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DAS THEATER BD. IV
ALBERT NIEMANN VON
RICHARD STERNFELD
DAS THEATER
EINE SAMMLUNG VON MONOGRAPHIEEN
HERAUSGEGEBEN VON DR. CARL HAGEMANN
MIT BUCHSCHMUCK GEZIERT VON E. M. LILIEN
Bisher erschienen:
Bd. I. Der grosse Schröder von Prf. B. Litzmann
Bd. II. Bayreuth von Prf. W. Golther
Bd. ni. Josef Kainz ' vonFerd. Gregori
Bd. IV. Albert Niemann von Prf. R. Stemf eld
Bd. V Das Burgtheater von Dr. Rud. Lothar
Bd. VI.Adalbert Matkowsky vonPhihpp Stein
In Vorbereitung:
Wilhelmine Schröder-
Devrient von Dr. C. Hagemann
Goethe alsTheaterleiter von Philipp Stein
Ludwig Barnay von Dr. Heinr. Stümcke
Lessing als Dramaturg von Prf. B. Litzmann
Das Cabaret von Dr. Hanns H. Ewers
Die Devrients von Dr. H. H. Houben
Iffland von Dr. E. A. Regener
Laube und Dingelstedt von Dr. C. Hagemann
Das Th^atre fran9ais von A. Moeller- Brück
Die Meininger von Karl Grube
Sonnenthal von Dr. Rud. Lothar
Diese Sammlung wird fortgesetzt
Es sind fünfzig Bände vorgesehen
Jeder Band elegant kartoniert M, 1.50
Jeder Band in echt Leder geb. M. 2.50
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FÜR BÜCHERLIEBHABER
WURDEN DIE ERSTEN ZWANZIG
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AUSGABE BETRÄGT 10 MARK.
,SiE IST DURCH ALLE BUCH-
HANDLUNGEN ZU BEZIEHEN
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
Niemann ist durchweg erhaben; er ist ein
grosser Künstler der allerseltensten Art.
Richard Wagner
an Mathilde Wesendonk
Paris, 12. Februar i86i.
Es ist doch keine zufällige Erscheinung,
dass fast alle bedeutenden deutschen Bühnen-
sänger aus dem Süden, besonders aus den
Alpenländern, herstammen. Sei es nun die
Nachbarschaft ItaHens, sei es das Klima der
Bergtäler: es ist, als wenn dort, wo das
Jauchzen der Sennen das Echo weckt, wo
aus kräftiger Menschenbrust frohe Lieder
emporsteigen, die schönen und starken
Stimmen zu Hause sind, die von der Opern-
bühne herab uns entzücken. Ein Scaria, ein
Nachbaur, ein Kjraus, eine Mallinger, Materna,
Sucher, Kindermann, Herzog — alle kamen
sie vom Saume der südlichen Gebirge.
Andre grosse Sänger erwuchsen an den
Küsten der lautaufdonnernden Salzflut, oder
am Rheine, wo der heitere Sang in jedem
STERNFELD
Herbste jubelnd sich erneut. Aber arm ist
die gfanze norddeutsche Ebene an schönen
Stimmen; rauh und unmelodisch tönt hier das
Wort aus der Kehle, nicht unter munteren
Gesängen, sondern schweigsam verrichtet
der Niedersachse seine Arbeit. Dort über-
strömende Jugendlust, hier im Flachlande
ernste, gehaltene Männlichkeit.
So stellt sich uns auch der einzige grosse
Opernsänger dar, den Norddeutschland auf-
zuweisen hat — nur einen, aber einen Löwen,
der gar viele von deif hellen Singvögeln
des Südens aufwiegt: Albert Niemann.
Wie kommt es, dass dieser Name sofort
auf die Lippen sich drängt, wenn es gilt,
einen Repräsentanten des lyrischen Dramas
den zahlreichen grossen Vertretern des re-
zitierenden gegenüber und an die Seite zu
stellen? Weil uns Gefühl und Überlegung
sagen, dass es sich hierbei nicht um die
Stimme allein — und wäre es die schönste —
handeln kann, sondern um eine Persönlich-
keit, bei der das Stimmorgan nur Mittel
zum Zwecke ist, also um einen Sänger, der
vor allem auch Darsteller ist. Ein Albert
ALBERT NIEMANN
Niemann konnte nur in einer Kunstepoche
aufkommen und an die erste Stelle rücken,
wo Gebärde und Spiel auch auf der Opern-
bühne nicht mehr, wie früher, Nebensache
oder angenehme Zugabe war, sondern not-
wendiges Erfordernis einer Kunstleistung.
Nie mann wurde gross als Zeuge und Helfer
einer gesunden Reaktion gegen konventio-
nelles und äusserliches Opernwesen, das die
Kunstform der Oper bei ernsteren und
feineren Kennern in Misskredit gebracht
hatte, gegen gedankenlose Ergötzung des
Ohres, gegen Tenorismus und undeutsches
Gesangs -Virtuosentum. Ihn konnte die
deutsche Opernbühne mit Stolz aufweisen,
wenn sie ihre nationale Eigenart, herbe und
starke Männlichkeit, dem italienischen Sinnen-
kitzel, der weibischen Unnatur des fälschlich
sogenannten „lyrischen" Tenors entgegen-
zusetzen endlich den Mut fand.
Darin lag freilich auch eine Gefahr. Man
hörte nun wohl die irrtümliche Meinung,
dass es im neuen deutschen Drama Richard
Wagners keiner lyrischen Schönheit des
Gesanges bedürfe, dass es hier etwa schon
STERNFELD
mit grosser Deklamation, mit wuchtigem
Rezitieren getan sei, während Wagners
Sprachgesang eine ebenso schöne melodische
Linie, ein ebenso gleichmässiges Legato,
eine ebenso sorgsame Athem Ökonomie er-
fordert, wie jeder andere Kunstgesang, nur
hier im Dienste des Wort-Ton-Dramas, also
auf ganz anderer Grundlage, wie in der alten
Oper. Es lag aber in der Natur der Sache,
dass jene wohltätige Reaktion gegen ver-
rottete, undeutsche Zustände sich anfänglich
von Extremen nicht frei halten konnte.
Man wird diese grosse Bewegung der
Neugestaltung der lyrischen Bühne nicht
besser verfolgen, als an den Erscheinungen
der drei Heldendarsteller, die dem Reformator
der deutschen Oper auf seinem Lebenswege
beschieden waren: Josef Tichatschek, Schnorr
von Carolsfeld, Albert Niemann.
Für den ersten Sänger des Rienzi, des
Tannhäuser, für seinen „Tscheckel", hat
Wagner zeitlebens die herzlichste Bewunde-
rung und dankbarste Anhänglichkeit gehabt.
Er verehrte an Tichatschek den heroischen
Charakter der Stimme, die stählerne, un-
8
ALBERT NIEMANN
ermüdliche Kraft des Organs, die jugendliche
Begeisterung, die sich ihm in der ersten
Dresdener Rienzi-Zeit so hingebend enthu-
siastisch offenbart hatte. Doch konnte er
schon an Tichatscheks Tannhäuser die starken
Fehler seiner Begabung nicht übersehen.
Abgesehen von den Unebenheiten der Aus-
sprache, die in einer veralteten Manier wur-
zelten, hatte er bei allem Glänze der Stimme
doch „nicht einen einzigen wahren Schmer-
zensakzent" aufzuweisen, der doch gerade im
zweiten Akte des Tannhäuser für den Aus-
druck der Zerknirschung unerlässlich ist
Dann nach langen Jahren der Entbehrung
Hess den Meister sein guter Genius den gott-
begnadeten Schnorr von Carolsfeld
finden. Wir haben die wundervolle kleine
Schrift Wagners, in der er seiner Dankbar-
keit und seinem Schmerze nach dem * er-
schütternd plötzlichen Tode des jungen
Sängers überschwänglichen Ausdruck gibt.
Nächst der grossen Wilhelmine Schröder-
Devrient war Schnorr die ergreifendste
Sänger -Persönlichkeit, die in das Leben
Wagners getreten ist. Sein Tristan hatte
STERNFELD
ihm das Höchste gegeben, was Bühnenkunst
überhaupt dem Dramatiker gewähren kann:
Schnorr hatte selbstschöpferisch die Inten-
tionen Wagners übertroffen, hatte ihm die
tiefsten Seelenrätsel seines tragischen Helden
erschlossen. Hier schien alles vereinigt : eine
Stimme, die mühelos auch in der höchsten
Lage ansprach und zugleich von wunderbar-
ster Ausdrucksfähigkeit war, Spiel und Ge-
sang untrennbar verbunden, weil zusammen
aus der Seelenbewegung des dramatischen
Momentes geboren : ein sinnfälliger Beweis
für die Einheit der neuen Kunst. Über
dieser hehreij Begabung vergass Wagner
alles, was Anderen wohl bei Schnorr an
Äusserlichkeiten auffallen konnte, besonders
die körperliche Fülle, die auch ihn anfangs bei
diesem „jugendlichen Herkules" gestört hatte.
Das einzige, was hier fehlte, hatte die
Natur dem dritten grossen Wagnerschen
Heldendarsteller, Albert Niemann, ver-
schwenderisch zuerteilt: den Edelwuchs der
Gestalt, die Macht einer herrlichen, bezwingen-
den Erscheinung; und wenn das Auge an
den Eindrücken des Wagnerschen Dramas
IG
ALBERT NIEMANN
einen gleich grossen Anteil hat, wie das Ohr,
wenn der Meister selbst von solchem Ein-
drucke eines schönen und glänzenden Äusse-
ren sich willig gefangen nehmen Hess, so
war Niemann der berufene Künstler, der in
seiner, wie aus einem Gusse geformten Per-
sönlichkeit alle die Vorbedingungen der
Heldendarstellung in reichstem Masse darbot.
Kam zu diesen Vorzügen der Erscheinung
noch die gewaltige dramatische Begabung,
die Hoheit des Ganges, die Bestimmtheit der
Gebärde, die Kraft des Ausdruckes und end-
lich die Fähigkeit jenes tragischen „Schmer-
zensakzentes", so gab es ein Gesamtbild von
unvergesslichem Reize, und es trat hier
gleichsam in einem Manne die Inkarnation
des Gesamt - Kunstwerkes zutage. Darum
wird Albert Niemann immer zuerst genannt
werden, wenn ein Name ausgesprochen
werden soll, um kurz und treffend einen
Höhepunkt der deutschen Schauspielkunst
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
zu bezeichnen und zwar auf dem Felde, das
damals die reichsten, herrlichsten Früchte
trug: auf der Opernbühne.
1 1
Albert Niemann ist am 15. Januar 1831
geboren, im gleichen Jahre mit Joseph Joachim
und Karl Hill, die ihm seine Laufbahn sehr
nahe führen sollte. Sein Geburtsort Erxleben,
westlich von Magdeburg auf der Strasse nach
Braunschweig, lag in der Nähe des einst viel
besuchten Bades Helmstedt, wo im Sommer
regelmässig eine Theatertruppe gastierte.
Dort sollte auch Niemanns Bühnenkarriere
beginnen. Zunächst Hess ihm sein Vater,
ein wohlhabender Besitzer, guten Schulunter-
richt in Magdeburg und Aschersleben an-
gedeihen und schickte ihn dann, nachdem
er das Zeugnis zum Einjährig -Freiwilligen
erworben hatte, auf eine Maschinenfabrik.
Es muss dies gegenüber späteren Fabeleien
betont werden, die sich darin gefielen, Nie-
mann als gänzlich ungebildeten Schlosser-
lehrling hinzustellen.
Wie von ungefähr ist dann im 18. Jahre
der junge, lang aufgeschossene Mensch zum
Theater gekommen. Seine ersten Bühnen-
12
ALBERT NIEMANN
jähre zu verfolgfen ist schwer; ein so krauses
Durcheinander von Städten, Rollen, Be-
schäftigungen wird man selten finden. Seine
Schicksale sind wie ein Paradigma, wie eine
gedrängte Übersicht über alle jene typischen
Erlebnisse, Erfahrungen und Enttäuschungen
des genialen Anfängers. Da fehlt nichts:
die verunglückte Anmelderolle, die Lebens-
fristung durch Rollenausschreiben, das Durch-
brennen, die junge Verliebtheit, der uner-
wartete Glücksfall, und vor allem die Ver-
sicherung der Kenner, dass aus diesem jungen
Manne nie etwas werden würde.
Die getrübten Vermögensverhältnisse des
Vaters waren wohl der äussere Anlass, Albert
Niemann auf die Bretter zu führen; der innere
Antrieb scheint nicht sehr stark gewesen zu
sein. Direktor Martini aus Dessau, der
Sommers in Helmstedt spielte, warb ihn für
ein Jahr als Statist ohne Gage an; in Halber-
stadt hat er im „Pfarrherrn" zuerst die Bühne
betreten, in Dessau verhaspelte er sich zum
Gaudium des Publikums in den paar Worten
eines Bedienten, der nach dem Arzte läuft.
