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Full text of "Allgemeine geschichte der philosophie : mit besonderer berücksichtigung der religionen"

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103 
P4-SS 


BOOK     109.0488   V.2    pt.  2    c.  1 
DEUSSEN    #    ALLGEMEINE    GESCHICHTE 
DER    PHUOSOPHIE 


3    T1S3    000STÖ21    1 


ALLGEMEINE 

GESCHICHTE  DER  PHILOSOPHIE. 

ZWEITER  BAND,  ZWEITE  ABTEILUNG. 


ALLGEMEINE 

GESCHICHTE  DER  PHILOSOPHIE 

MIT 

BESONDERER  BERÜCKSICHTIGUNG  DER  RELIGIONEN. 

Von 

De.  PAUL  DEUSSEN 


PEOFESSOR   AN    DER    UNIVEKSITAT    KIEL. 


ZWEITER  BAND,  ZWEITE  ABTEILUNG: 
DIE  BIBLISCH-MITTELALTERLICHE  PHILOSOPHIE. 

ZWEITE  AUFLAGE. 


LEIPZIG: 
F.    A.    BROCKHAÜS. 

1919. 


IO<^ 


Das  Recht  der  Übersetzung  ist  vorbehalten. 
Copyright  1915  by  F.  A.  Brockhaus,  Leipzig. 


VORWORT  ZUR  PHILOSOPHIE  DER  BIBEL.    ' 


Der  als  Kritiker  ausgezeichnete,  aber  philosophisch  weniger 
gut  beratene  Verfasser  des  berühmten  Lebens  Jesu,  David 
Friedrich  Straufs,  wirft  in  der  Schrift  seines  Alters  „Der  alte 
und  der  neue  Glaube"  die  Frage  auf:  „Sind  wir  noch  Christen?" 
und  beantwortet  sie  mit  einem  klaren  und  entschiedenen  Nein. 
Wer  aber  imstande  ist,  den  philosophischen  Kern  aus  der 
historischen  und  daher  zufälligen  Schale  zu  lösen,  wer  nicht 
bei  den  blofsen  Worten  stehen  bleibt  und  eine  Sache  auch 
da  wiederzuerkennen  vermag,  wo  sie  unter  anderm  Namen 
und  in  neuer  Einkleidung  auftritt,  der  wird  auch  nach  allen 
Errungenschaften  der  Geschichtsforschung,  Naturwissenschaft 
und  Philosophie  die  von  Straufs  aufgeworfene  und  verneinte 
Frage:  Sind  wir  noch  Christen?  mit  einem  ebenso  klaren  und 
entschiedenen  Ja  beantworten.  Denn  das  Wesen  des  Christen- 
tums erstreckt  sich  viel  weiter  als  sein  Name  und  besteht  in 
einem  Gedanken,  welcher  so  ewig  ist  wie  die  Welt  und  nie 
erlöschen  wird:  es  ist  der  indisch-platonisch-christliche  Ge- 
danke, dafs  unser  Erdendasein  nicht  Selbstzweck  ist,  wie  alle 
eudämonistische  Ethik  annimmt,  dafs  vielmehr  die  höchste 
Aufgabe  des  Lebens  darin  besteht,  auf  dem  Wege  der 
Selbstverleugnung,  welche  das  Wesen  aller  echten  Tugend 
ausmacht,  uns  von  dem  uns  allen  angeborenen  Egoismus  zu 
läutern  und  dadurch  unserer  ewigen  Bestimmung  entgegen- 
zm'eifen,  welche  uns  im  übrigen  unbekannt  bleibt  und  bleiben 


VI  Vorwort. 

mufs,  soll  nicht  die  Reinheit  des  morahschen  Handelns  ge- 
fährdet werden. 

Wer  diesen  Gedanken,  in  welchem  das  eigenthche  Wesen 
des  Christentums  besteht,  in  seiner  vollen  Tiefe  erfafst  hat, 
der  wird  nicht  länger  zaudern,  der  Wissenschaft  zu  geben, 
was  der  Wissenschaft  ist,  sollte  er  dabei  auch  manche  Vor- 
stellungen, welche  die  Freude  und  den  Trost  unserer  Väter 
bildeten,  zum  Opfer  bringen  müssen,  weil  sie  mit  einer  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  der  Welt  unvereinbar  sind. 

Seitdem  wir  für  die  Geschichte  des  Volkes  Israel  und  des 
aus  seinem  Schofse  hervorgegangenen  Christentums  nicht  mehr 
auf  Quellen  wie  Bibel  und  Herodot  allein  angewiesen  sind,  hat 
durch  die  Entzifferung  der  Hieroglyphen  und  der  babylonisch- 
assyrischen Keilschriften,  die  Inschrift  des  Königs  Mesa,  die 
Funde  von  Tell-el-Amarna  und  Elephantine,  und  die  genauere 
Kenntnis  der  iranischen  Weltanschauung,  auch  auf  biblischem 
Gebiete  vieles  ein  anderes  Aussehen  gewonnen.  Seit  die  Denk- 
mäler des  alten  Ägyptens  nach  tausendjährigem  Verstummen 
wieder  zu  uns  reden,  ist  der  alte  Traum  einer  ägyptischen 
Urweisheit  (Apostelgesch.  7,22)  und  mit  ihm  die  Möglichkeit 
geschwunden,  den  hebi'äischen  Theismus  aus  dem  ganz  anders 
gearteten  ägyptischen  abzuleiten.  Hingegen  ist  es  gelungen, 
in  der  Bibliothek  des  Assurbanipal  die  Vorbilder  nachzuweisen, 
aus  denen  sich  unter  den  Händen  der  alten  Hebräer  in  be- 
deutsamer, ethischer,  vom  Geiste  des  Prophetismus  getragener 
Umwandlung  die  Mythen  von  der  Weltschöpfung,  dem  Paradies, 
den  zehn  Urvätern  und  vor  allem  der  von  der  Sintflut  ent- 
wickelt haben,  während  andererseits  die  Briefe  von  Tell-el- 
Amarna  uns  ein  Reich  der  Mitani  kennen  lehren,  dessen 
Herrscher  schon  um  1400  a.  C.  iranische  Namen  tragen,  wo- 
durch sich  die  Möglichkeit  eröffnet,  den  schon  beim  Jahvisten 
(850  a.  C.)  auftretenden  Sündenfallmythus  auf  iranischen  Ur- 
sprung zurückzuführen.    Eben  diese  Amarna-Briefe  geben  uns 


"Vorwort.  VII 

ein  Bild  von  dem  Zustande  Palästinas  vor  der  Zeit  der  In- 
vasion der  Hebräer,  welchem  die  ethisch  so  wertvollen  Er- 
zählungen von  Abraham,  Isaak  und  Jakob  in  keiner  Weise 
sich  einfügen  laesen,  so  dafs  wir  bei  den  drei  Erzvätern  auf 
jede  historische  Gewifsheit  verzichten  müssen.  Aber  noch 
gröfsere  Opfer  liebgewordener  Vorstellungen  müssen  gebracht 
werden.  Denn  wenn  es  kaum  mehr  zu  bezweifeln  ist,  dafs 
das  Deuteronomium  das  Gesetzbuch  des  Königs  Josia  (621  a.  C), 
und  dafs  der  Leviticus  nebst  den  angrenzenden  Partien  erst 
das  von  Esra  und  Nehemia  (444  a.  C.)  proklamierte  Gesetz- 
buch des  zweiten  Tempels  ist,  was  bleibt  dann  von  Mose 
anderes  übrig  als  die  nebelhafte  Gestalt  eines  mythischen 
Heros,  auf  welchen  die  erste  Organisation  der  als  Beduinen 
in  der  Wüste  umherziehenden  Hebräer  und  mit  ihr  die  ersten 
Kudimente  des  spätem  Gesetzeskanons  zurückgeführt  werden 
können.  Zu  dem  gewaltigen  und  nicht  selten  gewaltsamen 
Auftreten  dieses  Heros  der  Gesetzgebung  will  die  furchtsame 
Rolle  nicht  stimmen,  welche  die  Sage  ihn  bei  seiner  Berufung 
spielen  läfst,  wie  denn  überhaupt  der  ganze  Aufenthalt  des 
Volkes  Israel  in  Ägypten  und  die  Katastrophe  bei  seinem  Aus- 
zuge sehr  ins  Wanken  gerät,  da  die  ägyptischen  Denkmäler 
von  beiden  nichts  zu  wissen  scheinen.  Festern  Boden  be- 
treten wir  erst  nach  erfolgter  Eroberung  des  gelobten  Landes 
in  der  Zeit  der  Richter  und  ersten  Könige.  Dafs  in  dieser 
Zeit  neben  Jahve  als  dem  Schirmgotte  Israels  auch  andere 
Götter  verehrt  wurden,  dafs  die  Forderung  des  Monotheismus 
erst  durch  die  altern  und  Jüngern  Propheten  aufgestellt  und 
schliefslich  durchgesetzt  wurde,  dafür  treten  zahlreiche  Stellen 
des  Alten  Testaments  ein,  und  eine  unschätzbare  Ergänzung 
finden  dieselben  in  der  Inschrift  des  Moabiterkönigs  Mesa, 
welche  zeigt,  dafs  Jahve  für  die  Hebräer  gerade  wie  Kamos 
für  die  Moabiter  der  spezielle  Stammgott  war,  dem  man  Ver- 
ehrung   und    Treue    schuldete,    und    neben    dem    die    andern 


VIII  Vorwort. 

Götter  ebenso  bestanden  wie  neben  dem  König  des  eigenen 
Landes  fremde  Könige,  denen  man  keinen  Gehorsam  schuldig 
war,  an  deren  realer  Existenz  aber  niemand  zweifelte.  Erst 
allmählich  konnte  man  es  wagen,  in  der  krassen  Weise,  wie 
es  beim  zweiten  Jesaia  geschieht,  alle  andern  Götter  für  Stein 
und  Holz  zu  erklären  und  Jahve  als  den  allein  realen  Gott  zu 
proklamieren,  auf  welchen  die  Schöpfung  der  Welt  und  mit 
ihr  ganz  konsequent  auch  die  Urheberschaft  des  Bösen  zurück- 
geführt wurde,  und  als  dessen  Geschöpf,  ebenso  konsequent, 
der  Mensch  aus  nichts  geschaffen  war  und  mit  dem  Tode 
wieder  in  sein  ursprüngliches  Nichts  versank.  Diese  An- 
schauungen von  Gott  und  Mensch  waren  sehr  ungeeignet,  die 
Grundlagen  einer  Weltreligion  zu  werden;  zu  diesem  Zwecke 
bedurften  die  althebräischen  Begriffe  einer  Umformung,  wie 
sie  nicht  aus  dem  Schofse  des  alten  Hebraismus  allein,  sondern 
nur  durch  das  Eindringen  eines  fremden  Elementes  möglich 
war;  und  so  müfsten  wir  als  Mittelglied  zwischen  dem  Alten 
und  Neuen  Testamente  ein  solches  Element  postulieren  und 
hypothetisch  konstruieren,  läge  es  uns  nicht  in  der  iranischen 
Weltanschauung  des  Zarathustra  offenkundig  vor  Augen.  Ein 
Bild  dieser  Religion  des  grofsen  und  mächtigen  Perserreichs, 
dem  die  Juden  zwei  Jahrhunderte  hindurch  als  Untertanen 
angehörten,  war  somit  unserer  Darstellung  einzuflechten  und 
auf  Grund  desselben  der  Nachweis  zu  führen,  wie  es  erst 
durch  iranischen  Einflufs  möglich  wurde,  Gott  von  der  Ur- 
heberschaft des  Bösen  zu  entlasten  und  als  Prinzip  der 
Moralität  festzuhalten,  während  eben  diesem  Einflüsse  auch 
die  Erkenntnis  der  ewigen  Bestimmung  des  Menschen  und 
eine  Vergeistigung  der  Messiashoffnungen  verdankt  wurde. 
So  war  der  Boden  vorbereitet  für  das  Auftreten  Jesu,  dessen 
Leben  nur  auf  Grund  der  drei  synoptischen  Evangelien  mit 
völliger  Ausschliefsung  des  vierten  dargestellt  werden  darf, 
will  man  sich  nicht  der  Möglichkeit  berauben,  über  die  einzig- 


Vorwort.  IX 

artige  Persönlichkeit  Jesu,  neben  der  selbst  ein  Buddha  matt 
und  ein  Sokrates  kalt  erscheinen  mag,  sowie  über  seine  Lelire 
eine  historisch  begründete  und  psychologisch  zusammen- 
stimmende Vorstellung  zu  gewinnen.  Es  kann  ferner  nicht 
nachdrücklich  genug  darauf  hingewiesen  werden,  dafs  Paulus 
sich  auf  seine  eigenen  Offenbarungen  beruft,  dafs  somit  der 
paulinische  Christus,  auf  welchem  die  Christusgestalt  der 
lürche  beruht,  schon  von  Haus  aus  nicht  ein  liistorischer, 
sondern  ein  idealer  Christus  ist.  Das  Bedürfnis,  diesen  an 
einem  Leben  Jesu  exemplifiziert  zu  sehen,  führte  dann  zur 
Abfassung  des  vierten  Evangeliums,  welches,  wie  unsere  Dar- 
stellung nachweist,  durchaus  auf  paulinischem  Grunde  beruht 
und  somit  die  späteste,  aber  auch  gereifteste  und  universellste 
Urkunde  des  Neuen  Testaments  bildet. 

Ein  letztes  Kapitel  unseres  Buches  unternimmt  den  Ver- 
such, den  unvergänglichen  Kern  des  Christentums  aus  der 
vergänglichen  Schale  zu  lösen,  wobei  die  tiefe  innere  Ver- 
wandtschaft dieses  Kernes  mit  den  Grundanschauungen  der 
Kantisch- Schopenhauerschen  Philosophie  deutlich  hervortritt. 
Im  Hinblick  auf  diesen  Kern,  welcher  als  einzige  Quelle 
der  Offenbarung  das  moralische  Bewufstsein  mit  seinen 
Wunderphänomenen  des  kategorischen  Imperativs,  der  Frei- 
heit und  Verantwortlichkeit,  der  unwillkürlichen  Billiguns: 
des  Guten  und  Verwerfung  des  Bösen  bei  andern  wie  bei 
uns  selbst,  gelten  läfst,  aber  in  diesen  metaphysischen,  aus  der 
Natur  nicht  erklärbaren  Tatsachen  das  ganze  und  sichere 
Evangelium  eines  ewigen,  über  diese  Erscheinungswelt  hinaus- 
liegenden Reiches  enthält,  dürfen  wir  es  wagen,  auch  nach 
allen  Unterminierungen  des  Bibelglaubens  durch  historische 
und  naturwissenschaftliche  Kritik  die  zu  Eingang  aufgeworfene 
Frage:  „Sind  wir  noch  Christen?"  mit  einem  zuversichtlichen 
Ja!  zu  beantworten. 


X  Vorwort. 

Nachdem  wir  schon  in  Schulpforta  angefangen  hatten,  die 
an  den  Schriften  der  Alten  geübte  philologisch -historische 
Methode  auch  auf  die  biblischen  Bücher  anzuwenden,  ging 
auf  den  Universitäten  zu  Bonn  und  Tübingen  durch  das 
Studium  der  Theologie  der  letzte  Rest  des  Kirchenglaubens 
verloren.  —  —  —  —  Wiedergegeben  wurde  mir  die  Religion 
durch  das  Studium  der  Kantischen  und  Schopenhauerschen 
Philosophie.  Die  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  bewahrte  mich 
vor  dem  Materialismus,  während  die  „Kritik  der  praktischen 
Vernunft"  und  die  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  mich  an- 
leiteten, mein  Cliristentum  auf  den  Christus  in  uns,  auf  die 
Tutsachen  des  moralischen  Bewufstseins  zu  gründen,  welche 
die  einzige  Quelle  sind,  aus  der  auch  ein  Jesus  und  Paulus 
ihre  Offenbarungen  geschöpft  haben.  —  Ein  längeres  Leben  in 
der  Geisteswelt  des  alten  Indiens  schärfte  dann  noch  weiter 
den  Blick  für  die  analogen  Bildungen  auf  biblischem  Gebiete 
und  erleichterte  deren  objektive  Auffassung.  Und  so  empfinde 
ich  es  als  ein  besonderes  Glück,  dafs  die  Ausarbeitung  meiner 
„Allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie"  in  der  vorliegenden 
ersten  Hälfte  der  fünften  Abteilung  mir  die  Möglichlveit  bot, 
auch  für  andere  zu  sagen,  was  Kopf  und  Herz  so  viele  Jahre 
beschäftigt  hatte.  Ich  habe  dabei  ein  ähnliches  Gefühl  wie 
der  alte  Kägyapa,  nachdem  er  die  lange  gepflegte  Qakuntalä 
aus  seiner  Einsiedelei  an  den  Königshof  abgesandt  hatte: 

jäto  mama  ayam  vigadah  praJcämam 
jaratyarjoüanyäsa'  iva  antarätmä, 

erleichtert  ist  jetzt  mein  Gemüt,  als  hätt'  ich 
ein  anvertrautes  Gut  zurückerstattet. 

Kiel,  im  August  1913. 

P.  D. 


VORWORT  ZUR  PHILOSOPHIE  DES 
MITTELALTERS. 


Im  Anschlüsse  an  die  Philosophie  der  Bibel  ist  es  die 
Aufgabe  der  Philosophie  des  Mittelalters  zu  zeigen,  wie  der 
durch  die  persönliche  Erscheinung  Jesu,  durch  das  Wirken  des 
Apostels  Paulus  und  endhch  durch  das  vierte  Evangelium  aus- 
gestaltete christliche  Gedanke  zunächst  in  der  griechisch-römi- 
schen Welt  und  im  weiteren  Verlaufe  bei  den  Völkern  des  nörd- 
lichen Europas  in  Patristik  und  Scholastik  unter  mannigfachen 
Kämpfen  mit  widerstrebenden  Elementen  Eingang  gefunden 
imd  schliefslich  die  Völker  Europas  sich  unterworfen  hat.  Im 
Gegensatz  zur  indischen,  griechischen  und  biblischen  Philo- 
sophie, welche,  eine  jede  in  ihrer  besonderen  Art,  völlig  neue 
Schöpfungen  des  menschlichen  Geistes  darbieten,  ist  die  mittel- 
alterliche Philosophie,  abgesehen  von  tiefsinnigen  Mystikern 
wie  Meister  Eckhart  und  Jakob  Böhme,  nur  ein  mixtum  com- 
positum aus  biblischen  und  griechischen  Gedankenelementen 
oder,  genauer  gesagt,  eine  Projektion  des  neutestamenthchen 
Lehrinhalts  auf  die  wohlvorbereitete  Fläche  der  griechischen 
Philosophie.  Fehlt  es  sonach  dieser  Periode  im  geistigen 
Leben  der  Menschheit  an  Ursprünglichkeit,  können  wir  auch 
nicht  erwarten,  aus  ihr  wesentliche  Elemente  für  den  Ausbau 
unseres  eigenen  geistigen  Lebens  zu  gewinnen,  so  ist  doch  die 
mittelalterliche  Philosophie  von  erheblichem  kulturgeschicht- 
lichen Interesse,  und  niemand  wird  in  unserer  kurzen  Dar- 
stellung derselben  ohne  Teilnahme  die  Bemühungen  unserer 
Väter  verfolgen,  den  christlichen  Gedanken  zunächst  auf  Grund 
des  Neuplatonismus  genetisch  zu  begreifen  und,  nachdem  diese 


XII  Vorwort. 

Versuche  an  dem  Widerstände  der  immermehr  erstarkten  und 
erstarrten  Orthodoxie  gescheitert  waren,  diesen  Gedanken,  die 
sogenannten  Mysterien  des  Christentums,  mit  einem  breiten, 
aus  der  aristotelischen  Philosophie  entnommenen  Eahmen  zu 
verbrämen,  woraus  dann  die  in  ihrer  Art  imposanten  Lehr- 
gebäude eines  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino 
hervorgingen.  Dafs  dieser  komplizierte  Prozefs,  dieser  Fort- 
gang von  der  Herrschaft  des  Neuplatonismus  zu  der  des 
Aristotelismus  kein  zufälliger,  sondern  ein  in  der  Natur  der 
Sache  begründeter  war,  wird  besonders  daran  deutlich,  dafs 
derselbe  Entwicklungsgang,  den  wir  in  der  christlichen  Philo- 
sophie des  Mittelalters  beobachten,  sich  in  den  beiden  parallel 
neben  ihr  hergehenden  Kulturkreisen  der  islamischen  und  der 
jüdischen  Welt  abspielt,  daher  wir  nicht  unterlassen  durften, 
auch  diese  Erscheinungen  eingehend  zu  verfolgen.  Und  so 
dürfen  wir  hoffen,  dafs  die  Freunde  unserer  Allgemeinen  Ge- 
schichte der  Philosophie  auch  diesem  Teil  unserer  umfassenden 
Aufgabe  ihr  Interesse  nicht  versagen  werden,  wenn  sie  be- 
denken, dafs  ohne  Kenntnis  der  dem  menschlichen  Geiste  im 
Mittelalter  angelegten  Fesseln  das  grofsartige  Schauspiel  des 
Befreiungskampfes  aus  diesen  Fesseln,  welcher  den  Grund- 
charakter der  neueren  Philosophie  von  Descartes  bis  auf  die 
Gegenwart  bildet,  nicht  völlig  gewürdigt  werden  kann.  Die 
ungestört  und  glücklich  fortschreitende  Ausarbeitung  der  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie  läfst  uns  hoffen,  auch  diese 
letzte,  sechste  Abteilung  unseres  alle  Länder  und  Zeiten  um- 
spannenden Werkes  in  den  nächsten  Jahren  der  Öffentlich- 
keit übergeben  zu  können. 

Kiel,  im  April  1915. 

P.  D. 


INHALTSÜBERSICHT. 


Seite 

Vorwort  zur  Philosophie  der  Bibel V 

Vorwort  zur  Philosophie  des  Mittelalters XI 

Vorbemerkungen  und  Übersicht 1 

ERSTER  HAUPTTEIL: 
Die  Entstehung  des  christlichen  Gedankens  von  seinem  ersten 
Aufkeimen  in  Ägypten,  Babylonien,  Palästina  und  Persien  bis 
zu  seiner  Vollendung  im  Neuen  Testament. 

I.  Das  alte  Ägypten 8—27 

1.  Land  und  Leute 8 

2.  Übersicht  der  Geschichte  des  alten  Ägyptens   ....  13 

3.  Die  älteste  Weltanschauung  der  Ägypter 18 

4.  Weitere  Entwicklung  der  ägyptischen  Weltanschauung  24 
II.  Die  semitischen  Volksstämme 28—37 

1.  Wohnsitze  und  ursprüngliche  Heimat  der  Semiten  .    .  28 

2.  Charakter  der  Semiten 30 

3.  Ursprüngliche  Religion  der  semitischen  Stämme  ...  35 
IM.  Die  Babylonier  und  Assyrer 37—68 

1.  Äufsere  Geschichte  der  babylonischen  und  assyrischen 

Reiche 37 

2.  Quellen  zur  Geschichte  der  babylonisch-assyrischen  Kultur 

und  Religion 42 

3.  Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung  45 
IV.  Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil 68—128 

1.  Palästina  vor  der  Invasion  der  Hebräer 68 

2.  Sagenhafte  Vorgeschichte  der  Hebräer 73 

3.  Geschichte  der  Hebräer  von  der  Eroberung  Palästinas  bis 

zum  babylonischen  Exil 84 

4.  Die  historischen  Schriften  des  Alten  Testaments.    .    .  98 

5.  Die  Genesis  des  alttestamentlichen  Monotheismus   .    .  102 

6.  Vorzüge  und  Mängel  des  althebräischen  Monotheismus  114 


XIV  Inhaltsübersicht, 

Seite 

V.  Die  Religion  der  Iranier 128—143 

1.  Äufsere  Geschichte  der  iranischen  Stämme 128 

2.  Sprache  und  Literatur  der  Iranier 131 

3.  Die  Religion  der  Iranier 134 

VI.  Die  Religion  des  alten  Judentums 144—188 

1.  Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen 

Exil  bis  zu  ihrer  Zerstreuung  unter  die  Völker  .    .    .  144 

2.  Quellen  zur  Geschichte  der  Religion  des  älteren  Judentums  169 

3.  Das  böse  Prinzip  neben  dem  guten 173 

4.  Die  Unsterblichkeit  der  Seele 179 

5.  Die  Messiasidee 186 

VII.  Leben  und  Lehre  Jesu 189—234 

1.  Quellen  zur  Geschichte  Jesu. 189 

2.  Leben  und  Wii-ken  Jesu 194 

3.  Jesu  Bewufstsein  von  Gott  und  von  der  Welt ....  214 

4.  Das  Schicksal  Jesu 221 

5.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  Jesu 228 

VIII.  Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus 234—270 

1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften. 234 

2.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  des  Apostels  Paulus  262 
'  IX.  Das  vierte  Evangelium 270—281 

1.  Paulus  und  das  vierte  Evangelium 270 

2.  Universeller  Charakter  des  vierten  Evangeliums  .    .    .  271 

3.  Die  paulinische  Heilstheorie  und  der  Pragmatismus  des 

vierten  Evangeliums 274 

4.  Der  Sohn  Gottes,  allwissend  und  allmächtig 276 

5.  Die  Wiedergeburt  und  der  Monergismus 278 

X.  Kern  und  Schale  des  Christentums 281—288 

1.  Der  Kern  des  Christentums 281 

2.  Die  Schale  des  Christentums 285 

XI.  Der  christliche  Gedanke  und  die  antike  Welt 289—298 

1.  Der  christliche  Gedanke 289 

2.  Die  antike  Welt  . 291 

3.  Äufsere  Ausbreitung  des  Christentums 292 

ZWEITER  HAUPTTEIL: 

Die  abendländische  Philosophie  unter  der  Herrschaft 

des  Christentums. 

Die  Patristik. 

XII.  Die  erste  Perlode  der  Patristik:  Vom  apostolischen  Zeitalter 

bis  zum  Konzil  zu  Nicaea  (100—325  p.  C.)   ." 299—330 

1.  Vorbemerkungen 299 

2.  Die  apostolischen  Väter ■  .    .    .    .  300 


Inhaltsübersicht.  XV 

Seite 

3.  Die  Apologeten 304 

4.  Die  Gnosis  und  der  Mauichäismus 307 

5.  Der  Montanismus 315 

♦i).  Die  alexandrinische  Theologie 317 

7.  Die  katholische  Kirche 321 

XIII.  Die  zweite  Perlode  der  Patristik:  Vom  Konzil  zu  Nicaea  bis 

auf  Karl  den  Grofsen  (325—800  p.  C.) 330—366 

1.  Geschichtlicher  Überblick 330 

2.  Die   monophysitischen  und  monotheletischen  Streitig- 
keiten.      335 

3.  Der  Prädestinationsstreit:  Augustinus 340 

4.  Eindringen  neuplatonischer  Gedanken  in  das  Christen- 
tum: Dionysius  Areopagita 349 

6.  Ausgang  der  patristischen  Periode  (500 — 800  p.  C.)    .  362 

Die  Scholastik. 

XIV.  Die  erste  Periode  der  Scholastik  (von  800—1200  p.  C.)   .    .  367—392 

1.  Vorbemerkungen 367 

2.  Johannes  Scotus  Eri(u)gena 371 

3.  Realismus  und  Nominalismus 378 

4.  Anselm  von  Canterbury 382 

5.  Abaelard  und  seine  Schule 388 

XV.  Die  Philosophie  der  Araber 392—413 

1.  Geschichtlicher  Überblick 392 

2.  Die  Philosophie  der  Araber  im  Osten .  400 

3.  Die  Philosophie  der  Araber  im  Westen 410 

XVI.  Die  Philosophie  der  Juden 413—425 

1.  Das  Schicksal  der  Juden  im  Mittelalter 413 

2.  Das  Judentum  unter  dem  Einflufs  des  Neuplatonismus  417 

3.  Das  Judentum  unter  dem  Einflufs  des  Aristotelismus  422 

XVII.  Die  Hochblüte  der  Scholastik 425—441 

1.  Wachsende  Autorität  des  Aristoteles 425 

2.  Leben  und  Werke   des  Albertus  Magnus  und  Thomas 

von  Aquino 428 

3.  Das   Lehr  System    des    Albertus   Magnus    und   Thomas 

von  Aquino 431 

4.  Die  Scholastik  in  poetischer  Verklärung 438 

XVIII.  Auflehnungen  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik 441—457 

1.  Vorbemerkungen 441 

2.  Die  Willenslehre  des  Duns  Scotus 444 

3.  Die  Mystik  des  Meister  Eckhart 447 

4.  Die  Erneuerung  des  Nominalismus 453 


XVI  Inhaltsübersicht. 

Seite 

XIX.  Der  Zusammenbruch  der  Scholastik 457—466 

1.  Allgemeine  Übersicht 457 

2.  Die  Erneuerung  des  Piatonismus 460 

3.  Der  Sturz  des  Aristoteles 463 

XX.  Der  Tagesanbruch  der  neuern  Philosophie 466—509 

1.  Ausblick 466 

2.  Nicolaus  Cusanus 468 

3.  Das  Naturwissen  im  Zeitalter  der  Renaissance     .    .    .  470 

4.  Giordano  Bruno 475 

5.  Jakob  Böhme 481 

6.  Bacon  von  Verulam 499 

7.  Beschluls 508 

Index 510 

Verzeichnis  der  Bibelstellen 525 


Vorbemerkungen  und  Übersicht. 

Das  geistige  Leben  der  Gegenwart,  dessen  volleres  Ver- 
ständnis zu  vermitteln  zu  den  wichtigsten  Aufgaben  einer 
Geschichte  der  Philosophie  gehört,  ist  wesentlich  bedingt 
durch  den  Entwicklungsgang  der  neuern  Philosophie,  diese 
selbst  aber  ist  zum  grolsen  Teile  ein  Befreiungskampf  des 
menschlichen  Geistes  von  den  durch  die  Weltanschauung  des 
Mittelalters  ihm  angelegten  Fesseln,  ein  Kampf,  aus  welchem 
rmi  langsam  und  spät  in  der  Kantischen  Philosophie  eine 
Neuschöpfung  hervorging,  auf  deren  Boden  wir  noch  heute 
stehen.  Diese  Entwicklung  des  geistigen  Lebens  in  der  neuern 
Zeit  von  der  Renaissance  bis  auf  die  Gegenwart  hin  kann 
nicht  völlig  verstanden  werden  ohne  die  in  ihm  noch  vielfach 
nachwirkende  Philosophie  des  Mittelalters,  diese  aber  wiederum 
ist  ein  mixtum  compositum  aus  zwei  von  Haus  aus  ganz 
heterogenen  Elementen,  der  griechischen  Philosophie,  deren 
Darstellung  in  unserm  der  Philosophie  der  Griechen  gewid- 
meten Bande  unternommen  wurde,  und  der  durch  das  Christen- 
tum ererbten  Gedanken  des  Alten  und  Neuen  Testaments, 
deren  ursprüngliche  Entstehung  und  Fortwirkung  in  Patristik 
und  Scholastik  zu  verfolgen  die  hauptsächlichste  Aufgabe  des 
vorliegenden  Bandes  bildet.  Nochmals  sei  wiederholt,  was 
schon  in  der  Vorrede  des  Gesamtwerkes  S.  VIII  gesagt  wurde, 
dafs  die  neuere  Philosophie  bis  auf  die  Gegenwart  hin  kaum 
weniger  unter  dem  Einflüsse  der  Gedankenkreise  eines  Jesus 
und  Paulus  als  der  eines  Piaton  und  Aristoteles  steht.  Eine 
genetische  Darstellung    des   biblischen  Lehrinhalts,    frei   von 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  n.  1 


2  ,  Vorbemerkungen  und  Übersicht. 

jeder  dogmatisclieii  Befangenheit  und  doch  nicht  ohne  Ver- 
ständnis für  die  ewigen  metapliysischen  Wahrheiten,  welche 
hier  in  der  Hülle  des  Mythus  vorliegen,  ist  eine  oft  versuchte, 
aber  bis  auf  den  heutigen  Tag  noch  nicht  zu  völliger  Be- 
friedigung gelöste  Aufgabe. 

Schon  die  äufsere  Geschichte  der  biblischen  Weltan- 
schauung, welche  dem  Laien  als  ein  fertiges  Ganzes  vor- 
schwebt, erscheint  bei  näherer  Betrachtung  als  ein  äufserst 
kompliziertes  Gebilde,  zu  dessen  Entstehung  die  mannigfach- 
sten Faktoren  mitgewirkt  haben.  Hierin  liegt  der  wesent- 
lichste Unterschied  in  der  Entwicklung  der  biblischen  und 
der  ihnen  allein  ebenbürtig  zur  Seite  stehenden  indischen 
Religionsanschauungen. 

Indien  bietet  schon  von  aufsen  betrachtet  den  Anblick 
eines  völlig  abgeschlossenen,  von  allen  benachbarten  Ländern 
durch  hohe  Gebirge  und  weite  Meere  getrennten  Landes.  -  In 
dieser  Weise  von  der  Aufsenwelt  abgeschieden  und  von  den 
unterworfenen  Ureinwohnern  durch  strenge  soziale  Bestim- 
mungen sich  absondernd,  haben  die  Inder  aus  sich  selbst 
heraus  und  ungestört  durch  fremde  Einflüsse  ihre  Welt- 
anschauung aufgebaut,  und  als  seit  dem  Alexanderzuge  die 
Stürme  der  griechischen,  skythischen,  arabischen  und  west- 
europäischen Invasionen  über  Indien  hereinbrachen,  da  war 
das  religiöse  und  philosophische  Denken  der  Inder  schon  so 
hinreichend  erstarkt  und  zum  Teil  schon  erstarrt,  dafs  der 
Import  fremder  Gedankenelemente  keine  wesentliche  Schädigung 
mehr  zu  bringen  vermochte. 

Ganz  anders  stellt  sich  der  Entwicklungsgang  der  bibli- 
schen Weltanschauung  dar.  Palästina,  der  Schauplatz  dieser 
grofsen  geistigen  Schöpfung,  ist  ein  nach  Südwesten  wie  nach 
Osten  offenes  Land;  seine  Bewohner  waren  wie  in  politischer, 
so  in  geistiger  Hinsicht  den  mannigfachsten  Einwirkungen  von 
aufsen  her  preisgegeben,  nicht  nur  von  selten  der  nahe  ver- 
wandten Mitbewohner  des  eigenen  Landes,  sondern  auch  der 
umwohnenden  Völker,  der  Assyrer,  Babylonier  und  Perser  im 
Osten,  sowie  möglicherweise  der  Ägypter  im  Südwesten;  und 
wie  das  Gelobte  Land  in  der  altern  Zeit  ein  Gegenstand  des 
Streites    und    der  Eifersucht    zwischen    den  ägyptischen  und 


Vorbemerkungen  und  Übersicht.  3 

assyrischen  Königen  gewesen  war,  so  wurde  es  nach  einem 
zwei  Jahrhunderte  dauernden  und  verhältnismäfsig  erträghchen 
Zustande  unter  persischer  Oberhoheit  in  den  auf  den  Alexander- 
zug folgenden  Jahrhunderten  wiederum  ein  Zankapfel  zwischen 
den  ägyptischen  Ptolemäern  und  den  syrischen  Seleuciden,  bis 
endlich  auch  Palästina  dem  grofsen  römischen  Weltreiche  ein- 
verleibt wurde. 

Alle  diese  politischen  Störungen  und  Wechselfälle  spiegeln 
sich  auch  im  geistigen  Leben  der  althebräischen  Nation  und 
des  seit  dem  assyrischen  und  babylonischen  Exil  aus  ihm 
hervorgegangenen  jüdischen  Vollies  wider  und  haben  ihren 
Einflufs  auf  die  Entstehung  des  Alten  Testaments,  der  Apo- 
kryphen und  des  Neuen  Testaments,  sowie  auf  die  in  ihnen 
vorliegende  Weltanschauung  geltend  gemacht. 

Zunächst  ist  es  eine  offene  und  der  Untersuchung  be- 
dürftige Frage,  ob  und  inwieweit  das  alte  Ägypten  mit  seiner 
vielgerühmten  Weisheit  schon  auf  die  Anschauungen  des  alten 
Hebraismus  irgendeinen  nennenswerten  Einflufs  geübt  hat; 
vnvd  doch  in  der  Apostelgeschichte  7,22  in  der  Rede  des 
Stephanus  behauptet,  Moses  sei  in  aller  Weisheit  der  Ägypter 
erzogen  worden  (szai.Ssu'irT)  Moücrii;  iraGV)  cocpia  At^uTCTiG»);  und 
wenn  auch  diesem  Zeugnisse  wenig  Bedeutung  beizumessen 
ist,  ja  wenn  auch  überhaupt  der  Glaube  an  eine  uralte  Weis- 
heit der  Ägypter,  seitdem  die  Inschriften  und  Papyrusrollen 
dieses  Wunderlandes  wieder  zu  uns  reden,  sich  als  eine  Illusion 
herausgestellt  hat,  so  mögen  doch  die  nahen  Beziehungen, 
,  welche  von  alters  her  zwischen  Ägypten  und  Palästina  be- 
standen haben,  es  rechtfertigen,  wenn  wir  in  einem  ersten 
Abschnitte  unseres  Buches  einen  kurzen  Überblick  über  das 
alte  Ägypten  und  seine  Weltanschauung  zu  gewinnen  suchen. 

Von  Ägypten  wenden  wir  uns  sodann  zur  Völkerfamilie 
der  Semiten,  um  zunächst  aus  dem  Vergleiche  der  Religions- 
anschauungen, wie  wir  sie  bei  den  verschiedenen  semitischen 
Stämmen  finden,  ein  wenn  auch  vielfach  unsicheres  Bild  von 
den  rehgiösen  Vorstellungen  der  Semiten  zu  gewinnen  für  die 
Zeit,  in  welcher  sie,  von  dem  Weltleben  noch  unberührt, 
in  den  Wüsten  und  Steppenländern  Arabiens  als  Nomaden 
hin    und    her    zogen,    in    verschiedene    Stämme    gegliedert, 

1* 


4  Vorbemerkungen  und  Übersicht. 

■  mit  gemeinsamer  Sprache  und  gemeinsamen  religiösen  An- 
schauungen. 

In  die  Weltgeschichte  treten  die  Semiten  erst  ein,  seitdem 
einer  dieser  Beduinenstämme  sich  der  fruchtbaren  Kulturländer 
von  Babylonien  und  Assyrien  bemächtigte,  während  andere 
semitische  Völkerschwärme  Palästina  eingenommen  hatten, 
bis  der  Stamm  der  Hebräer  erobernd  eindrang  und  sich  im 
Lande  westlich  vom  Jordan  sefshaft  machte.  Ein  dritter  Ab- 
schnitt unseres  Buches  wird  zu  zeigen  haben,  wie  die  er- 
obernden Babylonier  und  Assyrer  die  überlegene  Kultur  der 
von  ihnen  überwundenen  Völkerstämme  annahmen,  und  wie 
diese  aus  den  Keilschriften  zu  entnehmende  babylonisch- 
assyrische Kultur  einen  erheblichen  Einflufs  auf  die  semiti- 
schen Stämme  in  Palästina  und  mittelbar  durch  diese  auch 
auf  die  einwandernden  Hebräer  gewonnen  hat. 

Aus  dem  ursprünglichen,  durch  babylonische  Einflüsse 
modifizierten  Polytheismus  der  Semiten  erhebt  sich  die  lichte 
Gestalt  des  alttestamentlichen  Monotheismus,  welcher  eine 
unbefangene  philosophische  Würdigung  um  so  mehr  erfordert, 
je  tiefer  der  Jehovaglaube  auf  die  Entwicklung  des  abend- 
ländischen Geisteslebens  eingewirkt  hat  und  noch  wirkt,  so- 
wohl in  seinen  Vorzügen  wie  in  den  unzweifelhaft  ihm  an- 
haftenden Mängeln. 

Diese  Mängel,  welche  schon  auf  dem  Boden  des  alten 
Hebraismus  von  den  tiefern  Geistern  schwer  empfunden  wurden, 
führten  zu  einer  Umformung  der  alttestamentlichen  Gottes- 
vorstellung, seit  die  Hebräer  in  und  nach  dem  babylonischen 
Exil  die  persische,  an  den  Namen  des  Zarathustra  sich  knüp- 
fende Religionsanschauung  kennen  lernten,  von  der,  um  ihrer 
selbst  wie  um  des  Einflusses  willen,  den  sie  auf  die  biblische 
Entwicklung  geübt  hat,  ein  Überblick  unserer  Darstellung 
einzuflechten  sein  wird. 

Aus  dem  durch  iranische  Einflüsse  modifizierten  alt- 
hebräischen Glauben  erwuchs  die  jüdische  Weltanschauung, 
wie  sie  zur  Zeit  Jesu  und  seiner  Jünger  in  Palästina  die 
herrschende  war.  Nach  einer  Darstellung  derselben  wird  die 
Frage  aufzuwerfen  sein,  worin  das  Wesentliche  der  Lehre 
Jesu  zu  erkennen  ist,   welches  unter  dem  Reichtum  der  von 


Vorbemerkungen  und  Übersicht.  5 

ihm  ausgestreuten  Samenkörner  das  Senfkorn  ist,  aus  welchem 
der  Baum  des  Christentums  erwuchs.  Das  Zurückgehen  von 
der  Wiedergeburtlehre  als  dem  eigentlich  zentralen  Dogma 
des  Christentums  auf  diejenigen  Gedanken  Jesu,  deren  Fort- 
bildung zu  diesem  Dogma  geführt  hat,  wird  uns  bei  Unter- 
suchung dieser  Frage  in  methodisch  sicherer  Weise  leiten. 

Eine  Fortbildung  der  Lehre  Jesu  ist  die  des  Apostels 
Paulus,  und  eine  universelle  Zusammenfassung  beider  und 
Verschmelzung  mit  hebräischen,  iranischen  und  griechischen 
Gedanken  liegt  in  dem  vierten  Evangelium  vor,  dieser  gereif- 
testen und  vollendetsten,  wenn  auch  als  Geschichtsquelle  in 
keiner  Weise  verwendbaren  Urkunde  des  biblischen  Christen- 
tums. 

Das  seltsame  Schauspiel  einer  allmählichen  Verschmelzung 
zweier  von  Grund  aus  verschiedener  Weltanschauungen,  der 
biblischen  und  der  griechischen,  vollzieht  sich,  nach  einem 
Vorspiele  in  der  jüdisch-alexandrinischen  Philosophie,  während 
der  patristischen  Zeit  in  zwei  deutlich  unterschiedenen  Perio- 
den, deren  erste,  bis  zum  Konzil  von  Nicäa  325  p.  C.  reichend, 
nach  vielen  Kämpfen  eine  definitive  Feststellung  der  Grund- 
dogmen, und  deren  zweite  bis  800  p.  C.  die  Verwebung  dieser 
Grunddogmen  zu  einem  Lehrsystem  der  Dogmatik  als  Er- 
gebnis hat. 

Auf  die  Patristik  folgt  die  Scholastik,  um  800  p.  C.  be- 
ginnend und  in  ihren  letzten  Ausläufern  bis  zum  definitiven 
Sturze  des  Aristoteles  um  das  Jahr  1600  reichend.  Ihr  Haupt- 
bestreben war  es,  die  christliche  Dogmatik  mit  der  griechischen 
Philosophie  in  der  Weise  zu  verknüpfen,  dafs  die  Grundlehren 
des  Christentums  auf  die  wohl  vorbereitete  Fläche  der  griechi- 
schen Philosophie  projiziert  und  dadurch  zu  einer  Keligions- 
philosophie  fortgebildet  wurden.  Das  Hauptstreben  der  mittel- 
alterlichen Denker,  Religion  und  Philosophie,  Glauben  und 
Wissen  endgültig  zu  versöhnen,  gelang,  soweit  es  überhaupt 
gelingen  konnte,  erst  nach  vielen  vergeblichen  Bemühungen. 
In  der  ersten  Hälfte  der  scholastischen  Zeit,  von  800  bis  1200, 
traten  mancherlei  Versuche  auf,  den  christlichen  Gedanken 
mittels  des  neuplatonischen  Emanationsschemas  genetisch  zu 
begreifen,  aber  immer  wieder  scheitern,  diese  Versuche  an  dem 


Q  Vorbemerkungen  und  Übersicht. 

Widerspruch  der  Kirche,  bis  man  endhch  nach  1200  p.  C.  in 
den  auf  Umwegen  zur  Kenntnis  der  Scholastiker  gelangten 
Schriften  des  Aristoteles  die  geeignete  Grundlage  fand,  nicht 
etwa  die  Hauptlehren  des  Christentums,  Trinität  und  Inkar- 
nation, philosophisch  zu  deduzieren,  wozu  Aristoteles  gar 
keine  Handhabe  bot,  als  vielmehr  diese  Grunddogmen  als  die 
Mysterien  des  Christentums  unangetastet  stehen  zu  lassen 
und  sie  in  einen  aus  der  Metaphysik,  Psychologie  und  Ethik 
des  Aristoteles  entnommenen  Rahmen  einzuspannen.  So  ent- 
standen die  in  ihrer  Art  imposanten  Lehrsy^teme  eines  Albertus 
Magnus  und  Thomas  von  Aquino  und  ihre  poetische  Ver- 
klärung in  der  Divina  Commedia  des  Dante  Alighieri.  Aber 
kaum  war  erreicht,  was  so  viele  Jahrhunderte  ersehnt  und 
angestrebt  hatten,  eine  Versöhnung  der  Anforderungen  des 
religiösen  Gemütes  mit  denen  der  Vernunft,  als  auch  schon, 
weil  eben  diese  Versöhnung  eine  künstliche  und  nur  schein- 
bare war,  unverkennbare  Symptome  des  Verfalls  nach  ver- 
schiedenen -Richtungen  hin  sich  einstellten.  Als  solche  sind 
die  Willenslehre  des  Duns  Scotus,  die  Mystik  des  Meister 
Eckhart  und  die  Erneuerung  des  Nominalismu«  durch  William 
von  Occam  zu  bezeichnen,  Erscheinungen,  welche  Hand  in 
Hand  mit  der  Wiedergeburt  des  klassischen  Altertums  in  der 
.Zeit  der  Renaissance  und  der  Reinigung  des  mittelalterlichen 
Christentums  durch  die  Reformation  zum  endgültigen  Zu- 
sammenbruch der  Scholastik  führten. 

Hiernach  wird  unsere  Darstellung  folgende  Perioden  zu 
durchlaufen  haben: 

I.  Die  Entstehung  des  christlichen  Gedankens  von  seinem 
ersten  Aufkeimen  in  Ägypten,  Babylonien,  Palästina 
und  Persien  bis  zu  seiner  Vollendung  im  Neuen  Testa- 
ment. 

1.  Das  alte  Ägypten. 

2.  Die  semitischen  Völker. 

3.  Babylonien  und  Assyrien. 

4.  Der  alte  Hebraismus. 

5.  Der  Parsismus. 

6.  Das  Judentum. 

7.  Der  historische  Jesus. 


Vorbemerkungen  und  Übersicht.  7 

8.  Der  paulinische  Christus. 

9.  Der  Logos  des  vierten  Evangeliums. 

II.  Die  abendländische  Philosophie  unter  der  Herrschaft 
des  Christentums. 

1.  Erste  Periode:   Die  Patristik. 

A.  Feststellung  der  Grunddogmen  bis  325  p.  C. 

B.  Ausbau  der  Dogmatik  bis  800  p.  C. 

2.  Zweite  Periode:   Die  Scholastik. 

A.  Christentum    und    Neuplatonismus     (800 — 
1200). 

B.  Christentum   und    Aristoteles;    Renaissance 
und  Reformation  (1200—1600). 


Erster  Hauptteil: 

Die  Entstellung  des  christliclien  Gredankens 

von  seinem  ersten  Aufkeimen  in  Ägypten,  Babylonien, 

Palästina  und  Persien  l)is  zu  seiner  Yollendung  im 

IJeuen  Testament. 

I.  Das  alte  Ägypten. 

1.  Land  und  Lente. 

Ein  Blick  auf  die  östliche  Halbkugel  unseres  Planeten 
zeigt,  wie  sich  durch  das  nördliche  Afrika  und  zentrale  Asien 
gerade  da,  wo  die  Sonne  ununterbrochen  ihre  reichste  Fülle 
von  Licht  und  Wärme  auf  die  Erde  ergiefst ,  ein  breiter 
Länderstrich  hinzieht,  welcher  von  der  Natur  dazu  verurteilt 
zu  sein  scheint,  für  immer  eine  unfruchtbare  Wüste  zu  bleiben. 
Anfangend  von  Senegambien  im  nordwestlichen  Afrika,  zieht 
sich  dieser  mächtige  Wüstengürtel  durch  die  Sahara,  durch 
Ägypten  hin,  setzt  sich  durch  Arabien,  Persien  und  einer 
Teil  Indiens  fort,  um  in  China  und  der  Mongolei  in  jenem 
weitausgedehnten  Steppen-  und  Wüstenlande  seinen  Abschlufs 
zu  finden,  welches  die  Mongolen  Ghobi,  die  Cliinesen  Scha-mo, 
d.  h.  „Sandmeer",  nennen.  Der  Grund,  warum  so  weitaus- 
gedehnte Länderstrecken  -der  menschlichen  Kultur  und  Nutz- 
barkeit entzogen  bleiben,  liegt  darin,  dafs  es  in  diesen  Regionen 
selten  oder  nie  regnet.  Es  beruht  dies,  wie  schon  Alexander 
von  Humboldt  in  seinen  „Ansichten  der  Natur"  auseinander- 
setzt,   auf    einer    Art    wechselseitiger   Wirkung,    sofern    die 


1.   Land  und  Leute.  9 

Pflanzenlosigkeit  der  Wüste  vermöge  des  ununterbrochen  von 
ihr  aufsteigenden  heifsen  Luftstromes  die  Bildung  von  Wolken 
und  Regen  verhindert,  und  der  Mangel  an  Regen  wiederum 
die  Entstehung  einer  Pflanzenwelt  unmöglich  macht.  Zu  diesem 
breiten  Wüstengürtel  zwischen  dem  Atlantischen  und  Stillen 
Ozean  würde  auch  Ägypten  gehören,  wäre  nicht  der  Nil,  und 
Indien,  wären  nicht  die  Monsuns. 

Auch  in  Indien  regnet  es  zehn  Monate  des  Jahres  hin- 
durch so  gut  wie  gar  nicht.  Dann  aber  schlägt  etwa  in  der 
Mitte  des  Juli  der  bis  dahin  herrschende  nordöstliche  Monsun 
um  und  der  Südwest-Monsun  treibt  aus  dem  Indischen  Ozean 
eine  solche  Fülle  von  Wolken  über  das  Land,  dafs  die  von 
Mitte  Juli  bis  Mitte  September  andauernde  Regenzeit  genügt, 
um  den  Boden  für  das  ganze  Jahr  mit  Feuchtigkeit  zu  ver- 
sorgen. 

Anders  sind  die  Verhältnisse  in  Ägypten.  Auch  hier  regnet 
es,  von  der  Seeküste  des  Delta  abgesehen,  so  selten,  dafs 
Ägypten  ebensogut  wie  die  benachbarten  Länderstrecken  Afri- 
kas und  Asiens  eine  Wüste  bleiben  würde,  gingen  nicht  all- 
jährlich gleichfalls  um  die  Mitte  des  Jahres  in  Zentralafrika 
ungeheure  Regenmassen  nieder,  welche  durch  die  zufällige 
Gestaltung  des  Bodens  verhindert  w'erden,  ihr  Wasser  dem 
naheliegenden  Ozean  zuzuführen,  so  dafs  diese  genötigt  sind, 
den  weiten  Weg  nach  Norden  zum  Mittelländischen  Meere 
einzuschlagen  und  mitten  in  jenem  grofsen  Wüstengürtel  eine 
fruchtbringende  Flufsrinne  zu  schaffen.  So  ist  denn  das  ganze 
Ägypten  ein  Geschenk  des  Nils,  ein  Swpov  toü  tzotoljxo^,  wie 
es  Herodot  nennt.  Alljährlich,  vom  21.  Juli  an,  gleichzeitig 
mit  dem  Tage,  wo  der  Sothis,  unser  Sirius,  zum  ersten  Male 
vor  Sonnenaufgang  am  Morgenhimmel  im  Osten  sichtbar  wird, 
fängt  der  Nil  infolge  jener  tropischen  Regengüsse  allmählich  an 
zu  steigen,  erreicht  seine  gröfste  Höhe  (in  Kairo  7 — 8  m  über 
dem  niedrigsten  Wasserstand)  im  Oktober,  um  dann,  nach- 
dem er  das  umgebende  Land  weit  und  breit  überschwemmt 
hat,  ganz  allmählich  wieder  zu  fallen;  daher  der  Ausspruch, 
Ägypten  sei  vier  Monate  des  Jahres  hindurch  ein  Meer,  vier 
Monate  ein  Paradies  und  ^ier  Monate  eine  Wüste.  Heutzutage 
trifft   infolge   rationeller  Bewirtschaftung    dieses  Wort   nicht 


10  I-   I^3^s  alte  Ägypten. 

mehr  zu,  da  das  Nilwasser  in  zahlreichen  Bassins  und  Kanälen 
aufgefangen  und  das  ganze  Jahr  hindurch  mittels  Schöpf- 
rädern, Pumpen  und  andern  Vorrichtungen  den  Feldern  zu- 
geführt wird,  wodurch  allerdings  der  Vorteil  der  Düngung 
durch  den  vom  Nil  mitgeführten  Schlamm  zum  Teil  verloren 
geht,  aber  eine  gröfsere  Ausdehnung  des  Kulturlandes  und 
eine  Bewirtschaftung  während  des  ganzen  Jahres  durch  die 
überaus  fleifsigen,  Fellah  genannten,  ägyptischen  Bauern  er- 
möglicht wird.  Soweit  sie  das  Wasser  bringen  können,  spriefst 
und  blüht  es  überall  in  üppiger  Fülle,  und  eine  einzige  Acker- 
furche trennt  das  herrlich  grünende  Kulturland  von  dem  da- 
neben sich  ins  Ungemessene  ausbreitenden  braunen,  gelben 
Wüstenboden.  Leichter  war  die  Bewirtschaftung  des  Landes 
in  der  Vorzeit,  wo  man  nur  den  Samen  in  den  vom  Nil  zurück- 
gelassenen Schlamm  zu  streuen  brauchte,  um  eine  reiche  Ernte 
zu  erzielen. 

Ein  solches  Land  mufste  schon  sehr  früh  zur  Besiedlung 
einladen,  und  so  finden  wir  hier  im  Niltale  schon  in  den 
ältesten  Zeiten  eine  Bevölkerung  ansässig,  deren  hohe  Kultur 
aus  zahlreichen  hinterlassenen  Denkmälern  noch  heute  zu  uns 
redet.  Den  ersten  Untergrund  dieser  Bevölkerung  scheint  eine 
afrikanische  Rasse  gebildet  zu  haben,  welche  schon  in  vor- 
historischer Zeit  von  einem  andern,  vielleicht  semitischen 
Element  durchsetzt  wurde;  wenigstens  zeigt  die  altägyptische 
Sprache,  ohne  semitisch  zu  sein,  doch  in  ihren  Bildungen 
eine  unverkennbare  Analogie  mit  den  semitischen  Dialekten. 

Eigentümlich  war  den  alten  Ägyptern  der  Brauch,  ihre 
Tempel  und  Paläste,  ihre  Grabkammern  und  Sarkophage  von 
aufsen  und  innen  mit  Bildwerken  und  Inschriften  zu  versehen, 
welche  letztere  in  Hieroglyphen  abgefafst  sind;  eine  Ver- 
kürzung der  hieroglyphischen  Schrift  ist  die  hieratische  und 
eine  weitere  Verkürzung  dieser  letztern  die  -demotische,  wie 
sie  in  der  Regel  auf  den  Papyrusrollen  angewendet  wurde, 
die  man  den  Toten  in  das  Grab  mitzugeben  pflegte.  Die 
Kenntnis  dieser  ägyptischen  Schriftarten  war  im  spätem  Alter- 
tum allmählich  verloren  gegangen.  Man  bereiste  das  Wunder- 
land Ägypten,  staunte  seine  Bauten,  Bildwerke  und  Inschriften 
an,    aber  für  das   Studium  des  Landes  war  man  wesentlich 


1.  Land  und  Leute.  11 

auf  Berichte  der  Griechen,  für  seine  Philosophie  besonders 
auf  die  Mitteilungen  der  Neuplatoniker  angewiesen,  und  so 
entstand  allmählich  die  Legende  von  einer  uralten  "Weisheit 
der  Ägypter,  indem  die  Griechen  schon  von  den  Zeiten  des 
Herodot  an  sich  geschmeichelt  fühlten,  ihre  eigenen  mytho- 
logischen und  philosophischen  Gedanken  auf  ägyptischen  Ur- 
sprung zurückführen  zu  können,  und  in  dieser  Neigung  durch 
die  ägyptischen  Priester  nur  noch  bestärkt  wurden.  Als 
Typus  dieses  Vorganges  kann  der  alte  ägyptische  Priester 
gelten,  welcher  nach  der  Erzählung  Piatons  im  Timaeus 
p.  22 B  zu  Solon  gesagt  habe:  'ß  2ca«v,  2cawv,  "EWrivzc,  ad 
r.ouM<;  IcTs,  „0  Solon,  Solon,  ihr  Griechen  seid  ewig  Kinder", 
und  weiter  behauptet  habe,  p.  23  A :  „Alles,  was  bei  euch  oder 
hierzulande  oder  an  andern  Orten,  soweit  wir  davon  hören, 
irgend  an  Schönem  und  Grofsem  oder  sonstwie  Merkwürdigem 
geschehen  ist,  das  alles  ist  von  alters  her  hier  bei  uns  in  den 
Tempeln  aufgezeichnet  und  erhalten  worden." 

Nachdem  auf  Grund  der  griechischen  Traditionen  im 
Jahre  1750  das  Wissen  der  damaligen  Zeit  über  Ägypten  von 
Jablonsky  in  seinem  dreibändigen  „Pantheon  Aegyptiorum" 
zusammengefafst  worden  war,  eröffnete  sich  eine  urkundliche 
Kenntnis  der  altägyptischen  Kultur  erst  seitdem  es  gelungen 
war,  die  Hieroglyphen  zu  entziffern.  Den  ersten  Anstofs  dazu 
gab  der  bei  Gelegenheit  der  französischen  Expedition  im  Jahre 
1799  aufgefundene,  jetzt  im  Britischen  Museum  befindliche 
Stein  von  Rosette  (Raschid),  welcher  eine  Ehrung  des  Königs 
Ptolemäus  Epiphanes  durch  die  ägyptischen  Priester  am 
27.  März  195  a.  C.  betrifft  und  parallel  unter  einander  in  hiero- 
glyphischer, demotischer  und  griechischer  Sprache  die  Ver- 
dienste dieses  Königs  um  Ägypten  und  seine  Priesterschaft 
verherrlicht.  Hier  war  es  zunächst  möglich,  die  von  einem 
Rahmen  fcartoucliej  umgebenen  Namen  des  Ptolemäus  und  der 
Kleopatra  in  den  Hieroglyphen  zu  buchstabieren,  und  nach 
mannigfachen,  zum  Teil  vergeblichen  Versuchen  gelang  es 
endlich  dem  französischen  Gelehrten  Champollion,  den  rich- 
tigen Schlüssel  zur  Hieroglyphenschrift  zu  finden.  Auf  sein 
„Pantheon  egyptien"  (1823)  folgten  weiterhin  die  Werke  von 
Wilkinson  und  Bunsen  sowie  das  merkwürdige  Unternehmen 


12  I-   Das  alte  Ägypten. 

von  Roeth,  welcher  im  "ersten  Bande  seiner  „Geschichte  unserer 
abendländischen  Philosophie"  1846  durch  Kombination  der 
hieroglyphischen  mit  den  griechischen  Nachrichten  ein  statt- 
liches System  altägyptischer  Weisheit  gewinnen  zu  können 
glaubte.  An  der  Spitze  der  Götterwelt  steht  der "  viereinige 
Gott  Ämim,  „das  unteilbare  Eine,  welches  nur  durch  Schweigen 
verehrt  wird"  (to  ev  dfxspsc  8  6t.ot  ctYfji;  [xovov  'ä^spaTususTat,  wie 
der  dem  Jamblichos  entlehnte  Ausdruck  lautet).  Aus  ihm 
geht  eine  Vierheit  hervor,  Kneph,  der  Urgeist,  Ndth,  die  Ur- 
materie,  SeveJc,  die  Urzeit,  und  Pacht,  derUrraum;  aus  ihnen 
entspringen  die  acht  TTpöxot  ^sot  und  aus  diesen  wiederum  die 
zwölf  SsuTspot.  'jsot,  welche  schon  Herodot  erwähnt.  Weiter 
ist  die  Rede  von  einem  goldenen  Zeitalter  unter  der  Herr- 
schaft des  Nilgottes  OJceamos,  von  einer  Entmannung  des  Har 
Scpli  (Oupavct;)  durch  Seh  (Kpovo?),  von  einem  Kampfe  der 
von  Seb  geführten  Giganten  und  abgefallenen  Geister  gegen 
Okeamos  und  die  Titanen,  von  einer  Reinigung  der  befleckten 
Erde  durch  die  Sintflut  und  von  einer  Einschliefsung  der 
sündigen  Geschöpfe  in  Menschenleiber  und  Seelenwanderung 
bis  zu  ihrer  endlichen  Läuterung  vom  Bösen.  Nur  kurze  Zeit 
erregte  diese  vermeintliche  Entdeckung,  dafs  viele  Elemente 
der  griechischen  Mythologie  und  Philosophie  aus  Ägypten 
stammten,  die  Aufmerksamkeit  der  gelehrten  Welt;  denn  bald 
erkannte  man  die  Hinfälligkeit  der  hier  vorliegenden  kritik- 
losen Kombinationen,  und  so  zerrann  wie  ein  Nebel  dieser 
letzte  Traum  von  einer  uralten  ägyptischen  Weisheit,  um  den 
besonnenen  Forschungen  eines  Lepsius,  Brugsch,  Ebers,  Erman, 
Eduard  Meyer  und  vieler  anderer  Platz  zu  machen,  durch 
welche  nach  und  nach  ein  urkundliches,  aber  auch  sehr  nüch- 
ternes Bild  der  altägyptischen  Kultur  gewonnen  worden  ist. 
Freilich  stehen  dem  Lesen  der  Hieroglyphen  auch  heute  noch 
viele  Schwierigkeiten  entgegen,  denn  wenn  wir  fragen,  was 
denn  diese  Bilder  von  stehenden  und  sitzenden  Männern,  von 
Tieren  und  Pflanzen,  von  Körperteilen,  Geräten  usw.  bedeuten, 
so  ist  die  Antwort  darauf  nicht  einfach  zu  geben.  Viele 
Zeichen  haben  einen  phonetischen  Wert  und  bedeuten  teils 
Buchstaben,  teils  Silben,  andere  sind  von  ideographischer 
Art,  indem  sie  teils   als  spezielle  Determinative  den  Gegen- 


1.  Land  und  Leute.  13 

stand  selbst,  von  dem  die  Rede  ist,  nachbilden,  teils  als 
generelle  Determinative  die  Gattung  andeuten,  unter  welche 
der  Gegenstand  gehört.  Das  Schlimme  aber  ist,  dafs  diese 
vier  Arten  von  Zeichen  vielfach  gemischt  neben  einander  ge- 
braucht werden,  indem  z.B.  den  Silbenzeichen  der  entsprechende 
Buchstabenwert  ganz  oder  teilweise  hinzugefügt  wird,  wobei 
das  Silbenzeichen  den  ihm  entsprechenden  Buchstaben  vor- 
hergeht oder  nachfolgt  oder  mitten  in  sie  hineingesetzt  ist, 
häufig  gefolgt  von  dem  nochmals  dieselbe  Sache  ausdrückenden 
speziellen  und  wohl  auch  noch  von  dem  generellen  Determina- 
tiv, so  dafs  die  Entzifferung  einer  solchen  Zeichengruppe  ein 
vielfaches  Probieren  erfordert  und  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit 
dem  bei  unserer  Jugend  beliebten  Rebusraten  gewinnt.  Mag 
aber  auch  noch  manches  dunkel  bleiben,  soviel  ist  erreicht, 
dafs  uns  jetzt  aus  den  Monumenten  und  Inschriften  ein  klares 
Bild  des  ägyptischen  Lebens  entgegentritt. 

2.  Übersicht  dei*  Geschichte  des  alten  Ägyptens. 

Als  Quellen  der  ägyptischen  Geschichte  dienen  aufser  den 
nur  mit  Vorsicht  zu  benutzenden  Nachrichten  der  Griechen 
bei  Herodot,  Diodor  und  andern  die  Inschriften  auf  Tempeln 
und  Gräbern,  sowie  die  namentlich  in  den  Gräbern  gefundenen 
Papyrusrollen ;  von  besonderer  Wichtigkeit  sind  für  die  Königs- 
geschichte der  Turiner  Königspapyrus,  welcher  eine  Liste  der 
Könige  bis  in  die  Zeit  der  Hyksos  enthält  und  in  andern 
Dokumenten  seine  Ergänzung  findet,  während  für  die  Religions- 
geschichte das  sogenannte  Totenbuch  die  ergiebigste  Fund- 
grube bildet.  Aufser  ihnen  ist  von  besonderer  Wichtigkeit 
das  in  Fragmenten  bei  Josephus,  Julius  Africanus  und  Eusebius 
erhaltene  Werk  des  ägyptischen  Priesters  Manetho  (Mavs^ö) 
aus  Sebennytos,  welcher  unter  Ptolemäus  Philadelphus  (285 — 
247)  seine  A^yu^TLaxa  {)Tco[ji.vif][xaTa  in  drei  Büchern  verfafste, 
die  unter  anderm  eine  Liste  der  Dynastien  von  König  Mena 
bis  auf  Alexander  den  Grofsen  enthalten. 

Vor  den  menschlichen  Königen  wurde  Ägypten,  wie  Hero- 
dot und  Manetho  berichten,  von  Göttern  regiert;  auf  die  acht 
ersten  Götter  (Tcpöxot  'ä'sot)  folgten  die  zwölf  zweiten  Götter 
(SöijTspoi  '^£o[);  auf  diese  die  dritten  Götter  (xpixo',  'ä'soi),  deren 


14  I-  I^^s  alte  Ägypten, 

Zahl  Manetho  auf  dreifsig  angibt.  Diese  fünfzig  Götter  regierten 
nach  Manetho  17520  Jahre,  eine  Zahl,  welche  auf  alten  Be- 
rechnungen beruhen  mufs,  da  sie  12  X 1460  Jahre,  d.  h. 
12  Sothisperioden  befafst.  Mit  dem  heliakischen  Aufgang  des 
Sothis,  unsers  Sirius  (oben  S.  9),  am  21.  Juli,  welcher  den 
Anfang  der  Nilüberschwemmung  anzeigte,  begann  das  natür- 
liche Jahr  der  Ägypter,  während  sie  daneben  für  die  bürger- 
liche Zeitrechnung  ein  Sonnenjahr  von  365  Tagen  hatten. 
Dieses  eilte,  weil  es  um  6  Stunden  zu  kurz  war,  dem  natür- 
lichen Jahr  alle  vier  Jahre  um  einen  Tag  voraus  und  traf  erst 
nach  4  X  365  =  1460  Jahren  wieder  mit  ihm  zusammen.  Ein 
solcher  Zeitraum,  welchen  die  Ägypter  eine  Sothisperiode 
nennen,  war  abgelaufen  am  21.  Juli  139  p.  C,  1318  a.  C, 
2776  a.  C.  und  4236  a.  C.  Da  aber  die  Sothisperiode,  wie  die 
angeführten  Zahlen  zeigen  (infolge  der  Präzession  der  Nacht- 
gleichen und  der  Eigenbewegung  des  Sirius),  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  schwankt  und  nur  für  die  Zeit  zwischen  4236 
und  2776  a.  C.  genau  1460  Jahre  beträgt,  so  darf  man  ver- 
muten, wenn  anders  die  Zahl  1460  nicht  auf  künstlicher  Be- 
rechnung, sondern  auf  Beobachtung  beruht,  daf  s  diese  Beobach- 
tung nicht  nach  2776  a.  C.  gemacht  worden  ist. 

Auf  die  zwölf  Sothisperioden  der  Götterregierung  folgen 
zehn  mythische  Könige  und  auf  sie  König  Mena,  der  Begründer 
des  ägyptischen  Einheitsstaates.     Von  ihm  bis  auf  Alexander 
den  Grofsen  verläuft  die  ägyptische  Geschichte  nach  Manetho 
in  31  Dynastien  nach  folgendem  Schema: 
I — III.    Anfänge  des  Reichs. 
IV — V.    Das  alte  Reich  von  Memphis. 
VI — X.    Übergangszeit. 
Xl-^Xn.    Das  alte  Reich  von  Theben,  gewöhnlich 
als  das  mittlere  Reich  bezeichnet. 
Xin— XVn.    Die  Periode  der  Hyksos. 
XVIII— XXI.    Das  neue  Reich  von  Theben. 
XXII — XXV.    Ägypten  unter  Fremdherrschaft. 
XXVI.    Restaurationszeit. 
XXVII— XXXI.   Die  Dynastien  der  Perserzeit. 
Das  Alter  des  Königs  Mena  und  mit  ihm  der  Anfang  des 
Einheitsstaates  wurde  von  Lepsius  auf  Grund  der  Angabe  des 


2.  Übersicht  der  Geschichte  des  alten  Ägyptens.  15 

Sothisbuches,  dafs  von  Mena  bis  auf  Alexander  (337  a.  C.) 
3555  Jahre  verlaufen  seien,  auf  3892  a.  C.  angesetzt.  Da  aber 
das  Sothisbuch  mit  Unrecht  dem  Manetho  beigelegt  wird,  so 
verliert  diese  Berechnung  ihren  Wert,  und  man  mufs  sich  nach 
Eduard  Meyer  mit  der  unbestimmten  Angabe  begnügen,  dafs 
der  Regierungsantritt  von  König  Mena  auf  die  Zeit  zwischen 
3400  und  3200  a.  C.  fällt.  Für  unsere  Zwecke  mufs  es  ge- 
nügen und  mag  als  nützlicher  Anhaltspunkt  für  das  Gedächtnis 
dienen,  wenn  wir  annehmen,  dafs  von  den  drei  Höhepunkten 
der  ägyptischen  Geschichte  das  alte  Reich  von  Memphis  un- 
gefähr um  3000,  das  mittlere  Reich  um  2000  und  das  neue 
Reich  von  Theben  um  1500  a.  C.  geblüht  haben  mag.  Als 
festere  Data  gewinnen  wir  für  die  Restaurationszeit  unter 
Psammetich  das  Jahr  663  und  für  die  Eroberung  Ägyptens 
durch  Kambyses  das  Jahr  525  a.  C. 

Wie  das  obige  Schema  zeigt,  weist  die  ägyptische  Ge- 
schichte drei  Blüteperioden  auf,  welche  durch  die  Dynastien 
IV— V,  XI— Xir  und  XVin— XXI  vertreten  werden  und  über 
welche  wir  reichere  Nachrichten  haben;  sie  werden  unter- 
brochen durch  Zeiten  des  Verfalls,  von  denen  nur  spärliche 
Kunde  auf  uns  gekommen  ist. 

