verwandelt
find. Der Zugführer jagt mir: „Steigen Sie hier an der Neben-
ftation aus, dann find Sie auf alle Fälle näher dem Fährboot, falls e3
Sie mitnimmt.”
Baker: Im Lande bes Erdbebens. 20
306 Reggio: Seltſame Drofchlenfahrt
Ich befolge den Rat und betrete die Station, die ebenfalls war;
denn ſie iſt zerſchmettert. Mit meiner Taſche und mit meinem Plaid
ſuche ich vergebens jemand, der mir hülfe. Ich trete auf die Straße.
Da winkt mir ein hungriger Kutſcher und bietet ſich laut als Führer
an; er zeigt auch mit kühler Selbſtverſpottung auf feinen Jammer⸗
falten, vor dem ein magerer Klepper fteht. Die Not hat den Mann
gezwungen, feinem Erwerb wieder nachzugehen. Zum Fliehen war
er ja nicht berechtigt, weil fein ärmliches Häuslein in der Vorftadt,
wie durch ein Wunder unbejchädigt blieb. Seine Einladung leuchtet
mir ein. Ich bereute fie nicht, obſchon mir das Elendsvolk ala
einem proßigen „gran-signore“ feindfelige Blicke zumirft und ganze
Scharen von ſchmutzigen Weibern, die ich zu anderen Zeiten Megären
genannt haben würde, mich bettelnd umdrängen. In der Tat. So
gewann ich Zeit. Auch Hatte ich mich in meinem Vertrauen nicht
geirtt. Der Lenter des Kleppers war wirklich ein guter Führer, und
brachte mich fchnell auf Schuttwegen bis zu den Gtellen, wo e3
Hettern hieß. Zuerſt frage ich nach dem Yährboot: „Gegen fünf
kommt ficher eins, und wenn Sie Päſſe haben, dürfen Sie fahren.”
Sept ift’3 ein Uhr. „Alfo los, vetturino!” Zunächſt geht’s über die
breite Prachtitraße oberhalb des Kais und der Bahn, die Dlarina.
Bon den meiften Häujern ift nur das Erdgeſchoß erhalten. Welche
Jronie! In einem Palazzo blieb vom erſten Stod nur ein friſch
lackierter weißer Schrank unverfehrt! Überall fieht man noch wenige
Gruppen de3 ärmften Bol, das ſich geweigert hatte, mit den bejjer
gejtellten Bürgern die Stadt zu verlaffen, in improvifierten Lagern
um Heine Lagerfeuer, auf denen ein Topf brodelt. Die obere Stadt
fieht von hier ſehr maleriſch aus, aber nicht jo ſcheinbar erhalten, wie
Meſſina; dafür find die Ruinen zu mafjenhaft. „Hier mohnte der
größte Weinhändler! Was Hat er nun von feinem großen Prunk⸗
haus?“, fagt mein philofophijcher Führer. Vor einer fteil anfteigen-
den Querftraße, die ein einziger Schutthaufen ift, ſcheut das Pferd. Es
jcheint auch erdbebengeftört zu fein. Ein Borübergehender muß es
Reggio: Ein Eopflofer Redner 307
am Zügel weiter führen. Rechts hört der Blick aufs Meer auf, aber
alle Häufer find Schutt und Staub. Lin wird mir der große
Palazzo Mangatoni gezeigt, unter dem, wie mir geftern jemand
fagte, noch Hundertundfünfzig Tote Tiegen. Jetzt mehrt ſich auch
In die Zahl der zerriebenen, zermahlenen Häufer, der Graus in
den Querftraßen. Wir kommen an den Stolz Reggios, die Palaft-
villa des genueſiſchen Marchefe di Zerbi. Yon ihr blieb nur da3
Säulenrund, dad als Propyläe diente; das Vorwort nur, der Tert
verſchwand. Bon Zeit zu Zeit muß mein Bockbeherrſcher ſich ernied-
rigen, um Telephondrähte zu entfernen, die fein Pferd umjchlingen.
est kommt Zukoſt zu den Ruinen: prachtvolles Bettzeug, vergoldete
Stühle. Sn der Querftraße Francesco di Sales fieht man die unbe-
mwohnbar gewordene Präfektur, an der Ede der Via Plutino eine
Kaſerne, die mit unzähligen Strebebäumen geſtützt wurde, weil noch
einige Räume zur Unterbringung des Pionierjtabes benubt werden.
Bei der nächſten Duerftraße Hettere ich zum Dom. Nur die Chor-
feite hat gelitten, doch die andere mit den Türmen, ſchon geborften,
Tann ftürzen über Nacht. Es folgt an der Marina immer weiter nach
Süden ein langgeftredter Bau, da3 Waifenhaus, in deſſen rechten
Flügel da3 Museo civico eingebaut ift. Alles verlafjen und öde.
Wir biegen lin ein. Nechts ftand einmal die Gasfabrif, dahinter
da3 Theater, deſſen Bühnenraum in die Luft geblafen wurde. Bor
dem Stadtparf, der freilich etrvas zu ſpät zum Hoſpitalpark verwandelt
wurde, halte ih. Die Schildwache läßt mich pafjieren. Zelte
überall, leider aber in der Mehrzahl Soldatenzelte. Luſtig flattern
die Fahnen an der Spike. Aber man baut emfig an einer Riefen-
barade. Im Papillon, einft le centre du plaisir, liegen Bücher,
Brofhüren einen Meter hoch auf dem Boden, dahinter prahlt ein
fopflofer Redner aus Gips mit feiner an Geften reichen Beredfam-
feit, und vor mir bemerfe ich plötzlich zwei Füße, die fich
mir gegen alle Regeln de3 Anſtandes aus dem Papiermuft
entgegenftreden. Bon den Füßen zieht ſich aufwärts eine blutige
20 *
308 Reggio: Eine gerettete Statue
Dede. Sch Schaudere und tue Abbitte; was weiß ein zober 1 bon
Anſtand? .....