Dann entdeckte in Dessau der alte Friedrich
13
STERNFELD
Schneider, der Komponist des „Weltgerichts",
dem der lange blonde Jüngling* gefiel, dass
er auch eine Stimme habe. Nun sang er
im Chore mit, trat als Uthobal im „Joseph"
zum ersten Male in einer kleinen Basspartie
auf. In das zweite Jahr seiner Dessauer
Lehrzeit fällt dann der für die Zukunft ent-
scheidende Erfolg: als er im „Propheten"
der Fides mit den Worten des Hauptmanns
das Nahen des „göttlichen" Sohnes ankün-
digt und einen stürmischen Applaus ent-
fesselt. Nun trieb es ihn fort; er kommt nach
Stettin, dann nach Berlin zu Kroll, wo er
den Dickson in der „weissen Dame", den
Beppo im „Stradella" singt; plötzlich ist er
in Worms, wo er an einer Schmiere schon
erste Tenorpartien — Max, Tonio, Stradella —
vertritt, in Darmstadt, wo er das Wohlge-
fallen des Grossherzogs erringt, dann in
Halle; aber nirgends hält er es aus. Da
endlich dringt er in Berlin bis zum neuen
Intendanten Botho v. Hülsen durch, der an
ihm Gefallen findet und ihn Probe singen
lässt. Gänzlicher Misserfolg, da die Kapell-
meister erklären: „ut em ward nicks!" Trotz-
14
4
ALBERT NIEMANN
dem engagiert ihn Hülsen, indem er ihn zwar
nicht auftreten, aber von dem berühmten
Mantius unterrichten lässt. Niemann ist von
der Höhe der Gage, die er sich gar nicht zu
fordern getraut hat, entzückt, aber nicht so
von den Gesangsstudien bei Mantius, die
seiner IndividuaHtät nicht entsprechen. Als
er nun endlich zeigen soll, was er gelernt
hat, will er als Max auftreten, in einer Partie,
die von Anfang an so recht nach seinem
Gusto gewesen war; aber der Befehl ergeht,
dass er in Bellinis „Norma" seine Gesangs-
kunst entfalten soll. So musste er im August
und September 1853 in Berlin dreimal als
Sever auftreten und fiel völUg ab. Die
Berliner Kritiker erklärten mit ihrem tradi-
tionellen Scharfblick, dass der junge Tenor
ebenso steif spiele w^ie singe und es nie zu
etwas bringen könne. So musste Hülsen ihn
entlassen, was er nachmals sehr bereut hat.
Wieder sah sich Niemann der Ungewiss-
heit preisgegeben. Immerhin wird man an-
nehmen können, dass der 22jährige Sänger
sich doch bereits zu einer höheren Stufe der
Künstlerschaft durchgerungen hatte, wenn
15
STERNFELD
er überhaupt schon in Berhn auftreten durfte ;
und erwägt man, dass er ein halbes Jahr
später in Hannover mit grossem Erfolge
debütierte, so muss man doch über seine
raschen Fortschritte staunen. Es war, als
wenn der jung-e Darsteller plötzlich in sich
eine Kraft entdeckte, die ihm das Selbst-
vertrauen gab, aus sich herauszugehen und
eigene Wege einzuschlagen. Der Strudel
hatte ihn schon kräftig geschüttelt, doch „es
ward ihm zum Heü, es riss ihn nach oben".
Nun trat auch der^,grosse Glücksfall ein.
Der Hannoversche Intendant Graf Platen war
nach Stettin gekommen, um einen Helden-
tenor sich anzuhören. Dieser sagt in letzter
Stunde ab und Niemann tritt statt seiner als
Masaniello auf. Er gefallt dem Grafen und
erhält von ihm einen Antrag zum Probe-
singen. Zwar ist er noch mehrere Jahre in
Stettin gebunden, aber der Direktor macht
Bankerott, und so steht Niemann vom Herbst
1854 für die Hofbühne von Hannover zur
Verfügung. Er singt dort am 26. März 1854
den Max und hat einen grossen Erfolg, so
dass er zum i. September auf ein Jahr mit
16
ALBERT MEMAXX im jähre 1875
ALBERT NIEMANN
I200 Thaler eng-ag'iert wird. Allerding-s war
es nötig-, dass die Intendanz ihn vom
preussischen Militärdienst freimachte, da der
Termin für die Gestellung ablief. Dies ge-
schah denn auch.
Das Sommerhalbjahr 1854 benutzte Nie-
mann, um sich noch in neuen Rollen einzu-
spielen. Er ging nach Königsberg und von
dort mit der Theatertruppe in die Provinz.
Und da ereignete sich etwas Ominöses. In
Insterburg*) wurde am 31. Juli 1854 Richard.
Wagners „Tannhäuser" aufgeführt, viel früher,
als die grossen Hofbühnen die Oper gaben.
Hofbühnenmässig war ja die Vorstellung
auch nicht gerade, denn das Theater war
in einem früheren Wagenschuppen auf-
geschlagen, die Bühne bestand aus Brettern,
die auf Fässer gelegt waren, das Orchester
aus einem Klavier, dem sich einige Streich-
imd Blasinstrumente volltönend gesellten.
LJnd doch war diese Aufführung für die
3-eschichte der Bühnen- und der Tonkunst
licht ganz ohne Bedeutung, denn Albert
^) Oder war es Gumbinnen? Vermutlich hat Niemann
n beiden Städten den Tannhäuser gesungen.
7 2
STERNFELD
Niemann sang zum ersten Male die Titelpartie
und meldete dies der Hannoverschen Inten-
danz mit den Worten: „Der Tannhäuser ist
wie für mich geschrieben!"
Mit dieser Episode schliesst die Jugend-
und Wanderzeit Niemanns; es beginnen die
künstlerischen Lehrjahre.
i8
Am 31. Augnst 1854 begann Niemann
in der Rolle des Max seine Laufbahn in der
Residenz an der Leine, wo er nun 12 Jahre
lang- wirken sollte.*) Die Königliche Oper
in Hannover w^ar damals eine der besten in
Deutschland; der blinde König Georg V.
nahm sich mit opferfreudigem Eifer seiner
Hofbühne an, Heinrich Marschner stand an
der Spitze des Orchesters, in welchem Joseph
Joachim als Konzertmeister fungierte. Eine
Anzahl der tüchtigsten Opernkräfte wusste
man zu gewinnen und trotz wachsender An-
sprüche festzuhalten. Unter ihnen nahm
Niemann bald die erste Stelle ein. Es ging
hier, wie überall vorher und nachher: die
Wucht seiner Persönlichkeit, die ungewohnte
Grösse der Auffassung, die an den Höhe-
punkten mit elementarer Genialität hervor-
brach, riss das Publikum so widerstandslos
♦) Mit DaiLk sei hier auf des treffliche Buch von Dr.
G. Fischer „Musik in Hannover" (Hannover 1903) ver-
wiesen, das die folgende Darstellung sehr erleichtert hat.
19
STERNFELD
mit fort, dass jeder Einspruch verstummte,
wie oft auch die Kritik noch die technische
Ausbildung* der Stimme bemängelte. Es
kam hier doch immer das natürliche Gefühl
unverdorbener Hörer zum Durchbruch, die
nun endlich einmal einen Raoul, einen
Masaniello so erblickten, wie die Textdichter,
sie sich gedacht hatten: als Volkshelden,
nicht als Schmelz- und Schmalz-Tenöre, wozu
die Komponisten, im Hinblick auf die Wünsche
blasierter Opern-Habitues, in einzelnen Teilen
ihrer Rollen sie gestempelt hatten. Die
Widersprüche dieses ganzen Opemwesens
traten freilich um so krasser zutage, wenn
der stürmische Befreier Masaniello in Nie-
manns Reckengestalt seine Stimme zu den
Fisteltönen eines süsslichen, an den Haaren
herbeigezogenen Schlummerliedes zwingen
musste, aus dem ein Theodor Wachtel
immer noch einen Ohrenschmaus zu be-
reiten wusste.
So war es denn für Niemann und für die
deutsche Darstellungskunst epochemachend,
als am 27. Januar 1855 der „Tannhäuser"
in Hannover in Szene ging und Niemann
20
ALBERT NIEMANN
zum ersten Male in würdiger Umgebung die-
jenige Heldengestalt verkörperte, die mit
seinem Namen in der Geschichte der Bühne
unauflöslich verknüpft bleiben sollte.
Sofort verbreitete sich Niemanns Ruf;
von drei grossen Bühnen erhielt er ver-
lockende Anträge, so dass Hannover sich
beeilen musste, ihn besser zu stellen. Über-
dies gew^ährte ihm der König die Mittel, im
Sommer — wie Roger geraten — bei Duprez
in Paris zu studieren. Duprez, einst selbst
eine Zierde der Pariser Oper — Richard
Wagner freilich zeichnete ihn 1840 in seinen
„Pariser Amüsements" in wenig respektvoller
Weise — genoss jetzt den Ruf eines vor-
züglichen Lehrers, der nicht allein die Stimme,
sondern Spiel und Gesten des Sängers zu
schulen und zu veredeln verstand. Daneben
lernte Niemann Deklamation bei Matthieu.
Duprez, der sich neben Niemann wie Mime
neben Siegfried ausnahm, war von dem
deutschen Hünen entzückt und erklärte, dass
er nie desgleichen gesehen hätte. Er studierte
ihm besonders den „Propheten" ein, und als
Niemann in dieser Rolle nach den Ferien
21
STERNFELD
in Hannover auftrat, war man nicht nur von
der kraftvollen Auffassung ergriffen, sondern
lobte auch die Fortschritte in der Gesangs-
kunst. Als dann mit der ersten Aufführung
des „Lohengrin'* in Hannover am i6. De-
zember 1855 Niemann auch die zweite
Wagnersche Heldengestalt schuf, die durchs
ihn im Laufe der nächsten dreissig* Jahre zu
einer typischen Darstellung gelangen sollte,
war sein Ruf als erster deutscher dramatischer
Sänger begründet. Er wurde weiter ver-
breitet durch ein Gastspiel in Hamburg,
während dessen, wie man behauptete, der
Enthusiasmus höhere Wogen schlug, als bei
Roger und Jenny Lind.
Dabei aber war der junge Sänger weit
entfernt davon, sich auf jene Hauptpartien,
die seiner Natur am meisten entsprachen,
zu beschränken. Es machte ihm Freude, sich
mit Fleiss und Hingabe in die heterogensten
Aufgaben zu stürzen. Damals schuf er eine
Reihe von Gestalten, die in seiner Ver-
körperung ein völlig neues Aussehen ge-
wannen, wie Eleazar und Fra Diavolo; un-
vergessliche Figuren, wie Joseph und Cortez,
22
A
ALBERT NIEMANN
durch deren schlicht ergreifende und im-
ponierende Darstellung* er die gleichnamigen
Werke von Mehul und Spontini zu neuem
Dasein erw^eckte und über Wasser hielt, bis
sie, die letzten Reste einer ernsten und stil-
vollen romanischen Opernkunst, ohne seinen
belebenden Atem ins Reich der Vergessen-
heit hinabstiegen. Höchst merkwürdig er-
scheint es uns heute, dass er selbst den
Banditen Barbarino in Flotows „Stradella'^
aus der niedrigen Sphäre der Komik zu einer
interessant drastischen Räuberfigur empor-
hob. Er studierte eben alle Rollen mit Lust
und Liebe und legte in jede etwas von
seinem feurigen Temperament hinein; er
erfasste beinahe instinktiv den Geist einer
Partie oder wusste doch ihre Hauptmomente
mit so packender Kraft zu treffen, dass die
Hörer sich willenlos g'efangen gaben.
Es war noch die gute alte Zeit des klein-
staatlichen Deutschlands vor 1866 mit ihrer
liebenswürdigen, wenn auch übertriebenen
und unwählerischen Theaterschwärmerei. Da
selbst in den grösseren Residenzen nur die
eine Hofbühne bestand, welche den ganzen
23
STERNFELD
Kunstkonsum des Bürg-ers zu befriedigen
hatte, so konzentrierte sich, viel mehr, als wir
das heute verstehen, das ausschliessliche Inter-
esse der „gebildeten" Kreise — vom hohen
Adel, der den ersten Rang bevölkerte, aber
meist zum zweiten Akt erschien, bis zum
Kommis und zur Näherin, die keinen Sonntag
im „ Amphi" fehlten — auf das Theater. Par-
teiungen, politisch zum Schweigen gezwungen,
bildeten und erhitzten sich vor dem Vorhang;
der Kunstkultus wurde zum Künstlerkultus,
die Vergötterung der ^Lieblingsschauspieler
flutete ungehemmt; ihre Personen, nicht nur
auf der Bühne, sondern auch im Privatleben,
waren Gegenstand unablässigen Tagesge-
sprächs und Nachbarinnenklatsches.
Niemann aber war der gefundene Bühnen-
held, von dessen kraftgenialischen Extra-
vaganzen die guten Hannoveraner sehr bald
mit schaurigem Entzücken sich erzählten.
Bald hatte er dem gräflichen Herrn Inten-
danten sehr deutlich seine Meinung gesagt,
bald einen Königlichen Marstallbeamten be-
droht, bald einem Kjritiker, der ihn zu tadeln
wagte, einen Brief geschrieben mit der
24
NIEMANN als Tannhäuser
ALBERT NIEMANN
A/'amung, seine Leistungen noch einmal zu
Twähnen, bald wieder seiner Entrüstung
reien Lauf gelassen, als ein Rival den Raoul
larsteilen durfte gerade an dem Abend, wo
»Jiemann sich seinem alten Mütterchen, das
;r dazu hatte kommen lassen, just in dieser
lolle zeigen wollte. Bitten um Entlassung
varen die gewöhnliche Folge dieser Rei-
zungen, die der König meistens mit einer
(jehaltserhöhung zu befriedigendem Ab-
chluss brachte. Nur einmal, als Niemann
ji gereizter Stimmung einem Kapellmeister
inter den Kulissen den Hut vom Kopfe
•erissen hatte, musste er seine Aufwallung
lit einer vierwöchigen Haft büssen, die sich
llerdings zu einem ziemlich „fidelen Ge-
ingnis" auswuchs. Die letzte Woche wurde
im durch die Gnade des Königs erlassen»
Man würde doch irren, wollte man in
iesen Vorfällen nur die Launen eines über-
lütigen, verwöhnten Tenors sehen; vielmehr
aren es die Explosionen überschüssiger
Iraft einer Naturgewalt, die sich in Kunst
ad Leben austoben musste, allerdings auch
urch die Vergötterung des Publikums ver-
STERNFELD
leitet wurde, die Grenzen zu übersehen,
welche selbst dem begnadetsten Künstler
durch das leider prosaische Leben gezogen
sind.
Es war ein Glück, dass die sänftigende
Hand einer edlen Frau von nun an ein wenig
die Wogen der Leidenschaft zu glätten wusste:
am 31. Mai 1859 vermählte sich Niemann
mit Marie Seebach, der gefeiertesten Schau-
spielerin jener Zeit, die mit ihrem Gretchen
ganz Deutschland entzückte. Auch sie ge-
hörte seit zwei Jahrei:\ dem Hannoverschen
Hoftheater an, das dem Berliner den Rang
abzulaufen drohte.