Wenn  die  Überheferung  an  die  Spitze  der  ägyptischen 
Geschichte  den  König  Mena  stellt,  so  wird  dies  nur  dahin  zu 
verstehen  sein,  dafs  er  der  erste  war,  welcher  die  schon  vor 
ihm  aus  den  einzelnen  Gauen  erstandenen  Reiche  von  Ober- 
und  Unterägypten  zu  einer  Gesamtmonarchie  vereinigte;  denn 
wir  finden  schon  in  dieser  Zeit,  wo  sich  der  Vorhang  hebt, 
das  ägyptische  Leben  auf  einer  hohen  Stufe  der  Kultur,  welche 
viele  Jahrhunderte  vorheriger  Entwicklung  voraussetzt  und  im 
ganzen  Verlaufe  der  ägyptischen  Geschichte  nicht  wesentlich 
überschritten  worden  ist.  Dafs  unsere  Nachrichten  erst  mit 
den  Dynastien  zu  fliefsen  beginnen,  beruht  auf  dem  zufälligen 
Umstände,  dafs  um  diese  Zeit  die  Sitte  aufkam,  für  den  Toten 
ein  möglichst  dauerhaftes,  mit  Bildwerken  und  Inschriften  ver- 
sehenes Grab  zu  bauen^  für  die  Könige  Pyramiden,  an  denen 
vom  Regierungsantritt  an  gebaut  wurde,  und  welche  um  so 
höher  waren,  je  länger  der  König  lebte,  für  die  Grofsen  des 
Reiches  sog.  Mastaba's,  viereckige,  nach  oben  verjüngte  und 


16  I.   Das  alte  Ägypten. 

oben  abgestumpfte  Steinbauten,  für  die  übrigen,  soweit  ihre 
Mittel  es  erlaubten,  Felsengräber  und  Grabgewölbe. 

Mit  der  vierten  Dynastie  erreicht  Ägypten  seine  erste 
Blütezeit;  ihr  gehören  die  Erbauer  der  drei  gröfsten,  zwei 
Stunden  oberhalb  von  Kairo  stehenden  Pyramiden  an,  von 
Herodot  als  Xeo»];  (auf  den  Denkmälern  Chufu),  XscppTJv  (Chafrä) 
und  Muxsptvoc  (Menkaurä)  bezeichnet,  deren  aus  weit  her- 
geholten, meterhohen  Quadern  aufgetürmte  Riesenpyramiden 
noch  heute  von  der  furchtbaren  Bedrückung  des  Volkes  durch 
diese  Herrscher  Zeugnis  ablegen,  wovon  schon  Herodot  er- 
zählt. 

Von  der  VI.  bis  zur  X.  Dynastie  folgt  eine  Periode  des 
Verfalls,  veranlafst  dadurch,  dafs  die  einzelnen  Stadtgemeinden 
sich  von  der  Zentralgewalt  unabhängig  machten,  ein  Umstand, 
welcher,  wie  sich  zeigen  wird,  für  die  Fortbildung  des  Reli- 
gionswesens nicht  ohne  Bedeutung  war. 

Eine  neue  Blüte  tritt  in  der  XL  und  XH.  Dynastie  in  dem 
mittlem  Reiche  mit  der  Hauptstadt  Theben  in  Oberägypten 
ein,  unter  deren  Herrschern,  namentlich  dem  durch  Kriegs- 
taten gegen  den  Süden  berühmten  Usertesen  HI.  und  seinem 
Sohne  Amenemhät  HL,  dem  Erbauer  des  Moeris-Sees  und  des 
Labyrinths  (im  Faijüm)  die  ägyptische  Kunst  ihren  Höhepunkt 
erreichte.  Diese  Kunst  darf  nicht  an  dem  Mafsstabe  der  grie- 
chischen gemessen  werden;  die  ägyptische  Bildhauerkunst 
strebte  nicht,  wie  die  griechische,  nach  idealisierender  Nach- 
bildung der  Natur,  sondern  nach  Stilisierung  derselben  und 
brachte  es  hierin,  wie  z.  B.  die  Statue  des  Usertesen  im  Berliner 
Museum  beweist,  zu  einer  in  ihrer  Art  bewundernswerten  Voll- 
kommenheit. Von  der  XIH.  bis  XVH.-  Dynastie  trat  ein  neuer 
Verfall  des  Reiches  ein,  veranlafst  durch  die  Überschwemmung 
des  Landes  mit  Beduinenstämmen,  unter  denen  namentlich  die 
Hyksos,  wie  sie  Manetho  nennt,  d.  h.  Hirtenkönige,  vom  Delta 
aus  das  Land  bis  nach  Oberägypten  hin  mehrere  Jahrhunderte 
beherrschten.  Von  welcher  Rasse,  ob  von  einem  semitischen 
oder  andern  asiatischen  Stamme,  sie  gewesen  sind,  bleibt 
zweifelhaft.  Jedenfalls  trat  mit  dieser  Fremdherrschaft  ein 
Niedergang  der  Kultur  ein,  welcher  sich  durch  die  Spärlich- 
keit der  erhaltenen  Denkmäler  und  Nachrichten  bekundet. 


2.  Übersicht  der  Geschichte  des  alten  Ägyptens.  17 

Einen  abermaligen  und  letzten  Aufschwung  nahm  Ägypten 
im  neuen  Eeiche  von  Theben  unter  der  XVIII.  Dynastie  und 
ihren  Königen  Dhutmes  I.  und  III.  und  Amenhotep  III.  und  IV., 
von  dessen  religiösem  Reformversuch  noch  zu  reden  sein  wird. 
Sein  Mifslingen  führte  den  Zusammenbruch  der  Dynastie  und 
die  voUe  Erstarrung  Ägyptens  unter  der  Priesterherrschaft 
herbei,  während  von  der  XIX.  Dynastie  an  unter  Königen  wie 
Seti  und  Ramses  IL  das  Reich  seine  weiteste  Ausbreitung 
und   gröfste  Machtentfaltung    erlangte.     Von   der  XXII.    bis 

XXV.  Dynastie  finden  wir  Ägypten  wieder  unter  libyscher, 
äthiopischer    und    assyrischer    Fremdherrschaft,    bis    in    der 

XXVI.  Dynastie  Psammetich  die  nationale  Unabhängigkeit  des 
Landes  wiederherstellt,  zugleich  aber  den  Zuzug  griechischer 
Elemente  begünstigt.  Unter  seinem  Sohne  Neko  wurde  die 
Umschiffung  Afrikas  ausgeführt,  von  welcher  Herodot  (IV,  42) 
berichtet  mit  dem  Zusätze:  ekeyov  Ipioi  [Jisv  ou  Tziaxd,  aXXo  5s  b-q 
Tso,  &(;  xsp(,TcX(5ovT£(;  t-Jjv  Atßuirjv  xov  'Jj'Xiov  £ax.ov  1^  ta  hz^id,  „sie 
berichteten  aber,  was  ich  nicht  glauben  kann,  vielleicht  glaubt 
es  ein  anderer,  dafs  sie,  als  sie  um  Libyen  herumschifften, 
die  Sonne  zur  Rechten  gehabt  hätten".  Die  von  Herodot  mit- 
geteilte und  von  ihm  selbst  unglaublich  befundene  Behauptung, 
dafs  die  Afrika  umfahrenden  Schiffer  dabei  die  Sonne  nicht 
mehr  links,  sondern  rechts,  nicht  mehr  im  Süden,  sondern  im 
Norden  gesehen  hätten,  ist  für  uns  der  beste  Beweis,  dafs  die 
Umscliiffung  Afrikas  unter  König  Neko  wirklich  ausgeführt 
worden  ist. 

Mit  der  Eroberung  Ägyptens  durch  Kambyses  im  Jahre 
525  a.  C.  beginnt  die  XXVII.  Dynastie,  welche  die  Perser- 
könige von  Kambyses  bis  auf  Darius  11.  befafst.  Die  XXVIII. 
bis  XXX.  Dynastie  brachte  Ägypten  von  406  bis  341  a.  C. 
eine  vorübergehende  Befreiung  von  der  Perserherrschaft  unter 
einer  saitischen,  mendesischen  und  sebennytischen  Dynastie, 
bis  mit  der  XXXI.  Dynastie  dio  persische  Oberhoheit  unter 
Artaxerxes  Ochus,  Arses  und  Darius  Kodomannus  wiederher- 
gestellt wurde.  Unter  diesem  wurde  mit  dem  Perserreiche 
auch  Ägypten  der  Weltmonarchie  Alexanders  des  Grofsen 
einverleibt. 

DüUBSEN,  GeBchichte  dor  Philosophie.     II, ii.  2 


J8  I.  Das  alte  Ägypten. 

3.  Die  älteste  Weltanschauung  der  Igypter. 

Schon  in  den  ältesten  Zeiten,  bis  zu  denen  unsere  Kunde 
reicht,  schon  in  der  Zeit  zwischen  4000  und  3000  a.  C,  tritt 
uns  die  Kultur  und  mit  ihr  auch  die  Weltanschauung  der 
Ägypter  in  einem  sehr  entwickelten  Zustande  entgegen.  Wie 
viele  Jahrhunderte  vorhergegangen  sein  mufsten,  um  ein  solches 
Gebilde  hervorzubringen,  läfst  sich  nicht  bestimmen.  Wohl 
aber  können  wir  aus  der  fertigen  Form,  in  welcher  die  An- 
schauungen der  Ägypter  in  den  ältesten  Denkmälern  uns  ent- 
gegentreten, mit  ziemlicher  Sicherheit  Rückschlüsse  auf  die 
erste  Genesis  dieser  Anschauungen  machen. 

Die  älteste  Philosophie  eines  Volkes  liegt  in  seiner  Re- 
ligion.    Viele  Völker  haben    diese  Vorstufe    der  Philosophie 
überhaupt  nicht  überschritten,  wie  sogleich  die  Ägypter,  deren 
geistiges   Leben    schon    frühzeitig    durch  die  Übermacht   der 
Priesterschaft   in    unzerreifsbare    Fesseln    geschlagen    wurde. 
Wie  bei  allen  andern  Völkern,  sind  auch  bei  den  Ägyptern 
die   Götter    nichts    anderes    als,  Personifikationen  von   Natur- 
kräften und   Naturerscheinungen,   aber  wie  überall,   so  ging 
auch  in  Ägypten  der  Periode  der  eigentlichen  Religion  eine 
Zeit  vorher,  deren  Anschauung  man  als  die  des  Animismus 
bezeichnet  hat,  und  in  der  der  menschliche  Geist  noch  nicht 
die  Kraft  besafs,  die  ihn  umgebenden  Naturmächte  zu  Götter- 
gestalten zu  formen,   sondern   sie  nur  vorstellte  als  unheim- 
liche Gewalten,  welche  im  Guten  und  mehr  noch  im  Bösen 
auf  den  Menschen  einwirken,  und  deren  Wirkungen  man  nicht, 
wie  später  die  der  Götter  durch  Opfer  und  Gebete,  d.  h.  durch 
Geschenke  und  Schmeicheleien,  sondern  durch  Zauberkünste 
dem  Menschen  dienstbar  machen  zu  können  glaubte.     Dieser 
Animismus  heifst  Spiritismus,  wenn   man  die  dämonischen 
Kräfte  frei  in  der  Luft  umherschwebend  dachte,  Fetischismus, 
wenn   man  sie   sich   als   gebunden   an  .einen  bestimmten  Ort 
vorstellte,  einen  Stein,  eine  Pflanze,  ein  Gerät  usw.     Nament- 
lich aber  waren  es  die  Tiere,  welche  vermöge  der  Ruhe  und 
Stetigkeit  ihrer  Erscheinung,  vermöge  ihres  durch  keine  Re- 
flexionen beirrten  Handelns  als  sichtbare  Vertreter  jener  dämo- 
nischen Mächte  erschienen.     Der  Animismus  in  dieser  Form 
des  Fetischismus  scheint,  wie  im  übrigen  Afrika,  so  auch  in 


3.  Die  älteste  Weltanschauung  der  Ägypter.  19 

Ägypten  die  älteste  Religionsanschauung  gewesen  zu  sein.  Als 
dann  weiterhin  die  Führer  des  geistigen  Lebens,  also  für  jene  Zeit 
die  Priester,  dazu  gelangten,  die  Wunderkräfte  des  Himmels 
und  der  Erde  als  menschenähnliche  Wesen,  als  die  Götter  zu 
personifizieren,  da  vermochten  sie  nicht,  jenen  tief  im  Herzen 
des  Volkes  wurzelnden  Kultus  der  Tiere  als  Repräsentanten 
der  dämonischen  Mächte  zu  verdrängen,  und  so  nahmen  sie 
in  ihre  mehr  geistigen  Anschauungen  von  den  Göttern  die 
Reste  jenes  ursprünglichen  Dämonenkultus  auf,  indem  sie 
namentlich  den  überkommenen  Tierkultus  mit  den  in  mensch- 
licher Gestalt  vorgestellten  Göttern  verschmolzen.  Daher  die 
auffallende  und  sonst  nicht  wolil  zu  erklärende  Erscheinung, 
dafs  nicht  nur  gewisse  Tiere  bestimmten  Göttern  heilig  sind, 
wie  in  Memphis  der  Stier  Apis  dem  Ptah,  in  Mendes  der 
Widder  dem  Osiris,  in  Bubastis  die  Katze  der  Bast,  sondern 
auch  viele  ägyptische  Götter  in  Menschengestalt,  aber  mit 
Tierköpfen  abgebildet  werden,  wie  die  Sonnengötter  Ra  und 
Har  mit  dem  Sperberkopf,  Dhuti,  der  Gott  des  Mondes  und 
der  Weisheit,  mit  dem  Ibiskopf,  Anubis,  der  Beschützer  der 
Grabstätte,  mit  dem  Kopf  eines  Schakals,  Sebek  mit  dem  eines 
Krokodils,  Chnum  mit  Widderkopf,  Isis  mit  Kuhkopf  usw., 
wobei  in  der  Regel  eine  Beziehung  zwischen  dem  Charakter 
des  Gottes  und  den  Funktionen  des  mit  ihm  verbundenen 
Tieres  bestand  oder  auch  künsthch  hergestellt  wurde. 

Zahlreich  sind  in  Ägypten  die  Götter  und  Göttinnen, 
welche  den  weiten  Himmelsozean,  die  leuchtende,  erwärmende 
und  sengende  Kraft  der  Sonne,  den  die  Zeiten  messenden 
Mond,  die  Fruchtbarkeit  der  Erde,  ihre  Überschwemmung  durch 
den  Nil  usw.  personifizieren,  und  wenn  eine  und  dieselbe  Natur- 
erscheinung durch  verschiedene  Gottheiten  repräsentiert  wird, 
so  erklärt  sich  dies  daraus,  dafs  ursprünglich  jede  der  am 
Laufe  des  Nils  angesiedelten  Stadtgemeinden  ihre  besondern 
Götter  hatte,  welche  nach  Herstellung  des  ägyptischen  Ein- 
heitsstaates miteinander  teils  identifiziert,  teils  verknüpft  wurden 
und  in  ihrer  Verbindung  wieder  Anlafs  zu  neuen  Bildungen  boten. 

Unter  den  Naturerscheinungen  ist  keine,  welche  das  Nach- 
denken der  Ägypter  so  sehr  beschäftigt  und  zu  so  vielen 
Mythen  Anlafs  gegeben  hat,  wie  der  tägliche  Lauf  der  Sonne, 


20  I-  Das  alte  Ägypten, 

wie  sie  am  Morgen  aus  den  Dünsten  des  Ostens  aufsteigend 
an  dem  meist  wolkenlosen  Himmel  in  einsamer  Majestät,  er- 
wärmend und  versengend,  ihren  Siegeslauf  vollendet,  um  am 
Abend  den  Mächten  der  Finsternis  zu  erliegen  und  am  nächsten 
Morgen  im  Osten  wieder  neu  zu  erstehen.  Dieser  täglich  sich 
wiederholende  Vorgang  ist  personifiziert  in  dem  schon  in  den 
ältesten  Zeiten-  allgemein  verehrten  Gott  Ra,  wie  er  nach  Über- 
windung der  Wolkenschlange  Apep  auf  einer  Barke,  einem 
Schlitten,  auf  den  Sprossen  des  Luftgottes  Scim  den  Himmels- 
ozean durchfährt  oder  über  die  eherne  Himmelsfeste  dahin- 
schreitet.  Mit  ihm  erscheint  schon  in  den  frühesten  Zeiten 
als  völhg  identisch  Tum,  der  Sonnengott  von  Heliopolis.  Wie 
in  Ea  die  ruhige  Majestät  der  Sonne  in  ihren  segnenden  und 
verderblichen  Wirkungen,  so  erscheint  in  dem  gleichfalls  all- 
gemein verehrten  Har  (^ßpo^)  der  Sonnengott  als  der  ewig 
kämpfende,  siegreiche,  welcher  zwar  allabendlich  seinem  feind- 
lichen Bruder  Set,  dem  Dämon  der  Finsternis,  erliegt;  aber 
am  nächsten  Morgen  wieder  neu  da  ist  als  Harpechrod  („Har 
das  Kind",  '"ApTCoxpaTrj?),  geboren  von  seiner  Mutter  HafJior 
(„Haus  des  Horus") ,  in  welcher  er  sich  selbst  erzeugt.  Eine 
Verknüpfung  von  Ra  und  Har  ist  Ra  Harmachuti,  zu  dessen 
Ehren  die  Obelisken  als  Sinnbilder  der  Sonnenstrahlen  er- 
richtet wurden,  und  dessen  Symbol  die  liegenden  Löwen  mit 
menschlichem,  gewöhnlich  männlichem  Kopfe  sind,  welche  bei 
den  Ägyptern  Neh  heifsen  und  von  den  Griechen,  wegen  der 
Ähnlichkeit  der  äufsern  Erscheinung,  mit  ihrer  Sphinx  identi- 
fiziert wurden.  —  Ursprünglich  von  Abydos  ausgehend,  aber 
bald  über  ganz  Ägypten  verbreitet  ist  der  Kultus  des  be- 
rühmtesten aller  Sonnengötter,  den  die  Ägypter  Asar,  die 
Griechen  ^'Oaigic,  nennen.  Auch  ihm  wird  als  feindlicher  Bruder 
der  Set  (Ttj9öv)  gegenübergestellt,  welcher  nach  der  von  Plu- 
tarch  (de  Iside  et  Osiride)  erzählten  Sage  seinen  Bruder  Osiris 
durch  Hinterlist  in  eine  Kiste  einschliefst,  durch  geschmolzenes 
Blei  tötet  und  die  Kiste  mit  dem  Leichnam  in  den  Nil  stürzt. 
Klagend  um  ihren  Gemahl  durchzieht  Isis  die  Länder,  findet 
in  Byblos,  wo  die  Kiste  ans  Land  gespült  war,  den  Leichnam 
des  Gatten,  und  nachdem  derselbe  nächtlicherweile  von  Typhon- 
Set  in  14  Teile  zerstückelt  und  verstreut  worden  ist,  sammelt 


3.  Die  älteste  Weltanschauung  der  Ägypter,  21 

Isis  die  Teile  und  begräbt  sie  in  Abydos,  während  Horus,  der 
Sohn  der  Isis  und  des  Osiris,  als  Rächer  des  Vaters  ersteht 
und  den  Typhon  überwindet;  Osiris  aber  ist  nicht  tot,  sondern 
herrscht  im  fernen  Westreiche  als  König  der  Unterwelt.  Auch 
dieser  Mythus,  der  schon  frühzeitig  mit  dem  syrischen  Adonis- 
mythus  verquickt  wurde,  bezieht  sich  ursprünglich  auf  den 
täglichen  Lauf  der  Sonne,  wie  sie  von  den  Mächten  der 
Finsternis  überwunden  im  fernen  Westreiche  verschwindet, 
während  sie  am  andern  Morgen  als  Horus,  'der  Sohn  und 
Rächer  seines  Vaters,  neu  ersteht. 

An  die  Sonnengötter  schliefsen  sich  die  verschiedenen 
Mondgötter,  unter  denen  namentlich  Dhuti  (Thoth)  allgemein 
verehrt  wird.  Er  ist  der  Gott  des  Mafses,  der  Zeiteinteilung, 
der  Weltordnung,  gilt  für  den  Erfinder  der  Sprache  und  der 
Schrift,  der  Künste  und  Wissenschaften;  die  Griechen  identi- 
fizieren ihn  mit  ihrem  'Epix-^?.  Als  Hauptgötter  wurden  ver- 
ehrt in  Theben  Amnion^  ursprünglich  wahrscheinlich  ein  Gott 
der  Zeugung  und  Fruchtbarkeit,  sowie  in  Memphis  der  als 
ältester  der  Götter,  als  Bildner  von  Himmel  und  Erde  gefeierte 
Ptah,  von  den  Griechen  ihrem  '"Ra^cLicxoc,  gleichgesetzt.  Natur- 
göttinnen von  unbestimmterer  Bedeutung  sind  die  in  Sais  ver- 
ehrte Nc'ith,  die  griechische  Athene,  die  löwenköpfige  Pachte 
die  in  Bubastis  als  Katze  verehrte  Bast  und  viele  andere. 
Die  verwirrende  Mannigfaltigkeit  von  Götternamen  und  die 
Zurückführung  derselben  Naturwirkung  auf  verschiedene  Götter 
erklärt  sich,  wie  gesagt,  daraus,  dafs  ursprünglich  jeder  Gau 
seine  eigenen  Götter  hatte,  welche  nach  Herstellung  eines  ein- 
heitlichen Staates  vielfach  durch  Austausch  übernommen, 
gleichgesetzt  und  verschmolzen  wurden.  Diese  Aufgabe  fiel 
den  schon  in  der  Pyramidenzeit  zahlreichen,  mächtigen  und 
als  Staatsbeamte  in  hohem  Ansehen  stehenden  Priestern  zu, 
welche  die  ursprünglich  aus  einzelnen  Naturanschauungen 
hervorgegangenen  Götter,  wie  z.  B.  Osiris,  Isis  und  Horus,  als 
Vater,  Mutter  und  Sohn  mit  einander  verknüpften,  Götterkreise 
und  Göttersysteme  schufen  und  die  Mythen,  Attribute  und 
Kultusbräuche  durch  sogenannte  Mysterien  ([epol  Xö^ot.)  moti- 
vierten, welche  dem  Volke  vorenthalten  wurden.  Dafs  z.  B. 
Isis  einen  Kuhkopf  trägt,  war  für  alle  off'ensichtlich,  aber  der 


22  I-  I^^'S  alte  Ägypten. 

Grund,  warum  sie  ihn  trägt,  dafs  sie  sich  nämhch  einst  in 
den  Kampf  zwischen  Horus  und  Set  eingemischt  habe,  worauf 
der  erzürnte  Horus  ihr  den  Kopf  abgeschlagen,  und  Dhuti  ihr 
zum  Ersatz  einen  Kuhkopf  aufgesetzt  habe,  dies  war  ein  nur 
den  Priestern  bekanntes,  sogenanntes  Mysterium. 

Diese  kurze,  nur  das  Wesenthche  berührende  Skizze  der 
ägyptischen  Götterwelt  zeigt  zur  Genüge,  dafs,  wie  überall, 
so  auch  in  Ägypten,  die  Götter  durch  Personifikation  der  um- 
gebenden Naturerscheinungen,  namentlich  der  Sonne  in  ihrem 
täglichen  Laufe,  entstanden  sind.  Aber  wie  überall,  so  werden 
auch  in  Ägypten  diese  Naturgötter  zu  sittHchen  Potenzen,  in- 
dem man  das  in  den  letzten  Tiefen  der  menschlichen  Natur 
wurzelnde  Sittengesetz  auf  die  Götter  zurückführte,  welche 
vermöge  ihrer  Übermacht,  der  Stetigkeit  ihres  Wirkens  und 
ihrer  Abgelöstheit  von  den  individuellen  Interessen,  denen 
das  moralische  Gesetz  seine  Gebote  entgegenstellt,  als  die 
ursprünglichen  Gesetzgeber,  als  belohnende  und  bestrafende 
Hüter  des  Sittengesetzes  erscheinen.  Auch  diese  moralische 
Seite  der  Götter  ist  in  Ägypten  schon  in  alten  Zeiten  hoch 
entwickelt.  Die  Götter,  welche  die  Welt  geschaffen  haben, 
welche  den  Menschen  Leben,  Gesundheit  und  Gedeihen  in  allen 
seinen  Verhältnissen  verleihen,  verlangen  dafür  Reinheit  des 
Leibes  und  der  Seele,  Beobachtung  ihrer  Gebote  und  Ent- 
haltung vom  Bösen,  Das  moralische  Gesetz  fordert  als  seine 
Quelle  eine  Einheit;  es  kann  nicht  als  in  sich  zwiespältig  ge- 
dacht werden,  und  hieraus  erklärt  es  sich,  dafs  in  Ägypten, 
noch  ehe  man  zum  Monotheismus  fortgeschritten  war,  die  sitt- 
lichen Gebote  in  der  Regel  nicht  auf  einen  bestimmten  Gott, 
sondern  auf  den  Gott  als  solchen  zurückgeführt  werden.  Da- 
neben erscheint  die  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  (vergleichbar 
dem  ritam  der  Inder,  oben  I,i,  S.  92  fg.)  in  Ägypten  personi- 
fiziert als  die  Göttin  Ildat,  die  Tochter  des  Ra  und  Gemalilin 
des  DhuH  als  Gottes  der  Weisheit.  Schon  in  der  Pyramiden- 
zeit ist  ihr  Kultus  sehr  entwickelt,  ihr  Symbol,  vielleicht  als 
Zeichen  der  Reinheit  vom  Bösen,  ist  die  Straufsenfeder,  Götter 
und  Könige  gelten  als  Inhaber  der  Ma'at,  und  der  Oberrichter 
trägt  ihr  Bild  um  den  Hals;  bei  dem  Totengericht  in  der 
Unterwelt  ist  sie  zugegen. 


3.  Die  älteste  Weltanschauung  der  Ägypter.  23 

Über  die  Vorstellung  der  Ägypter  von  dem  Schicksal  der 
Seele  nach  dem  Tode  berichtet  eine  vielbesprochene  Stelle  des 
Herodot,  II,  123:  tzqüxoi  5s  xal  t6v5s  t6v  Xo^ov  ALYi)7i:T!.ot  dai 
Ol  etTCÖvTsc,  &C,  ötv^p(57cou  4'^X'^  d'ä'dtvaTO«;  iaxi,  toü  a6\Kaxoc,  8s 
xaTa9'^LV0VT0i;  ic,  aXXo  ^wov  olIzI  y'-'^ojjlevov  iah'ösza.i '  sTreav  5s 
TCspt.sX'^'r)   TCavra   xa   -/ßgaaloi  xal    xa   ^aXaacia    xal    T(5t   TtsTstva, 

aUTlC    li?    ÖtV^pWTTOU     CÖ[J.a    Y!,v6pi.SV0V    Ec5lJV£t,V,    TYJV     TTspii^XuGw    5s 

auxfi  YcvsG'^a!,  sv  xpiaxt-Xioict.  sxsat..  „Die  Ägypter  waren  es  auch, 
welche  zuerst  die  Theorie  aufgebracht  haben,  dafs  die  Seele 
des  Menschen  unsterblich  sei,  und  dafs  sie  nach  Zerstörung 
des  Körpers  in  ein  jedesmal  neu  entstehendes  Lebewesen  ein- 
gehe; nachdem  sie  aber  alle  möglichen  Landtiere,  "Wassertiere 
und  Lufttiere  durchwandert  habe,  so  gehe  sie  wiederum  in 
einen  neu  entstehenden  Menschenleib  ein,'  und  dieser  Umlauf 
vollziehe  sich  für  sie  in  dreitausend  Jahren."  Dieses  Zeugnis 
des  Herodot,  dafs  die  Ägypter  eine  Seelen  Wanderung  gelehrt 
hätten,  findet  in  den  Texten  der  Denkmäler  keine  Bestätigung. 
In  dem  Totenbuch,  dieser  wichtigsten  Quelle  für  unsere  Kennt- 
nis des  ägyptischen  Totenkultus,  laufen  drei  verschiedene  Vor- 
stellungen neben  einander  her  und  durch  einander.  Es  ist 
dabei  die  Rede  1.  von  einem  Ausruhen  des  Toten  im 
Grabe,  2.  von  seiner  Fahrt  nach  dem  fernen  Westlande, 
um  dort  mit  Osiris  zu  herrschen,  und  3.  davon,  dafs  er  zurück- 
kehren könne,  um  „Gestalten  anzunehmen,  welche  er 
will".  Diese  letzte  Wendung  scheint-  Herodot  mifsverständ- 
lich  auf  den  ihm  von  Pythagoras  und  Empedoldes  her  be- 
kannten Seelenwanderungsglauben  bezogen  zu  haben;  sie 
spricht  aber  von  keiner  Seelenwanderung,  sondern  nur  von 
dem  bei  allen  Völkern  mehr  oder  weniger  gangbaren  Glauben 
an  die  Revenants,  nach  welchem  der  Tote  den  Überlebenden 
im  Traume  oder  im  Wachen,  in  menschlicher  oder  anderer 
Gestalt  zu  erscheinen  vermag.  Aber  auch  die  beiden  ersten 
Vorstellungen  stehen  mit  einander  im  Widerspruch  und  scheinen 
zwei  verschiedenen  Epochen  anzugehören,  nur  dafs  hier,  wie 
überall  auf  religiösem  Gebiete,  das  Alte,  weil  auf  heiliger  Tra- 
dition beruhend,  nicht  beseitigt  werden  darf,  sondern  sich 
neben  dem  Neuen  behauptet,  so  sehr  es  auch  mit  ihm  in 
Widerspruch  stehen  mag.     Die   schon  in   der  Pyramidenzeit 


24  I-  I^as  alte  Ägypten. 

aufkommende  Sitte,  den  Leichnam  zu  balsamieren,  deutet 
darauf  hin,  dafs  man,  ohne  darum  die  Seele  gerade  zu  leugnen, 
doch  das  Wesen  des  Menschen  in  seiner  Leiblichkeit  sah,  etwa 
wie  in  den  Eingangsversen  der  Ilias,  nach  denen  der  Zorn 
des  Achilleus  die  Seelen  der  Helden  in  den  Hades  sendet,  sie 
selbst  aber  den  Hunden  und  Vögeln  zum  Frafse  macht.  Auch 
im  ältesten  Ägypten  sah  man,  wie  es  dem  primitiven  Menschen 
natürlich  ist,  das  Selbst  in  dem  Leibe,  trug  für  dessen  Er- 
haltung Sorge,  baute  ihm  ein  Haus,  sei  es  ein  Felsengrah, 
ein  Grabgewölbe  oder,  wie  bei  Königen,  eine  Pyramide,  und 
schmückte  die  Wohnung  des  Toten  mit  Abbildungen  seiner 
Liebhngsbeschäftigung  im  Leben,  Krieg,  Ackerbau,  Fischfang, 
Jagd  usw.,  an  deren  Betrachtung  die  Seele  des  Toten,  sein 
Xa,  im  Grabe  seine  Unterhaltung  findet.  Seine  Wohnung 
nimmt  der  Ka  in  einer  in  das  Grab  mitgegebenen  Statuette 
des  Verstorbenen,  wird  auch  wohl  mit  ihr  als  identisch  be- 
trachtet. Eine  geistigere  Auffassung  unterschied  deutlicher, 
ohne  jene  ältere  Auffassung  fallen  zu  lassen,  von  dem  Körper 
des  Toten  seine  Seele  als  den  Ba^  ein  vogelartiges  Wesen, 
welches,  wie  Osiris,  den  Flug  nach  dem  Westreiche  nimmt, 
um  dort  mit  dem  Gott  zu  leben  und  zu  herrschen.  Diese  Fort- 
entwicklung scheint  schon  der  Ausbildung  der  Osiris-Religion 
anzugehören,  von  der  sogleich  weiter  die  Rede  sein  wird. 

4.  Weitere  Entwicklung  der  ägyptischen  Weltanschauung. 

Osiris,  ursprünglich  wohl  der  lokale  Sonnengott  von  Aby- 
dos,  fand  schon  in  der  Pyramidenzeit  allgemeine  Anerkennung 
und  Verehrung  und  wurde  derjenige  Gott,  mit  dessen  Schick- 
sal das  der  Seele  nach  dem  Tode  mehr  und  mehr  verglichen 
und  gleichgesetzt  wurde.  Wie  der  Sonnengott  Osiris  nach 
glorreicher  Fahrt  über  das  Himmelsgewölbe  hin  schliefslich 
im  Westen  untergeht,  so  folgt  auf  jedes  noch  so  glückliche 
Leben  schliefslich  der  Tod.  Aber  wie  Osiris  als  König  im 
Westreiche  herrscht,  so  hoffte  der  Fromme  zu  ihm  einzugehen 
und  mit  ihm  zu  herrschen.  Es  mag  wohl,  wie  in  Indien,  so 
auch  in  Ägypten  das  Bewufstsein  gewesen  sein,  dafs  das  ewige 
Prinzip  aller  Dinge  in  den  letzten  Tiefen  unserer  eigenen  Natur 
zu  finden  ist,  welches  dazu  führte,  in  jedem  Menschen  den 


4.  Weitere  Entwicklung  der  ägyptischen  Weltanschauung.  25 

Osiris  zu  sehen,  seinem  Namen  das  Wort  Osiris  vorzusetzen 
und  somit  die  Seele  des  Verstorbenen  als  den  Osiris  N.  N.  zu 
bezeichnen  und  ihm  unter  diesem  Namen  Gebete  und  Be- 
schwörungsformeln mit  ins  Grab  zu  geben,  deren  er  sich  beim 
Eingang  in  das  Westreich  zu  bedienen  hat,  um  dort  bestehen 
zu  können.  Immer  mehr  wuchs  die  Zahl  dieser  Hymnen  und 
Formeln  an,  bis  sie  schliefslich  zu  einem  auf  Papyrusrollen 
geschriebenen  Buche  wurden,  dem  Totenbuche,  genannt  das 
Buch  „Vom  Hervortreten  am  Tage"  fpert  mheruj,  welches  dem 
Toten  mit  ins  Grab  gegeben  wurde  und  ihm  die  geheimnis- 
vollen Namen,  Beschwörungsformeln  und  Anrufungen  an  die 
Hand  gab,  um  den  Eingang  ins  Westreich  zu  finden,  die  auf 
ihn  lauernden  Dämonen  abzuwehren  und  in  dem  Totengerichte 
zu  bestehen,  welches  Osiris  mit  zweiundvierzig  Beisitzern,  ent- 
sprechend den  zweiundvierzig  Hauptsünden,  über  den  Toten 
abhält.  Eine  bekannte  Abbildung  zeigt  den  Osiris,  wie  er  in 
dem  Saale  der  doppelten  Gerechtigkeit  auf  dem  Throne  sitzt; 
der  Verstorbene  wird  von  dem  schakalsköpfigen  Gotte  Anubis 
vorgeführt,  sein  Herz  wird  auf  einer  Wage  gewogen,  und 
Dhuti,  der  Gott  der  Weisheit  mit  dem  Ibiskopfe,  ist  beschäf- 
tigt, das  Resultat  der  Wägung  auf  einer  Schreibtafel  zu  ver- 
zeichnen. 

Während  diese  Vorstellungen  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
von  den  Priestern  immer  weiter  im  einzelnen  ausgebildet  und 
mit  sogenannten  Geheimlehren  und  möglichst  unverständlichen 
Geheimnamen  verbrämt  wurden,  hatten  die  veränderten  poli- 
tischen Verhältnisse  des  Landes  auch  eine  Fortentwicklung  der 
Götterlehre  in  ihrem  Gefolge.  Auf  die  Zeit  des  alten  Reiches  von 
Memphis  war  von  der  VI.  bis  X.  Dynastie  eine  Zeit  des  Verfalls 
gefolgt,  in  welcher,  wie  es  scheint,  die  einzelnen  Gaue  sich  wieder 
selbständig  gemacht  hatten  und  ihre  obersten  Lokalgottheiten 
an  die  höchste  Stelle  setzten,  indem  sie  dieselben  mit  den  all- 
gemein anerkannten  höchsten  Göttern,  Ra,  Tum,  Har  und  Osiris 
identifizierten.  Diese  immer  weiter  getriebene  Gleichsetzung 
fülirte  schliefslich  zu  dem  Ergebnisse,  dafs  es  nur  einen  welt- 
schaffenden und  weltbeherrschenden  Gott  gebe,  der  unter  allen 
jenen  verschiedenen  Namen  verstanden  werden  müsse,  und 
als  mit  der  XL  Dynastie  eine  neue  Zentralgewalt  im  mittlem 


26  I.   Das  alte  Ägypten. 

Keiche  mit  der  Hauptstadt  Theben  sich  erhob,  da  war  es 
Amun,  der  Hauptgott  von  Theben,  welcher  unter  dem  Namen 
Amun-Ra  als  jener  eine  Gott  proklamiert  wurde.  So  gelangten 
die  Ägypter  schon  um  2000  a,  C.  zu  einer  Art  Monotheismus, 
welcher  jedoch  von  dem  der  Inder  wie  von  dem  der  Hebräer 
wesentlich  verschieden  ist/  Der  indische  Monismus,  der  ge- 
legentlich auch  als  Monotheismus  auftritt,  beruht  auf  der 
philosophischen  Erkenntnis,  dafs  in  allen  Göttern,  Welten  und 
Erscheinungen  eines  und  dasselbe  ewige,  göttliche  Wesen, 
das  BraJiman  oder  der  Atman  verkörpert  ist;  die  Hebräer  ge- 
langten, wie  noch  zu  zeigen  sein  wird,  zum  Monotheismus 
durch  Kampf,  indem  den  altsemitischen  Göttern  aufser  Jalive 
zunächst  das  Recht  auf  Verehrung  und  schliefslich  auch  die 
Existenz  abgesprochen  wurde;  der  ägyptische  Monotheismus 
hingegen  beruht,  wie  gezeigt,  auf  einer  durch  die  politischen 
Verhältnisse  herbeigeführten,  mechanischen  Identifikation  der 
verschiedenen  Götternamen. 

Mechanisch,  weil  auf  einem  willkürlichen  Eingreifen  in 
die  natürliche  Entwicklung  beruhend,  ist  denn  auch  der  reli- 
giöse Reformversuch  Amenhoteps  IV.  aus  der  XVIIL  Dynastie, 
mit  welcher  Ägypten  seine  Freiheit  von  der  Fremdherrschaft 
der  Hyksos  wiedergewonnen  hatte.  Nachdem  das  Land  durch 
Dhutmes  III.  seine  Machtstellung  nach  aufsen  neubefestigt, 
nachdem  Amenhotep  III.  sein  Andenken  durch  zahlreiche 
Baudenkmäler  gesichert  hatte,  unternahm  es  sein  Sohn  Amen- 
hotep IV.  (etwa  um  1400  a.  C),  die  bestehende  und  durch  eine 
mächtige  Priestergilde  geschützte  Religion  gewaltsam  zu  refor- 
mieren. Der  durch  Gleichsetzung  der  Götternamen  erreichte 
Monotheismus  schien  ihm  nicht  vollständig  durchgeführt  zu 
sein,  solange  der  eine  Gott  unter  so  vielen  Bezeichnungen  und 
so  vielen  Kultusformen  verehrt  wurde.  Unter  Abstreifung  aller 
mythologischen  Vorstellungen  erklärte  er  Aten,  „die  Sonnen- 
scheibe", für  das  einzige  Objekt  der  Verehrung,  liefs  nur  die 
von  alters  her  anerkannten  Namen  Ra,  Tum  und  Har  als 
synonym  mit  Atm  zu,  verbot  alle  andern  Götternamen  und 
suchte  ihr  Andenken,  vor  allem  das  des  thebanischen  Haupt- 
gottes Amun,  durch  Auswetzen  aller  Götternamen  auf  den 
Denkmälern,  soweit  man  sie  erreichen  konnte,  zu  vernichten. 


4.   Weitere  Entwicklung  der  ägyptischen  Weltanschauung.  27 

Seinen  eigenen  Namen,  der  in  seiner  Zusammensetzung  an  den 
Gott  Arnim  erinnerte,  wandelte  er  um  in  Chuen-Äten,  „Abglanz 
der  Sonnenscheibe",  und  verlegte  seine  Residenz  aus  Theben, 
wo  alles  an  Amun  erinnerte,  in  eine  neugegründete  Stadt  in 
Mittelägypten,  welche  er  als  die  Sonnenstadt  (Chiä-Aten)  be- 
zeichnete und  durch  einen  herrlichen  Sonnentempel  in  ihrer 
Mitte  auszuschmücken  begonnen  hatte,  als  er  nach  kaum 
zwölfjähriger  Regierung,  man  weifs  nicht,  ob  durch  Mörder- 
hand oder  eines  natürlichen  Todes,  starb.  Mit  ihm  ging  sein 
Werk  zugrunde;  die  neue  Stadt  wurde  zerstört,  es  lag  ein 
Fluch  auf  ihrer  Trümmerstätte,  und  gerade  diesem  Umstände 
ist  es  zu  verdanken,  dafs  uns  unter  ihren  Trümmern,  dem 
heutigen  Tell-el-Amarna,  aus  der  Zeit  des  dritten  und  vierten 
.Anienhotep  die  wertvollsten  Urkunden  erhalten  sind,  nament- 
lich eine  Korrespondenz  asiatischer  Fürsten  und  Statthalter 
mit  diesen  Königen,  von  der  noch  in  einem  andern  Zusammen- 
hange zu  reden  sein  wird.  Das  Ansehen  der  Dynastie  war 
erschüttert,  und  nach  einigen  Jahrzehnten  der  Wirren  ging  die 
Herrschaft  an  die  XIX.  Dynastie  über,  unter  deren  Königen, 
einem  Seti  und  Bamses  II.,  Ägypten  nach  aufsen  hin  seine 
gröfste  politische  Machtstellung  erreichte,  während  das  geistige 
Leben  schon  damals  unter  den  Händen  einer  keinem  Wider- 
stand mehr  begegnenden  Priesterschaft  zu  einer  Mumie  erstarrte. 
Fragen  wir  zum  Schlufs,  inwieweit  auch  die  Religion  der 
Hebräer  einen  Einflufs  von  Ägypten  her  erfahren  hat,  so 
mögen  manche  Äufserlichkeiten,  wie  namentlich  die  Sitte  der 
Beschneidung  (vgl.  Herod.  H,  104)  und  die  Neigung  zum 
Kälberdienst  auf  Anregungen  von  Ägypten  her  beruhen.  Auch 
die  Sage  von  der  grofsen  Flut,  für  deren  Entstehung  in  Pa- 
lästina die  physikalischen  Anlässe  fehlen,  ist  jedenfalls  vom 
Auslande  importiert,  und  man  könnte  sie  an  die  ägyptische 
Sage  von  der  Vernichtung  des  sündigen  Menschengeschlechts 
durch  Ba  mittels  einer  grofsen  Flut  anknüpfen,  läge  es  nicht 
viel  näher,  sie  aus  Babylonien  herzuleiten.  Was  endlich  den 
hebräischen  Monotheismus  betrifft,  so  ist  seine  Entstehung 
aus  dem  altsemitischen  Polytheismus  vollkommen  zu  begreifen, 
ohne  dafs  es  darum  der  Annahme  einer  Entlehnung  fremd- 
ländischer Vorstellungen  bedüi'fte. 


28  n.   Die  semitischen  Volksstämme. 

II.   Die  semitischen  Vollisstämme. 

1.  Wohnsitze  nnd  ursprüngliche  Heimat  der  Semiten. 

Von  den  zahlreichen  rings  um  die  Erde  angesiedelten 
Völkerfamilien,  deren  jede  eine  gemeinschaftliche  Ursprache 
hatte,  sind  es,  wenn  wir  von  den  Ägyptern  und  Chinesen  ab- 
sehen, nur  zwei,  an  welche  sich  die  Entwicklung  aller  Kultur 
und  namentlich  alles  höhern  Geisteslebens  knüpft,  die  Semiten 
und  Indogermanen.  Die  geographische  Lagerung  dieser  beiden 
Völkerfamilien,  vermöge  deren  die  östlichen  Glieder  der  indo- 
germanischen Völkergruppe  von  der  westlichen  durch  die 
keilförmig  sich  zwischen  beide  einschiebenden  semitischen 
Völker  getrennt  wird,  ist  jener  schon  öfter  von  uns  erwähnte 
geographische  Zufall,  durch  welchen  das  ganze  geistige  Leben 
der  Menschheit  bedingt  ist,  und  ohne  welchen  vieles,  welches 
heute  noch  seinen  Einflufs  übt,  sich  ganz  anders  würde  ge- 
staltet haben.  Denn  als  die  griechisch-römische  Welt,  nach- 
dem sie  sich  durch  Entfaltung  der  in  ihr  liegenden  Kräfte 
ausgelebt  hatte,  ohne  volle  Befriedigung  zu  finden,  wie  jener 
mazedonische  Mann  (Apostelgesch.  16,9),  der  dem  Apostel 
Paulus  im  Traume  erschien,  ihre  Hände  hilfesuchend  nach 
dem  Osten  ausstreckte,  da  war  es  der  erwähnte  geographische 
Zufall,  vermöge  dessen  das  klassische  Altertum  nicht  auf  die 
ihm  urverwandte  Weisheit  der  Inder,  sondern  auf  die  semi- 
tische Weltanschauung  stiefs,  welche  in  ihrem  Schofse  als 
schönste  Blüte  das  Alte  Testament  und  als  reifste  Frucht 
das  Neue  Testament  hervorgebracht  hatte.  Das  Christentum 
aber  hat,  wie  der  Verlauf  unserer  Darstellung  zeigen  wird, 
das  geistige  Leben  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit  nicht 
weniger  tief  und  nachhaltig  beeinflufst  als  die  römische  und 
im  letzten  Grunde  die  griechische  Kultur,  bis  in  welche  die 
tiefsten  Wurzeln  unserer  eigenen  Weltanschauung  reichen, 
und  ohne  deren  nähere  Kenntnis  die  uns  noch  in  der  Gegen- 
wart bewegenden  geistigen  Strömungen  nicht  verstanden  wer- 
den können. 

Jene  Durchkreuzung  der  indogermanischen  Völkerkette 
durch  die  semitischen  Stämme,  durch  welche  recht  eigentlich 


1.  Wohnsitze  und  ursprüngliche  Heimat  der  Semiten. 


29 


der  Knoten  der  Weltgeschichte  geschürzt  wurde,  kann  ent- 
weder darauf  beruhen,  dafs  die  Indogermanen  bei  ihrem  Zuge 
aus  Zentralasien  nach  dem  südlichen  und  nördlichen  Europa 
hin  an  den  schon  in  Kleinasien  sefshaften  Semiten  vorbei- 
und  über  sie  hinweggewandert  sind,  oder  aber  darauf,  dafs 
die  schon  östlich  in  Indien  und  Iran,  westlich  in  Europa  sefs- 
haften Indogermanen  hinterher  durch  die  von  Süden  sich 
zwischen  sie  einschiebenden  Semiten  getrennt  wurden.  Für 
letztere  Annahme  spricht  namentlich  der  Umstand,  dafs  bei 
keinem  der  indogermanischen  Stämme  sich  auch  nur  die 
leiseste  Erinnerung  an  die  Einwanderung  erhalten  hat,  wäh- 
rend die  Besitznahme  von  Babylonien  und  Assyrien  durch  die 
Semiten  an  den  Spuren  erkennbar  ist,  welche  eine  von  ihnen 
unterjochte  und  aufgesogene  Urbevölkerung  hinterlassen  hat. 
Die  semitische  Völkerfamilie  besteht  aus  sechs  Haupt- 
stämmen, deren  Namen  und  gegenseitige  Lage  sich  auf  folgende 
Weise  dem  Gedächtnis  leicht  einprägen  läfst.  Zeichnen  wir 
auf  der  Karte  von  Vorderasien  ein  Kreuz  ein,  dessen  Kopf  in 

Aramäer 


Phöniker 

Assyrer 

Hebräer 

Babylonier 

> 

die  Gebirge  Armeniens,  dessen  unteres,  längeres  Ende  in  Ara- 
bien und  dessen  rechter  und  linker  Arm  nach  Babylonien  und 
Palästina  sich  erstrecken,  und  schreiben  wir  den  Namen  der 
Aramäer  an  das  Kopfende,  den  der  Araber  an  das  lang- 
gestreckte Fufsende,  ferner  an  den  rechten  Arm  den  der  einen 
einheitlichen   Kulturkreis    bildenden  Assyrer  und  Babylonier, 


30  II.   Die  semitischen  Volksstämme. 

und  an  den  linken  Arm  den  der  nicht  weniger  nahe  ver- 
wandten Phöniker  und  Hebräer,  so  haben  wir  ungefähr  die 
Lagerung  der  sechs  semitischen  Hauptstämme,  wie  sie  in 
historischer  Zeit  bestanden  hat,  vor  Augen.  Die  Sprachen 
derselben  sind  Abkömmlinge  einer  gemeinsamen  Ursprache 
und  nahe  verwandt,  viel  näher  als  es  die  verschiedenen  indo- 
germanischen Sprachen  sind,  daher  sich  die  vergleichende 
Grammatik  der  semitischen  Sprachen  oder,  wenn  man  will, 
Dialekte  ganz  von  selbst  bildete  und  nicht  so  schwere  Pro- 
bleme enthält  wie  die  der  indogermanischen. 

Eine  schwierigere  Frage  ist  die  nach  der  ursprünglichen 
Heimat  der  Semiten.  Nach  der  biblischen  Tradition,  welche 
die  Arche  Noahs  auf  dem  Berge  Ararat  südlich  vom  Kaukasus 
landen  läfst,  wären  mit  den  übrigen  Völkern  auch  die  Semiten 
von  dort  ausgezogen  und  hätten  sich  nach  Süden  bis  in 
Arabien  hinein  verbreitet.  Aber  das  umvirtliche  armenische 
Hochland  ist  durchaus  nicht  geeignet,  eine  Völkerwiege  zu 
bilden,  und  seitdem  Sprenger  in  seinem  „Leben  des  Mohammed" 
den  Umstand  geltend  gemacht  hat,  dafs  die  Araber  sowohl 
nach  ihrer  äufsern  Erscheinung  wie  nach  ihrer  Sprache  den 
reinsten  Typus  des  Semitischen  darstellen,  ist  die  von  ihm 
gezogene  Folgerung  ziemlich  allgemein  zur  Anerkennung  ge- 
langt, dafs  die  semitischen  Stämme  sich  nicht  von  Norden 
nach  Süden,  sondern  umgekehrt  von  Süden  nach  Norden  ver- 
breitet haben,  und  dafs  ihre  eigentliche  Urheimat  in  den 
Wüstenländern  und  Steppen  Arabiens  zu  suchen  ist,  von 
wo  aus  einzelne  Schwärme  dieser  Beduinen  nordwärts  vor- 
gedrungen sind,  um  sich  nordöstlich  des  Kulturlandes  von 
Babylonien  und  Assyrien  und  nordwestlich  der  fruchtbaren 
Landschaften  Palästinas  zu  bemächtigen. 

2.  Charakter  der  Semiten. 

Während  die  indogermanischen  Stämme  nach  vollzogener 
Einwanderung  zumeist  in  Ländern  sefshaft  wurden,  welche 
nicht  nur  durch  Jagd  und  Fischfang,  Viehzucht  und  Ackerbau 
ein  üppiges  Leben  ermöglichten,  sondern  auch  durch  den 
Wechsel  der  Jahreszeiten,  den  Reichtum  der  atmosphärischen 
Erscheinungen,  die  Gegensätze  von  Meer  und  Land,  Wäldern, 


2.  Charakter  der  Semiten.  31 

Gebirgen  und  Flüssen  der  Phantasie  reichere  Nahrung  boten, 
so  waren  die  Semiten  in  der  ersten  Zeit  ihres  Bestehens  auf 
wesenthch  einfachere  Verhältnisse  angewiesen.  War  doch 
ihre  ursprüngliche  Heimat  die  grofse  Halbinsel  Arabien  mit 
ihren  weiten  Wüsten  und  Steppen,  welche  zumeist  eine  Be- 
bauung nicht  lohnten,  sondern  nur  vorübergehend  eine  kärg- 
liche Nahrung  für  Kamele,  Schafe  und  Ziegen  boten.  War 
eine  Länderstrecke  abgeweidet,  so  brach  der  Stamm  seine 
Zelte  ab,  um  nach  mühsamer  und  entbehrungsreicher  Wan- 
derung eine  neue  Gegend  aufzusuchen  und,  wenn  erforderlich, 
im  Kampfe  zu  erobern,  ohne  dafs  auch  hier  eine  dauernde 
Ansiedlung  möglich  gewesen  wäre.  So  sind  denn  die  Semiten 
von  Haus  aus  Söhne  der  Wüste,  heimatlos  umherziehende 
Beduinenschwärme,  welche  das  Nomadenleben  liebten,  stolz 
auf  üire  in  fortwährenden  Kämpfen  errungene  Freiheit  waren 
und  mit  Geringschätzung  auf  eine  von  Ackerbau  lebende  Be- 
völkerung herabblicken  mochten.  Wie  überall  für  den  Natur- 
menschen, so  ist  auch  hier  der  Stammesgenosse  der  gute,  der 
Ausländer  der  böse  Mensch,  und  es  ist  kein  Zufall,  dafs  der 
böse  Kain  als  Ackerbauer,  der  fromme  Abel  als  viehzüchtender 
Nomade  in  der  Vorstellung  des  Volkes  lebt. 

Das  an  Entbehrungen,  Mühen  und  Gefahren  reiche  Wüsten- 
leben stählte  den  Körper  und  gab  dem  semitischen  Stamme 
jene  Zähigkeit  und  Widerstandsfähigkeit,  welche  wir  noch 
heute  an  ihnen  beobachten  können,  jenen  unmittelbar  auf  das 
Praktische  gerichteten  Sinn,  welcher  sich  in  der  Verfolgung 
seines  Zweckes  nicht,  wie  der  Indogermane,  durch  ideale  Er- 
wägungen beirren  läfst  und  ihn  daher  oft  sicherer  erreicht 
als  dieser.  Hingegen  steht  der  mit  nüchternem  Blick  auf  die 
umgebende  Wirkhchkeit  gerichtete  Sinn  des  Semiten  an  Keich- 
tum  der  Phantasie  und  geistiger  Schöpferkraft  hinter  den 
Indogermanen  erheblich  zurück,  daher  die  höchsten  Leistungen 
in  der  bildenden  Kunst  wie  in  der  Poesie  ganz  überwiegend 
bei  diesen  zu  finden  sind,  und  nicht  weniger  charakteristisch 
ist  es,  dafs  die  Ausbildung  der  Philosophie  den  Indogermanen, 
die  der  Religion  den  Semiten  als  Aufgabe  zugefallen  ist. 
Lassen  sich  die  bisher  erwähnten  Eigenschaften  der  Zähig- 
keit,   Nüchternheit    und    der   praktischen   Sinnesart   aus   den 


32  11.  Die  semitischen  Volksstämme. 

Lebensverhältnissen,  wie  sie  durch  die  arabischen  Wüsten- 
länder geboten  waren,  ohne  Schwierigkeit  ableiten,  so  be- 
stehen zwischen  semitischer  und  indogermanischer  Welt- 
anschauung doch  noch  tiefere  Gegensätze,  welche  nicht  aus 
Idimatischen  Verhältnissen  begriffen  werden  können,  sondern 
in  der  ursprünglichen  Naturanlage  beider  Stämme  ihre  Wurzel 
haben  müssen.  Wir  wollen  versuchen,  diese  Verschiedenheiten 
aus  den  letzten  Tiefen  der  verschiedenen  Begabung  beider 
Rassen  abzuleiten,  auf  die  Gefahr  hin,  dafs  das  Gesetz,  welches 
wir  nachweisen  wollen,  sehr  viele  Ausnahmen  erleidet,  ohne 
dafs  es  doch  darum  aufhört,  ein  allgemeines  Gesetz  zu  bleiben. 

Wenn  wir  hier  und  im  folgenden  unter  Realismus  den 
unerschütterten  Glauben  verstehen,  dafs  die  in  Raum  und  Zeit 
uns  umgebende  Aufsenwelt  die  eigentliche  und  endgültige 
Realität  der  Dinge  ausmacht,  hingegen  unter  Idealismus 
das  deutliche  oder  undeutliche  oder  auch  nur  dämmerhafte 
Bewufstsein,  dafS  diese  Erscheinungswelt  nur  in  der  Idee,  nur 
als  Vorstellung  so  ist,  wie  wir  sie  wahrnehmen,  und  dafs  das 
wahre  Wesen  der  Dinge  ganz  andern  Gesetzen  gehorcht  und 
durch  die  uns  umgebende  Natui'  nicht  sowohl  offenbart  als 
verhüllt  wird,  so  können  wir  in  diesem  Sinne  sagen,  dafs  der 
semitische  Geist  von  Natur  an  vorwiegend  realistisch, 
der  indogermanische  hingegen  vorwiegend  idealistisch  ge- 
richtet ist.  Es  ist  die  Naturbestimmung  des  menschlichen  wie 
des  tierischen  Intellekts,  ein  Diener  des  Willens  zu  sein,  ihm 
die  Motive  seines  Handelns  zu  liefern,  für  welches  die  Dinge 
nur  nach  dem  in  Betracht  kommen,  als  was  sie  uns  erscheinen, 
nicht  nach  dem,  was  sie  an  sich  sein  mögen.  Dieser  Natur- 
bestimmung ist  der  semitische  Intellekt  um  ein  Merkliches 
treuer  geblieben  als  der  indogermanische,  und  aus  diesem  Grund- 
unterschied lassen  sich  die  charakteristischen  Abweichungen 
der  Semiten  und  Indogermanen  in  ihrer  Vorstellung  sowohl 
über  das  Wesen  der  Gottheit  wie  über  das  des  Menschen 
verstehen. 

Auf  realistischem  Standpunkt  ist  Gott  in  demselben  Sinne 
real,  wie  es  alle  Dinge  der  Aufsenwelt  sind,  und  da  verhält 
sich  sein  Wesen  zu  dem  des  Menschen  wie  das  grofse  Welt- 
ganze zu  dem  menschlichen  Individuum,  welches  mit  jenem 


2.  Charakter  der'  Semiten.  33 

verglichen  zu  einer  verschwindenden  Kleinheit,  zu  einem  Nichts 
zusammenschrumpft.  Gott  ist  alles,  und  ich  bin  ihm  gegen- 
über nichts,  das  ist  die  semitische  Anschauung,  wie  sie  im 
ganzen  Alten  Testament  und  am  schönsten  vielleicht  in  den 
Psalmen  zum  Ausdruck  kommt.  Auch  ist  diese  Anschauung 
nicht  unberechtigt,  sie  ist  ebenso  berechtigt  wie  es  die  rea- 
listische Grundanschauung  vom  Wesen  der  Welt  ist,  aber 
auch  ebenso  einseitig  wie  diese. 

Gegenüber  dieser  unerschütterlichen  Überzeugung  von  der 
Kealität  der  Aufsenwelt  und  ihrer  Verhältnisse,  von  welcher 
der  semitische  Geist  sich  nur  schwer  losmachen  kann,  finden 
wir  bei  den  Indogermanen  schon  in  den  ältesten  Zeiten  das 
wenn  auch  nur  dämmerhafte  Bewufstsein,  dafs  es  eine  höhere 
Realität  gibt  als  die  uns  umgebende  räumliche  oder  zeitliche 
Ausbreitung,  eine  Realität,  welche  sich  in  den  letzten  Tiefen 
des  eigenen  Innern  kundgibt,  als  ein  Etwas,  das  über  all© 
Welten  und  alle  Götter  erhaben  ist,  und  dieses  Bewufstsein 
steigert  sich  von  der  Auffassung  der  Götter  als  dem  Menschen 
koordinierter  Wesen,  als  seiner  Brüder  oder  Väter,  wie  es 
schon  im  ersten  Hymnus  des  Rigveda  heifst,  bis  zu  der  Er- 
kenntnis, dafs  der  Atman,  dafs  dieses  unser  eigentUchstes 
Selbst  der  Träger  aller  Götter  und  Welten  ist,  bis  zu  dem 
stolzen  Ausspruch  der  von  diesem  Bewufstsein  beseelten  Upa- 
nishad's:  aJiam  hrahma  asmi,  „ich  bin  das  Brahman",  ein 
Bewufstsein,  welches  auch  in  der  griechischen  Welt  zum 
Durchbruch  kommt,  wenn  Plotin  in  die  Worte  ausbricht: 
„Darum  möge  jede  Seele  bedenken,  dafs  sie  es  war,  welche 
alle  lebenden  Wesen  erschaffen  und  ihnen  das  Leben  eingehaucht 
hat...,  dafs  sie  es  war,  welche  die  Sonne  und  diesen  grofsen 
Himmel  erschaffen  hat"  (vgl.  den  Wortlaut  der  Stelle  in 
meiner  Philosophie  der  Griechen,  oben  n,i,  S.  498).  Man  ver- 
gleiche mit  Aussprüchen  wie  diesen  die  Worte  Abrahams: 
„Ich  habe  mich  unterwunden,  mit  dem  Herrn  zu  reden,  wie- 
wohl ich  Erde  und  Asche  bin"  (1.  Mos.  18,27),  oder  Psalm- 
stellen wie  8,5 :  „Was  ist  der  Mensch,  dafs  du  seiner  gedenkest, 
und  des  Menschen  Kind,  dafs  du  dich  seiner  annimmst?", 
und  144,4:  „Ist  doch  der  Mensch  gleich  wie  nichts;,  seine 
Zeit   fährt    dahin    wie    ein    Schatten."     Die  Psalmen    sagen: 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II, u.  3 


34  n.   Die  semitischen  Volksstämme. 

„Gott  ist  alles,  ich  bin  nichts",  die  Upanishad's  lehren:  „Ich 
bin  selbst  Gott,  trage  das  Prinzip  aller  Dinge  in  mir";  beide 
Anschauungen  sind  in  ihrer  Weise  berechtigt,  die  eine  vom 
Standpunkt  des  Realismus,  die  andere  von  dem  des  Idealismus 
aus.  Beide  haben  auch  durch  Goethe  ihren  dichterischen 
Ausdruck  gefunden,  die  eine  in  dem  Gedichte  „Grenzen  der 
Menschheit",  die  andere  in  seinem  „Prometheus". 

Wie  in  bezug  auf  das  Gottesbewufstsein,  so  unterscheidet 
sich  der  Realismus  des  Semiten  von  dem  indogermanischen 
Idealismus  auch  in  der  Auffassung  der  Natur  des  Menschen. 
Auf  empirischem  Standpunkt  wird  der  Mensch  durch  Zeugung 
und  Geburt  aus  dem  Nichts  zu  einem  Etwas,  und  durch  den 
Tod  aus  dem  Etwas  wieder  zu  nichts.  Dementsprechend  haben 
die  Semiten  ursprünglich  kein  Bewufstsein  von  der  Unsterblich- 
keit der  Seele.  Im  Alten  Testament  fehlt  sie,  bis  zu  der 
Zeit,  wo  die  Hebräer  zu  den  Iraniern  in  Beziehung  traten,  und 
ebenso  in  der  assyrisch-babylonischen  Anschauung,  nach 
welcher  alles  Lebende  der  Todesgöttin  Allat  verfällt  und  nur 
die  Istar,  das  Prinzip  des  Lebens,  nicht  von  ihr  festgehalten 
werden  kann;  alles  Lebende  vergeht,  nur  das  Leben  selbst 
stirbt  nicht,  das  ist,  wie  wir  sehen  werden,  der  Grundgedanke 
des  Gedichts  von  der  Höllenfahrt  der  Istar,  und  auch  ihm 
hat  Goethe  in  dem  ersten  der  beiden  erwähnten  Gedichte 
Worte  geliehen,  wenn  es  zum  Schlüsse  heifst: 

Ein  kleiner  Ring 
Begrenzt  unser  Leben, 
Und  viele  Geschlechter 
Reihen  sich  dauernd 
An  ihres  Daseins 
Unendliche  Kette. 

Im  Gegensatze  zu  dieser  semitischen  Auffassung,  welche 
übereinstimmt  mit  dem  Zeugnis  der  Natur,  dafs  unser  Dasein 
mit  dem  Tode  zunichte  wird,  setzt  sich  der  Idealismus  in 
dem  Bewufstsein,  dafs  ein  Unvergängliches  in  uns  lebt,  über 
die  Aussage  der  Natur  hinweg,  und  dementsprechend  begegnen 
wir  schon  in  den  ältesten  Texten  der  indogermanischen  Litera- 
tur, bei  Indern  wie  bei  Iraniern,  der  Überzeugung  von  einem 
Fortleben  des  Menschen  nach  dem  Tode. 


3.  Ursprüngliche  Religion  der  semitischen  Stämme.  35 

3.  Ursprüngliche  Keligion  der  seaiitischen  Stämme. 

Über  die  Religion  der  semitischen  Stämme  während  der 
Zeit,  wo  sie  als  eine  Anzahl  von  Beduinenschwärmen  in  den 
weiten  Steppenländern  Arabiens  umherzogen,  felilt  es  uns  an 
einer  direkten  Überlieferung;  doch  läfst  sich  mit  Hilfe  des 
auch  späterhin  allen  semitischen  Stämmen  in  Arabien,  Baby- 
lonien  und  Kanaan  Gemeinsamen  und  durch  Aufsuchen  ein- 
zelner erhaltener  Spuren  ein  wenn  auch  unsicheres  und  durch 
Hypothesen  zu  ergänzendes  Bild  von  jener  ältesten  Religion 
der  Semiten  nach  ihren  allgemeinen  Grundzügen  gewinnen. 

Zunächst  weisen  manche  abergläubische  Vorstellungen, 
die  sich  im  Bewufstsein  des  Volkes  noch  bis  in  späte  Zeiten 
erhielten,  darauf  hin,  dafs  auch  bei  den  Semiten  der  Religion 
als  eine  Vorstufe  dasjenige  vorhergegangen  ist ,  was  man 
Animismus  zu  nennen  pflegt,  der  Glaube  an  übernatür- 
liche, dämonische,  durch  Zauberei  dem  Menschen  dienstbar 
zu  machende  Mächte,  mögen  dieselben  nun  als  frei  umher- 
schweifend oder  als  an  einen  bestimmten  Ort,  einen  Felsen, 
einen  Berg,  eine  Pflanze  gebunden  vorgestellt  werden.  Dahin 
gehören  die  Feldteufel  und  Feldgeister,  welche  3.  Mos.  17,7 
und  Jes.  13,21.  34,14  erwähnt  werden,  vielleicht  auch  die 
eherne  Schlange,  deren  Kultus  noch  bis  auf  König  Hiskia  bei 
den  Hebräern  nach  2.  Kön.  18,4  bestand.  NamentUch  waren  es 
Berghöhen  fbämähj,  Steinkegel  (maszebähj  und  heilige  Bäume 
oder  Holzpfähle  fascherähj,  welche  als  Wohnsitz  eines  solchen 
dämonischen  Wesens  galten,  das  dann  als  der  „Herr"  {hdalj 
des  betreff'enden  Ortes  bezeichnet  zu  werden  pflegte.  Auch 
diese  Vorstellungen  wirkten  noch  später  bei  einer  geistigern 
Auffassung  vom  Wesen  der  Gottheit  nach,  indem  man  deren 
Kultus  mit  Orten  wie  den  genannten  verknüpfte.  Eine  be- 
sondere Art  von  Dämonen  waren  die  im  Besitz  einzelner  Fa- 
mihen  befindlichen,  das  Zelt  oder  Haus  beschützenden  Haus- 
götter oder  Penaten;  sie  waren  geschnitzt,  gegossen  oder  mit 
Metall  überzogen  (Rieht.  18,14),  wahrscheinlich  von  menschen- 
ähnlicher Gestalt  (1.  Sam.  19,13),  und  wenn  sie  entwendet 
wurden,  zog  der  Segen  mit  ihnen  fort  (Rieht.  18,24);  von 
dieser  Art  waren  aucl^  die  theräpMm,  welche  Rahel  ihrem  Vater 

3* 


36  II.  Die  semitischen  Volksstämme. 

stahl  und  bei  der  Haussuchung  unter  dem  Sattel  des  Kamels 
verbarg  (1.  Mos.  31,19.  34  fg.). 

Bei  einer  sefshaften  Bevölkerung  ist  ihr  Zusammenhang 
schon  gesichert  durch  das  gemeinsame  Land,  welches  sie  be- 
wohnt. Anders  bei  nomadisierenden  Stämmen,  welche  mit 
ihren  Zelten,  Kamelen  und  Schafen  je  nach  Bedarf  aus  einer 
Gegend  in  die  andere  zogen.  Hier  war  es  die  Zugehörigkeit 
zum  Stamme,  welche  den  Bruder,  den  Verwandten,  den  Freund 
von  dem  Fremden  unterschied;  jeder  Stamm  fühlte  sich  als 
eine  gesclilossene  Einheit,  und  diese  Einheit,  welche  nur  eine 
ideelle  war,  fand  ihren  bestimmtesten  Ausdruck  darin,,  dafs 
jeder  Stamm  einen  ihm  allein  eigenen  Schutzgott  besafs, 
'  welcher  den  Stamm  auf  seinen  Wanderungen  begleitete,  sei 
es  in  Gestalt  eines  mitgeführten  Idols,  sei  es  dafs  er  als  eine 
rein  geistige  Macht  unter  seinem  Volke  weilte,  ihm  voranzog, 
sichtbar  bei  Tag  als  eine  Wolkensäule,  bei  Nacht  als  eine 
Feuersäule,  und  das  Volk,  mit  dem  er  einen  Bund  fberith, 
5(,a^7]XY],  testamentumj  geschlossen  hatte,  zum  Siege  gegen  die 
Feinde  führte.  Jeder  Erfolg  im  Innern  wie  nach  aufsen  wurde 
als  eine  Gnade  des  Stammgottes  empfunden,  jeder  Mifserfolg 
auf  ein  Zürnen  des  Gottes  mit  seinem  Volke  zurückgeführt. 
Als  diesen  speziellen  Schutzgott  ihres  Stammes  verehrten  die 
Moabiter  den  Kamos,  die  Ammoniter  den  Milkom  und  der 
Stamm  der  Hebräer  seinen  Jahve. 

Aufser  der  Verehrung  des  Stammgottes,  dessen  Gunst 
man  durch  Opfer,  durch  Darbringung  der  Erstlinge  der  Herden 
und  später  der  Feldfrucht,  durch  regelmäfsig  im  Laufe  des 
Jahres  ihm  zu  Ehren  gefeierte  Feste  zu  sichern  suchte,  aufser 
den  dämonischen  Mächten,  welche  das  Leben  umgaben  und 
durch  Zaubergebräuche  teils  unschädlich  gemapht,  teils  zur 
Förderung  der  menschlichen  Interessen  gewonnen  wurden, 
blickte  der  Wüstenbewohner  verehrend  zu  den  Gestirnen 
empor,  welche  am  wolkenlosen  arabischen  Himmel  ihren  regel- 
mäfsigen  Kreislauf  vollzogen,  zur  Sonne  als  Regentin  des 
Tages  und  zum  Monde  als  Regenten  der  Nacht,  sowie  nament- 
lich auch  zu  den  Planeten,  deren  wechselnde  Stellung  am 
Himmel  eine  Beziehung  zu  den  Wechselfällen  des  mensch- 
lichen Lebens  zu  haben  schien,  und  de^n  Gunst  man  durch 


3.  Ursprüngliche  Religion  der  semitischen  Stämme.  37 

Opfer  und  Verehrung  gewinnen  zu  können  hoffte.  Und  wie 
sich  über  der  Erde  und  den  Gestirnen  der  eine  allen  gemein- 
same Himmel  ausspannte,  so  tritt  uns  in  der  semitischen  Welt 
vielfach  die  Vorstellung  eines  in  unnahbarer  Ferne  thronenden 
„Herrn  des  Himmels"  ßdal  haschschämajimj  entgegen,  welcher 
dem  Bewufstsein  des  Menschen  in  dem  Mafse  fernstand,  in 
welchem  er  nicht,  wie  die  W^andelsterne  des  Himmels,  der 
Schutzgott  des  eigenen  Stammes  und  die  auf  der  Erde  hausen- 
den Dämonen  einen  Einflufs  auf  das  menschliche  Leben  zu 
üben  vermochte.  Ob  der  Name  El,  babylonisch  Ilu,  wie  man 
früher  annahm,  diesen  obersten  Himmelsgott  bezeichnete  oder 
ähnlich  wie  Ba^al  (der  Herr)  ursprünglich  keinem  bestimmten 
Gott  eigen  war,  sondern  den  Gott  im  allgemeinen  bedeutete, 
mas:  dahingestellt  bleiben. 