Ich hatte in dieſen Tagen doch ſchon viel Tote geſehen, aber
dieſer, der hier unter der zu Makulatur gewandelten Bibliothek liegt!
Brr! Ich bin fertig mit meiner Aufnahmefähigkeit und komme in
die Stimmung, wo einem das Lachen näher iſt, als das Weinen.
Mich leidet's drinnen nicht mehr. Ich gehe um den Pavillon herum.
Hier ſcheinen Menſchen zum Tode verurteilt worden zu ſein, wobei
der Schöffe, ein Rieſe, aus Zerſtreutheit ſtatt der ſymboliſchen Stöcke
Granitſäulen zerbrochen hat. Mir iſt's, als ob jemand lache. Aber
der Anblick iſt auch wirklich lächerlich. Ein Mann aus den Bergen
zieht mich ab, er trägt ein müde lächelndes nacktes Kind vor ſich her.
Den beiden folge ich bis zu einem Hoſpitalzelt, wo gerade einem Mann
am Beine herumgeſchnitten wird. ; Doch das iſt nicht luſtig. Mehr
‚gefällt mir fchon der bronzene Herr Tripepi, ein ehemaliger
Abgeoröneter und deshalb aus Selbſtſucht Wohltäter der dankbaren
Siadt. Er lacht mit dem ganzen Geficht, weil die Stadt ihre Dank⸗
barkeit joweit trieb, daß fie in den Dpfertod ging, a die
finfteren Mächte ihn verjchonten. |
Wenige Schritte weiter durch ein Hintertor bringen mich auf
‚die „Beil" von Reggio, den Corſo Garibaldi.. Auch zerftört. Aus
übertriebener Lebenäluft wehrten fich aber ringsum die Firmen⸗
ſchilder, das Los ihrer Häufer und deren Herren zu teilen. An der
Kirche San Francesco war die Faſſade ebenjo eogiftiich; in ftolzer
‚Ruhe hatte fie fi) gemweigert, ihre Klammerhände auszuftreden, um
‚ihre Nachbarn, die Seitenwände, zu ſtützen. Unterdeſſen winkt mir
am Ende der Straße mein Kutſcher. Er fährt mich über Schutt-
geröll nach einem großen, freien Platz. Sein Peitichenftiel wird
Wenmeiler: „Kaſerne Mezzacapo! Hier wurden 720 Soldaten
erichlagen.” .... |
Das Bild der graufen Ruine ift einfach — ,ſcheußlich“. So hatten
ja auch vorher der Stationsvorjtcher und der Oberft in Gallico vom
Reggio: Schuttforſchung 309
Verwuſtungsſpuk in den Bergen gefprochen. Und nun erinnere ich
mid). In diefen Trümmern hatte ſich am Morgen der Kataftrophe
eine fehöne Szene abgefpielt. Kaum mar e3 hell geworden, grub
ein Leutnant, der heil geblieben, die Fahne aus, und, als die Sterben-
den und Verwundeten die Nationalfarben fahen, denen fie Treue
geſchworen, wollten fie fie küffen. Und der Oberft felbft nahm die
Fahne und hielt fie den jungen Rekruten an die bleichen Lippen. Für
viele war's der legte Kuß ihres Lebens... ...
Eine Weiterfahrt ift nicht möglid. Drum kehren wir zur Marina
zurüd. An der Nebenjtation geziwungener Halt. Eine Kompagnie
Pioniere ſucht mit Brandleiter und Striden die wanlenden Mauern
des erjten Stod3 herunterzugerren. Das Schauspiel wirkt erheiternd
auf die Jugend, Bettellnaben à la Murillo, denn die Mauer ift hals-
jtarrig, Ioderer hingegen das Geil, und da3 Querholz, an dem fich
zwanzig fräftige Soldaten ziehend abmühen, zerbricht. Darob neues
Gelächter bei der Jugend. Doch mir vergeht der Spaß; denn der:
fommandierende Leutnant will mich nicht durchlaſſen, weil mein
Wagen feine Yeuerleiter beichädigen könnte. Erſt nach langem
Parlamentieren darf ich weiter.
Langſam jchlottert mein Gefährt vorwärts, und jo erhalte ich
Muße für neue Betrachtung. Mein Geficht ſchärft, die Fähigkeit für
die Schuttforſchung mehrt fich. Nicht die geringfte Einzelheit entgeht
meinen Zuchdaugen. Ha? Gehe ich nicht fogar in Schön gejchnigtern
Käftlein ein Bündel faljcher Haare und daneben in einer Schmußlache
einen feinen Spitzenfächer? Wo ift die Schöne, der dieſe Toiletten-
arlifel angehörten? Gar zu komiſch wirken auch die vier vergoldeten
Eifenbetten dort drüben, wo eimjt in dem Palazzo das herrichaft-
lide Stodwerf war! Die Zwiſchenwand hat fie plattgedrüdt wie
Fröſche unter einem Biegelftein.
Borbei an Hofpitalzelten, die eine betielnde Menge umjteht,
an der Poft-, der PBräfekturbarade und einer Reihe von halb fertigen
Bretterajylen kommen wir nun zum Hafen und zur Station der
310 Reggio: Meerbeben
Fährboote. Da ich vorausſichtlich ange warten muß, gebe ich mein
Gepäd einer Infanteriewache, die in einem Güterwagen hauft.