Am II. Dezember 1859 ging der „Rienzi"
in Szene. Niemann hatte vorher in Dresden
Tichatschek gehört, der seit 17 Jahren mit
unverwüstlicher Stimmkraft diese Partie sang;
er hatte sie dann „mit einer wahrhaft be-
geisterten Liebe studiert", wie Marie Seebach
an Liszt schrieb. Ein neuer grosser Erfolg
lohnte ihm ; seine starke, eindringliche Kunst
der Deklamation, die würdevoll überlegene,
heldenhafte und dabei gottergebene Art, die er
dem römischen Notar verlieh, gewann dem
26
ALBERT NIEMANN
Werke eine Stellung-, die doch g*eg*enüber
den späteren Schöpfungen Wagners schwer
zu behaupten war. Immer öfter aber w^ard
der Name Niemanns neben dem seines Meisters
g*enannt. Im „Hannoverschen Kurier'' er-
schien Anfang* 1860 an den noch immer
nicht amnestierten grossen deutschen Künstler
ein beg-eisterter Gruss, der ihn einlud, in
Hannover seine Werke zu sehen, und mit
einem Jubelhymnus auf seinen Interpreten
schloss: „Ein Albert Niemann wird vielleicht
alle hundert Jahre, vielleicht zum zweiten
Male nie gfeboren."
Das Jahr 1860 sollte dem also Gefeierten
noch weitere Triumphe bringen. Als er in
Wiesbaden gastierte, kam Meyerbeer, trotz
seiner Krankheit, von Schlangenbad herüber;
er bedauerte, den Sänger nicht in früheren
Jahren gehört zu haben, um für ihn eigens
eine Rolle zu schreiben. Bald darauf wurde
Niemann nach Baden-Baden entboten, wo
die deutschen Fürsten sich zu einer Entrevue
mit Napoleon III. versammelt hatten. In
einer Soiree am 16. Juni sang Niemann vier
Lieder, darunter von Schumann „Frühlings-
27
STERNFELD
nacht" und „Ich grolle nicht", und machte
auf die erlauchten Hörer den tiefsten Ein-
druck. Napoleon redete ihn in deutscher
Sprache an und äusserte den Wunsch, ihn in
Paris zu begrüssen, worauf Niemann melden
konnte, dass er bereits von Richard Wagner
dorthin eing-eladen sei. In der Tat begab
er sich unmittelber darauf zu den Tannhäuser-
Proben in die französische Hauptstadt.
Früher, als sie erwartet hatten, konnten
sich die Hannoveraner wieder ihres ver-
götterten Heldentenors erfreuen, da die
Pariser Tannhäuser-Aufführungen nach der
dritten Vorstellung durch den Willen Wagners
ein Ende gefunden hatten. Niemann schien
noch im Banne des Venusberges der Pariser
Oper zu weilen. Er trat in den „Hugenotten"
zuerst wieder in Hannover auf und nannte
seinen tags darauf geborenen ersten Sohn
„Raoul". Im selben Jahre 1861 hatte er
noch Gelegenheit, aus dem Faust der Herren
Barbier und Carre, den Gounod in Musik ge-
setzt hatte, eine Gestalt zu machen, die des
Goetheschen Geistes wenigstens einen Hauch
2S
ALBERT NIEMANN
verspürt hatte. War der „Tannhäuser" in
Frankreich durchgefallen, so übte Deutschland
edle Rache, indem es Gounods „Marg*uerite"
zur Lieblingsoper des nächsten Jahrzehntes
erkor.
Mit Anerkennung wurde in Hannover be-
merkt, dass Niemanns Stimme durch fleissige
Studien geschmeidiger und beweglicher ge-
worden war. Hatte er noch in Paris bei
Delsarte Unterricht gehabt, so im Sommer
1863 bei der Viardot-Garcia in Baden-Baden.
Als Hüon entfaltete er ansprechendere Höhe
und leichtere Koloratur, und eine eigene
Genugtuung war es ihm wohl, dass sein
Sever, mit dem er vor zehn Jahren in Berlin
„versungen und vertan", nun in sonniger
Pracht des Gesanges erstrahlte.
Das Jahr 1864 begann mit einem jener
durch den Impuls des AugenbHcks geborenen
Zwischenfälle, die Niemanns Popularität in
Deutschland mächtig zu erhöhen geeignet
waren. Als die Deutschen damals endÜch
gegen die Vergewaltigung Schleswig -Hol-
steins durch das kleine Dänemark aufstanden,
erhob England in einer drohenden Note Pro-
STERNFELD
test bei den deutschen Reg-ierungen. Niemann
hatte am Abend in Marschners „Templer'^
zu singen und improvisierte kühn: „Du stolzes
England, schäme dich!" Obwohl er dann so
tat, als wenn er sich versprochen, jubelte ihn
das Publikum hervor, und gegen das Theater-
gesetz folgte er dem Vorruf. Nun gingen
dem wackeren deutschen Sänger so manche
Dankschreiben zu; der gütige König aber
Hess es bei einer Abmahnung bewenden. Im
Frühjahr ernannte er Niemann zum Kammer-
sänger mit lebenslänghchem Kontrakt und
einer Gage von 6000 Talern. Damit gelang
es, den gefeierten Sänger für Hannover zu
erhalten, der sonst durch die glänzenden An-
erbietungen der eifersüchtigen Berliner Oper
schon damals entführt worden wäre.
Im Februar 1864 gastierte er in München,
und die „Niemann-Epidemie" — wie ein Witz-
blatt sagte — ergriff auch die biederen
Münchener; jetzt erst wurden sie für Tann-
häuser und Lohengrin, die bisher in der Isar-
stadt ein stilles Dasein geführt hatten, ge-
wonnen. Als Niemann bei König Max zur
Audienz befohlen war, erschien an der Tür
30
ALBERT NIEMANN
ein schöner dunkler Jüngling, dessen bleiches
Antlitz bei Niemanns Anblick von dunkler
Röte Übergossen wurde: der Kronprinz!
Durch den Photographen Albert wurde
Niemann dann unbemerkt zu ihm ge-
führt; Ludwig gab ihm mit schüchternem
Danke seine Begeisterung für seine Dar-
stellungen zu erkennen und Hess ihm bald
darauf sein Porträt übersenden: das Bildnis
des Königs — w^ar doch wenige Wochen
nach Niemanns Gastspiel König Max ge-
storben und Ludwig IL auf Bayerns Thron
berufen w^orden. Durch Niemanns Lohengrin
schwärmerisch entzückt, schickte er sofort
nach dem Schöpfer des Werkes, der im Mai
1864 zum ersten Male vor dem jungen Schirm-
herrn seiner Kunst stand.
Im selben Monat vollzog sich auch für
Niemann ein wichtiges Ereignis: am 17. Mai
1864 trat er zum ersten Male in Berlin als
Tannhäuser auf, an der Stätte, wo er vor
zehn Jahren so völlig durchgefallen, in der
Rolle, die er dort nun ein Vierteljahrhundert
glorreich verkörpern sollte. Der Beifallssturm
war unerhört, aber nicht weniger tief der
31
STERNFELD
Eindruck, den dann sein „Josef in Ägypten'^
hervorrief; für das nächste Jahr wurden so-
fort 20 Gastrollen verabredet, bei einer Gagfe
von 1000 Friedrichsdor.
In das letzte Jahr Niemanns an der Bühne
zu Hannover fällt nur noch eine bedeuten-
dere neue Rolle: der Vasco da Gama in
Meyerbeers lang* erwarteter „Afrikanerin''.
Auch hier gelang- es Niemann, durch die
Ritterlichkeit des Auftretens und den Schwung
der Deklamation dem Helden der Oper, der
doch ein haltloser Schwächling ist, einen Zug
von historischer Grösse zu geben.
Als am 27. Mai 1866 die „Afrikanerin"
zum zehnten Male gegeben wurde, ahnte wohl
kein Besucher, dass drei Wochen später König
Georg V., der eifrige Mäcen seines Hoftheaters,
die Residenz für immer verlassen würde.
Damit endete auch für Niemann die Peri-
ode seiner Lehrzeit. Die 1 2 Jahre in Hannover
waren für ihn von unschätzbarem Werte.
Dass er an einer rührig und ehrgeizig' ar-
beitenden Hofbühne, in einem rasch wech-
selnden Repertoire tätig sein durfte, nicht
nur in einer Anzahl von grossen, ihm ge-
32
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STERNFELD
Eindruck, den dann sein „Josef in Ägfypten"
hervorrief; für das nächste Jahr wurden so-
fort 20 Gastrollen verabredet, bei einer Gagfe
von 1000 Friedrichsdor.
In das letzte Jahr Niemanns an der Bühne
zu Hannover fällt nur noch eine bedeuten-
dere neue Rolle: der Vasco da Gama in
Meyerbeers lang* erwarteter „Afrikanerin".
Auch hier gelang- es Niemann, durch die
Ritterlichkeit des Auftretens und den Schwung*
der Deklamation dem Helden der Oper, der
doch ein haltloser Schwächling* ist, einen Zug*
von historischer Grösse zu geben.
Als am 27,, Mai 1866 die „Afrikanerin"
zum zehnten Male gegeben wurde, ahnte wohl
kein Besucher, dass drei Wochen später König
Georg V., der eifrige Mäcen seines Hoftheaters,
die Residenz für immer verlassen würde.
Damit endete auch für Niemann die Peri-
ode seiner Lehrzeit. Die 1 2 Jahre in Hannover
waren für ihn von unschätzbarem Werte.
Dass er an einer rührig und ehrgeizig' ar-
beitenden Hofbühne, in einem rasch v/ech-
selnden Repertoire tätig sein durfte, nicht
nur in einer Anzahl von grossen, ihm ge-
32
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Brief RICHARD WAGNERS an Niemann
ALBERT NIEMANN
mässen Rollen, sondern in der Mehrzahl der
Tenorpartien, gab ihm eine seltene Gewandt-
heit und Sicherheit. In klassischen und italie-
nischen Opern ernster und heiterer Art übte
er die Kehlfertigkeit, bis ihm selbst Kolora-
turen gelangen; seine grossen dramatischen
Helden vertiefte er mehr und mehr. Hatte
das langmütige Publikum seinem Liebling'
auch mancherlei nachzusehen — dass er
zuweilen, w^enn nicht in Stimmung, wenig
oder gar nicht spielte — , hielt er es auch
nicht allzu genau mit der Pflicht, Proben mit-
zumachen, wenn ihm etwa eine Hof jagd winkte,
so lag es ihm fern, nun schon auf seinen
Lorbeeren auszuruhen; es machte ihm Freude,
oft aufzutreten und neue Rollen zu studieren;
unermüdlich arbeitete er an seiner Vervoll-
kommnung.
1865 war er wieder zum Gastspiel in Berlin
gewesen; 1866 siedelte er ganz in die Haupt-
stadt des siegreichen Preussens über.
33
I. Der Pariser Tannhäuser.
Richard Wagner befand sich zur Zeit, als
der Stern Niemanns aufging, im Exil in Zürich.
Von j edem persönlichenEin wirken auf deutsche
Opernzustände abgeschnitten, unterhess er es
doch nicht, aufmerksam zu spähen, wo sich
für seine Kunst etwas Erfreuliches zeige.
Gute Sänger mit darstellerischer Begabung
waren für ihn von unschätzbarem Werte, weil
sie dem PubUkum überhaupt erst einen Be-
griff von seinem Wollen und Streben geben
konnten, damit es, unbeirrt von einer rück-
ständigen, selbst nur zu sehr der Belehrung
bedürftigen Kunstkritik, sich erst einmal ein
Urteil zu bilden imstande wäre. Nun hing
aber das Verständnis sowohl des „Tann-
häuser" wie des „Lohengrin" fast ausschUess-
Uch von den Vertretern der Titelpartien ab.
Wie Wagner von diesen dachte, zeigt eine
Brief stelle vom 30. Juli 1855: „Wer einen
von den heutigen Tenorsängern einmal wieder
34
ALBERT NIEMANN
zu Gehör und Gesicht bekommt, kann nicht
begreifen, wie Aufgaben, wie die meinigen,
auch nur ahnungsweise von diesen Eunuchen
gelöst werden sollten." Und nun ein Jahr
später am 21. Juni 1856: „Namentlich ist mir
Herr Niemann als sehr vorzügUch bezeichnet
worden, was zu erfahren mir von grossem
Werte ist, da ich auf Tenoristen, wie ich
sie brauche, so sehr selten rechnen kann."
Gewiss hatte sich Wagner vorher schon
an Niemann gewandt, oder dieser fühlte von
selbst den Drang, den verehrten Meister auf-
zusuchen. Aber er traf ihn in Zürich nicht
an, denn Wagner weilte damals im Sommer
1856 zur Kur in Mornex bei Genf. Im näch-
sten Sommer 1857 wieder wartete der Meister
vergeblich auf den Besuch Niemanns. Aber
schon spielte der junge Sänger in seinen
Plänen eine wichtige Rolle. In einem Briefe
an ihn vom 25. Januar 1857 hatte er ihm die
Darstellung seines Siegfried zugedacht, an
dessen i. Akte er gerade arbeitete. Der
kühne Knabe, der den Bären gezäumt hat
und den Amboss entzweischlägt, verkörperte
sich ihm in der Erscheinung Niemanns, wie
35 3*
STERNFELD
sie ihm geschildert worden. Dann wieder nahm
er Niemann in Aussicht für eine in Strass-
burg- demnächst zu veranstaltende erste Auf-
führung* von „Tristan und Isolde", die nie
zustande kam. Endlich am lo. Juli 1858 er-
schien Niemann mit seiner Braut Marie See-
bach in Zürich. Zum ersten Male stand er
vor dem Meister und fand — wie Hans v. Bülow
schreibt — Gnade vor seinen Augen. Er traf
bei ihm seinen älteren Kollegen Tichatschek,
und es machte Wagner Freude, die kürzUch
vollendete Dichtung des „Tristan" seinen
beiden Heldentenören vorzulesen.