III.  Die  Babylonier  und  Assyrer. 

1.  Äufsere  Geschichte  der  babylonischen  und  assyrischen  Reiche. 

Während  in  den  Gebirgsländern  östlich  vom  Tigris  indo- 
germanische Stämme,  die  !Meder  im  Norden,  die  Perser  süd- 
lich von  ihnen,  sefshaft  geworden  waren,  welche  erst  später 
in  den  Verlauf  des  geschichtlichen  Lebens  eingreifen  sollten, 
finden  wir  an  den  Flufsläufen  des  Euphrat  und  Tigris  schon 
vor  3000  a.  C.  eine  eingewanderte  semitische  Bevölkerung. 
Namentlich  war  Sinear,  das  fruchtbare  Tiefland,  welches  der 
Euphrat  und  Tigris,  nachdem  sie  sich  bis  auf  wenige  Meilen 
genähert  haben  und  dann  wieder  von  einander  entfernen,  bis 
zu  ihrer  gemeinsamen  Mündung  im  Persischen  Meerbusen 
umschliefsen,  von  jeher  ein  lockendes  Ziel  für  umherschweifende 
Nomadenhorden  gewesen,  und  so  finden  wir  hier  schon  in  den 
ältesten  Zeiten,  bis  zu  denen  unsere  Erinnerung  reicht,  im 
Norden  von  Sinear  das  semitische  Reich  von  Akkad,  während 
der  Süden  von  einer  alteingesessenen,  weder  semitischen  noch 
indogermanischen  Bevölkerung,  den  Sumerern,  zunächst  noch 
gegen  die  Eindringlinge  behauptet  wurde.  Diese  Sumerer, 
soweit  sie  bis  jetzt  erforscht  worden  sind,  erscheinen  als  ein 
uraltes    Kulturvolk    mit    einer    eigentümlichen    Sprache    und 


38  III-  I^ie  Babylonier  und  Assyrer. 

Literatur,  mit  einer  ausgebildeten  Religion  und  Mythologie, 
deren  Denkmäler  in  der  ihnen  ursprünglich  eigenen  Keilschrift 
zum  Teil  noch  heute  vorliegen.  Von  diesen  Sumerern  über- 
nahmen die  eindringenden  Semiten  nicht  nur  die  für  die  semi- 
tischen Sprachen  wenig  geeignete  Keilschrift,  sondern  auch 
einen  grofsen  Teil  ihrer  religiösen  und  mythologischen  Vor- 
stellungen, ihrer  Göttersage  und  Heldensage,  während  anderer- 
seits auch  die  Sumerer  von  den  Semiten  manche  Elemente 
der  Religion  und  Kultur  annahmen.  Beide  Reiche,  vielleicht  in 
einzelne  Stadtfürstentümer  gegliedert,  das  sumerische  im  Süden, 
das  akkadisch- semitische  im  Norden  von  Sihear,  bestanden 
lange  Zeit  neben  einander,  bis  sie,  vielleicht  zum  ersten  Male, 
2500  a.  C.  von  dem  in  Akkad  regierenden  semitischen  König 
Sargon  I.  zu  einem  Gesamtreiche  vereinigt  wurden.  Auch 
während  der  Regierung  seines  Sohnes  Naramsin  dauerte  die 
Oberherrschaft  der  Semiten  über  das  ganze  Sinear  fort,  ging 
dann  aber  in  den  nächsten  Jahrhunderten  auf  die  sumerischen 
Könige  von  Ur  und  von  diesen  auf  eine  von  Osten  ein- 
gedrungene elamitische  Dynastie  über,  bis  diese  von  semiti- 
schen Fürsten  aus  dem  Stamme  der  Amoriter,  Sinmuballit 
und  seinem  grofsen  Sohne  Chammurdbi  (1958 — 1916),  verdrängt 
und  die  Staaten  der  Halbinsel  Sinear  zum  zweiten  Male  zu 
einem  Gesamtreiche  vereinigt  wurden.  Weit  über  die  Grenzea 
Sinears  hinaus,  bis  nach  Assyrien  und  vielleicht  Syrien  hin, 
erstreckte  sich  die  Macht  Chammurabis  und  rechtfertigt  den 
Titel  eines  „Herrn  der  vier  Weltteile",  welchen  er  sich  nach 
dem  Vorgange  Früherer  beilegte.  Er  erhob  Bab-el  („die  Pforte 
Gottes",  Ka-dhigira,  wie  sie  schon  bei  den  Sumerern  hiefs) 
zur  Hauptstadt  des  Landes  und  sorgte  für  dessen  Wohlfahrt 
durch  Anlage  von  Kanälen  und  eine  geordnete  Verwaltung. 
Ob  in  dem  1.  Mos.  14  erwähnten  ÄmrapheJ,  König  von  Sinear, 
eine  sagenhafte  Erinnerung  an  Chammurabi  fortlebt,  ist  zweifel- 
haft, aber  ein  anderes  Dokument  hat  uns  diesen  König  aus 
uralter  Zeit  in  greifbare  Nähe  gerückt.  Gegen  Ende  des 
Jahres  1901  fand  eine  französische  Expedition  in  Susa  einen 
dorthin  aus  Babylonien  verschleppten  Dioritblock  in  Form 
einer  Stele;  sein  oberer  Teil  stellt  in  einem  Basrelief  den 
Chammurabi    dar,    wie    er    in    aufmerksamer    Stellung    vor 


1.  Äufsere  Geschichte  der  babylonischen  und  assyrischen  Reiche.       39 

dem  sitzenden  Sonnengott  dasteht  und  von  ihm  die  Gesetze 
des  Landes  empfängt.  Unter  dem  Bilde  und  auf  der  Rück- 
seite des  Steines  ist  in  senkrecht  laufenden  Zeilen  ein  Gesetz- 
buch verzeichnet,  welches,  eingeleitet  durch  ein  Vorwort  und 
beschlossen  durch  ein  Nachwort,  in  282  Paragraphen  eine 
Reihe  eingehender  Verordnungen  über  den  Verkehr  zu  Wasser 
und  zu  Lande,  über  Eigentumsrecht,  Familienrecht  und  Erb- 
recht, über  das  Strafrecht  sowie  über  Taxen  bei  Kauf,  Miete 
und  Dienstleistungen  aller  Art  enthält.  Die  angedrohten 
Strafen  der  Tötung,  Verstümmelung  usw.  nach  dem  jus  ta- 
lionis sind  in  der  Regel  sehr  harte;  im  übrigen  legt  dieses 
Gesetzbuch  Zeugnis  ab  von  der  hohen  Blüte  der  Kultur,  welcher 
sich  ßabylonien  schon  vor  4000  Jahren  erfreute  und  deren 
Einflufs  sich  im  Norden  bis  nach  Assyrien,  im  Westen  bis  nach 
Palästina  und  zum  Mittelländischen  Meer  erstreckte.  Dieser 
Einflufs  blieb  auch  in  der  Folgezeit  bestehen,  als  Sinear  seit 
dem  Jahre  1760  ein  Jahrhundert  und  länger  unter  die  Herr- 
schaft des  aus  dem  östlichen  Gebirge  eingedrungenen  wilden 
und  kriegerischen  Volkes  der  Kossäer  geriet.  Babylonische 
Sprache  und  Schrift  wurde,  wie  die  Briefe  von  Tell-el-Amarna 
beweisen,  bis  nach  Palästina  und  Ägypten  hin  die  Verkehrs- 
sprache der  Diplomatie  und  des  Handels.  Nach  und  nach 
wurde  sie  durch  die  Sprache  der  Aramäer  verdrängt,  welche 
als  Nomaden  schon  im  9.  Jahrhundert  a.  C.  in  Südbabylonien 
eingedrungen  und,  wie  es  scheint,  auf  friedlichem  Wege  sefs- 
haft  geworden  waren.  Viel  trugen  auch  die  von  Damaskus 
bis  Haran  und  Babylon  umherziehenden  aramäischen  Kauf- 
leute zm-  allgemeinern  Verbreitung  des  Aramäischen  bei, 
dessen  Schrift  sich  als  Buchstabenschrift  durch  eine  bequemere 
Schreibart  mehr  als  die  altbabylonische  Silbenschrift  für  den 
Verkehr  empfahl.  Zur  Zeit  des  Hiskia  und  altern  Jesaia  wurde 
das  Aramäische  auch  in  Jerusalem  von  den  Gebildeten,  noch 
nicht  aber  von  dem  Volke  verstanden,  (2.  Kön.  18,26).  Nach 
und  nach  verdrängte  es  alle  andern  nordsemitischen  Dialekte, 
und  zu  Jesu  Zeit  sprach  man  auch  in  Palästina  aramäisch. 
Schon  frühzeitig  war  dem  Babylonischen  Reiche  neben 
den  Elamitern  ein  zweiter  Rivale  erwachsen  in  dem  Schwester- 
volke der  am  obern  Tigris   mit  den  Hauptstädten  Assur  und 


40  III.   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

Später  Ninive  angesiedelten  Assyrer.  Während  sie  zu  Cham- 
murabis  Zeit  noch  unter  babylonischer  Oberhoheit  standen, 
erhoben  sie  sich  seit  dem  Jahre  1500  zu  einer  selbständigen 
Macht.  Immer  weiter  breitete  sich  in  den  folgenden  Jahr- 
hunderten die  assyrische  Herrschaft  aus;  schon  um  llOÖ 
drangen  assyrische  Könige  bis  an  das  Mittelländische  Meer 
vor  und  machten  sich  vorübergehend  auch  Babylonien  tribut- 
pflichtig. Nach  zeitweiliger  Schwächung  des  Reiches  gelang 
es  dem  Könige  Tiglathpüesar  IL,  genannt  PJud  (745 — 727),  die 
assyrische  Grofsmacht  zu  begründen,  indem  er,  ungehindert 
durch  das  damals  ohnmächtige  Ägypten,  nicht  nur  die  Staaten 
Syriens,  unter  ihnen  auch  das  Reich  Israel,  tributpflichtig 
machte,  sondern  auch  im  Jahre  729  Babylonien  zum  ersten 
Male  dem  Assyrischen  Reiche  einverleibte.  Ihm  folgte  sein 
Sohn  Salmanassar  IV.  (727 — 722),  welcher  Hosea,  den  letzten 
König  von  Israel,  gefangen  nahm  und  Samaria  drei  Jahre  lang 
belagerte.  Auf  ihn  folgte  Sargon  (722 — 705),  wie  es  scheint,  ein 
Usurpator,  der  sich  als  solcher  den  Namen  SarrttJcinu,  „der  recht- 
mäfsige  Herrscher",  beilegte,  an  Stelle  des  gestorbenen  oder 
vom  Throne  gestofsenen  Salmanassar  722  a.  C.  die  Belagerung 
Samarias  durch  Eroberung  der  Stadt  vollendete  und  dem  Reiche 
Israel  ein  Ende  machte.  Über  27  000  Einwohner  wurden  von 
ihm  in  die  assyrische  Gefangenschaft  weggeführt  und  jenseits 
des  Tigris  in  Assyrien  und  Medien  angesiedelt.  Unter  Sargons 
Nachfolgern,  Sanherib  (705 — 681),  welcher  Jerusalem  undTyrus 
vergebens  belagerte  und  Babel  zerstörte,  Ässarhaddon  (681 — 
668),  welcher  es  wieder  aufbaute  und  Ägypten  sich  unterwarf, 
und  Assurbampal  (668 — 626),  der  Ägypten  aufgeben  mufste, 
dafür  aber  das  Reich  der  Elamiter  mit  der  Hauptstadt  Susa 
eroberte,  erhielt  sich  das  Assyrische  Reich  im  ganzen  auf 
gleicher  Höhe  der  Macht.  Doch  war  Assurbanipal,  der  seine 
Kriege  lieber  durch  seine  Feldherren  führen  liefs,  vorwiegend 
den  Künsten  des  Friedens  zugeneigt.  Er  restaurierte  die  schon 
von  Sanherib  angelegte  gewaltige  Stadtmauer  Ninives  und 
errichtete  in .  dem  von  Sanherib  erbauten  Südwestpalast  eine 
grofse  Bibliothek,  in  welcher  er  alle  Urkunden  und  literarischen 
Erzeugnisse  der  Vorzeit  zusammenzubringen  bestrebt  war. 
Zahllose  Täfelchen  und  Zylinder  aus  Ton  mit  Keilschrift  be- 


1.   Äufsere  Geschichte  der  babylonischen  und  assyrischen  Reiche.       41 

schrieben  enthielten  hier  die  Überheferung  der  altbabylonischen 
und  assyrischen  Geschichte  und  haben  sie  bis  auf  unsere  Tage 
gebracht,  da  alle  diese  Schätze  zwanzig  Jahre  nach  Assur- 
banipals  Tod  mit  einem  Schlage  unter  Schutt  und  Trümmern 
begraben  und  so  auf  die  Nachwelt  gebracht  werden  sollten. 
Schon  unter  Assurbanipal  wurde  das  Reich  durch  Einfälle 
skythischer  und  kimmerischer  Horden  geschwächt.  Nach 
seinem  Tode  empörte  sich  Nebiipalassar^  der  assyrische  Statt- 
halter von  Babylonien,  und  schlofs  im  Jahre  608  mit  Kyaxares^ 
dem  König  der  Meder,  ein  Bündnis  gegen  Assyrien.  Der 
Bund  wurde  dadurch  besiegelt,  dafs  dej'  Indogermane  Kyaxares 
seine  Tochter  Amyitis  dem  Semiten  NehtiJcadnezar,  dem  Sohn 
des  Nebupalassar  vermählte,  ein  Beispiel,  welches  weiterhin 
nach  der  Eroberung  Babyloniens  durch  die  Perser  so  viel- 
fache Nachahmung  fand,  dafs  noch  heute  die  in  Indien  leben- 
den Reste  der  alten  Perser,  wiewohl  sie  der  Sprache  nach 
unzweifelhaft  Indogermanen  sind,  nach  äufserer  Erscheinung 
und  Charakter  in  auffallender  Weise  den  Semiten  ähneln. 
Die  Berichte  über  das  grofse  Ereignis  des  Jahres  606,  den 
Fall  Ninives  und  die  Vernichtung  des  Assyrischen  Reiches, 
sind  sehr  lückenhaft.  Als  das  Heer  des  Nebupalassar,  wahr- 
scheinlich unterstützt  von  der  andern  Seite  her  durch  die 
Meder,  heranrückte,  soll  sich  SaraJiOs,  der  Nachfolger  des 
Assurbanipal,  an  seiner  Rettung  verzweifelnd,  mitsamt  seinem 
Palaste  verbrannt  haben  (o5  tyjv  e9oSov  -jTTO'/j'ä'stc  6  2apaxoc; 
ea-jrov  duv  toi^  ^cnaCkeloi^  ivsTcpifjas,  Berossos  bei  Syncell. 
p.  210  B).  Ninive  wurde  dem  Boden  gleich  gemacht,  seine 
Denkmäler  unter  Schutt  und  Asche  begraben.  Das  Andenken 
der  grofsen  Stadt  war  in  späterer  Zeit  verschollen,  und  als 
Alexander  der  Grofse  331  seinen  entscheidenden  Öieg  bei 
Arbela  und  Gaugamela  erfocht,  war  niemand  da,  der  ihm 
sagen  konnte,  dafs  er  auf  der  Trümmerstätte  des  alten  Ninive 
gekämpft  hatte  (E.  Meyer  I,  1,  S,  577). 

Das  Neubabylonische  Reich  war  nur  von  kurzer  Dauer. 
Ein  Jahr  nach  dem  Sturze  Ninives  starb  Nebupalassar  und 
hinterliefs  das  Reich  seinem  Sohne  Nchi(7Mdne£ar  (605—562), 
welcher  Babylon  befestigte  und  verschönerte,  das  Land  im 
Norden  durch    die    medische  Mauer  schützte,   im   Jahre  586 


42  in.  Die  Babylonier  und  Assyrer. 

Jerusalem  zerstörte  und   die  Juden  in  die  babylonische  Ge- 
fangenschaft führte,  auch  Tyros  573  unterwarf.    Unter  seinen 
drei  Nachfolgern,  seinem  Sohne  Amümarduk  (Evil-Merodach,. 
561 — 560),    dessen    Schwager   Nergalsarusur   (559 — 556)    und 
seinem  Sohne  Läbasimarduh,  der  nur  9  Monate  regierte,  ver- 
fiel das  Reich ;  von  den  Hof leuten  wurde  die  Dynastie  gestürzt 
und  der  nicht  dem  Königsgeschlecht  angehörige  Nahunahid 
(Nabonedos,  555 — 539)  auf  den  Thron  erhoben.    Er  tat  manches 
für  die  Wohlfahrt  des  Landes,  zerfiel   aber  mit  der  Priester- 
schaft, so  dafs  Marduk,   der  Stadtgott  von  Babel,  ihm  seine 
Gnade  entzog  und  die  Herrschaft  dem  Kyros  übertrug,  wie 
eine  für  diesen  von  den  Priestern  verfafste  Inschrift  meldet^ 
Mit  ihm  ging  die  Herrschaft  über  Vorderasien  für  zwei 
Jahrhunderte  an  das  einfach  lebende  und  kräftigp  Gebirgs- 
vollc  der  Perser  über.     Ihr  König,  Kyros  H.  (558 — 529}  aus 
dem  Stamme  der  Achämeniden,  entthronte  550  Astyages,  den 
letzten  König  der  Meder,  machte  546   dem  lydischen  Reiche 
unter  Krösus    ein  Ende    und   vollendete    die   Errichtung  der 
persischen  Weitmonarchie  durch  Eroberung  von  Babylon  im 
Jahre  538.     Um  sich  im  fernen  Westen  eine  treu   ergebene 
Bevölkerung  zu  sichern,  erlaubte  er  den  Juden  aus  der  baby- 
lonischen Gefangenschaft  in  die  Heimat  zurückzukehren  und 
ihren    durch    Nebukadnezar    zerstörten    Tempel    wieder    auf- 
zubauen.    Auch  in  Babylonien  blieben  Sitte  und  Religion  der 
Bevölkerung   unangetastet;    manche    Elemente    der   von    den 
Sumerern  ererbten  Kultur  wurden  von   dem  frischen  Natur- 
volke der  Perser  übernommen,  so  auch  die  Keilschrift,  welche 
in  vereinfachter  Form  der  altpersischen  Sprache  angepafst  und 
zu  offiziellen  Erlassen  verwendet  wurde.     Über  zweihundert 
Jahre    behauptete    sich    das    persische   Weltreich   der  Achä- 
meniden   unter   Kyros    und    seinen    Nachfolgern,    Kambyses, 
Darius,  Xerxes,  Artaxerxes  usw.,  bis   es  331  dem  Anstürme 
des  mazedonischen  Eroberers  Alexander  erlag. 

2.  Quellen  zur  Geschichte  der  babylonisch-assyrischen  Kultur 
und  Religion. 

Während  die  Berichte  der  Griechen  über  Babylonien  und 
das  Perserreich  seit  ihrer  Berührung  mit  diesem  Verhältnis- 


2.  Quellen  zur  Geschichte  der  babylonisch-assyrischen  Kultur.         43 

mäfsig  gute  Nachrichten  enthalten,  war  ihre  Kunde  über  das 
so  plötzlich  zusammengebrochene  assyrische  Weltreich  nur 
unsicher  und  lückenhaft,  da  Herodot  seine  versprochenen 
'Aaaügioi  Xc^ot,  (vgl.  Herod.  I,  106.  184)  nicht  geschrieben  hat, 
und  Ktesias,  der  Leibarzt  des  Artaxerxes  IL  (405 — 359),  durch 
seine  Fabeleien  und  bewufsten  Erdichtungen  den  Grund  ge- 
legt hat  zu  den  phantastischen  Vorstellungen,  welche  man  im 
spätem  Altertum  von  dem  verschollenen  grofsen  Assyrerreich 
hatte.  Man  erzählte  sich  von  der  Gründung  des  Reiches  durch 
Ninus  und  seine  Gattin,  das  Mannweib  Semiramis,  und  von 
dem  Untergange  des  Reiches,  bei  welchem  der  letzte  König, 
der  Weibmann  Sardanapal,  sich  in  seinem  Palaste  mit  seinen 
Weibern  und  Schätzen  verbranni  habe.  In  Wahrheit  hat  es 
nie  eine  solche  Semiramis  noch  einen  Sardanapal  gegeben. 
Erstere  ist  mutmafslich  eine  von  Tauben  erzogene  und  bei 
ihrem  Tode  in  eine  Taube  verwandelte  semitische  Tauben- 
gottheit, vielleicht  eine  Form  der  Ktar,  während  die  Gestalt 
des  Sardanapal  aus  einer  legendenhaften  Erinnerung  an  Assur- 
banipal,  den  Kunst  und  Wissenschaft  liebenden  vorletzten 
König,  und  an  das  tragische  Ende  des  letzten  Königs  Sarakos 
zusammengeschweifst  ist. 

Viel  wertvoller  als  alle  übrigen  Überlieferungen  der  Grie- 
chen sind  uns  die  Nachrichten,  welche  uns  aus  dem  Geschichts- 
werke des  Berossos  erhalten  sind,  der  um  280  a.  C.  Baßu- 
Xovt.axa  in  drei  Büchern  verfafste.  Doch  sind  uns  nur  von 
dem  ersten  Buche,  welches  die  Urzeit  bis  zur  Flut  behandelte, 
hingegen  von  dem  zweiten  und  dritten  Buche  erst  von  den 
Zeiten  des  Tiglathpilesar  IL  an,  ausführlichere  Mitteilungen  bei 
jüdischen  und  christlichen  Schriftstellern  erhalten,  welche  eine 
willkommene  Ergänzung  der  nur  dürftigen  biblischen  Nach- 
richten bieten,  während  von  dem  mittlem  Teile  wenig  melir 
als  eine  Liste  der  Könige  vorliegt. 

So  war  man  in  früherer  Zeit  über  die  Geschichte  Assyriens 
und  Babyloniens  nur  sehr  unvollkommen  unterrichtet,  und 
doch  lag  ein  überreiches  Material  für  dieselbe  vor  in  den  In- 
schriften der  Achämenidenkönige  und  ihrer  semitischen  Vor- 
gänger in  Babylon,  Persepolis,  Susa  und  andern  Städten,  wie 
namentlich    in    der    grofsen    Inschrift,    welche    Darius  L    zu 


44  ni.   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

Bagistäna  an  der  Heerstrafse  von  Susa  nach  Egbatana  hoch  an 
einer  Felswand  in  drei  Sprachen  hatte  einmeifseln  lassen,  um 
der  Nachwelt  seine  Taten  zu  verkünden.  Alles  dies  aber 
wurde  noch  weit  überboten,  als  man  seit  1842  Ausgrabungen 
auf  der  Stätte  des  alten  Ninive  veranstaltete  und  unter  den 
Trümmern  die  gewaltige  Bibliothek  des  Königs  Assurbanipal 
vorfand,  in  welcher  dieser  kunstliebende  Fürst  die  Über- 
lieferungen der  Vorzeit  auf  zahllosen  Täfelchen  und  Zylindern 
aus  Ton  zusammengebracht  hatte.  Aber  diesem  ganzen  reichen 
Material  stand  man  zunächst  verständnislos  gegenüber,  da  es 
in  Keilschrift  abgefafst  war,  dem  von  den  Sumerern  über- 
kommenen und  bis  in  die  Zeiten  der  Perserherrschaft  hinein 
gebräuchlichen  Mittel  für  literarische  Aufzeichnungen.  Das 
Schreibmaterial  bestand  für  jene  Zeit  und  Gegend,  abgesehen 
von  den  grofsen,  in  Stein  gemeifselten  Inschriften,  aus  weichem 
Ton,  in  welchen  man  mit  einem  dreieckigen  Griffel  die  Striche 
eingrub,  welche  dadurch  die  Gestalt  von  kleinen,  gerade  oder 
schräg  stehenden  Keilen  annahmen.  Die  aus  solchen  Strichen 
zusammengesetzten  Zeichen  waren  ursprünglich  wohl,  wie  bei 
den  Ägyptern  und  Chinesen,  verkürzte  Bilder  von  Gegen- 
ständen, welche  sich  schon  früh  zu  einer  Silbenschrift  und  in 
den  Inschriften  der  Achämenidenkönige  zu  einer  Buchstaben- 
schrift fortentwickelt  hatten.  Man  durfte  annehmen,  dafs  von 
den  drei  Sprachen,  in  welchen  diese  ihre  Taten  verkündeten, 
die  eine  das  Altpersische,  also  eine  dem  Sanslo-it  verwandte 
und  im  wesentlichen  aus  dem  Avesta  bekannte  Sprache  war. 
Es  kam  darauf  an,  diese  in  ihrer  fremden  Vermummung  wieder- 
zuerkennen. 

Georg  Grotefend,  ein  deutscher  Gymnasiallehrer,  bemerkte 
1802,  wie  in  den  Inschriften  von  Persepolis  eine  bestimmte 
Zeichengruppe  öfter  wiederkehrte  und  jedesmal  von  einer  zwei- 
mal, nur  mit  verschiedenen  Endungen  gesetzten  Zeichengruppe 
begleitet  war.  Er  nahm  an,  dafs  die  erste  Gruppe  den  Namen 
des  Königs,  die  zweite  und  dritte  den  üblichen  Titel  der 
Perserkönige,  im  Griechischen  ßaatXeuc  ßaatXsov,  enthielt,  wel- 
chem im  Sanskrit  etwa  hshatriyah  ksliatriyänäm  entsprechen 
mochte.  So  gelangte  er  dazu,  die  Lautzeichen  für  Darius, 
Xerxes,   Artaxerxes   und   einige   andere    zu    ermitteln.     Seine 


2.  Quellen  zur  Geschichte  der  babylonisch-assyrischen  Kultur.        45 

Arbeit,  fortgesetzt  und  ergänzt  durch  Burnouf  und  Lassen, 
hatte  das  Ergebnis,  dafs  man  die  erste  der  drei  Sprachen  auf 
den  Inschriften  zu  Persepohs  und  Bagistäna  lesen  und  ver- 
stehen konnte.  Aber  noch  bedurfte  es  langjähriger  An- 
strengungen, ehe  es  gelang,  die  so  gewonnenen  Lautwerte 
auch  zur  Entzifferung  der  beiden  parallelen  Texte  fruchtbar  zu 
machen.  Die  zweite  der  drei  Sprachen,  das  sogenannte  Ela- 
mitische  oder  Susische,  harrt  noch  der  Erklärung;  in  der  dritten 
hingegen,  dem  Assyrischen,  erkannte  man,  dank  den  Be- 
mühungen von  Kawlinson,  Oppert  u.  a.,  eine  semitische,  dem 
Arabischen  und  Hebräischen  aufs  nächste  verwandte  Sprache, 
nur  dafs  sie  in  der  von  den  Sumerern  überkommenen,  für  den 
Lautbestand  des  Semitischen  wenig  geeigneten  Silbenschrift 
geschrieben  war,  welche  nur  Zeichen  für  Vokal,  Vokal  +  Kon- 
sonant und  Konsonant  +  Vokal,  nicht  aber  für  blofse  Kon- 
sonanten hat,  daher  ein  Wort  wie  jpat  durch  pa-at  aus- 
gedrückt werden  mufste.  Durch  diese  Entzifferungen  wurde 
nicht  nur  das  Material  im  Babylonischen  und  Persischen  Reiche, 
sondern  auch  der  ganze  Schatz  der  in  Ninive  ausgegrabenen 
Bibliothek  des  Assurbanipal  dem  Verständnis  erschlossen,  und 
ein  ganz  neues  Licht  sowohl  auf  die  politische  Geschichte 
der  babylonischen  und  assyrischen  Reiche,  wie  auch  auf  die 
in  ihnen  herrschenden  religiösen  und  mythologischen  Vor- 
stellungen geworfen. 

3.  Grundzüg-e  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung. 

Babylonien  und  Assyrien  sind  nur  politisch  verschieden, 
sofern  der  Schwerpunkt  der  Macht,  wie  wir  gesehen  haben, 
ursprünglich  in  Babylonien,  dann  in  Assyrien  und  dann  wieder, 
seit  dem  Falle  Ninives,  im  Neubabylonischen  Reiche  lag;  nach 
Kultur  und  geistigem  Leben  sind  beide  Völker  so  eng  ver- 
wandt, dafs  sie  als  eine  Einheit  betrachtet  werden  können. 
Die  Quellen  unserer  Kenntnis  ihrer  Kultur  und  so  auch  ihrer 
Religion  und  Mythologie  sind,  abgesehen  von  dem  Werke  des 
Berossos,  wesentlich  in  Ninive  zu  finden,  dessen  Herrhchkeit 
mit  einem  Schlage  verschüttet  und  so  bis  auf  unsere  Zeit 
aufbewahrt  wurde,  während  Babylon  noch  bis  in  die  Zeiten 
des  späten  Altertums  bestand,  daher  hier  vieles  verschleppt. 


46  III-  Die  Babylonier  und  Assyrer. 

wurde  und  verloren  ging,  und  auch  die  neuerdings  mit  Eifer 
betriebenen  Ausgrabungen  bis  jetzt  keine  Resultate  ergeben 
^haben,  welche  sich  auch  nur  entfernt  mit  den  Schätzen  des 
alten  Ninive  vergleichen  können.  Wir  werden  uns  daher  für 
unsere  Darstellung  damit  begnügen  dürfen,  ein  Bild  von  den 
Vorstellungen  zu  entwerfen,  wie  sie  im  Assyrischen  und  Neu- 
babylonischen  Reiche  bestanden,  auf  Grund  des  Materials, 
welches  die  Keilschriften,  ergänzt  durch  die  Fragmente  des 
Berossos,  an  die  Hand  geben. 

Bei  den  in  Babylonien  eingewanderten  Semiten  wurde  auf 
den  ursprünglichen  Stamm  der  altsemitischen  Religion  das 
Pfropfreis  der  bei  den  Sumerern  herrschenden  Anschauungen 
gepflanzt,  und  so  hat  sich  ein  stattlicher  Baum  von  Götter- 
mythen, Schöpfungsmythen,  Flutsagen  und  Heldensagen  ent- 
wickelt, welcher  ganz  überwiegend  ursumerisches  Eigentum 
zu  sein  scheint,  so  dafs  die  ursemitische  Grundlage  vielfach 
nicht  mehr  zu  erkennen  ist.  Der  bei  der  Einwanderung  mit- 
gebrachte Kultus  der  Himmelserscheinungen,  der  auf  der  Erde 
hausenden  dämonischen  Mächte  und  des  jedem  Stamm  eigenen 
Schutzgottes  verflossen  mit  verwandten  Vorstellungen  der 
sumerischen  Bevölkerung.  Auch  sie  besafs  einen  Kultus  himm- 
lischer Dämonen,  der  Igigi^  und  solcher,  die  auf  der  Erde  ihr 
"Wesen  treiben,  der  Äniimmki.  Auch  sie  verehrte  die  Himmels- 
erscheinungen,  namentlich  die  sieben  Wandelsterne,  Sonne, 
Mond  und  die  fünf  Planeten,  welchen  man  vielleicht  schon 
sehr  früh  einen  Einflufs  auf  die  Schicksale  der  Menschen  zu- 
schrieb, woraus  sich  in  späterer  Zeit  die  in  Babylonien  eifrig 
betriebene  und  auch  auf  das  Abendland  ihren  Einflufs  er- 
streckende PseudoWissenschaft  der  Astrologie  entwickelte, 
während  die  Schirmgötter  der  einzelnen  Nomadenhorden  nach 
Sefshaftwerden  der  Stämme  vielfach  zu  Lokalgöttern  der  Stadt- 
gemeinden wurden  oder  mit  den  schon  bestehenden  Schutz- 
göttern der  Städte  verschmolzen.  Die  Verfolgung  dieses  Pro- 
zesses im  einzelnen,  soweit  sie  überhaupt  zurzeit  schon  möglich 
sein  mag,  liegt  nicht  in  unserer  Aufgabe.  Wir  müssen  uns 
damit  begnügen,  das  endliche  Resultat  dieser  Entwicklung  in 
seinen  Grundzügen  zu  verzeichnen.  Frühe  Beobachtungen  der 
sieben   Nächte,   welche  jede  der  vier  Mondphasen  einnimmt, 


3.  Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.         47 

und  der  zwölf  Erneuerungen,  welche  der  Mond  im  Laufe  des 
Jahres  erfährt,  führten  zur  Annahme  von  sieben  Dämonen  als 
Feinden  der  göttlichen  Weltordnung  und  zur  Vereinigung  der 
diese  Ordnung  hütenden  grofsen  Götter  in  einer  Zwölfzahl, 
über  welche  hinaus  dann  noch,  entsprechend  einer  früh  in  der 
semitischen  Welt  hervortretenden  Neigung  zum  Monismus,  der 
Hauptgott  des  Landes  und  seiner  Hauptstadt,  also  in  Baby- 
lonien  Marduk,  in  Assyrien  Assur  erhoben  wurde.  Wir  wollen 
versuchen,  die  zwölf  Hauptgötter,  wie  sie  nach  dem  spätem 
assyrischen  Schema  dem  Assur  als  obersten  Gott  des  Landes 
angeschlossen  wurden,  aufzuzählen  und  kurz  zu  charakterisieren. 

An  der  Spitze  des  Systems  stehen  drei  höchste  Gott- 
heiten, Anu  für  den  Himmel,  Bei  für  die  Erde  und  Ea  als 
Beherrscher  der  Tiefe.  An  sie  schliefsen  sich  drei  Gottheiten 
der  himmlischen  und  atmosphärischen  Erscheinungen,  Sin,  der 
Mondgott,  Samas,  der  Sonnengott,  und  Bamäti,  ein  Gott  des 
Gewitters.  Es  folgen  als  drei  Gottheiten  von  kriegerischem 
Charakter  Ninih,  Nergal  und  Marduk,  in  Babylonien  der  höchste, 
in  Assyrien  dem  Assur  untergeordnet,  und  endlich  drei  Götter- 
gestalten, m  welchen  sich  besondere  Seiten  des  menschhchen 
Treibens  widerspiegeln,  Neho,  der  Gott  der  Weisheit,  und  als 
zwei  nahe  verwandte  Personifikationen  des  Geschlechtslebens 
die  Göttinnen  Belit  und  Istar. 

Anu  ist  der  von  den  Sumerern  übernommene  Gott  des 
Himmels,  der  als  König  und  Vater  der  Götter  gefeiert  wird, 
übrigens  aber  im  Kultus  zurücktritt,  wie  er  denn  auch  keine 
eigene,  ihm  heilige  Stadt  besitzt.  Seine  Wohnung  ist  der 
Himmel,,  an  dessen  Nordseite  sein  Thron  sich  befindet.  Dafs 
Jahve  gleichfalls  im  Himmel  thront,  braucht  nicht  aus  dem 
Babylonischen  herübergenommen  zu  sein,  da  derartige  Vor- 
stellungen zu  natürlich  sind,  um  sich  nicht  überall  von  selbst 
zu  ergeben ;  wohl  aber  kann  man  in  dem  Anammelech,  welchem 
nach  2.  Kön.  17,31  gewisse  aus  Assyrien  nach  Samaria  ver- 
pflanzte Stämme  Kindesopfer  brachten,  eine  verdunkelte  Er- 
innerung an  Anu,  den  König  des  Himmels,  finden.  Dem  Anu 
ist  die  Zahl  60,  die  höchste  im  Sexagesimalsystem,  heilig. 

Bei,  eigentlich  der  „Herr"  (sumerisch  En-lil,  „Herr  des 
Windes"),    ist    speziell   der    im  Luftraum  waltende  Herr  der 


48  III-   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

Länder,  der  auf  dem  Himmelsberg  thronende  Herr  der  Erd- 
oberfläche, welche  er  beherrscht,  wie  Anu  den  Himmel.  In 
Babylon  wurde  ■  er  mit  Marduk  identifiziert  und  verdrängte 
allmälilich  dessen  Namen.  Er  gilt  als  Schöpfer  der  Welt  und 
als  Vernichter  der  Menschen  durch  die  grofse  Flut.  Seine 
heihge  Zahl  ist  50.  Seine  Gemahlin  ist  Beltt^  die  „Herrin", 
ein  Name,  welcher  später  auf  die  I§tar  übertragen  wurde. 
Das  Analogen  des  Bei  und  der  Istar  bei  den  kanaanäischen 
Semiten  sind  Bdal  und  'Ästhoreth ,  während  Bei,  wo  dieser 
Name  in  der  Bibel  vorkommt,  den  babylonischen  Hauptgott 
Bel-Marduk  bezeichnet. 

Ea  ist  der  Gott  der  Wassertiefe;  er  beherrscht  die  Ge- 
wässer auf  und  unter  der  Erdoberfläche,  wie  Anu  den  Himmel 
und  Bei  die  Erde,  neben  welchen  er  gleichfalls  als  oberster 
Gott  verehrt  wird.  Der  Hauptort  seines  Kultus  ist  das  in  der 
Mündungsgegend  des  Euphrat  und  Tigris  gelegene  Eridu.  Er 
gilt  als  ein  Gott  der  Weisheit  und  Kunstfertigkeit;  Berossos 
nennt  ihn  ^OdvvY)(;  und  schildert  ihn  als  ein  fischartiges  Wesen, 
unter  dessen  Fischkopf  sich  ein  zweiter  Kopf  befindet  und 
welcher  menschliche  Füfse  und  menschliche  Stimme  besitzt; 
bei  Nacht  weilt  er  im  Wasser,  bei' Tage  steigt  er  aus  ihm 
auf,  um  die  Menschen  in  allen  Wissenschaften  und  Künsten 
zu  unterrichten.  Als  Gemahlin  wird  dem  Ea  die  DamJcina 
beigegeben,  und  der  Sohn  beider  ist  Marduk.  Seine  heilige 
Zahl  ist  40. 

Sin,  der  Mondgott,  gilt  im  System  als  Sohn  des  Bei  und 
als  Vater  des  Samaä  und  der  Istar.  Als  erstem.  Gliede  der 
zweiten  Göttertrias  (Sin,  Samas,  Ramän)  ist  ihm  die  Zahl  30 
heilig.  Er  wird  vorgestellt  als  bärtiger  Mann  oder  als  Stier 
mit  zwei  Hörnern.  In  spezieller  Verbindung  stehen  Sin  und 
Nergal  als  zunehmender  und  abnehmender  Mond.  Beide  sind 
auch  Ursache  des  Fiebers,  und  wenn  der  Mondsüchtige  im 
Neuen  Testament  (Matth.  17,15,  Marc.  9,22)  in  Feuer  und 
Wasser,  d.  h.  in  Fieberhitze  und  Schüttelfrost  geworfen  wird, 
so  mag  darin  eine  Rückerinnerung  an  den  Mondgott  als  Er- 
reger des  Fiebers  liegen.  Die  ihm  heilige  Neumondfeier  wurde 
in  Israel  wie  so  vieles  andere  auf  Jahve  übertragen,  während  die 
Vorstellung  von  der  schädigenden  Wirkung  des  Mondgottes 


3.  Griindztige  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  49 

noch  Psalm  121,6  nachklingt.  Die  nähern  Beziehungen  dieses 
Gottes  zu  kanaanäischen  Bräuchen  und  Vorstellungen  erklären 
sich  daraus,  dafs  die  Handelsstrafse  von  Babylonien  nach  dem 
Westen  über  Haran  führte,  welches  ebenso  wie  Ur  in  Chaldäa 
eine  dem  Mondgott  Sin  geheiligte  Stadt  war. 

i§amas,  der  Sonnengott,  war  wohl  schon  eine  altsemitische 
Gottheit,  welche  nach  der  Einwanderung  in  Sinear  mit  dem 
sumerischen  Uhi  verschmolz  und  besonders  in  Larsa  und 
Sippar  seine  Kultusstätte  hatte.  Öama§  gilt  für  einen  Sohn 
des  Sin,  daher  ihm  die  niedere  Zahl  20  heilig  ist.  Wie  das 
physische  so  spendet  er  auch  das  geistige  Licht  und  ist  daher 
der  besondere  Schutzgott  der  Wahrsager  und  Orakelpriester. 
Ob  es  sich  bei  den  von  Josia  (2.  Kön.  23,11)  aus  dem  Tempel 
von  Jerusalem  entfernten  Darstellungen  von  Wagen  und  Rossen 
der  Sonne  um  einen  aus  Babylonien  eingeführten  Kultus  oder 
um  Reste  des  althebräischen  Polytheismus  handelt,  mag  dahin- 
gestellt bleiben.  Auf  einen  alten  Sonnenkultus  scheint  der 
im  Stamme  Juda,  Naphthali  und  Issaschar  vorkommende  Stadt- 
name Beth-Öemes,  wie  auch  die  Sage  von  Simson  (=  solaris) 
als  dem  nach  herrlichen  Taten  seinen  Feinden  erliegenden 
Sonnenheros  hinzuw-eisen. 

Eamän,  auch  Hadad  genannt,  ist  der  Gott  der  atmo- 
sphärischen Erscheinungen,  des  Wetters  im  allgemeinen  sowie 
besonders  des  Gewitters  und  des  Regens.  Seine  Symbole  sind 
das  Blitzbündel  und  die  Axt.  Als  Gewittergott  sowie  als 
Spender  und  Verweigerer  des  Regens  wird  er  in  seinen  Wir- 
kungen teils  als  wohltätig,  teils  als  verderblich  betrachtet. 
In  der  Bibel  erscheint  er  2.  Kön.  5,18  als  der  syrische  Gott 
Rimmön  in  Damaskus. 

Von  der  kriegerischen  Trias,  die  wir  auf  die  himmlischen 
und  atmosphärischen  Götter  folgen  lassen,  nennen  wir  zu- 
nächst Ninib  (früher  als  Ädar  gelesen),  einen  Sohn  des  Bei 
von  Nippur,  der  dementsprechend  in  Nippur  seinen  Lokalkult 
hatte.  Ursprünglich  war  auch  er  ein  Sonnengott,  und  in 
diesem  Sinne  könnte  seine  Gemahlin  Gula  auf  die  Morgenröte 
gedeutet  werden.  Ein  Ort  Beth- Ninib  bei  Jerusalem  kommt 
in  einem  Tell-el-Amarna-Briefe  vor.  Diese  solare  Bedeutung 
des  Ninib  verblafste  in  dem  Mafse,  in  welchem  er  im  Verlaufe 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    II,  ii.  4 


50  in.   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

als  Gott  des  Planeten  Mars  oder  des  Saturn  betrachtet  wurde, 
wie  er  denn  auch  mit  dem  Orion  in  nähere  Beziehung  gesetzt 
wird.  Hieraus  würde,  vorausgesetzt  dafs  die  Vorstellung  des 
Orion  als  eines  wilden  Jägers  zu  den  Griechen  aus  Babylonien 
gekommen,  wäre,  sich  die  Tatsache  erklären,  dafs  Ninib  bei 
den  Babyloniern  als  gewaltiger  Kämpfer,  als^  Gott  des  Krieges 
und  der  Jagd  gilt,  während  seine  Vorstellung  als  einer  gütigen, 
heilbringenden  Gottheit  sich  aus  seiner  ursprünglichen  Be- 
deutung als  Sonnengott  entwickelt  haben  könnte. 

Gleichfalls  m'sprünglich  ein  Sonnengott  ist  Nergal,  nur 
dafs  er  noch  ausschliefslicher  die  verderbUche  Wirkung  der 
Sonnenglut  personifiziert,  daher  auch  als  Ursache  der  Fieber- 
glut,  der  Pest  und  anderer  Seuchen  angesehen  wird  und  neben 
dem  persischen  Angramainyu  Züge  zur  Ausbildung  der  Vor- 
stellung von  dem  Satan  und  dem  Höllenfeuer  beigetragen 
haben  mag.  Auch  er  ist,  wie  Ninib,  ein  Gott  der  Jagd  und 
des  Krieges,  und  Beherrscher  des  Totenreiches,  wo  ihm 
EresMgal  {=  Allat)  als  Gemahlin  beigegeben  wird.  Sein  Planet 
war  ursprünglich  Saturn,  später,  als  dieser  dem  Ninib  bei- 
gelegt wurde,  der  Mars.  Die  Hauptstätte  seines  Kultus  war 
die  Stadt  Kutha  von  ungewisser  Lage,  und  die  von  dort  nach 
Samaria  verpflanzten  Bewohner  brachten  ihn  in  die  neue  Heimat 
mit,  wie  2.  Kön.  17,30  berichtet. 

Marchik,  der  Lokalgott  von  Babylon,  wird  im  babylonischen 
Pantheon  die  Stelle  über  den  zwölf  Göttern  eingenommen 
haben,  welche  er  bei  dem  assyrischen  Schema,  dem  wir  folgen, 
an  Assur  abtreten,  und  statt  derer  er  sich  mit  einer  unter- 
geordneten Stellung  begnügen  mufste,  vergleichbar  einem 
depossedierten  babylonischen  König,  dem  noch  eine  Ehren- 
stellung unter  den  Grofsen  des  Assyrischen  Reiches  belassen 
wurde.  Ursprünglich  scheint  er  ein  Gott  der  Morgensonne 
und  Frühjahrssonne  gewesen  zu  sein,  daher  sein  Hauptfest  in 
die  Frühjahrszeit  fällt.  Er  ist  ein  Sohn  des  Ea  und  der 
Damkina,  und  der  Vater  des  Nebo;  als  Gemahlin  wurde  ihm 
später  die  Istar  beigegeben.  Ihn  als  Hauptgott  der  Haupt- 
stadt des  Reiches  identifizierte  man  mit  Bei  als  Bel-Marduk 
und  legte  ihm  die  Bekämpfung  der  Tiämat  sowie  die  Welt- 
schöpfung bei.     In  Beschwörungstexten   erscheint  er  als  ein 


3.   Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  5X 

weiser  und  barmherziger,  heilbringender  Gott,  welcher  Tote 
wieder  lebendig  macht.  Ihm  ist  der  Planet  Jupiter  und  die 
Zahl  11  zu  eigen.  Sein  Tempel  hiefs  Esagil  („hohes  Haus"), 
von  dessen  Turm  Eiemenanld  öfter  der  Ausdruck  vorkommt, 
dafs  er  „mit  seiner  Spitze  bis  zum  Himmel  reiche",  und  an 
den  mutmafslich  die  Sage  vom  Turmbau  zu  Babel  1.  Mose  11 
anknüpft.  In  der  Bibel  erscheint  Marduk  als  Merodach,  Jerem. 
50,2,  wo  er  irrtümlich  von  Bei  getrennt  wird,  wenn  nicht  ein 
paraUclisnms  memhroriim  vorliegt. 

Neho  (vgl.  hebräisch  näbf)  gilt  als  Sohn  des  Marduk  und 
ist,  wie  dieser  von  Babylon,  der  Lokalgott  der  Schwesterstadt 
Borsippa.  Als  seine  Gemahlin  wird  Tasmct,  zuweilen  auch 
Nana  bezeichnet.  Ihm  ist  der  Planet  Merkur  heilig,  daher  die 
Griechen  ihn  als  Hermes,  die  Römer  als  Mercurius  auffassen. 
Er  ist  der  Gott  und  Schutzpatron  der  Schreibkunst;  er  heilst 
der  „Schreiber  des  Alls",  der  „Träger  der  Schicksalstafeln 
der  Götter",  der  Tafeln,  in  welchen  alles,  was  geschehen  wird, 
vorausbestimmt  ist.  Aber  auch  die  Werke  jedes  Einzelnen 
trägt  er  in  die  „Tafeln  der  guten  Werke"  oder  auch  in  die 
„Tafeln  der  Sünde"  ein,  deren  Vernichtung  in  Gebeten  öfter 
erwähnt  wird.  In  der  Bibel  erscheint  er  Jes.  46,1  und  in 
Eigennamen  wie  Nebukadnezar,  babylonisch  Nahü-hidurri- 
usiir  („Nebo  meine  Grenze  möge  schützen"). 

JBclü,  „die  Herrin",  ursprünglich  das  weibliche  Komple- 
ment zu  Bei,  sumerisch  En-lil  („Herr  des  Windes"),  daher 
auch  sie  bei  den  Sumerern  den  Namen  Nin-lil  („Herrin  des 
Windes")  führt.  In  der  spätem  Zeit  verschmolz  sie  mit  der 
Istar,  und  ihr  Name  Belit,  „Herrin",  wurde  auf  diese  über- 
tragen, während  die  Benennung  dieser  assyrischen  und  baby- 
lonischen Aphrodite  als  MiiXiTTa  (Herod.  I,  131.  199)  nicht, 
wie  man  früher  annahm,  aus  Bellt  zu  erklären  ist,  sondern 
die  Istar  als  „Göttin  der  Geburtshilfe"  (entsprechend  dem 
hebräischen  mejalledeth)  zu  bedeuten  scheint. 

Istar,  deren  Name  noch  unerklärt,   aber  wahrscheinlich 

semitischen  Ursprungs  ist,   hatte  als  Hauptort  ihres  Kultus 

Uruk  und  Akkad  in  Babylonien,  Ninive  und  Arbela  in  Assyrien. 

Sie  gilt  für  eine  Tochter  des  Himmelsgottes  Anu  und  wurde 

in  späterer  Zeit  dem  Hauptgotte,  in  Babylonien  dem  Marduk, 

4* 


52  It[-   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

in  Assyrien  dem  Assur,  als  Gemahlin  beigegeben.  Ihr  ist  der 
Planet  Venus  heilig.  Sie  ist  einerseits  Göttin  des  Geschlechts- 
lebens und  der  Geburtshilfe,  andererseits  wird  sie  im  Verlaufe, 
namentlich  in  Assyrien,  zur  Kriegsgötti».  Ihr  Charakter  als 
Göttin  der  Zeugung  tritt  besonders  in  dem  unten  zu  be- 
sprechenden Mythus  von  der  Höllenfahrt  der  Istar  hervor, 
sofern  während  ihrer  Gefangenschaft  in  der  Unterwelt  alles 
Geschlechtsleben  auf  der  Erde  aufhört.  Als  Göttin  der  sinn- 
lichen Liebe  wird  sie  ihrem  Liebhaber  oft  verderblich,  wie 
dem  schönen  Jüngling  Thammüs  (vgl.  Ezech.  8,14),  der  die 
in  der  Gluthitze  des  Hochsommers  hinwelkende  Natur  zu 
personifizieren  scheint  und  zu  dem  auch  von  den  Griechen 
übernommenen  Mythus  von  Venus  und  Adonis  Anlafs  gegeben 
hat.  Daneben  erscheint  Istar  als  Kriegsgöttiii  und  wird  als 
solche  mit  Köcher,  Bogen  und  Schwert  bewaffnet  dargestellt. 
Endlich  wird  sie  auch  in  den  ihr  geweihten  Hymnen  an- 
gerufen als  die  barmherzige  Helferin,  welche  von  Krankheit 
und  Sündenschuld  befreit.  In  Kanaan  erscheint  ihr  Kult  als 
der  der  ^Asthoreth,  wobei  fraglich  bleibt,  ob  derselbe  ursprüng- 
lich semitisch  oder  aus  Babylonien  in  späterer  Zeit  entlehnt 
ist.  Sie  ist  unter  der  Jerem.  44,17 — 19  erwähnten  „Königin 
des  Himmels"  zu  verstehen;  ihr  Name  wie  auch  einzelne  Züge 
ihres  Charakters  liegen  der  jüdischen  Legende  von  der  Esther 
zugrunde,  wie  es  wohl  auch  kaum  bezweifelt  werden  kann, 
dafs  der  aus  dem  Griechischen  nicht  erklärbare  Name  !Ä.9poStT7j 
der  dialektisch  veränderte  und  volkstümlich  an  dcpgÖQ,  Schaum, 
angelehnte  Name  'ÄstJwreth  ist.  Ein  Vergleich  der  wüsten 
asiatischen  Göttin,  aus  deren  mit  den  Händen  geprefsten 
Brüsten  Milch  spritzt,  mit  der  liebreizenden  Gestalt  der  Aphro- 
dite, von  deren  az'/pza.  '^'  IjjiepcsvTa  xal  6'[JL[j.aTa  [JLap[j.aipovTa 
schon  Homer  berichtet,  ist  ein  deutliches  Beispiel  für  die  Art, 
wie  die  Griechen  orientalische  Vorstellungen  in  Gestalten  von 
idealer  Schönheit  umzuwandeln  wufsten. 


Wenn  wir  schon  in  den  babylonisch- assyrischen  Vor- 
stellungen von  den  Göttern  einzelnen  Zügen  begegneten,  welche 
in  umgewandelter  Form  auf  die  palästinensischen  Gottes- 
vorstellungen von  Einflufs  gewesen  sind,  so  ist  dies  in  noch 


3.   Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  53 

viel  höherem  Grade  der  Fall  bei  den  Mythen  und  Sagen  von 
der  Weltentstehung  und  der  Urzeit  des  Menschengeschlechts, 
indem  die  biblischen  Berichte  von  der  Weltschöpfung,  dem 
Paradies,  den  Urvätern  von  Adam  bis  Noah,  und  namentlich 
der  von  der  Sintflut  mehr  oder  weniger  unter  dem  Einflüsse 
der  entsprechenden  babylonischen  Überlieferungen  stehen. 
Aber  wie  es  bei  den  Griechen  der  ihnen  mehr  als  irgend- 
einem Volke  eigene  ästhetische  Sinn  war,  welcher  die 
rohen  asiatischen  Vorstellungen  zu  Gebilden  von  höchster 
menschlicher  Schönheit  umwafidelte,  wie  aus  der  asiatischen 
Asthoreth  ihre  Aphrodite  sich  herausbildete,  so  war  es  hin- 
wiederum bei  den  alten  Hebräern  das  ihnen  mehr  als  irgend- 
einem Volke  des  Altertums  innewohnende  moralische  Ge- 
fühl für  den  Unterschied  des  Guten  und  Bösen,  durch  welchen 
die  aus  Babylonien  übernommenen  Sagenstoffe  auf  biblischem 
Gebiet  eine  unvergleichlich  edlere  Gestalt  gewonnen  haben. 
Nicht  als  wenn  das  Volk  der  Hebräer  moralisch  höher  ge- 
standen hätte  als  irgendein  anderes;  auch  das  Alte  Testa- 
ment berichtet  in  reichem  Mafse  von  Greueltaten,  Lastern  und 
Schanden  aus  der  Vorzeit  des  eigenen  Volkes;  aber  eben  jener 
moralische  Sinn  liefs  das  Verwerfliche  solcher  Handlungen 
deutlicher  empfinden,  wodurch  sie  sich  von  der  ethischen 
Höhe,  in  welcher  die  ganze  Darstellung  verläuft,  nur  um  so 
greller  abheben. 

Über  die  Wege,  auf  welchen  die  babylonischen  Sagen- 
stoffa  zu  den  Hebräern  gelangt  sind,  kann  wohl  kaum  noch 
ein  Zweifel  bestehen,  nachdem  der  1888  gemachte  Fund  von 
Tell-el-Amarna,  von  dem  noch  weiter  unten  die  Rede  sein 
wird,  eine  Anzahl  Briefe  zutage  gefördert  hat,  welche  etwa 
um  1400  V.  Chr.,  vor  der  Einwanderung  der  Hebräer,  aus  dem 
damals  unter  ägyptischer  Oberhoheit  stehenden  Palästina  von 
palästinensischen  Statthaltern  an  die  Könige  Amenhotep  III. 
und  Amenhotep  IV.  gerichtet  sind.  Diese  Briefe  nämlich  sind 
nicht  etwa  in  ägyptischer  oder  in  kanaanäischer,  sondern  in 
babylonischer  Sprache  verfafst  und  in  Keilschrift  geschrieben, 
und  beweisen,  was  auch  aus  andern  Gründen  hervorgeht,  dafs 
schon  damals  die  babylonische,  in  Keilschrift  geschriebene 
Sprache    für    das    westliche    Asien    bis    nach    Ägypten    hin 


54  in.   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

mindestens  für  den  diplomatischen  Verkehr  allgemein  in  Ge- 
brauch war.  In  Palästina,  welches  schon  damals  vor  der 
Invasion  der  Hebräer  von  semitischen  Stämmen  bewohnt  war, 
mufste  natürlich  die  babylonische  Sprache  und  Schrift  schul- 
mäfsig  erlernt  werden,  und  hierzu  bediente  man  sich  ohne 
Zweifel  babylonischer  Texte,  durch  welche  jene  Sagenstoffe 
in  Palästina  sich  einbürgerten  und  weiterliin  durch  die  ein- 
dringenden Hebräer  von  den  umwohnenden,  ihnen  nahe  ver- 
wandten semitischen  Stämmen  übernommen  wurden. 

So  zeigt  schon  der  hebräische  Schöpfungsmythus  eine 
unverkennbare  Abhängigkeit  von  den  entsprechenden  baby- 
lonischen Vorstellungen.  Wie  die  ersten  Verse  der  Bibel  be- 
richten, war  nach  Schöpfung  des  Himmels  und  der  Erde  die 
letztere  in  einem  chaotischen  Zustande,  welcher  als  die  Tehom^ 
über  welcher  Finsternis  lagert,  als  die  Wasser,  über  welchen 
der  Geist  Gottes  brütet,  geschildert  wird.  Diese  Tehom,  diese 
Wasser,  zerteilt  Gott  und  weist  der  einen  Hälfte  jenseits,  der 
andern  diesseits  der  Himmeisfeste  ihre  Stelle  an.  Nach  andern 
Bibelstellen  (Psalm  89,11,  Jes.  51,9—10,  Hieb  2G,12— 13,  Psalm 
74,13 — 14)  bekämpft  Gott,  wie  es  scheint,  bei  der  Welt- 
schöpfung ein  Ungetüm,  welches  bald  Rahab,  Leviathan,  die 
Schlange,  der  Drache,  das  Meer,  bald,  wie  in  unserm  Schöpfungs- 
mythus, die  Tehom  heifst  (Jes.  51,10),  und  so  scheint  auch 
in  1.  Mos.  1,2  die  verdunkelte  Erinnerung  an  einen  Kampf 
vorzuliegen,  in  welchem  Gott  die  Tehom  überwindet  und  zer- 
teilt. Diesem  hebräischen  Schöpfungsmythus  entspricht  der 
babylonische,  nach  welchem,  wie  Berossos  erzählt,  in  dem 
chaotischen  Urzustände  nur  Finsternis  und  Wasser,  erfüllt 
von  allerlei  phantastischen  Wesen,  bestanden  habe;  über  diese 
alle  habe  ein  Weib  mit  Namen  Thamte  geherrscht;  dann  sei 
Bei  gekommen,  habe  das  Weib  gespalten,  und  aus  den  beiden 
Hälften  Himmel  und  Erde  gemacht;  hierauf  habe  er  einem  der 
andern  Götter  den  Kopf  abschlagen  lassen,  sein  Blut  mit  Erde 
gemischt  und  daraus  den  Menschen  gebildet.  Hiermit  im 
wesentlichen  übereinstimmend  erzählt  ein  fragmentarischer 
Keilschrifttext,  wie  zu  Anfang  als  Urmutter  der  Wesen  die 
Tihamat  bestanden,  sich  gegen  die  aus  ihr  hervorgegangenen 
höhern  Götter   empört  habe  und  von  Marduk  (Bei)  bekämpft 


3.  Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.         55 

worden  sei.    Er  tötete  sie,  spaltete  ihren  Leichnam  und  machte 
aus  der  einen  Hälfte  den  Himmel: 

,,Er  zerschlug  sie  ...  in  zwei  Teile, 

Stellte  ihre  Hälfte  auf,  machte  sie  zur  Decke,  dem  Himmel, 

Schob  einen  Riegel  vor,  stellte  Wächter  hin, 

Und  befahl  ihnen,  ihre   Wasser  nicht  hinauszulassen." 

Weiter  schafft  Marduk  die  himmlischen  Gestirne,  Sonne 
Mond  und  Planeten,  als  Standörter  für  die  grofsen  Götter, 
ähnlich  wie  am  vierten  Schöpfungstage  des  biblischen  Be- 
richts Sonne  und  Mond  als  Regenten  des  Tages  und  der  Nacht 
geschaffen  werden,  worin  ihre  ursprüngliche  Bedeutung  als  selb- 
ständig regierende  Götterwesen  noch  dunkel  durchschimmert. 
Die  Schöpfung  des  Menschen  scheint  der  sehr  lückenhafte 
Keilschrifttext,  wie  aus  einem  später  aufgefundenen  Fragmente 
sich  ergibt,  ganz  ähnlich  wie  Berossos  geschildert  zu  haben. 
Ein  Vergleich  der  babylonischen  Vorstellung,  nach  welchem 
einer  der  Götter  enthauptet  wird,  um  aus  seinem  mit  Erde 
gemischten  Blute  den  Menschen  zu  bilden,  mit  der  biblischen 
Erzählung,  wie  Gott  den  Menschen  aus  Erde  schafft  und  ihm 
den  göttlichen  Lebensodem  einhaucht,  ist  ein  recht  deutliches 
Beispiel  dafür,  in  welchem  Grade  die  rohen  babylonischen 
Vorstellungen  unter  den  Händen  der  Hebräer  sich  veredelt 
haben. 

Weniger  ausgiebig  ist  der  Vergleich  der  biblischen  Er- 
zählung vom  Paradies  mit  dem  babylonischen  Mythus  von 
Adapa  und  dem  Südwinde.  Adapa,  wie  es  scheint,  der 
erste  Mensch,  ein  Sohn  des  Ea,  fängt  für  seinen  Vater  auf 
dem  Meer  Fische,  wobei  der  Südwind  sein  Fahrzeug  zum 
Scheitern  bringt.  Erzürnt  darüber  zerbricht  Adapa  dem  Süd- 
wind die  Flügel,  so  dafs  dieser  sieben  Tage  nicht  wehen  kann. 
Für  diese  Freveltat  wird  von  Anu,  dem  obersten  der  Götter, 
Adapa  in  den  Himmel  beschieden,  um  sich  zu  verantworten. 
Sein  Vater  Ea  warnt  ihn,  von  der  Speise  und  dem  Trank  zu 
geniefsen,  die  man  ihm  dort  vorsetzen  werde,  da  es  Speise 
und  Trank  des  Todes  seien  (vgl.  1.  Mos.  2,17.  3,3).  Adapa 
kommt  vor  Anu,  dieser  aber  setzt  ihm  Speise  und  Trank  der 
Unsterblichkeit  vor  (vgl.  1.  Mos.  3,22).     Adapa  weigert  sich, 


56  III-   Diö  Babylonier  und  Assyrer. 

davon  zu  geniefsen,  geht  dadurch  der  Unsterbhchkeit  ver- 
lustig und  wird  von  Anu  auf  die  Erde  zurückgeschickt.  Hier 
finden  sich  einige  schwache  Anklänge,  aber  wenn  man,  um 
die  Parallele  zu  verstärken,  zu  der  Vermutung  greift,  das 
biblische  Paradies  habe  ursprünglich  gar  nicht  auf  der  Erde, 
sondern  im  Himmel  gelegen,  so  ist  dies  ein  Gedanke,  welcher 
nach  dem  ganzen  Verlauf  der  Erzählung  schon  dem  ersten 
Erzähler  durchaus  ferngelegen  haben  mufs,  Dafs  man  in 
späterer  Zeit  den  Aufenthalt  der  Seligen  gelegentlich  als  das 
Paradies  bezeichnete  (Ev.  Luc.  23,43),  kann  hierbei  nicht  in 
Betracht  kommen.  Auch  ist  es  bisher  nicht  gelungen,  für  die 
Erzählung  vom  Sündenfall  eine  babylonische  Parallele  bei- 
zubringen. Zwar  zeigt  eine  vielbesprochene  Abbildung  einen 
Baum,  auf  der  einen  Seite  einen  Mann,  auf  der  andern  ein 
Weib,  und  hinter  dem  Weib  eine  Schlange,  die  sich  empor- 
ringelt. Aber  da  das  Bild  ohne  Inschrift  ist,  so  ist  die  Be- 
deutung sehr  fraglich  und  kann  möglicherweise  eine  ganz 
andere  sein.  Liefse  sich  schon  für  die  Zeit  des  Jahvisten  die 
Möglichkeit  eines  iranischen  Einflusses  nachweisen,  so  würde 
die  Erzählung,  wie  sie  aus  alter  Tradition  im  Bundehesch 
cap.  15  vorliegt,  wo  Mashia  und  Mashiana  sich  dadurch  ver- 
sündigen, dafs  sie  den  Angra  Mainyu  als  Schöpfer  verehren, 
Fleisch  essen  und  sich  begatten,  eine  frappante  Parallele  zum 
biblischen  Sündenfallmythus  bieten.  Denn  dafs  dieser  eine 
sehr  dezent  verhüllte  Darstellung  des  ersten  Erwachens  des 
Geschlechtstriebes  ist  (1.  Mos.  2,25.  3,11),  bedarf  wohl  keiner 
weitern  Ausführung. 

Einleuchtender  ist  die  Verwandtschaft  der  biblischen  Er- 
zählung von  den  zehn  oder  acht  Urvätern  von  Adam  bis 
Noah  mit  den  zehn  Urkönigen,  welche  nach  Berossos  von 
der  Weltschöpfung  bis  zur  Sintflut  regieren.  In  der  Bibel 
1.  Mos.  4  und  5  haben  wir  zwei  Variationen  desselben  Mythus, 
vielfach  auch  in  den  Namen  übereinstimmend,  nur  dafs  der 
Jahvist  acht,  der  Priesterkodex*  zehn  Urväter  von  Adam  bis 
Noah  aufzählt  nach  folgendem  Schema: 

*  Dafs  die  historiscben  Bücher  der  Bibel  der  Hauptsache  nach  aus 
vier  Quellen,  dem  Jahvisten,  Elohisten,  Deuteronomiker  und  dem  Priester- 
kodex zusammengearbeitet  sind,  wird  später  zu  besprechen  sein. 


3.   Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  57 


Priesterkodex: 

Jahvist 

Adam 

Adam 

Seth 

— 

Enos 

— 

Kenan 

Kain 

Mahalalel 

Henoch 

Jared 

Irad 

Henoch 

Mehujael 

Methusalah 

Methusael 

Lamech 

Lamech 

Noah 

Noah. 

Diesen  zehn  Urvätern  entsprechen  in  der  von  Berossos  mit- 
geteilten babylonischen  Überlieferung  zehn  Urkönige,  welche 
einen  noch  viel  längern  Zeitraum  als  die  langlebenden  Ur- 
väter der  biblischen  Legende,  nämlich  432000  Jahre,  aus- 
füllen, und  deren  Namen  mehrfach  das  babylonische  Analogon 
zu  den  biblischen  Namen  zeigen,  wie  denn  auch  dem  von  Gott 
entrückten  Henoch  der  in  der  babylonischen  Tradition  von 
dem  Sonnengott  Öama§  über  die  himmlischen  Geheimnisse 
belehrte  Evedoranchos  (Enmeduratiki)  entspricht. 

Die  Annahme,  dafs  die  bisher  herangezogenen  biblischen 
Mythen  von  der  Schöpfung,  dem  Paradies  und  den  zehn  Ur- 
vätern auf  babylonischen  Einflufs  zurückgehen,  findet  eine 
wesentliche  Stütze  durch  eine  vierte  Parallele,  die  Sintflut - 
sage,  bei  welcher  die  Abhängigkeit  der  biblischen  Berichte 
(1.  Mos.  6 — 9)  von  einer  babylonischen  Tradition  aufser  allem 
Zweifel  steht.  In  Palästina  mit  seinen  hochgelegenen  Land- 
strichen und  der  schmalen  Wasserrinne  des  Jordan  konnten 
Überschwemmungen,  welche  in  der  vergröfsernden  Sage  als 
die  Vernichtung  aller  Menschen  auf  der  Erde  durch  eine  grofse 
Flut  fortlebten,  unmöglich  entstehen,  sondern  nur  in  Ländern, 
welche,  wie  Ägypten  und  Babylonien,  grofsen  Überschwem- 
mungen ausgesetzt  sind.  Dafs  aber  die  hebräische  Flutsage 
nicht  aus  Ägypten,  sondern  aus  Babylonien  stammt,  ergibt 
sich  daraus,  dafs  gerade  die  babylonische  Flutsage  bis  in  viele 
Einzelheiten  hinein  mit  der  hebräischen  übereinstimmt  und 
dabei  weit  älter  ist  als  diese. 


58  ni.  Die  Babylonier  und  Assyrer. 

Schon  vor  der  Entzifferung  der  Keilschriften  kannte  man 
den  Bericht  des  babylonischen  Priesters  Berossos  (280  a.  C.) 
und  war  geneigt,  ihn  von  der  biblischen  Erzählung  abhängig 
sein  zu  lassen.  Nach  Berossos  beschliefsen  die  Götter,  und 
namentlich  Bei,  die  sündigen  Menschen  durch  eine  Flut  zu 
vernichten.  Da  erscheint  Kronos  (d.  i.  Ea)  dem  frommen 
Xisuthros  (babylon.  Chasis-Ätra),  sagt  ihm  die  Katastrophe 
voraus  und  befiehlt  ihm,  ein  grofses  Schiff,  5  Stadien  (=  925  m) 
lang  und  2  Stadien  (=370m)  breit,  zu  bauen,  um  in  dem- 
selben sich  selbst,  seine  Familie  und  Freunde,  allerlei  vier- 
füfsige  und  geflügelte  Tiere,  sowie  Speise  und  Trank  unter- 
zubringen. Xisuthros  gehorcht  dem  Befehl;  die  grofse  Flut 
bricht  herein,  hört  bald  darauf  (su'ä-soc)  auf,  und  Xisuthros 
sendet  dreimal  hinter  einander  Vögel  aus,  um  zu  erkunden, 
ob  die  Wasser  sich  verlaufen  haben;  das  erstemal  kommen 
sie  zurück,  das  zweitemal  kommen  sie  zurück  mit  Schlamm 
an  den  Füfsen,  das  drittemal  kehren  sie  nicht  wieder.  Xisu- 
thros verläfst  mit  Weib,  Tochter  und  dem  Steuermann  die 
auf  einem  Berge  aufgelaufene  Arche,  verehrt  die  Erde,  opfert 
den  Göttern  und  wird  mit  Gattin,  Tochter  und  Steuermann 
um  seiner  Frömmigkeit  willen  in  den  Himmel  versetzt.  Die 
übrigen  verlassen  die  Arche,  finden  den  Xisuthros  nicht  mehr, 
werden  aber  durch  eine  himmlische  Stimme  belehrt,  dafs  sie 
sich  in  Armenien  befinden,  und  ermahnt,  nach  Babylonien 
zurückzukehren  und  fortan  ein  frommes  Leben  zu  führen. 