Und nun wird’3 wieder luftig. Bon der Funkenfpruchltation ragen
nod) die Stangen, aber jie haben die Sprache verloren; vor Schred,
vor Lachen? Nun, e3 ift aber auch zu komiſch, wie jich fonft fo fitt-
jame Güterwagen der Staatseiſenbahn aufführen. Einer liegt
jogar auf dem Rüden und ftrampelt mit den Rädern in der Luft,
ein anderer fteht, da er feine Holzjade ausgezogen, ala nacktes,
Ichamlojes Eifengeftell da. Aber ich begreife. Das Geleife gleicht
dem Auf und Ab der montagnes russes, und dieſe Wagen haben
die luftige Purzelei nicht vertragen. Ein Güterwagen liegt im Waffer.
An feinem Dad) [pringen die Wellen um die Wette, wer am höchften
fomme. So jauber gibt’3 feinen Wagen in der ganzen Staatsbahn!
In einem anderen Wagen meiter zur Station hat da3 Geebeben
Kaktuszmweige, Olbaumäfte, Tang und Taurefte zwifchen die Räder
gepreßt.
Dieſes Bild erteilt einen fürchterlichen Anfchauungsunterricht
über die Gewalt der vom Meerbeben entfejjelten Fluten. Wie
jchilderte Doch der Apotheler aus Meſſina in den Zeitungen feinen
Eindrud? „Um fünf Uhr fünfundzwanzig Diinuten lag am Hafen
das Fährboot bereit, da3 jeden Tag nach Neggio hinüberführt.
Da fing plöglid) da3 Dröhnen der Erde an. Die Oberfläche. des
Waſſers jenkte ſich; das Schiff ging einige Sekunden in die Tiefe,
dann wurde es plößlich biß zur Höhe von acht Metern empor-
gejchleudert. Als es wieder hinuntergeriffen wurde, zerichellte es an
den Felſen der zeritörten Mole.“*)
*) Und hat nicht auch, wie ein gelehrter Mitarbeiter in der „Franl-
furter Zeitung” fchreibt, Vater Homer m der Scilla und Charybdig
ein Meerbeben gezeichnet? Man vergleiche Doch nur:
EN „Und dort die wilde Charybdig,
Welche die falzige Flut des Meeres fürchterlich einfchlang;
"Wenn jie die Flut ausbrach: wie ein Kefjel auf flammendem Feuer
Neggio: Spiel der Wellen 311
Auch an der Station des Fährboots hat da3 mit der Erde um
die Wette bebende Meer toll gewirtichaftet. Man ift verfucht, das
berühmte Lied des meiland Kultusminifter v. Müller zu fingen:
„Straße, wie wunderlich fiehft du mir aus”; denn ein Torhäuschen
iſt jo jchief, daß es als einzige Grimafje wirkt, alle anderen Räume
find zerriffen, leer. Kein Beamter wagt fich mehr an die Unglüds-
jtätte, aus Furcht; freilich ift der ganze Untergrund unterivajchen,
und das Meer gurgelt ganz höhniſch in den Pflajtertrichtern. Und
mweiter fchlendere ich zur Hafenftation Punto Mare. Auch fie eriftiert
nur noch aß ein Haufen Teen. Doch interefjant ijt’3, auf dem
Trümmerfeld mit fuchendem Auge zu wandern: Behördenformular-
bücher, Geichäftsreflamen, Bündel von Frachtbriefen, umgejtürzte
Eifenbahnwagen, Säde, Mehl, Körbe, aus denen Zitronen quellen.
Sch Tehre zu meinem Gepäddepot zurüd. In einem Schuppen
kocht ein Soldat, ein anderer jchreibt an einem ſchönen Eßtiſch. Mitten
auf der Staße fteht ein eleganter Schreibtifch, neben ihm als Parodie
auf Geßlers Kopfbededung ein verbeulter Zylinder auf einer Stange.
Seltſames Spiel der Wellen! Berengar’3 Spruch aus der
„Braut von Meſſina“ höre ich im Geifte:
„Denn das Meer ift der Raum der Hoffnung
Und der Zufälle launiſch Reich!"
Zange dauert es, ehe das Fährboot in Sicht ommt. Der Wind
hebt ſich. „Auf den Wellen ift alles Welle!" Biel Volkes fammelt
jich, aber nod) fein Beamter. Ob bei diefem Sturm das Fährboot
die Überfahrt magt? Und wenn nicht, was dann? Die ſchweren
Wollen drohen neuen Guß. Man ruft mid. Wie Marius auf den
Braufte mit Ungetüm ihr fiedender Strudel, und hochauf
Sprigte der Schaum und bededte die beiden Gipfel der Felſen.
Wenn fie die falzige Flut des Meeres wieder hineinſchlang,
Senkte ſich mitten der Schlund des reigenden Strudel, und ringsum
Donnerte furchtbar der Fels, und unten blidten des Grundes
Schwarze Kieſel hervor.”
312 Neggio: Die Stadt der Eſſenzen
Trümmern von Sarthago jehe ich den Kollegen Qucatelli, den
Feuilletoniften vom „Secolo“, mit ftolger Verbiſſenheit auf einem
Schutthaufen figen. Bor zehn Tagen verließ ich ihn in Catania.