Von einer leichten Verstimmung zwischen
Wagner und Niemann erfahren wir aus einem
Briefe des Meisters Anfang 1859 an Direktor
Rottmaier in Hannover, aber sie war doch
bald gehoben; und als sich für Wagner, der
seit Oktober 1859 wieder in Paris weilte,
plötzUch im Frühjahr 1860 die Aussicht er-
öffnete, seinen „Tannhäuser" ganz nach seinen
Wünschen in der grossen Oper aufzuführen,
stand es ihm fest, dass nur Niemann die Titel-
partie vertreten könne, der übrigens auch
durch seine früheren Studien in Paris und
36
ALBERT NIEMANN
seine gfute französische Aussprache sich em-
pfahl. Aufs sorgfältigste wurde sein Engage-
ment eingeleitet, und als er im Juli 1860
mit frohem Tannhäusersang in die Pariser
Wohnung Wagners trat, konnte dieser ihm
mitteilen, dass er ihn auf ein Jahr mit der
ungeheuren Gage von 72000 Franken für die
Grosse Oper verpflichtet habe. In Hannover
erhielt Niemann Urlaub und begab sich nun
zu den Tannhäuserproben nach Paris. „Vor
allem verlasse ich mich auf meinen Recken
Niemann. Der Mensch hat unerschöpf-
liche Fähigkeiten. Noch ist er fast roh,
und alles in ihm tat bisher nur der Instinkt.
Jetzt hat er monatelang nichts anderes zu
tun, als sich von mir leiten zu lassen. Alles
wird bis auf den letzten Punkt studiert" So
schrieb Wagner am 30. September 1860
aus Paris an Mathilde Wesendonk, und am
20. Oktober an ihren Gatten: „Mein deutscher
Sänger reisst die Augen auf und gesteht,
nun erst seine Partien kennen zu lernen."
So wurde Niemann in diesen Proben zum
ersten Male das unschätzbare Glück zuteil,
in ein Meisterwerk eingeführt zu werden.
37
STERNFELD
von dem Genius selbst, der es geschaffen
hatte.
Leider zogen sich die Vorbereitungen sehr
in die Länge, da Wagner im November schwer
erkrankte. Für Niemann ergaben sich dar-
aus manche Gefahren für seine Stellung.
Von Anfang an war er in den üblen Dunst-
kreis der Intrigen und Cliquen hineingezogen
worden, in welchen auch wohl ein Welt-
klügerer zu Schaden gekommen wäre, als
es der kaum 30 jährige Sänger war. Kaum
war er in Paris angelangt, als schon die
Zeitungen über ihn höhnten: er sei ein Bauern-
junge und noch kurz zuvor Fleischerbursche
gewesen, worauf Niemann in einer humo-
ristischen Berichtigung erwiderte, dass er
noch nie ein Stück Vieh umgebracht hätte.
Die Anhänger Mey erbeers hätten Niemanns
Kunst gern für den „Robert" und den „Pro-
pheten" ausgenutzt, die Direktion der Grossen
Oper vermied es aber sehr richtig, ihn auf-
treten zu lassen und vielleicht einem Miss-
erfolg auszusetzen, der dann dem „Tannhäuser '^
geschadet hätte. Nun drehten die Blätter die
Sache so, dass Niemanns Stimme zu roh und
38
ALBERT NIEMANN
ungfeschlacht sei, um anderswo zu wirken,
als in Wagners Opern, die dergleichen er-
forderten. Auf der einen Seite arbeiteten
gegen ihn die französischen Kollegen, neidisch
auf den fremden Sänger mit der riesigen
Gage, auf der anderen die Feinde Wagners,
die nicht verfehlten, ihm Angst zu machen.
Schlimm war, dass Niemann schliesslich
zu Wagner selbst in einen Gegensatz geriet,
der eine unselige Entfremdung der beiden
Männer zur Folge hatte. Es ist schwer, heute
schon über Vorgänge ein Urteil zu fällen,
die noch zu wenig aufgeklärt sind, zumal
die wichtigsten Zeugnisse — ausführliche
Briefe Wagners an Niemann — nicht publi-
ziert werden dürfen. Was Wagner selbst
über die drei berüchtigten Tannhäuser-Auf-
führungen in Paris am 13., 18., 24. März 1861
wenige Tage darauf öffentHch mitgeteilt hat,
geht in vornehmer Zurückhaltung über den
Konflikt mit Niemann kurz hinweg; was in
Briefen Hans v. Bülows neuerdings darüber
zutage getreten ist, wird nicht von Übertrei-
bungen frei sein, wie sie aus den Aufregun-
gen des Augenblicks leicht zu erklären sind.
39
STERNFELD
Noch zehn Tage vor der ursprünglich
auf den 22. Februar festgesetzten ersten Auf-
führung schrieb Wagner an Frau Wesendonk:
„Niemann ist durchweg erhaben; er ist ein
grosser Künstler der allerseltensten Art",
woraus doch hervorgeht, dass der Meister
noch in diesen Bühnenproben, wo er nun zum
ersten Male seinen Sänger auf der Szene sah,
ausserordentlich befriedigt gewesen sein muss.
Die Differenzen werden also doch erst in den
folgenden Wochen, nachdem die Aufführung
in den März verschoben war, gekommen
sein. Sie waren zunächst künstlerischer Art.
Wagner verlangte einen jungen, unver-
dorbenen, unroutinierten Sänger, der in seinen
Händen weiches Wachs sein sollte. Niemann
aber war doch nicht so primitiv, wie der
Meister gedacht hatte, er stand ihm als ein
bereits gef esteter, selbständiger Künstler
gegenüber, der seine Rollen durchdacht und
seiner Individualität angepasst hatte, über-
dies seiner Naturanlage nach nur schwer sich
unter den Willen eines Anderen beugen
mochte.
Niemann hatte den Tannhäuser natürlich
40
ALBERT NIEMANN
stets mit Strichen gesungen ; auf solche Kon-
zessionen Hess sich Wagner aber nicht ein,
am wenigstens jetzt, wo er sein Werk so
darbieten wollte, wie er es sich gedacht hatte.
Stellen, auf die er den höchsten Wert legte ,
die aber niemals bisher zu seiner Zufrieden-
heit ausgeführt worden, sollten nun einmal
nach seinen Intentionen zur Geltung kommen.
Da war jener Ausbruch der Zerknirschung
im 2. Akte „Zum Heil den Sündigen zu
führen", der nach der Ansicht des Meisters
den Kern der ganzen Charakter-Entwicklung
enthält und daher mit der höchsten Energie
gesungen werden sollte, als wenn „nachher
gar nichts mehr käme".*) Da war vor allem
eine Hauptaufgabe der Darstellung, die
Wagner für unerlässlich hielt: nach dem
Rufe „Mein Heil ruht in Maria** und dem
Verschwinden des Venusbergs sollte Tann-
häuser in erhabenster Extase regungslos
*) Aus einer diese Stelle betreffenden Weisung an
Tichatschek in Dresden nach den letzten Proben am
21. Februar i86i; von demselben Tage datiert ein i6 eng-
beschriebene Seiten langer, unveröflfentlichter Brief Wagners
an Niemann.
41
STERNFELD
auf derselben Stelle verharren, bis er mit
den Worten „AUmächtig-er, Dir sei Preis"
in die Kniee stürzt. Es ist keine Frag-e, dass
Niemann diese Szene ergreifend darzustellen
befähigt gewesen wäre; er hatte aber wohl
eine andere Auffassung* des inneren Vor-
gang*es und der äusseren Wirkung: er wies
die Anforderung Wagners zurück.
Es standen sich hier eben zwei Epochen
der Bühnenkunst gegenüber. Früher waren
der Librettist und der Komponist abhängig
gewesen von der Selbstherrlichkeit des
Sängers, dem sie die «Rollen „auf den Leib
schrieben"; jetzt sollte sich jeder Mitwirkende
dem Willen des Meisters unterwerfen, der
Dichter und Musiker, Regisseur und Kapell-
meister in einer Person war, und in seiner
Phantasie schon seit der Konzeption des
Dramas auch das Spiel der handelnden Per-
sonen vor sich gesehen, wie es nun, als einzig
der Idee angemessen, in die M^irklichkeit
umzusetzen war. Niemann hatte bisher auf
den Opembühnen überall die herrschende
Konvention in Gesten und Bewegungen ge-
funden, seine Gestaltungen Wagnerscher
42
ALBERT NIEMANN
Helden hielten sich ebenfalls immer noch in
der Sphäre der Tradition, wenn auch durch
seine natürliche Kraft grandios gesteigert;
nun wurde ihm etwas Neues und Unerhörtes
auferlegt, wogegen sein Eigenwille, seine
Theater -Erfahrung und sein virtuoser In-
stinkt sich heftig sträubten. Er wähnte wohl
besser Bescheid zu wissen in den Realitäten
der Bühne, als der Musiker, der sich ihrer Praxis
lange entfremdet hatte. Noch war die Zeit
nicht gekommen, wo der grosse Meister und
der geniale Darsteller auf der Bühne der
Zukunft in Einigkeit sich finden sollten.
SchUmmer aber waren doch in den heissen
Tagen der Aufführung die unliebsamen äusse-
ren Erfahrungen. Wagner sagt darüber kurz:
„Das Bedenklichste war jedenfalls, dass der
Sänger der schwierigen Hauptrolle, je mehr
wir uns der Aufführung näherten, infolge
seines nötig erachteten Verkehrs mit den
Rezensenten, welche ihm den unerlässlichen
Durchfall meiner Oper voraussagten, in wach-
sende Entmutigung verfiel." Was im einzelnen
den Meister zu dieser Bemerkung berechtigte,
ist heute noch nicht zu erkennen; aber es
43
STERNFELD
scheint doch, als wenn die Luft der Pariser
Salons und der Einfluss der massgebenden,
im Meyerbeerschen Lager stehenden Be-
herrscher der öfientlichen Meinung dem deut-
schen Künstler nicht vorteilhaft gewesen ist.
Niemann war schliesslich durch alle Auf-
regungen so mürbe geworden, dass er in
der Generalprobe am lo. März unwohl wurde
und nach dem i. Akte das Theater verlassen
musste. In den verhängnisvollen Aufführungen
gab es dann Momente, wo der Darsteller der
Hauptpartie von dem angefeindeten Musiker
abzurücken schien und d^n Insassen der kaiser-
lichen Loge wie der tobenden Menge durch
Gebärden kundzugeben suchte, dass er nicht
verantwortlich sei für das Werk, in dem er
mitwirke. Als ihm, gerade vor dem besten
Teile seiner Darbietung*) im 3. Akte, höhnende
Rufe: „encore un pelerin" ins Wort fielen,
soll er wütend seinen Pilgerhut ins Proscenium
geschleudert haben. Während der sonst so
*) Auch Wagner sagt in seinem Berichte, dass die
Erzählung der Pilgerfahrt der beste Teil der Leistung
Niemanns gewesen sei, „welche dem Künstler stets die leb-
hafteste Anerkennung gewann".
44
ALBERT NTEMANN
leidenschaftliche Meister vöüige Kaltblütig*-
keit bewahrte, war sein Held nervös g*e-
worden.
Nach der 3. Aufführung am 24. März zog*
Wag-ner seine Partitur von der Grossen Oper
zurück.
n. Der Bayreuther Sieg-mund.
Das Tafeltuch zwischen Wag-ner und Nie-
mann war zerschnitten und blieb es volle
zehn Jahre hindurch. Wie grosse Verdienste
sich auch der Sänger inzwischen um die Ver-
breitung der Wagnerschen Werke erwarb —
machte er es doch z. B. in Berlin zur Be-
dingung, dass neben Tannhäuser und Lohen-
grin auch der Rienzi zu seinem Gastspiel wieder
einstudiert würde — : der Groll des Meisters
Hess sich nicht dämpfen. Und zumal, als die
Kunst Schnorrs v. Carolsf eld wie eine Erfüllung
in sein Leben trat, schien Niemann vergessen.
Zwar König Ludwig LE. zeigte 1866 in einem
Briefe voll rührender Begeisterung an den
Sänger, der ihm vor zwei Jahren das Herz
bezwungen hatte, wie er sein Wiedererscheinen
in München ersehne, und 1867 war für eine
45
STERNFELD
Musteraufführung des „Lohengrin" Niemann
in Aussicht genommen: aber er erklärte, einer
Durchführung dieser Partie ohne Striche nicht
gewachsen zu sein, und in diesem Punkte
gab es weder für Wagner noch für den Diri-
genten Hans V. Bülow ein Paktieren. Über
eine Lohengrin- Vorstellung, die nach langer
Pause am 6. April 1869 in Berlin herauskam,
erhielt Wagner durch Tausig die besten
Nachrichten; dennoch äusserte er sich im
März 1870, als endlich die Meistersinger- Auf-
führung dort bevorstand, brieflich sehr be-
sorgt über Niemanns Können und Wollen,
und in derselben Zeit schrieb er an Herbeck
nach Wien, dass es nach Schnorrs Tode in
Deutschland keinen guten Tannhäuser mehr
gebe.
Schon aber stand eine Wendung zum
Besseren bevor. Es war Niemanns grosser
Berliner Kollege Franz Betz — der erste
Hans Sachs in der Münchener von Wagner
einstudierten Uraufführung von 1868 — , dem
es gelang, eine Aussöhnung der Grollenden
anzubahnen. Zwar findet sich Niemann noch
nicht unter den Mitwirkenden, als Wagner
46
ALBERT NIEMANN
im Mai 1871 im Berliner Opernhause sein
berühmtes Konzert g"ab, aber 1872, zur Feier
der Begründung* des Bayreuther Theaterbaues,
war Niemann bereits eingeladen, um die Tenor-
partie der Neunten Symphonie auszuführen.