Dafs  dieser  Bericht  des  Berossos-  auf  altbabylonischen 
und  nicht  auf  biblischen  Überlieferungen  beruht,  ergab  sich, 
als  man  in  der  Bibliothek  des  Assurbanipal  das  trümmerhafte 
Gilgames-Epos  auffand,  auf  dessen  XL  Tafel  Chasis-atra 
(Xisuthros),  der  hier  den  Namen  JJtnapistim  führt,  seine  Ket- 
tung aus  der  grofsen  Flut  in  naher  Übereinstimmung  mit 
Berossos  erzählt.  Für  das  hohe  Alter  der  Flutsage  aber  spricht 
ein  Keilscliriftfragment  aus  dem  21.  Jahrhundert  a.  C,  welches 
sich  auf  dieselbe  bezieht  und  schon  den  Namen  Chasis-atra 
enthält.  Auch  nach  dem  Bericht  im  Gilgame§-Epos  beschliefst 
Bei,  die  Menschen  von  der  Erde  zu  vertilgen;  aber  Ea  offen- 
bart dem  Utnapistim  durch  einen  Traum  das  Bevorstehende 
und  ermahnt  ihn,  zu  seiner  Kettung  ein  Schiff  zu  bauen :  „Du 


3.  Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  59 

Mensch  aus  Öürippak,  zimmere  ein  Haus,  baue  ein  Schiß*! 
Lafs  fahren  Keichtum,  suche  das  Leben!  Hasse  Besitz  und 
erhalte  das  Leben.  Bring'  hinauf  Lebenssamen  aller  Art  in 
das  Schiff  hinein.  Das  Schiff,  das  du  bauen  sollst,  seine  Mafse 
sollen  gemessen  sein."  Utnapistim  nimmt  die  Weisung  ehr- 
furchtsvoll entgegen,  entwirft  den  Plan  des  Schiffes  und  läfst 
ihn  durch  Arbeiter  ausführen  unter  dem  Vorgeben,  damit  zum 
Weltmeere  hinabfahren  zu  wollen.  Wie  in  dem  biblischen 
Berichte  baut  er  Zellen  in  das  Schiff  hinein  und  verklebt  die 
Fugen  mit  Erdpech  {Jcu-up-ri,  dasselbe  Wort  wie  Jcopher 
1.  Mos.  6,14).  „Im  Monat  des  grofsen  Samas  war  das  Schiff 
vollendet...  Alles,  was  ich  hatte,  lud  ich  darauf...  Alles, 
was  ich  an  Lebenssamen  aller  Art  hatte,  lud  ich  darauf.  Ich 
brachte  hinauf  zum  Schiff  meine  Familie  und  meine  Angehörigen 
insgesamt.  Vieh  des  Feldes,  Getier  des  Feldes,  die  Hand- 
werkersöhne insgesamt  brachte  ich  hinauf."  Vorzeichen  ver- 
künden das  Herannahen  des  Unheils;  Utnapistim  geht  in  das 
Schiff  und  verschliefst  die  Tür.  „Sobald  der  Morgen  auf- 
leuchtete, stieg  vom  Fundament  des  Himmels  eine  schwarze 
Wolke  herauf.  Hadad  tost  darin,  und  Nabu  und  Öarru  gehen 
voran;  es  gehen  die  Herolde  über  Berg  und  Land  . . .  Die 
Anunnaki  erhoben  die  Fackeln,  machen  das  Land  mit  ihrem 
Glänze  erglühen.  Hadad's  Ungestüm  kommt  zum  Himmel 
hin ,  verwandelt,  alles  Helle  in  Finsternis . . .  Nicht  sieht  ein 
Bruder  seinen  Bruder,  nicht  werden  erkannt  die  Menschen 
vom  Himmel  her.     Die  Götter  fürchteten   die   Sturmflut  und 

wichen  zurück ,   stiegen   empor  zum   Himmel   des  Anu 

Sechs  Tage  und  Nächte  geht  dahin  der  Wind,  die  Sturmflut, 
der  Orkan  fegt  das  Land  nieder.  Wie  der  siebente  Tag  heran- 
kommt, wird  der  Orkan,  die  Sturmflut,  der  Schlachtsturm 
niedergeschlagen.  Es  ward  ruhig  das  Meer  und  der  Unheils- 
sturm ward  still,  die  Sturmflut  hörte  auf.  Da  ich  den  Tag 
schaute  . . .  war  die  ganze  Menschheit  zu  Schlammerde  ge- 
worden . . .  Ich  schaute  hin  auf  die  Räume  im  Bereiche  des 
Meeres;  nach  zwölf  Doppelstunden  stieg  eine  Insel  auf.  An 
den  Nissir  war  das  Schiff  hinangekommen;  der  Berg  Nissir 
fafste  das  Schiff  und  liefs  es  nicht  schwanken  . . .  Als  der 
siebente  Tag  herankam,  liefs  ich  eine  Taube  los.    Es  ging  die 


60  lil-   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

Taube  fort  und  kam  zurück;  weil  kein  Standort  da  ist,  kehrt 
sie  um.  Dann  liefs  ich  eine  Schwalbe  los ;  es  ging  die  Schwalbe 
fort  und  kam  zurück;  weil  kein  Standort  da  ist,  kehrt  sie  um. 
Dann  liefs  ich  einen  Raben  los;  es  ging  der  Rabe  los  und 
sah  das  Schwinden  des  Wassers,  afs,  krächzte,  aber  kehrte 
nicht  um."  Utnapistim  tritt  ins  Freie  und  bringt  auf  dem 
Gipfel  des  Berges  ein  Opfer  dar.  „Die  Götter  rochen  den  Duft, 
die  Götter  rochen  den  angenehmen  Duft,  die  Götter  sammelten 
sich  wie  Fliegen  über  dem  Opferer . . .  Aber  Bei ,  sobald  er 
herankam,  sah  er  das  Schilf,  und  es  ergrimmte  Bei,  ward  mit 
Zorn  erfüllt  über  die  Götter  und  sprach:  Ist  da  irgendwer, 
ein  Lebewesen,  entkommen?  Kein  Mensch  soll  im  Strafgericht 
leben  bleiben."  Ninib  tritt  vor  und  erklärt,  dafs  Ea  der  War- 
ner gewesen  sei.  Dieser  empfiehlt  dem  Bei,  die  Menschen 
künftig  nicht  mehr  durch  eine  Sturmflut  zu  vernichten,  son- 
dern sie  auf  andere  Weise,  durch  Löwen,  Hungersnot  und 
Pest  für  ihre  Sünden  zu  strafen.  Ea  fügt  zu  seiner  Recht- 
fertigung hinzu :  „Ich  habe  nicht  ein  Geheimnis  der  Götter  er- 
öff'net;  den  ^^ra-c/ms^'s  (wörtlich :  den  „sehr  Weisen"),  Traum- 
bilder liefs  ich  ihn  schauen,  und  so  vernahm  er  das  Geheimnis 
der  Götter."  —  Der  Erzähler  fährt  fort:  „Da  ging  Bei  in  das 
Schiff  hinein,  ergriff  meine  Hände  und  führte  mich  hinauf, 
führte  mein  Weib  hinauf  und  liefs  sie  niederknien  an  meiner 
Seite,  berührte  unsere  Schulter,  trat  zwischen  uns  hin  und 
segnete  uns:  Vormals  war  Utnapistim  ein  Mensch;  nun  sollen 
Utnapistim  und  sein  Weib  sein  wie  die  Götter,  und  wohnen 
soll  Utnapistim  in  der  Ferne,  an  der  Mündung  der  Ströme! 
Da  nahmen  sie  mich,  und  in  der  Ferne,  an  der  Mündung  der 
Ströme  liefsen  sie  mich  wohnen." 

Die  Ursprünglichkeit  des  babylonischen  gegenüber  dem 
biblischen  Berichte  wird  nicht  nur  durch  das  höhere  Alter 
der  Keilschriftversion,  sondern  auch  durch  einzelne  Züge  er- 
wiesen, welche  im  babylonischen  Mythus  einfacher  und  natür- 
licher erscheinen.  So  ist  es  im  babylonischen  Bei,  welcher 
den  Menschen  zürnt,  und  Ea,  welcher  den  Chasis-atra  rettet, 
während  es  im  biblischen  derselbe  Jahve  sein  mufs,  der  die 
Menschen  zu  vernichten  beschliefst  und  doch  eine  Familie 
wegen  ihrer  Frömmigkeit  ausnimmt,  ohne  dafs  doch  zwischen 


3.  Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  61 

der  Familie  des  Noah  und  der  übrigen  Menschheit  ein  abso- 
luter Gegensatz  bestehen  konnte,  der  eine  solche  Ausnahme 
rechtfertigte,  wie  ja  auch  das  „radikale  Böse",  d.  h.  der  Egois- 
mus, als  allgemeiner  und  ausnahmsloser  Grundzug  der  Men- 
schennatur 1.  Mos.  6,5  und  8,21  anerkannt  wird  und  sich  an 
den  Geretteten  selbst,  dem  trunkenen  Noah  und  dem  der 
Scham  ermangelnden  Harn  1.  Mos.  9,22  betätigt.  Auch  das 
Riechen  des  lieblichen  Opferduftes  durch  die  Götter  ist  bei 
der  rohern  babylonischen  Vorstellung  von  ihnen  eher  zu  er- 
tragen als  bei  dem  hebräischen  Gottesbegriff,  so  wenig  derselbe 
auch  noch  von  anthropomorphischen  Vorstellungen  gereinigt 
sein  mochte.  Die  Dauer  der  Flut  ist  im  Babylonischen  auf 
7  +  7  Tage,  im  Biblischen  beim  Jahvisten  auf  40  +  3  x  7, 
beim  Elohisten  insgesamt  auf  365  Tage  bestimmt;  alle  drei 
Berechnungen  sind,  wie  die  Zahlen  zeigen,  künstlich,  aber  die 
babylonische  ist  weniger  übertrieben  als  die  biblischen.  Die 
Aussendung  von  Vögeln  ist  beiden  Traditionen  gemeinsam,  bei 
Berossos  geschieht  sie  dreimal,  ohne  dafs  die  Vögel  näher  be- 
zeichnet werden,  im  Keilschriftbericht  sind  es  Taube,  Schwalbe 
und  Rabe ;  beim  Jahvisten  erfordern  die  dreimal  sieben  Tage, 
während  deren  das  Wasser  sich  verläuft,  eine  viermalige  Aus- 
sendung der  Vögel;  zuerst  wird  der  Rabe  ausgesandt  und 
kehrt  nicht  wieder,  da  er  an  den  schwimmenden  Leichen 
seine  Nalirung  findet,  eine  Begründung,  welche  der  Bericht 
in  der  dezenten  Weise  verschweigt,  die  uns  schon  oben  S.  56 
begegnete.  Dann  folgt  die  Taube,  welche  zurückkehrt,  und 
nochmals  eine  Taube,  welche  ein  Ölblatt,  das  Sinnbild  des 
Friedens  (vgl.  Virgil,  Aen.  VIII,  116),  überbringt,  während  nach 
Berossos  die  zu  zweit  ausgesandten  Vögel  mit  Schlamm  an 
den  Füfsen  wiederkehren.  Auch  an  diesem  kleinen  Zuge  zeigt 
sich,  wie  die  biblische  Tradition  die  vom  Auslande  über- 
kommenen Sagen  in  veredelter  Gestalt  wiedergibt. 


Das  Gilgames-Epos  (früher  Izdubar-Epos  genannt),  dessen 
XI.  Tafel  unser  Sintflutbericht  entnommen  ist,  bestand  aus 
zwölf  Tafeln,  deren  jede  300  Zeilen  in  sechs  Kolumnen  enthielt. 
Leider  sind  von  den  3600  Zeilen  des  Epos  viele  ganz  oder  teil- 


62  ni-   I^ie  Babylonier  und  Assyrer. 

weise  zertrümmert,  so  dafs  vieles  in  ihm  nicht  klarzulegen  ist. 
Der  allgemeine  Gang  der  Erzählung  ist  folgender: 

I.  Tafel:  In  Erech  (Uruk)  wohnt  der  gewaltige  Gilgame§; 
zwei  Drittel  von  ihm  sind  Gott,  ein  Drittel  Mensch;  er  sehnt 
sich  nach  einem  Freunde,  Träume  kündigen  ihm  einen  solchen 
an.  Auf  den  Bergen  hat  Eahani  sein  Wesen ;  er  ist  ganz  mit 
Haaren  bedeckt,  nährt  sich  mit  den  Tieren  von  Gras,  geht 
mit  ihnen  zur  Tränke,  zerreifst  die  Netze  des  Jägers  und  läfst 
das  Wild  aus  ihnen  entkommen.  Der  Jäger  veranlafst  eine 
Buhlerin,  sich  ihm  zu  nähern.  Sie  erzählt  ihm  von  Gilgame§, 
dem  gewaltigen  Helden,  und  er  eilt  nach  Erech,  wie  es 
scheint,  um  seine  Kraft  an  Gilgameä  zu  erproben. 

n.  Tafel:  Die  Begegnung  beider  Helden  führt  zu  Freund- 
schaft und  Waffenbrüderschaft.  Durch  einen  Traum  gemahnt, 
beschliefsen  sie,  gegen  den  furchtbaren  Tyrannen  Chumbaba, 
der  im  Zedernwalde  wohnt,  zu  kämpfen. 

ni.  Tafel:  Die  Mutter  des  Gilgameä  klagt  vor  Gott  Öamas 
darüber,  dafs  er  dem  Gilgameä  ein  so  mutiges  Herz  eingegeben 
habe;  er  werde  den  weiten  Weg  nach  dem  Zedern walde  ziehen 
und  sich  grofsen  Gefahren  aussetzen. 

IV.  Tafel:  Gilgameä  und  Eabani  gelangen  zu  dem 
Zedernwalde,  als  dessen  Wächter  Bei  den  Chumbaba  ein- 
gesetzt hat.  Eabani  will  verzagen,  wird  aber  von  Gilgames 
ermutigt. 

V.  Tafel:  Eabani  träumt,  dafs  sie  auf  dem  Hörn  eines 
Berges  gestanden  hätten,  als  der  Berg  zusammenstürzte.  Gil- 
game§  deutet  den  Traum;  der  Berg  sei  Chumbaba:  „Wir 
werden  Chumbaba  packen,  werden  sein  Haupt  abschlagen 
und  seinen  Leichnam  auf  das  Gefilde  werfen."  Die  letzten 
Kolumnen  der  Tafel,  welche  fast  ganz  verloren  sind,  werden 
die  Tötung  des  Chumbaba  geschildert  haben. 

VI.  Tafel:  Nach  dem  Kampfe  wäscht  Gilgameä  sich  selbst 
und  seine  Waffen,  zieht  neue  Kleider  an  und  setzt  sich  die 
Königsmütze  auf.  Da  entbrennt  die  Göttin  Istar  in  Liebe  zu 
ihm :  „Wohlan,  Gilgame§,  mögest  du  mein  Buhle  sein,  mögest 
du  mein  Mann,  möge  ich  dein  Weib  sein!"  Sie  verspricht 
ihm  einen  Wagen  von  Gold  und  Edelsteinen,  einen  herrhchen 
Palast  und  Thron,   vor  dem  die  Könige  sich  beugen,   dazu 


3.  Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  ß3 

Fruchtbarkeit  und  Gedeihen  der  Herden.  Aber  Gilgameö  will 
von  ihrer  Liebe  nichts  wissen:  „Wer  ist  der  Buhle,  den  du 
in  alle  Zukunft  lieben  wü'st?  Wer  ist  der  Hirtenknabe,  der 
dir  immerdar  angenehm  sein  wird  ?  . . .  Thammüz,  dem  Buhlen 
deiner  Jugend,  Jahr  für  Jahr  bestimmtest  du  ihm  Weinen. 
Als  du  den  bunten  Hirtenknaben  liebtest,  schlugst  du  ihn 
und  zerbrachst  seine  Flügel."  In  dieser  Weise  hält  er  der 
I§tar  vor,  wie  sie  alle  ihre  Liebhaber  ins  Unglück  gestürzt 
habe,  und  wendet  sich  von  ihr  ab.  Istar  will  sich  rächen; 
sie  steigt  zum  Himmel  hinauf  und  bittet  ihren  Vater  Anu, 
einen  Himmelsstier  zu  schaffen,  der  den  Gilgame§  töten  soll. 
Anu  spricht :  „Wenn  ich  tue,  was  du  von  mir  begehrst,  werden 
sieben  magere  Jahre  kommen ;  hast  du  auch  für  die  Menschen 
Korn  gesammelt  und  für  das  Vieh  Kräuter  grofs  gemacht?" 
(vgl.  1.  Mos.  41,36).  I§tar  bejaht  es,  der  Himmelsstier  wird 
gegen  die  Freunde  gesandt,  aber  von  Gilgames  und  Eabani 
erschlagen.  Die  Ausfülirung  dieser  Szene  fehlt;  vielleicht 
kann  man  ein  bekanntes  Bildwerk  darauf  beziehen,  wo  ein 
Stier  aufrecht  zwischen  zwei  Männern  steht,  deren  einer  ihm 
das  Schwert  in  den  Leib  stöfst.  Istar  steigt  auf  die  Mauern 
von  Erech  und  spricht  einen  Fluch  über  die  Stadt  aus.  Eabani 
erwidert  den  Fluch.  Gilgames  bereitet  den  Männern  der  Stadt 
in  seinem  Palast  ein  Freudenfest. 

VII.  Tafel:  Ein  Fragment,  vielleicht  ein  Traumbild,  wel- 
ches dem  Eabani  seinen  Tod  ankündigt,  enthält  die  Worte: 
„Folge  mir  nach,  komm  zu  mir  herab  zum  Hause  der  Finsternis, 
der  Wohnung  Irkallas,  zu  dem  Hause,  dessen  Betreter  nicht 
wieder  hinausgeht,  zu  dem  Wege,  dessen  Begehen  ohne  Um- 
kehr ist,  zu  dem  Hause,  dessen  Bewohner  des  Lichts  ent- 
behren, wo  Erdstaub  ihre  Nahrung,  Lehmerde  ihre  Speise,  sie 
wie  ein  Vogel  mit  einem  Flügeltuch  bekleidet  sind  und  Licht 
nicht  schauen  und  in  Düsternis  wohnen  . . .  Im  Hause  des 
Erdstaubes,  in  das  ich  hineingegangen,  wohnen  der  Priester- 
herr und  der  Priesterdiener,  wohnen  der  Gewaschene  und  der 
Verzückte,  wohnen  die  Weltmeergesalbten  der  grofsen  Götter, 
wohnt  Itana,  wohnt  Gira,  wohnt  die  Königin  der  Erde, 
Ereskigal."  Der  Rest  der  Tafel  zeigt  uns  Eabani  auf  seinem 
Krankenlager :   „Es  hat  mich  verflucht  [das  weitere  fehlt]  . . . 


64  in.   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

Wie  einer,  der  inmitten  des  Kampfes  erschlagen  ward,  werde 
ich  nicht  sterben." 

VIII.  Tafel:  Eabani  ist  gestorben.  Gilgames  klagt  um 
ihn:  „Eabani,  mein  Freund,  mein  jüngerer  Bruder,  Panther 
des  Feldes,  wir  bestiegen  Berge,  packten  und  erschlugen  den 
Himmelsstier,  schlugen  Chumbaba,  der  im  Zedernwalde  wohnte. 
Nun,  was  ist  das  für  ein  Schlaf,  der  dich  gepackt  hat?  Du 
bist  düster  und  hörst  mich  nicht."  Aber  auch  Gilgames  ist 
in  elendem  Zustande  und  klagt :  „Sind  meine  Beine  nicht  ab- 
gezehrt, ist  mein  Antlitz  nicht  gesenkt,  ist  mein  Herz  nicht 
schlimm  gemacht,  sind  meine  Gesichtszüge  nicht  zunichte 
gemacht,  ist  nicht  Weh  in  meinem  Leibe,  gleicht  mein  Antlitz 
nicht  dem  eines,  der  ferne  Wege  gegangen  ist,  haben  Frost 
und  Glut  nicht  mein  Antlitz  verbrannt?" 

IX.  Tafel:  „Gilgames  über  seinen  Freund  Eabani  weint 
qualvoll  und  jagt  über  das  Feld  hin:  Werde  nicht  auch  ich, 
wie  Eabani,  sterben?  Weh  ist  in  meinen  Leib  hineingezogen, 
ich  habe  Furcht  vor  dem  Tode  bekommen  und  jage  über  das 
Feld  hin.  Zu  den  Füfsen  Utnapistims  nehme  ich  den  Weg 
und  gehe  eilends  dahin . . .  Nach  Tod  und  Leben  will  ich 
ihn  fragen."  Die  letzten  Worte  spricht  er  zu  dem  Skorpions- 
menschen, dem  er  begegnet,  und  der  ihm  den  Weg  zu  Utna- 
pistim  erklärt.  Zwölf  Doppelstunden  mufs  er  durch  düsterste 
Finsternis  wandern.  Dann  wird  es  hell  vor  ihm.  Bäume  der 
Götter  mit  Edelsteinen  als  Früchten,  Rebengelände  zeigen 
sich  seinem  Blick. 

X.  Tafel:  Er  kommt  an  das  Haus  der  Siduri;  sie  fürchtet 
sich  vor  ihm  und  verriegelt  die  Tür;  aber  er  klagt  ihr  sein 
Leid  und  bittet  sie,  ihm  den  Weg  zu  Utnapistim  zu  zeigen. 
Sie  erklärt  ihm,  dafs  seit  der  Vorzeit  keiner  aufser  Öamas 
diesen  Weg  über  das  Meer  hin  gefunden  habe:  „Schwierig 
ist  der  Übergangsort,  beschwerlich  sein  Weg,  und  tief  sind 
die  Wasser  des  Todes,  die  ihm  vorgelagert  sind."  Schliefslich 
empfindet  sie  Mitleid  und  weist  ihn  an  Urnimin,  den  Schiffer 
des  Utnapistim.  Der  Schiffer  trägt  ihm  auf,  im  Walde  Bäume 
für  Schiffsstangen  zu  fällen,  und  nachdem  Gilgames  der 
Weisung  gefolgt  ist,  tritt  er  mit  ihm  die  Fahrt  an :  „Gilgames 
und  Urnimin    stiegen    ins   Schiff,   warfen    das  Schiff  auf  die 


3.   Grimdzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  G5 

Welle  und  fuhren  dahin,  einen  Weg  von  einem  Monat  und 
fünfzehn  Tagen."  Sie  überfahren  glücklich  die  Wasser  des 
Todes,  aus  der  Ferne  sieht  sie  Utnapistim  kommen  und  be- 
merkt in  dem  Schiffe  den  Fremden,  bei  dessen  Anblick  er 
zweifelt,  ob  er  ein  Mensch  oder  ein  Gott  ist.  Gilgames  naht 
ihm  und  trägt  ihm  sein  Anliegen  vor;  er  will,  wie  es  scheint, 
erfahren,  wie  man  dem  Tod  entgehen,  unsterblich  wie  Utna- 
pistim selbst  werden  könne.  Utnapistim  weist  ihn  auf  die 
Vergänglichkeit  alles  Irdischen  hin:  „Machen  wir  ein  Haus 
für  immerdar?...  Teilen  Brüder  für •  immerdar ?  Sieht  der 
Kulilu -Vogel  das  Antlitz  der  Sonne  für  immerdar?  Von  An- 
beginn an  gibt  es  keine  Dauer!"  Jedem  Menschen,  so  sagt 
er  weiter,  ist  von  den  Göttern  sein  Schicksal  bestimmt,  aber 
er  erkennt  es  nicht:  „Des  Todes  Tage  werden  nicht  kund- 
getan." 

XI.  Tafel:  Gilgames  erwidert:  Als  Mensch  wie  er  selbst 
erscheine  ja  auch  Utnapistim;  was  habe  denn  er  getan,  um 
die  Unsterblichkeit  zu  erlangen?  Als  Antwort  tut  ihm  Utna- 
pistim das  Geheimnis  kund,  erzählt  ihm  die  Geschichte  von 
der  grofsen  Flut  (oben  S.  58 — 60)  und  wie  Bei  ihm  ausnahms- 
weise die  Unsterblichkeit  verliehen  habe.  Nach  mancherlei 
Zeremonien,  deren  Sinn  aus  der  fragmentarischen  Überheferung 
nicht  ersichtlich  ist,  weist  er  ihn  an,  wie  er  in  der  Tiefe  des 
Meeres  das  Unsterblichkeitskraut  finden  könne:  „Sein  Name 
ist:  Als  Greis  wird  der  Mensch  wieder  jung."  Daraufhin 
fährt  Gilgames  mit  dem  Schiffer  auf  das  Meer  hinaus,  bindet 
zwei  Steine  an  seine  Füfse,  gelangt  durch  sie  auf  den  Grund 
des  Meeres,  findet  das  Kraut,  schneidet  die  Steine  los  und 
gelangt  wieder  nach  oben  in  das  Schiff.  Auf  der  Rückfahrt 
nach  Erech  halten  sie  am  Lande  Rast,  Gilgames  nimmt  ein 
Bad,  eine  Schlange  riecht  das  Eüraut  und  entwendet  es.  Mit 
der  Klage  des  Gilgames  darüber,  dafs  er  sich  und,  wie  es 
scheint,  auch  seinen  Freund  nach  Verlust  des  Krautes  nicht 
unsterbhch  machen  könne,  und  mit  der  endlichen  Rückkehr 
nach  Erech  schliefst  die  Tafel. 

XII.  Tafel:  Hier  hat  Kolumne  II  die  Worte:  „dafs  Eabani 
aus  der  Erde  emporsteige."  Es  scheint  von  einem  Wunsche 
des  Gilgameg  die  Rede  zu  sein,  zu  dessen  Erfüllung  er  sich 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii.  5 


Qß  III.   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

vergebens  an  Bei,  sodann  an  Sin  wendet;  endlich  zeigt  sich 
auch  hier  Ea  als  der  Hilfreiche,  indem  er  dem  Nergal  be- 
fiehlt, den  Utukku  (den  Geist)  des  Eabani  heraufzubeschwören 
(vgl.  1.  Sam.  28,13):  „Der  Gewaltige,  Nergal,  öffnete  alsbald 
das  Loch  der  Erde  und  liefs  den  Utukku  Eabanis  wie  einen 
Wind  aus  der  Erde  herausfahren."  Gilgames  —  denn  nur 
dieser  kann  es  sein  —  spricht:  „Sage,  mein  Freund,  sage, 
mein  Freund,  das  Gesetz  der  Erde,  das  du  gesehen,  sage!" 
Aus  der  Antwort  sind  die  Worte  erhalten :  „Werd'  ich  es  dir 
nicht  sagen,  mein  Freund,  werd'  ich  es  dir  nicht  sagen  ?  Wenn 
ich  dir  das  Gesetz  der  Erde,  das  ich  gesehen,  sage  ...  setze 
dich,  weine."  Die  in  der  letzten  Kolumne  erhaltenen  Worte 
scheinen  das  Schicksal  derer  zu  beklagen,  deren  Geist  nicht 
zur  Ruhe  kommen  kann,  weil  ihr  Leib  nicht  begraben  wurde. 
Das  Gesetz  der  Erde  aber,  welches  der  Geist  des  Eabani  dem 
Gilgames  enthüllt,  dürfte  darin  bestanden  haben,  dafs  die 
Unterwelt  den,  welcher  ihr  verfallen  ist,  nicht  wieder  losläfst. 


Der  Gedanke,  welchen  wir  unter  dem  in  der  XII.  Tafel 
des  Gilgames -Epos  erwähnten  „Gesetz  der  Erde"  nur  ver- 
mutungsweise annahmen,  findet  seine  volle  Bestätigung  in 
einem  andern  Keilschriftfragment,  welches  als  die  Höllen- 
fahrt der  I§tar  schon  lange  bekannt  war,  und  berichtet, 
wie  Istar,  die  Göttin  der  Zeugung  und  des  Lebens,  in  di^ 
Unterwelt  hinabsteigt,  vielleicht,  wie  man  vermutet  hat,  um 
auch  diese  ihrer  Herrschaft  zu  unterwerfen:  „Auf  das  Land 
ohne  Rückkehr  setzte  Istar,  die  Tochter  Sins,  ihr  Ohr ,  auf  das 
düstere  Haus,  die  Wohnung  Irkallas,  auf  das  Haus,  dessen  Be- 
treter nicht  wieder  hinausgeht,  auf  den  Weg,  dessen  Begehen 
ohne  Umkehr  ist,  auf  das  Haus,  dessen  Betreter  des  Lichts 
entbehren,  wo  Erdstaub  ihre  Nahrung,  Lehm  ihre  Speise,  sie 
Licht  nicht  schauen,  in  Düsternis  sitzen,  beldeidet  sind  wie  ein 
Vogel  mit  einem  Flügeltuch;  auf  Tür  und  Riegel  lagert  Erd- 
staub. Wie  Istar  am  Tor  des  Landes  ohne  Rückkehr  anlangt, 
spricht  sie  zum  Pförtner  die  Worte :  Pförtner !  Offne  dein  Tor, 
dafs  ich  hineinkomme!  Wenn  du  dein  Tor  nicht  öffnest,  zer- 
schmeifs'  ich  die  Tür,  zerbrech'  ich  den  Riegel,  zerschmeifs' 
ich  die  Schwelle  und  verrück'  ich  die  Türen ,  bring'  ich  hinauf 


3.  Grundzüge  der  babylonisch-assyrischen  Weltanschauung.  (57 

die  Toten;  essend,  lebendig,  sollen  mehr  als  die  Lebendigen 
die  Toten  sein."  Der  Pförtner  meldet  die  Ankunft  der  lötar 
seiner  Herrin  Ere§kigal;  sie  befiehlt:  „Geh  liin,  Pförtner,  öffne 
ihr  dein  Tor!  Behandle  sie  nach  den  alten  Gesetzen!"  Der 
Pförtner  öffnet  ihr  nach  einander  die  sieben  Tore,  der  Unter- 
welt. Am  ersten  Tore  mufs  sie  ihre  Krone  ablegen,  beim 
zweiten  ihr  Ohrgehänge,  beim  dritten  ihre  Halskette,  beim 
vierten  ihre  Brustschilder,  beim  fünften  ihren  Gürtel,  beim 
sechsten  die  Spangen  an  Händen  und  Füfsen,  beim  siebenten 
ihr  Lendentuch.  Jedesmal  fragt  sie,  warum  sie  sich  ihres 
Schmuckes  entkleiden  müsse,  und  erhält  immer  wieder  die- 
selbe Antwort:  „Komm  herein,  meine  Herrin;  der  Herrin  der 
Erde,  also  sind  ihre  Gesetze."  . . .  „Sobald  Istar  in  das  Land 
ohne  Rückkehr  hinuntergekommen  war,  sprach  Ereskigal  zu 
ihrem  Boten  Namtäru  die  Worte:  Geh  hin,  Namtäru,  riegle 
sie  ein  in  meinem  Palast,  lafs  auf  sie  heraus  sechzig  Krank- 
heiten, Krankheit  der  Augen  auf  ihre  Augen,  Krankheit  der 
Seiten  auf  ihre  Seiten,  Krankheit  der  Füfse  auf  ihre  Füfse, 
Krankheit  des  Herzens  auf  ihr  Herz  . . ."  Istar  ist  gefangen, 
da  gerät  alles  Zeugen  und  Gebären  auf  der  Erde  ins  Stocken, 
der  Stier  bleibt  fern  von  der  Kuh,  der  Esel  von  der  Eselin, 
der  Jüngling  von  dem  Mädchen.  Die  grofsen  Götter  Sin, 
Öamas  und  Ea  sind  besorgt  um  das  Schicksal  der  Lebewelt 
und  senden  zur  Göttin  der  Unterwelt  einen  Boten  mit  dem 
Befehl,  die  Istar  freizugeben.  „Als  Ereskigal  dies  vernahm, 
schlug  sie  ihre  Lende,  bifs  ihren  Finger",  verwünscht  den 
Boten  mit  der  grofsen  Verwünschung,  befiehlt  aber  schhefs- 
lich  ihrem  Diener  Namtäru:  „Besprenge  Istar  mit  dem  Wasser 
des  Lebens  und  nimm  sie  von  mir  weg!"  Der  Bote  führt 
den  Befehl  aus,  gibt  der  Istar  Lendentuch,  Spangen,  Gürtel, 
Brustschilder,  Halskette,  Ohrringe  und  Krone  zurück  und  läfst 
sie  durch  die  sieben  Tore  hinauf  zur  Oberwelt.  Der  Rest  der 
Tafel  liegt  nur  in  Bruchstücken  vor,  welche  keinen  verständ- 
lichen Sinn  geben.  Um  so  klarer  ist  der  Gedanke,  welcher 
der  ganzen  Dichtung  zugrunde  liegt:  Alles,  was  die  Todes- 
göttin einmal  gefafst  hat,  hält  sie  für  immer  gefangen,  nur 
nicht  die  Istar;  alles  Lebende  stirbt,  nicht  aber  stirbt  das 
Leben : 


68  III.   Die  Babylonier  und  Assyrer. 

„Ein  kleiner  Ring  begrenzt  unser  Leben 
Und  viele  Geschlechter  reihen  sich  dauernd 
An  ihres  Daseins  unendliche  Kette." 


IV.  Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

1.  Palästina  vor  der  Invasion  der  Hebräer. 

Wie  Babylonien,  so  war  auch  Palästina,  soweit  wir  zurück- 
blicken können,  bereits  von  semitischen  Stämmen  bewohnt, 
welche  in  der  Bibel  bald  als  Kanaanäer  (Jahvist),  bald  nach 
einem  besonders  hervortretienden  Stamme  als  Amoriter  (Elohist) 
bezeichnet  werden.  Auch  die  den  Süden  Palästinas  umgebenden 
und  gegen  das  Kulturland  andrängenden  Stämme  der  Amale- 
kiter  und  Edomiter,  der  Moabiter  und  Ammoniter,  sowie  die 
weiter  südlich  wohnenden  Stämme  der  Ismaeliter  und  Midia- 
niter  gehören  zur  semitischen  Völkerfamilie.  Ebenso  im  Norden 
Palästinas  die  Phöniker,  während  es  von  den  im  Tale  des 
Orontes  ansässigen  und  zeitweilig  zu  einem  mächtigen  Reiche 
erstarkten  Cheta  (Hethiter)  zweifelhaft  bleibt,  ob  sie  semiti- 
schen Ursprungs  waren  oder  ob  wir  in  ihnen  eine  schon  in 
vorhistorischer  Zeit  von  den  eingewanderten  Semiten  nach 
Norden  zurückgedrängte  Urbevölkerung  zu  sehen  haben. 

Die  religiösen  Anschauungen  dieser  Volksstämme  sind 
im  wesentlichen  noch  dieselben,  wie  wir  sie  als  allgemein- 
semitisch oben  S.  35  fg.  kennen  gelernt  haben.  Den  Unter- 
grund der  Religion  bildet  ein  weitverbreiteter  Kultus  von 
Dämonen,  welche  man  sich  nach  Sefshaftwerdung  der  Stämme 
in  der  Regel  an  bestimmte  Orte,  wie  namentlich  an  Berghöhen 
fbämäh,  plur.  hämothj,  gebunden  dachte.  Der  Dämon  wurde 
gewöhnlich  als  der  „Herr"  {ha'al,  nicht  zu  verwechseln  mit 
Sa'al,  dem  obersten  Gott)  des  betreffenden  Ortes  bezeichnet. 
Zur  Verehrung  dieses  genius  loci  pflegte  fnan  aufser  dem  Altar 
eine  Steinsäule  fmazsebähj  oder  einen  Holzpfahl  fascherähj  zu 
errichten,  Kultusformen,  welche  im  Verlaufe  auf  die  höhern 
Götter,  wie  namentlich  auch  auf  Jahve,  übertragen  wurden. 
Neben  diesem  Dämonenkultus  bestand  die  Verehrung  von 
Hausgöttern  [theräpMm,  auch  als  Singular  gebraucht),  welche, 
wie  es  scheint,  gröfsere  oder  kleinere  Puppen  in  Menschen- 


1.  Palästina  vor  der  Invasion  der  Hebräer.  69 

gestalt  waren  (1.  Mos.  31,19;  1..  Sam,  19,13)  und  mit  deren 
Verlust  der  Segen  aus  dem  Hause  wich  (Rieht.  18,14 — 24). 
Was  der  Theräplüm  für  die  einzelne  Familie,  das  war  der 
Stammesgott  für  den  ganzen  Stamm;  als  solchen  verehrten  die 
Tyrier  den  3Idqart,  die  Ammoniter  den  Milhom^  die  Moabiter 
den  Kamos,  die  Hebräer  den  Jahve.  Aufser  dem  Kultus  dieser 
dem  Menschen  nahestehenden  Mächte  wurden  die  Himmels- 
erscheinungen, Sonne,  Mond  und  das  ganze  himmlische  Heer 
(zebä  haschschämajimj  und  zu  oberst  als  „Herr"  der  Welt  der 
Ba'al  (entsprechend  dem  babylonischen  Bei)  verehrt,  neben 
welchem  oft  'Astlioreth  (entsprechend  der  Istar)  als  seine  Ge- 
mahlin steht.  Der  Kulti*s  dieser  schon  aus  dem  Leben  in  der 
Wüste  mitgebrachten  Gottheiten  nahm  in  dem  Mafse,  wie  die 
Semiten  in  Kanaan  sefshaft  wurden  und  zu  Wohlleben  ge- 
langten, immer  üppigere  und  zum  Teil  ausschweifende  Formen 
an.  Was  die  biblische  Sage  von  Sodom  und  Gomorrha  er- 
zählt, mag  ein  einzelner  Fall  unter  manchen  ähnlichen  gewesen 
sein.  Das  reiche  Leben  in  dem  damals  gesegneten  Lande  ver- 
führte zu  Schwelgerei  und  Ausschweifungen  aller  Art,  und 
Hand  in  Hand  damit  ging  die  Auffassung  der  Götter  als 
finsterer,  blutlechzender  Mächte,  welche  oft  nur  durch  Men- 
schenopfer zu  begütigen  waren.  Es  ist  ja  natürhch,  dafs  man 
die  Erstlinge  des  Feldes,  wohl  auch  die  Erstlinge  der  Herde 
den  Göttern  als  Gabe  darbrachte,  aber  eine  greuliche  Ver- 
irrung  war  es,  wenn  die  Kanaaniter  bei  besondern  Gelegen- 
heiten, namentlich  in  Fällen  grofser  Gefahr,  dem  Moloch,  der 
vermuthch  eine  besondere  Form  des  Ba'al  war,  ihre  erst- 
geborenen Kinder  opferten,  wenn  sie,  wie  die  Bibel  sich 
euphemistisch  ausdrückt,  „ihre  Söhne  durchs  Feuer  gehen 
liefsen",  ein  Brauch,  der  auch  von  den  Hebräern  übernommen 
und  noch  von  Manasse,  einem  der  letzten  Könige  von  Juda, 
befolgt  wurde  (2.  Kön.  21,6).  Kaum  weniger  widerwärtig  ist 
€S,  wenn  zu  Ehren  der  Gottheit  von  Männern  die  Kastration 
geübt  und  von  Jungfrauen  das  Keuschheitsopfer  dargebracht 
wurde,  ein  Brauch,  der  bei  den  Kanaanitern  (5.  Mos.  23,18) 
wie  bei  den  Babyloniern  im  Schwange  war,  von  denen  Herodot 
(I,  199)  berichtet:   hsx  iz'xaix^  yuvaixa  iTzvfpQlti')  t^o[j.svY]v  Iq  [pov 


70  rV-   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

Über  die  politischen  Verhältnisse  Palästinas  vor  der  In- 
vasion der  Hebräer  hat  eine  vor  wenigen  Jahrzehnten  ge- 
machte Entdeckung  überraschende  Aufschlüsse  gebracht.  Wir 
besprachen  oben  (S.  26 — 27)  den  religiösen  Reformversuch, 
welchen  Amenhotep  IV.,  Sohn  Amenhoteps  III.  und  seiner 
Gemahlin  Ti,  etwa  um  das  Jahr  1400  unternahm.  Der  Ver- 
such scheiterte  an  der  Übermacht  der  Priesterschaft;  die  in 
Mittelägypten  am  rechten  Ufer  des  Nils  ungefähr  gleich  weit 
von  Memphis  und  Theben  von  Amenhotep  IV.  gegründete 
Sonnenstadt  Chut-aten  wurde  zerstört,  es  lag  ein  Fluch  auf 
ihr,  ihre  Stätte  blieb  wüste  liegen.  Auf  ihrer  Trümmerstätte, 
welche  heute  nach  den  benachbarten  Ortschaften  El-Ämarna 
oder  Tell-el-Amarna  heifst,  fand  man  bei  Ausgrabungen  gegen 
Ende  des  Jahres  1887,  teils  zerstreut,  teils  in  einem  Tongefäfs 
(nach  andern  in  einer  Holzkiste)  geborgen,  gegen  dreihundert 
Tafeln,  vielfach  trümmerhaft,  aus  rotem  und  weifsem  Ton, 
welche  einen  Teil  des  von  Amenhotep  IV.  aus  Theben  herüber- 
gebrachten Staatsarchivs  enthielten  und  aus  Briefen  bestanden, 
die  teils  von  Königen  Mesopotamiens,  teils  von  Statthaltern 
in  Palästina  an  die  Könige  Amenhotep  III.  und  IV.  gerichtet 
waren;  der  gröfste  Teil  derselben,  etwa  250  an  Zahl,  stammt 
aus  Palästina.  Das  Erstaunliche  aber  ist,  dafs  diese  an  ägyp- 
tische Könige  gerichteten  Briefe  nicht  etwa  in  Hieroglyphen 
und  ägyptischer  Sprache,  auch  nicht  in  den  Landessprachen 
Palästinas,  sondern  in  Keilschrift  und  babylonischer  Sprache 
abgefafst  waren.  Wir  entnehmen  daraus  zunächst  die  Tat- 
sache, dafs  um  das  Jahr  1400  a.  C.  die  babylonische,  in  Keil- 
schrift geschriebene  Sprache  für  ganz  Vorderasien  das  übliche 
Mittel  für  den  diplomatischen  Verkehr  bildete.  Natürlich 
mufsten  Keilschrift  und  Sprache  in  Palästina  schulmäfsig  er- 
lernt werden,  und  ohne  Zweifel  bediente  man  sich  dazu  keil- 
schriftlicher, aus  Babylonien  bezogener  Texte.  Auf  diesem 
Wege  konnten  dann  babylonische  Sagenstoffe  nach  Palästina 
herüberwandern  und  von  seinen  Bewohnern  weiterhin  zu  den  ein- 
gewanderten Hebräern  übergehen.  Aber  noch  mehr.  Zwischen 
dem  nördlichen  Palästina  und  dem  Euphrat  lernen  wir  aus 
den  Briefen  16 — 24  (Winckler)  ein  Reich  der  Mitani  kennen, 
deren  Könige  mit  den  Pharaonen  korrespondieren  und  deren 


1.  Palästina  vor  der  Invasion  der  Hebräer.  71 

Namen  Artatama,    Sutarna,    Ärtasumara  und  Bnsratta  allem 
Anscheine  nach  iranisch  sind,  so  dafs  sich  hier  ein  Weg  er- 
öffnet; auf  welchem  schon  in  so  früher  Zeit  der  in  Babylonien 
nicht  nachweisbare  Mythus  vom  Sündenfall  von  den  Iraniern 
nach  Palästina    und    schliefslich    zu   den  Hebräern   gelangen 
konnte.  —  Über   die  poHtischen   Verhältnisse  Palästinas   ge- 
winnen wir  aus  den  Amarna- Briefen  ein  Bild,  welchem  die 
biblischen  Schilderungen  von  dem  Vorleben  Abrahams,  Isaalcs 
und  Jakobs  im  Heiligen  Lande  sich  in  keiner  Weise  einpassen 
lassen.     Palästina  ist  nicht  ein  Land,  von  dem  Abraham  zu 
Lot  sagen  konnte:   „Steht  dir  nicht  alles  Land  offen?  Willst 
du  zur  Linken,  so  will  ich  zur  Rechten!",  nicht  ein  Land,  wo 
man  beliebig  seine  Zelte  abbrechen  konnte,  um  sie,  wie  Abra- 
ham, von  Sichem  in  die  Gegend  von  Beth-El  und  weiterhin 
in  die  Gegend  von  Hebron  zu  verpflanzen,  nicht  ein  Land, 
wo  Lot  sich  behaglich  in  der  reichen  Jordanaue  mit  seinen 
Schafen  un^  Kamelen  niederlassen  konnte;  sondern  wir  finden 
nach  den  Amarna -Briefen    um    das  Jahr  1400  Palästina  als 
ein  unter  ägyptischer  Oberhoheit  stehendes  Land,  dessen  ein- 
zelne Distrikte  mit  befestigten  Städten  von  Statthaltern  oder 
Lehnsfürsten  verwaltet  werden.     Manche    derselben  leben  in 
Frieden  (Brief  106.  168),  viele  befehden  einander,  schildern  in 
den  Briefen,  wie  ihr  Land  von'  dem  Nachbar  bedrängt,  wie 
ihre  befestigte  Hauptstadt  belagert  wird  und  sich  nicht  mehr 
lange  halten  kann,  wenn  der  Pharao  nicht  schleunigst  Truppen 
oder  Geld  schickt.    Hingegen  verteidigen  sich  wieder  die  Be- 
dränger in  Briefen  an  den  König,  bitten  um  Sendung  ägyp- 
tischer Gesandten,  um  den  Streitfall  zu  untersuchen;  alle  aber 
ersterben  in  Unterwürfigkeit  vor  dem  Pharao,  werfen  sich  vor 
ihm  brieflich  sieben-  und  siebenmal  zur  Erde,  bezeichnen  ihn 
als  ihren  Herrn  und  König,  ihren  Gott,  ihre   Sonne,  wobei, 
wie  es  scheint,  allerlei  Floskeln  aus  Hymnen  an  den  Sonnen- 
gott auf  den  König  übertragen  werden.    Daneben  werden  die 
einzelnen  Distrikte  beunruhigt    durch  räuberische  Nomaden- 
horden,   unter    denen  namentlich  die  Chabiri  allerwärts,   im 
Norden   bei  Tyrus  und  Sidon  wie  im  Süden  bei  Jerusalem, 
ihr  Unwesen  treiben.     Man  hat  in  diesen  Chabiri  die  Hebräer 
(hebr.  'Ibri,  plur.  'Ibrim)   finden  wollen,  doch  ist  die  Sache 


72  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

sehr  unwahrscheinlich,  da  die  Zeit  der  Amarna-Briefe  für  die 
Periode  der  Erzväter  zu  spät,  für  die  Invasion  unter  Josuah 
zu  früh  ist.  Möghch  ist,  dafs  Chahiri,  entsprechend  dem 
hebräischen  'Ibri,  allgemein  die  „Jenseitigen",  die  von  jen- 
seits der  Grenze  eindringenden  Wüstenstämme  bezeichnet, 
und  dafs  der  Name  später  auf  dem  vom  Ostjordanland  her 
«indringenden  Stamme  der  Hebräer  haften  blieb.  Als  Probe 
dieser  merkwürdigen  Korrespondenz  teilen  wir  auszugsweise 
zwei  Briefe  (179/80  Winckler  .^  286/87  Knudtzon)  mit,  in 
welchen  Äbd-chiba,  der  Lehnsfürst  von  ürusalim  (Jerusalem) 
den  Pharao  seiner  Treue  versichert,  sich  gegen  Verleumdungen 
verteidigt,  statt  der  ägyptischen  Besatzung,  die  man  zurück- 
gezogen hat,  um  eine  neue  bittet,  und  nicht  undeutlich  zu 
verstehen  gibt,  dafs  die  vom  Pharao  gesandten  Beamten  sich 
von  den  Chabiri  haben  gewinnen  lassen  und  das  Land  ihren 
Verwüstungen  preisgeben. 

Aus  Brief  179: 
„An  den  König,  meinen  Herrn :  Abd-chiba,  dein  Diener. 
Zu  Füfsen  meines  Herrn,  des  Königs,  sieben-  und  sieben- 
mal falle  ich.  Was  habe  ich  getan  wider  den  König,  meinen 
Herrn?  Man  verleumdet  mich  vor  dem  König,  meinem 
Herrn,  indem  man  sagt:  Abd-cliiba  ist  abgefallen  von  dem 
König,  seinem  Herrn.  Siehe,  weder  mein  Vater  noch  meine 
Mutter  hat  mich  gesetzt  an  diesen  Ort.  Der  mächtige  Arm 
des  Königs  hat  mich  eingeführt  in  mein  väterliches  Gebiet. 
Warum  sollte  ich  da  begehen  ein  Verbrechen  gegen  den 
König,  meinen  Herrn?  So  wahr  der  König  lebt,  weil  ich 
sagte  dem  Beamten  des  Königs,  meines  Herrn :  Warum  be- 
vorzugt ihr  die  Chabiri  und  die  ansässigen  Lehnsfürsten 
schädigt  ihr  ?  deshalb  verleumden  sie  mich  beim  König. 
Weil  ich  sage:  es  wird  zugrunde  gerichtet  das  Gebiet  des 
Königs,  meines  Herrn,  deshalb  verleumden  sie  mich  beim 
König,  meinem  Herrn.  Es  wisse  der  König,  mein  Herr,  dafs 
der  König,  mein  Herr,  gestellt  hatte  Besatzung,  aber  es  hat 
sie  genommen  Janchamu;  nicht  ist  da  Besatzung.  Es  sorge 
der  König  für  sein  Land  und  bekümmere  sich  um  sein  Land: 
abgefallen  sind  die  Ili-milku  gehörigen  Städte  des  Königs, 


1.   Palästina  vor  der  Invasion  der  Hebräer.  73 

meines  Herrn,  und  es  wird  verloren  gehen  das  ganze  Gebiet 
des  Königs.  Darum  möge  sorgen  der  König,  mein  Herr, 
für  sein  Land.  Ich  denke:  ich  will  zu  Hofe  ziehen  zum 
König,  meinem  Herrn,  und  sehen  das  Antlitz  des  Königs, 
meines  Herrn,  aber  die  Feinde  sind  mächtig  über  mich,  und 
ich  vermag  nicht  zu  Hofe  zu  ziehen  zum  König,  meinem 
Herrn.  Darum  befinde  der  König,  mein  Herr,  für  gut,  zu 
schicken  Besatzung,  damit  ich  zu  Hofe  ziehen  und  sehen 
kann  das  Antlitz  des  Königs,  meines  Herrn. . . .  Darum 
schicke  Truppen  der  König,  mein  Herr;  nicht  besitzt  noch 
Gebiet  der  König,  die  Chabiri  verwüsten  alles  Gebiet  des 
Königs.  Wenn  da  sein  werden  Truppen  in  diesem,  Jahre, 
so  wird  verbleiben  das  Gebiet  dem  König,  meinem  Herrn, 
wenn  aber  keine  Truppen  da  sind,  so  ist  das  Gebiet  des 
Königs,  meines  Herrn,  verloren.  —  An  den  Schreiber  des 
Königs,  meines  Herrn:  Abd-chiba,  dein  Diener.  Trage  vor 
die  Worte  deutlich  dem  König,  meinem  Herrn:  Zugrunde 
geht  das  ganze  Gebiet  des  Königs,  meines  Herrn!" 

Aus  Brief  180: 
„An  den  König,  meinen  Herrn :  Abd-chiba,  dein  Diener. 
Zu  Füfsen  meines  Herrn  siebenmal  und  siebenmal  falle  ich . . . 
Es  wisse  der  König,  alle  Staaten  haben  geschlossen  gegen 
mich  Feindschaft,  darum  sorge  der  König  für  sein  Land. 
Siehe,  das  Gebiet  von  Gasri  (Gezer),  das  von  ÄsJcaluna 
(Askalon)  und  die  Stadt  Lakis  haben  ihnen  gegeben  Speise, 
Öl  und  allen  Bedarf.  Darum  schicke  der  König  Truppen 
gegen  die  Fürsten,  welche  sich  vergehen  gegen  den  König, 
meinen  Herrn  . . .  Siehe,  dieses  Land  Urusalim  (Jerusalem), 
weder  mein  Vater  noch  meine  Mutter  hat  es  mir  gegeben, 
der  mächtige  Arm  des  Königs  hat  es  mir  gegeben.  Siehe, 
diese  Tat  ist  eine  Tat  Milkiels  und  eine  Tat  der  Söhne  Lapajas, 
welche  ausliefern  das  Land  des  Königs  den  Chabiri."  — 

2.  Sagenhafte  Vorgescliicbte  der  Hebräer. 

Wie  bei  den  Griechen  und  Römern,  so  geht  auch  bei  den 
Hebräern  ihrer  eigentlichen  Geschichte  eine  Periode  vorher, 
welche  in  der  Erinnerung  des  Volkes   sich  nur  in  sagenhaft 


74  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babyloniscben  Exil. 

ausgeschmückter  und  verherrlichter  Form  erhalten  hat,  so  dafs 
es  schwer  und  stellenweise  unmöglich  ist,  den  historischen 
Kern  herauszuschälen,  der  in  diesen  Sagen  vorhanden  sein  mag. 
Als  Stammvater  ihres  Volkes  betrachten  die  Hebräer  den 
in  der  zehnten  Generation  nach  der  grofsen  Flut  lebenden  - 
Abram,  später  Abraham  genannt,  welcher  mit  seinem  Weibe 
Sarai,  seinem  Vater  Tharah  und  seinen  Brüdern  Naher  und 
Haran  ursprünglich  zu  Ur  in  Chaldäa  wohnt,  von  dort  mit 
ihnen  nach  Haran  am  obern  Laufe  des  Euphrat  übersiedelt 
und  von  Haran,  wo  er  die  übrige  Familie  zurückläfst,  auf 
Jahves  Befehl  mit  seinem  Weibe  Sarai  und  seinem  Neffen 
Lot  nach  Palästina  auswandert,  um  zunächst  seine  Zelte  in 
der  Gegend  von  Sichern  zwischen  den  Bergen  Ebal  und  Gari- 
zim  aufzusclilagen.  Von  da  zieht  er  in  die  Gegend  südlich 
vom  Garizim  zwischen  Bethel  und  AI,  weilt  aus  Anlafs  einer 
Teuerung  in  Ägypten,  wo  er  aus  Furcht  für  seine  Sicherheit 
sein  Weib  für  seine  Schwester  ausgibt  (ein  Sagenmotiv, 
welches  noch  zweimal  wiederkehrt),  und  kehrt  mit  Lot  in  die 
Gegend  zwischen  Bethel  und  Ai  zurück.  Da  sie  beide  einen 
ausgebreiteten  Besitz  an  Zelten,  Eindern  und  Schafen  haben, 
und  zwischen  ihren  Hirten  Streitigkeiten  entstehen,  so  schlägt 
Abraham  eine  friedliche  Trennung  vor  und  läfst,  als  wäre 
Palästina  damals  ein  fast  herrenloses  Land  gewesen,  in  wel- 
chem man,  ungehindert  durch  die  spärlichen  Bewohner,  seinen 
Wohnsitz  wechseln  könnte,  dem  Lot  die  Wahl  mit  den  Worten: 
„Steht  dir  nicht  das  ganze  Land  offen?  Lieber,  scheide  dich 
von  mir;  willst  du  zur  Linken,  so  will  ich  zur  Rechten,  oder 
willst  du  zur  Rechten,  so  will  ich  zur  Linken",  worauf  Lot 
die  wasserreiche  Jordanaue  wählt,  während  dem  Abraham 
von  Jahve  befohlen  wird:  „Mache  dich  auf  und  durchziehe 
das  Land  nach  seiner  Länge  und  Breite",  worauf  Abraham 
nach  Süden  weiterzieht  und  seine  Zelte  schhefslich  in  dem 
Hain  Mamre's  unweit  Hebron  aufschlägt.  Diese  Schilderungen 
passen  eher  auf  das  Vorleben,  wie  es  die  semitischen  Stämme 
in  den  weiten,  von  fruchtbaren  Landstrichen  durchsetzten 
Steppen  und  Wüsten  der  Halbinsel  Arabien  geführt  haben 
mochten,  als  auf  Palästina,  von  dem  wir  aus  den  Amarna- 
Briefen  wissen,  dafs  es  ein  Land  mit  sefshafter  Bevölkerung 


2.  Sagenhafte  Vorgeschichte  der  Hebräer.  75 

und  befestigten  Städten  war,  welches  von  kleinen,  auf  ihr 
Gebiet  eifersüchtigen  Fürsten  unter  ägyptischer  Oberhoheit 
verwaltet  wurde.  Da  Sarai  unfruchtbar  ist,  erzeugt  Abraham 
mit  einem  Nebenweibe,  der  Hagar,  den  Ismael,  und  auf  Grund 
einer  Verheifsung,  über  die  er  bei  seinem  hohen  Alter  „lachte" 
(jücJiäq,  1.  Mos.  17,17),  mit  der  Sara,  wie  sie  nun  hiefs,  den 
Isaak  (hebr.  Jizchäq) ,  so  dafs  Ismael  und  Isaak  Halbbrüder, 
hingegen  die  beiden  Söhne  Isaaks,  Edom  (Esau)  und  Jakob, 
Brüder  sind,  worin  sich  das  Bewufstsein  der  Hebräer  aus- 
spricht, in  einer  entferntem  Verwandtschaft  mit  den  Ismae- 
litern  (Nordarabern)  und  in  einer  nähern  mit  den  Edomitern 
zu  stehen.  Vorher  schon  hatte  Abraham  vorübergehend  in 
der  Philisterstadt  Gerar  gewohnt,  wo  zum  zweiten  Male  die 
Legende  vorkommt,  dafs  er  aus  Furcht  sein  Weib  für  seine 
Schwester  ausgibt,  worauf  der  Philisterkönig  Abimelech  nach 
ihr  begehrt,  aber  noch  rechtzeitig  erfährt,  dafs  sie  Abrahams 
Weib  ist.  Nachdem  Abraham  mit  Abimelech  in  dem  südlich 
von  Gerar  gelegenen  Beerseba  einen  Vertrag  geschlossen  hat, 
bleibt  er  zunächst  in  Beerseba  wohnen.  Von  hier  aus  unter- 
nimmt er  die  weite  Eeise  nach  dem  Berge  Morija,  dem  spätem 
Tempelplatze  in  Jerusalem,  um  dort  auf  Jahves  Befehl  seinen 
Sohn  Isaak  und  sodann  an  dessen  Stelle  einen  Widder  zu 
opfern,  eine  Sage,  welche  aus  dem  Bestreben  erwachsen  zu 
sein  scheint,  dem  Tempelplatze  die  Weihe  zu  verleihen,  schon 
in  grauer  Vorzeit  eine  Opferstätte  des  Stammvaters  Abraham 
gewesen  zu  sein.  Nachdem  Abraham  nach  Beerseba  zurück- 
gekehrt ist,  um  dort  zu  wohnen,  finden  wir  ihn  weiterhin 
wieder  im  Hain  des  Mamre  bei  Hebron,  wo  Sara  stirbt.  Hier 
kauft  Abraham  für  400  Silbersekel  (1000  Mark)  von  den 
Hethitern  ein  Grundstück  mit  der  Höhle  Machpela  zum  Erb- 
begräbnis, in  welchem  Sara  und  später  er  selbst  bestattet 
werden,  ein  Zug  der  Sage,  welcher  bestimmt  zu  sein  scheint, 
für  die  Nachkommen  ein  Eigentumsrecht  auf  diese  Örtlich- 
keit  zu  begründen.  Nach  Saras  Tod  sendet  Abraham  seinen 
Hausmeister  Elieser  nach  dem  fernen  Haran  am  Euphrat,  um 
aus  seiner  Verwandtschaft  ein  Weib  für  Isaak  zu  freien. 
Elieser  gelangt  dort  in  das  Haus  des  Bethuel,  des  Neffen  Abra- 
hams, freit  um  Rebekka,  die  Tochter  Bethuels  und  Schwester 


76  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

Labans,  und  bringt  sie  nach  Hebron  zurück,  wo  sie  Isaaks 
Gattin  wird.  Auch  bei  Isaak  kehrt  mit  Variationen  die  Er- 
zählung wieder,  wie  er  aus  Anlafs  einer  Teuerui\g  nach  Gerar 
zieht,  dort  Rebekka  für  seine  Schwester  ausgibt  und  vom 
Phihsterkönig  Abimelech  darüber  zurechtgewiesen  wird ;  später 
finden  wir  Isaak  wieder  in  Beerseba.  Inzwischen  hatte  ihm 
Rebekka  Zwilhnge  geboren,  den  Esau  und  Jakob,  aus  dessen 
Namen  {ja'aqob,  „er  hat  die  Ferse  gefafst",  „er  hat  über- 
listet") die  Legende  von  der  zweimaligen  Überlistung  des 
Esau  durch  Jakob  herausgesponnen  zu  sein  scheint,  wie  er 
seinem  Bruder  die  Erstgeburt  für  ein  Linsengericht  abkauft 
und  weiterhin  unter  Rebekkas  Mitwirkung  den  für  Esau  be- 
stimmten Segen  des  Isaak  entwendet.  Aus  Furcht  vor  der 
Rache  seines  Bruders  flieht  Jakob  nach  Haran  zu  seinem  Oheim 
Laban,  dient  diesem  sieben  Jahre  um  Lea,  weitere  sieben  um 
Rahel  und  noch  sechs  Jahre  um  einen  Anteil  an  dessen  Her- 
den, wobei  der  Oheim  den  Nefien  betrügt  und  wieder  von 
ihm  betrogen  wird.  Infolge  der  zwischen  beiden  eingetretenen 
Verstimmung  entflieht  Jakob  heimlich  mit  seinen  Weibern, 
Kindern  und  Herden;  Laban  setzt  ihm  nach,  erreicht  ihn  auf 
dem  Gebirge  Gilead,  sucht  vergebens  nach  dem  von  Rahel 
ihm  entwendeten  Theräphim  und  schhefst  mit  Jakob  Frieden. 
Nach  dem  Abschied  von  Laban  zieht  Jakob  über  den  Jordan, 
versöhnt  sich  mit  seinem  Bruder  Esau  und  läfst  sich  in  Sichem, 
dem  ersten  Wohnplatze  seines  GrofsvateivS  Abraham,  mit  seinen 
zwölf  Söhnen  nieder.  Von  ihnen  hat  Lea  ihm  Rüben,  Simeon, 
Levi  und  Juda  geboren,  sodann  hat  er  von  Raheis  Leibmagd 
Bilha  den  Dan  und  Naphthali,  von  Leas  Leibmagd  Silpa  den 
Gad  und  Asser,  weiter  von  Lea  selbst  noch  den  Issaschar 
und  Sebulon,  und  endlich  von  Rahel  den  Joseph  und  viel 
später  erst,  bei  seiner  Übersiedlung  nach  dem  Süden,  den 
Benjamin.  Hier  betreten  wir  zuerst  historischen  Boden,  sofern 
sich  das  gesamte  Israel  nach  seiner  Besitznahme  des  Gelobten 
Landes  in  zwölf  Stämme  gliederte,  wobei  Levi  ausscheidet 
und  dafür  Joseph  durch  seine  beiden  Söhne,  Ephraim  und 
Manasse,  vertreten  ist.  Diese  zwölf  Stämme  des  Volkes  be- 
nennen sich  nach  ihren  wirklichen  oder  vermeintlichen  Ahn- 
herren, und  die  Zusammengehörigkeit  des  Volkes  Israel  gegen- 


2.   Sagenhafte  Vorgeschichte  der  Hebräer.  77 

über  der  vertriebenen  kanaanäisclien  Bevölkerung  kommt  da- 
durch zum  Ausdruck,  dafs  die  Sage  allen  zwölf  Stamm- 
herren als  gemeinsamen  Ahnherrn  den  Jakob  gab. 

Von  Jakob  wird  weiter  erzählt,  wie  er  von  den  Sichemiten 
ein  Grundstück  für  100  Kesitha  (mutmafslich  400  Sekel)  er- 
wirbt, dann  aber  infolge  eines  Racheaktes,  welchen  zwei  seiner 
Söhne  an  den  Bewohnern  von  Sichern  ausüben,  ähnlich  wie 
Abraham,  südwärts  über  Bethel  und  Bethlehem,  wo  Rahel  bei 
der  Geburt  des  Benjamin  stirbt,  nach  Hebron  zieht.  Dort 
trifft  er  seinen  Vater  Isaak  noch  am  Leben  und  bleibt  auch 
nach  dessen  erfolgtem  Tode  in  der  Gegend  von  Hebron  mit 
seinen  zwölf  Söhnen  und  ihren  Familien  wohnen.  Weiter 
hören  wir,  wie  Jakob  von  Hebron  aus  seine  zehn  ältesten 
Söhne  nach  Sichem  schickt,  um  dort  das  Vieh  zu  hüten,  un- 
geachtet des  von  Simeon  und  Levi  in  Sichem  angerichteten 
Blutbades,  wie  auch  der  grofsen  Entfernung  zwischen  Hebron 
und  Sichem  (etwa  100  Kilometer).  Unbekümmert  um  diese 
materiellen  und  räumlichen  Unwahrscheinlichkeiten  erzählt  die 
Sage  weiter,  wie  Jakob  seinen  siebzehnjährigen  Sohn  Joseph 
zu  den  Brüdern  schickt,  welche  er  endlich  in  Dothan  (unweit 
Jesreel)  findet.  Da  er  sich  durch  hochmütige  Träume  und 
durch  seine  Bevorzugung  von  selten  des  Vaters  bei  den  Brüdern 
mifsliebig  gemacht  hat,  beschHefsen  diese,  ihn  zu  töten,  werfen 
ihn  in  eine  Grube  (angeblich  die,  welche  noch  heute  nördlich 
vom  See  Genezareth  gezeigt  wird)  und  verkaufen  ihn  schliefs- 
lich  für  zwanzig  Silbersekel  an  vorüberziehende  ismaelitische 
Kaufleute,  die  ihn  nach  Ägypten  bringen.  Hier  erwirbt  ihn 
Potiphar,  ein  Hofbeamter  und  Oberster  der  Leibwache  des 
Pharao.  Von  Potiphars  Weib  verleumdet,  wird  er  ins  Ge- 
fängnis geworfen,  erwirbt  die  Gunst  des  Gefängnisaufsehers 
und  wird  von  ihm  mit  der  Bedienung  der  übrigen  Gefangenen 
betraut.  Zwei  derselben,  der  Mundschenk  und  der  Bäcker 
Pharaos,  haben  Träume,  welche  Joseph  deutet.  Der  Bäcker 
wird  hingerichtet,  der  Mundschenk  wieder  in  sein  Amt  ein- 
gesetzt. Zwei  Jahre  vergehen,  ohne  dafs  er  sich  für  den  ge- 
fangenen Joseph  verwendet.  Da  hat  Pharao  seine  beiden 
Träume  von  den  sieben  fetten  Kühen,  die  von  den  sieben 
magern  Kühen,  und  von  den  sieben  fetten  Ähren,  die  von  den 


78  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

sieben  magern  Ähren  verschlungen  werden.  Niemand  kann 
die  Träume  deuten.  Da  gedenkt  der  Mundschenk  des  Joseph. 
Er  wird  aus  dem  Gefängnis  geholt  und  legt  dem  Pharao  seine 
Träume  aus:  Es  werden  sieben  fette  und  nach  ihnen  sieben 
magere  Jahre  kommen.  Er  rät  dem  Pharao,  während  der 
fetten  Jahre  Getreide  für  die  kommenden  Zeiten  der  Not  auf- 
zuspeichern, und  Pharao  macht  ihn  zum  Aufseher  über  das 
ganze  Land  Ägypten  und  gibt  ihm  Asnath,  die  Tochter  des 
Oberpriesters  von  On  (Heliopolis)  zum  Weibe,  welche  dem 
Joseph  noch  vor  den  Jahren  der  Teuerung  zwei  Söhne,  Ma- 
nasse  und  Ephraim,  gebiert.  Auf  die  Jahre  des  Überflusses 
folgen  sieben  Jahre  der  grofsen  Not ;  die  Ägypter  verbrauchen 
all  ihr  Geld,  um  von  Joseph  Getreide  zu  kaufen,  und  ver- 
pfänden nach  und  nach,  um  leben  zu  können,  ihre  Herden, 
ihre  Äcker  und  schliefslich  sich  selbst  dem  Pharao,  der  sie 
als  Leibeigene  in  ihrem  Besitze  beläfst  mit  der  Bedingung, 
dafs  sie  von  allen  Einnahmen  den  fünften  Teil  an  Pharao  ab- 
geben müssen.  Auch  auf  Kanaan  lastet  die  Hungersnot,  und 
Jakob  sendet  seine  zehn  ältesten  Söhne  nach  Ägypten,  um 
Speise  zu  kaufen.  Joseph  erkennt  seine  Brüder,  ohne  dafs  sie 
ihn  erkennen.  Er  fährt  sie  hart  an,  erklärt  sie  für  Kund- 
schafter, fragt  sie  nach  ihren  Famihenverhältnissen,  verlangt, 
dafs  sie  den  Benjamin  nach  Ägypten  bringen,  hält  den  Simeon 
als  Pfand  zurück  und  entläfst  die  übrigen,  nachdem  er  ihre 
Esel  mit  Säcken  voll  Getreide  und  dem  Geld  oben  in  den 
Säcken  hat  beladen  lassen.  Sie  kommen  nach  Hebron  zurück, 
das  Getreide  wird  aufgebraucht,  die  Hungersnot  dauert  fort. 
Ungern  läfst  Jakob  den  Benjamin  mitziehn,  als  die  Söhne 
zum  zweiten  Male  nach  Ägypten  reisen.  Joseph  läfst  sie  be- 
wirten, wobei  dem  Benjamin  fünfmal  so  viel  vorgelegt  wird 
wie  den  übrigen  (L  Mos.  43,34).  Hierauf  läfst  er  ihre  Esel 
mit  Getreidesäcken  beladen,  das  Geld  oben  in  die  Säcke  legen, 
in  Benjamins  Sack  aber  seinen  silbernen  Becher,  „aus  dem  er 
zu  wahrsagen  pflegte",  verstecken.  Kaum  haben  die  Männer 
die  Stadt  verlassen,  so  läfst  er  ihnen  nachsetzen  und  sie 
zurückholen.  Der  Becher  wird  in  Benjamins  Sack  gefunden, 
und  Joseph  will  den  Benjamin  zurückbehalten.  Nachdem  die 
Angst  der  Brüder  aufs  höchste  gestiegen  ist,  kann  sich  Joseph 


2.  Sagenhafte  Vorgeschichte  der  Hebräer.  79 

nicht  länger  halten,  und  iij  einer  ergreifenden  Szene  gibt  er 
sich  seinen  Brüdern  zu  erkennen.  Er  veranlafst  sie,  nach 
Kanaan  zurückzuziehen  und  seinen  Vater  mit  seiner  ganzen 
Familie  und  aller  seiner  Habe  nach  Ägypten  zu  holen.  Sie 
kehren  zurück,  Jakob  willigt  ein  und  siedelt  mit  seinen 
Weibern,  Nachkommen  und  Herden  nach  Ägypten  über,  wo 
ihnen  auf  Josephs  Verwenden  von  Pharao  das  Weideland 
Gosen  im  Nordosten  von  Ägypten  zur  Wohnung  angewiesen 
wird.  Die  Gesamtzahl  der  Nachkommen  Jakobs  ohne  die 
Weiber  beträgt  Sechsundsechzig,  mit  Einschlufs  Josephs,  seiner 
beiden  Söhne  und  Jakob  selbst  siebenzig  Seelen.  Jakob  stirbt 
in  Ägypten,  sein  Leichnam  wird  unter  grofsen  Feierlichkeiten 
nach  Hebron  übergeführt  und  dort  im  Erbbegräbnis  der  Fa- 
milie bestattet.  Seine  Nachkommen  aber  bleiben  im  Lande 
Gosen  wohnen. 