„Barum fo ſtolz?“ Tragte ich ihn. Und mit unnachahmlicher Gebärde
antwortet er: „Für jet ift mir alles gleich. Ych habe heute wenigſtens
ſchon gegeſſen! Ja, ich hätte nie gedacht, daß ein Menjch des
zwanzigſten Jahrhunderts fo bejcheiden werden Tönnte.”... „Und
wo bleiben Sie die Nacht?" ... „Wer weiß? Am Notfall begehe
ih eine Amtzbeleidigung auf Koſten eined Karabiniere; denn ein
Berhafteter findet immer Unterkunft. Bleiben Sie bei mir. In
Meſſina haben Sie auch Fein Nachtlager von Granada. Mic) hat man
dort von den Schiffen gemwiejen, weil der Obergeneral meint, e3
jeien zu viel Schreiber in der Unglüdsftadt . . .”
Gegen Sonnenuntergang fommt das Fährboot, zugleich aber
auch Regen. Er verwehrt mir, wie einft, das ſchöne Panorama
zu genießen, das gerade im Abendglanz jo berückend ift.
„MAnten am Hafen entzüdt al ein farbendurchleuchtetes Seebild:
Senfeit3 über ven Wogen Giziliend Küfte, Meſſina,
Kaum eine Meile entfernt, und der gewaltige Atna,
Rückwärts Berge an Berge in fernen verduftenden Zügen“...
Ich verlaffe die Stadt der Fata Morgana, deren duftende
Gartenpracht ich heute nicht gejpürt; denn Wohlgerüche find felten
heuer in Reggio, die auch die „Stadt der Eſſenzen“ war. Und der
Sturm ftößt mit Wucht, unfer mächtiges Trajektichiff erſchütternd.
Das kann gut werden, wenn ich in der kommenden Schauernadht
als zur einzigen Zufluchtsftätte auf das Heine Poſtſchiff „Seilla”
fomme, dad, wie mir ein Bootsmann fagt, Heute Dienſt hat!
Hunderte von Möven zickzacken über die zijchenden Wogen. Wollen
fie ſich mit den Haififchen neden, von denen jegt die Meerenge
wimmeln joll?
Es ift tiefe Nacht, als ich in Meffina ankomme. ch habe Glüd,
ich finde wenigſtens emen Führer. Diejer nimmt mir zwar mein
Meſſina: Yürchterliche Stille 313
Gepäd, aber auch jede Hoffnung; denn er erklärt, fein deutjcher
Dampfer liege mehr im Hafen. Alſo muß ich doch auf das Poſtſchiff,
denn alle anderen fowie die Baraden am Lande find überfüllt.
Nachdem ich den Zaun der überwachenden Soldaten paſſiert,
jtehe ich in ftrömendem Regen mit meinem Begleiter allein auf
dem matt erleuchteten Staden. Wieder laftet die Stille auf mir.
Mit Beatrice fage ich:
„Mnd mich ergreift ein ſchaudernd Gefühl,
Es jchredt mich ſelbſt das wefenlofe Schweigen.
Nichts zeigt ſich mir, wie weit die Blicke tragen.“
Auch kein Barlenführer zeigt ſich. Doch endlich erhält unſer
Hallo Antwort: Sie ift aber Hohn: „Das Poſtſchiff ift abgefahren.“
Wieder retten mich Pioniere aus der Not. Aber anftatt zum Poſt⸗
Ichiff, wie fie jagen, rudern fie mich irrtümlich auf den Ozean⸗
dampfer „Lombardia”, der gerade auf plößlichen Befehl nad
Neapel abdampft. Man will mich ausweiſen, aber al3 man die
Barke zurückruft, ift fie fchon zu weit entfernt. Der Negierungs-
kommiſſar an Bord beichwichtigt den Zorn des Kommandanten,
und fo reife ich als einziger Pafjagier nach Neapel. Dort angelommen,
fragte ich den Regierungskommiſſar: „Welche Befehle haben Sie,
und warum mußten Sie fo fchnell und leer dazu zurüdfahren?“
Ein Achjelzuden war die Antwort.
Kaum ift die Landungsbrüde an Bord gefchoben, ftürzt ein
Heer von Funktionären hinauf, um die Paſſagiere zu muftern.
„gier ift der einzige”, erwidert der Regierungskommiſſar, indem
er lächelnd auf mich zeigt. Und unter allgemeinem Schütteln des
Kopfes fteige ich ang Land.
Epilog.
Auf Milliarden haben einzelne Sournaliften den Schaden: ge-
ſchätzt, den die Kataftrophe vom 28. Dezember 1908 verurfachte. Der
314 Erdbeben (Der Gejamtjchaden)
Wert der zerjtörten Häufer wird auf 165 Millionen: angegeben.
Der Nationalölonom Profeffor BPantaleoni beziffert den
Gejamtjchaden auf eine Milliarde. Andrer Meinung iſt der Ab-
geordnete Nitti, Profeflor der Nationalölonomie in Neapel.
Er ſpricht in einem Interview von Übertreibungen der Sournaliften.
Wie könne man von Milliarden fprechen, wenn das Gefamteigen-
tum in den drei kalabriſchen Provinzen nur 1200 Millionen betrage.
Nah dem Nationaldermögen Staliend, das auf 65 Milliarden
berechnet werde, beziffere ich der Reichtum der Provinz Meffina
auf 864 Millionen, der der Provinz Reggio auf 455 Millionen,
alles einbegriffen: Land, Häufer, bemwegliches Kapital. Auch müfje
man unterjcheiden zwiſchen dem Verluſt, den die Gejanttheit und
dem, den der einzelne erleidet. „Entwertet ijt vor allem das Land;
denn die Panik hat es geichädigt. Den Weri der Häujer kann man
in Meſſina auf 80 Millionen, in Reggio auf 20 Millionen jchäten.