Inzwischen also war die freundschaftliche Ver-
bindung wieder angeknüpft worden, und nie-
mals ist Wagner auch nur mit einem Worte
auf jene unseligen Vorgänge zurückgekommen,
die jetzt als dunkle Schatten hinter ihm lagen,
wie der ganze Spuk des französischen „Tann-
häuser" in der Hauptstadt des soeben be-
siegten Kaisers Napoleon.
Am Festtage des 22. Mai 1872 gehörte
Niemanns Reckengestalt zu den unvergess-
lichen Eindrücken der begeisterten Anwesen-
den: am Vormittag bei der Grundsteinlegung,
„als er plötzlich vordrang und, anzuschauen
wie die lebendige Verkörperungeines Wagn er-
sehen Helden, mit dem Hammer zu gewalti-
gem Schlage ausholte," und am Nachmittag,
als er von der hohen Trompeterloge des
alten markgräflichen Opernhauses dieFreuden-
worte Schillers in Beethovens Tönen wie eine
frohe Verkündigung einer schönen Zukunft
47
STERNFELD
in den Kreis der Hörer hinabrief „freudig*
wie ein Held zum Siegen 1"*)
Der Bann war g-ebrochen, schöne Zeiten
edelsten künstlerischen Zusammenwirkens
folgten. Als Wagner im Februar 1873 in
Berlin ein grosses Konzert zum Besten seines
Festspiels gab, sang Niemann Siegmunds
Lenzlied und Siegfrieds Schmiedelieder,
ebenso im April 1875 wiederum unter
Wagners Direktion den Schlussgesang Sieg-
frieds aus „Götterdämmerung". Im selben
Sommer begab er sich zu den Nibelungen-
Proben nach Bayreuth* War Niemann nicht
mehr in den Jahren, um den Knaben Siegfried,
der doch wie für ihn geschaffen gewesen, zu
verkörpern, so fiel ihm nun wie von selbst
die tief tragische Wälsungen-Gestalt des Sieg-
mund zu. Später, als der junge Darsteller
*) In einer Probe rief Niemann beim Beginn des Solo-
quartetts: „Meister, wenn Sie mir hier keinen Takt schlagen,
kann ich nicht singen!", worauf Wagner : „Ich schlage nicht
Takt, dadurch würde der Vortrag steif; Sie müssen diesen
Satz ganz frei vortragen. Ich male es Ihnen in die Luft.
Sie sind ein so vorzüglicher Künstler und können es: darum
habe ich Sie erwählt."
48
NIEMANN als Lohengrin
1
i
ALBERT NIEMANN
des Sieg-fried den Hoffnungen Wagners nicht
entsprach, erbot sich Niemann, wenigstens
den Siegfried in der ,, Götterdämmerung" zu
übernehmen. Musste der Meister dies ab-
lehnen, weil er streng an dem Prinzip fest-
hielt, dass dieselbe Gestalt in den verschie-
denen Teilen des „Ring" auch von demselben
Darsteller zu geben sei, so hatte er, wie er
später zugestand, diese Konsequenz in Hin-
sicht auf das Gelingen des letzten Nibelungen-
teiles zu bedauern. Was hätte Niemann nicht
gemacht aus Siegfrieds Ankunft in der Gi-
bichungenhalle, aus dem Kampfe mit Brünn-
hilde, aus der Todesszene!
In der unvergesslichen Probenzeit von
1S75 gehörte Niemann zum intimsten Kreise
des Meisters, der in eifriger Diskussion sich an
dem natürlichen Urteil des Künstlers erfreute.
Das Jahr 1876 brachte in Berlin endlich
den Tristan, zu dessen Einstudierung und
erster Aufführung am 20. März Wagner
wieder selbst gekommen war. Dann be-
gannen in Bayreuth die Bühnenproben. Bald
zeigte es sich, dass Niemanns geniale Dar-
stellungsgabe unter den Kollegen — etwa
49 ^
STERNFELD
mit Ausnahme Karl Hills — kaum ihres-
gleichen hatte: hier lag der seltene Glücks-
fall vor, dass die Gestalt des Dramas sich
mit ihrem Vertreter völlig deckte. Darum
hatte Wagner an der Auffassung des Sieg-
mund durch Niemann wenig zu tadeln, soviel
er bei Anderen auch verbesserte und mit
seiner unvergleichlichen mimischen Begabung
selbst zeigte, wie es zu machen wäre. Nur
selten noch gab es Meinungsverschieden-
heiten;*) an Stellen, wie „Mich drängt' es zu
Männern und — Frauen", befahl er, die Art,
wie Niemann dies sang, als mustergültig für
alle Zeiten schriftUch zu fixieren. Was einst
Niemann als Zwang empfunden hatte, ver-
stand sich hier von selbst; zwischen dem
Willen des Meisters und den Intentionen
des Darstellers konnte es keinen Gegensatz
*) So bei den Proben 1875, ^^^ Wagner eine Szene
im zweiten Akte plastisch vorspielte und Niemann rief:
„Ja, lieber Meister, das passt sehr gut für Ihre Figur,
aber nicht für mich. Ich muss bei meiner Grösse doch
Bewegungen machen, die mir gemäss sindl" worauf Wagner
ihm dies sofort zugab und sagte •, „Ich sehe, Sie haben
mich richtig verstanden, darum allein handelt es sich ;
spielen Sie jetzt nur, wie es Ihnen recht dünkt."
50
ALBERT NIEMANN
geben, wo beides in einer höheren Einheit,
in dem Stile des Kunstwerkes, zusammenfiel.
So kamen nun die denkwürdigen Auf-
führungen der Tetralogie im August 1876,
in denen der Siegmund Niemanns als eine
unvergleichliche Leistung hervorleuchtete.
Was Wagner dem grossen Künstler ver-
dankte, hat er selbst in seinem „Rückblick
auf die Festspiele von 1876" mit Worten
ausgesprochen, die als ein unvergängliches
Denkmal für den Künstler und den Menschen
Niemann bestehen bleiben, wird doch in
ihnen nicht nur die künstlerische, sondern
auch die moralische Bedeutung seiner Per-
sönlichkeit gekennzeichnet: „Gewiss hat nie
einer künstlerischen Genossenschaft ein so
wahrhaft nur für die Gesamtaufgabe ein-
genommener und ihrer Lösung mit vollendeter
Hingabe zugewendeter Geist innegewohnt,
als er hier sich kundgab . . . Beseelten diese
Gefühle uns alle, so will ich doch, und wenn
auch nur zur Freude seiner Genossen, Albert
Niemann in diesem Sinne als das eigent-
liche Enthusiasmus treibende Element
unseres Vereines mit Namen nennen. Alle
51
4*
STERNFELD
würden eine Lähmung empfunden haben,
wenn seine Mitwirkung in Zweifel hätte ge-
zogen werden sollen."
Im folgenden Jahre sollte das Festspiel
wiederholt werden. Indes wurde Wcigner
bedenklich, im Hinblick auf den finanziellen
Misserfolg und auf den Mangel an wirk-
licher Teilnahme des deutschen Volkes. Von
der Zustimmung Niemanns und Betzens
machte er seinen Entschluss abhängig. Aus
Rom schrieb er am 30. November an Nie-
mann: „Welche tiefe Unbefriedigung musste
ich Ihnen stets ansehen"; ich widerstand Ihren
Ausdrücken, weil ich Ihnen nicht zugestehen
konnte, dass diese oder jene andere Besetzung
an der Sache etwas geändert haben würde.
Sie vergassen, dass nur Sie, aber einzig
Sie — das Genie der Darstellung waren,
wogegen das übrige nur durch Fleiss und
edlen Willen sich beteiligen konnte . . . Sagen
Sie nun bald Ja oder Nein ! Bleiben Sie aber
immerversichert, dass die schönen Augenblicke ]
des Ausbruches eines ungehemmten Zusam-
mengehörigkeits-Gefühls zwischen uns beiden
zu meinen lohnendstenErinnerungen gehören."
52
ALBERT NIEMANN
Es kam zu keiner Wiederholung*. Fünf
Jahre blieb das Festspielhaus in Bayreuth
verschlossen, während deren der Meister in
rüstiger Kraft von dem Wunsche beseelt
war, nicht nur Neues zu schaffen, sondern
auch früher Geschaffenes mustergültig auf-
zuführen! Vergeblich. Seine trübe Stimmung
kommt in einem Briefchen an Niemann aus
Ems vom i8. Juni 1877 zum Ausdruck: „Gern
möchte ich in diesem für mich so öden Jahre
einen Tag oder einige Stunden mit Ihnen
feiern. Denn sind wir beide, Sie und ich,
zusammen, so ist doch eigentlich der Geist
des Nibelungenwerkes bei sich und spricht
zu sich. Es ist mir ein Bedürfnis, gerade in
diesem Jahre mit Ihnen zu verkehren, sonst
habe ich gar nichts vor."
Damals lernte Niemann die eben vollen-
dete Parsifal-Dichtung kennen. Ob Wagner
noch für die Darstellung des reinen Toren
an Niemann gedacht hat?*) Es kursierte
darüber einst ein Geschichtchen, wonach der
Künstler, auf das Hindernis seines Bartes
*) Vielleicht darf man das doch aus den Worten eines
Briefes an Niemann vom 16. Dezember 1881 aus Palermo
53
STERNFELD
hingewiesen, geantwortet hätte; „Für den
Meister lasse ich mir nicht nur den Bart,
sondern auch die Nase abschneiden." Indes
war es doch kaum mögUch, dass Niemann,
der 1881 das fünfzigste Jahr überschritten
hatte, im folgenden noch den Knaben Parsifal
darstellen konnte. Mit den beiden ersten
Vertretern der Rolle war er wenig zufrieden,
erst an dem Parsifal Van Dycks hat er
später Gefallen gefunden. Ihm selbst sollte
es nicht beschieden sein, zum zweiten Male
an der Bayreuther Kunststätte aufzutreten.
Als dort 1886 nach de,m Tode des Meisters
der „Tristan" mit Rosa Sucher als Isolde in
einzig schöner, wahrhaft verklärter Auf führung
in Szene ging, dachten wohl Viele an den
grössten lebenden Vertreter des Helden
Tristan; aber er kam nicht, sei es nun, dass
er sich einer Wiedergabe ohne Strich nicht ge-
wachsen fühlte, sei es, dass sein Organ ihm
nicht mehr erlaubte, den Nachtgesang des zwei-
ten Aktes ohne Anstrengung durchzuführen.
schliessen: „Sehen Sie sich den Mosjeh an [d. h. den
Klavierauszug des Parsifal] und sagen Sie, wie Sie sich zu
ihm verhalten wollen."
54
ALBERT NIEMANN
Fünf Jahre vorher war die Darstellung
des in Berlin endUch wieder aufgenommenen
„Tristan" eine letzte grosse Freude gewesen,
die Niemann dem Meister gemacht hatte.
Aus Palermo schreibt er darüber an seinen
Künstler am i6. Dezember 1881 : „Ihr Tristan
ist und bleibt eine fabelhafte Tat. Wer an
Sie nicht glauben will, kann es nicht weit
bringen. Genügend, und nur durchaus wohl-
wollend war ich über Ihre immer w^ieder
aufgenommenen Bemühungen für jenes aus-
schw^eifendste meiner Werke unterrichtet
worden; fast konnte ich nur teilnehmend
darüber lächeln, dass hier einmal durchaus
gegen den Strom geschwommen werden
sollte! Nun lache ich hellelaut über solches
Gelingen: es ist wider Sternenlauf. Aber —
Ihnen steht das alles ganz recht und gut: —
so muss es sein! . . . Bleiben Sie mir gut und
glauben Sie an meine Bewunderung!"
So schön, freundlich und von gegen-
seitiger Dankbarkeit verklärt hatte sich die
Freundschaft der beiden Männer gestaltet.
Und als dann am 18. Februar 1883 die sterb-
lichen Reste des grossen Meisters bestattet
55
STERNFELD
wurden, war es sein grosser Sänger, der mit
wenigen auserwählten Getreuen ihm das
letzte Geleit gab und mit ihnen das Gelöbnis
ewiger Treue ablegte.
I
56
. Die Fragte, ob Niemann nach dem Kriege
von 1866 für die preussische Hauptstadt zu
gewinnen sei, wurde in den Theaterkreisen
fast mit derselben Wichtigkeit behandelt,
wie in den politischen die Annexion Hanno-
vers. Jedoch wurde es dem Intendanten
V. Hülsen nicht allzu schwer, Niemann zu
fesseln. Hülsen hat es immer als den einzigen
Fehler seines Bühnenregiments bezeichnet,
dass er sich zehn Jahre vorher hatte Nie-
mann entgehen lassen. Doch hat er wohl
andere, schwerere begangen.
Die Ära Hülsen erscheint dem Rück-
schauenden als die glänzendste Epoche der
Berliner Opernbühne. In der Tat hat diese
nie eine solche Vereinigung der stolzesten
Namen besessen. Als Niemann erschien,
glänzte als hellster Stern Pauline Lucca,
neben ihr die edle Harriers- Wippern; später
kam Marianne Brandt, Mathilde Mallinger,
Vilma V. Voggenhuber, Lilli Lehmann hinzu;
unter den Sängern bildeten Betz und Fricke
57
STERNFELD
mit Niemann ein auch äusserlich hervor-
ragendes TrifoUum, dazu kam Theodor
Wachtel, Niemanns lyrischer Antipode. Wie
König- Wilhehn L seiner Hofbühne das
freundUchste Interesse zuwandte, so waren
alle Berliner stolz auf ihre Oper und be-
schäftigten sich lebhaft mit ihren Lieblings-
sängern. Die Übermütigkeiten der kleinen
Pauline Lucca, die sich mit Bismarck hatte
auf einem Bilde photographieren lassen, ein
derber Witz, den Niemann am runden Tisch
bei Siechen oder Betz bei Trarbach gemacht
hatte: alles wurde fleissig kolportiert und be-
lacht. Im Theater bekämpften sich die Par-
teien, denn schon begann Wagner dem grossen
Repertoire-Beherrscher Meyerbeer Konkur-
renz zu machen; in der Presse orakelten die
Gewaltigen, Engel, Gumbert, Wüerst, Gum-
precht, deren klassisches Gemüt sich zwar mit
Meyerbeer abgefunden, dem Melodienmörder
Wagner aber den Tod geschworen hatte.