Vierhundertunddreifsig  Jahre  verstreichen;  die  Familie 
Jakobs  ist  zu  einem  Volke  von  600000  wehrfäliigen  Männern 
geworden.  Ein  neuer  Pharao  herrscht  über  Ägypten,  „der 
wufste  nichts  von  Joseph".  Mit  Besorgnis  sieht  der  Pharao 
(angeblich  Ramses  TL.,  1297 — 1230  a.  C.)  das  Anwachsen  der 
israelitischen  Bevölkerung;  er  bedrückt  sie  durch  Frondienste 
beim  Bau  der  Städte  Pithom  und  Ramses  (im  nordöstlichen 
Ägypten)  und  befiehlt  schliefslich,  dafs  alle  männlichen  Kinder 
nach  der  Geburt  im  Nil  ertränkt  werden  sollen.  Ein  hebräisches 
Knäblein  wird  von  der  Königstochter  im  Schilf  des  Nilwassers 
gefunden;  sie  nennt  ihn  Mose,  nimmt  ihn  an  Kindes  Statt  an 
und  läfst  ihn  nach  einer  allerdings  sehr  spät  auftretenden  Be- 
hauptung (Apostelgesch.  7,22)  in  aller  Wöisheit  der  Ägypter 
erziehen.  Herangewachsen,  ist  er  Zeuge  der  Mifshandlung 
eines  Hebräers  durch  einen  Ägypter,  tötet  diesen  und  flieht 
nachMidian,  wo  er  die  Schafe  des  Oberpriesters  Jethro  hütet 
und  dessen  Tochter  Zippora  heiratet,  die  ihm  den  Gerson  ge- 
biert. Am  Berge  Horeb  erscheint  ihm  Jahve  in  einem  brennen- 
den Dornbusch  und  befiehlt  ihm,  das  Volk  Israel  aus  Ägypten 
auszuführen.  Wie  vorher  bei  seiner  Fluclit,  zeigt  sich  auch 
hier  Mose  furchtsam  und  zaghaft,  ein  Charakterzug,  der  nicht 
recht  zu  dem  gewaltigen  und  oft  gewalttätigen  Manne  passen 
will,  als  welcher  Mose  später  erscheint.     Sein  Bruder  Aaron 


80  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

wird  ihm  beigegeben,  beide  bekunden  vor  ihren  Landesgenossen 
durch  Wunderzeichen  ihre  götthche  Sendung  und  treten  vor 
Pharao  (es  müfste,  da  nach  2.  Mos.  2,23  der  vorige  Pharao 
gestorben  war,  dessen  Sohn,  also  Merneptah  L,  seit  1230  a.  C, 
gewesen  sein)  und  fordern  die  Freilassung  der  Hebräer.  Da 
Jahve  Pharaos  Herz  verstockt  hat,  so  zeigt  er  sich  wider- 
spenstig, und  furchtbare  Plagen  kommen  über  Ägypten,  bei 
denen  der '  sagenhafte  Charakter  sich  ins  Märchenhafte  ver- 
liert. Da  soll  alles  Wasser  des  Nils  sieben  Tage  lang  in  Blut 
verwandelt  worden  sein,  da  sollen  der  Reihe  nach  Frösche, 
Stechmücken,  Hundsfliegen,  Rinderpest,  Blattern,  Hagel  und 
Heuschrecken  ganz  Ägypten  heimgesucht  haben;  sodann  läfst 
Jahve  drei  Tage  lang  eine  Finsternis  über  Ägypten  kommen, 
so  dicht,  dafs  man  sie  greifen  konnte,  während  es  in  den 
Wohnungen  der  Hebräer  hell  bleibt.  Aber  immer  wieder 
nimmt  Pharao  die  schon  gegebene  Erlaubnis  zum  Auszuge 
zurück.  Endlich  tötet  Jahve  in  der  Nacht  des  vierzehnten 
Nisan  alle.  Erstgeburt  in  Ägypten,  während  die  Hebräer  in 
ihren  Häusern  zu  ungesäuerten  Broten  das  Passahlamm  essen 
und  mit  seinem  Blute  ihre  Türpfosten  bestreichen,  so  dafs 
Jahve  ihre  Wohnungen  von  denen  der  Ägypter  unterscheiden 
und  verschonen  kann.  Jetzt  endlich  läfst  Pharao  die  Israe- 
liten ziehen ;  in  der  Eile  brechen  sie  auf  und  nehmen  die  von 
den  Ägyptern  entliehenen  goldenen  und  silbernen  Gefäfse  mit 
sich,  und  so  wenig  geklärt  ist  noch  die  hebräische  GotteS- 
vorstellung,  dafs  sie  diesen  Diebstahl  auf  Jahves  Geheifs 
vollführen  (2.  Mos.  11,2  und  2.  Mos.  12,35).  Die  Hebräer  ge- 
gelangen an  das  Rote  Meer,  Pharao  setzt  ihnen  nach,  die 
Wasser  des  Meeres  treten  auf  JaTives  Geheifs  aus  einander, 
die  Hebräer  ziehen  zwischen  den  einen  Damm  bildenden  Ge- 
wässern trocknen  Fufses  hindurch,  während  der  sie  verfolgende 
Pharao  mit  allen  seinen  Reitern  und  Streitwagen  in  dem  zurück- 
flutenden Wasser  ertrinkt.  Das  Volk  zieht  weiter  südwärts 
in  der  Wüste  Sin,  erringt  einen  Sieg  über  die  Amalekiter  und 
gelangt  drei  Monate  nach  dem  Auszuge  an  den  Berg  Sinai 
(Horeb).  Mose  steigt  auf  den  Berg.  Unter  Donner,  Blitz  und 
Erdbeben  werden  dem  Volke  die  zehn  Gebote  durch  Jahve 
selbst  (19,9.  20,22),  die  Rechtssatzungen  und  Kultusvorschriften 


2.   Sagenhafte  Vorgeschichte  der  Hebräer.  81 

durch  Mose  mitgeteilt.  Während  Mose  vierzig  Tage  auf  dem 
Berge  verweilt,  verfertigt  Aaron  auf  Drängen  des  Volkes  aus 
den  goldenen  Ringen  der  Weiber  und  Kinder  ein  goldenes 
Kalb,  dem  zu  Ehren  ein  Fest  gefeiert  wird.  Mose  kommt 
zurück,  zerschmettert  im  Zorn  die  von  Jahve  selbst  ange- 
fertigten und  beschriebenen  Tafeln  (2.  Mos.  32,16),  läfst  das 
Volk  den  Goldstaub  des  zerstofsenen  Kalbes  in  Wasser  trinken 
und  durch  die  Söhne  Levis  3000  Mann  im  Lager  erschlagen. 
Dann  verfertigt  er  neue  Tafeln,  steigt  auf  den  Berg,  wo  er 
wiederum  vierzig  Tage  ohne  Speise  und  Trank  verweilt,  die 
„zehn  Gebote"  auf  die  Tafeln  schreibt  (2.  Mos.  34,28)  und 
weitere  Kultusgebote  mündlich  von  Jahve  empfängt  und  dem 
Volke  überbringt.  Im  zweiten  Jahre  nach  dem  Auszuge  zieht 
das  Volk  vom  Berge  Sinai  nordwärts,  ernährt  durch  das  täg- 
lich gesammelte  Manna  und  geleitet  durch  die  Wolkensäule, 
in  welcher  Jahve  vor  ihnen  herzieht.  Sie  gelangen  an  die 
Südgrenze  Palästinas  und  senden  Kundschafter  aus,  welche 
von  der  Fruchtbarkeit  des  Landes,  aber  auch  von  der  grofsen 
Kraft  seiner  Bewohner  berichten.  Das  Volk  verzagt,  und 
Jahve  bestimmt,  dafs  sie  vierzig  Jahre  lang  in  der  Wüste 
verweilen  sollen,  bis  eine  neue  Generation  herangewachsen  ist; 
von  allen  Männern  über  zwanzig  Jahre  sollen  nur  Josua  und 
Kaleb  in  das  verheifsene  Land  gelangen.  Nachdem  sodann 
die  Israeliten  noch  achtunddreifsig  Jahre  auf  der  Halbinsel 
Sinai  herumgezogen  und  während  dieser  ganzen  Zeit  durch  das 
täghch  gesammelte  Manna  ernährt  worden  sind,  wollen  sie 
durch  das  Land  der  Edomiter  (zwischen  dem  Toten  Meer  und 
dem  Alanitischen  Meerbusen)  durchziehen.  Diese  verweigern 
ihnen  den  Durchzug;  sie  wenden  sich  nach  Süden,  ziehen 
am  Alanitischen  Meerbusen  um  das  Edomiterland  herum, 
wenden  sich  dann  nordwärts  und  gelangen  zwischen  Moabitern 
und  Ammonitern  durch  in  das  Gebiet  der  Amoriter  östlich 
vom  Jordan.  Sie  schlagen  diese,  nehmen  ihr  Land  ein  und 
gelangen,  immer  weiter  nach  Norden  vordringend,  bis  zum 
Reich  Basan  nordöstlich  vom  Gebirge  Gilead.  Sie  besiegen 
den  König  von  Basan  und  ziehen  wieder  südwärts  bis  an  den 
Jordan  gegenüber  Jericho  in  die  Nachbarschaft  der  Moa- 
biter.    Balak,  König  der  Moabiter,  fürchtet  sie  und  läfst  den 

Dbussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii.  6 


12>6'[S^ 


82  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

Propheten  Bileam  von  Pehor  am  Euphrat  holen,  um  das  Volk 
zu  verfluchen,  er  aber  mufs  es  auf  Jahves  Befehl  segnen.  Das 
Land  der  Amoriter  und  Basan  wird  an  die  Stämme  Ruhen, 
Gad  und  Halb-Manasse  verteilt,  unter  der  Bedingung,  dafs  sie 
helfen,  das  Land  jenseits  des  Jordan  zu  erobern.  Mose  schärft 
noch  einmal  dem  Volke  das  ganze  Gesetz  ein  (Deuteronomium) 
und  stirbt  auf  dem  Berge  Nebo,  nachdem  er  seinen  Diener 
Josua  zu  seinem  Nachfolger  eingesetzt  hat. 


Diese  Vorgeschichte  des  hebräischen  Volkes,  wie  sie  in 
den  fünf  Büchern  Mose  in  schlichter,  epischer  Form,  stellen- 
weise mit  grofser  poetischer  Kraft  und  Anmut  vorgetragen 
wird,  enthält  ohne  Zweifel  in  allen  drei  Perioden,  dem  Leben 
der  Erzväter  in  Palästina,  dem  vierhundertjährigen  Aufenthalt 
des  Volkes  in  Ägypten  und  endlich  seinem  vierzigjährigen  Zuge 
durch  die  Wüste,  alte,  in  den  Familien  fortgeerbte  historische 
Erinnerungen,  wofür  schon  die  zahlreichen  Aufzählungen  von 
Namen  und  Familienstammbäumen  Zeugnis  ablegen.  Aber 
diese  Erinnerungen  sind  durch  poetische  Ausschmückung  und 
Steigerung  der  Begebenheiten  ins  Wunderbare  erhoben  und 
dermafsen  verdunkelt  worden,  dafs  es  nicht  möglich  sein  dürfte, 
die  Tatsachen  zu  ermitteln,  welche  ihnen  zugrunde  gelegen 
haben.  Am  wenigsten  Anspruch  auf  historischen  Wert  haben 
die  Erlebnisse  der  drei  Erzväter  im  heiligen  Lande.  Schon 
ihre  Namen  Abram  (hoher  Vater),  später  Abraham  (gedeutet 
als  Vater  der  Menge),  Isaak  (er  hat  gelacht)  und  Jakob  (er 
hat  überlistet)  zeigen  eine  verdächtige  Analogie  mit  den  er- 
zählten Begebenheiten;  die  Schilderung  ihres  Lebens  und 
Treibens  will  nicht  zu  dem  Bilde  von  Palästina  stimmen, 
welches  wir  zweihundert  Jahre  später  aus  den  Amarna-Briefen 
erhalten,  und  wiederholt  tritt  die  Tendenz  hervor,  eine  Art 
Anspruch  auf  den  Besitz  des  Heiligen  Landes,  durch  genaue 
Darlegung  des  Grunderwerbs  von  Seiten  Abrahams  in  Hebron 
und  Jakobs  in  Sichem,  zu  begründen.  Somit  bestellt  die  Mög- 
lichkeit, dafs  die  Vorfahren  des  israelitischen  Volkes  vor  seiner 
Invasion  unter  Josua  das  Heilige  Land  überhaupt  nie  betreten 
haben.  ■ —  Gröfsere  Wahrscheinlichkeit  hat  ein  längeres  Wohnen 
des  hebräischen  Stammes  in    einem  Grenzdistrikt  des  nord- 


2.  Sagenhafte  Vorgeschichte,  der  Hebräer.  83 

östlichen  Ägyptens;  denn  es  ist  öfter  vorgekommen,  dafs  die 
Ägypter  einem  aus  der  Wüste  gegen  das  reiche  Land  an- 
dräno-enden  Nomadenstamme  Wohnsitze  an  der  Grenze  ein- 
räumten,  teils  um  Ruhe  vor  ihnen  zu  haben,  teils  um  in  ihnen 
einen  Schutzwall  gegen  weitere  Eindringlinge  zu  besitzen. 
Auffallenderweise  aber  haben  die  Denkmäler  Ägyptens  nach 
dem  Urteil  unbefangener  Ägyptologen  keine  Erinnerung  an 
das  Wohnen  der  Hebräer  in  ihrem  Lande,  an  ihren  gewalt- 
samen Aufbruch  und  an  den  Untergang  eines  Pharao  bei  ihrer 
Verfolgung  erhalten.  Es  könnte  sich  also  dabei  nur  um  kleine 
Vorkommnisse  handeln,  welche  von  der  dichtenden  Sage  ins 
Fabelhafte  gesteigert  worden  sind.  —  Möglich  und  sogar  wahr- 
scheinlich ist  es  endlich,  dafs  das  Nomadenvolk  der  Hebräer 
vor  der  Invasion  Palästinas  längere  Zeit  in  den  Steppengebieten 
der  Halbinsel  Sinai  mit  seinen  Zelten  und  Herden  umher- 
gezogen ist  und  an  dem  alten  Götterberge  Horeb  durch  einen 
hervorragenden  Heerführer  die  Grundgesetze  seiner  theokrati- 
schen  Verfassung  erhalten  hat,  bis  es  endlich,  gestärkt  durch 
das  entbehrungsreiche  Wüstenleben,  die  Kraft  in  sich  fand, 
zuerst  vergeblich  von  Süden  her,  dann  mit  besserm  Erfolge 
von  Nordosten  und  Osten  aus  in  das  ihnen  so  oft  verheifsene, 
mit  andern  Worten,  in  das  so  lange  und  heifs  von  ihnen  be- 
gehrte Kulturland  Palästinas  einzubrechen  und  seine  bis- 
herigen Bewohner  unter  harten  und  grausamen  Kämpfen  aus- 
zurotten. Viele,  welche  Abraham,  Isaak  und  Jakob  preis- 
geben, möchten  doch  an  der  Geschichtlichkeit  des  Mose  als 
Begründer  des  hebräischen  Monotheismus  festhalten.  Aber 
wenn,  wie  wir  später  sehen  werden,  das  Deuteronomium  das 
Gesetzbuch  des  Königs  Josia  um  622  a.  C,  und  der  Leviticus, 
nach  einer  sehr  einleuchtenden  Hypothese,  erst  das  Gesetz- 
buch des  zweiten  Tempels  unter  Esra  (458  a.  C.)  und  Nehemia 
ist  —  was  bleibt  dann  von  Mose  noch  übrig?  Die  von  der 
Sage  ausgeschmückte  Gestalt  eines  uralten  Heros  der  Gesetz- 
gebung, auf  dessen  Namen  man  alle  die  in  der  Folgezeit  nach 
und  nach  entstandenen  theokratischen  Gesetze  des  Volkes 
Israel  zurückführte,  um  ihnen  dadurch  eine  höhere  Sanktion 
zu  verleihen. 


84  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

3,  Geschichte  der  Hebräer  von  der  Eroberung  Palästinas  bis  zum 
babylonischen  Exil. 

In  der  Geschichte  der  Hebräer  gewinnen  wir  zum  ersten- 
mal festern  Boden  in  der  Tatsache,  dafs  um  die  Zeit,  wo  das 
Reich  der  Cheta  im  Norden  zerfallen  und  der  Einflufs  Ägyptens 
im  Süden  Palästinas  gebrochen  war,  also  etwa  um  das  Jahr 
1150  a.  C,  das  nomadisierende  Volk  der  Hebräer  aus  der 
Wüste  vom  Ostjordanlande  her  in  Palästina  eindrang,  um  es 
unter  harten  Kämpfen  und  einer  oft  grausamen  Ausrottung  der 
Bewohner  in  Besitz  zu  nehmen.  Dafs  dabei  die  Kinder  Israel 
nicht  von  der  Halbinsel  Sinai  her,  wo  sie  nach  ihrer  Tradition 
zuletzt  geweilt  hatten,  sondern  vom  Waldgebirge  Gilead  im 
Ostjordanlande  zu  beiden  Seiten  des  Jabok  aus  eindrangen, 
ist  nicht  weiter  auffallend,  wenn  man  bedenkt,  dafs  im  Süden 
Palästinas  die  Midianiter,  Amalekiter  und  Edomiter  den  Durch- 
bruch schwer  oder  unmöglich  machten,  wälirend  im  Osten  ein 
Durchzug  zwischen  Moab  und  Ammon  und  eine  Überwältigung 
der  das  Gebirgsland  besitzenden  Amoriter  leichter  ausführbar 
war.  Hier  im  Ostjordanland  setzten  sich  die  Stämme  Rüben, 
Gad  und  Halb-Manasse  fest,  während  die  übrigen,  von  diesen 
unterstützt,  den  Jordan  überschritten,  um  sich  jenseits  des- 
selben Wohnsitze  zu  erkämpfen.  Die  Art,  wie  dieses  aus- 
geführt wurde,  ist  im  einzelnen  nicht  mit  Sicherheit  klar- 
zulegen. Der  natürliche  Verlauf  der  Dinge  ist,  wie  in  der 
frühern  Periode  durch  die  Sage,  so  in  der  gegenwärtigen 
durch  den  künstlichen,  von  den  spätem  Berichterstattern  her- 
gestellten theokratischen  Pragmatismus  verdunkelt  worden. 
Wie  Mose  der  Heros  der  Gesetzgebung,  so  ist  für  sie  Josua 
der  Held,  unter  dessen  Führung  die  Eroberung  Kanaans 
in  sieben  Jahren  vollbracht  worden  sein  soll.  In  Wahrheit 
wird  man  einen  viel  längern  Zeitraum  anzunehmen  haben, 
ehe  die  Okkupation  des  Landes  auch  nur  teilweise  gelang. 
Wie  es  scheint,  haben  dabei  die  einzelnen  Stämme  auf  eigene 
Hand  verfahren,  indem  sie  versuchten,  hier  und  da,  wo  es 
am  leichtesten  ausführbar  war,  sich  Wohnsitze  zu  erstreiten. 
Am  wenigsten  gelang  dies  in  den  fruchtbaren  Ebenen  am 
Meere,  welche  südlich  von  den  Philistern,  nördlich  von 
den  Phönikern   besetzt  waren  und   nie  völlig  erobert  worden 


3.   Geschichte  der  Hebräer  seit  der  Eroberung  Palästinas.  85 

sind.  Aber  auch  im  Gebirge  konnten  viele  Städte,  wie  Jebus, 
Gibeon,  Megiddo  u.  a.,  nicht  eingenommen  werden.  Manche 
Städte  erkauften  ihre  Freiheit  durch  Zahlung  eines  Tributs 
an  die  Hebräer,  in  andern  verschmolzen  diese  mit  der  ein- 
heimischen Bevölkerung,  wie  dies  namentlich  in  Sichem  der 
Fall  gewesen  zu  sein  scheint,  während  in  Jebus  (Jerusalem) 
auch  nach  der  Eroberung  durch  David  neben  der  hebräischen 
die  jebusitische  Bevölkerung  sich  behauptete  „bis  auf  diesen 
Tag",  d.  h.  bis  auf  die  Zeit  des  Jahvisten  (850  a.  C.)  und  erst 
nach  und  nach  mit  ihr  verschmolz,  wodurch  hier  und  an  vielen 
andern  Orten  der  den  Hebräern  ursprünglich  wie  allen  semi- 
tischen Stämmen  eigene  Polytheismus  eine  weitere  Stärkung 
erfahren  mufste.  Endlich  gelang  es  den  verschiedenen  Stämmen, 
feste  Wohnsitze  zu  erobern;  östlich  vom  Jordan  hatten  sich, 
wie  schon  bemerkt,  Rüben,  Gad  und  Halb-Manasse  angesiedelt, 
im  Westjordanlande  finden  wir  südlich  die  Eeste  des,  wie 
es  scheint,  aufgeriebenen  und  bald  aus  der  Geschichte  ver- 
schwindenden Stammes  Simeon  und  den  erst  spät  zur  Kon- 
solidation gelangten  Stamm  Juda  nebst  dem  kleinen  Benjamin; 
im  Norden  breitete  sich  der  mächtige  Stamm  aus,  welcher 
den  Joseph  als  seinen  Stammvater  verehrte  und  sich  in  Ma- 
nasse  und  Ephraim  teilte,  welche  von  der  Sage  dem  Joseph 
als  Söhne  beigegeben  wurden,  während  Ephraim  ursprünglich 
nur  der  Name  der  von  den  Hebräern  okkupierten  Gebirgs- 
landschaft war.  Weiter  im  Norden  finden  wir  südlich  vom 
See  Genezareth  den  Stamm  Issaschar,  an  diesem  selbst  die 
Stämme  Sebulon  und  Naphthali,  und  im  äufsersten  Nordwesten 
an  das  Meer  angelehnt  den  Stamm  Asser.  Am  spätesten  ge- 
lang es  dem  Stamme  Dan  zur  Ruhe  zu  kommen.  Nach  der 
Sage  von  Simson,  einem  Helden  aus  diesem  Stamme,  scheint 
er  versucht  zu  haben,  sich  in  der  Nähe  des  Philisterlandes 
festzusetzen,  bis  er  beschlofs,  ganz  im  Norden  Palästinas  sich 
eine  dauernde  Heimat  zu  erobern.  Auf  dem  Durchzuge  durqh 
das  Gebirge  Ephraim  raubte  er  die  dort  von  Micha  verehrten 
Kultusobjekte,  zwei  Götterbilder,  sowie  einen  Ephod  und  einen 
Theräphim,  nebst  dem  zugehörigen  Priester  und  eroberte  die 
südlich  vom  Libanon  an  den  Jordanquellen  gelegene  Stadt 
Lais,  welche  seitdem  den  Namen  Dan  führte. 


86  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

So  hatten  sich  denn  die  Israehten  überall,  wo  sich  eine 
günstige  Gelegenheit  bot,  mitten  unter  den  Kanaanäern  an- 
gesiedelt, und  nicht  einmal  die  einzelnen  Stämme  besafsen  ein 
kontinuierlich  zusammenhängendes  Terrain,  so  dafs  es  den 
um  sie  herum  und  oft  mitten  zwischen  ihnen  wohnenden 
Kanaanäern,  zumal  sie  in  der  Anfertigung  von  Waffen  und 
in  der  Kunst  der  Kriegführung  überlegen  waren,  leicht  ge- 
wesen wäre,  die  eindringenden  Hebräer  in  die  Wüste  zurück- 
zuwerfen, hätte  es  nicht  den  einen  wie  den  andern  an  einem 
Zusammenschlüsse  zu  gemeinsamem  Handeln  gefehlt.  „So 
wohnten  die  Israeliten  inmitten  der  Kanaaniter,  Hethiter, 
Amoriter,  Pheresiter,  Heviter  und  Jebusiter,  nahmen  ihre 
Töchter  zu  Frauen  und  verheirateten  ihre  eigenen  Töchter 
an  die  Söhne  jener  und  dienten  ihren  Göttern"  (Rieht.  3,5 — 6) 
Die  Folge  dieser  Zustände  war  eine  Periode  fortwährender 
Beunruhigung  von  beiden  Seiten;  die  Hebräer  suchten  ihre 
Eroberungen  zu  erweitern,  die  Kanaanäer  waren  bestrebt,  das 
Verlorene  zurückzugewinnen,  Raubzüge,  um  sich  gegenseitig 
die  Herden  wegzutreiben  oder  zur  Erntezeit  die  Feldfrüchte 
der  feindlichen  Nachbarn  sich  anzueignen,  erfolgten  von  beiden 
Seiten,  und  nicht  selten  mufsten  die  Hebräer  ihre  eroberten 
Positionen  aufgeben  und  sich  in  die  Klüfte  und  Höhlen  der 
Gebirge  flüchten;  „und  da  der  Midianiter  Hand  zu  stark  ward 
über  Israel,  machten  die  Kinder  Israel  für  sich  Klüfte  in  den 
Gebirgen  und  Höhlen  und  Festungen;  und  wenn  Israel  etwas 
säete,  so  kamen  die  Midianiter  und  Amalekiter  und  die  aus 
dem  Morgenlande  herauf  über  sie  und  lagerten  sich  wider  sie 
und  verderbten  das  Gewächs  auf  dem  Lande  bis  hinan  gen 
Gaza;  und  liefsen  nichts  übrig  von  Nahrung  in  Israel,  weder 
Schaf  noch  Ochsen  noch  Esel"  (Rieht.  6,2 — 4).  In  solchen 
Zeiten  der  Not  pflegte  es  zu  geschehen,  dafs  im  Volke  Israel 
kräftige  Männer  aufstanden,  sich  an  die  Spitze  eines  kleinern 
oder  gröfsern  Haufens  stellten,  um  gegen  den  Feind  vorüber- 
gehende oder  auch  dauernde  Erfolge  zu  erringen.  Man  nannte 
sie  Richter  fscliophet),  vielleicht  nicht  so  sehr  darum,  weil  sie, 
wie  gewöhnlich  erklärt  wird,  dem  Volke  Recht  schafften  gegen 
seine  Feinde,  denn  hier  war  nicht  von  Recht,  sondern  nur  von 
Gewalt  die  Rede,  sondern  weil  Kriegshelden  dieser  Art  durch 


3.   Geschichte  der  Hebräer  seit  der  Eroberung  Palästinas.  87 

ihre  Erfolge  gegen  den  Feind  ein  Ansehen  unter  ihren  Stammes- 
brüdern erlangten,  auf  Grund  dessen  man  ihnen  auch  die  Ent- 
scheidung in  Rechtsstreitigkeiten  übertrug,  wie  ja  auch  später 
die  Könige  zugleich  das  oberste  Richteramt  ausübten.  Eine 
gröfsere  Anzahl  solcher  Richter  werden  genannt;  am  ge- 
feiertsten und  am  lebendigsten  in  der  Erinnerung  des  Volkes 
fortlebend  waren  Gideon  aus  Ophra  im  Stamm  Manasse,  wel- 
cher einen  grofsen  Sieg  über  die  Midianiter  errang,  aber  die 
ihm  angetragene  Königswürde  ablehnte,  während  AbimelecJi, 
sein  Sohn  von  einem  Nebenweibe,  sich  zum  König  wählen 
liefs,  seine  siebzig  Brüder  ermordete,  aber  schon  nach  drei 
Jahren  bei  einer  Belagerung  seinen  Tod  fand;  sodann  JepJita 
aus  dem  Gebirge  Gilead  jenseits  des  Jordan,  welcher,  nach 
einer  dunkeln  Vergangenheit  von  seinen  Stammesgenossen  an 
die  Spitze  gestellt,  einen  glänzenden  Sieg  über  die  Ammoniter 
erfocht  und,  da  er  gelobt  hatte,  das  erste  Wesen,  welches 
ihm  bei  der  Heimkehr  begegnen  würde,  dem  Jahve  zum 
Opfer  zu  bringen,  an  seiner  einzigen,  ihm  entgegentretenden 
Tochter  das  Gelübde  erfüllte;  endlich  Simson  aus  dem  Stamme 
Dan,  der  hebräische  Herakles,  und,  wie  dieser,  vielleicht  von 
Haus  aus  eine  mythische  Gestalt  (oben  S.  49),  in  dessen  Bild 
die  dichtende  Sage  brutale  Kraft  und  geistige  Beschränktheit 
nicht  ohne  Beimischung  humoristischer  Züge  verwoben  hat, 
und  dessen  abenteuerliche,  gegen  die  Philister  als  Erbfeinde 
der  Nation  ausgeführten  Streiche  ihn  zu  einer  Lieblingsfigur 
der  hebräischen  Volkssage  machten. 

Immer  gröfser  wurde  in  dieser  Zeit  der  Wirren  die  Be- 
drängnis durch  die  Philister;  in  einer  Schlacht  bei  Eben-Ezer 
erbeuteten  sie  sogar  vorübergehend  die  aus  Silo  herbeigeholte 
Bundeslade,  der  ganze  Süden  Palästinas  kam  in  ihre  Gewalt; 
sie  verboten  den  Israeliten  den  Gebrauch  eiserner  Waffen  und 
errichteten  bis  nach  Gibeä  im  Stamme  Benjamin  hin  Sieges- 
säulen als  Wahrzeichen  ihrer  Herrschaft.  Da  erhob  sich  Smd, 
der  Sohn  des  Kis,  aus  dem  Stamme  Benjamin,  befreite  zu- 
sammen mit  seinem  Sohne  Jonathan  durch  einen  Sieg  das 
Land  von  der  Philisterherrschaft  und  liefs  sich,  wie  es  scheint 
unter  Widerstreben  der  Priesterschaft,  von  den  Stämmen  des 
südlichen  Palästinas  zum  König  wählen.     Seine  Herkunft  aus 


88  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

dem  kleinen,  zum  Teil  aufgeriebenen  Stamme  Benjamin  er- 
leichterte, bei  der  Eifersucht  der  Stämme  auf  einander,  seine 
Anerkennung,  erschwerte  aber  den  dauernden  Bestand  seiner 
Herrschaft,  da  er  sich  nicht  auf  einen  gröfsern  Anhang  des 
eigenen  Stammes  stützen  konnte.  Zunächst  breitete  sich  seine 
Herrschaft  in  immer  weiterm  Kreise  aus:  „Als  nun  Saul  das 
Königtum  über  Israel  gewonnen  hatte,  führte  er  Kriege  ringsum 
gegen  alle  seine  Feinde:  gegen  Moab,  gegen  die  Ammoniter, 
gegen  Edom,  gegen  den  König  von  Zoba  und  gegen  die 
Philister,  und  wohin  er  sich  auch  wandte,  da  war  er  sieg- 
reich" (1.  Sam.  14,47).  Durch  Entsetzung  der  von  den  Am- 
monitern  hart  bedrängten  Stadt  Jabes  in  Gilead  breitete  er 
seine  Macht  auch  jenseits  des  Jordan  aus  und  erfocht  einen 
grofsen  Sieg  über  die  Amalekiter,  bei  welchem  deren  König 
Agag  in  seine  Hände  fiel.  Vergebens  versuchte  er  den  ge- 
fangenen Fürsten  vor  dem  Fanatismus  der  mächtigen  Priester- 
schaft zu  retten.  Sie  nahm  Partei  gegen  ihn  und  veranlafste 
den  David ^  einen  Waffenträger  und  Günstling  des  Saul,  der 
mit  dessen  Sohn  Jonathan  einen  engen  Freundschaftsbund 
geschlossen  hatte,  von  Saul  abzufallen;  David  mufste  fliehen, 
wurde  von  Saul  verfolgt  und  fand  schliefslich  eine  Zuflucht 
bei  dem  Philisterkönig  zu  Gath,  der  ihm  Ziklag  zur  Wohnung 
anwies.  Inzwischen  rüsteten  sich  die  Philister  zu  einem  Haupt- 
schlage gegen  das  neuerstandene  Königreich;  zu  Gilboa,  un- 
weit der  Ebene  Jesreel,  kam  es  zur  Schlacht,  in  welcher  Saul 
und  sein  Sohn  Jonathan  fielen.  David  begab  sich  nach  Hebron 
und  wurde  von  Juda  als  König  anerkannt,  während  Abner, 
der  Feldhauptmann  Sauls,  dessen  Sohn  Esbaal  in  Gilead  zum 
König  über  die '  Nordstämme  erhob.  In  der  Folge  überwarf 
er  sich  mit  ihm,  ging  zur  Partei  des  David  über,  wurde  aber 
von  Joab,  dem  Feldhauptmanne  Davids,  erstochen.  Esbaal, 
durch  den  Abfall  Abners  der  Stütze  beraubt,  wurde  von  zweien 
seiner  Kriegsleute  ermordet,  und  David,  von  der  mächtigen 
Priesterpartei  begünstigt,  wurde  vom  ganzen  Israel  als  König 
anerkannt. 

Was  Saul 'begonnen  hatte,  das  vollendete  David  mit  Hilfe 
seines  gewalttätigen,  aber  ihm  treu  ergebenen  Feldhauptmanns 
Joab.     Er  besiegte  die  Philister,  so  dafs  Israel  weiterhin  vor 


3.   Geschichte  dei*  Hebräer  seit  der  Eroberung  Palästinas.  89 

ihnen  Ruhe  hatte,  unterwarf  die  Stämme  der  Araalekiter  und 
Edomiter,  wodurch  er  seine  Herrschaft  bis  nach  Eziongeber  am 
Älanitischen  Meerbusen  ausdehnte,  beschränkte  das  Gebiet  der 
Moabiter  und  Ammoniter,  und  führte  glückliche  Kämpfe  gegen 
die  Aramäer  im  Norden,  so  dafs  sich  sein  Reich  von  den  Ab- 
hängen des  Libanon  bis  zur  südlichen  Wüste,  von  Dan  bis 
nach  Beerseba  erstreckte.  Im  Innern  eroberte  er  die  bis  dahin 
noch  unabhängig  gebliebenen  Städte,  aufser  dem  schon  von 
Saul  genommenen  Gibeon  auch  Megiddo  und  andere  feste 
Plätze,  namentlich  aber  eroberte  er  Jebus,  dem  er  seinen  alten, 
als  Urusalim  schon  in  den  Amarna- Briefen  vorkommenden 
Namen  Jerusalem  wiedergab,  und  machte  es  zur  Hauptstadt 
seines  Reiches.  Hier  baute  er  sich  einen  Palast,  hierher  ver- 
pflanzte er  auch  das  Nationalheiligtum,  die  Bundeslade  Jahves. 
Im  Innern  sorgte  er  für  geordnete  Rechtspflege  und  die  Heeres- 
organisation,  während  er  sich  selbst  mit  einer  ausländischen 
Leibwache  von  sechshundert  Mann,  den  Krethi  und  Plethi, 
umgab.  Dafs  er,  im  Gegensatze  zu  Saul,  mit  der  Priester- 
schaft gute  Beziehungen  unterhielt  und  ein  treuer  Verehrer 
des  Nationalgottes  Jahve  war,  ohne  sich  dadurch  in  tyranni- 
schen Gelüsten,  wie  im  Falle  der  Bathseba,  zügeln  zu  lassen, 
ist  gewifs;  inwieweit  er  dabei  der  fromme  Liedersänger  ge- 
wesen ist,  als  w^elcher  er  in  der  spätem  Legende  fortlebte, 
mag  dahingestellt  bleiben.  In  seiner  zahlreichen  Familie  er- 
lebte er,  namenthch  in  seinen  spätem  Jahren,  wo  die  alte 
Kraft  ihn  verlassen  hatte,  vielen  Kummer.  Sein  ältester  Sohn 
Amnon  wurde  aus  Rache  für  den  an  der  Thamar  begangenen 
Frevel  von  seinem  Bruder  Absalom  erschlagen,  welcher  da- 
durch zum  Thronerben  wurde  und  sich  weiterhin  gegen  seinen 
Vater  empörte.  David  mufste  über  den  Jordan  fliehen,  Absalom 
wurde  besiegt  und  auf  der  Flucht  von  Joab  getötet.  In  seinen 
letzten  Tagen  liefs  sich  der  altersschwache  König  durch  eine 
vom  Propheten  Nathan  geleitete  Hofintrige  bestimmen,  mit 
Übergebung  des  nächstberechtigten  Adonija  seinen  Sohn  von 
der  Bathseba,  den  Salomo,  zum  Thronfolger  zu  ernennen. 

Was  Saul  und  David  gesät  hatten,  erntete  Salomo.  Er 
übernahm  ein  durch  die  Kriegstaten  seines  Vaters  gefestigtes 
Reich,  ohne   dafs  er  zu  dessen  Mehrung  beigetragen  oder  es 


90  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

auch  nur  in  seinem  vollen  Bestände  aufrecht  erhalten  hätte. 
Mit  Moab  und  Ammon  lebte  er  in  Frieden,  aber  die  Edomiter 
rissen  sich  los,  und  im  Norden  erstand  in  Damaskus  als  ge- 
fährlicher Rivale  ein  neues  Reich,  ohne  dafs  Salomo  das  eine 
wie  das  andere  verhindert  hätte.  Hingegen  war  er  befreundet 
mit  dem  ägyptischen  Pharao,  von  dem  er  eine  Tochter  für 
seinen  Harem  und  als  Mitgift  derselben  die  Philisterstadt 
Gaser  erhielt.  Andererseits  trat  er  im  Norden  eine  Anzahl 
von  Grenzdörfern  dem  Könige  Hiram  von  Tyros  ab  als  Dank 
für  die  Hilfe,  welche  dieser  ihm  durch  Überlassung  von  Bau- 
meistern und  Handwerkern  zum  Bau  des  Salomonischen  Tem- 
pels und  Palastes  geleistet  hatte.  Der  prunkhaften  Ausführung 
dieser  Bauwerke  war  das  Hauptinteresse  seiner  Regierung  ge- 
widmet. Daneben  sorgte  er  für  eine  glänzende  Hofhaltung 
und  soll  in  seinem  Harem  nicht  weniger  als  siebenhundert 
Weiber  und  dreihundert  Nebenweiber  gehalten  haben.  Durch 
alles  dieses  wurden  die  Mittel  des  noch  so  jungen  Staates 
erschöpft  und  seine  Bewohner  durch  Steuern  und  Frondienste 
auf  das  härteste  bedrückt.  Ein  Aufstand  im  nördlichen  Reiche 
wurde  niedergeworfen,  und  sein  Anführer  Jerobeam  mufste 
nach  Ägypten  fliehen ;  aber  die  Unzufriedenheit  blieb  bestehen. 
Hiernach  mufs  es  zweifelhaft  bleiben,  wie  viel  an  der  von  der 
spätem  Legende  so  hoch  gerühmten  Weisheit  des  Salomo  für 
historisch  zu  halten  ist.  Als  sicher  kann  man  ansehen,  dafs 
er  mehr  für  den  Glanz  seiner  Hofhaltung  als  für  das  Wohl 
seiner  Untertanen  besorgt  gewesen  ist,  und  der  wichtigsten 
Pflicht  eines  Regenten,  die  Thronfolge  sicherzustellen,  hat  er 
so  wenig  genügt,  dafs  nach  seinem  Tode  die  Spaltung  des 
Reiches  und  mit  ihr  das  ganze  Elend  der  folgenden  Jahr- 
hunderte über  das  Volk  Israel  hereinbrach. 

Das  unselige  Jahr,  in  welchem  Rehabeam,  Salomos  Thron- 
erbe, die  Forderung  der  Nordstämme,  ihr  Joch  zu  erleichtern, 
schnöde  abwies,  und  infolge  davon  der  verbannt  gewesene 
und  aus  Ägypten  herbeigeeilte  Jerobeam  zum  König  über  die 
zehn  Nordstämme  erhoben  wurde,  wird  von  altern  Chronologen 
als  das  Jahr  975  a.  C,  nach  neuern  Berechnungen  als  933 
oder  925  angesetzt.  Vergebens  versuchte  Rehabeam  das  Nord- 
reich  zurückzugewinnen;  ein  mehrere  Generationen  dauernder 


3.  Geschichte  der  Hebräer  seit  der  Eroberung  Palästinas.  91 

Bürgerkrieg  zwischen  Juda  und  Israel  brach  aus.  Diese  Ge- 
legenheit benutzte  der  ägyptische  König  Sisak  {^esonq  L, 
XXn.  Dynastie,  mutmafslich  943—922),  um  in  Palästina  ein- 
zubrechen, den  Tempel  von  Jerusalem  zu  plündern  und  nach 
den  ägyptischen  Berichten  seinen  Kaubzug  auch  über  die 
Städte  des  Nordreichs  auszudehnen.  Im  weitern  Verlaufe  des 
Bruderkrieges  wurde  Asa,  der  zweite  Nachfolger  des  Rehabeam, 
so  hart  von  Baesa,  der  Jerobeams  Sohn  ermordet  und  sich 
zum  König  über  Israel  gemacht  hatte,  bedrängt,  dafs  er  „alles 
Silber  und  Gold,  das  in  den  Schatzkammern  des  Tempels 
Jahves  noch  vorhanden  war  und  die  Schätze  des  königlichen 
Palastes"  zusammenraffte  (1.  Kön.  15,18),  um  damit  die  Bundes- 
genossenschaft Ben-Hadads  I.  von  Damaskus  gegen  die  Bruder- 
stämme zu  erkaufen.  Juda  atmete  auf,  während  ein  lang- 
wieriger, mit  Unterbrechungen  bis  gegen  das  Ende  des  Nord- 
reiches dauernder  Krieg  zwischen  Israel  und  dem  Syrischen 
Reiche  des  Ben-Hadad  und  seiner  Nachfolger  sich  entspann. 
Während  in  Juda  bis  Ende  des  Reiches  eine  im  ganzen  ge- 
regelte Thronfolge  der  davidischen  Dynastie  fortbestand,  ver- 
drängte im  Nordreiche  eine  Usurpatorfamilie  die  andere.  Jero- 
beams Sohn  wurde  von  Baesa,  Baesas  Sohn,  nach  Über- 
windung zweier  Gegenkönige,  von  Omri  verdrängt.  Etwas 
länger  hielt  sich  das  Haus  Omri  auf  dem  Throne.  Omris 
Sohn  Ahab,  der  seiner  tyrischen  Gemahlin  Isebel  zuliebe  neben 
dem  als  Nationalgott  von  ihm  verehrten  Jahve  dem  Kultus 
des  tyrischen  Ba'al  Eingang  gewährte,  erregte  dadurch  den 
heftigsten  Zorn  der  Jahvefanatiker,  als  deren  Typus  zu  seiner 
Zeit  die  mächtige,  von  der  Sage  ins  Wunderbare  erhobene 
Gestalt  des  Elias  dasteht.  Unsere  Quellen  schildern  den  Ahab 
mit  den  schwärzesten  Farben;  sein  Verbrechen  an  Naboth 
wurde  ihm  nicht  so  leicht  verziehen  wie  dem  frommen  David 
seine  kaum  weniger  schändliche  Untat  an  Uria,  und  seine 
edelmütige  Behandlung  des  gefangenen  Königs  Ben-Hadad 
gereichte  den  Jahvisten  zum  schweren  Ärgernis.  Ahab  fiel 
in  dem  bald  darauf  neu  entbrannten  Kampfe  mit  Syrien,  und 
von  seinen  drei  Kindern,  deren  Namen  für  Ahabs  Verehrung 
des  Nationalgottes  Zeugnis  ablegen,  folgte  ihm  Ahasja,  und 
nach  dessen  baldigem  Tode  ^Toram,  während  er  seine  Tochter 


92  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

Athalja  mit  dem  Sohne  Josaphats,  des  in  Frieden  mit  Israel 
lebenden  Königs  von  Juda,  vermählte.  Aus  der  Ehe  der 
Athalja,  Schwester  des  Joram,  Königs  von  Israel,  mit  dem 
gleichzeitig  lebenden  Joram,  König  von  Juda,  entsprofs  ein 
ebenso  wie  sein  Oheim  in  Israel  Ahasja  benannter  Sohn,  wel- 
cher nur  ein  Jahr  lang  regierte,  während  dessen  er  mit  Joram 
von  Israel  Friede  und  Freundschaft  unterhielt,  bis  beide  an 
demselben  Tage  durch  Mörderhand  fielen.  Joram  war  im 
Kampfe  gegen  Hasael  von  Syrien  verwundet  worden  und  nach 
Jesreel  gegangen,  um  seine  Wunden  zu  heilen,  wo  ihn  Ahasja 
von  Juda  besuchte.  Inzwischen  liefs  sich,  angestiftet  leider 
durch  Elisa,  Jorams  Feldhauptmann,  der  furchtbare  Bluthund 
Jehu  zum  Treubruch  an  seinem  Herrn  verleiten,  eilte  nach 
Jesreel,  ermordete  beide  Könige,  die  Königinmutter  Isebel  und 
siebzig  Nachkommen  des  Hauses  Ahab  und  machte  sich  zum 
König  über  Israel.  In  Juda  rifs  Athalja,  nach  dem  Tode  ihres 
Sohnes  Ahasja,  die  Herrschaft  an  sich,  liefs  ihre  Enkel  er- 
morden und  herrschte  fünf  Jahre  über  Juda.  Ein  Söhnchen 
des  Ahasja,  namens  Jehoas,  war  ihren  Nachstellungen  ent- 
gangen, wurde  vom  Priester  Jojada  heimlich  im  Tempel  er- 
zogen und,  als  der  Knabe  sieben  Jahre  alt  geworden  war, 
zum  König  ausgerufen;  Athalja  wurde  getötet  und  die  Dy- 
nastie Davids  in  Juda  wiederhergestellt.  Er  und  seine  Nach- 
folger, Amazja,  Asarja  (=  Usia),  Jotham  und  Alias  regierten 
ohne  bemerkenswerte  "Wechselfälle  in  Juda,  bis  unter  des 
letztgenannten  Nachfolger  Hiskia  die  Assyrernot  auch  über' 
das  in  friedlicher  Abgeschiedenheit  dahinlebende  Juda  herein- 
brach. Stürmischere  Zeiten  waren  dem  mächtigern,  aber  auch 
gefährlichem  Gegnern  ausgesetzten  Reiche  Israel  beschieden. 
Unter  Jehus  Sohne  Joahas  wurde  das  Eeich  hart  von  den 
Syrern  bedrängt.  Bessern  Erfolg  hatten  die  Kämpfe,  welche 
dessen  Sohn  Joas  mit  den  Syrern  führte,  und  unter  der  vierzig- 
jährigen Eegierung  seines  Sohnes  Jerobeams  IL  erhob  sich 
Israel  zu  einer  Macht  und  Blüte,  welche  an  die  Zeiten  des 
Königs  David  erinnerte.  Dann  aber  brach  die  Anarchie  her- 
ein; Jerobeams  Sohn  Sacharja  wurde  ermordet  und  in  rascher 
Folge  geriet  das  Reich  in  die  Hände  der  Usurpatoren  Sallum, 
Menahem,  dem  sein  Sohn  Pekahjah  folgte,  und  Pekah.    Immer 


3.   Geschichte  der  Hebräer  seit  der  Eroberung  Palästinas.  93 

drohender  zeigte  sich  die  assyrische  Gefahr.  Tiglath-Pilesar 
machte  Israel  tributpflichtig  und  setzte  an  Stelle  des  Pekah 
den  Hosea  als  seinen  Vasallenkönig  ein.  Zehn  Jahre  hielt 
sich  dieser  ruhig,  dann  wagte  er  den  Abfall  von  Assyrien.  Er 
wurde  von  Salmanassar  gefangen  genommen  und  seine  Haupt- 
stadt Samaria  belagert.  Sie  fiel  erst,  als  auf  Salmanassar 
Sargon  gefolgt  war,  nach  dreijähriger  Belagerung  im  Jahre 
722.  Die  Elite  des  Volkes  Israel,  27000  Mann,  wurden  von 
Sargon  weggefülirt  und  jenseits  des  Tigris  angesiedelt,  wo 
sie  von  der  dort  lebenden  Bevölkerung  aufgesogen  wurden 
und  spurlos  aus  der  Geschichte  verschwanden. 

Was  die  Propheten  Amos  und  Hosea  in  dunkeln  Bildern 
vorausgesagt  hatten,  das  war  eingetroffen;  das  Eeich  Israel 
war  vernichtet,  und  seine  Bewohner  verloren  sich  unter  fremden 
Völkern,  Juda  aber  war  zu  einem  tributären  Vasallenstaate 
Assyriens  geworden.  Wohl  fehlte  es  nicht  an  solchen,  welche 
dazu  rieten,  das  Joch  der  Fremdherrschaft  abzuschütteln,  aber 
Jesaia  warnte  davor  und  riet,  die  assyrische  Herrschaft  als 
eine  von  Jahve  verhängte  Strafe  geduldig  zu  tragen.  So  hatte 
das  Land  unter  Alias  und  noch  zehn  Jahre  unter  Hiskia 
Frieden.  Als  aber  705  Sargon  durch  Mörderhand  fiel  und  es 
überall  zu  gären  anfing,  da  knüpfte  Hiskia,  gedrängt  von  Volk 
und  Priestern,  ohne  Vorwissen  des  Jesaia  Unterhandlungen 
mit  Ägypten  an  und  trat  an  die  Spitze  einer  Koalition  kleiner 
Staaten,  um  die  Fremdherrschaft  abzuschütteln.  Sanherib, 
Sargons  Nachfolger,  rückte  heran,  Hiskia  mufste  sich  unter- 
werfen und  durfte  gegen  ein  hohes  Lösegeld  Stadt  und  Land 
behalten.  Sanherib  wandte  sich  gegen  Ägypten,  fand  es  aber 
dann  doch  bedenldich,  im  Kücken  eine  feste  Stadt  wie  Jeru- 
salem in  den  Händen  eines  so  unsichern  Vasallen  zurück- 
zulassen, und  sandte  seine  obersten  Beamten,  um  die  Übergabe 
der  Stadt  zu  fordern.  König  und  Volk  verzagten,  aber  Jesaia 
sprach  ihnen  Mut  ein  und  riet,  die  Forderung  abzulehnen.  Er 
spielte  ein  gewagtes  Spiel,  aber  er  gewann  es.  Ehe  der  König 
von  Libna,  welches  er  belagerte,  sich  gegen  Jerusalem  wenden 
konnte,  wurde  er  durch  eine  nicht  aufgeklärte  Katastrophe  — 
in  einer  Nacht  geschah  es,  dafs  der  Engel  des  Herrn  im 
Lager  der  Assyrer  185000  Mann  schlug,  wie  die  Bibel  erzählt 


94  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

(2.  Kön.  19,35;  Jes.  37,36),  dafs  Feldmäuse  alles  Lederzeug  im 
Lager  zernagten,  wie  Herodot  (2,141)  berichtet  — ,  vielleicht 
durch  den  Ausbruch  einer  Pest  im  Heere  genötigt,  nach  As- 
syrien zurückzukehren.  Juda  blieb  tributär,  genofs  aber  Ruhe, 
und  man  konnte  sich  auf  Anregung  des  Jesaia  und  seiner 
Partei  den  innern  Reformen  zuwenden.  Blieben  auch  die 
Kultusstätten  auf  den  Höhen  und  die  von  Salomo  fremden 
Göttern  südlich  vom  Ölberg  errichteten  Altäre  bestehen,  so 
wurden  doch  die  Ephod  (hölzerne,  mit  Metall  überzogene 
Götterbilder  Jahves)  beseitigt  und  die  eherne  Schlange  nebst 
der  Aschera  aus  dem  Tempel  entfernt.  Aber  das  Volk  liefs 
sich  die  Götter  seiner  Väter  nicht  so  leicht  nehmen.  Unter 
der  mehr  als  fünfzigjährigen  Regierung  Manasses,  des  Sohnes 
Hiskias,  gewann  die  Volkspartei  auf  den  schwachen  König 
entscheidenden  Einflufs,  die  auf  Reinigung  des  Kultus  drängen- 
den Propheten  wurden  verfolgt,  die  aitheiligen  Symbole  der 
Götter,  vermehrt  durch  fremdländische  Idole,  fanden  wieder 
Eingang  im  Tempel  des  Jahve,  und  der  abergläubische  Brauch, 
die  erstgeborenen  Kinder  nicht'  mehr  durch  die  Erstgeburt 
eines  Tieres  abzulösen,  sondern  auf  dem  Altar  im  Tale  Hinnom 
zu  opfern,  fand  auch  bei  den  Kindern  Israel  unter  Manasse 
und  der  nur  kurzen  Regierung  seines  Sohnes  Amon  Nach- 
ahmung. Ihm  folgte  638  a.  C.  sein  achtjähriger  Sohn  Josia^ 
in  welchem  die  jahvistische  Partei  der  Propheten  und  Priester 
ein  geeignetes  Werkzeug  fand,  ihre  Zwecke  durchzuführen. 
Im  Tempel  zu  Jerusalem  kam  plötzlich  (621  a.  C.)  ein  an- 
geblich altes,  noch  von  Moses  Zeiten  herrührendes  Gesetzbuch 
zutage,  jetzt  den  Kern  des  Deuteronomium  bildend,  auf  welches 
König  und  Volk  in  feierlicher  Sitzung  sich  verpflichteten  und 
dessen  Hauptforderungen,  Abschaffung  aller  Götterbilder  und 
Monopolisierung  des  Kultus  im  Tempel  zu  Jerusalem,  in  ge- 
waltsamer Weise  durchgeführt  wurden.  Inzwischen  war  durch 
die  Invasion  der  Skythen  die  assyrische  Grofsmacht  so  sehr 
geschwächt  worden,  dafs  der  babylonische  Statthalter  Nebu- 
palassar  im  Bunde  mit  dem  modischen  König  Kyaxares  es 
unternehmen  konnte,  Assyrien  zu  unterwerfen.  Auch  Necho 
von  Ägypten  hielt  die  Gelegenheit  für  gekommen,  Palästina 
wieder  an  sich  zu  reifsen.    Josia  wagte  es,  sich  ihm  entgegen- 


3.  Geschichte  der  Hebräer  seit  der  Eroberung  Palästinas.  95 

zustellen,  wurde  608  bei  Megiddo  geschlagen  und  fiel  in  der 
Schlacht.  Necho  setzte  Jojaqim,  Josias  Sohn,  zum  Könige 
über  Juda  ein,  der  ihm  ein  treuer  Vasall  blieb.  Zwei  Jahre 
darauf  machte  Nebupalassar  der  assyrischen  Grofsmacht  ein 
Ende.  Auf  die  Nachricht  von  der  Zerstörung  Ninives  606  a.  C. 
ging  ein  Frohlocken  durch  die  Völker  Vorderasiens;  nur 
Jeremia  sah  düster  in  die  Zukunft  und  behielt  Recht.  Necho 
wurde  604  bei  Karchemisch  am  Euphrat  geschlagen;  aber  die 
Folge  für  Juda  war  nur,  dafs  die  ägyptische  Oberherrschaft 
mit  der  babylonischen  vertauscht  wurde.  Die  religiöse  Eeform 
unter  Josia  war  nach  der  Niederlage  von  Megiddo  in  Mifs- 
kredit  und  halbe  Vergessenheit  geraten,  Jojaqim  „tat  was  dem 
Herrn  übel  gefiel,  wie  seine  Väter  getan  hatten";  drei  Jahre 
noch  zahlte  er  an  Babylon  seinen  Tribut,  dann  wagte  er  den 
Abfall.  Nebukadnezar  zog  597  gegen  Jerusalem  heran,  nahm 
den  drei  Monate  vorher  seinem  Vater  Jojaqim  auf  dem  Throne 
gefolgten  Jojachin  gefangen  und  führte  ihn  mit  zehntausend 
der  vornehmsten  Bürger  Jerusalems,  unter  ihnen  den  Propheten 
Ezechiel,  nach  Babylon  weg.  Über  die  Zurückgebliebenen, 
meist  aus  der  geringern  Bevölkerung  Bestehenden,  wurde  Ze- 
dekia,  ein  Sohn  des  Josia  und  Oheim  des  Jojachin,  zum  König 
gesetzt.  Auch  Jeremia  gehörte  zu  den  Zurückgebliebenen. 
Vergebens  suchte  er  in  Jerusalem  und  Ezechiel  in  Babylonien 
die  immer  noch  bestehenden  Aufruhrgelüste  zu  dämpfen;  als 
man  588  neue  Hoffnungen  auf  den  Pharao  Hophra  setzen  zu 
können  glaubte,  Hefs  sich  Zedekia  von  der  jahvistischen  Strö- 
mung fortreifsen  und  fiel  von  Babylonien  ab.  Nebukadnezar 
erschien  586  mit  einem  Heere  vor  Jerusalem,  eroberte  die 
Stadt,  zerstörte  ihre  Mauern,  verbrannte  den  Tempel  und 
führte  wieder  einen  grofsen  Teil  der  Bevölkerung,  namentlich 
auch  des  flachen  Landes,  nach  Babylon  ab.  Über  die  Zurück- 
bleibenden, zu  denen  auch  Jeremia  gehörte,  setzte  er  Gedalja 
ein,  um  welchen  sich  der  Rest  des  Volkes  zu  Mizpa  nördlich 
von  Jerusalem  scharte.  Da  er  nicht  aus  dem  Hause  Davids 
war,  wurde  er  von  einem  rabiaten  Davididen  erschlagen,  und 
die  Kolonie  zu  Mizpa  aus  Angst  vor  der  Rache  der  Babylonier 
flüchtete  nach  Ägypten,  unter  ihnen  gezwungenerweise  auch 
Jeremia.    In  Ägypten  mufste  er  von  seinen  Landsleuten  hören, 


96  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

was  er  selbst  (44,17)  erzählt:  „Wir  wollen  der  Himmelskönigin 
räuchern  und  derselben  Trankopfer  opfern,  wie  wir  und  unsere 
Väter,  die  Könige  und  Fürsten  getan  haben  in  den  Städten 
Judas  und  auf  den  Gassen  zu  Jerusalem.  Da  hatten  wir  auch 
Brot  genug,  und  ging  uns  wohl,  und  hatten  kein  Unglück. 
Seit  der  Zeit  aber  wir  haben  abgelassen,  der  Königin  des 
Himmels  zu  räuchern  und  Trankopfer  zu  opfern,  haben  wir 
allen  Mangel  gelitten,  und  sind  durchs  Schwert  und  Hunger 
umgekommen."  —  So  fest  haftete  der  Polytheismus  auch  da- 
mals noch  im  Herzen  des  Volkes. 

Inzwischen  scheint  die  Lage  der  nach  Babylonien  Depor- 
tierten eine  ganz  erträgliche  gewesen  zu  sein.  Sie  besafsen 
Häuser  und  Gärten,  und  viele  von  ihnen  kamen  in  dem  ge- 
segneten Lande  bald  zu  gröfserm  Wohlstand,  als  er  in  der 
Heimat  möglich  gewesen  wäre.  Durch  die  Sitte  der  Be- 
schneidung unterschieden  sie  sich  von  den  umwohnenden 
„Heiden"  und  hielten  eng  zusammen.  Der  Opferkultus  freilich 
war  suspendiert,  da  er  nach  dem  Gesetzbuche  des  Josia  ja 
nur  im  Tempel  zu  Jerus^ilem  legitim  betrieben  werden  konnte. 
Um  so  eifriger  beobachtete  man  das  Gebot  der  Heiligung  des 
Sabbat.  Man  versammelte  sich  an  diesem  Tage,  und  die 
heiligen  Schriften,  soweit  sie  damals  schon  vorhanden  waren, 
wurden  in  feierlicher  Sitzung  verlesen  und  erklärt.  Es  war 
der  Anfang  des  für  das  spätere  Judentum  charakteristischen 
Synagogenwesens  und  sonach  mittelbar  unserer  christlichen 
Sonntagsfeier.  Übrigens  lebten  die  Exilierten  des  Jahres  597 
der  festen  Hoffnung,  sehr  bald  nach  Jerusalem  zurückkehren 
zu  können,  und  Propheten  wie  Ezechiel  hatten  Mühe  genug, 
den  überschäumenden  Eifer  der  Patrioten  niederzuhalten.  Als 
die  Warnungen  des  Propheten  mifsdeutet  wurden,  hielt  er  es 
für  geraten,  zu  schweigen;  der  Herr  verschlofs  seinen  Mund. 
Da  traf  im  Jahre  586  die  erschütternde  Nachricht  ein,  dafs 
durch  Nebukadnezar  Jerusalem  zerstört  und  der  Tempel  ver- 
brannt worden  sei.  Jetzt  wurde  der  Mund  Ezechiels  wieder 
aufgetan  (Ezech.  33,22) ;  der  Warner  wurde  zum  Tröster,  er  ver- 
kündete den  Verzweifelnden  eine  glückliche  Zukunft,  indem  er 
nicht,  wie  die  frühern  Propheten,  aus  den  Anzeichen  der  gegen- 
wärtigen Lage  das  Kommende  voraussagte,  sondern  auf  Grund 


3.   Geschichte  der  Hebräer  seit  der  Eroberung  Palästinas.  97 

theologischer  Voraussetzungen  eine  ideale  Zukunft  postulierte. 
So  wurde  er  der  Begründer  der  spätem  jüdischen  Apokalyptik, 
und  seine  Weissagungen  sind  für  nachmalige  Reorganisation 
der  jüdischen  Gemeinde  von  entscheidender  Bedeutung  ge- 
worden. Mittlerweile  hatten  sich  die  politischen  Verhältnisse 
Babyloniens  geändert;  die  Dynastie  Nebukadnezars  war  mit 
dem  dritten  seiner  schwächlichen  Nachfolger  gestürzt  worden, 
und  ein  Emporkömmling,  Nahunähid,  hatte  als  letzter  König  der 
Babylonier  den  Thron  bestiegen  (oben  S.  42).  Während  seiner 
Regierung  eroberte  Kyros  II.,  König  der  Perser,  in  rascher 
Folge  Medien  (550),  Lydien  (546)  und  machte  538  dem  Neu- 
babylonischen Reiche  ein  Ende.  In  diese  bewegte  Zeit  fallen 
die  Weissagungen  des  zweiten  Jesaia  (Jes.  40 — 66).  Er  sieht 
in  Kyros  einen  Messias  (meshmch  JaJiveh,  Jes.  45,1),  der  von 
Gott  berufen  ist,  sein  Volk  freizulassen,  dafs  sie  in  ihre  Hei- 
mat zurückziehen  und  ein  herrliches  Reich  der  Zukunft  gründen 
mögen.  Die  Ereignisse  gaben  ihm  recht.  Kyros  liefs  durch 
seinen  Feldherrn  Babylon  erobern  und  erlaubte  zwei  Jahre 
darauf  (536)  den  Juden,  nach  Palästina  zurückzukehren.  Auch 
die  von  Nebukadnezar  geraubten  Tempelschätze  soll  er  zurück- 
erstattet und  die  Heimkehrenden  auf  manche  Weise  unter- 
stützt haben.  Vielleicht  dachte  er,  durch  diese  Mafsregel  im 
fernen  Westen  eine  ihm  treuergebene  Bevölkerung  zu  ge- 
winnen, welche  ihm,  namentlich  im  Hinblick  auf  eine  mög- 
liche Eroberung  Ägyptens,  wertvolle  Dienste  leisten  konnte. 
Nicht  alle  Juden  machten  von  der  Erlaubnis  zurückzukehren 
Gebrauch,  und  viele  der  (nach  biblischer  Angabe  42360)  in 
die  verwüstete  Heimat  Zurückwandernden  fühlten  sich  ent- 
täuscht. Auch  dem  Wiederaufbau  des  Tempels  stellten  sich 
manche  Hindernisse  entgegen;  erst  unter  der  Regierung  des 
Darius  wurde  er  auf  Betreiben  der  Propheten  Haggai  und 
Sacharja  unter  Leitung  des  Davididen  Serubabel  und  des  Josua, 
welcher  als  erster  die  Würde  eines  Hohenpriesters  bekleidete, 
im  Jahre  516  vollendet.  Ein  neuer  Zuzug  von  1500  Juden 
aus  Babylonien  erfolgte  unter  Führung  des  Priesters  Esra  458; 
seine  Bestrebungen,  die  Gemeinde  zu  reorganisieren,  fanden 
eine  kräftige  Stütze,  als  444  Nehemia,  ein  Mundschenk  und 
Günstling  des  Artaxerxes  L-  Longimanus,  als  von  diesem  er- 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii.  7 


98  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

nannter  Statthalter  in  Jerusalem  eintraf  und  die  Mauern  der 
Stadt  wiederherstellte.  Esra  und  Nehemia  proklamierten  in 
feierlicher  Sitzung  vor  allem  Volke  das  Gesetzbuch,  welches 
nach  wahrscheinlicher  Annahme  im  Leviticus  (dem  3.  Buche 
Mose)  noch  heute  vorliegt  und  mit  dem  eine  neue  Ära  in  der 
Geschichte  des  jüdischen  Volkes  anhebt. 

4.  Die  historischen  Schriften  des  Alten  Testaments. 

Der  .althebräische  Monotheismus  ist  durch  seinen  Über- 
gang in  das  Christentum  auf  die  ganze  europäische  Kultur 
und  nicht  am  wenigsten  auf  die  philosophische  Entwicklung 
in  Mittelalter  und  Neuzeit  bis  auf  die  Gegenwart  hin  von  so 
tiefgehendem  Einflufs  geworden,  dafs  es  zum  bessern  Ver- 
ständnis dieses  Einflusses  im  Guten  wie  im  Schlimmen  geboten 
erscheint,  sich  von  der  ersten  Genesis  dieses  Dogmas  sowie 
über  Wert  und  Unwert  desselben  an  der  Hand  der  Urkunden, 
soweit  dies  möglich  ist,  Rechenschaft  abzulegen.  Z)i  diesem 
Zwecke  müssen  wir  einen  Überblick  über  die  Entstehungs- 
geschichte der  historischen  Bücher  des  Alten  Testaments  vor- 
ausschicken, wie  sie  sich  nach  den  Forschungen  der  letzten 
Jahrzehnte  als  wahrscheinlichstes  Resultat  ergeben  hat.  Den 
Kern  der  historischen  Bücher  bildet  die  zweimalige  Kodifikation 
des  mosaischen  Gesetzes  im  Leviticus  und  im  Deuteronomium. 
Dem  entspricht  es,  dafs  zweimal  ein  theokratisches  Gesetz  feier- 
hch  proklamiert  und  das  ganze  Volk  auf  dasselbe  verpflichtet 
worden  ist,  das  eine  Mal  unter  König  Josia,  621,  das  andere  Mal 
unter  Esra  und  Nehemia  im  Jahre  444.  Dafs  das  Gesetzbuch 
des  Josia  mit  dem  Hauptinhalt  des  uns  heute  vorliegenden 
Deuteronomium,  welches  die  Beseitigung  der  Bilder  und  die 
Zentralisation  des  Kultus  fordert,  identisch  ist,  dürfte  heute 
wohl  in  den  Kreisen  unbefangener  Forscher  kaum  noch  einem 
Widerspruch  begegnen.  Anders  steht  es  mit  dem  Leviticus ;  er 
schreibt  in  minutiöser  Ausführung  die  Einzelheiten  des  Opfer- 
kultus, die  Funktionen  der  Priester,  die  ihnen  zustehenden  Spor- 
tein usw.  vor  und  setzt  dabei,  im  Gegensatz  zum  Deuteronomium 
und  seinem  Königsgesetz  (17,14 — 20)  das  Bestehen  eines  natio- 
nalen Königtums  nicht  voraus,  daher  man  früher  seine  Ent- 
stehung in'  das  Vorleben  des  Volkes  in  der  Wüste  verlegte. 


4.  Die  historischen  Schriften  des  Alten  Testaments.  99 

Bedenkt  man  jedoch,  dafs  zu  einem  solchen  Vorleben  die  vom 
Leviticus  bis  ins  kleine  und  kleinste  aufgeführten  Vorschriften 
über  den  Kultus,  die  Funktionen  der  Priester  und  ihre  Einkünfte 
ebensowenig  passen,  wie  sie  bei  Proklamation  des  Gesetzes 
des  zweiten  Tempels  durch  Esra  durchaus  der  damaligen 
Situation  entsprachen,  dafs  ferner  das  in  feierlicher  Weise 
von  Esra  eingeführte  Gesetzbuch  ebenso  wie  das  frühere  des 
Josia  als  die  beiden  wichtigsten  Urkunden  der  hebräischen 
Geschichte  doch,  wenn  irgend  etwas,  hterarisch  aufbewahrt 
zu  werden  verdienten  und  somit  im  Corpus  des  althebräischen 
Schrifttums  ihre  Aufnahme  finden  mufsten,  so  kommt  man 
zu  dem  höchstwahrscheinlichen  Schlüsse,  dafs  der  Leviticus 
nebst  den  angrenzenden  Kapiteln  von  Exodus  und  Numeri  im 
Vergleich  mit  dem  Deuteronomium  nicht  ein  früheres  Gesetz- 
buch, sondern  vielmehr  das  spätere,  durch  Esra  proklamierte 
ist,  und  dafs  dieses  Gesetzbuch  das  Königtum  und  den  natio- 
nalen Staat  nicht  darum  nicht  kennt,  weil  sie  noch  nicht, 
sondern  vielmehr,  weil  sie  nach  der  Rückkehr  aus  dem  Exil 
nicht  mehr  bestanden.  Wird  dieses  zugestanden,  so  haben 
wir  uns  die  Entstehung  der  historischen  Bücher  des  Alten 
Testaments  gemäfs  dem  Resultat  vielfacher  Bemühungen  ver- 
dienter Kritiker  etwa  wie  folgt  vorzustellen. 

I.  Die  ältesten  Stücke  im  alttestamentlichen  Schriftkanon 
sind  gewisse  alte  Lieder,  wie  das  der  Debora  (Rieht.  5),  ferner 
fragmentarische  Erzählungen,  wie  die  von  Gideon  und  Abi- 
melech,  Saul  und  David,  sowie  annalistische  Aufzeichnungen 
im  Reiche  Israel  und  Juda,  wozu  noch  manche  volkstümliche 
Erzählungen,  Parabeln,  Legenden  und  Sagen  kommen. 

IL  Daneben  bestand  ein  kurzes  Gesetzbuch,  das  so- 
genannte „Buch  des  Bundes",  welches  jedoch  nicht  mehr  als 
2.  Mos.  20,23—23,30,  nach  andern  nur  Kap.  34  befafste. 

ni.  Etwa  um  850  a.  C.  bearbeitete  ein  aus  dem  Reiche 
Juda  stammender  Schriftsteller,  der  sogenannte  Jahvist,  die 
Sagengeschichte  seines  Volkes  von  1.  Mos.  2,4  an  bis  mög- 
licherweise in  die  Königszeit  hinein  in  naiver  volkstümhcher 
Weise. 

IV.  Hundert  Jahre  später  wurde  der  gleiche  Stoff  von 
einem  dem  Nordreiche  angehörigen  Verfasser  in  Anlehnung 


XOO  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

an  die  Darstellung  des  Jahvisten,  aber  mehr  von  priesterlichem 
Gesichtspunkte  aus  behandelt.  Es  ist  derjenige,  welcher  früher 
als  der  jüngere  E lohist  bezeichnet  wurde,  während  er  in 
Wahrheit  der  ältere  der  beiden  Schriftsteller  ist,  deren  Dar- 
stellung durch  den  Gebrauch  des  Gottesnamens  Elohim  sich 
vom  Jahvisten  unterscheidet'. 