Im Erdbebengebiet Meſſinas beträgt er 60, in dem von Reggio 50,
alles zufammen 210 Millionen. Was den Beſitz an Rente betrifft,
jo verliert der Staat nichts, auch die Überlebenden nicht, und mo
feine Erben find, wird die betreffende Summe dem Fonds
für die Waiſen überjchrieben. Verloren, gänzlich verloren ſind aber:
Hausgerät, Möbel, Kunftgegenjtände, Jumelen. Verloren für die
Eigentümer: die Häufer. Doch wie joll man den Wert dieſes Ver⸗
luſtes ſchätzen? Groß find die Verlufte der Verficherungsgefellichaften.
Zum Glüd für Italien find meift nur ausländiſche betroffen.
Immens iſt der Tommerzielle Schaden, unberechenbar der Wert
der zu Grunde gegangenen Menjchenleben. Schlimm daran find
die Angehörigen der freien Berufe, die Ärzte, Apotheler, Advokaten,
Notare der Verwüſtungszone und deren ftudierenden Söhne... .”
Über ven Wiederaufbau Meffina’sund Reggio’s
äußert fi Nitti zuderfichtlich: „Dafür jorgt Schon der Handel von
Apfellinen, Olivenöl, Zitronen und Mandeln, der in den beiden
Häfen die natürlichen Ausfuhrpläge hat, dafür jorgt, was Kalabrien
Meſſina: Die Auferjtehung 315
anbetrifft, der enorme Reichtum an Wafferkraft, der im Silogebirge,
im Monte San Bruno, im Afpromonte aufgefpeichert iſt. Wird
die Malaria befämpft, werden die Berge aufgeforjtet, werben
dur) Talfperren die Gewäſſer der Gebirge reguliert, werden erit
N
S i
die norditalienischen und ausländifhen Jnduftriellen.
Kalabrien entdeden, Jo geht Diejes einer
großen Zukunft entgegen.”
Ein anderes Bild. Vier Wochen nach dem Unglüdstag beginnt
jchon die Auferftehbung Meſſinas. Ag. Micheli, der
in eigenem Intereſſe für feine Wähler forgt, um die Rückkehr zum
normalen Leben vorzubereiten, hat in einer heil gebliebenen Heinen
Druderei eine Zeitung herausgegeben. Sie hat auch Anzeigen.
In einer von diejen zeigt ein Schufter an, daß er im Viertel San
Martino einen Baradenladen eröffnet habe, und lobt jeine Ware
ala konkurrenzlos. Welche Ironie; denn alle Schujterläden Meſ—
ſinas liegen ja im Schutt! Ein Barbier verkündet, daß er in einer
Barade desfelben Viertel3 wieder einen Salon aufgetan habe, und
fügt Hinzu: „Sch Tade meine ganze verehrliche frühere (!) Kund-
Ichaft zum Beſuche ein.” Zwei Gebrüder Calalvo ſchreiben:
„Zäglich durchfahren wir die Stadt und bieten zu SPreijen, die
jede Konkurrenz fchlagen, Fenchel, Rüben, Blumenkohl, Rettich
und andere3 Gemüfe an. Jeden Morgen um acht Uhr aber halten
wir, zum Dienft des Publikums bereit, auf Piazza San Martino.“
Zwei andere Brüder melden, daß fie, „um die Lage der Bevölferung
zu verbefjern”, einen Milchverfauf einrichten, indem fie ihre zahl-
lofen Biegenherden durch die Stadt treiben. „Jeden Morgen um
jieben finden fich die Ziegen auf Piazza San Martino.” Unter
diejer Anzeige kündet ein Wirt, daß er in einer Barade der Piazza
Eollegio einen Weinhandel eröffnete, dem eine Küche angefügt
fei, mo man nach vorheriger Anmeldung fich fättigen könne; freilich
gebe es nur Würfte, Knoblauch), Stodfilch und Kartoffeln. „Außer-
dem biete ic) jeden Morgen Kaffee für eine ganze Stadt an.” Weitere
Re
316 Meifina: Die Kind-Stabdt
Anzeigen teilen die Eröffnung einer Bäderei, einer Apotheke und
eines Seitungsfiosß an, „in dem alle Zeitungen zu haben find,
vorausgeſetzt, daß ſie ankommen“. Weiter wird der Betrieb einer
Mepgerei und eines öffentlihen Wafchhaufes mitgeteilt. Der
Evpezialkorreſpondent der „Tribuna” begleitet diefe Anzeigen mit
folgenden Bemerkungen: „Sch habe fie gelefen, wieder gelejen,
abgejchrieben und betrachte fie noch immer. Warum? Mir ſcheint's,
als ob ich das Auffpringen eines Samenkorns im Erdreich jehe.
Dieje Seite voll Anzeigen ftammelt ihre Worte wie ein Kind, da3
die eriten Silben zu ſprechen verjucht. Die Zeitung ift von einem
Abgeoröneten, die Anzeigen find von Leuten gefchrieben, die auch
borher Anzeigen zu verfallen mußten, und doch hat das Gefchriebene
die Spuren der Unerfahrenheit, die Ungelenfigkeit der erjten Kinder-
jchritte, alle Symptome der Naivität. Abgeordneter und Inſerenten
jind nämlih nur die Exponenten de3 neu erftehenden Leben.
Mejfina ift ja jegteine Kind-Gtadt, die den
Tod vergefjen Hatundzu neuem Lebenheran-
wachſen will.”