Nicht alles war Gold, was damals die
Oper so glänzend erscheinen liess. Es war
doch viel Starsystem dabei, das Ensemble
nicht gleichwertig, neben den grössten
58
ALBERT NIEMANN
Kräften auch minderwertig-e in wichtig*en
Rollen beschäftigt. Chor und Regie bewegten
sich im Geleise des Mittelmässigen; Proben
waren nicht beliebt; das Repertoire zeigte
ein ewiges Einerlei ; keine Spur von Initiative,
weder in der entschlossenen Erwerbung des
grossen Neuen, noch in feinsinniger, sorg-
fältiger Belebung des Altbewährten; dazu
das abendfüllende, geisttötende Ballett.
Niemann war in diesem Regime immer
noch der Hecht im Karpfenteich. Ohne ihn
würde das Repertoire noch viel einförmiger
gewesen sein, da Spontini, Mehul, zum Teil
auch Gluck durch seine Leistungen vor dem
Verschwinden bewahrt blieben. Meyerbeer
hielt sich, nach dem Abgange der Lucca,
durch ihn auf der Höhe der jährlichen Auf-
führungszahl, Wagner begann durch Nie-
manns Tannhäuser undLohengrin der gleichen
Ziffer sich zu nähern. Niemann wirkte, wenig-
stens im ersten Jahrzehnt, mit demselben
Feuereifer wie in Hannover; er trat bis zu
70 Malen im Jahre auf, das heisst — mit
Berücksichtigung der Ferien und des Ur-
laubs — jeden dritten Tag.
59
STERNFELD
Am 3. Oktober 1866 erschien Niemann
zum ersten Male als festes Mitglied der Berliner
Hofoper als Tannhäuser, am 8. folgte der
Josef, am 11. der Fra Diavolo. Die Be-
geisterung des Publikums war die gleiche
wie früher und Hess sich auch nicht durch
die nörgelnde Kritik, die immer an Niemanns
Gesang auszustellen hatte, beirren. Dieselbe
Kritik musste dann doch wieder bekennen,
dass er die einfachsten Melodien, wie in
Mehuls Oper, mit rührender Schönheit, oder
auch selbst die Koloraturen im „Robert"
mit vollendeter Akkuratesse gesungen habe.
Erst das Jahr 1868 brachte Niemann eine
neue grössere Aufgabe. Damals kam im
Dezember der „Fliegende Holländer" nach
25 Jahren Pause in Berlin wieder zur Auf-
führung: Betz gab den Holländer, Niemann
den Erik. „Vollendet im Ausdruck, echt in
der Darstellung", so wird seine Leistung
gerühmt. Er hat den Erik später nicht oft
mehr gesungen, und doch war gerade seine
energische Auffassung sehr geeignet, dieser
Gestalt das Brackenburghafte, das ihr in
geringerer Besetzung anklebt, zu nehmen.
60
ALBERT NIEMANN
Im selben Jahre 1868 hat Niemann zum
ersten Male in Wien gastiert: für den Nord-
deutschen ein heisser Boden, wo die Er-
innerung an Ander noch lebendig war. Aber
Niemann kam und siegte. Zwar verhielt sich
das Publikum anfangs kühl, aber die aus-
verkauften Häuser zeigten, dass auch die
Wiener sich dem Zauber des grossen Dar-
stellers nicht entziehen konnten. Rienzi,
Tannhäuser, Lohengrin, Josef, Prophet, Faust
und der Achilles in Glucks „Iphigenie in
Aulis" waren die Partien, in denen er 1868
und dann wieder 1872 in Wien auftrat.
Und wie in Wien, so ging es überall auf
den Gastspielreisen Niemanns. Lange vorher
ist kein Platz mehr zu haben, in festlicher
Stimmung, mit fieberhafter Spannung sieht
das Publikum dem Auftreten des Gefeierten
entgegen. Dann erscheint der Held, vom
Schwane gezogen, oder hoch zu Rosse, oder
wankend am Pilgerstab, oder in der roten
Fischermütze das Volk zur Freiheit rufend
— da ist alles im Banne seiner Grösse, nur
für ihn hat man noch Augen, atemlos sieht
und lauscht die Menge — dann bricht toben-
61
STERNFELD
der Beifall aus und besonders der Enthu-
siasmus der Jugend kennt keine Grenzen. —
Mit dem Jahre 1869 schienen sich für die
BerUner Opernkunst bessere Aussichten zu
eröffnen: Karl Eckert, mit Niemann bald
innig befreundet, hatte die alten Kapell-
meister Taubert und Dorn ersetzt und führte
sich mit einer guten Einstudierung des Lohen-
grin ein. Dann folgten im April 1870 die
„Meistersinger von Nürnberg". Niemann
als Walther war eigentlich der einzige, der
in dieser tumultuarischen Aufführung Gnade
vor den Augen des Publikums fand, während
die herrlichen Leistungen des Betz und der
Mallinger, die Wagner 1868 in München
selbst angeleitet hatte, noch nicht gewürdigt
wurden, wie denn den Berhner Weisen
zweifellos feststand, dass dieses Werk nicht
lebensfähig sei. Es wurde denn auch recht
selten gegeben.
Dagegen trat nun Verdi stärker hervor.
Niemann sang den Maurice, 1874 den neu-
studierten Ernani und im selben Jahre den
Radames in der neuen Oper ,,Aida".
Das Jahr 1876 brachte dann endlich in
Ö2
ALBERT NIEMANN
Berlin „Tristan und Isolde" mit Niemann und
der stimmgewaltigen Vilma v. Voggenhuber.
Der Meister selbst hatte die Proben geleitet,
am 20. März wohnte er der Aufführung bei,
die noch einmal alle Feindsehgkeiten wütender
Opposition hervorrief. Sechs Vorstellungen
fanden im März und April statt; über Niemianns
Verkörperung des Helden Tristan gab es
auch bei den Gegnern nur eine Stimme.
Im Sommer sang er in Bayreuth den
Siegmund. Das Jahr 1876 war somit doch
der Höhepunkt seines ganzen künstlerischen
Schaffens; zwei der tiefsten tragischen Ge-
stalten gaben ihm Gelegenheit, die ganze
Grösse seiner hinreissenden Begabung zu
entfalten.
Von da an begann seine Tätigkeit zu
ebben. Nicht durch seine Schuld. Beide
grossen Partien durfte er viele Jahre lang
nicht mehr zur Darstellung bringen. Das
Ba^Teuther Festspiel erneuerte sich nicht,
der Berliner Tristan blieb, nachdem er im
"Winter 1876 noch zweimal gegeben war,
volle fünf Jahre unaufgeführt. Was half es,
dass der Cortez 1877 ^^^ einstudiert wurde,
63
STERNFELD
dass Niemann auch in der „Olympia'' als
Cassander auftrat? Die Zeit Spontinis war vor-
bei. Niemanns Rollenkreis zog sich immer
eng-er ; ihm selbst machte es auch nicht stets
Vergnügen, dieselben Partien wieder und
wieder bis zum Überdrusse zu singen; so gab
es Abende genug, wo man merkte, dass der
grosse Darsteller nicht bei Stimme, nicht in
Stimmung sei. Dem Bayreuther Künstler
konnte die Unnatur eines Robert, eines Vasco
nicht verborgen bleiben; auch beim Publikum
begann Meyerbeer zu versagen. Anderer-
seits geschah auch nichts Ernsteres für die
Belebung des Wagnerschen Stils, besonders
nachdem 1879 Karl Eckert plötzlich ge-
storben war. Die neuen Aufgaben, die sich
dem Sänger boten, waren spärUch und un-
dankbar ; was sollte Niemann mit dem blassen
„Feramors" Rubinsteins oder gar mit des-
selben Komponisten missratenem „Nero" an-
fangen? Es war ein schöner Beweis künst-
lerischer Pietät, dass Niemann für Gluck
eintrat; so hat er 1882 in der „Alceste** ge-
zeigt, wie ergreifend die Abschiedsszene des
Admet im 2. Akte wirken kann, und in der
64
NIEMAXX als Tristan
ALBERT NIEMANN
„Iphig-enia auf Tauris" hat er 1889 die Bariton-
partie des Orest übernommen.
Es wird immer ein schwerer Vorwurf für
die Ära Hülsen bleiben, dass man in Berlin
sich nicht zu dem Entschlüsse aufraffen konnte,
Wag-ners „Ring" zu geben. Als im Februar
1880 der Wagner- Verein in Anwesenheit
Kaiser Wilhelms den i. Akt der Walküre
konzertmässig zur Aufführung brachte und
Niemann — zum ersten Male neben einer
ebenbürtigen Sieglinde, Rosa Sucher — die
Hörer zur hellen Begeisterung fortriss, konnte
man wohl hoffen, dass auch die Hofbühne
an den „Ring" gehen würde. Aber Herr
V. Hülsen hielt es noch immer für angemessen,
dem Meister zuzumuten, ihm die „Walküre"
allein zu überlassen. So mussten Kräfte, wie
Niemann und Betz, denen Wagner selbst die
Hauptpartien einstudirt hatte, brachliegen,
während die Tetralogie 1881 im Viktoria-
theater von fremden Kräften aufgeführt
wurde.
Im selben Jahre hatte Niemann w^enig-
stens durch die Wiederaufnahme des „Tristan"
im November Gelegenheit, seine alte Meister-
STERNFELD
Schaft zu bewähren. Wie hatten sich doch
schon die Zeiten geändert! Welch eine
Weihestimmung in dem dichtbesetzten Hause
und welch ein Sturm des Enthusiasmus am
Schlüsse 1
Dennoch musste der Meister erst gestorben
sein, damit in Berlin der „Ring" mit der
„Walküre" begonnen werden durfte. Am
7. April 1884 konnte Niemann den Berlinern
endlich seinen Siegmund zeigen, und weit
überragte er alle andern Mitwirkenden bei
einer Aufführung, die von dem Bayreuther
Stil wenig an sich hatte. Die Ära Hülsen
neigte sich ihrem Ende zu. Niemann, der
dem Intendanten persönlich stets treue Dank-
barkeit bewahrt hatte, war doch mit dem
künstlerischen Geiste dieser letzten Jahre nicht
zufrieden; es verlautete, dass er sich einmal
geweigert hätte, den Florestan zu singen,
weil nach dem „Fidelio" zur Füllung des
Abends noch das Ballett „Thea die Blumen-
fee" gegeben wurde. Noch weniger aber
konnte er sich mit dem neuen Geiste be-
freunden, der nach Hülsens Tode September
1886 in das Berliner Opernhaus einzog.
66
ALBERT NIEMANN
Niemann sah alles um sich her verändert,
die Mallinger, die Brandt, die Vogg-enhuber
hatten sich von der Bühne zurückgezogen,
nur Betz stand noch neben ihm. Es geschah
nur selten, dass eine bedeutende Aufgabe
oder das Spiel mit einer ebenbürtigen Partnerin
den alternden Helden in der früheren Grösse
zeigte, so, als er im Juni 1887 mit Rosa
Sucher das „wildverzweifelte Zwillingspaar"
verkörperte. Schon am Ende dieses Jahres
gingen Gerüchte, dass Niemann der Berliner
Oper stillschweigend Valet gesagt. Dann
schien es, als wenn das nächste Jahr, wo
durch den Eintritt des Sucherschen Ehe-
paares eine bessere Zeit sich ankündigte,
auch den grossen Darsteller noch einmal zu
neuen Taten anregte. „Rheingold" und
„Götterdämmerung" schlössen nun endlich
den etwas länglich gezogenen Berliner „Ring".
Man trug sich mit der schönen Hoffnung,
Niemann als Siegfried im Schlussdrama der
Tetralogie eine letzte grosse Kunstleistung
vollbringen zu sehen ; aber kurz vor der Auf-
führung sagte er ab. So muss man denn
die, wenige Wochen vorher, am 8. September
67 5*
STERNFELD
1888 stattgehabte Vorstellung von „Tristan
und Isolde" als den eigentlichen Abschied
Niemanns bezeichnen; es war zugleich die An-
trittsrolle der Rosa Sucher. Noch einmal zeigte
der alte Löwe, was er konnte, wenn er Blut
geleckt; noch einmal sah man Niemanns ernste
Gestalt am Steuer stehen, sah ihn in Isoldes
Schiffszelt treten, sah ihn mit blutender Wunde
vom Lager sich raffen und in Isoldes Armen
zusammenstürzen — und man wusste, dass
alle Nachfolger dagegen Pygmäen sein
würden.
Wann Niemann m der Tat zum letzten
Male in Berlin aufgetreten ist? Man weiss
es nicht. Eines Abends nach der Vorstellung
soll er wie beiläufig geäussert haben, heute
hätte er Schluss gemacht. Vornehmer ist
nie ein gefeierter, vergötterter Künstler
abgegangen — denn welch Ungeheuren
Ovationen entzog er sich, die man ihm bei
einer angekündigten Abschiedsvorstellung
dargebracht hätte! — vornehmer nie, und
nie gleichgültiger. Ruhm, Ehren und klingen-
den Lohn hatte er genug gehabt, noch zu-
letzt auf einem Gastspiele in Amerika; der
68
ALBERT NIEMANN
Kunst hatte er an 40 Jahre seines Lebens
geweiht, nun wollte er im traulichen Familien-
kreise*) ausruhen und seinen Passionen, vor
allem dem edlen Waidwerke leben. Aus Lob
und Tadel hatte er sich niemals viel gemacht,
nie dem Publikum oder der Kritik ge-
schmeichelt, aber ihn graute vor der Rolle
der geborstenen Säule, der mitleidsvoll mit
Achselzucken gerühmten grossen Ruine; er
zog es vor, im Vollbesitze — nicht seiner
Stimmittel, denn die hatten natürlich schon
der Zeit den Tribut gezahlt — aber seiner
künstlerischen Kraft von der Bühne abzu-
treten: „sein Tag war da getan".