V.  Unter  König  Josia  wird  621  a.  C.  das  Bundesbuch 
proklamiert,  welches  in  unserm  Deuteronomium  Kap.  12 — 26 
vorliegt.  Dasselbe  setzt  Kap.  17,14 — 20  das  Bestehen  des  König- 
tums voraus. 

VI.  Inzwischen  waren  noch  vor  dem  Exil  oder  in  dem- 
selben die  Werke  des  Jahvisten  (III)  und  Elohisten  (IV)  zu 
einem  Ganzen  mit  mancherlei  neuen  Zutaten  von  einem  Ver- 
fasser verarbeitet  worden,  den  man  im  Gegensatz  zu  seinen 
Vorlagen  als  den  Jehovisten  zu  bezeichnen  pflegt. 

.  VII.  Das  deuteronomische  Geschichtswerk.  Alle 
von  I — VI  genannten  Vorlagen  wurden  während  der  zweiten 
Hälfte  des  Exils  und  nach  demselben  zu  einem  umfassenden 
Geschichtswerke  verschmolzen,  welches  die  Ereignisse  von  der 
Weltschöpfung  bis  zum  Ende  der  Königszeit  mit  dem  Gesetz- 
buch des  Josia  zu  einem  Ganzen  verwob,  die  Chronologie 
nach  einem  künstlichen  Schema  gestaltete,  im  allgemeinen 
die  alten  Quellen  wörtlich  herübernahm,  aber  dabei  den  Ge- 
danken der  Propheten,  dafs  alle  Unglücksfälle  des  Volkes 
eine  Folge  seiner  Untreue  gegen  Jahve  seien,  selbständig 
überall  hervorhob  und  an  den  Ereignissen  exemplifizierte. 

VIII.  Der  Priesterkodex.  Unter  Esra  und  Nehemia 
wird  im  Jahre  444  das  Gesetzbuch  des  zweiten  Tempels  prokla- 
miert, welches  uns  (von  den  Einschiebungen  abgesehen)  von 
Exodus  25  an  bis  Numeri  10  hin  vorliegt,  und  dessen  Kern, 
der  Leviticus,  nicht  mehr  ein  Bestehen  des  Königtums,  son- 
dern nur  eine  organisierte  Priesterherrschaft  kennt. 

IX.  Das  priesterliche  Geschichtswerk  (früher  als 
der  ältere  Elohist  bezeichnet)  umfafste  eine  wesentlich  zur 
Erläuterung  des  Priesterkodex  verfafste  Geschichtsdarstellung, 
welche  von  Gen.  1  bis  zum  Schlüsse  des  Buches  Josua  reichte 
und,  was  den  Inhalt  der  Erzählungen  betrifft,  völlig  vom  deu- 
teronomischen  Geschichtswerk  abhängig  war. 


4.  Die  historischen  Schriften  des  Alten  Testaments. 


101 


X.  Als  eine  Fortsetzung  dieses  Werkes  und  im  g-leichen 
priesterlich-theokratischen  Sinne  sind  die  Bücher  der  Chronika 
nach  300  a.  C.  verfafst  worden,  welche  die  Geschichte  von 
Davids  Regierung  bis  zum  Ausgang  des  Exils  in  völliger  Ab- 
hängigkeit vom  deuteronomischen  Geschichtswerk  (VIT)  be- 
handeln und  in  den  Büchern  Esra  und  Nehemia  eine  in  gleichem 
Sinne  gehaltene  Fortsetzung  erfuhren. 

XL  Während  alle  von  I — IX  genannten  Werke  als  solche 
nicht  mehr  vorhanden  sind,  besitzen  wir  in  unsern  Büchern 
Mose,  Josua,  Richter,  Samuelis  und  der  Könige  eine  umfassende 
Ineinanderarbeitung  des  priesterlichen  Geschichtswerkes  (IX) 
mit  dem  deuteronomischen  Geschichtswerk  (VII)  in  der  Art, 
dafs  das  erste  Werk  den  Rahmen  darbietet,  in  welchen  die 
ausführlichen  und  mehr  volkstümlich  gehaltenen  Erzählungen 
des  letztern  eingebaut  und  eingewoben  sind. 

Folgende  Übersicht  mag  dienen,  die  von  den  namhaftesten 
Forschern  vertretene  Ansicht,  der  auch  wir  uns  angeschlossen 
haben,  über  die  Entstehung  der  historischen  Bücher  des  Alten 
Testaments  dem  Leser  gegenwärtig  zu  halten. 


I.'Lieder,    Sagen,    Erzählungen   und 

annalistische  Aufzeichnungen 
IL  Ein  kurzes  Gesetzbuch  (Exod.  20,23 
bis  23,30) 

III.  Der  Jahvist  (um  850  a.  C.)  ■>  VI.  Der 

IV.  Der  jüngere  Elohist  (um  750  a.  C.)J  Jehovisf 

V.  Das  Bundesbuch  (unter  Josia  621 
a.  C.) 

VIII.  Der  Priesterkodex  (Gesetzbuch  des 
zweiten  Tempels  444  a.  C.) 


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1Q2  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

5.  Die  Genesis  des  alttestamentlichen  Monotheismus. 
Erwägt  man  einerseits  die  enge  Verwandtschaft  der  Hebräer 
mit  den  übrigen  semitischen  Stämmen  in  Sprache,  Kultur  und 
religiösen  Anschauungen,  und  bedenkt  man  andererseits  das 
zähe  Festhalten  des  israelitischen  Volkes  an  polytheistischen 
Vorstellungen,  welche,  ungeachtet  des  Eiferns  der  Propheten 
und  der  zu  ihnen  haltenden  Könige,  bis  in  die  Zeit  des  Exils 
hinein  nicht  nur  in  Igrael,  sondern  auch  in  Juda  sich  lebendig 
erhielten,  so  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  die  oben 
charakterisierte  polytheistische  Eeligionsanschauung  der  Se- 
miten ursprünglich  auch  von  den  Hebräern  geteilt  wurde  und 
erst  nach  schweren  Kämpfen  durch  den  von  Priestern  und  Pro- 
pheten vertretenen  Monotheismus  zurückgedrängt  und  schliefs- 
lich  ganz  verdrängt  wurde.  Wie  alle  andern  Semiten  huldigten 
ursprünglich  auch  die  Hebräer  dem  Kultus  dämonischer  Mächte, 
welche  teils  schädigend,  teils  fördernd  in  das  Leben  des  Ein- 
zelnen wie  des  ganzen  Stammes  eingriffen,  blickten  verehrend 
zu  Sonne,  Mond  und  Sternen  empor  und  hatten  eine  un- 
bestimmte Vorstellung  von  einem  Herrn  (Ba^al)  des  Himmels 
und  der  Welt.  Wie  jeder  der  in  der  Wüste  nomadisierenden 
Beduinenstämme  liatten  auch  die  Hebräer  neben  den  allgemein 
verehrten  Mächten  einen  besondern  Schutzgott  ihres  Stammes, 
der  sie  in  Kämpfen  anführte,  in  Gefahren  schützte,  und  dem 
sie  sich  gleichsam  als  einem  unsichtbaren  Stammkönige  zu 
Treue  und  Gehorsam  verpflichtet  fühlten.  Als  diesen  speziellen 
Gott  ihres  Stammes  verehrten  die  Ammoniter  ihren  Milkom, 
die  Moabiter  den  Kamos,  die  Hebräer  den  Jalive.  Der  Gott 
des  eigenen  Stammes  verhielt  sich  zu  den  Schutzgöttern  an- 
derer Stämme  wie  der  König  des  eigenen  Landes  zu  fremden 
Königen,  deren  Existenz  und  Macht  zu  wirken  man  nicht  be- 
zweifelte, namentlich  wo  sie  in  feindlichen  Gegensatz  zum 
eigenen  Stammgott  traten,  die  jedoch  auf  Verehrung  keinen 
Anspruch  hatten.  Dieses  Verhältnis  des  Stammes  zu  seinem 
eigenen  Schutzgott  und  zu  dem  anderer  Stämme  hat  eine 
überraschende  Hlustration  erfahren  durch  ein  in  seiner  Art 
einzig  dastehendes  Denkmal,  die  Inschrift,  durch  welche  kurz 
nach  900  a.  C.  Mesa,  der  Konig  der  Moabiter,  seine  Taten 
der  Nachwelt  verkündete. 


5.  Die  Genesis  des  alttestamentlichen  Monotheismus.  103 

Die  erste  Kunde  von  dieser  jetzt  im  Louvre  zu  Paris  be- 
findlichen Stele  des  Mesa  gelangte  an  das  französische  Kon- 
sulat in  Jerusalem  im  Jahre  1869.  Man  meldete,  dafs  in  der 
alten  Moabiterstadt  Bihon  (jetzt  Dhibän)  östlich  vom  Toten 
Meere  und  nördlich  vom  Arnon  ein  Stein  mit  Inschriften  sich 
befinde.  Man  erlangte  davon  zunächst  einen  infolge  des 
Widerstandes  der  Bewohner  nicht  ganz  gelungenen  und  zer- 
knitterten Papierabdruck  und  erkannte  alsbald,  dafs  hier  ein 
durch  sein  Alter  bei  der  Seltenheit  altpalästinensischer  In- 
schriften unschätzbares  Monument  vorliege,  und  suchte  den 
Stein  zu  erlangen.  Die  Beduinen  aber,  sei  es  aus  aber- 
gläubischen Vorstellungen  von  der  Zauberkraft  dieses  Steines, 
sei  es,  weil  sie  Gold  in  demselben  vermuteten,  zertrümmerten 
den  Denkstein,  indem  sie  ihn  erhitzten  und  dann  mit  kaltem 
Wasser  begossen,  und  teilten  unter  sich  die  Trümmer,  Nur 
mit  Mühe  gelang  es,  die  Hauptstücke  wiederzugewinnen  und 
mit  Hilfe  des  vorher  genommenen  Papierabdrucks  die  Inschrift 
im  wesentlichen  vollständig  wiederherzustellen. 

Auf  dieser  Inschrift  erzählt  König  Mesa  in  Schriftzügen, 
welche  den  altphönildschen  aufs  nächste  verwandt  sind,  und 
in  einer  Sprache,  welche  mit  der  des  Alten  Testaments  fast 
identisch  ist^  von  seinen  Kriegen  mit  Israel,  von  seinen  Bauten 
und  Strafsenanlagen ,  und  erklärt  alle  seine  Erfolge  aus  der 
Gnade,  alle  Mifserfolge  aus  einem  Zürnen  des  Stammgottes 
der  Moabiter,  Kamos  oder,  wie  er  in  Verbindung  mit  einem 
zweiten  Idol  auch  heilst,  'Astar-Kamos,  gegen  sein  Volk.  Einige 
Proben  nach  der  französischen  Übersetzung  von  Ganneau, 
revidiert  von  Renan  und  verbessert  durch  Smend  und  Socin, 
mögen  dies  erläutern. 

„Ich  bin  Mesa,  Sohn  des  Kamos,  König  von  Moab,  aus 
Dibon . . .  Und  ich  habe  diesen  Altar  für  Kamos  errichtet, 
weil  er  mich  von  allen  meinen  Feinden  errettet  und  mir 
vergönnt  hat,  alle  meine  Gegner  zu  verachten,  Omri  war 
König  in  Israel*  und  bedrückte  Moab  lange  Zeit,  denn 
Kamos  zürnte  seinem  Lande.  Ihm  folgte  sein  Sohn**  und 
sagte:    Auch   ich  werde  Moab  bedrücken,   es   unterjochen 

^  *  Vgl.  oben  S.  91. 
**  Aliab. 


104  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

und  es  mitsamt  seinem  Königshause  demütigen.  Aber  Israel 
wurde  zugrunde  gerichtet  auf  immer.  Omri  hatte  sich  des 
Landes  Medeba  bemächtigt  und  besafs  es,  er  und  sein 
Sohn  . . .  aber  Kamos  hat  ihn  in  meiner  Zeit  zugrunde  ge- 
richtet .  . .  Der  König  von  Israel  hatte  für  den  Stamm  Gad 
die  Stadt  Ataroth*  erbaut.  Ich  griff  sie  an,  eroberte  sie 
und  tötete  alle  Einwohner  zur  Augenweide  für  Kamos  und 
Moab**,  und  entführte  von  dort  die  Altaraufsätze  seines 
Lieblingsgottes  {dödöj  und  schleifte  sie  im  Staube  vor  dem 
Angesichte  des  Kamos  zu  Querioth***. . .  Und  Kamos  sprach 
zu  mir:  Geh  und  entreifse  Nebahf  dem  Volke  Israel.  Ich 
zog  aus  in  der  Nacht  und  bestürmte  die  Stadt  von  der 
Morgenröte  bis  zum  Mittag;  ich  nahm  sie  ein  und  tötete 
alle,  siebentausend,  Männer  und  Knaben,  Weiber,  Mädchen 
und  Sklavinnen,  denn  'Astar  und  Kamos  waren  sie  zur  Ver- 
nichtung geweiht.  Auch  die  dem  Jahve  geweihten  Altar- 
aufsätze entführte  ich  von  dort  und  schleifte  sie  vor  dem 
Angesichte  des  Kamos.  Auch  die  Stadt  Jahaz^ff  hatte  der 
König  von  Israel  gebaut  und  lag  darin,  als  er  wider  mich 
stritt.  Aber  Kamos  vertrieb  ihn  vor  mir.  Ich  erwählte  aus 
Moab  zweihundert  Mann,  führte  sie  hinauf  gen  Jahaz,  er- 
oberte die  Stadt  und  fügte  sie  zu  Dibon  . . ."  (I^'olgen  seine 
Bauten)  . . .  „Und  Kamos  befahl  mir :  Ziehe  hinab  und 
.kämpfe  gegen  Horonaim'f'ft  •  •  •  Kamos,  in  meinen  Tagen 
brachte  es  zurück  ..."  (Der  Rest  der  Inschrift  ist  ver- 
stümmelt.) 

Ein  Vergleich  dieser  moabitischen  Inschrift  mit  den  ent- 
sprechenden Stellen  des  Alten  Testaments  zeigt  zwischen 
beiden  eine  weitgehende  Analogie.  Hier  wie  dort  handelt  es 
sich  um  den  speziellen  Stammgott  eines  semitischen  Volks- 
stammes, welcher  bei  den  Moabitern  Kamos,  bei  den  Hebräern 


*  Nordwestlich  von  Dibon. 

**  Vgl.  1.  Sam.  15,33:  ,,Also  zerhieb  Samuel  den  Agag  zu  Stücken  vor 
Jahve  in  Gilgal." 

***  Südlich  von  Ataroth.     Vgl.  die  Parallele  2.  Kön.  23,13. 
t  An  der  Nordgrenze  von  Moab. 
tt  Unweit  Hesbon. 
ttt  Wahrscheinlich  im  Süden  von  Moab  an  der  Grenze  vonEdom  gelegen. 


5.  Die  Genesis  des  alttestamentlichen  Monotheismus.  105 

Jahve  heilst.    Hier  wie  dort  pflegen  kriegerische  Expeditionen 
auf  Befehl  des  Stammgottes  unternommen  zu  werden,  jeder 
Mifserfolg  wird  aus  einem  Zürnep  desselben  gegen  sein  Volk, 
jeder  Sieg  aus  seiner  gnädigen  Stimmung  erklärt.    Neben  dem 
Stammgott    stehen  in  zweiter  Linie  noch  andere  Gottheiten, 
welche  Verehrung  beanspruchen ;  so  in  der  Inschrift  des  Mesa 
neben  dem  Kamos  der  oder  die  'Astar,  wahrscheinlich  mit  ihm 
dasselbe  Heiligtum   teilend,   und   ebenso  hat  Jahve  noch  zu 
Zeiten  des  Königs  Josia  den  Tempel  zu  Jerusalem  mit  Ba'al, 
Asera  (hier  =  ''Asthoreth)  und  dem  ganzen  Heer  des  Himmels 
gemeinsam.    Aus  diesem  allen  semitischen  Stämmen  ursprüng- 
lich   eigenen   Polytheismus    hat    sich  bei   den  Hebräern   erst 
nach  und  nach  unter  schweren  Kämpfen  der  Monotheismus 
entwickelt,  welcher  für  die  abendländische  Welt  so  folgenreich 
geworden  ist.     Diese  Entwicldung  werden  wir  uns  so  vorzu- 
stellen haben,    dafs   aus  dem  Polytheismus  zunächst  her- 
vorging eine  Phase,  welche  man  füglich  als  Protolatrismus 
bezeichnen  kann:    in   dem  Mafse,  wie  dasjenige,  was  andere 
Stämme  vergebens  erstrebten,    den  Hebräern  gelungen  war, 
dafs  sie  das  Heilige  Land  unter  Führung  des  Jahve  eroberten, 
mufste    das    Ansehen    dieses    Stammgottes    das    der   übrigen 
Götter  übersteigen,    ohne   dafs   man   an   deren  Existenz   und 
Macht  zu  wirken  gezweifelt  hätte.    Denn  wenn  Salomo  seinen 
ausländischen  Weibern  zuliebe   der  'Asthoreth,    dem   Milkom 
und  dem  Kamos   südöstlich  von  Jerusalem  Altäre  errichtete, 
wenn  Ahab  neben  dem  (wie  die  Namen  seiner  Kinder  Ahasja, 
Joram,  Athalja  beweisen)  von  ihm  verehrten  Jahve  auch  den 
Ba'alskultus  begünstigte,  wenn  noch  bis  in  die  letzten  Zeiten 
des  Königtums  hinein  neben  Jahve  eine  ganze  Reihe  anderer 
Gottheiten  unter  den  Hebräern  ihre  Verehrer  fanden,   so  ist 
nicht  zu  bezweifeln,  dafs  diese  Verehrer  und  somit  mindestens 
ein  Teil  des  hebräischen  Volkes  alle  diese  Götter  für  ebenso 
real,   wenn  auch  nicht  für  ebenso    mächtig   hielten  wie  den 
Nationalgott    Jahve.      Ihnen    gegenüber    stand    eine    andere 
Partei,  welche  allen  jenen  andern  Gottheiten,  ohne  noch  ihre 
Existenz  zu  bezweifeln,  das  Recht  bestritt,  von  den  Hebräern 
verehrt   zu  werden;    der  Protolatrismus    wurde   zum  Mono- 
latrismus;  Jahve  verlangte:  „Du  sollst  keine  andern  Götter 


106  IV-   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

haben  neben  mir".  Ein  weiterer  und  letzter.  Schritt  führte 
dann  vom  Monolatrismus  zum  Monotheismus,  welcher  darin 
bestand,  dafs  man  allen  Göttern  aufser  Jahve,  nachdem  man 
ihnen  das  Recht  auf  Verehrung  abgesprochen  hatte,  endlich 
sogar  die  Existenz  absprach  und  sie  für  blofse  Gebilde  aus 
Stein,  Metall  oder  Holz  erklärte,  wie  dies  in  krasser  Weise 
namentlich  Jes.  44,13  fg.  bei  Schilderung  des  Götterbild- 
schnitzers ausgeführt  wird:  „Er  zimmert  Holz,  und  misset  es 
mit  der  Schnur,  und  zeichnet  es  mit  Rötelstein,  und  behauet 
es,  und  zirkelt  es  ab,  und  macht  es  wie  ein  Mannsbild,  wie 
einen  schönen  Menschen,  der  im  Hause  wohne.  Er  gehet 
frisch  daran  unter  den  Bäumen  im  Walde,  dafs  er  Zedern 
abhaue  und  nehme  Buchen  und  Eichen;  ja,  eine  Zeder,  die 
gepflanzet,  und  die  vom  Regen  erwachsen  ist,  und  die  den 
Leuten  Feuerung  gibt;  davon  man  nimmt,  dafs  man  sich  dabei 
wärme,  und  die  man  anzündet  und  Brot  dabei  backet.  Daselbst 
macht  er  einen  Gott  von,  und  betet  es  an;  er  macht  einen 
Götzen  daraus,  und  knieet  davor  nieder.  Einen  Teil  verbrennt 
er  im  Feuer,  und  über  einem  andern  isset  er  Fleisch,  er  bratet 
einen  Braten  und  sättigt  sich,  wärmt  sich  auch  und  spricht: 
Hoja!  ich  bin  warm  geworden,  ich  sehe  meine  Lust  am  Feuer. 
Aber  das  Übrige  macht  er  zum  Gott,  dafs  es  sein  Götze  sei, 
davor  er  knieet,  und  niederfället,  und.  betet,  und  spricht: 
Errette  mich;  denn  du  bist  mein  Gott!" 

Wer  zu  der  Überzeugung  gelangt  war,  dafs  Jahve,  der 
Stammgott  Israels,  der  einzige  und  allein  reale  Gott  war,  für 
den  war  es  eine  einfache  Konsequenz,  dafs  Gott  von  Anfang 
an  unter  allen  Völkern  Israel  erwählt,  dafs  er  sich  diesem 
Volke  und  schon  dessen  Stammvater  als  den  allein  wahren 
Gott  offenbart  habe,  dafs  mithin  der  monotheistische  Gottes- 
glaube auf  Abraham,  wenn  nicht  gar  bis  auf  Adam  zurück- 
zuführen sei. 

Hingegen  sprechen  folgende  Gründe,  um  sie  hier  noch- 
mals zusammenzufassen,  dafür,  dafs  auch  bei  den  Hebräern 
der  Monotheismus  sich  erst  im  Laufe  der  Zeit  aus  einem  ur- 
sprünglichen Polytheismus  entwickelt  habe. 

1.  Bei  allen  Völkern,  die  wir  kennen,  ist  die  ursprüngliche 
Religionsanschauung  der  Polytheismus.    Er  entspringt  daraus. 


5.  Die  Genesis  des  alltestamentliclien  Monotheismus.  107 

dafs  der  Mensch  die  ihn  umgebenden  Naturkräfte  und  Natur- 
erscheinungen personifizierte,  indem  er,  von  sich  selbst  auf 
die  Aufsenwelt  schhefsend,,  dem  Feuer,  Wind,  Gewitter,  der 
Sonne,  dem  Monde  und  dem  Sternenhimmel  einen  Willen 
und  schliefslich,  teils  aus  poetischen,  teils  aus  praktischen 
Motiven,  eine  Persönlichkeit  beilegte,  zu  der  man  reden 
konnte,  die  man  durch  Geschenke  und  Schmeicheleien  günstig 
zu  stimmen  hoffte.  Indem  man  aber  das  tief  in  der  mensch- 
lichen Natur  liegende  Gesetz,  das  Gute  zu  tun,  das  Böse  zu 
meiden,  als  ein  Gebot  jener  erdichteten  übermenschlichen 
Wesen  ansah,  drängte  namentlich  diese  moralische  Erwägung  zu 
einer  monistischen  Auffassung,  sei  es  dafs  man,  wie  in  Indien, 
durch  die  bunte  Vielheit  der  Götterwesen  die  ihnen  zugrunde 
liegende  Einheit  ergriff,  oder,  wie  in  Ägypten,  die  Lokalgötter 
der  verscliiedenen  Gaue  in  mechanischer  Weise  identifizierte, 
oder,  wie  in  Griechenland,  den  Zeus  über  alle  Götter  hinaus- 
hob und  schliefslich  als  den  einzigen  Gott  festhielt.  Mögen 
hierbei  neben  den  moralischen  auch  metaphysische  Motive 
mitgewirkt  haben,  überall  ist  der  Monotheismus  nicht  das 
Ursprüngliche,  sondern  das  Produkt  einer  gereiften  Reflexion. 

2.  Auch  bei  den  semitischen  Stämmen,  den  Arabern  im 
Süden,  den  Babyloniern  und  Assyrern  im  Osten,  den  Syrern 
und  Kanaanäern  im  Westen,  finden  wir,  wie  früher  gezeigt 
wurde,  als  ursprüngliche  Religionsform,  sov/eit  eine,  solche 
sich  ermitteln  läfst,  den  Polytheismus,  und  die  vollkomm.ene 
Analogie  der  Hebräer  mit  allen  andern  Semiten  in  Sprache, 
Sitte  und  Kultur  legt  den  Schlufs  nahe,  dafs  auch  ihre  reli- 
giösen Anschauungen  ursprünglich  dieselben  gewesen  sind 
wie  die  ihrer  semitischen  Bruderstämme. 

3.  Obgleich  die  alttestamentlichen  Schriften  sämtlich  vom 
monotheistischen  Standpunkte  aus  geschrieben  oder  über- 
arbeitet worden  sind,  so  lassen  sich  doch  in  ihnen  zahlreiche 
Spuren  eines  ursprünglichen,  erst  nach  und  nach  durch  eine 
höhere  Religionsanschauung  verdrängten  Polytheismus  erkennen, 
welcher  in  den  historischen  und  poetischen  Schriften  des  Alten 
Bundes  für  sündhafte  Abtrü»nigkeit  von  dem  einen,  wahren 
Gott  erklärt  wird.  Es  ist  aber  nach  allen  Gesetzen  historischer 
Entwicklung  unvergleichlich  wahrscheinlicher,  die  Beharrlich- 


108  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

keit  des  hebräischen  Volkes  in  der  Verehrung  anderer  Götter 
neben  Jahve  bis  in  die  letzten  Zeiten  des  Königtums  hinein 
als  ein  zähes  Festhalten  am  Ursprünglichen  und  nicht 
als  einen  immer  wieder  erneuten  Abfall  vom  Ursprüng- 
lichen zu  erklären,  und  es  ist  psychologisch  nicht  wohl  zu 
begreifen,  warum  die  Hebräer  von  ihrem  Stammgott,  welcher 
sie  geführt  und,  im  Vergleich  mit  dem  Schicksal  anderer 
Semitenstämme,  gut  geführt  hatte,  immer  wieder  und  wieder 
zum  Kulte  fremdländischer  Götter  abgeirrt  sein  sollten. 

Schwieriger  ist  die  Beantwortung  der  Frage,  zu  welcher 
Zeit  des  nationalen  Lebens  und  auf  Grund  welcher  Einwirkungen 
bei  den  Hebräern  der  ursprüngliche  Polytheismus  durch  die 
Zwischenstufen  des  Protolatrismus  und  Monolatrismus  sich 
zum  Monotheismus  fortentwickelt  hat.  Die  Annahme,  dafs 
schon  Abraham,  der  durchaus  mythische  Stammvater  des 
hebräischen  Volkes,  oder  Mose,  der  kaum  weniger  mythische 
Heros  der  Gesetzgebung,  den  Monotheismus  begründet  hätten, 
wird  sich  angesichts  des  späten  Ursprungs  von  Deuterono- 
mium  und  Leviticus  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  lassen.  Sie 
beruht  auf  einer  Projektion  späterer  Vorstellungen  in  die 
Sagengeschichte  des  Volkes,  wie  eine  solche  sich  nicht  selten 
auch  bei  andern  Völkern  findet. 

Wir  werden  aber  wohl  nicht  irre  gehen,  wenn  wir  als 
die  wichtigsten  Beförderer  und  Träger  des  monotheistischen 
Gedankens  die  Propheten  bezeichnen,  welche,  seitdem  Sa- 
muel die  Prophetenschulen  als  Gegengewicht  gegen  das  ihm 
unerwünschte  Königtum  gegründet  hatte,  ein  einflufsreicher 
Faktor  im  israelitischen  Volksleben  geworden  sind.  Erkenn- 
bar durch  ihre  Tracht,  am  langen  Mantel  und  ledernen  Gürtel, 
lebten  diese  Propheten  vielfach  an  Orten  wie  Ramah,  Bethel, 
Jericho  zusammen,  durchzogen  einzeln  oder  in  Scharen  das 
Land,  begleiteten  ihre  Vorträge  auf  Märkten  und  Strafsen  mit 
Musik  und  seltsamen,  oft  närrischen  Gebärden  und  waren  ge- 
übt in  der  allen  Menschen  gemeinsamen  Gabe,  aus  den  in 
der  Gegenwart  liegenden  Anzeichen  die  nächste  Zukunft  zu 
verkünden,  daher  sie  vom  Volke  für  V^ahrsager  gehalten 
wurden,  bei  denen  man  sich  Auskunft  über  den  Verbleib  ver- 
lorener Eselinnen  und  dergleichen  einholen  zu  können  glaubte. 


5.  Die  Genesis  dos  alttestamentliclien  Monotheismus.  109 

Im  Gegensatz  zu  den  durch  ihr  Zeremoniell  gebundenen 
Priestern  und  den  durch  ihr  Amt  beengten  Staatsbeamten 
nahmen  sie  dem  öffentlichen  Leben  gegenüber  eine  freiere 
Stellung  ein,  traten  ohne  Scheu  vor"  Gefahren  den  Königen 
wie  dem  Volke  entgegen,  um  beiden  die  Wahrheit  zu  sagen, 
das  Gewissen  zu  schärfen  und  die  Folgen  ihrer  Handlungen 
vorzuhalten,  und  gerade  diese  innere  Freiheit  machte  es  mög- 
lich, dafs  in  ihrer  Mitte  die  edelsten  religiösen  Gedanken  auf- 
keimten und  durch  ihre  Predigt  Verbreitung  fanden.  Das 
Institut  der  Propheten  war  nicht  auf  die  Jahvereligion  be- 
schränkt; wir  hören  auch  von  Propheten  des  Ba'al,  der 
Asthoreth,  von  Lügenpropheten;  aber  ihnen  gegenüber  waren 
es  die  Propheten  des  Jahve,  welche  die  polytheistischen 
Neigungen  der  Könige  wie  des  Volkes  bekämpften  und  auf 
die  alleinige  Verehrung  des  Nationalgottes  Jahve  drangen, 
dessen  Existenz  als  des  allein  wahren  Gottes  sie,  wie  die 
Volkssage  von  Elias  und  Elisa  berichtete,  durch  Wunderwerke 
zu  erweisen  wufsten.  Die  Wundertaten  des  Elias,  die  sich 
dann  bei  seinem  Schüler  Elisa  wiederholen,  und  sein  Kampf 
gegen  die  Ba'alspriester  sind  uns  nur  in  der  Form  überliefert, 
welche  sie  in  der  dichtenden  Volkssage  angenommen  haben. 
Bestimmter  wissen  wir  von  Elisa,  dafs  er  den  mörderischen 
Jehu  anstiftete,  von  seinem  Könige  treulos  abzufallen,  und 
dieser  Jehu  war  es,  welcher  nach  Ermordung  der  beiden 
Könige  von  Israel  und  Juda  den  Ba'alskult  in  Israel  aus- 
rottete, indem  er  sämtliche  Baalspriester,  unter  dem  heuch- 
lerischen Vorwand,  ihnen  ein  Fest  zu  geben,  zusammenlud 
und  niedermachen  liefs.  Einige  Jahre  darauf  wurde  auch  in 
Juda  unter  dem  kindhchen,  vom  Oberpriester  Jojada  geleiteten 
Könige  Joas  der  Tempel  des  Ba'al  in  Jerusalem  zerstört  und 
der  ihm  vorstehende  Priester  getötet.  So  war  etwa  um  das 
Jahr  850  a.  C.  dem  Kultus  des  Ba'al,  als  des  gefährlichsteh 
Rivalen  Jahves,  in  beiden  Reichen  ein  gewaltsames  Ende  be- 
reitet. Aber  trotz  dieser  Verfolgung  durch  die  Priesterpartei 
und  trotz  dem  Eifern  der  Propheten  hielt  das  Volk  nach  wie 
vor  bis  in  die  letzten  Zeiten  des  Königtums  an  den  ererbten 
polytheistischen  Neigungen  fest,  und  je  nachdem  die  Könige, 
wie    Hiskia    und    Josia,    zur    Jahvepartei    hielten    oder,    wie 


1X0  ^^-   I^iß  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

Manasse  und  andere,  es  geratener  fanden,  sich  auf  die  Volks- 
partei und  ihren  Kultus  anderer  Götter  zu  stützen,  wurden 
von  der  einen  wie  von  der  andern  Seite  die  Gegner  verfolgt, 
und  so  finden  wir  noch  unter  Josia,  dreifsig  Jahre  vor  dem 
Untergang  des  Reiches,  Ba'al,  'Asthoreth  und  andere  Götter 
im  Besitze  von  Altären  neben  dem  des  Jahve  im  Tempel  von 
Jerusalem  (vgl.  namentlich  2.  Kön.  23,4 — 20  und  Zephanja 
1,4-6). 

Inzwischen  hatte  sich  das  für  die  alleinige  Verehrung  des 
Nationalgottes  Jahve  eintretende  Prophetentum  mächtig  ent- 
wickelt und  war  seit  800  a.  C.  in  Amos,  Hosea  und  Jesaia 
dazu  fortgeschritten,  die  Strafpredigten  gegen  König  und  Volk 
schriftlich  aufzuzeichnen,  so  dafs  die  Gedanken  dieser  spätem 
schriftstellernden  Propheten  von  Amos  an  bis  zu  Maleachi  hin 
uns  noch  heute  erhalten  sind  und  ■  ein  urkundliches  Zeugnis 
über  ihre  Religionsanschauung  gewähren.  Während  das  Volk 
und  die  meisten  Könige  an  dem  Kultus  der  Idole  festhielten 
und  darin  durch  die  Berührung  mit  den  Nachbarstämmen 
immer  wieder  gestärkt  wurden,  war  es  für  die  Propheten, 
von  den  ältesten  an,  eine  ausgemachte  Sache,  dafs  Jahve  der 
allein  wahre  Gott  sei,  dafs  er  den  Himmel  und  die  Erde  er- 
schaffen habe,  dafs  er  unter  allen  Völkern  Israel  zum  Eigen- 
tum erwählt  und  von  Anfang  an  ihm  sich  offenbart  habe,  und 
dafs  alles  Buhlen  um  die  Gunst  anderer  Götter  nur  ein  Treu- 
bruch an  Jahve  sei  und  durch  das  Unglück  geahndet  würde, 
welches  er  über  sein  Volk  verhängte.  Dies  ist  die  feststehende 
Überzeugung  bei  allen  Propheten,  und  im  Sinne  dieser  An- 
schauungen ist  auch  in  den  historischen  Büchern  die  Sagen- 
geschichte des  Volkes  bearbeitet  worden. 

So  lange  die  Hebräer  noch  andere  Götter  neben  Jahve 
verehrten,  so  lange  dieser  für  sie  nur.  tmus  inter  pares  oder 
primus  inter  pares  war,  mochte  es  angehen,  wie  die  übrigen 
Götter  auch  Jahve  durch  ein  sichtbares  Sinnbild  sich  zu  ver- 
gegenwärtigen, sei  es  dafs  man  die  von  den  Kanaanäern  über- 
nommenen Kultusstätten  auf  den  Höhen  (hämäh)  mit  ihren 
Steinsäulen  fmazsebähj  und  heiligen  Bäumen  oder  Pfosten 
fascherähj  auf  Jahve  übertrug,  sei  es  dafs  man  nach  der 
Trennung  Israels  von  Juda  im  Nordreiche  die,  zum  Ersätze  für 


5.  Die  Genesis  des  alttestamentlicheii  Monotlieisnius.  m 

den  Tempel,  von  Jerobeam  in  Bethel  und  Dan  errichteten 
Stierbilder  als  Sj'mbole  Jalives  verehrte,  oder  geradezu,  wie 
Gideon  (Rieht.  8,27)  und  Micha  (Rieht.  17,5),  einen  Ephod, 
d.  h.  ein  hölzernes  oder  tönernes,  mit  Gold  oder  Silber  über- 
zogenes Götterbild  Jahves  verfertigte  und  zur  öffentlichen  oder 
häuslichen  Verehrung  aufstellte.  Alle  Versuche  dieser  Art, 
sich  die  unmittelbare  Gegenwart  der  Gottheit  durch  ein  ihr 
geweihtes  Bildnis  zu  veranschaulichen,  wurden,  so  sehr  auch 
das  Volk  daran  hängen  mochte,  von  der  Prophetenpartei  durch- 
aus verworfen  und  bekämpft.  Der  Gott,  welcher  Himmel  und 
Erde  gemacht  hatte,  durfte  nicht  durclv  ein  sichtbares  Sinn- 
bild in  die  gemeine  Wirklichkeit  herabgezogen  und  mit  den 
Göttern  der  umwohnenden  Völker  in  eine  Reihe  gestellt  werden, 
zumal  das  Volk  immer  in  Gefahr  ist,  den  symbolischen  Cha- 
rakter derartiger  Ivultobjekte  zu  verkennen  und  das  Sinnbild 
für  die  Sache  selbst  zu  nehmen.  Daher  trat  in  unserm,  etwa 
aus  der  Zeit  des  Josia  stammenden  und  durchaus  auf  pro- 
phetischen Einflüssen  beruhenden  Dekalog  neben  die  erste 
Forderung:  „Du  sollst  keine  andern  Götter  neben  mir 
haben",  sogleich  die  zweite:  „Du  sollst  dir  kein  Bildnis 
noch  irgend  ein  Gleichnis  machen!" 

Wie  die  Propheten  vermöge  ihrer  freiem  Stellung  inner- 
halb des  israelitischen  Gemeinwesens  bei  Volk  und  Königen 
gegen  Vielgötterei  und  Bilderdienst  eiferten,  so  standen  sie 
auch  der  Priesterkaste,  mit  welcher  sie  diese  Interessen  ge- 
meinsam hatten,  in  anderer  Hinsicht  reformierend  gegenüber, 
indem  sie,  durch  keine  Tradition  gebunden  und  nur  der  Stimme 
des  Gottes,  den  sie  in  ihrem  Innern  zu  vernehmen  glaubten, 
gehorchend,  mit  scharfer  Predigt  gegen  die  im  toten  Zeremoniell 
erstarrende  Veräufserlichung  des  Kultus  eiferten  und  an  seiner 
Stelle  auf  moralische  Reinheit,  auf  Gerechtigkeit  und  Menschen- 
liebe drangen. 

Schon  bei  Amos,  dem  ältesten  der  uns  erhaltenen  Pro- 
pheten (um  760  a.  C.),  werden  diese  Forderungen  mit  aller 
Strenge  geltend  gemacht.  Er  stammte  aus  Thekoa  (zwei 
Stunden  südlich  von  Bethlehem),  war,  wie  er  selbst  erzählt, 
ein  Rinderhirt  und  züchtete  Maulbeerfeigen,  aber  „Jahve  holte 
ihn  hinter  der  Herde  weg",  der  Gott  in  ihm  trieb  ihn  an,  nach 


112  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

Bethel  zu  gehen  und  dort  in  kräftigen,  mannhaften  Worten 
den  Bewohnern  des  Nordreiches  ihre  Sünden  vorzuhalten  und 
die  drohende  Strafe  zu  verkünden,  bis  er  auf  Jerobeams  Be- 
fehl vom  Oberpriester  Amazja  bedeutet  wurde,  nach  Juda 
zurückzul<:ehren ,  dort  als  Prophet  aufzutreten  und  sich  sein 
Brot  zu  erwerben,  aber  Israel  nicht  weiter  durch  seine 
Drohungen  zu  beunruhigen.  Mit  unverhohlener  Verachtung  redet 
dieser  Prophet  über  den  veräuf serlichten  Opferkultus  und  for- 
dert statt  dessen  einen  rechtschaffenen  Wandel;  Kap.  5,21 — 24: 
„Ich  hasse,  ich  verachte  eure  Feste  und  kann  nicht  erriechen 
eure  Festversammlungen.  Wenn  ihr  mir  Brandopfer  und  eure 
Gaben  darbringt,  so  nehme  ich  es  nicht  gnädig  auf,  und  wenn 
ihr  mir  ein  Heilsopfer  von  euren  Mastkälbern  herrichtet,  so 
sehe  ich  nicht  hin.  Hinweg  von  mir  mit  dem  Geplärre  deiner 
Lieder;  das  Rauschen  deiner  Harfen  mag  ich  nicht  hören! 
Möge  vielmehr  Recht  sprudeln  wie  Wasser,  und  Gerechtigkeit 
wie  ein  nimmer  versiegender  Bach!"  Kap.  8,4 — 6:  „Höret  dies, 
die  ihr  den  Armen  unterdrücket,  und  die  Elenden  im  Lande 
verderbet,  und  sprechet:  Wann  will  denn  der  Neumond  ein 
Ende  haben,  dafs  wir  Getreide  verkaufen,  und  der  Sabbat,  dafs 
wir  Korn  feil  haben  mögen  und  das  Epha  verkleinern,  und 
das  Gewicht,  [mit  dem  das  gezahlte  Geld  gewogen  wird]  ver- 
gröfsern  und  die  Wage  fälschen;  auf  dafs  wir  die  Armen  um 
Geld  und  die  Dürftigen  um  ein  Paar  Schuh  unter  uns  bringen 
und  Spreu  für  Korn  verkaufen?" 

Weniger  hoch  stehen  die  Weissagungen  des  zweiten  Pro- 
pheten, dessen  Schriften  uns  erhalten  sind,  des  Hosea  (740a.  C.), 
bei  welchem  wir  nicht  mehr  der  herben,  markigen  Strenge 
des  Amos,  sondern  mehr  einer  weichen,  elegischen  Stimmung 
begegnen,  die,  wie^es  scheint,  durch  schmerzliche  Erfahrungen 
in  dem  Familienleben  des  Propheten  veranlafst  war.  An  diese 
anknüpfend  schildert  Hosea  den  Bund  Gottes  mit  Israel  unter 
dem  nicht  sehr  geschmackvollen  Bilde  einer  Ehe,  in  welcher 
das  Weib  (Israel)  seinem  Gatten  (Jahve)  untreu  wird  und  sich 
zu  ihren  Buhlen  (den  kanaanitischen  Göttern)  hält,  welche 
ihm  „Brot  und  Wasser,  Wolle  und  Flachs,  Ol  und  Getränke 
spenden".  Doch  ist  es  Hosea,  bei  welchem  wir  Kap.  6,6  das 
grofse,  auch  von  Jesu  wiederholt  zitierte  Wort  finden:    „An 


5.  Die  Geuesis  des  alttestamentlichen  Monotheismus.  113 

Liebe    habe    ich    Wohlgefallen,    nicht    an    Schlacht- 
opfern" (sXsov  ^£Aw,  ou  "i^uGcav,  Matth.  9,13.  12,7). 

Dem  Arnos  an  Kraft  der  Sprache  und  Originalität  der 
Gedanken  gleichkommend,  aber  an  politischer  Stellung  und 
Wirksamkeit  ihn  und  alle  andern  Propheten  übertreffend,  lebte 
als  jüngerer  Zeitgenosse  der  beiden  vorher  erwähnten  Pro- 
pheten zu  Jerusalem  Jesaia,  dessen  Tätigkeit  etwa  740 — 701 
unter  den  Königen  Usia,  Jotham,  Ahas  und  Hiskia,  nament- 
lich unter  dem  letztgenannten,  von  grofsem  Einflüsse  auf  das 
Schicksal  des  kleinen,  von  der  assyrischen  Macht  hart- 
bedrängten Juda  war.  Nachdem  Samaria  722  gefallen  war, 
ermahnte  er,  wie  schon  oben  erwähnt  wurde,  den  König  und 
das  Volk,  die  assyrische  Oberhoheit  willig  als  eine  von  Jahve 
verhängte  Strafe  zu  ertragen,  und  als  nach  Sargons  Tode 
(705)  Hiskia  sich  verleiten  liefs,  von  Sanherib  abzufallen,  und 
beim.  Herannahen  der  Assyrer  Hiskia  und  seine  Ratgeber  alles 
verloren  gaben,  da  ermahnte  Jesaia,  tapfer  im  Widerstände 
auszuharren,  sagte  voraus,  dafs  Sanherib,  ohne  Jerusalem  zu 
erobern,  in  sein  Land  zurückkehren  werde,  und  eine  un- 
erwartet im  Heer  der  Assyrer  eintretende  Katastrophe  liefs 
ihn  recht  behalten  (vgl.  oben  S.  93 — 94).  Aber  auch  gegen  die 
Sünden  des  eigenen  Volkes,  gegen  die  Schlemmerei  der  Reichen, 
die  Bedrückung  der  Armen,  die  Putzsucht  der  Weiber  eiferte 
der  Prophet  und  verlangte  statt  des  äufserlichen  Kultus  Rein- 
heit des  Herzens  und  Aufrichtigkeit  der  Gesinnung.  „Höret 
des  Herrn  Wort,  ihr  Fürsten  von  Sodom,"  ruft  er  1,10  fg.  den 
Grofsen  der  Hauptstadt  zu,  „nimm  zu  Ohren  unsers  Gottes 
Gesetz,  du  Volk  von  Gomorrha!  Was  soll  mir  die  Menge 
eurer  Opfer,  spricht  der  Herr.  Ich  bin  satt  der  Brandopfer 
von  Widdern  und  des  Fettes  von  den  Gemästeten,  und  habe 
keine  Lust  zum  Blut  der  Farren,  der  Lämmer  und  Böcke. 
Wenn  ihr  hereinkommt  zu  erscheinen  vor  mir,  wer  fordert 
solches  von  euren  Händen,  dafs  ihr  auf  meinen  Vorhof  tretet? 
Bringet  nicht  mehr  Speisopfer  so  vergeblich.  Das  Räucher- 
werk ist  mir  ein  Greuel;  Neumond  und  Sabbat,  Ausrufen 
von  Festversammlung  —  ich  mag  nicht  Gottlosigkeit  mit  Fest- 
gedränge. Meine  Seele  ist  feind  euren  Neumonden  und  Jahres- 
festen;  ich  bin  derselben  überdrüssig,   ich   bin    es  müde  zu 

Deussbn,  Geschicbte  der  Philosophie.     II.  ii.  S 


114  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

leiden.  Und  wenn  ihr  schon  eure  Hände  ausbreitet,  verberge 
ich  doch  meine  Augen  von  euch ;  und  ob  ihr  schon  viel  betet, 
höre  ich  euch  doch  nicht;  denn  eure  Hände  sind  voll  Bluts. 
Waschet  euch,  reiniget  euch,  schaffet  eure  bösen  Werke  mir 
aus  den  Augen,  lasset  ab  vom  Bösen.  Lernet  Gutes  tun, 
trachtet  nach  Recht,  helfet  dem  unterdrückten,  schaffet  dem 
Waisen  Recht,  und  helfet  der  Witwen  Sache." 

In  demselben  Sinne  ruft  der  Prophet  Micha,  ein  jüngerer 
Zeitgenosse  des  Jesaia,  aus  (6,6 — 8} :  „Womit  soll  ich  Jahve 
entgegen  kommen,  mich  beugen  vor  dem  Gott  der  Höhe? 
Soll  ich  mit  Brandopfern  vor  ihm  erscheinen,  mit  jährigen 
Kälbern?  Hat  Jahve  Gefallen  an  Tausenden  von  Widdern,  an 
unzähligen  Bächen  Öls?  Soll  ich  meinen  Erstgeborenen  für 
meine  Sünde  geben,  meines  Leibes  Frucht  als  Sühne  meiner 
Seele?  Es  ist  dir  gesagt,  o  Mensch,  was  frommt,  und 
was  Jahve,  dein  Gott,  von  dir  fordert,  Recht  tun  und 
Liebe  üben  und  demütig  wandeln  vor  deinem  Gott." 

6.  Vorzüge  und  Mäng^el  des  althebräischen  Monotheismus. 

Der  ist  nur  ein  grofses  Kind,  sagt  Schopenhauer,  wer 
glauben  kann,  dafs  jemals  Wesen  höherer  Art  zu  den  Menschen 
herabgestiegen  seien,  um  ihnen  ihre  Offenbarungen  mitzuteilen. 
Alle  Offenbarungen,  wo  sie  auch  immer  aufgetreten  sein  mögen, 
sind  Projektionen  innerer  Vorgänge  nach  aufsen  hin.  Damit 
wird  ihr  Wert  und  ihre  metaphysische  Dignität  nicht  im 
mindesten  verkleinert.  Denn  unser  eigenes  Innere  mit  seinen 
wundersamen  Phänomenen,  mit  dem  Bewufstsein  der  Freiheit, 
der  Verantwortlichkeit  für  unser  Tun,  der  Stimme  des  Ge- 
wissens, der  Verurteilung  schlechter  Handlungen  bei  uns  selbst 
wie  bei  andern,  dieses  Innere  mit  seinem  kategorischen  Im- 
perativ, der  allen  unsern  individuellen  Neigungen  als  ein 
anderes,  ein  Höheres,  gegenübertritt,  ist  der  einzige  Punkt  in 
der  Natur,  wo  uns  das  Ding  an  sich  und  damit  der  Inbegriff 
alles  Göttlichen  zum  Bewufstsein  kommt.  Aus  dieser  Quelle 
schöpften  die  Urheber  der  Upanishads,  schöpfte  Piaton,  aus 
dieser  Quelle  entspringen  alle  Offenbarungen,  welche  wir  den 
Propheten  des  Alten  Testaments,  welche  wir  einem  Jesus  und 
Paulus  verdanken.     Das  moralische  Phänomen  in  uns  ist  das 


6.   Vorzüge  und  Mängel  des  althebräischen  Monotheismus.        115 

allein  Reale  an  allen  religiösen  Vorstellungen,  alle  Religion  ist 
nur  Auslegung  des  moralischen  Bewufstseins.  Aber 
dieses  moralische  Phänomen  wurzelt  tiefer  als  die  ganze  Er- 
scheinungswelt, weist  über  sie  hinaus  und  fordert  von  uns, 
durch  Entselbstigung,  durch  Verleugnung  unseres  empirischen 
Selbstes,  unserer  wahren,  ewigen,  göttlichen  Wesenheit  ent- 
gegenzureifen.  Der  kategorische  Imperativ,  diese  „himmlische 
Stimme",  wie  Kant  sagt,  tritt  so  oft  allen  unsern  individuellen 
Neigungen  entgegen,  dafs  wir  in  ihm  die  Stimme  einer  höhern 
Macht  zu  vernehmen  glauben.  Es  ist  uns  Menschen  natür- 
hch,  unserm  egoistischen,  empirischen  Ich  unser  eigenes  meta- 
physisches Ich  als  ein  anderes  gegenüberzustellen,  den  Gott 
in  uns  als  einen  Gott  aufs  er  uns  zu  betrachten.  Hierdurch 
tritt  erst  der  Gegensatz  des  egoistischen,  empirischen  Ich  und 
des  den  Egoismus  verleugnenden,  metaphysischen  Ich  in  voller 
Schärfe  aus  einander,  und  das  Gebot  des  Sittengesetzes  ist 
wirksamer,  wenn  wir  uns  dasselbe  als  den  Ausflufs  einer 
uns  objektiv  gegenüberstehenden  Macht  vorstellen.  Hierauf 
beruht  der  unschätzbare  Wert  des  Gottesbegriffes  für  das 
praktische,  sittliche  Leben.  Auch  den  polytheistischen  Reli- 
gionssystemen ist  dieser  Wert  nicht  abzusprechen.  Aber  wo 
viele  Götter  sind,  treten  ihre  Interessen  leicht  in  Gegensatz 
gegen  einander:  Qiva  bekämpft  den  Vishnu,  Zeus  den  Kronos, 
Jahve  den  Ba'al.  Das  Sittengesetz  aber  kann,  wegen  seines 
kategorischen  Charakters,  nicht  als  zwiespältig,  sondern  nur 
als  eines  und  mit  sich  einstimmig  betrachtet  werden.  Daher 
zeigt  sich  überall  in  dem  Mafse,  wie  die  Götter  als  Urheber 
.und  Hüter  des  Moralischen  gefafst  werden,  ein  Streben  zum 
Monismus,  der  nicht  gerade  Monotheismus  zu  sein  braucht. 
Wir  sahen  schon  öfter,  wie  dieser  Monismus  in  Indien  durch 
philosophisches  Ergreifen  der  aller  Vielheit  zugrunde  liegenden 
Einheit,  in  Ägypten  durch  mechanische  Identifikation,  in 
Griechenland  durch  Verblassen  aller  Göttergestalten  neben  der 
des  Zeus,  in  Palästina  durch  Kampf  erreicht  wurde,  indem 
allen  andern  Göttern  zunächst  das  Recht  auf  Verehrung  und 
schliefslich  die  Existenz  abgesprochen  wurde,  so  dafs  Jahve 
in  der  vollen  konkreten  Lebendigkeit,  die  er  in  der  Vorstellung 
des  Volkes  hatte,   als  der  einzige  übrig  blieb.     Wir  werden 


1\ß  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

weiter  unten  zu  zeigen  haben,  wie  der  israelitische  Gottes- 
begriff erst  allmähhch  von  den  Schlacken,  die  ihm  anhafteten, 
gereinigt  wurde,  aber  in  dem  Mafse,  wie  dies  geschah,  wurde 
er  zur  Personifikation  der  Moralität,  wurde  er  zu  dem  absolut 
Heiligen,  welcher  dieselbe  Heiligkeit,  deren  Vorbild  er  war, 
auch  bei  seinen  Verehrern  forderte:  „Ihr  sollt  mir  heilig 
sein,  denn  ich,  Jahve,  bin  heilig"  (3.  Mos.  20,26)  und 
„ich  bin  heilig,  Jahve,  der  Euch  heiligt"  (3.  Mos. .21,8), 
wie  es  in  dem  sogenannten  Heiligkeitsgesetze  (3.  Mos.  17 — 26) 
heifst,  dessen  Abfassungszeit  von  der  Kritik  in  die  Periode 
zwischen  Ezechiel  (Kap.  40—48)  und  dem  Priesterkodex  ver- 
legt wird.  Diese,  auch  von  Jesu  (Matth.  5,48)  hervorgehobene 
Auffassung  Gottes  als  des  Ideals  aller  Heiligkeit  und  Voll- 
kommenheit, nicht  in  begrifflicher  Abstraktion,  sondern  in  der 
lebensvollen  Gestalt  eines  volkstümlichen  Gottes,  tritt  in  den 
prophetischen  und  geschichtlichen  Schriften  des  Alten  Testa- 
ments, je  später  um  so  mehr,  hervor,  ist  der  Erklärungsgrund 
für  den  hohen,  weihevollen  Ernst,  von  welchem  diese  ganze 
Literatur  getragen  wird,  und  auch  heute  und  in  aller  fernem 
Zukunft  dürfen  wir  nicht  hoffen,  eine  Form  zu  finden,  in  wel- 
cher die  moralische  Pflicht,  diese  höchste  Obliegenheit  des 
Menschen,  uns  tiefer  ergriffe  und  kräftiger  auf  uns  wirkte, 
als  indem  wir  sie  uns  als  ein  konkretes,  lebendiges  Wesen^ 
als  einen  persönlichen  Gott  gegenüberstellen.  Mag  der  Philo- 
soph daran  Genüge  finden,  mit  dem  Sittengesetze,  welches  als 
der  Gott  in  seinem  Busen  lebt,  seine  eigene  Unvollkommen- 
heit  in  stiller  Meditation  zu  messen,  das  Volk  bedarf  einer 
ihm  fafslichern  Objektivation  des  Sittengesetzes  in  einem 
persönlichen  Gott,  zu  dem  es  reden,  den  es  um  Hilfe  in  seiner 
sittlichen  Schwachheit  anrufen,  mit  dem  nach  dem  Tode  ver- 
einigt zu  werden  es  hoffen  kann,  und  diese  Stütze  des  sitt- 
lichen Wandels,  dieser  Trost  im  Leben  und  Sterben,  darf  und 
soll  ihm  nicht  geraubt  werden. 


Um  so  schmerzlicher  ist  es  für  jeden  Wohlgesinnten, 
sehen  zu  müssen,  wie  historische  und  naturwissenschaftliche 
Kritik  daran  arbeiten,  den  ererbten  Gottesglauben  zu  erschüttern. 
Allerdings  ist  aus   dem   unseligen   Zwiespalte    zwischen    den 


6.  Yorzüge  und  Mängel  des  althebräischen  Monotheismus.        117 

Forderungen  der  Wissenschaft  und  den  Bedürfnissen  des  reli- 
giösen Gemütes  eine  Rettung  möglich:  sie  liegt  in  dem  von 
Kant  begründeten  und  von  Schopenhauer  vollendeten  philo- 
sophischen Idealismus,  welcher  das,  was  die  Religionen  unter 
Gott  verstehen,  in  einer  andern  Form  mit  eisernen  Klammern 
festhält  und  daher  auf  seinem  Gipfel  zur  Religion  wird;  dem 
Volke  soll  man  ihn  erst  geben,  wenn  und  soweit  es  fähig 
ist,  ihn  in  sich  aufzunehmen,  und  so  lange  dies  nicht  der  Fall 
ist,  soll  man  ihm,  nach  dem  Worte  des  Apostels  (2.  Kor.  4,7), 
den  Schatz  in  den  irdenen  Gefäfsen  lassen,  welche  ihn  ein- 
schliefsen.  Anders  diejenigen,  welche  durch  einen  gewissen 
Grad  von  Bildung  und  Nachdenken  unfähig  geworden  sind, 
den  ererbten  Glauben  festzuhalten,  und  daher  in  Gefahr  sind, 
das  Ednd  mit  dem  Bade  auszuschütten,  den  Schatz  mitsamt 
den  irdenen  Gefäfsen  wegzuwerfen.  Für  sie,  an  welche  allein 
unsere  Darstellung  sich  wendet,  ist  es  an  der  Zeit,  die  irdenen 
Gefäfse  zu  zerbrechen,  dem  Kaiser  zu  geben,  was  des  Kaisers, 
und  Gott,  was  Gottes  ist,  mit  andern  Worten,  rücksichtslos 
der  historischen,  naturwissenschaftlichen  und  philosophischen 
Kritik  freien  Lauf  zu  lassen,  im  festen  Vertrauen,  dafs  die 
Religion  dabei  nicht  verloren  gehen  kann,  sondern  um  so 
fester  stehen  wird,  je  mehr  sie  sich  ausschlief slich  auf  die  in 
uns'erm  Innern  sprudelnde  Quelle  aller  Ofienbarung,  auf  die 
ewigen  Tatsachen  des  menschlichen  Herzens  und  seiner  Wunder- 
phänomene gründet. 

In  diesem  Sinne  wollen  wir  zunächst  die  aus  dem  Alten 
Testament  ererbte  Religionsanschauung  einer  lo-itischen  Be- 
leuchtung unterwerfen.  Dieselbe  erscheint  bei  unbefangener 
Prüfung  als  ein  konsequent  in  sich  zusammenhängendes  System, 
als  eine  Art  Syllogismus,  dessen  richtig  gezogene  Konklusion 
zu  Widersprüchen  mit  der  Erfahrung  führt,  woraus  folgt,  dafs 
ihre  Prämissen  fälsch  sein  müssen. 

1.  Der ,  Grundpfeiler  der  ganzen  alttestamentlichen  Theo- 
logie ist  der  Theismus,  d.  h.  der  Glaube,  dafs  diese  ganze, 
in  Raum  und  Zeit  sich  ausbreitende  Welt  erschaffen  worden 
ist,  erhalten  und  regiert  wird  von  einem  allweisen  und  all- 
mächtigen, im  übrigen  aber  menschenähnlichen  Wesen.  Denn 
wenn  es  1.  Mos.  1,27  heifst:   „Gott  schuf  den  Menschen  ihm 


118  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

zum  Bilde,  zum  Bilde  Gottes  schuf  er  ihn",  so  bedeutet  dieses, 
in  die  Sprache  der  Wissenschaft  übersetzt:  Die  Menschen 
stellen  sich  Gott  nach  dem  Bilde  eines  Menschen  vor.  Dem- 
entsprechend legen  die  Hebräer  ihrem  Jahve  mancherlei  in- 
tellektuelle und  moralische  Eigenschaften  bei,  wie  sie  der 
Menschennatur  eigen  sind.  In  erster  Hinsicht  wird  ihm  ein 
Denken,  Beschliefsen ,  Sicherinnern,  Sehen  und  Hören,  in 
letzter  Hinsicht  Liebe  und  Hals,  Zorn,  Eifer  und  Erbarmen, 
Freude  (Jes.  62,5),  Betrübnis  und  Reue  (1.  Mos.  6,6)  zuge- 
schrieben. Mit  zunehmender  poetischer  Personifizierung  werden 
Jahve  ein  Schlafen  und  Erwachen  (Psalm  44,24.  78,65),  ein 
Sprechen  und  Schreien  (Jes.  42,13),  ein  Hauchen,  Riechen  und 
sogar  ein  Pfeifen  (schäraq,  wie  es  der  Bienenvater  anwendet, 
um  die  Bienen  herbeizulocken,  Jes.  5,26.  7,18)  beigelegt,  wäh- 
rend in  poetischen  Stellen  sogar  von  Augen  und  Ohren,  Händen, 
Füfsen  usw.  Gottes  die  Rede  ist.  Mag  man  hiervon  auch  noch 
so  viel  auf  Rechnung  der  dichterischen  Einldeidung  setzen,  so 
steht  doch  so  viel  fest,  dafs  von  den  Hebräern  die  Schöpfung 
und  Erhaltung  der  Welt  auf  ein  menschenähnliches,  mit 
menschlichen  Eigenschaften  und  Funktionen  ausgestattetes 
Wesen  zurückgeführt  wurde,  eine  Hypothese,  welche  unter 
allen  philosophischen  Theorien,  die  je  über  Wesen  und  Ent- 
stehung des  Weltalls  aufgestellt  worden  sind,  die  verwegenste 
und  unmöglichste  ist,  und  über  deren  Kühnheit  wir  nur  darum 
nicht  erstaunen,  weil  wir  sie  von  Jugend  auf  zu  hören  ge- 
wohnt sind.  Dafs  die  Schöpfung  der  Welt  in  sechs  Tagen, 
wie  sie  der  Priesterkodex  1.  Mos.  1  berichtet,  verschiedene 
Verstöfse  gegen  die  einfachsten  naturwissenschaftlichen  An- 
schauungen enthält  (Pflanzen  ehe  die  Sonne,  Licht  ehe  ein 
lichtgebender  Körper  da  ist,  das  Wasser  jenseits  des  Himmels- 
gewölbes, also  jenseits  von  Sonne,  Mond  und  Sternen  als 
Quelle  des  Regens,  vgl.  1.  Mos.  7,11),  mag  nebenbei  bemerkt 
werden. 

2.  Eine  notwendige  Konsequenz  der  Weltschöpfung  durch 
ein  allweises  und  allgütiges  Wesen  ist  der  im  Alten  Testament 
trotz  aller  herben  Schickungen  herrschende  Optimismus. 
Bei  der  Schöpfung  heilst  es  am  Schlüsse  jedes  Tagewerks 
(mit  Ausnahme  des  zweiten,  daher  die  Rabbiner  glauben,  dafs 


6.  Vorzüge  und  Mängel  des  altliebräischen  Monotheismus.        Hg 

an  ihm  der  Teufel  geschaffen  sei):  „Und  Gott  sah,  dafs  es 
gut  war",  und  am  Schlüsse  des  Ganzen  heifst  es,  1.  Mos.  1,31: 
„Und  Gott  sähe  an  alles,  was  er  gemacht  hatte,  und 
siehe  da:  es  war  sehr  gut!"  Wir  wollen  hier  nicht  mit 
abgegriffenen  Schlagworten  wie  Optimismus  und  Pessimismus 
operieren ;  ob  man  optimistisch  das  Dasein  dem  Nichtsein  oder 
pessimistisch  das  Nichtsein  dem  Dasein  vorzieht,  ist  im  Grunde 
eine  Sache  des  Gefühls,  des  Temperaments  und  der  persön- 
lichen Lebenserfahrungen,  die  bei  jedem  verschieden  sind, 
daher  wir  die  Frage  nach  dem  Wert  oder  Unwert  des  Lebens 
überhaupt  nicht  für  diskutierbar  halten.  Hier  genügt  es,  daran 
zu  erinnern,  dafs  alle  die  drei  grofsen  Weltrehgionen,  der 
Brahmanismus,  der  Buddhismus  und  das  Christentum,  überein- 
stimmend als  höchstes  Ziel,  welches  uns  gesteckt  ist,  eine 
Erlösung  lehren.  Diese  Lehre  setzt  voraus,  dafs  unser  Dasein 
von  der  Art  ist,  dafs  wir  eine  Erlösung  aus  demselben  be- 
dürfen, und  ein  solches  Dasein  kann  unmöglich  als  die  Schöpfung 
eines  allweisen  und  allgütigen  Wesens  betrachtet  werden, 
auch  nicht,  wenn  man  das  Böse  und  Übel  aus'dem  Sündenfall 
erklärt,  wie  weiter  unten  zu  zeigen  sein  wird. 

3.  Als  eine  weitere  Konsequenz  des  Theismus  ergibt  sich 
das,  was  wir  hier  mit  einem  Worte  als  Nihilismus  be- 
zeichnen wollen,  und  worunter  wir  die  Meinung  verstehen, 
dafs  der  Mensch  durch  Zeugung  und  Geburt  aus  Nichts  zu 
einem  Etwas  und  durch  den  Tod  aus  diesem  Etwas  wieder 
zu  dem  Nichts  werde,  welches  er  vor  seiner  Entstehung  war. 
Wie  bei  allen  semitischen  Völkern  vermöge  ihrer  Neigung 
zum  Realismus  (oben  S.  32),  so  ist  auch  im  Alten  Testament 
diese  Anschauung  durchaus  die  herrschende  und  kann  auch 
bei  der  Voraussetzung  des  Theismus  keine  andere  sein.  Wie 
alles  in  der  Welt,  ist  auch  der  Mensch  von  Gott  geschaffen 
worden,  und  „alles  was  entsteht,  ist  wert  dafs  es  zugrunde 
geht".  Unsterblich  kann  nur  sein,  was  nie  enstanden  ist. 
Entweder  eine  Sache  ist  in  der  Zeit  aus  Nichts  geworden, 
dann  mufs  sie  in  der  Zeit  auch  wieder  zu  Nichts  werden,  sie 
gehört  dem  Reiche  des  y:,yvc[;.£vov  xal  dTCoXXij[j.svov  an,  wie 
Piaton  sagt,  und  wenn  er  die  Seele  entstanden  und  dabei  un- 
sterblich sein  läfst,  so  macht  er  sich  einer  schweren  Inkonsequenz 


120  I^-   Diß  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

schuldig  (vgl,  oben  II,  i  S.  281).  „Was  nichtig  ist,  bricht 
auch  in  Nichts  zusammen",  xö  fi.7]5£v  elc,  oüSsv  psTcst,  wie  Euri- 
pides  sagt.  Nur  das  kann  unvergänglich  sein,  was  unent- 
standen  ist,  eine  Postexistenz  der  Seele  fordert  ihre  Präexistenz, 
wie  auch  Origenes  sah  und  dadurch  in  eine  Ketzerei  verfiel, 
welche  ihm  die  Kirche  noch  heute  nicht  verziehen  hat.  Es 
ist  also  ganz  konsequent,  wenn  das  Alte  Testament  den 
Menschen  von  Gott  geschaffen  und  beim  Tode  wieder  zu 
Nichts  werden  läfst:  „Staub  bist  du  und  zu  Staub  sollst  du 
wieder  werden",  sagt  Jahve  schon  1.  Mos.  3,19  zum  Menschen, 
und  diese  Anschauung  ist  die  herrschende  im  ganzen  Alten 
Testament,  mit  Aisnahme  sehr  später  Stellen,  welche  schon 
unter  iranischem  Einflüsse  stehen,  wie  unten  zu  zeigen  sein 
wird.  Mit  dem  Tode  gehen  die  Menschen  als  blut-  und  leb- 
lose Schatten  (rephäim)  in  das  Schattenreich  des  Scheol  und 
werden  dadurch  für  immer  dem  Verkehr  mit  der  Oberwelt, 
aber  auch  dem  Einflüsse  Jahves  entrückt,  der  dann  nur  noch 
an  Kindern  und  Nachkommen  Vergeltung  üben  kann.  So 
reich  auch  das  Gesetz  und  die  Propheten  an  Drohungen  für  die 
Übeltäter,  an  Verheifsungen  für  die  Frommen  sind,  nirgendwo 
findet  sich  bei  ihnen  ein  Hinweis  auf  die  Vergeltung  in  einem 
jenseitigen  Leben. 

4.  Eine  vierte  und  letzte  Konsequenz  des  althebräischen 
Theismus  ist  das,  was  wir  in  Ermangelung  eines  bessern 
Wortes  Eudämonismus  nennen  wollen.  Jahve  ist  allmächtig 
und  gerecht,  und  hieraus  folgt  notwendig,  dafs  alles  Gute 
seinen  Lohn,  alles  Böse  seine  Strafe  finden  mufs.  Das  ganze 
Alte  Testament  bewegt  sich  in  dieser  Grundanschauung;  Sünde 
und  Unglück,  Frömmigkeit  und  Glück  hängen  als  Ursache  und 
Wirkung  untrennbar  zusammen,  und  es  ist  durchaus  alt- 
testamentliche  Anschauung,  nicht  nur  dafs  auf  jedes  Unrecht 
ein  Leiden,  auf  jedes  Wohlverhalten  ein  Zustand  des  Glückes 
folgt,  sondern  auch  umgekehrt,  dafs  da,  wo  ein  Leiden  ist, 
eine  Versündigung  vorhergegangen  sein  mufs,  eine  Auffassung, 
welche  auch  noch  im  Neuen  Testament  nachklingt,  bei  Jesu, 
wenn  er  zu  dem  Leidenden  spricht:  „Deine  Sünden  sind  dir 
vergeben",  und  bei  den  Jüngern,  wenn  der  vierte  EvangeHst 
(9,2)  sie  die  Frage  aufwerfen  läfst:   „Welcher  hat  gesündigt, 


6.  Vorzüge  und  Mängel  des  althebräischen  Monotheismus.         121 

dieser  oder  seine  Eltern,  dafs  er  blind  geboren  ist?"  —  eine 
seltsame  Alternative,  auf  die  wir  noch  weiter  unten  in  einem 
andern  Zusammenhange  zurückkommen  werden.  Das  Alte 
Testament,  mit  welchem  wir  es  hier  jz\i  tun  haben,  kennt,  wie 
gezeigt,  kein  Fortleben  nach  dem  Tode,  und  somit  verlangt 
die  göttliche  Gerechtigkeit,  dafs  alles  Gute  und  Böse  schon 
in  diesem  Leben  vergolten  werde,  denn  ein  anderes  gibt  es 
nicht.  Wenn  man  die  Schlufskapitel  der  beiden  Gesetz- 
gebungen, Deuteronomium  28  und  Leviticus  26,  durchgeht, 
nach  welchen  eine  Fülle  von  Segen  denen  verheifsen  wird, 
welche  die  Gebote  halten,  und  ein  Hagel  von  Flüchen  über 
die  kommen  soll,  welche  sie  übertreten,  so  wird  man  sich 
überzeugen,  dafs  alle  diese  Verheifsungen  und  alle  Drohungen 
sich  nur  auf  dieses  Leben  beziehen  und  keine  Ahnung  von 
einer  jenseitigen  Vergeltung  auch  nur  aufdämmert.  Durch 
diese  letzte  Konsequenz  der  theistischen  Weltanschauung  setzt 
sie  sich  in  schreienden  Widerspruch  gegen  die  sicherste  Er- 
fahrung, welche  heute  noch  beweist  und  zu  allen  Zeiten  be- 
wiesen hat,  dafs  es  dem  guten  Menschen  oft  schlecht  geht  bis 
an  sein  Ende,  und  dafs  der  Böse  oft  ungestraft  bleibt  bis  an 
sein  Ende.  Auch  der  Veda  in  seinem  Werkteile  {harma-MndaJ 
gibt  Gebote  und  Verbote  und  stellt  dafür  Lohn  und  Strafe  in 
Aussicht,  aber  er  läfst  diese  Vergeltung  nur  teilweise  im  gegen- 
wärtigen Leben,  hingegen  zum  gröfsern  Teil  in  einem  zu- 
künftigen Dasein  erfolgen  und  entgeht  dadurch  dem  Wider- 
spruche mit  der  Erfahrung,  in  welchem  das  Alte  Testament 
befangen  bleibt. 