®
Oſteria:
Kulturgeſchichtlicher Führer
: durch Italiens Schenken:
von Verona bis Capri von
Hans Barth⸗Rom
VBroſchiert M. 2.50, gebunden M. 3.50.
oO ©
in köſtliches Sädlein wird unß ſoeben beicyert, ein Sud der offnung
und Grinnerung, ein Zroft für an Die in Diefen launenvollen 330 8s
tagen die Sehnſucht nah dem Güden zwidt, ohne Daß fte ihr fol ya
fönnen! Schon vor Sjahren bat in Rom, ein edler Ri
von der Feder, ein großer Kenner ber ewigen Stadt und der „umliegenden
Ortichaften” und ein wohlgeübter ee in allen — Me Ben
Kneipens und bachiihen Schwärmens „Stal
a — * — dem — — *
en — Labyrinth D
lobten Lande den 2 Weg wies. — jr Be fundige We
aller d Batlaen Eedien fin Wert, das Otto einftens „eine
nannt, Es eradezu „monumentaler Meile" neuausfta ffiert, ei
—— — et, ber. Gegenwart Beer | unb bei Julius Soffmann
wie Glodenton Elingenden Site „Ofteria“, kul⸗
—— * 33 durch Italiens Schenken von Verona bis Gapri“ r
inen laflen.
* unſchätzbares Brevier für jeden, Der aus dem geſtaltloſen Deutfchland
über apa — von ae gras sen Kr
taumelnden, gro Der ah Dam
Pſalmiſten Argos — — en Vater —
Verlag Julius Hoffmann z —
Guglielmo Ferrero
Größe und
Miedergang
: Roms:
Erſter Band... Wie Rom Weltreich wurde
Zweiter Band . » » » .Julius Cäſar
Dritter Band . Das Ende de alten Freiſtaats
Vierter Band. . . . Antonius und Rleopatra
Fünfter Band. Der neue Freiltaat des Auguftus
Sechſter Band. . Das Weltreih unter Auguftus
Preis eines jeden Bandes: Brofchiert Ma—,
vornehm gebunden M. 5.—
Yir Bände des Werked liegen fertig vor,
Band 3 und 4 enthalten die von Mommfen nicht
behanbelte Epoche ; Band 5 und 6 werben im Frühjahr 1909
zur Ausgabe gelangen... Das Werk kann durch jede Buch»
Banblung, die auch Vormerfungen auf bie [päter erjchei-
nenden Bänbe entgegennimmt, bezogen werden. Iſt eine
Buchhandlung nicht am Plabe, fo wende man fich gefälligit
Diret an den |
Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart
Slieie neue Se ichte Roms, die bei ihrem Gricheinen in it
rankreich England ungeheures Aufſehen erregt —— ſt nun
auch in De tland = der aufridtigen Bewunderung, d
artiges Wert einflö er muß, aufgenommen worden. Bet der Settüre
pet man dad © l, im Barterre eined Theaters zu figen — fagt
r — der Frankfurter Zeitung, und — wie bei einem
echten Kunſtwerk ſteigert ſich die Spannung; der Leſer wird bingerifien
durch Die Macht der Tatſachen und die Form ihrer Darftellung, und
doch verliert er nie das Empfinden, Daß die ernfthafte FZoricherarbeit
eines gründlichen Hiſtorikers vorliegt.
Die nachſtehend abgedrudten kritiſchen Urteile Der angefeheniten Breiie
ie Eden ein treueß Bild des Gindruds, den das Werk auf
en Leier ma
Ferrero aa in feiner Geſchichte Noms ein Werk geichaffen, das nicht
nur durch Die Originalität und GSelbftändigfeit Der auffellung vielfadhe
Anregung gewährt, fondern aud) wegen Der ne eit der Forſchung
Anerlennung verdient. Vor allem aber up man fi) Durch feine Dar-
ftelung unausgeſetzt auf bie großen geſchichtsphiloſophiſchen Probleme
— beſonders auf das größte und bedeutungsvollſte von allen:
as Verhältnis des Sean eifte8 zum einzelnen, Der Kollektivleiſtung
der Wafle und der Ge — *— ft zur ſchöpferiſchen rg des Indie
viduums. offiihe Zeitung
Alle die halbverftandenen und — Reminiszenzen aus der Gym⸗
naſiaſtenzeit gewinnen beim Le des Werkes wieder Leben, und mit
unſern Augen, mit unſern jegigen politiſchen Begriffen erfa : und ge
modelt, verihwindet Die früber fo oft empfundene Schwerf —— und
Lebioſigkei des Waterials, und die gewaltige — Roms ewinnt
Durch Diele guekes: glänzende Darftelung ein ganz perfönliches Leben.
Sicherlich ift Die eines der beiten Bücher — die romiſche Geſchichte,
dem man nur weite Verbreitung wünſchen kann.
Leipziger Veueſte Nachrichten
eg feine vom Gelehrtendüntel — ————— journaliſtiſch zugreifende
ommt eine — * Friſche in die Darſtellung. Man ſpürt
keinen Aktenſtaub. Rom ſcheint auf einmal wirklich aus den Trümmern
neu erwedt zu fein und im rofigen Licht des Augenblid3 zu ne
u den eg enditen Vorzügen Diefer ee oeisiethreibung ge ört Die
Kae Nee Ausdrud neben dem Freilicht Des Wortes, Die an
— bewahren zu koͤnnen. ber Die Grenzen unferer
hinaus wird Die groß augelegle Lebensarbeit des Zuriner Siftorifers
neben der Sat Mommfend mit Ehren beftehen müflen.