Übrigens kam es noch zu einem Ab-
schiede Niemanns von seinen Berlinern,
deren populärster Sänger er doch war und
bUeb. In einem Konzerte der Berliner Wagner-
vereine am 15. Februar 1892 hat der Ein-
undsechzigjährige zum letzten Male gesungen:
den Siegmund im ersten Walküren - Akte
*) Nachdem Niemann sich 1867 von seiner ersten
Gattin getrennt hatte, heiratete er 1870 Hedwig Raabe, die
unübertroffene , Naive", die ihm zwei Söhne schenkte; ein
talentvoller Sohn aus erster Ehe ist jung gestorben.
69
STERNFELD
neben Rosa Sucher-Sieglinde. Ein unver-
gesslicher Abend. Hochragend wie immer
auf dem Podium die Gestalt des „kühnen
Säng-ers", gewaltig noch seine Stimme, er-
greifend sein Ausdruck. Da gab es denn
freilich zum Schluss einen Ausbruch der Ver-
ehrung und Huldigung, würdig eines Er-
lebnisses, bei dem ein jeder sich trauernd
sagte: „Wir werden nimmer seinesgleichen
schauen."
70
Die Aufgabe, mimische Gestaltungen
durch das Wort festzuhalten und zu schildern,
ist gegenüber einer Erscheinung, wie die
Albert Niemanns war, besonders schwierig.
Wer ihn gesehen und gehört hat, vergisst
ihn nie; wem das nicht vergönnt war, der
wird aus einer Beschreibung nichts Anschau-
liches entnehmen. Gerade bei Niemann wird
man gut tun, statt einzelne Züge zu berichten,
seine Persönlichkeit zu erfassen. Das klingt
wie von selbst verständlich; und doch lege
man sich einmal die Frage vor, bei wie vielen
unserer Schauspieler man von einer Persön-
lichkeit sprechen kann. Auf der einen Seite
das ewige Einerlei der Konvention, auf der
andern das studierte Bemühen um Originalität;
dort die deutliche Kopie eines berühmten
Kollegen, hier die Sucht zu zeigen, dass man
„auch einer" sei; dort der Routinist mit den
wirksamen Mittelchen und Mätzchen, hier
der „denkende" Mime mit der verstimmenden
Absicht Aber selbst ein interessantes
71
STERNFELD
Original ist noch lange keine Persönlichkeit:
diese muss den ganzen Menschen ergreifen,
Verstand und Sinne, Geist und Gemüt
Daher der Zauber, der von ihr ausstrahlt und
jeden gefangen nimmt, soviel man sich auch
sträubt und Mängel entdeckt, die doch nur
die Kehrseite der grossen Vorzüge sind.
Eine solche alles bezwingende Persönlich-
keit war Niemann. Seine Erscheinung hat
etwas Altgermanisches: als wenn sich aus
grauer Vorzeit durch Geheimnis des Blutes
ein Spross in eine kleine Gegenwart verirrt
hätte, die ihn furchtsahi bewundert, so steht
er da mit dieser unverwüstlichen Körperkraft,
diesem unbezähmbaren Hang zur Jagd und
Fischerei,*) zum Spielen und Zechen, zum
Durchsetzen seines Willens und, wenn nötig,
zum Dreinschlagen.
Auf der Bühne ist solch eine Gestalt
*) Während er bei der Viardot in Baden-Baden Gesang-
stunden hatte, stand er nebenbei auch mit Kanonenstiefeln
im Wasser und fischte Forellen. Eine Pflege oder Schonung
der Stimme kannte Niemann kaum ; am Tage der Vorstellung
blieb er wohl zu Hause und sprach nicht viel, sonst überwand
seine Riesennatur alles. (Fischer, Musik in Hannover 205.)
7^
ALBERT NIEMANN
etwas ganz Seltenes. Niemann brauchte nicht
erst den Kothurn zu besteigen, er war der
geborene Held. Sein herrlicher Wuchs, seine
hohe Gestalt lenkten sofort auf ihn die Blicke;
um Haupteslänge überragte er alles Bühnen-
volk und trat damit von selbst in den Mittel-
punkt, ohne es darauf anzulegen. Unnach-
ahmlich schön war sein Gang, hoheitsvoll
und elastisch zugleich; seine Schritte waren
um so bedeutender, je sparsamer sie waren,
denn Niemann besass die schwere Gabe des
ruhig Stehens in hohem Masse.
Seine Gebärde war gross und eindrucks-
voll; aber nichts von konventionellen Gesten,
sondern alles natürlich, wie vom Augenblick
eingegeben, so durchdacht es auch sein
mochte. Überhaupt: wer Niemann etwa einen
grossen Naturalisten nennen wollte, in dem
Sinne, dass ihn sein Genie der künstlerischen
Arbeit überhoben hätte, der würde fehlgehen.
Im Gegenteil, er selbst hat betont, wie sehr
er sich von den Naturalisten unterschied:
„Wer von den heutigen Darstellern lernt noch,
wie man einen Dolch oder ein Schwert heraus-
zieht? ich habe es bei Duprez methodisch
73
STERNFELD
gelernt." Hier also hatte „Natur mit Kunst
gehandelt". Nie kam eine Bewegung wie
einstudiert heraus, sondern immer wie aus
dem dramatischen Motiv des Momentes ent-
standen, eigentümlich und charakteristisch,
durch Kürze und Prägnanz überraschend
oder durch Grösse und männliche Kraft
berückend. Wenn Niemann meistens eine
andere Gebärde machte, als man es von
seinen Kollegen an dieser Stelle gewohnt
war, so wirkte das nicht nur interessant,
sondern auch überzeugend. Er lehrte so
recht das Unnatürliche des althergebrachten
Spiels, der stereotypen Operngesten erkennen
und belächeln. Er wandte sich nie zum
Publikum, das für ihn nicht vorhanden war,
drängte sich nie vor; keine Spur von gefall-
süchtigen Schönheitsposen, aber auch nichts
von Kraftmeierei und heldischem Getue.
Er spielte nicht in dem Sinne Wagnerisch,
dass jede Gebärde genau einem Motiv oder
einer orchestralen Figur entsprechen müsse ;
mit kleinen Dingen gab er sich nicht ab,
sondern wirkte durch grosse Züge, er bot
meist nur das Notwendigste, aber mit einer
74,
ALBERT NIEMANN
Plastik, die alles hinriss und in seinem Banne
festhielt.
Dazu kam etwas ganz Seltenes : der Blick.
Dieses Requisit findet sich g*ewöhnlich nicht
in der Garderobe unserer Schauspieler;
andererseits wird keinem Kenner des Wagner-
schen Kunstwerkes entgehen, welche Mit-
wirkung dem Blicke darin zukommt. Man
denke nur an den ersten Akt der Walküre
oder des Tristan, wo in der Tat der Augen-
Blick dem Augenblicke seine dauernde
dramatische Bedeutung verleiht. Hier muss
das Auge mit den Instrumenten im Sprechen
wetteifern. Mit dem guten Willen aber ist
es dabei nicht getan; die Natur muss vor-
gesorgt haben, damit die richtigen Inten-
tionen auch in den grossen Räumen der
Opernhäuser wahrgenommen werden. In
dieser Hinsicht war nun Niemann wunderbar
begabt; aus grossen, runden, etwas hervor-
tretenden Augen strahlte ein mächtiger,
ernster, tragischer Blick, der sich tief in die
Augen des Gegenspielers zu versenken schien
und dem stummen Spiel erst die rechte
Beredtheit gab.
75
STERNFELD
Am schwierigsten ist Niemanns Stimme
zu charakterisieren, schon deshalb, weil sie
so sehr verschieden sich vernehmen Hess.
Der Sänger war oft indisponiert; der Kampf
mit dem Objekt wurde ihm schwerer gemacht,
als so vielen weniger bedeutenden Kollegen.
Von einer gleichmässigen Schönheit konnte
dann kaum die Rede sein; die Kantilene
war oft zerhackt und kurzatmig; die Vokali-
sation nicht immer edel; die Töne drangen
nicht frei, sondern nasal gehemmt hervor.
Dies machte sich aber doch erst in späteren
Jahren geltend, wo dann auch die Höhe
nicht mühelos ansprach. In seinen besten
Jahren war das Organ ein prachtvoller
Heldentenor mit baritonaler Färbung. Nie-
mann war kein Ritter vom hohen C, dafür
aber besass er eine kräftige Mittellage; er
prunkte nicht mit süsslichen Falsettönen,
wusste aber sehr geschickt die Register zu
verbinden. Dazu die gewaltige Stärke und
die Deutlichkeit der Aussprache, damals noch
eine Seltenheit.
Doch alle diese Dinge, die bei den Tenören
sonst die Hauptsache sind, waren bei diesem
76
ALBERT NIEMANN
Sänger wirklich nur Nebensächliches. Denn
die unerhörte Kraft des Ausdrucks Hess die
Frage, ob diese oder jene Stelle mehr oder
weniger schön gesungen worden, gar nicht
aufkommen. Wer Niemann nicht gehört hat,
kann sich eigentlich nicht vorstellen, wie
weit die Fähigkeit zu gehen vermag, durch
die Modulation des Sprach - Gesanges jeden
möglichen Affekt hervorzubringen. Ihm
standen alle Färbungen zu Gebote, nicht
nur für Liebe und Hass, Trauer und Jubel,
Schmerz und Freude, sondern auch für Zorn,
Verzweiflung, Hohn, Spott, Verachtung.
Wem klängen da nicht unnachahmliche
Wendungen im Ohre, wie die Gering-
schätzung Biterolf s : „Was hast Du, Ärmster,
denn genossen?" oder die Ironie: „Wolfram
bist Du, der wohlgeübte Sänger!" oder der
dräuende Zorn: „Zurück von ihr, Verfluchte!"
oder die chevalereske Herablassung gegen-
über den NobiH, oder die herzzerreissende
Bitte des gefangenen Florestan, oder der
Freiheitsschrei des umnachtet en Masaniello:
„Gebt mir Waffen!" Niemann hatte eine
Anzahl ihm ganz eigentümUcher Mittel, die
77
STERNFELD
Drastik des Ausdrucks zu steigern und die
Leidenschaften ganz zu entfesseln, wobei er
bis an die Grenzen des Schönen ging. Er
gab z. B. dem stark ausgehaltenen Vokal a
eine gewisse sinnliche Vibration^ die eine
unfehlbare Wirkung hervorbrachte, auch bei
den Liedern, die er so sehr bevorzugte, wie
die „FrühUngsnacht" und „Ich grolle nicht"
von Schumann. Man konnte hier wohl
ästhetische Zweifel an der Berechtigung
solcher Akzente im Konzertsaal*) hegen:
ein anderer durfte es eben nicht, „ihm brächt'
es Spott und Schmach" — aber Niemann
war das so natürlich, dass jeder Widerspruch
verstummte. Seine Wucht, sein Temperament
warfen alles nieder; es war oft eine Manier
al fresco: er Hess wohl zehn Takte, die ihm
nicht lagen, unter den Tisch fallen und hob
den elften zu einem so grandiosen Effekt
*) Doch soll hier nicht vergessen werden, dass Nie-
mann auch ein ganz ausgezeichneter Oratoriensänger war.
Wie oft hat er nicht den „Judas Maccabäus" von Händel
gesungen und wer hätte eine solche Partie jemals wieder
so gehört? Er war eben „der Held, mit Preis gekrönt"
auch im Konzertsaal.
78
ALBERT NIEMANN
empor, dass sich doch der Hörer willenlos
diesem angeborenen Genie, dieser vulka-
nischen Gewalt beugfte.
Schon früh in Hannover hat man den
stark sinnlichen Zug* seines Spiels und Ge-
sanges hervorgehoben. Es lässt sich gar nicht
leugnen, dass ein gutes Teil seines Anreizes
und seiner Erfolge hieraus resultierten. Das
war ja auch ganz erklärlich und berechtigt.
Was jene girrenden italienischen Tenöre und
ihre deutschen Nachtreter erstrebten, ohne
doch anders als lächerlich zu wirken, das
brach aus diesem blonden Germanen ganz
unbeabsichtigt, mit natürlicher Leidenschaft
hervor. Er beherrschte die ganze Skala der
Äusserungen des Eros: von der seraphischen
Liebe des Gralsritters zu der verklagten Jung-
frau bis zur unheimlichen Lüsternheit des
verdammten Sängers, den sein Dämon wieder
nach dem Venusberg zieht. Er wusste himm-
lische und irdische Liebe, Brunst und Inbrunst
mit romantischer Glut zu verschmelzen; auf
ihn passte das Faustische: ^Du sinnHch über-
sinnlicher Freier". Er hätte überhaupt das
Zeug gehabt, den Goetheschen Faust, den
79
STERNFELD
wir auf unseren Bühnen vergeblich suchen,
zu verkörpern, und ebenso den Don Juan —
nicht den Mozartschen, sondern den des
Grabbe oder den Lenauschen.