Wir  werden  nun  zu  zeigen  haben,  wie  schon  auf  dem 
Boden  des  Alten  Testaments  die  edlern  und  tiefer  denkenden 
Geister  schwer  an  den  Widersprüchen  trage;i,  welche  ihr 
Religionssystem  ihnen  aufbürdet,  und  welche  Mittel  und  Wege 
sie  eingeschlagen  haben,  um  sich  mit  diesen  Widersprüchen 
abzufinden  oder  doch  bei  ihnen  zu  beruhigen. 


Die  erste  Konsequenz  des  althebräischen  Theismus  war, 
wie  wir  sahen,  der  Optimismus:  da  alles  in  der  Welt  von 
Gott  geschaffen  ist,  so  mufs  auch  alles  gut  sein.  Aber  woher 
dann  das  Böse  und  das  Übel,  dessen  die  Welt  voll  ist  ?    Beides 


122  l^V-   Diö  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

wird  im  Alten  Testament  ganz  konsequent  auf  Gott  zurück- 
geführt. Jahve  ist  es,  welcher  das  Herz  des  Pharao  immer 
wieder  aufs  neue  verstockt,  so  dafs  er  die  Kinder  Israel  nicht 
ziehen  läfst  (2.  Mos.  9,12.  10,20.  14,8),  und  als  Saul  in  der 
Wüste  Siph  den  David  verfolgt,  ruft  ihm  dieser  aus  der  Ferne 
zu:  „Hat  etwa  Jahve  dich  gegen  mich  aufgereizt,  so  mag  er 
Opfer  zu  riechen  bekommen"  (um  ihn  zu  besänftigen),  1.  Sam. 
26,19.  Als  dann  weiter  Trübsinn  den  Saul  überfällt,  heifst  es 
1.  Sam.  16,14:  „Nachdiem  nun  der  Geist  Jahves  frii^ch  jahvehj 
von  Saul  sich  zurüokgezogen  hatte,  quälte  ihn  ein  von  Jahve 
ausgesandter  böser  Geist"  (rü"'cli  rää  meeth  jahvehj,  der  ihn 
rasend  machte  (18,10)  und  durch  Davids  Zitherspiel  vertrieben 
werden  soll  (16,16).  Sehr  charakteristisch  ist  auch  die  Er- 
zählung, wie  David  die  Sünde  begeht,  das  Volk  zu  zählen 
(eine  unbeliebte  Mafsregel,  vermutlich  weil  sie  mit  einem  An-* 
ziehen  der  Steuerschraube  zusammenhing),  und  als  Strafe  die 
Pest  über  Israel  kommt;  hierbei  heifst  es  2.  Sam.  24,1:  „Und 
der  Zorn  des  Herrn  ergrimmte  abermal  wider  Israel  und  reizte 
David  unter  ihnen,  dafs  er  sprach,  gehe  hin,  zähle  Israel  und 
Juda",  eine  Stelle,  der  wir  weiter  unten  nochmals  in  einer 
andern  Wendung  begegnen  werden.  Bei  dem  unglücklichen 
Feldzuge  des  Ahab  gegen  die  Syrer  legt  Jahve  einen  Lügen- 
geist in  den  Mund  von  vierhundert  Propheten,  so  dafs  sie 
dem  Könige  Gelingen  weissagen  müssen,  1.  Kön.  22,20 — 22: 
„Und  Jahve  sprach:  Wer  will  Ahab  betören,  dafs  er  zu  Felde 
ziehe  und  zu  Kamoth  in  Gilead  falle?  Und  der  eine  sagte  dies, 
der  andere  sagte  das.  Da  trat  ein  Geist  hervor,  stellte  sich 
vor  Jahve  und  sprach:  Ich  will  ihn  betören.  Jahve  aber 
fragte  ihn:  Womit?  Da  antwortete  er:  Ich  will  ausgehen  und 
zum  Lügengeiste  werden  in  aller  seiner  Propheten  Munde !  Er 
aber  sprach:  Ja,  du  wirst  die  Betörung  vollbringen!  Gehe 
aus  und  tue  also!"  Wie  hier  das  Böse,  so  geht  auch  alles 
Übel  in  der  Welt  von  Jahve  aus,  und  Amos  ruft  (3,6)  aus: 
„Geschieht  in  einer  Stadt  ein  Unglück,  ohne  dafs  Jahve  es 
verursacht  hat?"  —  Besonders  merkwürdig  ist  eine  im  Exil 
beim  Herannahen  der  Perser  geschriebene  Stelle  im  zweiten 
Jesaia  Kap.  45,6 — 7:  „Ich  bin  Jahve,  und  keiner  sonst,  der 
das  Licht  bildet   und  Finsternis    schafft,    der  Heil  wirkt 


6.  Vorzüge  und  Mängel  des  altliebräiscben  Monotheismus.         123 

und  Unheil  schafft,  —  ich,  Jahve,  bin  es,  der  alles  dies 
bewirkt."  Diese  Worte  sehen  ganz  aus  wie  ein  Protest  des 
Propheten  gegen  die  mit  dem  Herannahen  der  Perser  herein- 
brechende Weltansicht,  die  einen  guten  Gott  als  Beherrscher 
des  Lichtreiches  und  einen  bösen  als  Beherrscher  des  Reiches 
der  Finsternis  unterscheidet.  Wir  werden  weiter  unten  sehen, 
wie  dieser  Protest  gegen  die  persische  Religionsanschauung 
erfolglos  blieb. 

Ganz  isoliert  gegen  alle  diese  Zeugnisse,  die  folgerichtig 
alles  Böse  und  Übel  auf  den  Weltschöpfer  zurückführen,  steht 
der  Mythus  vom  Sündenfall,  infolgedessen  das  Böse  mitsamt 
dem  Übel  durch  einen  Akt  des  Ungehorsams  des  ersten 
Menschen  gegen  Gott  in  die  Welt  gekommen  ist  und  sich 
über  alle  J^Ienschen  verbreitet  hat.  Dieser  JSIythus  widerspricht 
so  sehr  der  ganzen  Grundanschauung  des  Alten  Testaments, 
dafs  es  nahe  liegt,  schon  in  ihm  einen  Einflufs  der  iranischen 
W^eltanschauung  anzunehmen,  nach  der,  wie  weiter  unten  zu 
zeigen  sein  wird,  in  ganz  ähnlicher  Weise  die  Versündigung 
der  ersten  Menschen  erfolgt  ist.  Dieser  Annahme  steht  aller- 
dings die  Schwierigkeit  entgegen,  dafs  der  Sündenfallmythus 
schon  beim  Jahvisten  (850  a.  C.)  sich  findet.  Aber  wenn  wir 
bedenken,  dafs  das  in  den  Briefen  von  Tell-el-Amarna  (1400  a.C.) 
öfter  erwähnte  Reich  der  Mitani  von  Königen  beherrscht  wird, 
deren  Namen  ein  unverkennbares  arisches  Gepräge  tragen 
(oben  S.  71),  so  wird  hierdurch  eine  Möglichkeit  eröffnet,  wie 
schon  in  sehr  früher  Zeit  iranische  Anschauungen  nach  Pa- 
lästina gelangt  und  von  den  Hebräern  übernommen  sein 
könnten.  Wie  dem  auch  sein  mag,  wir  haben  in  dem  Mythus 
vom  Sündenfall  einen  sehr  achtbaren  Versuch  vor  uns,  von 
hebräischem  Boden  aus  die  Entstehung  des  Bösen  und  Übels 
trotz  der  Weltschöpfung  durch  einen  allweisen  und  allmäch- 
tigen Gott  zu  begreifen,  dafs  aber  mit  ihm  das  Problem  ge- 
löst sei,  läfst  sich  nicht  behaupten.  Schon  in  der  Annahme, 
dafs  Gott  den  Menschen  erschaffen  und  ihm  die  Freiheit  ge- 
geben habe,  das  Gute  wie  das  Böse  zu  ergreifen,  liegt  ein 
Widerspruch.  Geschaffen-sein  und  Frei-sein  sind  unvereinbare 
Gegensätze.  Alles  Geschaffene  ist  auch  irgendwie  beschaffen, 
ist   als  ein  Etwas   mit  bestimmten  Eigenschaften  geschaffen 


124  1^-   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

worden  und  mufs  nach  dem  Kausalitätsgesetze  den  ihm  an- 
erschaffenen Eigenschaften  gemäfs  handeln.  Frei  kann  nur 
dasjenige  heifsen,  was  die  Eigenschaften,  nach  denen  es  handelt, 
aus  sich  selbst  heraus  gebiert,  mithin  durch  keinen  andern 
da  ist,  sondern  völlige  Aseität  besitzt.  —  Aber  auch  abgesehen 
von  dieser  Schwierigkeit,  fällt  das  Böse  immer  wieder  auf 
Gott  als  Urheber  zurück;  denn  warum  verlieh  er  dem  Menschen 
die  so  verhängnisvolle  Gabe  des  freien  Willens,  da  er  doch 
vermöge  seiner  Allwissenheit  voraussehen  mufste,  wie  die 
Dinge  ablaufen  würden,  und  vermöge  seiner  Allmacht  imstande 
sein  mufste,  eine  andere  Einrichtung  zu  treffen? 

Schwerer  noch  als  die  Frage  nach  dem  Ursprung  des 
Bösen  lastete  auf  Geist  und  Herz  der  hebräischen  Denker 
das  Problem  der  göttlichen  Gerechtigkeit.  Jahve  war 
ein  gerechter  Gott;  folglich  mufste  von  ihm  alles  Gute  und 
alles  Böse  an  dem  Täter  vergolten  werden,  und  zwar  in  diesem 
Leben,  denn  ein  anderes  gab  es  nicht.  Wie  kam  es,  dafs 
dieser  Erwartung  auf  Schritt  und  Tritt  die  Erfahrung  wider- 
sprach? Brennend  wurde  diese  Frage  erst,  nachdem  sich  im 
Fortgang  der  Zeit  mit  dem  Verfall  des  nationalen  Lebens  das 
Verhältnis  Jahves  zur  Gesamtheit  des  israelitischen  Volkes 
in  ein  Verhältnis  des  Gottes  zu  den  einzelnen  Individuen  um- 
gewandelt hatte.  War  es  vorher  nicht  allzuschwer  gewesen, 
die  Leiden  des  Volkes  aus  der  unausrottbaren  Abgötterei  zu 
begreifen,  welcher  die  Mehrheit  der  Bevölkerung  nachhing,  so 
trat  in  dem  Mafse,  wie  nicht  mehr  die  Zugehörigkeit  zum 
Ganzen  des  Volkes  das  Wesentliche  war,  sondern  das  Indi- 
viduum sich  seiner  Selbständigkeit,  seiner  Pflichten  und  An- 
sprüche bewufst  wurde,  an  den  frommen  Verehrer  die  Frage 
heran,  warum  es  dem  Gottlosen  in  dieser  Welt  so  gut  und 
dem  Frommen  of4  so  schlecht  geht.  Eine  Lösung  dieser  Frage 
war,  so  lange  man  noch  kein  Fortleben  nach  dem  Tode  kannte, 
überhaupt  unmöglich,  und  so  werden  wir  uns  nicht  wundern, 
wenn  die  aufkommenden  Zweifel  an  der  göttlichen  Gerechtig- 
keit durch  unsichere  Hoffnungen  auf  ein  strafendes  und  lohnen- 
des Eingreifen  Jahves  beschwichtigt  zu  werden  pflegen. 

Dies  tritt  schon  bei  Jeremia  hervor,  wenn  er  sich  12,1 
an   Jahve    mit    der    kecken  Frage    wendet:    „Du    bleibst    im 


6.  Vorzüge  und  Mängel  des  althebräischen  Monotheismus.         125 

Rechte,  Jahve,  wenn  ich  mit  dir  hadern  wollte!  Doch  zur 
Rede  möchte  ich  dich  stellen,  warum  das  Treiben  der  Frevler 
Gelingen  hat,  warum  alle,  die  treulos  handeln,  unangefochten 
bleiben?  Du  pflanzest  sie  ein,  sie  schlagen  auch  Wurzel, 
sie  gedeihen,  bringen  auch  Frucht,  nahe  bist  du  ihnen  ihren 
Reden  nach,  aber  fern  von  ihrem  Innern!  Du  aber,  Jahve, 
kennst  mich,  durchschaust  mich  und  hast  meine  Gesinnung 
gegen  dich  erprobt !  —  Reif se  sie  fort  wie  Schafe  zum  Schlach- 
ten und  weihe  sie  dem  Tage  des  Würgens!" 

Ähnlichen  Zweifeln  und  Hoffnungen  begegnen  wir  in 
Psalm  37  und  73,  aus  denen  wir  nur  die  bezeichnendsten 
Stellen  herausheben  wollen.  Psalm  37,  Vers  1 :  „Erhitze  dich 
nicht  über  die  Bösewichter,  ereifere  dich  nicht  über  die, 
welche  Frevel  verüben."  Vers  7:  „Sei  still  vor  Jahve  und 
harre  auf  ihn;  erhitze  dich  nicht  über  den,  der  seine  Unter- 
nehmungen glücklich  hinausführt,  über  einen,  der  Ränke  übt." — 
Psalm  73,  Vers  2 — 5 :  „Meine  Füfse  hätten  beinahe  gestrauchelt; 
nichts  fehlte,  so  wären  meine  Tritte  ausgeglitten,  denn  ich 
ereiferte  mich  wegen  der  Übermütigen,  wenn  ich  sah,  dafs 
es  den  Gottlosen  sowohl  ging;  denn  sie  leiden  keine  Schmerzen, 
kräftig  und  wohlgenährt  ist  ihr  Leib,  sie  geraten  nicht  in 
Unglück  wie  andere  Leute,  und  werden  nicht  wie  andere 
Menschen  geplagt."  —  Vers  12 — 14 :  „Ja,  so  sind  die  Gottlosen, 
und  in  steter  Ruhe  häufen  sie  Reichtum  an.  War  es  denn 
ganz  umsonst,  dafs  ich  mein  Herz  rein  erhielt  und  in  Un- 
schuld meine  Hände  wusch  —  und  ward  doch  immerfort  ge- 
plagt, und  alle  Morgen  war  meine  Züchtigung  da!" 

Ein  in  seiner  Art  grandioser,  wenn  auch  nicht  weniger 
vergeblicher  Versuch,  das  Problem  zu  lösen,  liegt  im  Buche 
Hiob  vor,  und  wenn  es  nach  allem  Gesagten  noch  eines  Be- 
weises bedürfte,  dafs  die  Frage  der  göttlichen  Gerechtigkeit 
auf  dem  Boden  des  auf  das  diesseitige  Leben  beschränkten 
Hebraismus  eine  unlösbare  ist,  so  würde  gerade  das  Buch 
Hiob,  welches  eigens  der  Diskussion  des  Problems  gewidmet 
ist,  diesen  Beweis  liefern.  Hiob,  der  Held  dieser  Dichtung, 
ist,  wie  uns  wiederholt  und  auch  aus  Jahves  eigenem  Munde 
versichert  wird,  „unsträflich  und  rechtschaffen,  gottesfürchtig 
und    dem  Bösen    feind".     Nichtsdestoweniger    wird    er    unter 


226  IV-   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  Exil. 

Jahves  Zustimmung  von  dem  hier  noch  ebenso  wie  Sacharja  3 
als  Diener  Gottes  auftretenden  Satan  mit  schweren  Leiden 
heimgesucht.  Er  verhert  rasch  nach  einander  seinen  Reich- 
tum, seine  Kinder,  und  wird  von  einer  schmerzHchen  und 
ekelhaften  Krankheit  befallen.  Drei  Freunde,  Eliphas,  Bildad 
und  Zophar,  kommen,  ihn  zu  trösten.  Sieben  Tage  und  Nächte 
sitzen  sie  schweigend  um  ihn,  da  öffnet  Hiob  seinen  Mund, 
verflucht  den  Tag  seiner  Geburt  und  preist  die  glücklich, 
welche  unter  der  Erde  schlafen.  Es  folgen  nun  hinter  ein- 
ander drei  Redegänge  (Kap.  4—14,  15—21  und  22—31);  in 
den  beiden  ersten  kommen  alle  drei  Freunde,  in  dem  letzten 
zwei  derselben  zu  Wort  und  geben,  während  sie  Hiob  trösten, 
mit  einer  im  Verlaufe  der  Gespräche  steigenden  Deutlichkeit 
zu  verstehen,  dafs  er  sein  schweres  Leiden  durch  eine  nicht 
weniger  schwere  Versündigung  verschuldet  habe.  Jeder  der 
acht  Reden  setzt  Hiob  die  Beteuerung  seiner  Unschuld  ent- 
gegen, wobei  der  Dichter  nur  unvollkommen  der  allerdings 
sehr  schwierigen  Aufgabe  genügt  hat,  in  den  acht  dasselbe 
Thema  behandelnden  Wechselreden  durch  Beibringung  neuer 
Gedanken  und  Bilder  das  Interesse  rege  zu  halten.  Nachdem 
Hiob  nochmals  in  seiner  letzten  Rede  (Kap.  29 — 31)  einen 
Blick  auf  sein  früheres  Leben  geworfen  und  in  ergreifenden 
Worten  die  Rechtschaffenheit  seines  Wandels  dargelegt  hat, 
folgt  Kap.  32 — 37  eine  unerwartete  Einschaltung,  indem  ein 
bis  dahin  mit  keinem  Worte  erwähnter  vierter  Redner  namens 
Elihu  auftritt,  um  nur  heftiger  und  unverblümter  als  die  bis- 
her genannten  Freunde  dem  Hiob  seine  Sündhaftigkeit  vor- 
zuhalten, wobei  man  vielleicht  36,15  den  spätem  christlichen 
Gedanken,  dafs  denen,  die  Gott  lieben,  alle  Dinge  zum  besten 
dienen  müssen,  leise  angedeutet  finden  kann.  Dafs  diese  den 
Zusammenhang  unterbrechenden  Reden  des  Elihu  eine  Inter- 
polation von  späterer  Hand  sind,  geht  schon  daraus  zur  Genüge 
hervor,  dafs  Kap.  42,7  nur  Eliphas,  Bildad  und  Zophar  ein 
Sülmopfer  für  die  ungerechten  Beschuldigungen  Hiobs  bringen 
müssen,  während  des  Elihu,  dessen  Anschuldigungen  noch 
viel  härter  waren,  mit  keinem  Worte  mehr  gedacht  wird. 
Unmittelbar  und  mit  gänzlicher  Ignorierung  der  Elihu- Reden 
an  die  letzte  Rede  Hiobs   (Kap.  29 — 31)  anknüpfend,  nimmt 


6.  Vorzüge  und  Mängel  des  althebräisclien  Monotheismus.         127 

Jahve  selbst  von  Kap.  38—41  das  Wort,  um  zu  Hiob  aus  dem 
Wetter  zu  reden,  aber  seine  in  hoher  poetischer  Form  gehal- 
tenen und  von  glänzenden  Schilderungen  des  Naturlebens 
durchwobenen  Ausführungen  heben  nur  die  göttliche  Allmacht 
und  die  menschliche  Ohnmacht  ihr  gegenüber  hervor  und 
verlangen  vom  Menschen  demütige  Ergebung  in  die  unerforsch- 
lichen  Ratschlüsse  Gottes,  wodurch  das  Problem,  welches  zu 
behandeln  die  Dichtung  sich  vorsetzt,  ganz  und  gar  nicht 
gelöst,  sondern  nur  in  vollständiges  Dunkel  gehüllt  wird. 

Die  menschliche  Kultur  in  ihrer  Entwicklung  führt  schliefs- 
lich  zu  einem  Punkte,  wo  dem  Menschen  die  Eitelkeit  und 
Nichtigkeit  aller  irdischen  Bestrebungen  zum  deutlichen  Be- 
wufstsein  kommt.  Von  hier  aus  eröffnen  sich  dem  denkenden 
Menschengeiste  zwei  Wege;  entweder  er  begreift,  dafs  allen 
irdischen  Gütern  diese  Eitelkeit  angeheftet  ist,  um  uns  von 
ihnen  ab  auf  ein  Höheres  hinzuweisen,  welches  nur  auf  dem 
Wege  der  in  reiner  Gerechtigkeit,  Liebe  und  Entsagung  sich 
betätigenden  Verleugnung  des  eigenen  Selbstes  erreicht  werden 
kann,  —  oder  der  Mensch  verkennt  diese  höchste  Bestimmung 
des  Menschenlebens,  und  es  bleibt  ihm  nichts  übrig,  als  seinen 
Erdentag  zu  geniefsen,  solange  es  geht.  Dieser  letztere  Stand- 
punkt findet  in  der  griechisch-römischen  Welt  seinen  Ausdruck 
in  Horaz  und  entsprechend  in  der  hebräischen  Kultur  im  Kohe- 
leth,  dem  sogenannten  Prediger  Salomo.  Auch  diesem  bleibt 
als  höchstes  Ziel  nichts  anderes  übrig,  als  in  mafsvoller  Weise 
das  Leben  zu  geniefseb,  nachdem  er  sich  von  der  Zwecklosig- 
keit  alles  höhern  Strebens  und  von  der  durch  kein  göttliches 
Eingreifen  ausgeglichenen  Ungerechtigkeit,  wie  sie  in  der  Welt 
herrscht,  überzeugt  zu  haben  glaubt.  In  diesem  Sinne  sagt 
der  Koheleth  8,14  fg. :  „Es  ist  etwas  Eitles,  das  auf  Erden 
geschieht,  dafs  es  Fromme  gibt,  denen  es  ergeht  nach  dem 
Tun  der  Gottlosen,  und  dafs  es  Gottlose  gibt,  denen  es  ergeht 
nach  dem  Tun  der  Frommen.  Ich  sprach:  auch  das  ist  eitel! 
Und  so  pries  ich  die  Freude;  denn  es  gibt  nichts  Besseres 
für  den  Menschen  unter  der  Sonne  als  zu  essen  und  zu  trinken 
und  fröhhch  zu  sein";  und  9,2  fg.:  „Alles  kann  allen  be- 
gegnen: einerlei  Geschick  widerfährt  dem  Frommen  und  dem 
Gottlosen,  dem  Guten  und  Reinen  und  dem  Unreinen,   dem 


128  IV.   Die  Hebräer  bis  zum  babylonischen  -Exil. 

Opfernden  und  dem,  der  nicht  opfert;  wie  der  Gute,  so  der 
Sünder,  der  Schwörende,  wie  wer  den  Schwur  scheut.  Das 
ist  ein  Übel  bei  allem,  was  unter  der  Sonne  geschieht,  dafs 
allen  einerlei  Geschick  widerfährt." 

Wir  haben  hier  den  völligen  Zusammenbruch  der  alt- 
hebräischen Weltanschauung  vor  Augen.  Aber  schon  war 
von  anderer  Seite  dem  vielgeprüften  Volke  ein  neues  Licht 
aufgegangen,  welches  bestimmt  war,  den  alten  Hebraismus 
von  Grund  aus  umzugestalten  und  zum  Träger  einer  neuen, 
höhern  Weltanschauung  geeignet  zu  machen.  Mit  ihm  haben 
wir  uns  zunächst  zu  beschäftigen. 


V.   Die  Religion  der  Iranier. 

1.  Äufsere  Geschichte  der  iranischen  Stämme. 

Die  weite,  vielfach  unwirtliche,  nur  teilweise  von  frucht- 
baren Gebirgstälern  und  oasenartigen  Flächen  durchzogene 
Hochebene,  welche  sich  vom  Tigris  bis  zum  Indus  erstreckt 
und  die  semitische  Welt  von  der  indischen  trennt,  war  schon 
zu  Zeiten,  bis  zu  welchen  keine  historische  Tradition  zurück- 
reicht, von  indogermanischen  Stämmen  bewohnt,  welche,  wie 
Sprache  und  Religion  gleicherweise  bezeugen,  in  nächster 
Verwandtschaft  zu  den  Indern  stehen,  sich  wie  diese  als  die 
Treuen  (Sanskrit:  ärya^  Zend:  airya,  Altpersisch:  ariya), 
d.  h.  die  zum  eigenen  Volk  Gehörigen ,  *  bezeichnen  und  ohne 
Zweifel  noch  nach  der  Trennung  von  den  übrigen  indogermani- 
schen Stämmen  jahrhundertelang  mit  den  Indern  ein  gemein- 
sames Volk  gebildet  haben.  Dann  trennten  sich  beide,  die 
Inder  gelangten  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  durch  das 
Kabultal  in  das  Pendschab  und  entwickelten,  abgeschnitten 
von  allen  indogermanischen  Bruderstämmen,  ihre  so  eigen- 
tümliche Kultur,  während  die  Iranier,  von  ihnen  getrennt, 
mehr  und  mehr  nach  Westen  hin  gravitierten  und  mit  den  dort 
vorgelagerten  semitischen  Stämmen  im  Laufe  der  Zeiten  zu  einem 
einheitlichen,  seltsam  gemischten  Kulturganzen  verschmolzen. 

Drei  iranische  Stämme  treten  besonders  hervor,  die  Bak- 
trer  im  fernen  Osten,  die  Meder  und  Perser  am  Westsaum  des 


1.  Äufsere  Geschichte  der  iranischen  Stämme.  129 

iranischen  Hochlandes.  Von  den  Baktrern  und  dem  mächtigen 
Reiche,  welches  sie  schon  um  1500  a.  C.  gebildet  haben  sollen, 
hört  man  bis  auf  dessen  Eroberung  durch  Kyros  nur  wenig. 
Ungestört  von  politischen  Umwälzungen  vermöge  ihrer  gün- 
stigen Lage,  konnten  sie  sich  Innern  Aufgaben  widmen,  und 
aus  ihrem  Schofse  ist  allem  Anschein  nach  das  grofse  und 
für  die  Weltentwicklung  bedeutsame  Religionssystem  hervor- 
gegangen, welches  sich  an  den  Namen  des  Zarathustra  knüpft, 
und  das  wir  unten  näher  kennen  lernen  werden.  Anders  ge- 
stalteten sich  die  Verhältnisse  im  Westen.  Unter  den  Königen 
der  den  Norden  bewohnenden  Meder  tritt  als  erster,  von  dem 
wir  Näheres  wissen,  Kyaxares  hervor,  welcher  im  Bunde  mit 
dem  babylonischen  Statthalter  Nebupalassar  im  Jahre  606 
Ninive  zerstörte  (oben  S.  41)  und  mit  den  Lydern  nach  wieder- 
holten Kämpfen  ein  Bündnis  schlofs,  zu  dessen  Besiegelung 
er  seinen  Sohn  Astyages  mit  Aryenis,  Tochter  des  lydischen 
Königs  Alyattes  und  Schwester  des  Krösus,  vermählte.  Als 
dann  der  weiter  südlich  wohnende  iranische  Stamm  der  Perser 
unter  seinem  König  Kyros  IL  den  letzten  Mederkönig  Astyages 
um  550  a.  C.  entthront  hatte,  zog  Krösus,  um  für  seinen 
Schwager  Rache  zu  nehmen,  ohne  den  Zuzug  seiner  Bundes- 
genossen abzuwarten,  gegen  Kyros  und  verlor  an  diesen  sein 
Reich  durch  die  Eroberung  von  Sardes  im  Jahre  546.  Acht 
Jahre  darauf  machte  Kyros  auch  dem  Neubabylonischen  Reiche 
ein  Ende  und  wurde  so  der  Begründer  des  grofsen  persischen 
W'eltreiches,  welchem  sein  Sohn  Kambyses  525  auch  noch 
Ägypten  angliederte.  Aus  den  Wirren,  welche  der  Priester 
Gaumäta  angestiftet  hatte,  indem  er  sich  für  den  von  Kam- 
byses ermordeten  Smerdis  (Bardiya),  einen  Jüngern  Sohn  des 
Kyros,  ausgab,  ging  521  als  König  der  Perser  Darius  (JDäraya- 
vahuslij  hervor,  ein  naher  Verwandter  des  Königshauses, 
welcher  wie  Kyros  sein  Geschlecht  auf  den  vielleicht  nur 
mythischen  Stammvater  Achämenes  zurückführte.  Auf  Darius 
(521 — 485)  folgen  die  aus  der  Geschichte  der  Griechen  be- 
kannten Achämeniden  Xerxes  {KsJimjärsJia ,  485  —  465,  der 
Ahasverus  der  Bibel),  Artaxerxes  L  Longimanus  (465 — 424)^ 
Darius  IL  Nothos  (424  —  405),  Artaxerxes  IL  Mnemon  (405 — 
359),  Artaxerxes  III.  Ochos  (359—338)  und  Darius  IIL  Kodo- 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II, ir.  9 


130  V«   Die  Religion  der  Iranier. 

mannos,  unter  welchem  Alexander  der  Grofse  das  Reich  der 
Achämeniden  zertrümmerte,  nachdem  schon  längst  die  strengen, 
einfachen  Sitten  der  Vorfahren  beim  Fürsten  wie  beim  Volke 
durch  Reichtum  und  Schlemmerei  untergraben  worden  waren. 
Nach  Alexanders  Tode  (323)  und  den  Kämpfen  der  Diadochen 
ging  die  Erbschaft  des  Ostens  zunächst  an  die  Seleuciden 
über,  von  denen  sich  256  unter  Diodotus  ein  griechisch-bak- 
trisches  Reich  von  kurzer  Dauer  abgezweigt  hatte.  Inzwischen 
hatte  sich  unter  den  Arsaciden  das  mächtige  Reich  der 
Parther  (248  a.  C.  bis  226  p.  C.)  erhoben,  welches  weiterhin 
das  ganze  Gebiet  von  Iran  bis  zum  Indus  liin  umspannte  und 
einen  östlichen  Grenz  wall  bildete  gegen  das  Vordringen  des 
Hellenismus  und  weiterhin  gegen  das  Weltreich  der  Römer, 
denen  Arsaciden-Könige ,  wie  Tiridates,  Mithridates  u.  a.,  viel 
zu  schaffen  machten.  Obgleich  ursprünglich  turanischer  Ab- 
stammung, führten  die  Arsaciden  ihr  Geschlecht  auf  die  alten 
Achämeniden-Könige  zurück  und  nahmen  die  altpersische  Kul- 
tur und  Religion  an,  welche  sich  während  des  vierhundert- 
jährigen Bestehens  ihres  Reiches,  wenn  auch  zurückgedrängt 
durch  die  Volkskulte,  doch  in  ununterbrochener  Kontinuität 
erhielt. 

Einen  neuen  Aufschwung  nahm  der  Parsismus,  seitdem 
der  letzte  Arsacide  Artaban  226  p.  C.  von  Ardaschir  (Arta- 
xerxes)  Bäbeghän  gestürzt  und  von  diesem  die  nach  seinem 
Vater  Sassan  benannte  Dynastie  der  Sassaniden  (226 — 
636  p.  C.)  begründet  worden  war.  Die  in  den  letzten  Jahr- 
hunderten durch  die  Volkskulte  des  Mithra  u.  a.  in  den  Hinter- 
grund getretene  Religion  des  Zarathustra  wurde  neu  befestigt, 
das  Ävesta,  die  heiligen  Schriften  der  Parsen  befassend,  aus 
dem  Gedächtnis  aufgezeichnet  und  durch  Kommentare  (Zend, 
daher  der  mifsbräuchliche  Name  Zend-Avesta)  und  Schriften, 
wie  den  Bundehesh  und  das  Minokheret,  erläutert.  Unter 
mannigfachen  Kämpfen  gegen  das  Römische  Reich  erhielt  sich 
die  Sassanidenherrschaft  während  der  Regierung  der  ver- 
schiedenen Sapor  und  Varanes  auf  gleicher  Höhe,  erlebte 
unter  der  kräftigen  und  weisen  Regierung  des  Chosroes  Nu- 
schirvän  (531 — 578)  eine  letzte  Blütezeit,  verfiel  dann  aber 
infolge   der   Schwäche   seiner   Nachfolger  und   der   durch  sie 


1.  Äufsere  Geschichte  der  iranischen  Stämme.  131 

verschuldeten  Wirren  und  wurde  im  Jahre  636  p.  C,  leichter 
Hand  von  dem  Kalifen  Omar  erobert,  der  mit  Feuer  und 
Schwert  die  Religion  der  Mazdayasnier  (Verehrer  des  Ahura- 
mazda)  ausrottete  und  an  ihrer  Stelle  den  Islam  zur  herrschen- 
den Religion  machte. 

Heute  finden  sich  Anhänger  des  Zarathustra  in  Iran  nur 
an  einzelnen  entlegenen  Orten  der  Provinzen  Yezd  und  Ker- 
man,  wo  sie,  etwa  9000  an  der  Zahl,  gegen  Entrichtung  eines 
Tributs  an  die  Mohammedaner  geduldet  werden.  Viele  waren 
auch  bei  Einführung  des  Islam  ausgewandert  und  fanden  in 
dem  toleranten  Indien  eine  neue  Heimat,  wo  sie  an  der  West- 
küste, namentlich  in  Bombay,  noch  heute  wohnen  und  dort, 
etwa  90000  an  Zahl,  vielfach  als  reiche  und  angesehene  Kauf- 
leute noch  jetzt  den  Vorschriften  ihrer  Religion  nachleben. 
Von  ihren  heiligen  Büchern  retteten  sie  das  Rituelle  als  das 
für  sie  Wichtigste,  daher  das  Avesta,  dessen  Erhaltung  wir 
ihnen  verdanken,  nur  eine  einseitige  Vorstellung  von  ihrem 
Glauben  zu  geben  vermag  und  durch  spätere,  auf  ihm  be- 
ruhende Schriften  ergänzt  werden  mufs. 

2.  Sprache  und  Literatur  der  Iranier. 

Wie  in  Deutschland  aus  dem  Althochdeutschen  das  Mittel- 
hochdeutsche und  aus  diesem  das  Neuhochdeutsche  entstanden 
ist,  so  hat  sich  in  Iran  aus  dem  Altpersischen  das  Mittel- 
persische und  aus  ihm  das  Neupersische  entwickelt;  wie  aber 
bei  uns  dem  Althochdeutschen  als  ein  selbständiger  und  älterer 
Zweig  das  in  der  Bibelübersetzung  des  Ulfilas  erhaltene  Go- 
tische, so  steht  dem  Altpersischen  das  dialektisch  verschiedene 
und  nur  in  den  Büchern  des  Avesta  vorliegende  Altbaktrische 
gegenüber,  wie  folgendes  Schema  zeigt: 


Althochdeutsch       |     Gotisch 

Mittelhochdeutsch 

Neuhochdeutsch 


Altpersisch       |  Altbaktrisch 

Mittelpersisch 

Neupersisch. 


Die  altpersische  Sprache  ist  erhalten  in  40  Inschriften 
der  Achämeniden -Könige,  von  denen  eine  ganz  kurze  dem 
Kyros,    28    dem   Darius    (darunter    die    grofse    Inschrift   von 


132  ^-   I^iß  Religion  der  Iranier. 

Behistän),  8  dem  Xerxes  und  je  eine  dem  Artaxerxes  Longi- 
manus,  Mnemon  und  Ochus  angehören.  Sie  sind  sämtlich  in 
Keilschrift  geschrieben,  und  da  man  von  der  richtigen  An- 
nahme ausging,  dafs  sie  in  der  altpersischen,  der  Avestasprache 
wie  auch  dem  Sanskrit  aufs  nächste  verwandten  Sprache  ab- 
gefafst  sein  müfsten,  so  gelang  es,  wie  schon  oben  (S.  44  fg.) 
gezeigt  wurde,  den  Bemühungen  von  Grotefend,  Lassen- und 
Burnouf,  sie  zu  entziffern  und  mit  Hilfe  der  so  gewonnenen 
Keilschriftzeichen  schliefslich  auch  die  assyrischen  Keilschrif- 
ten zu  lesen.  In  den  Inschriften  des  Darius  und  Xerxes  er- 
klären sich  diese  Könige  für  treue  Verehrer  des  grofsen  Gottes 
Ahuramazda;  ihm  versichern  sie  alle  ihre  Erfolge  im.  Kriege 
wie  im  Frieden  zu  verdanken,  und  wiederholt  kommt  die 
Wendung  vor:  „Ein  grofser  Gott  ist  Ahuramazda,  welcher 
diese  Erde  schuf,  welcher  jenen  Himmel  schuf,  welcher  den 
Menschen  schuf,  und  welcher  Wohlbehagen  schuf  für  den 
Menschen,"  Dämonen  werden  nirgendwo  erwähnt,  wohl  nur, 
weil  kein  Anlafs  war,  in  diesen  Inschriften  ihrer  zu  gedenken. 
Das  Mittelpersische  oder  Pehlevi  ist  die  Sprache  der 
Sassanidenzeit.  Es  hat  sich  aus  dem  Altpersischen  unter  Ab- 
schleifung  der  Endungen  und  dem  Eindringen  zahlreicher 
semitischer,  speziell  aramäischer  Wörter  entwickelt.  Wenn  die 
Sprache  in  dieser  Mischform  geschrieben  wurde,  so  hiefs  sie 
auch  Huzvaresh;  wenn  man  beim  Vorlesen  (später  auch  beim 
Schreiben)  der  Texte  die  semitischen  Wörter  durch  persische 
ersetzte,  so  nannte  man  diese  gesprochene  (später  auch  ge- 
schriebene) Sprache  Palend.  Erhalten  sind  uns  in  Pehlevi 
fast  nur  theologische  Texte,  namentlich  eine  Übersetzung  des 
Avesta  nebst  Auslegung  desselben,  welche  Zc7id  genannt  wird. 
Von  der  übrigen  Pehleviliteratur  ist  für  uns  von  besonderer 
Wichtigkeit  der  Bnndehesli,  ein  die  Zarathustralehre  behan- 
delndes enzyklopädisches  Werk  in  35  Kapiteln,  welches  einen 
wertvollen  Ersatz  für  die  uns  verlorenen  Avestatexte  bietet. 
Denn  obgleich  der  Bundehesh  erst  gegen  Ende  der  Sassaniden- 
zeit verfafst  worden  ist,  so  beruft  er  sich  doch  überall  auf  die 
alten  heiligen  Schriften,  und  dafs  darunter  die  einheimischen 
Schriften  des  damals  noch  vollständigem  Avesta  und  nicht 
etwa  jüdische  oder  christliche  Werke  zu  verstehen  sind,  ist 


2.  Sprache  und  Literatur  der  Irauier.  133 

wohl  selbstverständlich,  wenn  man  bedenkt,  dafs  die  grofse 
und  auf  ihre  Vergangenheit  stolze  Nation  der  Perser  wohl 
wenig  geneigt  sein  mochte,  religiöse  Gedanken  aus  den  Kreisen 
des  kleinen,  wenig  geachteten  Judenvolkes  oder  des  aufs  hef- 
tigste verfolgten  Christentums  zu  entlehnen.  Dementsprechend 
erklärt  auch  Ferdinand  Justi  in  der  Vorrede  zu  seiner  grofsen 
Ausgabe  des  Bundehesh,  „dafs  der  Inhalt  des  Bundehesh, 
soweit  unsere  Kontrolle  reicht,  vortrefflich  mit  dem  der  alten 
Bücher  übereinstimmt,  so  dafs  wir  annehmen  dürfen,  er  werde 
in  den  Dingen,  deren  Quellen  wir  in  den  vorhandenen  Frag- 
menten des  Avesta  nicht  nachzuweisen  vermögen,  gleich  zu- 
verlässig sein  und  uns  als  wichtige  Quelle  für  die  Kenntnis 
der  zarathustrischen  Religion  dienen  dürfen". 

Aus  dem  mittelpersischen  Pehlevi  entwickelte  sich  in  den 
Jahrhunderten  nach  dem  Sturze  der  Sassaniden  das  Neu- 
persische,  die  Sprache  des  Firdusi  (um  1000  p.  C),  welche, 
ähnlich  wie  das  Englische,  den  gänzlichen  Verfall  der  gram- 
matischen Endungen  durch  Reichtum  und  Feinheit  der  syn- 
taktischen Wendungen  zu  ersetzen  wufste. 

Dem  Altpersischen,  dessen  Denkmäler  aus  dem  West- 
lande stammen,  steht  im  fernen  Osten  als  ältere  Schwester 
das  Altbaktrische  gegenüber,  welches  uns  in  den  viel- 
leicht auf  ein  Viertel  des  ursprünglichen  Umfanges  redu- 
zierten Büchern  des  Avesta  vorliegt.  Ihr  überwiegend  ritueller 
Inhalt  gliedert  sich  in  folgende  vier  Abteilungen. 

1.  Der  Yasna^  eine  Sammlung  von  Gebetsformeln,  welche 
beim  Haomaopfer  hergesagt  wurden,  in  73  Kapiteln  (170  Seiten 
in  Spiegels  Übersetzung).  Sie  enthält  von  Kap.  28  bis  53 
(60  Seiten)  die  Gätha's,  d.  h.  Lieder  in  metrischer  Form  und 
einem  andern,  altern  Dialekt,  in  welchem  schon  alle  Grund- 
gedanken der  Lehre  des  Zarathustra  sich  nachweisen  lassen. 

2.  Das  Vendidäd  (vidaevodätem,  „das  gegen  die  Dämonen 
gegebene"  Gesetz),  22  Kapitel  (208  Seiten),  enthält  neben 
mythologischen  Partien  die  Bufsen  und  Sühnungen  für  ver- 
schiedene Vergehen  sowie  die  Reinigungsvorschriften. 

3.  Die  Vispered  [vispe  ratavo,  „alle  guten  Geister"),  24  Ka- 
pitel (32  Seiten),  Anrufungen  in  der  Art  des  Yasna  enthaltend. 

4.  Das    Khorda- Avesta    („kleines    Avesta"),    66    Stücke 


134  V.   Die  Religion  der  Iranier. 

(254  Seiten),  eine  Sammlung  von  Anrufungen,  welche  auch 
für  Laien  bestimmt  war.  In  ihm  sind  die  Yasht  enthalten, 
Lieder  und  Gebete,  zum  Teil  aus  alter  Zeit,  von  denen  manche 
den  alten  Volksgöttern  (wie  Mithra,  Anähita,  welche  auch 
in  der  Inschrift  des  Artaxerxes  Mnemon  vorkommen)  ge- 
widmet sind. 

Das  Avesta  wurde  erst  zur  Zeit  der  Sassaniden  aus  dem 
Gedächtnis  aufgezeichnet  oder  doch  gesammelt,  daher  von 
manchen  seine  Echtheit  bezweifelt  wird.  Entscheidend  für 
dieselbe  ist  wohl  der  Umstand,  dafs  die  Aufzeichner  viele 
Worte  und  Formen  schriftlich  fixiert  haben,  die  sie  nicht  mehr 
verstanden,  während  sie  sich  durch  Vergleich  der  ältesten 
Vedasprache  als  richtig  und  in  ein  hohes  Alter  zurückgehend 
erweisen. 

3.  Die  Relig-ion  der  Iranier. 

Wie  die  Sprache,  so  ist  auch  die  Keligion  der  Iranier  der 
altvedischen  auf  das  nächste  verwandt;  viele  Götternamen,  wie 
Äliura  (Sanskrit  Äsura),  Mithra  (Sanskrit  Mitra),  sind  beiden 
Völkern  gemeinsam,  und  das  iranische  Haomaopfer  entspricht 
dem  indischen  Somaopfer.  Aber  seltsam  und  höchst  auffallend 
ist  es,  dafs  nicht  nur  manche  indische  Götternamen  in  Iran  zur 
Bezeichnung  von  Dämonen  dienen,  sondern  dafs  auch  das  fast 
allen  andern  indogermanischen  Völkern  gemeinsame  Wort  für 
Gott,  deva  (lat.  deus,  altir.  dia,  altnord.  tivar,  lit.  devas),  in  der 
iranischen  Form  daeva  nicht  einen  Gott,  sondern  einen  bösen 
Dämon  bedeutet.  Diese  Tatsache,  so  befremdlich  sie  auf  den 
ersten  Blick  zu  sein  scheint,  ist  doch  nicht  ohne  Parallelen. 
Als  die  christlichen  Missionare  im  8.  Jahrhundert  p.  C.  die 
heidnischen  Deutschen  bekehrten,  da  wurzelte  der  Glaube  an 
die  alten  germanischen  Götter  zu  tief  im  Herzen  des  Volkes, 
als  dafs  man  sie  für  nicht  existierend  hätte  erklären  können. 
Man  beliefs  ihnen  die  Existenz,  erklärte  sie  aber  für  böse 
Dämonen  und  verlangte  vom  Neophyten,  sie  abzuschwören; 
so  mufste  er  in  der  altsächsischen  Abschwörungsformel  dem 
Priester  die  Worte  nachsprechen:  ec  forsaclio  allum  dioboles 
uuercum  and  uuordum,  Thunaer  ende  üuoden  ende  Saxnote 
ende  allum  them  UnJioldum,  the  Jdra  genotas  sint.  Wie  hier  in 
Deutschland,   so  w,erden  wir  auch  in  Iran  die  Umwandlung 


3.  Die  Religion  der  Tränier.  |35 

der  Götter  in  Dämonen,  der  deva's  in  daevcis,  der  gewaltsam 
durchgeführten  Keformation  zuzuschreihen  haben,  welche  die 
Tradition  auf  Zarathustra  als  Begründer  der  Ahuramazdareligion 
zurückführt.  Hierzu  stimmt,  dafs  wir  unter  den  Göttergestalten 
dieser  Religion  eine  ganze  Reihe  von  Personifikationen  abstrakter 
Begriffe  finden,  wie  solche  unmöglich  aus  dem  Bewufstsein  des 
Volkes  entsprungen  sein  können,  sondern  die  Produkte  der 
Reflexion  eines  denkenden  Kopfes  sein  müssen. 

Dafs  Zarathustra  (ZwpodcöTpY]^,  Zoroaster)  eine  historische 
Persönlichkeit  gewesen  sei,  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  aber 
die  Nachrichten  über  sein  Leben  sind  durchaus  sagenhaft. 
Die  Angaben  über  sein  Zeitalter  schwanken  zwischen  6000  a.  C. 
und  600  a.  C.  Er  soll  geboren  sein  zu  Ragha  in  der  Nähe 
des  heutigen  Teheran,  aber  als  Schauplatz  seiner  Wirksam- 
keit wird  Baktrien  angegeben.  Dort  soll  er  unter  dem  Könige 
Vishtaspa  die  ihm  von  Ahuramazda  selbst  offenbarte  Lehre 
verkündigt  haben.  Von  seinem  Kampfe  gegen  die  Dämonen 
und  seinen  Wundertaten  wufste  die  spätere  Sage  viel  zu  er- 
zählen. Er  soll  im  Alter  von  77  Jahren,  nach  einigen  im 
Kampfe  bei  der  Eroberung  von  Balkh  gefallen,  nach  andern 
durch  ein  übernatürliches  Feuer  in  den  Himmel  des  Ahura- 
mazda versetzt  worden  sein. 

Über  das  Alter  und  die  Unverändertheit  der  Religion  des 
Zarathustra  während  der  Zeit  ihres  Bestehens  äufsert  sich  ein 
Kenner  wie  Spiegel  wie  folgt  (Eranische  Altertumskunde,  H, 
S.  1):  „Es  fällt  ohne  Frage  die  Stiftung  der  eranischen  Re- 
ligion, in  der  Gestalt,  in  welcher  wir  sie  schon  in  unsern 
ältesten  Urkunden  finden,  noch  vor  den  Beginn  unserer  be- 
glaubigten Geschichte,  und  sie  ist  sich  von  diesem  Zeitpunkt 
an  bis  zur  Auflösung  des  eranischen  Reiches  durch  die  Araber 
im  wesentlichen  gleich  geblieben."  Diese  Religion  hat  bei 
allem  Mythischen,  ja  Phantastischen,  welches  ihr  anhaftet, 
'  einen  Vorzug,  dessen  sich  in  diesem  Grade  keine  andere  Lehre 
des  Altertums  rühmen  kann ;  sie  ist  in  der  Lage,  das  Böse  und 
Übel  in  der  Welt,  an  dessen  Erklärung  so  manches  System 
gescheitert  ist,  dadurch  zu  begreifen,  dafs  sie  dasselbe  auf 
ein  von  Uranfang  bestehendes,  dem  Guten  entgegengesetztes 
böses  Prinzip  zurückführt.     In  der  grenzenlosen  Zeit  (srvan 


136  y«   Die  Religion  der  Iranier. 

aJcaranaJ  bestehen  im  unendlichen  Räume  fthwäsliaj  durch  eine 
weite  Entfernung  von  einander  getrennt  von  jeher  zwei  Reiche, 
das  des  anfanglosen  Lichtes  fanaghra  raocäoj,  dessen  Be- 
herrscher Almra  Mazda  ^  „der  weise  Herr",  oder  auch  Qpenta 
MaiuDii,  „der  heilige  Geist",  heifst,  und  das  Reich  der  an- 
fanglosen Finsternis  fanaghra  temäoj ,  welches  von  Aiujra 
Malnyu,  „dem  schlagenden  Geist",  beherrscht  wird.  Leben, 
Licht  und  Wahrheit  sind  die  Attribute  des  Ahuramazda,  Tod, 
Dankel  und  Lüge  die  des  Angramainyu.  Wenn  es  daher  im 
Neuen  Testament  heifst:  „In  ihm  war  das  Leben  und  das 
Leben  war  das  Licht  der  Menschen",  —  „Ich  bin  der  Weg, 
die  Wahrheit  und  das  Leben",  —  „Das  Licht  scheinet  in 
der  Finsternis"  — ,  und  wenn  der  Teufel  der  Vater  der  Lüge 
genannt  wird,  so  scheint  auch  in  diesen  Ausdrücken  ein 
iranischer  Einflufs  vorzuliegen.  Alles  Gute  in  der  Welt  ist 
eine  Schöpfung  des  Ahuramazda,  so  die  fruchtbringende 
Erde,  das  Wasser  und  die  Flüsse,  die  Bäume  und  Metalle, 
während  hingegen  Winter,  Dürre  und  Krankheit,  Raubtiere, 
Reptilien  und  Ungeziefer  von  Angramainyu  in  die  Schöpfung 
des  guten  Gottes  hineingebracht  sind.  Die  ganze  Geschichte 
der  Welt  besteht  in  einem  Kampfe  dieser  beiden  Prinzipien, 
welcher  von  der  ersten  Schöpfung  an  bis  zum  Weltende  sich 
durch  einen  Zeitraum  von  15030  Jahren  erstreckt,  vergleich- 
bar einem  Drama,  welches  aus  fünf  Akten  von  je  3000  Jahren 
besteht,  denen  noch  ein  Vorspiel  vorangeht. 

Das  Vorspiel.  Angramainyu,  der  Beherrscher  des 
Dunkels,  bemerkt  aus  der  Ferne  das  Licht  und  stürzt  wütend 
auf  dasselbe  los,  um  es  zu  vernichten.  Da  tritt  ihm  Ahura- 
mazda in  seiner  Majestät  entgegen  und  gebietet  ihm  Still- 
stand. Beide  Gegner  sehen  ein,  dafs  es  sich  hier  nur  um 
einen  Kampf  auf  Leben  und  Tod  handeln  kann,  aber  beide 
sind  zu  diesem  Kampfe  noch  nicht  hinreichend  gerüstet.  So 
schliefsen  sie  einen  Waffenstillstand,  welcher  9000  Jahre,  die 
drei  ersten  Akte  des  Weltdramas  hindurch,  dauern  soll.  Ahura- 
mazda sieht  in  seiner  Weisheit  voraus,  dafs  er  nach  dieser 
Frist  von  9000  Jahren  mit  Sicherheit  imstande  sein  wird,  den 
Angramainyu  zu  überwinden.  Auch  dieser  erkennt,  dafs  er 
einen    ihm   verderblichen  Vertrag    geschlossen    hat,    aber   er 


3.   Die  Religion  der  Iranier.  137 

■erkennt  es  zu  spät.  Er  hat  die  Eigenschaft  des  „Nachwissens", 
er  handelt  und  überlegt  erst  hinterher  die  Folgen  seiner  Hand- 
lung, der  Teufel  ist  schon  hier,  wo  er  uns  zum  ersten  Male 
in  der  Weltgeschichte  entgegentritt,  der  dumme  Teufel;  zu 
spät  sieht  er  ein,  dafs  Ahuramazda  ihn  überlistet  hat,  und 
gerät  darüber  in  eine  Bestürzung,  die  seine  Kräfte  lähmt  und 
ihn  in  Untätigkeit  verharren  läfst. 

Erster  Akt  (3000  Jahre).  Ahuramazda  benutzt  diese 
Zeit,  um  sich  mit  einer  Heerschar  göttlicher  Geister  zu  um- 
geben. Sie  zerfallen  in  drei  Klassen:  die  6  Amesha-<?penta, 
die  24  Yazata  und  die  Fravashi's. 

a)  Die  sechs  AmesJia-rpenta,  „die  unsterblichen  Heiligen", 
sind  nur  Verkörperungen  abstrakter  Begriffe,  und  ihre  Stellung 
über  den  aus  der '  Volksreligion  beibehaltenen  Göttern  zeigt 
deutlich,  dafs  wir  es  mit  einem  künstlichen,  aus  der  Reflexion 
entsprungenen  System  zu  tun  haben.  Ihre  Namen  sind :  1.  Vohu- 
mano,  „die  gute  Gesinnung";  2.  Äslia  vahisJda,  ,,die  beste  Rein- 
heit"; 3.  Kshatra  vcärya,  „die  wünschenswerte  Herrschaft"; 
4.  Haurvatät,  „die  Vollkommenheit" ;  5.  Ameretät,  „die  Unsterb- 
lichkeit";  6.  (^penta  Armaüi,  „die  heilige  Weisheit". 

b)  Die  24  Yasata,  d.h.  „Verehrungswürdigen";  unter  diesem 
Namen  werden,  wie  es  scheint,  teilweise  die  von  der  Reforma- 
tion des  Zarathustra  zurückgedrängten  Volksgötter  befafst, 
daher  auch  ihre  Zahl  sehr  verschieden  angegeben  wird.  Die 
wichtigsten  sind:  1.  3Iithra,  der  auf  der  Hnra  herezaiti  thro- 
nende „Gott  mit  den  weiten  Triften",  der  „Herr  der  Länder", 
ursprünglich  wohl,  wie  der  Mitra  des  Veda,  das  dem  Menschen 
befreundete  Sonnenlicht;  2.  Qraosha  (von  gru,  hören)  scheint 
nach  seiner  Schilderung  in  den  Gäthä's  (Yasna  56)  ein  Genius 
des  Gebets  und  der  Gebetserhörung  zu  sein,  „dessen  Leib  der 
Manthra  (Spruch)  ist";  vgl.  Sanskrit  maniramürti,  „das  Gebet 
als  Leib  habend",  als  Beiwort  des  Qiva;  3.  Rashnu,  ein  Genius 
der  Gerechtigkeit,  daher  er  der  Geradeste  fraliishtaj  heifst 
und  ein  Schrecken  der  Räuber  und  Diebe  ist.  Diesen  dreien 
werden  wir  weiter  unten  als  Totenrichtern  auf  der  Brücke 
Cinvat  begegnen.  —  Von  den  übrigen  erwähnen  wir  nur 
Tishtrija,  einen  Sternengott,  vielleicht,  da  er  als  Hüter  der 
östlichen  Himmelsgegend  bezeichnet   wird,   der  Morgenstern; 


138  ^-  I^iß  Religion  der  Iranier. 

zugleich  ist  er  eine  regenspendende  Gottheit  und  daher  der 
besondere  Gegner  des  Dämons  der  Dürre.  Von  besonderm 
Interesse  ist  noch  VercthragJma,  ein  Gott  des  Sieges,  ent- 
sprechend dem  indischen  Vritrahan,  „Vritratöter",  als  Bei- 
wort des  Indra^  der  im  Avesta  als  Andra  zu  den  Dämonen 
gezählt  wird,  während  sein  Epitheton  als  Bekämpfer  des  Dä- 
mons Vritra,  der  die  Wolkenkühe  verschlossen  hält,  ihm  in 
Iran  eine  Stelle  unter  den  guten  Geistern  verschafft  hat. 

c)  Eine  dritte  und  letzte  Klasse  der  guten  Geister  sind 
die  FravasMs,  die  individuellen  Urbilder  und  schützenden 
Genien  der  einzelnen  Menschen.  Jeder  Mensch  hat  seine  Fra- 
vasM,  welche  von  jeher  unsterblich  im  Himmel  vorhanden 
war,  bei  der  Geburt  in  ihn  herabgestiegen  ist,  um  seine  Schritte 
zu  leiten  und  ihn  vor  Bösem  zu  bewahren,  und  welche  nach 
dem  Tode  wieder  in  den  Himmel  zurückkehrt.  Aber  auch 
während  der  Mensch  lebt,  weilt  seine  Fravashi  oben  im  Himmel, 
um  über  ihn  zu  wachen;  im  Minokheret  heifst  es:  „Alle  die 
unzähligen  Sterne,  welche  sichtbar  sind,  werden  die  Fravashi' s 
der  Irdischen  genannt,  denn  für  die  ganze  Schöpfung,  welche 
Ahuramazda  geschaffen  hat,  für  das  Geborene  und  Nicht- 
geborene, ist  eine  Fravashi  mit  gleichem  Wesen  vorhanden." 
Nahe  verwandt  mit  diesem  iranischen  Glauben  und  vielleicht 
durch  ihn  beeinflufst  ist  die  Vorstellung  der  Griechen  von 
dem  §ai[ji,ov,  der  Römer  von  dem  genius,  welcher  im  Menschen 
wohnt  und  ihn  beschützt,  sowie  die  christliche  Vorstellung 
von  den  Schutzengeln,  und  wenn  Jesus  Matth.  18,10  von  den 
Kindern  sagt:  „Ihre  Engel  im  Himmel  sehen  allezeit  das 
Angesicht  meines  Vaters  im  Himmel",  so  dürfte  diese  dem 
jüdischen  Gedankenkreis  fernliegende  Vorstellung  zu  den  An- 
schauungen gehören,  welche  vom  Judentuni  aus  der  iranischen 
Religion  übernommen  worden  sind. 

Zweiter  Akt  (3000  Jahre).  Nachdem  Ahuramazda  die 
Schöpfung  der  Geister  vollendet  hat,  schafft  er  zu  Anfang 
dieses  Aktes  in  365  Tagen  eine  Idealwelt  im  Himmel;  er 
schafft  in  45  Tagen  den  Himmel,  in  60  Tagen  das  Wasser, 
in  75  die  Erde,  in  30  die  Bäume,  in  80  das  Vieh,  in  75  den 
Menschen.  3000  Jahre  besteht  diese  Schöpfung  frei  von  allen 
Plagen  im   Himmel.     Inzwischen  hat  sich  Angramainyu  von 


3.  Die  Religion  der  Iraiiier.  139 

seiner  Bestürzung  erholt  und  schafft  in  diesen  3000  Jahren 
eine  Oppositionsschöpfung  böser  Geister,  welche  gleichfalls  in 
drei  Klassen  sich  gliedern,  die  Daeva's,  die  JDnifs  und  die 
Pairikd's  nebst  den   YättCs. 

a)  Die  Daevci's.  Entsprechend  den  Amesha-Qpenta's  wer- 
den sechs  oberste  Daeva's  von  Angramainyu  geschaffen : 
1.  Akoniano,  „die  böse  Gesinnung";  2.  Indra,  auch  in  der 
Form  Andra  vorkommend,  der  indische  Gewittergott,  der  in 
Iran  zu  einem  Feuerdämon  geworden  ist;  3.  ^cmru,  Dämon 
der  Ungerechtigkeit  und  Hartherzigkeit,  von  unsicherm  Ur- 
sprung; man  will  ihn  mit  dem  indischen  ^arn  zusammen- 
bringen, welches  bei  Grammatikern  als  ein  Beiname  des  Vishnu, 
im  Mahäbhäratam  als  Name  eines  himmlischen  Gandharva  vor- 
kommt; 4.  NäongJiaithya,  Dämon  des  Hochmuts  und  der  Un- 
duldsamkeit, entspricht  dem  indischen  Näsatya,  welches  im 
Dual  als  Beiwort  der  Ägvin's,  der  indischen  Dioskuren,  vor- 
kommt; 5.  Tauru  als  Gegner  des  Haurvatät  und  6.  Zairica  als 
Gegner  des  Ameretät  sind  die  Erreger  widrigen  Geschmackes 
der  Speisen  und  Erzeuger  der  Gifte.  —  Aufser  diesen  sechs 
obersten  Dämonen  gibt  es  noch  eine  Reihe  anderer,  von  denen 
wir  nur  den  Äeslima  nennen,  welcher  oft  den  genannten  als 
siebenter  beigezählt  wird;  er  ist  ein  Dämon  des  Zornes  und 
der  Rachsucht  und  hat,  wie  wir  später  sehen  werden,  auch 
seinen  Weg  in  die  Bibel  gefunden. 

b)  Die  Dny's,  vier  weibliche  Dämonen,  nämlich:  Bi(sh- 
yangta,  der  Schlaf,  Nagii,  die  Verwesung,  Ägha-doithra,  der 
böse  Blick  (das  malocchio)  und  JaJii,  die  Unzucht. 

.  c)  Die  Pairika's,  weibliche  Dämonen,  welche  auf  der 
Erde  umherwandeln  und  durch  ihre  Schönheit  die  Männer  ver- 
führen. Als  männliches  Gegenstück  werden  oft  mit  ihnen 
zusammen  die  Yäüi's  genannt,  entsprechend  den  indischen 
Yätu's,  welche  schon  im  Rigveda  als  eine  Art  Gespenster  vor- 
kommen. 

Dritter  Akt  (3000  Jahre).  Die  im  vorigen  Akte  von 
Ahuramazda  im  Himmel  hervorgebrachte  Idealschöpfung  wird 
nunmehr  in  den  Raum  herabgelassen,  den  sie  gegenwärtig 
einnimmt,  und  welcher  zum  künftigen  Kampfplatze  bestimmt 
ist.     Hier  besteht  sie  während  der  noch  übrigen  3000  Jahre 


140  ^-  Die  Religion  der  Iranier. 

des  Waffenstillstandes  unangefochten  von  den  Dämonen  unter 
der  Herrschaft  zweier  "mythischer  Wesen  als  Prototypen  der 
Menschenwelt  und  Tierwelt,  des  Urmenschen  und  des  Ur- 
stier s.  Der  erstere  heilst  Gayo  maretan,  „sterbliches  Leben", 
und  drückt  durch  seinen  Namen  schon  das  allgemeine  Schick- 
sal der  Menschheit  aus;  der  letztere  wird  Geus  urvan,  „die 
Seele  des  Stiers",  genannt,  ein  Name,  welcher,  wie  es  scheint, 
ihn  als  die  Seele,  d.  h.  das  Wesen  der  Tierheit  als  solcher 
und  im  allgemeinen,  bezeichnen  soll.  Da  Angramainyu  sich 
während  dieser  Zeit  noch  des  Angriffs  auf  die  Geschöpfe  des 
Ahuramazda  enthalten  mufs,  so  sucht  er  wenigstens  dessen 
Schöpfung  zu  schädigen,  indem  er  auf  der  Erde  unfruchtbare, 
das  gute  Ackerland  unterbrechende  Strecken  hervorbringt, 
den  heilsamen  Pflanzen  giftige,  den  nützlichen  Tieren  schäd- 
liche entgegenstellt. 

Vierter  Akt  (3000  Jahre).  Mit  Anbruch  dieses  Aktes 
ist  der  neuntausendjährige  Waffenstillstand  abgelaufen,  und 
Angramainyu  mit  seiner  Heerschar  höllischer  Dämonen  dringt 
in  die  Schöpfung  ein.  Die  erste  Untat  der  Dämonen  besteht 
darin,  dafs  sie  den  Gayo  maretan  und  den  Geus  urvan  töten. 
Klagend  schwingt  sich  die  Seele  des  Urstiers  zum  Ahuramazda 
auf  und  ist  fortan  im  Himmel  ein  Schutzgeist  der  Tiere.  Aus 
dem  Leibe  des  Urstiers  entstehen  55  Arten  von  Getreide  und 
12  Arten  heilsamer  Pflanzen,  aus  seinem  Samen  entstehen 
zwei  Rinder,  ein  männliches  und  ein  weibliches,  und  von  ihnen 
werden  272  Arten  guter  Tiere  erzeugt.  Was  aus  den  Pflanzen 
und  Tieren  wird,  welche  Ahuramazda  im  Himmel  geschaffen 
und  mit  der  Schöpfung  auf  die  Erde  herabgelassen  hatte,  er- 
fahren wir  nicht.  Am  nächsten  liegt  es,  anzunehmen,  dafs 
sie  das  Schicksal  des  Urstiers  teilen  und  von  den  Dämonen 
getötet  werden.  Auch  Gayo  maretan,  „das  sterbliche  Leben", 
wird  von  ihnön  hingemordet,  aber  sein  Same  wird  in  der  Erde 
40  Jahre  lang  aufbewahrt;  dann  erwächst  aus  ihm  eine  Raivas- 
staude  (eine  Rhabarberart,  Rheum  ribes),  welche  sich  zu  zwei 
Stengeln  entfaltet,  aus  denen  Mashija  und  Mashyäna,  Mann 
und  Weib,  als  die  ersten  Menschen  sich  entwickeln.  Zu  ihnen 
spricht  Ahuramazda  (Bundehesh  cap.  15) :  „  Seid  Menschen, 
seid  die  Eltern  der  Welt;   ihr  seid    von    mir    vollkommenen 


3.  Die  Religion  der  Iranier.  141 

Sinnes  als  die  besten  Wesen  geschaffen;  gesetzliche  Werke 
verrichtet  vollkommenen  Sinnes,  denket  gute  Gedanken,  sprecht 
gute  Reden,  tut  gute  Handlungen,  verehret  nicht  die  Daeva's." 
Aber  Mashya  und  Mashyäna  befolgen  diese  Ermahnung  nicht. 
Nachdem  sie  in  Blätter  gekleidet  und  von  Milch  und  Früchten 
sich  nährend,  eine  Zeitla"ng  umhergewandert  sind,  fangen  sie 
an,  Fleisch  zu  essen,  den  Dämonen  zu  opfern  und  sich  zu 
begatten.  Sie  und  ihre  Nachkommen  stehen  3000  Jahre  lang 
unter  dem  Einflüsse  der  guten  wie  der  bösen  Geister,  Die 
letztern  wandeln  während  dieser  Periode  noch  in  körperlicher 
Gestalt  auf  der  Erde,  um  die  Menschen  zu  verführen.  Un- 
gleich ist  das  Schicksal  der  Menschen  nach  dem  Tode,  je 
nachdem  sie  sich  zu  den  guten  oder  bösen  Geistern  gehalten 
haben.  Im  Norden  von  Iran  erhebt  sich  der  Götterberg,  die 
Hara  heresaiti  (Pehlevi :  Alburz,  heute  Eiburs,  mit  dem  Dema- 
vend  als  höchstem  Gipfel) ;  von  ihm  aus  spannt  sich  über  einen 
Abgrund  die  Brücke  Cinvat  („die  Versammelnde"),  welche  in 
das  Garo-nmäna  (Pehlevi:  Garötmän,  das  Paradies  des  Ahura- 
mazda,  wörtlich  die  „Wohnstätte  der  Lobgesänge")  führt. 
Nach  dem  Tode  weilt  die  Seele  noch  drei  Tage  in  der  Nähe 
des  Leichnams;  dann  gelangt  sie  hinauf  zur  Hara  berezaiti 
und  zur  Brücke  Cinvat,  an  welcher  die  drei  Totenrichter 
Mithra,  (^raosha  und  Rashnu  sitzen;  von  ihnen  werden  die 
Taten  der  Seele  auf  einer  grofsen  Wage  gewogen ;  überwiegen 
die  guten  Taten,  so  kehrt  die  Seele  zum  Garo-nmäna  in  ihre 
Fravashi  zurück,  wo  sie  bis  zum  Weltende  verbleibt.  Über- 
wiegen ihre  bösen  Werke,  so  wird  sie  von  der  Brücke  Cinvat 
in  die  Hölle  DaosJutngha  (Pehlevi:  döshäJch)  hinabgestürzt,  wo 
sie  die  Zeit  bis  zum  Weltende  in  Qualen  verbringt.  Sind  gute 
und  böse  Werke  gleichwiegend,  so  verbleibt  die  Seele  in  einer 
Mittelwelt,  ohne  Lust  imd  ohne  Leid,  gleichfalls  bis  zum  Welt- 
ende. '  Überzählige  gute  Werke  können  als  opera  supereroga- 
tionis  Freunden  und  Verwandten  angerechnet  werden.  So  tobt 
der  Kampf  zwischen  Gutem  und  Bösem  mit  ungleichem  Er- 
folge 3000  Jalije  lang. 