Berliner Tageblatt
Die Darftellun ift fo ſchön, daß einige Diefer Charakterbilder in bie
Deutichen Lefebücher aufgenommen zu werben verdienten. Grenzboten
Da , ge errero ein moberner Menſch ift und — die er Roms
ni — auf das Wollen und Vollb an etlicher Helden bes
et, ſondern fie aus wirtf 105 felneb Werte, en Urſachen erflärt,
Peint uns ein bejonderer Vorzug ſe
eutſche Tageszeitung
r unmittelbar zu Dem ——* feinen Bann t
und bed je * — — — * d — as *
u er Enthu
Neflerion, Die zwedmäßige, wahrhaft künſtleriſche Glieberung des
Stoffes, die (lichte Schönheit der Sprache, die uns überall entgegen⸗
treten. Staatsanzeiger für Württem erg:
i Roms hat alles Zeug da um standard work 3u
en ns Ste h Zeug dazu, 3 Fo Dode
LORENZO BERNINI
VON FRIEDRICH POLLACK
K“ Künstler ist je so beschimpft und verlästert worden
wie Lorenzo Bernini, der Dombaumeister von St. Peter
in Rom. Sein Schicksal ist in dieser Beziehung charak-
teristisch für die Beurteilung, der bemerkenswerte Menschen
und ihre Taten in verschiedenen Epochen unterliegen.
Bernini wurde von seinen Zeitgenossen auf den Händen
getragen, von seinen Mitstrebenden bewundert und gewiss
auch beneidet. Seine Werke sprechen auch nach seinem
Tode noch eine deutliche Sprache, die genügt hätte, seine
künstlerische Bedeutung für alle Zeiten festzulegen. Allein
eine übergrosse Zahl von Schülern und Nachahmern war
allzu eifrig am Werke, sich in der Geste des Meisters zu
überbieten, anstatt eigne Bahnen zu gehen; und wie
schliesslich auch die schönste Melodie banal klingt, wenn
jeder Gassenjunge sie pfeift, so mussten die vorlauten
Nachahmer ihr Vorbild im Urteil der Welt ungünstig
beeinflussen. Der Verfasser hält es deshalb an der Zeit,
die Anregung zu geben zu einer gerechteren Beurteilung
Berninis, und sein Buch soll in erster Linie allen denen
ein Führer sein, die des Meisters Werke, ohne die. Rom
nicht mehr zu denken ist, studieren wollen. - -
Das Buch ist mit. 19 Vollbildern geschmückt, alles wohl-
gelungene Reproduktionen nach den Hauptwerken und
ein sehr (charakteristisches Porträt des Meisters.
PPREIS 4 MARK: :
VERLAG JULIUS HOFFMANN STUTTGART
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Rätſel Des :
Seelenleh eng
Camille lammarion
Broſchiert 5 Markt, gebunden 6 Marl
Hs vorliegende Wert verſucht eine wiflenfchaftliche
Klarlegung jener Gegenftände, die für gewöhnlich
als unwiſſenſchaftlich, phantaſtiſch oder mehr oder weniger
imaginär gelten. Der Verfaſſer will zeigen, daß ſie als
Tatſachen exiſtieren, und Die wiſſenſchaftliche Beobachtungs⸗
methode im Feſtſtellen und Zergliedern auch jenen Phano»
menen gegenüber anwenden, die bis heute allgemein ins
Land des Märchend, des Wunderbaren und Abernatür-
lichen verwiejen werden. Er will beweifen, Daß fie, pon
noch unbefannten Kräften hervorgerufen, einer unfichtbaren,
natürlihen Welt angehören, völlig verichteden von jener,
Die unjere Sinne wahrnehmen. Es tft — unerhört,
wie ſelten wirklich klare Kritik angewandt wird, wenn es
ſich um die Prüfung von Gebieten, wie Telepaihie, ſeeliſche
Wanifeſtationen, „Geiſter“⸗Erſcheinungen, Hellſehen, Men⸗
talſuggeſtionen, Wahnträume, Magnetismus, HHpnotid-
mus, Spiritismus uſw. handelt. Welcher Wuſt unge»
reimter Dummheiten wird einem da als Wahrheit aufge⸗
tiſcht! Iſt nun eine wiſſenſchaftliche Beobachtungsmethode
auf Forſchungen ſolcher Art überhaupt anwendbar? Das
kann erſt durch dieſe Verſuche ſelbſt richtig abgeſchätzt
werden. Schon ſeit 40 Jahren beſchäftigt ſich der als
Aſtronom weltbekannte Verfaſſer in ſeinen Mußeſtunden
mit dieſen Fragen, und nur auf Grund einer ſolchen
langen perfönlichen Erfahrung war es ihm möglich, dieſes
Wert herauszugeben.
Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart
Unbekannte
Vaturkräfte
Camille Flammarion
Direktor der Sternwarte Juviſy⸗Paris
Mit 10 Vollbildern
Broſchiert M. 5.—, gebunden M. 6.—
no un
Dieſes Buch des berühmten Aſtronomen gehört mit dem
vorliegenden ‚Rätſel des Seelenlebens“ eng zuſam⸗
men. Es handelt von den Erſcheinungen, Die man gewöhns
ih unter der Bezeichnung Gpiritismus zufammenfaßt.
Geit mehr als vierzig Jahren tft Zlammarion beitrebt, den
Spiritismus zu erforfchen, in der Überzeugung, daß es ſich
bier um ganz eigenartige unerfannte Naturfrafte hanbelt.