FreiUch darf nicht verschwiegen werden,
dass durch das starke Hervortreten des ero-
tischen Momentes zuweilen in Dichtung und
Musik ein Zug hineinkam, der in dem Kunst-
werk selbst nicht begründet war. Aber Nie-
mann konnte nicht anders, als sich eine Partie
nach seiner Weise zurechtlegen, eine Gestalt
in seine Natur übersetzen. Trotz aller Wand-
lungsfähigkeit war er» immer Niemann, kein
Darsteller hätte sich so schwer in eine andere
Auffassung zwingen lassen wie er. Und er
zwang nun wieder dem Publikum seine Auf-
fassung auf, mit solcher Gewalt, dass es sich
eine andere überhaupt nicht denken konnte
und wollte. Er hat dadurch das Verständnis
Wagnerscher Werke jahrzehntelang in einer
bestimmten Richtung beeinflusst. Aus dem
Tannhäuser und Lohengrin schuf er Typen,
die sich unauslöschlich einprägten und fest-
setzten. Niemanns Tannhäuser war der Tann-
häuser; und man wird sich noch des Er-
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NIEMANN als Siegmund
ALBERT NIEMANN
Staunens erinnern, das Knilles bekanntes Bild
hervorrief, weil es einen jungen, brünetten,
unbärtigfen Venusritter darstellte, der den
Berlinern ganz fremd war. Ebenso war Nie-
mans Lohengrin traditionell geworden, ob-
schon man sich wohl den Gralsritter eher so
vorstellen möchte, wie etwa RafFaels Sankt
Georg, der den Drachen erschlägt. Aber
Niemanns Vollbart war etwas Heiliges, woran
kein Schermesser sich wagen durfte, ohne
den Zorn des Sängers, den Schmerz seiner
Enthusiastinnen hervorzurufen.
Man kann Niemanns Bedeutung doch
nicht recht würdigen, ohne wenigstens einiger
der von ihm geschaffenen Gestalten zu ge-
denken. Da fällt zuerst sein „Josef in Ägypten"
ins Auge, mit dem er oft die Menge bis zu
Thränen gerührt hat. Man hat sich immer
gewundert, dass er eine so einfache Partie
so schlicht und doch so hinreissend geben
konnte, er, der sich sonst nur als Held wohl
fühlte. Die Antwort ist einfach: nicht in der
klirrenden Rüstung suchte er das Heldentum,
sondern in den Seelenkonflikten und im Leiden.
8i 6
STERNFELD
Wo Niemann den tragischen Helden dar-
stellen konnte, gleich ob Josef oder Tristan,
da war er in seinem Elemente, rührend und
gross. Weil dieser M^hulsche Held so ein-
fach und echt, so voll Herzensgüte und Ver-
gebung ist, deshalb konnte ihn Niemann so
hoch heben, so innig wiedergeben, ganz gleich, ,
ob die Rolle schwer oder leicht war. Ahn-
lich ist es mit seinem Max. Er hat Webers
biederen Jägerburschen noch bis in die letzten
Jahre ganz herrlich gespielt; er gab ihm die
Treue und Schwärmerei des deutschen Jüng-
lings, daneben auch das tiefe Leiden eines
edlen Gemüts, das sich unentrinnbar von
bösen Mächten umgarnt sieht. Als dritte Ge-
stalt käme dann sein unerreichter Flor est an.
Auch im Kerker dieses Freiheitshelden fasste
den Hörer der Menschheit ganzer Jammer
an; Niemann führte die Herzen mit dem
grossen Meister Beethoven an die Grenzen
der marternden Verzweiflung, er entrückte |
sie in überirdische Visionen, er riss sie zu|
schrankenlosem Jubel dahin. Hier kam ihm |
die seltene Gabe zustatten, dass er die Stimme
weinen lassen konnte, weinen in Schmerz
S2
ALBERT NIEMANN
und Freude. Wer macht ihm das heute
nach?
Bei Meyerbeer lag die Sache anders. Da
musste Niemann von dem Seinig-en viel hin-
zutun, um den tragischen Helden überhaupt
erst erstehen zu lassen. An seinem Robert
rühmte man besonders die interessante Auf-
fassung der Spielszene im i. Akte. Hier,
wie als Raoul, hat er, seiner Natur gemäss,
den edlen und frommen Ritter dargestellt,
der unverdorben in eine seichte, elegante und
spöttische Welt hineintritt, dieser aber doch
durch seine Reinheit und Kraft imponiert;
zugleich umschwebte ihn der Hauch roman-
tischer Liebeswerbung. Weit überragt diese
Leistungen sein Prophet. Aus dieser von
Scribe mit allen möglichen Lappen zusammen-
geflickten Gestalt schuf Niemann ein Ganzes
von wunderbarer Grösse. Wie er in den
Gounodschen Faust den Goetheschen hin-
eintrug, so in den Propheten etwas von der
historischen Erscheinung des „Königs von
Sion**. Gab ihm der Scribesche Held mensch-
lich nur ein Zerrbild, so konnte Niemann ihm
wenigstens religionsgeschichtliche Grösse ver-
83 6.
STERNFELD
leihen und durch majestätische Gestalt, freie
Auffassung*, Herausheben kleiner wichtiger
Zügfe, Eindringlichkeit der Harangfue, die Ge-
walt erklären, die dieser betrog*ene Betrüg-er
über die Schwarmgfeister ausübte. Seit
Niemanns Abgang-e ist der Prophet tot, wie
„Der Königsleutnant" oder der alte Klings-
berg ohne Friedrich Haase, wie so manche
Stücke, die einzig vom Genie der Darsteller
lebten.
Der kämpfende, siegende, verratene, lei-
dende, triumphierende oder untergehende
geschichthche Freihöitsheld — diese Reihe
grosser, von Niemann verkörperter Männer
— Judas Maccabäus, Florestan, Cortez, Masa-
niello, Johann von Leyden, Vasco — führt
uns zur ältesten Wagnerschen Heldengestalt,
zu Cola Rienzi. Wagner hat hier der
Opernbühne den ersten wirklich historischen
Helden gegeben: aus dem vielen Opernhaften,
das dieser Partitur noch anklebt, hebt sich
der Charakter des Tribunen glaubhaft und
gross heraus. Zugleich war dieser Rienzi
aber auch der letzte geschichtliche Held
Wagners, indem sich der für ihn notwendige
84
ALBERT NIEMANN
Übergang* von der Konvention zum Rein-
menschlichen hier schon vollzieht. Niemann
hat dies gefühlt So mächtig er den Nobili ent-
gegentrat, so prächtig er sich ausnahm, wenn
er das Streitross mit sicherer Hand regierte,
— das Beste gab er doch im 4. Akte, wenn
er nach dem Bannfluche des Priesters, vom
Volke verlassen, das er frei gemacht hatte,
aus der Betäubung erwacht, die Schwester
an seiner Brust fühlt und mit tränenerstickter
Stimme fragt: „Irene, Du?*', dann hoch sich
aufrichtet: „Noch gibfs ein Rom!"
Damit sind wir zu den Wagnerschen Ge-
stalten gekommen, deren Verkörperungen
und Vergeistigungen ein unvergänglicher
Ruhmestitel des grossen Sängers bleiben
werden. Von ihnen möchte man die einzige
nichttragische, Walther von Stolzing,
zuerst ausscheiden. Hier gab Niemann das
Beste in den Szenen mit den Meistern: hoch-
erhaben auf dem Singestuhle war er „ein
wahrer Dichter-Reck''*; es fehlte nicht an
Zügen, auf die der Durchschnitts-Tenor nicht
kommt, so, wenn er auf Kothners Frage:
„Ist er frei und edel geboren?" wie unwill-
05
STERNFELD
kürlich auffahrend an die Seite griff, als
wollte er den frechen Handwerker nieder-
schlagen, oder wenn er am Anfang der grossen
Szene mit Sachs sich noch abweisend gegen
den Schuster verhielt, der so eigenmächtig
in sein Wollen eingegriffen hatte. Aber im
ganzen zu viel Ritter, zu wenig Dichter-
Jüngling; es fehlte das Freudige, Sanges-
frohe. Nicht die heiteren, unerfahrenen
Helden waren seine Stärke, sondern die Ge-
prüften, im Leide Gehärteten oder die Ge-
zeichneten, zum Leiden Bestimmten.
AJs ein wahrhaft «, Gottgesandter" stellte
sich sein Lohengrin dar. Die beiden Klip-
pen, an denen hier die Tenöre so oft scheitern
— das Süss-Schmachtende und das schön-
heitsmässig Posierende — vermied dieser
ernste Künstler ganz von selbst; er war der
Gralsritter, bei dessen Blick das Gemeine
versinkt, das Schuldvolle erbebt, das Reine
und Gute Trost und Hoffnung schöpft In
der Szene mit Elsa aber — welch eine Fülle
wechselnder Stimmungen, reichsten Gefühles!
Wie zart und glühend zugleich umfasste er
die bräutliche Jungfrau ! Und dann nach allen
86
ALBERT NIEMANN
Schauem der unsäglich rührende Schluss:
„Weh, nun ist all unser Glück dahin I" Was
Niemann mit vibrierendem Hauch in solche
Worte zu legen wusste, kann der jüngeren
Generation nicht klar gemacht werden; wer
es aber von ihm öfters gehört hat, dem klingt
es im Ohr, als wenn es gestern gewesen
wäre.
Und nun zu den drei tragischen Helden,
deren Darstellung die Krone des Niemann-
schen Schaffens bleibt, zu den Leidenden aus
Liebesnot: Tannhäuser, Tristan, Siegmund.
Von Niemanns Tannhäuser zu sprechen,
ist überflüssig. „Aus Freuden sehn' ich mich
nach Schmerzen" war das Motto seiner Auf-
fassung; man wusste, dass dieser von den
furchtbarsten Kontrasten der Leidenschaft
Hin- und Hergeworfene nur im Tode Er-
lösung finden kann. Niemann war — ganz
nach des Meisters Vorschrift — ,,nie und
nirgends etwas nur ein wenig, sondern alles
voll und ganz". Dass hier nun wieder die
Erzählung von der Pilgerfahrt im letzten
Akte das Ausserordentliche war, ist bekannt.
Schon die Erscheinung, die abgemagerten
87
STERNFELD
Arme, das gramdurchfurchte Antlitz, das
Wanken am Pilgerstabe bot nie Gesehenes.
Dann die Deklamation mit Akzenten von
wuchtendem Weh und schneidender Schärfe;
Inbrunst und Hoffnung-, Enttäuschung* und
Verzweiflung-, dazwischen die Worte des
Papstes wie eine schroffe Felswand. Wie
viel hundert Male hat wohl Niemann dies
einer atemlos lauschenden, schauerlich er-
griffenen Menge vorg-eführt! Mochte er auch
in den ersten beiden Akten manches neben-
sächlich behandeln: hier zum Schluss war
er immer selbst im Innersten gepackt, über
sich selbst gehoben.
Über Niemanns Tristan wird man sich
kurz fassen müssen, wenn der Raum fehlt,
eine eingehende psychologische Würdigung
dieser gewaltigen Gestalt zu geben. Nirgends
trat die ernste Grösse, die gehaltene Männ-
lichkeit des tragischen Helden so hervor,
wie im i. Akte. Dieser Tristan war „ein
Herr der Welt", aber auch „des Schweigens
Herr". Auch hier gab es einen Höhepunkt
des Ausdrucks, der nie vergessen werden
kann: wenn Niemann, bebend und gefasst
88
ALBERT NIEMANN
zugleich, auf Isoldens leidenschaftlichen Aus-
bruch starr und bleich erwidert:
War Morold dir so wert,
Dann wieder nimm das Schwert
Und führ' es sicher und fest,
Dass du nicht dir''s entfallen lässt.
Auch nach dem Rausche des Liebes-
trankes, dem fessellosen Dahinstürmen der
verhaltenen Glut hatte man bei Niemann
immer das Gefühl, dass dieses Glück doch
„trug-geweiht'', diese „Wonne voller Tücke'*,
dass Haupt und Herz dieses Helden dem
Tode geweiht sei. Und nun der 3. Akt:
dieses Lechzen und Schmachten, Raserei
ungestillter Sehnsucht, Wonnen geträumten
Wiedersehens, Aufbäumen und Verzweifeln,
Todestrotz, welthellsichtiges Ahnen — alles
bot uns Niemann mit völliger Hingabe des
ganzen Menschen an die Ausführung des
Ungeheuersten, noch nie vorher Geforderten.
Und man muss es ihm nachsagen: er —
sonst geneigt, vor keinem Extrem zurück-
zuschrecken — bewahrte hier künstlerische
Mässigung, Hess sich auch im äussersten
Paroxysmus fieberhafter Extase nicht zu un-
89
STERNFELD
schönen Übertreibungen, wie man sie von
Kleineren sehen kann, hinreissen.
Nehmen wir nun Abschied von dem
grossen Künstler, von unvergesslichen Er-
innerungen der Jugendzeit — wie könnte es
besser und inniger geschehen, als mit der
Hinweisung auf seinen Siegmund? Das war
die Partie, die Niemann schlechthin voll-
kommen darstellte; hier war auch die Stimm-
lage so für ihn geschaffen, dass nichts die
vollendete Ausführung störte. Man müsste
hier jede Szene, jedes Wort und jeden Schritt
einzeln beschreiben — ^„und doch vergebens — ,
wollte man dem nachgeborenen Geschlecht
einen Begriff dieser künstlerischen Grosstat
eines genialen Darstellers geben. Von dem
Augenblick, wo der Wälsung gehetzt und
gebrochen in Hundings Hütte wankt, bis zu
seinem Todesseufzer, war jede Bewegung,
jedes Wort, das Niemann bot, gross und
herrlich, ergreifend und erschütternd. Wie
klein erscheint dagegen fast alles, was im re-
zitierenden, tonlosen Drama die vielgefeierten
Schauspieler seitdem geboten haben, wie
wenig noch von berufenen Kennern der
90
ALBERT NIEMANN
Bühne eine solche einzige Leistung* des
deutschen musikaUschen Dramas beachtet
und geachtet! So sei es denn hier — um
nur einen Höhepunkt herauszuheben — nach-
drückhch ausgesprochen, das&in dem Moment,
wo auf der Bayreuth er Bühne 1876 dieser
Siegmund „mit einem BUcke voll schmerz-
lichen Feuers auf Sieglinde" die Worte
sprach: „Nun weisst du fragende Frau, warum
ich Friedmund nicht heisse!'^ und, zu dem
Ertönen des erhabenen C-moU-Themas der
Wälsungen, mit der tragischen Gebärde des
Todgeweihten dem Herde zuschritt — dass
damals deutsche Bühnenkunst, schaffend und
nachschaffend, einen Gipfel erstiegen hatte,
der unermesslich hoch über den Niederun-
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