Er bat mit fast allen befannten Medien erperimentiert und
ſpricht bier in der Hauptfache von feinen in jüngfter Zeit
— Verſuchen mit dem Medium Euſapia Paladino,
ie zu ganz überraſchenden und entſcheidenden Refultaten
geführt Haben. Bemerkenswert find dabei Die Berichte eini-
er Perjönlichkeiten, die an den Gitungen teilgenommen
baben, wie Adolphe Brifion, Jules Claretie, VBictorien Sar⸗
ou. Zerner jchildert Flammarion die Unterfuchungen Ce⸗
are Lombroſos, Die Erperimente des Grafen Gafparin, Prof.
urys, Sir William Crookes und anderer. Daß man dent
Spiritismug noch immer ſehr mißtrauifch gegenüberfteht,
mag in der Hauptſache wohl daran liegen, daß unter diejer
abne jehr viel Unfug getrieben wirb. Es ift Das befondere
erdienft Flammariong, viele Betrügereien, Wiyftifilationen
und Taſchenſpielerkünſte aufgededt zu haben. Auf Grund
Diefer Studien tft e8 möglich, dem Problem näher zu treten
und Die foftemat. geordneten Grfenntnifie weiter zu entwideln.
Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart
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Im Jahre Des
Kometen
Phantaſtiſcher Roman von
H. G. Wells
Broſchiert 3 Mark, gebunden 4 Mark
—
er ein wahres und lebhaftes Bild des menſchlichen Kulturwertes
unſerer bisherigen „Bivilifation" haben will, Der leſe dieſes geiſt,
reiche und feſſelnde Buch. Wells iſt eine merkwürdige Erſcheinung unter
den Schriftſtellern der Gegenwart. Der Hauptzug ſeiner Werke iſt ein
ſchwungvoller Eifer für eine menſchlichere, ſchönere, glücklichere Zukunft,
ein ſchonungsloſer Kampf gegen alle Falſchheit und Häßlichkeit unſerer
gegenwärtigen Kulturverhältniſſe. In dem vorliegenden Werke zeigt er
uns die Welt am Vorabend Der großen, Wandlung“, poll von unfinnigen
Gegenfäten, giftigen Leidenjchaften, Moraft, unihönem Tand, Raud),
Hitze, Staub und Lärm. Ein von Natur guter junger Wenſch artet in
dem Milieu Diefer Unkultur zum mordgierigen Naubtier aus. Ein Welt-
krieg fängt an, feine Greuel zu enfefleln. Da kommt die „große Wandlung“
über die Menſchen. Gin Komet, Der in ben Bereich ber irdifchen Atmo⸗
fphäre eindringt, wandelt Die Beichaffenheit dberfelben um, und es wan⸗
dein fih auch Die Herzen und der Sinn Der Menſchen um: ein ſtrahlender
Morgen des Friedens erhebt fi. Gine einfache, aber fpannende Liebes-
geihichte bildet Den Faden für Die Greigniffe. Viele Szenen des Buches
find in eine hervorragend poetifche Stimmung geftellt unb einige Geſtal⸗
ten, wie beionders der beitändig nach dem Kometen forfchende Parload,
von großer Priginalität, Wer in dieſem Buche die Belanntichaft von
9. ©. Wels macht, der hört einen der merkwürdigften und bedeutenbften
Vertreter der gegenwärtigen Literatur und wird neugierig fein, von ihm
noch mehr zu lejen.
Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart
en VON BE UNEEIEEENE
Sieg der Freude
EINE ABSTHETIK DES PRAKTISCHEN LEBENS
GEORG JAKOB WOLF in den MÜNCH. NEUESTEN NACHRICHTEN:
...„All diesen Suchenden und Zweifelnden, aber auch allen,
die sich zu ernster, selbständiger Lebensauffassung bereits
durchgerungen haben, wird ein ernstes, starkes Buch will-
kommen sein, das Alexander v. Gleichen-Russwurm als das
Resultat eines Lebens, das dem Dienste der Schönheit geweiht
ist, uns auf den Tisch legt. Der glänzende Essayist, der uns
mit feinmaschigen goldenen Netzen schon manche Perle der
Lebensweisheit aus dem unruhigen Ozean unausgesprochener
Philosophie gefischt, legt uns hier dar, wie man das praktische
Leben untertauchen kann im Bade der Schönheit, wie eine
Pflicht zur Schönheit besteht, und wie der, welcher diese Pflicht
anerkennt und befolgt, sein Leben durch den Sieg der Freude
vergoldet. Er entwickelt vor uns einen ästhetischen Lebens-
plan, er wünscht eine dsthetische Erziehung im Sinne
Shaftesburys und Ruskins heraufzuführen und glaubt, auch
in unserer Zeit der „sozialen Frage“ müsse es noch eine Gasse
für die Schönheit geben. „Die soziale Frage dringt so mächtig
in den Alltag, dass die Altruisten leichten Herzens im Sinne
Tolstois behaupten, für Schönheit und Kunst sei weder Zeit
noch Raum auf der überfüllten Erde, und Umstürzler aller
Art, die nur einzureissen vermögen, drängen den Aesthäten
zur Seite, der aufbauen will, aber seine Stimme ist stark und
tönt so wohltuend in das Hämmern, Rollen und Pfeifen des
täglichen Treibens, dass immer mehr Leute stehen bleiben,
um zuzuhören, nachdem einige zu lauschen begannen.“
PREIS BROSCHIERT MARK 6.—, GEBUNDEN MARK 7.50
VERLAG JULIUS HOFFMANN STUTTGART
DUE DATE
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