Fünfter  Akt  (3000  Jahre).  Um  den  Menschen  den 
Kampf  gegen  die  Dämonenwelt  zu  erleichtern,  sendet  Ahura- 
mazda  zu  Anfang  dieser  letzten  Weltperiode  seinen  Propheten 


142  V-  Die  Religion  der  Iranier. 

Zarathustra.  Er  gibt  als  wirksamste  Waffe  gegen  die  bösen 
Geister  den  Menschen  das  Avesta.  Von  nun  an  können  die 
Daeva's  wenigstens  nicht  mehr  in  leibHcher  Gestalt  auf  der 
Erde  wandeln.  Ein  goldenes  Zeitalter  beginnt,  welchem  unter 
Ardaschir  Bäbeghän  (oben  S.  130  fg.)  ein  silbernes,  unter  Chosur 
Nushirvän  ein  stählernes  und  in  der  mohammedanischen  Zeit 
ein  ehernes  Zeitalter  folgt.  Die  Welt  wird  um  so  schlechter, 
je  weiter  das  Auftreten  des  Propheten  zurückliegt.  Aber  ein 
grofser  Aufschwung  ist  zu  erwarten.  Zwar  Zarathustra  ist 
gestorben,  aber  sein  Same  wird  in  den  Wassern  des  Sees 
Kangii  aufbewahrt  und  gegen  die  Angriffe  der  Dämonen  von 
99999  Fravashi's  behütet.  In  diesem  See  badet  alle  tausend 
Jahre  eine  reine  Jungfrau  und  gebiert  aus  dem  Samen  des 
Zarathustra  einen  neuen  Propheten.  Der  erste  derselben  wird 
TJlxhsliyat-ereta  („wachsen  machend  das  Erhabene",  Pehlevi: 
Oshedar  hämi)  genannt,  und  zu  seiner  Beglaubigung  wird  die 
Sonne  zehn  Tage  und  Nächte  am  Himmel  stehen  bleiben.  Er 
wird  dem  Avesta  eine  neue  Abteilung  zufügen;  aber  auch  in 
seinem  Jahrtausend  werden  die  Daeva's  mächtig  sein;  ein 
furchtbarer  Wolf  wird  die  Menschen  quälen,  mit  dessen  end- 
licher Erlegung  die  reifsenden  Tiere  von  der  Erde  schwinden 
werden,  und  ein  Dämon  Malkosh  wird  Schnee  und  Regen  über 
die  Erde  bringen,  durch  welche  sie  verödet.  Abermals  nach 
Ablauf  von  tausend  Jahren  wird  in  derselben  Weise  ein  zweiter 
Prophet  ühhshyat-nemo  („wachsen  machend  die  Verehrung", 
Pehlevi:  Oshedar  mäh)  geboren  werden,  zu  dessen  Beglaubi- 
gung die  Sonne  zwanzig  Tage  am  Himmel  stehen  bleibt.  In 
seinem  Jahrtausend  werden  die  Menschen  einen  grofsen  Drachen 
zu  bekämpfen  haben,  nach  dessen  Überwindung  alle  Schlangen 
von  der  Erde  verschwinden  werden.  Endlich  wird  nach  aber- 
mals tausend  Jahren  aus  dem  Samen  Zarathustras  von  einer 
reinen  Jungfrau  der  Prophet  geboren  werden,  zu  dessen  Be- 
glaubigung die  Sonne  dreifsig  Tage  am  Himmel  stehen  bleiben 
wird,  und  welcher  bestimmt  ist,  das  Weltende  herbeizuführen. 
Er  heifst  ^aoshyang  („der  da  retten  wird",  , der  „Heiland", 
Pehlevi:  Soshios).  Auf  Befehl  des  Ahuramazda  wird  QaoshyanQ 
die  Auferstehung  aller  Toten  bewirken;  „in  jener  Zeit  wird 
man  vom  Geiste  der  Erde  die  Gebeine,  von  dem  des  Wassers 


3.  Die  Religion  der  Iraiiier.  143 

das  Blut,  von  dem  der  Pflanzen  die  Haare,  von  dem  des  Feuers 
die  Lebenskraft,  welche  von  ihnen  von  Anfang  an  aufgenommen 
sind,  zurückfordern";  alle  Menschen  werden  in  der  Gestalt 
wieder  auferstehen,  die  sie  bei  Lebzeiten  hatten,  die  Altern 
vierzigjährig,  die  Jüngern  im  Alter  von  fünfzehn  Jahren;  an 
allen  werden  ihre  guten  und  bösen  Taten  sichtbar  werden 
Dann  wird  QaoshyanQ  die  grofse  Weltversammlung  Qatvagtran 
anberaumen,  in  welcher  alle  Menschen  von  Gayo  maretan  an 
bis  auf  die  Gegenwart  hin  erscheinen  müssen,  und  über  ihnen 
wird  QaoshyanQ,  unterstützt  von  15  männlichen  und  15  weib- 
lichen Gehilfen,  Gericht  halten.  Ein  Stern,  der  im  Bundehesh 
Gurzsliehr  heifst,  wird  auf  die  Erde  stürzen,  welche  erzittern 
wird  wie  ein  Lamm,  wenn  der  Wolf  es  ergriffen  hat;  die  Me- 
talle werden  von  der  Hitze  zerschmelzen,  die  Bösen  erleiden 
dadurch  schreckliche  Qualen,  die  Guten  werden  durch  das  ge- 
schmolzene Metall  hindurchgehen,  als  wäre  es  laue  Milch. 
Dann  wird  (^aoshyang  die  guten  und  die  bösen  Menschen 
scheiden,  wie  man  weifse  und  schwarze  Schafe  von  einander 
scheidet.  Die  Guten  gehen  in  den  Himmel  des  Ahuramazda 
ein,  die  Bösen  werden  zu  ihrer  Läuterung  der  Hölle  über- 
liefert. Nur  drei  Tage  und  drei  Nächte  dauert  ihre  Qual, 
aber  sie  ist  schärfer  als  alles,  was  die  Menschen  seit  den 
6000  Jahren  ihres  Bestehens  erlitten  haben.  Allen  wird  ein 
Zeichen  angeheftet,  welches  ihre  Schmach  offenkundig  macht, 
so  dafs  sie  vor  Scham  und  Keue  vergehen  möchten.  Nach 
drei  Tagen  ist  ihre  Sünde  gesühnt,  und  alle,  ohne  Ausnahme, 
gehen  in  den  Himmel  des  Ahuramazda  ein.  Den  Schlufs  des 
Weltdramas  büdet  die  endliche  Überwindung  der  bösen  Geister 
durch  die  guten;  Vohumano  bekämpft  und  vernichtet  den 
Akomano,  Asha  vahista  den  Indra,  Kshathra  vairya  den  Qauru, 
Qraosha  den  Aeshma,  usw.  Zuletzt  bleibt  nur  noch  Angra- 
mainyu  übrig;  er  wird  von  Ahuramazda  selbst  überwunden 
und  in  seine  eigene  Hölle  hinabgestürzt,  wo  er  mit  dieser 
selbst  und  allen  in  ihr  aufgehäuften  Unreinigkeiten  verbrennt 
und  für  immer  zunichte  wird. 


144  ^I-   ^ie  Eeligion  des  alten  Judentums. 

VI.  Die  Religion  des  alten  Judentums. 

1.  Lbcrsicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  bis  zu 
ihrer  Zerstreuung  unter  die  Yölkei:. 

Die  Hebräer  oder,  wie  sie  jetzt,  wo  wenig  mehr  als  der 
Stamm  Juda  übrig  war,  nach  diesem  mittels  dcnommatio 
a potiori  genannt  wurden,  die  Juden  waren  nach  ihrer  Rück- 
kehr aus  der  babylonischen  Gefangenschaft  über  zweihundert 
Jahre,  von  536  bis  332,  Untertanen  des  grofsen,  wohlorgani- 
sierten und  nach  liberalen  Grundsätzen  regierten  Perserreiches, 
und  in  dieser  Zeit  des  Innern  Friedens  befand  sich 'das  arme, 
gequälte  Volk  vielleicht  besser  als  lange  vorher  und  als  je 
nachher.  Allerdings  war  der  Druck  der  zweifachen  Besteuerung 
von  Seiten-  des  Persischen  Reiches  und  der  einheimischen 
Priesterschaft  kein  geringer,  aber  die  Perser  legten  der  freien 
Ausübung  der  Bräuche  und  dem  weitern  Ausbau  der  Satzungen 
der  jüdischen  Religion  kein  Hindernis  in  den  Weg;  auch 
waren  die  Perserkönige  von  einem  zur  Tradition  gewordenen 
AVohlwollen  gegen  die  Juden  geleitet:  Kyros  hatte  ihnen  die 
Heimkehr  gestattet  und  wurde  dafür  vom  zweiten  Jesäia  als 
ein  Messias  gefeiert  (oben  S.  97);  Darius  (521 — 485)  gab  den 
Juden  die  Erlaubnis  zum  Bau  des  zweiten  Tempels,  welche 
widerrufen  worden  war,  zurück  (Esra  6,7),  so  dafs  im  sechsten 
Jahre  seiner  Regierung  der  Tempelbau  vollendet  werden 
konnte;  Xerxes  war  als  Ahasverus  (entstellt  aus  KsJiayärsha 
=  Esp^Tjc)  aus  der  Estherlegende  den  Juden  in  angenehmer 
Erinnerung;  und  sein  Nachfolger  Artaxerxes  I.  Longimanus 
(465 — 424)  hatte  nicht  nur  dem  Esra  Erlaubnis  gegeben,  eine 
weitere  Kolonie  nach  Jerusalem  zu  führen  (458),  sondern  auch 
seinen  Günstling  und  Mundschenken,  den  Nehemia,  mit  aus- 
gedehnten Vollmachten  nach  Palästina  entsandt  (444).  Beide 
wirkten  zusammen  zur  Organisation  der  jungen  Gemeinde, 
indem  sie  die  Mischehen  aufzulösen  suchten,  die  Mauern 
Jerusalems  wieder  herstellten  und  vor  allem  das  Gesetzbuch 
des  zweiten  Tempels  proklamierten  und  in  feierlicher  Sitzung 
das  ganze  Volk  darauf  verpflichteten.  Dank  der  starken  Ver- 
mehrung der  Bevölkerung,  sowie  einer  liberalen  Bestimmung 


1.  Übersicht  -der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     145 

des  Deuteronomium  (23,8),  welche  erlaubte,  Edomiter  und  sogar 
Ägypter  in  der  dritten  Generation  in  die  Gemeinde  Jahves 
aufzunehmen,  breitete  sich  das  jüdische  Volk  bald  weit  über 
die  ihm  ursprünglich  von  den  Persern  angewiesene  Landschaft 
Judäas  aus;  es  entstanden  zahlreiche  jüdische  Stadtgemeinden, 
nach  Westen  zu  in  Philistäa  sowie  später,  in  der  griechi- 
schen Zeit,  nördlich  von  Samaria  in  Galiläa  und  östlich  vom 
Jordan  in  Peräa.  Auch  unter  den  folgenden  Perserkönigen, 
Darius  IL  Nothus  (424—405),  Artaxerxes  IL  Mnemon  (405 — 
359),  Artaxerxes  in.  Ochus  (359—338),  Arses  (338— 33G)  und 
Darius  III.  Codomannus  (336  —  331),  ist  wenig  von  den  Juden 
die  Kede,  und  wenn  das  glücklichste  Volk  dasjenige  ist,  von 
welchem  die  Geschichte  am  wenigsten  spricht,  so  dürfte  auf 
die  Geschichte  der  Juden  unter  persischer  Oberhoheit  dieses 
Wort  seine  Anwendung  finden.  Nur  einmal  treten  sie  hervor, 
sofern  sie  sicli  an  dem  Aufstande  der  Syrer  gegen  Arta- 
xerxes III.  Ochus  beteiligten,  der  von  dessen  Minister,  dem 
ägyptischen  Eunuchen  Bagoas,  gedämpft  wurde,  worauf  eine 
Anzahl  von  ihnen  nach  Hyrkanien,  an  das  südliche  Ufer  des 
Kaspischen  Meeres,  deportiert  wurde.  Eine  dunkle  Erinnerung 
an  diese  Episode  scheint  dem  durchaus  romanhaften,  aller 
historischen  Zusammenhänge  spottenden  Buche  Judith  zu- 
grunde zu  liegen,  in  welchem  Kap.  12  Bagoas  als  Kämmling 
und  Diener  des  Holophernes  erscheint. 

Dem  während  der  Perserperiode  im  religiösen  Zeremoniell 
mehr  und  mehr  erstarrenden  Judentum  erwuchs  eine  neue 
und  grofse  Gefährdung  dessen,  was  ihnen  vor  allem  teuer 
war,  als  Alexander  der  Grofse  in  drei  wuchtigen  Schlägen  das 
morsche  Perserreich  in  Trümmer  legte,  und  die  überlegene 
hellenische  Kultur  anfing,  sich  über  den  ganzen  Orient  zu  ver- 
breiten. Unter  dem  Alexanderzuge  selbst  hatten,  wie  es  scheint, 
die  Juden  nicht  erheblich  zu  leiden ;  sie  waren  es  schon  längst 
gewohnt,  aus  der  Hand  des  einen  Machthabers  in  die  des 
andern  überzugehen,  und  da  sie,  als  Alexander  332  Syrien 
und  Ägypten  eroberte,  nicht  wie  Tyros  und  Gaza  Widerstand 
leisteten,  so  zog  das  Unwetter  vorüber,  ohne  sie  wesentlich 
zu  schädigen.  Auch  als  die  blutigen  Kampfspiele  ausbrachen, 
von  denen  Alexander  vorausgesagt  hatte,  dafs  sie  über  seiner 

Detjssen,  Geschichte  der  Philosophie.    II, n.  10 


\4:G  "V"!.   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

Leiche  gefeiert  werden  würden,  als  von  o2;>  bis  301  die  Feld- 
herren Alexanders  das  Erbe  des  grofsen  Eroberers,  statt  es 
friedlich  zu  teilen ,  sich  gegenseitig  strittig  machten ,  indem 
jeder  nach  der  Alleinherrschaft  strebte,  und  die  andern  sich 
gegen  ihn  verbündeten,  —  auch  in  dieser  stürmischen  Zeit 
blieben  die  Juden  verhältnismäfsig  in  Ruhe.  Nachdem  der 
schlimmste  Störenfried,  Antigenes,  durch  die  Schlacht  bei 
Ipsus  301  beseitigt  worden  war,  und  aus  den  Eroberungen 
Alexanders  drei  grofse  Reiche,  das  mazedonische,  syrische 
und  ägyptische  erstanden  waren,  gingen  die  Juden  zunächst 
in  den  Besitz  Ägyptens  über  und  führten  noch  für  ein  Jahr- 
hundert (301 — 198),  namentlich  unter  der  weisen  und  mafs- 
vollen  Regierung  der  drei  ersten  Ptolemäer,  Lagi,  Philadelphus 
und  Euergetes,  ein  erträgliches  Dasein.  Mögen  auch  die  Be- 
richte über  die  Entstehung  der  Septuaginta  im  Kreise  der 
zur  raschen  Blüte  gelangten  jüdischen  Kolonie  in  Alexandria 
unter  besonderer  Mitwirkung  des  Ptolemäus  Philadelphus,  von 
denen  oben  (II,  i,  S.  462  fg.)  die  Rede  war,  weit  übertrieben 
sein,  so  legen  sie  doch  für  die  guten  Beziehungen  der  ersten 
Ptolemäer  zu  den  von  ihnen  beherrschten  Juden  hinreichend 
Zeugnis  ab.  Unruhigere  Zeiten  für  die  Juden  begannen,  seit 
der  schwache  Ptolemäus  IV.,  mit  dem  Beinamen  Philopator, 
im  Volksmunde  Tryphon  (der  Schlemmer)  genannt,  221  den 
Thron  der  Pharaonen  bestiegen  hatte,  und  der  kurz  vorher 
auf  den  syrischen  Thron  gelangte  Antiochus  III.  die  Zeit  für 
gekommen  hielt,  Palästina  wieder  an  sich  zu  reifsen.  Zwar 
gelang  ihm  dies  nur  vorübergehend,  als  aber  205  Ptolemäus  V. 
Epiphanes  als  vierjähriges  Kind  in  Ägypten  König  geworden 
war  und  die  Herrscher  von  Mazedonien  und  Syrien  überein- 
kamen, Ägypten  unter  sich  zu  teilen,  gelang  es  dem  Antiochus, 
den  gröfsten  Teil  Cölesyriens  an  sich  zu  reifsen,  und  mit  der 
Niederlage  des  ägyptischen  Feldherrn  Skopas  an  den  Jordan- 
quellen im  Jahre  198  ging  Palästina  definitiv  in  den  Besitz 
der  syrischen  Könige  über. 

Inzwischen  hatte  der  Hellenismus  in  den  bessern  Kreisen 
der  jüdischen  Bevölkerung,  trotz  allem  Eifer  für  das  Gesetz 
oder  vielleicht  gerade  als  Reaktion  gegen  denselben,  tiefe 
Wurzeln  geschlagen;   griechische  Literatur  und  Kunst  übten 


1.  übersiebt  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     147 

auch  in  Jerusalem  eine  mächtige  Anziehungskraft  aus;  man 
fing  an,  den  epischen,  lyrischen  und  dramatischen  Dichtungen 
der  Griechen  vor  Genesis,  Psalmen  und  Hiob  den  Vorzug  zu 
geben,  und  manche  mochten  in  der  Philosophie  eines  Piaton 
gröfsere  Befriedigung  finden  als  in  der  Religion  der  Väter. 
Auch  in  Aufserlichkeiten  suchte  man  hellenisches  Wesen 
nachzuahmen,  hebräische  Namen  wurden  gräzisiert,  Matthathia 
wurde  zu  Matthaeus,  Jonathan  zu  Jannaeus,  Josuah  zu  Jason, 
Eljakim  zu  Alcimus,  Sacharja  zu  Zachaeus,  und  die  vornehme 
hebräische  Jugend  suchte  es  in  sportlichen  Übungen  den 
Griechen  gleichzutun.  Diese  hellenistischen  Neigungen  schienen 
dem  zweiten  Nachfolger  des  Antiochus  III.,  dem  175 — 164 
regierenden  Antiochus  IV.  Epiphanes  („der  Erlauchte",  im 
Volksmunde  'Era[j.av>]t;,  „der  Verrückte",  genannt),  den  Boden 
hinreichend  vorbereitet  zu  haben,  um  einen  Lieblingswunsch 
durchzusetzen,  indem  er  kurzerhand  beschlofs,  die  durch  ihre 
hochmütige  Exklusivität  unter  den  Völkern  Vorderasiens  schon 
lange  mifsliebige  jüdische  Religion  aufzuheben  und  den  Kultus 
Jahves  durch  den  der  olympischen  Götter  zu  ersetzen.  Ein 
im  Jahre  170  in  Jerusalem  ausgebrochener  Streit  zwischen 
zwei  verwandten  Familien  um  die  nicht  nur  angesehene  und 
mächtige,  sondern  auch  lukrative  Stelle  des  Hohenpriesters 
(welcher  in  der  Regel  das  Vorrecht  hatte,  die  an  den  Gesamt- 
staat abzuführenden  Steuern  zu  pachten  und  durch  Unter- 
pächter eintreiben  zu  lassen)  bot  dem  König  Antiochus  eine 
willkommene  Gelegenheit,  sich  in  die  internen  Angelegenheiten 
der  jüdischen  Gemeinde  zu  mischen.  Er  erklärte  sich  gegen 
beide  um  das  Amt  streitende  Brüder,  Onias  und  Jason,  und 
für  den  Menelaus  (d.  i.  Menahem),  den  Angehörigen  einer 
Seitenlinie,  und  unterstützte  denselben  in  seinen  Ansprüchen^ 
indem  er  1G8  Jerusalem  durch  ein  Heer  besetzen  und  die  Akra 
südlich  vom  Tempelberg  zu  einer  starken  Festung  ausbauen 
liefs.  Nachdem  er  sich  so  zum  Herrn  der  Stadt  gemacht  hatte, 
erfolgte  im  Dezember  168  sein  berüchtigtes  Edikt,  welches  die 
Beschneidung  sowie  das  Feiern  des  Sabbats  und  der  übrigen 
jüdischen  Feste  verbot,  die  Besitzer  des  mosaischen  Gesetz- 
buches mit  Todesstrafe  bedrohte  und  in  der  Provinz  wie  in 
Jerusalem  den  Kultus  der  hellenischen  Götter  einrichten  und 

10* 


148  VI-   I^iß  Religion  des  alten  Judentums. 

dessen  Ausführung  durch  besondere  Aufseher  überwachen  Hefs. 
Im  Tempel  zu  Jerusalem  wurde  ein  Altar  und  eine  Statue 
des  olympischen  Zeus  (das  ßSeXuyfjia  xf^c,  eprip.wceoc;,  der  „Greuel 
der  Verwüstung",  Daniel  9,27.  11,31.  12,11;  1.  Makkab.  1,57. 
6,7  —  von  Jesus  Matth.  24,15,  vgl.  2.  Thessal.  2,4,  auf  die 
künftige  Zeit  bezogen)  aufgerichtet.  Diese  radikale  Mafsregel 
verfehlte  nicht  nur  ihren  Zweck,  sondern  bewirkte  das  Gegen- 
teil des  Beabsichtigten,  indem  dadurch  der  Eifer  für  das  Gesetz 
der  Väter  neu  entflammte,  und  in  allen  Teilen  der  jüdischen 
Provinzen  die  Vorboten  eines  allgemeinen  Aufstandes  sich 
ankündigten.  Zum  Ausbruch  kam  derselbe  in  Modin  unweit 
Lydda  in  der  Nähe  des  Meeres,  wo  der  Priester  Matthathias, 
ein  Urenkel  des  Chasmonai^  daher  sein  Geschlecht  als  das  der 
Hasmonäer  bezeichnet  wird,  sich  gegen  den  Befehl  des  könig- 
lichen Abgesandten  auflehnte,  denselben  erschlug  und  mit 
einer  Schar  Treugesinnter  ins  Gebirge  flüchtete,  wo  sich  bald 
ein  Heer  um  ihn  sammelte.  Mit  Hilfe  desselben  stellte  er  in 
den  einzelnen  Ortschaften  die  jüdische  Religion  wieder  her, 
die  heidnischen  Altäre  wurden  zerstört,  die  Kinder  beschnitten 
und  die  Heiden,  wie  auch  die  ihre  Gesinnung  teilenden  Juden, 
ohne  Schonung  verfolgt.  Als  Matthathias  166  starb,  überliefs 
er  die  Fortsetzung  des  Werkes  seinen  fünf  Söhnen,  Johannes, 
Simon,  Judas,  Eleazar  und  Jonathan,  unter  denen  Simon 
durch  Weisheit,  Judas  durch  Tapferkeit,  Jonathan  durch 
staatsmännische  Klugheit  sich  auszeichneten..  Den  Oberbefehl 
übernahm  zunächst  Judas  mit  dem  Beinamen  3Iaqqdb%  „der 
Hämmerer"  (von  maqqabäh,  der  Hammer),  nach  welchem  das 
ganze  Geschlecht  als  das  der  Makhabäer  bezeichnet  wird. 
Viermal  gelang  es  ihm  in  den  folgenden  Jahren,  die  gegen  ihn 
gesandten  syrischen  Heerhaufen  zurückzuwerfen,  er  besetzte 
Jerusalem  bis  auf  die  in  den  Händen  der  Syrer  bleibende 
Akra  und  stellte  Ende  165  den  drei  Jahre  lang  unterbrochen 
gewesenen  Opferdienst  im  Tempel  wieder  her.  Sodann  wandten 
sich  die  Brüder,  Simon  nach  Galiläa  und  Judas  nach  dem 
Ostjordanlande,  um  den  von  der  umwohnenden  Bevölkerung 
angefeindeten  Juden  Hilfe  zu  bringen  und  sie  sämtlich  mit 
ihren  Familien  nach  Jerusalem  überzuführen.  Weniger  glück- 
lich war  Judas,  als,  nach  dem  im  fernen  Osten  164  erfolgten 


1.  Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     149 

Tode  des  Antiochus  IV.,  der  Keichsverweser  Lysias  mit  dem 
neunjährigen  Antiochus  V.  heranrückte;  Judas  wurde  ge- 
schlagen, die  auf  dem  Tempelberg  belagerten  Juden  mufsten 
sich  ergeben,  und  .die  Befestigungen  des  Tempelberges  wurden 
geschleift.  Lysias  zog  ab,  nachdem  er  den  Juden  freie  Aus- 
übung ihrer  Religion  bewilligt  hatte,  ohne  dafs  es  ihm  gelang, 
den  Menelaus  wieder  in  das  Hohepriesteramt  einzusetzen.  Bald 
darauf  wurden  Lysias  und  sein  Mündel  Antiochus  durch  den 
Seleuciden  Demetrius  gestürzt,  welcher  vergebens  versuchte, 
den  Alcimus,  einen  legitimen  Abkömmling  der  alten  Hohen- 
priesterfamilie, gegenüber  den  Ansprüchen  der  Makkabäer  auf 
das  Hohepriestertum  in  dieses  Amt  einzusetzen.  Noch  einmal 
errang  Judas  gegen  den  von  Demetrius  entsandten  Nikanor 
161  bei  Adasa  einen  glänzenden  Sieg;  als  aber  im  folgenden 
Jahre  Bacchides  mit  einem  grofsen  Heere  erschien  und  das 
entmutigte  Heer  des  Judas  ihn  bis  auf  800  Getreue  verliefs, 
warf  er  sich  mit  diesen  dem  weit  überlegenen  Heere  des  Feindes 
entgegen  und  starb  im  Kampfe  bei  Elasa  den  Heldentod  (160). 
Sein  Leib  wurde  zu  Modin  im  Erbbegräbnis  der  Familie  be- 
stattet; er  hatte  erreicht,  dafs  die  Freiheit  der  Juden  in  Aus- 
übung ihrer  Religion  von  den  syrischen  Nachbarn  nicht  mehr 
angetastet  wurde. 

Während  nunmehr  in  Jerusalem  Alcimus  infolge  des  von 
Bacchides  über  Judas  erfochtenen  Sieges  wieder  als  Hoher- 
priester  eingesetzt  wurde,  sammelten  sich  in  der  Wüste  Thekoa 
(südlich  von  Bethlehem)  die  Anhänger  des  Judas  um  seinen 
Bruder  Jonathan,  welcher  seinem  gefallenen  Bruder  nicht 
an  religiöser  Begeisterung,  vielleicht  auch  nicht  an  löwen- 
mäfsiger  Tapferkeit  gleichkam,  dafür  aber  mit  diplomatischer 
Klugheit  die  fortwährenden  Wirren  und  Thronstreitigkeiten 
im  Seleucidenreiche  zu  benutzen  wufste,  um  die  Herrschaft 
seiner  Familie  zu  befestigen.  Als  der  legitime  Hohepriester 
Alcimus  159  gestorben  war  und  sein  Amt  mehrere  Jahre 
vakant  blieb,  war  es  für  Jonathan  das  nächste  Ziel  seines  Ehr- 
geizes, Hoherpriester  zu  werden.  Von  Demetrius  L,  der 
ihm  erlaubt  hatte,  ein  Heer  zu  werben,  in  Jerusalem  einzu- 
ziehen und  den  Tempelberg  zu  befestigen  (während  die  Akra 
nach  wie  vor  von  den  Syrern  besetzt  gehalten  wurde),  wandte 


150  VI-   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

sich  Jonathan  dem  Prätendenten  Balas  Alexander  zu,  der 
ihn  153  zum  Hohenpriester  und,  nachdem  Demetrius  im  Kampfe 
gefallen  war,  150  auch  zum  Meridarchen  ernannte.  In  den 
folgenden  Jahren  kämpfte  er  für  Balas  gegen  den  als  Eächer 
seines  Vaters  auftretenden  Demetrius  II.  und  setzte  diesen 
Kampf  auch  noch  fort,  nachdem  Balas  von  Ägypten  im  Stich 
gelassen  und  in  Arabien  ermordet  worden  war.  Jonathan 
begann,  lauch  die  Akra,  den  letzten  Hort  der  für  das  legitime 
Königtum  eintretenden  Partei,  zu  belagern,  wurde  von  De- 
metrius IL  aufgefordert,  sich  darüber  zu  rechtfertigen,  und 
wagte  es,  im  Vertrauen  auf  seine  Unentbehrlichkeit,  sich  dem 
Könige  zu  stellen.  Auf  das  Versprechen  hin,  die  Akra  nicht 
weiter  zu  belagern  und  den  jährlichen  Tribut  von  300  Talenten 
zu  zahlen,  wurde  er  von  Demetrius  als  Freund  angenommen, 
in  seinem  Amte  als  Hoherpriester  und  Meridarch  bestätigt 
und  erlangte  von  ihm  einen  Zuwachs  seines  Gebietes  in 
Samaria.  Nachdem  aber  Tryphon,  ein  ehemaliger  Offizier 
des  Balas,  für  dessen  Sohn,  Antiochus  VI.,  eingetreten  war, 
einen  grofsen  Teil  des  Heeres  für  sich  gewonnen  und  sogar 
die  Hauptstadt  Antiochien  eingenommen  hatte,  fand  es  Jona- 
than opportun,  den  Demetrius  zu  verlassen  und  sich  dem 
neuen  Machthaber  anzuschliefsen.  Im  Verein  mit  seinem 
Bruder  Simon  säuberte  er  Palästina  von  den  Anhängern  des 
Demetrius,  schnitt  die  diesem  getreue  Besatzung  der  Akra 
durch  Errichtung  einer  Mauer  ab,  befestigte  mehrere  Städte 
und  erregte  dadurch  das  Mifstrauen  des  Tryphon.  Dieser 
rückte  mit  einem  Heer  in  Palästina  ein  und  nahm  durch  List 
den  Jonathan  gefangen.  Vergebens  sandte  Simon  das  Löse- 
geld für  seinen  Bruder  zugleich  mit  dessen  Söhnen  als  Geiseln, 
Jonathan  wurde  von  Tryphon  in  Haft  behalten  und  im  Jahre 
143  hingerichtet. 

Jetzt  übernahm  sein  älterer  Bruder  Simon  den  Ober- 
befehl; er  setzte  das  Werk  seines  Bruders  fort,  indem  er 
Jerusalem  wie  auch  mehrere  Städte  in  der  Provinz  befestigte 
und  141  auch  die  Akra,  das  letzte  Bollwerk  der  Seleuciden, 
zu  Fall  brachte.  Von  dem  sich  in  Seleucia  behauptenden, 
übrigens  aber  ziemlich  machtlosen  Demetrius  H.  liefs  er  sich 
in  seinen  Rechten  als  Hoherpriester  und  Meridarch  bestätigen 


1.    Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     151 

und  regierte  in  Frieden  noch  bis  135,  wo  er  von  seinem  eigenen, 
in  Jericho  residierenden  Schwiegersohn  Ptolemäus  ermordet 
w  urde. 

Sein  Sohn  und  Nachfolger  Johannes  Hyrkanus  (135 — 
104)  fand  eine  schwierige  Situation  vor.  In  Syrien  hatte  nach 
Gefangennahme  des  Demetrius  II.  durch  die  Parther  dessen 
Bruder  Antioc hus  VII.  Sidetes  die  Regierung  an  sich 
gerissen  und  versuchte,  seine  Hoheitsrechte  über  die  Juden 
wieder  geltend  zu  machen.  Als  er  Widerstand  fand,  eroberte  er 
Jerusalem  und  zwang  den  Hyrkanus,  die  Befestigungen  der  Stadt 
zu  schleifen,  die  Wafien  auszuliefern  und  die  neuerworbenen 
Städte  dem  Syrer  zinspflichtig  zu  machen.  Nachdem  aber 
Antiochus  Sidetes  in  einem  Feldzüg  gegen  die  Parther  129 
umgekommen  war,  gewann  Hyrkanus  wieder  freie  Hand  und 
benutzte  die  während  der  folgenden  Jahre  im  syrischen  Reiche 
herrschende  Anarchie,  um  sich  wieder  unabhängig  zu  machen, 
Jerusalem  neu  zu  befestigen  und  mit  Hilfe  eines  Söldnerheeres 
das  Reich  Davids  in  vollem  Umfange  wiederherzustellen.  Es 
gelang  ihm,  Idumäa  zu  erobern  und  seine  Bewohner  zur  An- 
nahme der  jüdischen  Religion  zu  zwingen.  Gröfseren  Schwierig- 
keiten begegnete  er  bei  der  Belagerung  Samarias  durch  das 
Eingreifen  eines  neunten  Antiochus,  bis  dieser  auf  Geheifs  der 
Römer,  mit  welchen  schon  Simon  ein  Bündnis  geschlossen 
hatte,  davon  abstehen  mufste,  die  Juden  zu  bedrängen,  worauf 
Hyrkanus  Samaria  eroberte  und  zu  einem  Steinhaufen  machte, 
wie  es  vordem  von  Micha  (1,6)  geweissagt  worden  war.  Diese 
Erfolge  erklären  die  Glorie,  mit  welcher  spätere  Zeiten  die 
Regierung  des  Johannes  Hyrkanus  umgeben  haben. 

Nach  der  nur  einjährigen  Regierung  seines  ältesten  Sohnes 
Aristobulos  (104—103),  welcher  als  erster  den  Königstitel 
annahm,  das  Gebiet  nach  Norden  zu  erweiterte,  das  Griechen- 
tum begünstigte  und  gegen  seine  Familie  gewütet  haben  soll, 
folgte  dessen  Bruder  Alexander  Jannäus  (103 — 76),  welcher 
die  Witwe  seines  Bruders  Salöme  (Salma)  heiratete  und  nach 
einem  unglücklichen  Kriege  gegen  Ptolemäus  von  Ägypten, 
dessen  schlimmste  Folgen  nur  durch  das  Eingreifen  von  dessen 
Mutter  Kleopatra  abgewandt  wurden,  mit  besserem  Erfolge  im 
Ostjordanland    und    in    Philistäa    erobernd    vordrang.      Seine 


152  VI.    Die  Religion  des  alten  Judentums. 

kriegerischen  Neigungen  brachten  ihn  in  Konflikt  mit  der  Partei 
der  Pharisäer,  denen  sein  Gebaren  nicht  hohepriesterhch 
genug  erschien,  und  als  er  nach  einem  unglücklichen  Kriege 
gegen  Arabien  ohne  Heer  zurückkehrte,  erhob  sich  gegen  ihn 
ein  Aufstand,  zu  dessen  vergeblicher  Dämpfung  er  so  viele 
Grausamkeiten  verübte,  dafs  die  Gegenpartei-  den  Demetrius  III. 
herbeirief  und  mit  seiner  Hilfe  den  Jannäus  vertrieb.  Der  An- 
hänglichkeit des  Volkes  an  die  Familie  der  Hasmonäer  und 
dem  Hafs  gegen  die  Syrer  hatte  er  es  zu  verdanken,  da-fs 
sich  wieder  ein  Heer  um  ihn  sammelte,  mit  Hilfe  dessen  er 
gegen  die  Gegner  wütete  und  den  Aufstand  niederwarf.  Un- 
glückliche Kriege  gegen  Antiochus  XII.  und  den  Araberfürsten 
Aretas  beschäftigten  ihn  in  den  folgenden  Jahren;  glücklicher 
waren  seine  Eroberungen  im  Ostjordanlande,  die  ihm  die  Gunst 
des  Volkes  wieder  zuwandten.  Infolge  seines  ungeregelten 
Lebens  erkrankte  er ,  unternahm  dessenungeachtet  nochmals 
einen  Kriegszug  in  das  Ostjordanland  und  starb  während  der 
Belagerung  von  Ragaba  im  Jahre  76  a.  C. 

Ihm  folgte  in  der  Regierung  seine  Gemahlin  Salome 
Alexandra  (76 — 67),  welche  ihren  ältesten  Sohn  Hyrkanus  IL 
zum  Hohenpriester  machte  und  während  ihrer  mit  Umsicht 
geführten  und  ohn«  wesentliche  Konflikte  nach  aufsen  ver- 
laufenden  Regierung  sich  ganz  und  gar  auf  die  Partei  der 
Pharisäer  stützte.  Diese  benutzten  ihren  Einflufs  dazu,  nicht 
nur  in  der  Gerusia  ihrer  Partei  das  Übergewicht  zu  verschaffen 
und  die  Sadducäer  in  ihr  zurückzudrängen,  sondern  auch  die 
Gegenpartei  grausam  zu  verfolgen.  An  die  Spitze  der  letztern 
stellte  sich  Aristobulos,  der  zweite  Sohn  der  Königin,  und 
war  im  Begriffe,  einen  Aufstand  zu  erregen,  als  Salome  im 
Alter  von  73  Jahren  starb. 

Nach  dem  Tode  der  Mutter  erfolgte  der  Zusammenstof's 
zwischen  beiden  Brüdern;  der  schwache  und  träge  Hyrkanus 
wurde  von  seinem  Jüngern,  tatkräftigen  Bruder  Aristobulos 
bei  Jericho  besiegt,  in  Jerusalem  belagert,  mufste  sich  er- 
geben und  dem  Bruder  Hohepriestertum  und  Königswürde  ab- 
treten, während  er  seine  Einkünfte  ungeschmälert  behielt. 
Hiermit  wäre  die  Angelegenheit  des  Hyrkanus  erledigt  -ge- 
wesen, hätte  ihn  nicht  sein  Freund  und  Ratgeber,   der   ehr- 


1.  Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.      153 

geizige  Iduinäer  Antipater  ('IvTiTraTTpo^,  'AvT^Tua;)  zum  Wider- 
stände aufgereizt;  beide  flohen  zu  Aretas,  welcher  den  Aristobul 
besiegte  und  auf  dem  Tempelberg  belagerte. 

Inzwischen  war  Cn.  Pompejus  nach  seinem  glücklichen 
Zuo-  o-eo-en  die  Seeräuber  66  mit  dem  Oberbefehl  über  Asien 

O      O     O 

betraut  worden,  hatte  den  Mithridates  besiegt,  dessen  Schwieger- 
sohn Tigranes  unterworfen,  durch  Absetzung  des  letzten  Seleu- 
ciden,  Antiochus  XIII.  Asiaticus,  Syrien  definitiv  zur  römischen 
Provinz  gemacht  (65)  und,  während  er  selbst  noch  im  Norden 
beschäftigt  war,  den  Scaurus  nach  Palästina  vorausgeschickt. 
Beide  hasmonäische  Brüder  warben  durch  gleiche  Geldangebote 
um  die  Gunst  des  Scaurus,  welcher  dem  Aristobul,  weil  er 
ihn  für  den  zahlungsfähigem  hielt,  den  Vorzug  gab  und  den 
Aretas  zwang,  die  Belagerung  des  Tempelbergs  aufzuheben 
und,  von  Aristobul  verfolgt,  in  sein  Land  zurückzukehren.  Im 
Frühjahr  63  erschien  Pompejus. selbst  in  Damaskus;  von  beiden 
Königssöhnen  wurde  er,  der  römische  Bürger,  um  Entscheidung 
über  ilir  Herrscherrecht  angegangen,  während  eine  dritte  Partei 
den  Pompejus  um  Beseitigung  beider  und  Wiederherstellung 
der  alten  Theokratie  bat.  Pompejus  verschob  seine  Ent- 
scheidung, um  gegen  Aretas  den  Nabatäer  zu  ziehen,  zog  es 
aber  dann  vor,  zunächst  den  Aristobul,  der  sich  in  Unfrieden 
von  ihm  getrennt  hatte,  zum  Gehorsam  zu  zwingen.  Zögernd 
unterwarf  sich  Aristobulos  und  begab  sich,  als  Pompejus  gegen 
Jerusalem  heranrückte,  in  dessen  Lager  mit  dem  Anerbieten, 
die  Stadt  nebst  einem  Tribut  zu  übergeben.  Beides  wurde 
von  den  Bewohnern  Jerusalems  verweigert.  Pompejus  behielt 
den  Aristobulos  in  Haft  und  forderte  Jerusalem  zur  Übergabe 
auf.  Die  Anhänger  des  Hyrkanus  öffneten  ihm  die  Tore,  aber 
die  des  Aristobulos  verschanzten  sich  auf  dem  stark  befestigten 
Tempelberg.  Nach  dreimonatiger  Belagerung  nahm  Pom- 
pejus denselben  ein,  betrat  zum  Entsetzen  der  Frommen  sogar 
das  Allerheiligste,  ohne  jedoch  die  Schätze  des  Tempels  an- 
zutasten, bestätigte  den  Hyrkanus  als  Hohenpriester,  entzog 
ihm  aber  die  Königswürde  und  grof^e  Teile  seines  Gebietes, 
namentlich  an  der  Küste,  im  Norden  und  jenseits  des  Jordan, 
welche  der  römischen  Provinz  Syrien  einverleibt  wurden.  Als 
Legat  derselben  liefs   Pompejus   den    Scaurus   zurück,   nahm 


154  VI.   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

den  Aristobulos  und  seine  Familie,  darunter  seine  beiden 
Söhne  Alexander  und  Antigonos,  gefangen  mit  nach  Rom,  und 
leierte  dort  61  einen  glänzenden  Triumphzug,  bei  welchem 
der  König  der  Juden  und  Nachkomme  der  glorreichen  Makka- 
bäer  als  Gefangener  vor  dem  Triumphwagen  einherschreiten 
niufste. 

Nach  dem  Eingreifen  des  Pompejus  stand  das  jüdische 
Land  unter  römischen  Statthaltern;  einige  durch  Alexander 
und  seinen  Vater  Aristobul  nach  ihrer  Flucht  aus  Rom  er- 
regte Aufstände  wurden  durch  Gabinius  57 — 55  mit  leichter 
Mühe  unterdrückt  und  hatten  nur  zur  Folge,  dafs  Hyrkanus 
noch  strenger  als  bisher  auf  das  Hohepriesteramt  beschränkt 
wurde  und  jeden  Einflufs  auf  die  Politik  verlor,  während 
Aristobulos  zum  zweiten  Male  in  Gefangenschaft  nach  Rom 
abgeführt  wurde.  Die  Bedrückungen  des  Gabinius  wurden 
noch  überboten  durch  seinen  Nachfolger  Crassus,  welcher 
im  Jahre  54  die  von  Pompejus  verschonten  Tempelschätze 
plünderte,  aber  im  folgenden  Jahre  bei  einem  Feldzug  gegen 
die  Parther  ums  Leben  kam.  Als  49  der  Bürgerkrieg  zwischen 
Cäsar  und  Pompejus  ausbrach,  wurde  Aristobulos,  den  Cäsar 
freilief s,  um  ihn  gegen  die  Pompejaner  zu  verwenden,  in  Rom 
vergiftet,  während  sein  Sohn  Alexander  auf  Anordnung  des 
Pompejus  in  Antiochien  enthauptet  wurde.  Von  den  Has- 
monäern  waren  nur  noch  Antigonos,  der  zweite  Sohn  des 
Aristobulos,  und  der  alte  Hyrkanus  übrig,  welcher  ganz  und 
gar  unter  dem  Einflüsse  seines  Ratgebers  Antipater  stand. 
Dieser  trat  nach  der  Schlacht  von  Pharsalus  sofort  für  Cäsar 
ein  und  leistete  ihm  bei  der  Eroberung  Ägyptens  wichtige 
Hilfe,  während  Hyrkan  seinen  geistlichen  Einflufs  verwendete, 
um  die  ägyptischen  Juden  günstig  für  Cäsar  zu  stimmen. 
Zum  Danke  dafür  bestätigte  Cäsar,  47  aus  Ägypten  zurück- 
kehrend, den  Hyrkan  nicht  nur  in  seinem  Amte  als  Hoher- 
priester,  sondern  gab  ihm  auch  die  weltliche  Herrschaft  als 
Ethnarch  zurück;  zugleich  erlaubte  er  den  Wiederaufbau  der 
Mauern  Jerusalems  und  stellte  die  Herrschaft  des  Hyrkan  über 
das  als  Seehafen  wichtige  Joppe  und  andere  Städte  wieder 
her.  Antipater  wurde  zum  Prokurator  von  Judäa  ernannt  und 
benutzte    seinen   Einflufs,    um   seine   beiden    Söhne  zu   Statt- 


1.   Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonisclien  Exil  usw.      155 

haltern  (axpaTTjot),  den  Phasael  über  Jerusalem,  den  Herodes 
über  Galiläa,  zu  setzen.  Seine  Energie  betätigte  Herodes,  indem 
er  den  Räuber  Ezechias  und  seine  Gesellen  hinrichtete.  Vom 
Synedrium  dafür  zur  Verantwortung  gezogen,  erschien  er  mit 
einem  Heere  vor  Jerusalem,  fand  es  aber  doch  geraten,  sich 
seiner  Verurteilung  durch  Rückkehr  nach  Galiläa  zu  entziehen. 
Kein  Ereignis  seit  dem  Tode  Alexanders  des  Grofsen  hatte 
so  erschütternd  auf  die  ganze  Weltlage  gewirkt,  wie  die  am 
15.  März  44  verübte  Ermordung  Cäsars,  des  edelmütigen  Be- 
schützers der  Juden.  In  den  nächsten  Jahren  hatten  sie  keine 
andere  Wahl,  als  sich  mit  schnellem  Wechsel  der  Partei- 
stellung dem  jedesmaligen  Machthaber  anzuschliefsen,  zunächst 
dem  Cassius  und  sodann  dem  Antonius,  wie  später  wieder 
dem  Octavianus.  Cassius  war  43  nach  Syrien  gekommen 
und  brachte  die  Kosten  für  den  Unterhalt  seines  grofsen  Heeres 
durch  eine  schwere  Besteuerung  der  syrischen  Bevölkerung, 
wie  denn  auch  der  Juden,  auf,  wobei  ihm  Antipater  und  Herodes 
wertvolle  und  nicht  unvergoltene  Dienste  leisteten.  Noch  im 
selben  Jahre  starb  Antipater  durch  das  Gift  des  ehrgeizigen 
Malichus,  und  dieser  durch  die  von  Herodes,  um  den  Tod  seines 
Vaters  zu  rächen,  gedungenen  Meuchelmörder.  Völlige  Anarchie 
herrschte  in  Syrien,  als  Cassius  die  Provinz  verlassen  hatte, 
um  sich  mit  Brutus  zu  vereinigen  und  dem  Heere  des  Antonius 
und  Octavianus  entgegenzustellen.  Nachdem  Cassius  bei 
Philippi  42  seinen  Tod  gefunden  hatte,  rückte  Antonius  in 
Syrien  ein.  Sein  schwelgerisches  Leben  legte  der  Provinz 
abermals  schwere  Lasten  auf,  aber  gegen  die  Brüder  Phasael 
und  Herodes  erwies  er  sich,  eingedenk  der  Gastfreundschaft  mit 
ihrem  Vater,  freundlich  und  ernannte  sie,  ohne  auf  die  An- 
schuldigungen der  Juden  gegen  sie  zu  achten,  zu  Tetrarchen 
des  jüdischen  Gebietes.  Eine  Wendung  ihrer  Lage  brachte 
das  Jahr  40,  in  welchem,  während  Antonius  bei  Kleopatra 
weilte,  die  Parther  in  die  Provinz  Syrien  einbrachen,  für 
Antigonos,  der  als  allein  noch  übriger  Sohn  des  Aristobulos 
das  Königtum  beanspruchte,  Partei  nahmen,  und  die  Häupter 
der  Gegenpartei,  Phasael  und  Herodes  mit  dem  alten  Hyr- 
kanus,  zur  Sclilichtung  des  Streites  in  ihr  Lager  luden.  Hier 
wurden  durch  Antigonos  demHyrkanus  die  Ohren  abgeschnitten, 


156  VI-   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

um  ihn  zum  Hohenpriesteramt  unfähig  zu  machen,  Phasael 
verzweifelte  und  starb  durch  Selbstmord,  Hyrkanus  aber  wurde 
gefangen  nach  Babylonien  geführt  und  Antigenes  zum  König 
der  Juden  von  Gnaden  der  Parther  erklärt,  während  Herodes 
dem  Handel  mifstraut  und  sich  selbst  nebst  seiner  Familie 
durch  die  Flucht  in  Sicherheit  gebracht  hatte.  Er  selbst  be- 
gab sich  nach  Rom  und  wurde  dort  40  a.  C.  auf  Betreiben 
des  Antonius  und  unter  Zustimmung  des  Octavian  in  feier- 
licher Senatssitzung  zum  Könige  der  Juden  ernannt.  Mit  ihm 
begann  die  Dynastie  der  Idumäer,  während,  als  letzter 
Hasmonäer,  Antigonos  mit  Hilfe  der  Parther  noch  als  Hoher- 
priester  und  König  in  Jerusalem  herrschte.  Gegen  ihn  mufste 
Herodes  in  den  ersten  drei  Jahren  seiner  Regierung  kämpfen 
und  sein  ihm  von  den  Römern  verliehenes  Reich  mit  deren 
Hilfe  erst  erobern.  Er  kehrte  nach  Palästina  zurück,  machte 
dem  Räuberwesen  in  Galiläa  mit  kräftiger  Hand  ein  Ende  und 
ging  dazu  über,  nach  Vertreibung  der  Parther  durch  die  Römer, 
mit  Hilfe  der  letztern  den  Antigonos  in  Jerusalem  zu  belagern. 
Nach  vieler  Mühe  gelang  37  die  Einnahme  der  Stadt,  Anti- 
gonos wurde  von  den  Römern  nach  Antiochien  abgeführt  und 
dort  als  der  letzte  König  aus  dem  berühmten  Geschlechte  der 
Hasmonäer  auf  Betreiben  des  Herodes  von  den  Römern  ent- 
hauptet. Schon  während  der  Belagerung  hatte  sich  Herodes 
in  Samaria  mit  Mariamme  vermählt;  sie  war  eine  Tochter 
der  Alexandra  und  Enkelin  der  beiden  Könige,  welche  so  lange 
um  die  Herrschaft  gestritten  hatten,  des  49  in  Rom  vergifteten 
Aristobulos  und  des  noch  immer  in  Babylon  von  den  Parthern 
gefangen  gehaltenen  Hyrkanus  H.  Im  Jahre  36  bewirkte 
Herodes  dessen  Freilassung  und  ehrte  ihn  wie  einen  Vater. 
Sechs  Jahre  später  aber  schöpfte  er  Verdacht  gegen  ihn  und 
liefs  den  achtzigjährigen  Greis,  angeblich  auf  Grund  eines 
Richterspruchs  des  Synedriums,  hinrichten.  Die  Hohepriester- 
,  würde  hatte  er  im  Jahre  35  seinem  Schwager  Aristobul  über- 
tragen, als  sich  diesem  aber  die  Gunst  des  Volkes  zuwandte, 
wurde  er  bald  darauf  auf  Veranlassung  des  Herodes  bei  einem 
Feste  in  Jericho  ertränkt.  Herodes  wurde  von  Antonius  zur 
Verantwortung  gefordert,  aber  in  Gnaden  entlassen  und  mufste 
sich  nur  eine  Verkürzung  seines  Gebietes  zugunsten  der  Kleo- 


1.  Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     157 

patra  gefallen  lassen.  Als  bald  darauf  der  Konflikt  zwischen 
Antonius  und  Octavian  ausbrach,  blieb  es  dem  Herodes  erspart, 
sich  offen  für  einen  von  beiden  zu  erklären,  da  er  während 
dieser  Zeit  mit  einem  Kriege  in  Arabien  beschäftigt  war. 

Nach  der  Schlacht  von  Actium  und  dem  Tode  des  An- 
tonius wurde  Herodes  von  Octavian  nach  Rhodus  vorgeladen 
und  stellte  sich  ein,  nachdem  er  seine  Gattin  Mariamme  und 
deren  Mutter  Alexandra  nach  Alexandreion  in  Obhut  gegeben 
hatte  mit  der  Weisung,  falls  er  nidit  lebend  zurückkehren 
werde,  beide  zu  töten.  Wider  Erwarten  wurde  er  von  Octavian- 
Augustus  gnädig  empfangen  und  sogar  noch  mit  Jericho  be- 
schenkt. Nach  seiner  Rückkehr  liefs  er,  durch  Verleumdungen 
aufgereizt  und  von  Eifersucht  gequält,  Mariamme  hinrichten, 
verfiel  aber  bald  darauf  aus  Reue  über  diese  Tat  in  eine 
schwere  Krankheit,  und  als  Mariammes  Mutter,  Alexandra, 
diese  Gelegenheit  benutzen  wollte,  um  sich  in  Besitz  von 
Jerusalem  zu  setzen,  liefs  er  auch  diese  töten  (28  a.  C).  Seine 
beiden  Söhne  von  der  Mariamme  hatte  er  in  Rom  erziehen 
lassen;  als  sie  ihm  aber  nach  ihrer  Rückkehr,  teils  durch  ihr 
Auftreten,  teils  durch  die  Intrigen  des  Antipater,  eines 
Sohnes  des  Herodes  aus  einer  frühern  Ehe,  verdächtig  wurden, 
liefs  er  sie  gefangen  nehmen  und  7  a.  C.  erdrosseln.  Anti- 
pater wurde  zum  Thronerben  ernannt  und  nach  Rom  geschickt, 
um  das  Testament  des  Vaters  durch  Augustus  bestätigen  zu 
lassen.  Inzwischen  wurde  es  dem  Herodes  hinterbracht,  dafs 
Antipater  ilim  durch  Gift  nach  dem  Leben  trachtete.  Herodes 
liefs  ihn  nach  seiner  Rückkehr  gefangen  nehmen,  verfiel  in 
eine  schwere  Krankheit  und  verfügte,  durch  weitere  Hinter- 
bringungen veranlafst,  seine  Hinrichtung.  Fünf  Tage  darauf 
starb  Herodes  selbst  (4  a.  C).  Infolge  der  erwähnten  Tat- 
sachen lebte  sein  Bild  im  Volke  fort  als  das  eines  argwöhnischen 
und  grausamen  Tyrannen,  und  so  wird  es  begreiflich,  wie  im 
Kreise  der  ersten  Christen  die  völlig  grundlose  Sage  vom 
Bethlehemitischen  Kindermorde  sich  bilden  konnte.  Übrigens 
fehlt  es  im  Charakterbilde  des  Herodes  auch  nicht  an  sym- 
pathischen Zügen,  welche  seine  Untaten,  wenn  auch  nicht 
ausgleichen,  so  doch  in  milderm  Lichte  erscheinen  lassen.  Er 
war,  wie  so  häufig  die  Semiten,  von  einem  starken  Familiensinn 


158  ^I-   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

beseelt,  trug  nicht  nur  für  Weib  und  Kind,  sondern  auch  für 
Geschwister  und  entferntere  Verwandte  Fürsorge,  und  wies 
ihnen  allen  in  seinem  prächtigen,  im  Norden  der  Oberstadt 
erbauten  Palaste  Wohnungen  an;  aber  gerade  dieses  enge 
Zusammenw  ohnen  veranlafste  zahlreiche  Intrigen  und  Ver- 
leumdungen, denen  Herodes  ein  nur  allzu  williges  Ohr  lieh, 
wodurch  er  sich  zu  Taten  fortreifsen  liefs,  die  er  bald  darauf 
bitter  bereute.  Als  Emporkömmling  und  Ausländer  war  er 
eifrig  bemüht,  die  Gunst  seines  Volkes  zu  gewinnen  und  es 
mit  der  neuen  Ordnung  der  Dinge  auszusöhnen,  traf  bei  der 
in  den  Jahren  25 — 23  herrschenden  Hungersnot  umfassende 
und  zweckmäfsige  Mafsregeln,  um  das  Elend  zu  lindern,  und 
zeigte  sich  innerhalb  seines  Landes  und  weit  über  dessen 
Grenzen  hinaus  als  freigebiger,  zu  Wohltaten  geneigter 
Herrscher.  Insbesondere  war  er  bestrebt,  Jerusalem  durch 
prächtige  Bauten  zu  verschönern,  und  versuchte  vergebens  den 
Unwillen  des  an  der  Erbauung  eines  Theaters,  Zirkus  und 
Hippodroms  Anstofs  nehmenden  Volkes  dadurch  zu  versöhnen, 
dafs  er  den  alten  Tempel  des  Serubabel,  der  unter  den  um- 
gebenden Prachtbauten  zurücktrat,  einem  Umbau  unterwarf, 
der  wohl  eher  ein  Neubau  genannt  werden  kann,  und  von 
dem  ein  Sprichwort  sagte:  „W^er  nicht  den  Tempel  des 
Herodes  gesehen,  hat  nie  etwas  Schönes  gesehen."  Wenn 
man  schliefslich  dem  Herodes  seine  unwürdige  Schmeichelei 
gegenüber  den  römischen  Grofsen,  einem  Antonius,  Augustus, 
Agrippa,  zum  Vorwurf  macht,  so  ist  doch  zu  bedenken,  dafs 
diese  Unterwürfigkeit  eines  der  Mittel  war,  durch  welche  es 
dem  Herodes  gelang,  in  einer  äufserst  schwierigen  Zeit  seinem 
Volke,  von  unerheblichen  Störungen  abgesehen,  während  seiner 
langen  Regierung  die  Segnungen  des  Friedens  zu  erhalten. 

Kaum  war  Herodes  verschieden,  als  es  überall  im  Lande 
zu  gären  anfing,  während  die  drei  Söhne  des  Herodes,  Archelaus, 
Herodes  Antipas  und  Philippus,  in  Rom  vor  Augustus  ihre 
Ansprüche  geltend  machten,  und  eine  Deputation  der  Juden 
den  Kaiser  ersuchte,  keinen  Herodianer  zum  Herrscher  zu 
machen  und  den  Juden  zu  erlauben,  unter  römischer  Ober- 
hoheit nach  eigenen  Gesetzen  zu  leben.  Nach  längerm  Be- 
denken bestimmte  Augustus,  dafs  Archelaus,  nicht  als  König 


1.  Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.      159 

sondern  als  Ethnarcli,  Idumäa,  Judäa  und  Samaria,  Antipas 
als  Tetrarch  Galiläa  und  Peräa  (den  Landstrich  östlich  vom 
Jordan  und  dem  Toten  Meere)  und  Philippus,  gleichfalls  als 
Tetrarch,  die  nördlich  davon  gelegenen  Landstriche  Batanäa, 
Trachonitis  und  Auranitis  erhalten  sollten.  Die  Einkünfte  des 
Archelaus  aus  seinem  Lande  betrugen  600,  die  des  Antipas 
'200,  die  des  Philippus  100  Talente. 

Im  Gegensatze  zu  seinen  Brüdern  führte  Philippus 
(4  a.  C.  bis  33  p.  C.)  in  seinem  kleinen  Lande  eine  milde  und 
gerechte  Regierung,  Er  war  ein  Freund  der  Römer  und  nannte 
zwei  neugegründete  Städte  ihnen  zu  Ehren  Cäsarea  Philippi 
(an  den  Jordanquellen)  und  Julias  (nördlich  vom  SeeGenezareth). 
Er  starb  nach  einer  friedlichen  Regierung  33  p.  C;  -sein  Ge- 
biet wurde  zur  Provinz  Syrien  geschlagen,  bis  es  Caligula  vier 
Jahre  später  dem  Agrippa  schenkte. 

Sehr,  verschieden  von  seinem  Bruder  Philippus  und  viel- 
mehr an  tyrannischen  Gelüsten  seinem  Vater  ähnlich  war  der 
andere  Tetrarch,  Herode s  Antipas  (4  a.  C.  bis  39  p.  C). 
Ihm  war  das  fruchtbare  und  schöne  Galiläa  nebst  dem  durch 
die  syrische  Dekapolis  davon  getrennt  liegenden  Peräa  zu- 
gefallen. Teils  zu  seiner  Sicherheit,  teils  aus  Herodianischer 
Prachtliebe  erneuerte  und  befestigte  er  mehrere  Städte,  wie 
namentlich  das  von  Varus  zerstörte  Sepphoris  in  Galiläa  und 
die,  zur  Ehre  der  Kaiserin,  Livias,  später  Julias,  genannte 
Stadt  Betharamphtha  in  Peräa  unweit  der  Mündung  des  Jordan 
in  das  Tote  Meer.  Dem  Kaiser  Tiberius  zu  Ehren  wurde  von 
ihm  Tiberias  an  der  Westküste  des  Sees  Genezareth  gegründet, 
grofsenteils  mit  nicht-jüdischen  Bewohnern  bevölkert  und  zur 
Landeshauptstadt  erhoben.  Bei  einem  Besuche,  den  er  seinem 
(in  der  Bibel  Philippus  genannten)  Stiefbruder  Herodes,  welcher 
keinen  Teil  an  der  Herrschaft  erhalten  hatte,  abstattete, 
lernte  er  dessen  Gemahlin  Herodias,  Tochter  des  7  a.  C.  hin- 
gerichteten Aristobul  und  Schwester  des  spätem  Königs 
Agrippa,  kennen,  trennte  sich  von  seiner  bisherigen  Gemahlin, 
einer  Tochter  des  arabischen  Fürsten  Aretas,  und  heiratete  die 
Herodias,  welche  ihre  unerwachsene  Tochter  Salome,  spätere 
Gemahlin  des  Tetrarchen  Philippus,  mit  sich  brachte.  Die 
Gefangennahme  und  Hinrichtung  Johannes  des  Täufers  (nach 


160  ^I-   I^ie  Religion  des  alten  Judentums. 

dem  Bericht  des  Josephus  in  Machärüs,  einer  Festung  östlich 
vom  Toten  Meere)  wird  von  den  Evangehen  aus  einem  Kacheakt 
der  Herodias,  von  Josephus  aus  der  Furcht  des  Herodes  er- 
klärt, der  neue  Prophet  könnte  durch  seinen  Anhang  einen 
dem  Staate  gefährlichen  Aufstand  erregen.  Ob  Herodes,  wie 
die  Evangelien  erzählen,  schon  in  Galiläa  auch  auf  Jesum, 
dessen  Landesherr  er  war,  aufmerksam  geworden  sei  und  ihn 
später  nach  seiner  Gefangennahme  in  Jerusalem  persönlich 
kennen  gelernt  habe,  mag  dahingestellt  bleiben.  Im  Jahre  36 
kam  es  zwischen  Herodes  und  dem  Araberfürsten  Aretas, 
dessen  Tochter  Herodes  lun  der  Herodias  willen  verstofsen 
hatte,  aus  diesem  Grunde  und  wegen  Grenzstreitigkeiten  zum 
Kriege.  Herodes  wurde  besiegt  und  verklagte  den  Aretas 
beim  Kaiser  Tiberius.  Dieser  gab  dem  syrischen  Legaten 
Vitellius  Befehl,  den  Aretas  lebendig  oder  tot  in  seine  Hand 
zu  bringen.  Vitellius  war  im  Begriffe,  diesen  unwillkommenen 
Befehl  auszuführen,  da  traf  die  Nachricht  vom  Tode  des 
Tiberius  ein,  und  der  Rachezug  gegen  Aretas  unterblieb. 
Nachdem  Caligula  seinen  Freund  Agrippa  aus  dem  Kerker,  in 
welchen  Tiberius  ihn  geworfen  hatte,  erhoben  und  kurzerhand 
zum  König  über  das  vordem  dem  Philippus  gehörende  Gebiet 
gemacht  hatte,  trieb  Herodias  ihren  Gatten  an,  auch  für  sich 
den  Königstitel  zu  erbitten.  Beide  begaben  sich  nach  Baiä  zu 
Caligula,  wo  jedoch  auch  ein  Gesandter  Agrippas  eintraf  und 
den  Antipas  verräterischer  Machinationen  beschuldigte.  Die 
Folge  war,  dafs  Caligula  den  Antipas  nach  Lugdunum  in 
Gallien,  wohin  ihm  auch  Herodias  freiwillig  folgte,  verbannte 
und  dessen  Gebiet  gleichfalls  dem  Agrippa  zusprach. 

Ein  ähnliches  Schicksal  hatte  schon  lange  vorher  der 
zum  Ethnarchen  von  Idumäa,  Judäa  und  Samaria  ernannte 
Archelaus  (4  a.  C.  bis  6  p.  C.)  erfahren.  Ihm  war  die 
schwierige  Aufgabe  zugefallen,  die  unruhige  jüdische  Be- 
völkerung im  Zaume  zu  halten,  und  er  zeigte  sich  dieser  Auf- 
gabe in  keiner  Weise  gewachsen.  Seine  Ehe  mit  der  Glaphyra 
war  ungesetzlich  und  erregte  grofsen  Anstofs.  Wie  schon  von 
seinem  Vater  Herodes,  wurden  auch  von  ihm  Hohepriester 
willkürlich  ernannt  und  abgesetzt,  und  so  verbalst  hatte  er 
sich    bei   der  Bevölkerung   gemacht,    dafs    neun  Jahre   nach 


1.  Übersicht  der  Gesebicbte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     161 

seinem  Regierungsantritt  eine  jüdische  Gesandtschaft  vor 
Augustus  erschien  mit  der  Bitte,  den  Archelaus  seiner  Herr- 
schaft zu  entheben.  Der  Kaiser  fand  die  Beschwerden  be- 
gründet und  verbannte  den  Archelaus  nach  Vienna  in  Gallien. 
Sein  Gebiet  wurde  weiterhin  durch  römische  Prokuratoren 
aus  dem  Ritterstande  verwaltet,  welche  in  schwierigen  Fällen 
auf  die  Unterstützung  des  Legaten  der  Provinz  Syrien  an- 
gewiesen waren,  im  übrigen  aber  ihm  gegenüber  eine  selb- 
ständige Stellung  einnahmen.  Ihre  Residenz  war  für  gewöhn- 
lich Cäsarea,  von  wo  sie  zu  den  Festen  nach  Jerusalem  zu 
kommen  und  im  Palast  des  Herodes  Wohnung  zu  nehmen 
pflegten.  Sieben  dieser  proairatores  {rijeiKcvsc,  iTziTgorcoi,  sirapxcO 
regierten  6 — 41  p.  C.  über  Judäa.  Der  bekannteste  ist  der 
unter  Tiberius  von  26  bis  36  in  Judäa  und  Samaria  regierende 
Pontius  Pilatus,  welchem  in  einem  Briefe  Agrippas  bei 
Philo  (Legatio  ad  Cajum  §  38)  unbeugsame  Härte,  Bestech- 
lichkeit und  Grausamkeit  nachgesagt  werden.  Ganz  zutreffend, 
wird  diese  Charakteristik  nicht  sein,  denn  wiederholte  Ver- 
suche des  Pilatus,  die  Kaiserbilder  und  Schilder  mit  des 
Kaisers  Namen  gegen  das  Gesetz  in  Jerusalem  einzuführen, 
stiefsen  auf  einen  so  heftigen  Widerstand,  dafs  Pilatus  von 
seinem  Unterfangen  abstand  und.  nur  bei  der  wohltätigen, 
allerdings  aus  dem  Tempelschatz  zu  bestreitenden  Einrichtung 
einer  'Wasserleitung  sich  durch  keinen  Einspruch  der  Juden 
umstimmen  liefs.  Sein  gewaltsames  Auftreten  bei  einer  harm- 
losen Prozession  in  Samaria  veranlafste  das  Eingreifen  des 
Syrien  verwaltenden  Legaten  Vitellius,  welcher  den  Pilatus  zu 
seiner  Verantwortung  nach  Rom  schickte  und  durch  einen 
andern  Prokurator  ersetzte.  Drei  Jahre  später  Wurden  Judäa 
und  Samaria  dem  Reiche  des  Agrippa  zugefügt. 

Dieser  Agrippa  L,  geboren  10  a.  C.  als  Sohn  des  von 
seinem  Vater  hingerichteten  Aristobulos  und  Bruder  der  er- 
wähnten Herodias,  hatte,  verschwenderisch  und  verschuldet 
wie  er  war,  schon  ein  abenteuerliches  Leben  hinter  sich,  als 
er  wegen  einer  unvorsichtigen  Aufserung  von  Tiberius  zu  Rom 
ins  Gefängnis  geworfen  wurde,  woraus  ihn  sechs  Monate  später, 
sogleich  nach  dem  Tode  des  Tiberius,  Caligula,  sein  Freund 
und  der  Kumpan  seiner  Freuden,  befreite,  die  eiserne  Kette  mit 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii  H 


162  VI.   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

einer  gleich  schweren  goldenen  vertauschte  und  ihn  kurzerhand 
zum  König  über  das  durch  den  Tod  des  Philippus  erledigte 
Gebiet  ernannte  (37  p.  C).  Als  seine  Schwester  Herodias, 
wie  schon  erwähnt,  ihren  Gatten  Antipas  veranlafst  hatte,  nach 
Rom  zu  reisen,  um  auch  für  sich  den  Königstitel  zu  erbitten, 
liefs  Agrippa  beim  Kaiser  seinen  Schwager  anschwärzen,  so 
dafs  dieser  nach  Lugdunum  verbannt  und  sein  Gebiet  dem 
Agrippa  geschenkt  wurde  (39  p.  C).  Als  dann  nach  Caligulas 
Ermordung  Claudius  auf  Zureden  des  Agrippa  den  Thron  be- 
stieg, fügte  er  zum  Dank  für  die  geleisteten  Dienste  dem  Ge- 
biete des  Agrippa  die  bis  dahin  von  Prokuratoren  verwalteten 
Gebiete  Judäa  und  Samaria  zu  (41  p.  C),  so  dafs  dieser  noch- 
mals das  ganze  Gebiet  seines  Grofsvaters  Herodes  unter  seinem 
Scepter  vereinigte.  Er  wufste  die  Neigungen  des  Volkes  da- 
durch zu  gewinnen,  dafs  er,  im  Gegensatze  gegen  sein  früheres 
Leben,  eine  streng  jüdische  Frömmigkeit  ostentativ  zur  Schau 
trug,  die  von  Caligula  geschenkte  goldene  Kette  im  Tempel 
aufhing  und  mit  der  das  Volk  beherrschenden  Partei  der 
Pharisäer  Freundschaft  unterhielt.  Durch  sein  gutmütiges  und 
versöhnliches  Wesen  wufste  er  die  Herzen  zu  gewinnen,  mehr 
noch  durch  Verfolgung  der  neuaufkoramenden  Sekte  der 
Christen,  so  dafs  er  bei  einer  Versammlung  zu  Cäsarea,  wie 
Josephus  und  die  Apostelgeschichte  übereinstimmend  melden, 
eben  vom  Volke  als  Gott  begriifst  wurde,  als  er  von  heftigen 
Leibschmerzen  befallen  wurde,  die  wenige  Tage  darauf  seinen 
Tod  herbeiführten  (44  p.  C). 

Da  sein  erst  siebzehnjähriger  Sohn,  Agrippa  H.,  den 
Ratgebern  des  Claudius  als  zu  jung  erschien,  um  ihm  die 
Aufsicht  über  den  Tempel  und  Tempelschatz  sowie  die  An- 
stellung der  Hohenpriester  zu  übertragen,  so  wurde  damit 
Herodes,  König  von  Chalkis,  ein  Oheim  des  Agrippa,  betraut, 
nach  dessen  Tode  Agrippa  H.  im  Jahre  50  dessen  geistliche 
Vorrechte  mit  dem  Königstitel  und  der  Herrschaft  über  Chalkis 
erhielt,  gegen  welche  er  bald  darauf  das  ehemalige  Gebiet 
des  Tetrarchen  Philippus- nebst  den  angrenzenden  Landstrichen 
eintauschte.  In  der  Weise  seines  Vaters  zeigte  er  für  den 
jüdischen  Kultus  ein  äufserliches  Interesse,  stand  aber  im 
übrigen  auf  Seite  der  Römer,  denen  er  während  des  jüdischen 


1.  Übersicht  der  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     163 

Krieges  wesentliche  Dienste  leistete.  Er  wurde  dafür  von 
Vespasian  mit  Gebietserweiterungen  beschenkt.  Aus  seinem 
spätem  Leben  ist  nur  bekannt,  dafs  er  mit  Josephus  über 
dessen  Geschichte  des  jüdischen  Krieges  korrespondierte  und 
ihre  Zuverlässigkeit  lobte.  Er  starb  als  der  letzte  Idumäer 
und  überhaupt  letzte  König  der  Juden,  wie  es  scheint  kinder- 
los und  unverheiratet,  im  Jahre  100  p.  C,  worauf  Trajan  sein 
Königreich  einzog  und  mit  der  Provinz  Syrien  vereinigte. 

Inzwischen  war  seit  dem  Tode  Agrippas  I.  sein  Reich 
von  römischen  Prokuratoren  verwaltet  worden.  Schon  die 
beiden  ersten,  Fadus  und  Tiberius  Alexander  (bis  48), 
ein  Neffe  des  Philo  Judäus,  hatten  mit  einzelnen  Aufständen 
der  Juden  zu  kämpfen,  welche  sich  in  die  neue  Ordnung  der 
Dinge  nicht  schicken  wollten.  Ihneii  folgte  Cumanus  (48 — 52), 
der  sich  den  fortwährenden  Streitigkeiten  gegenüber  nicht 
gewachsen  zeigte,  nach  einem  Zwiste  zwischen  Judäern  und 
Samaritern  vom  Legaten  Quadratus  nach  Rom  geschickt  und 
dort  abgesetzt  wurde.  Ihm  folgte  Felix  (52 — 60),  ein  Frei- 
gelassener des  Claudius,  welchem  Tacitus  das  Zeugnis  gibt, 
dafs  er  per  omnem  saevüiam  ac  libidinem  jus  regium  servili 
ingenio  exercuit.  Indessen  mehrte  sich  durch  Zeloten,  Sicarier 
und  andere  Fanatiker  die  Unordnung  im  Lande,  Räuberwesen 
und  Anarchie  nahmen  überhand.  Vergebens  suchte  der  recht- 
lich gesinnte  Fes  tu  s  (60 — 62)  dem  Unwesen  zu  steuern.  Nach 
seinem  Tode  folgte  Albinus  (62 — 64),  dessen  Untätigkeit 
und  Bestechlichkeit  nur  noch  überboten  wurden  durch  das 
Treiben  des  letzten  Prokurators  Gessius  Florus  (64 — 66), 
der  ganze  Städte  und  Gemeinden  ausplünderte  und  durch 
tyrannische  Bedrückung  der  Bevölkerung  den  unmittelbaren 
Anlafs  zu  dem  Aufstande  des  Jahres  66  und  dem  darauf- 
folgenden Vernichtungskriege  gab. 

Im  Mai  66  hatte  Florus  17  Talente  aus  dem  Tempelschatz 
geraubt,  und  liefs,  als  die  Juden  ihm  offen  ihre  Verachtung 
bezeigten,  Jerusalem  plündern  und  viele  Juden  kreuzigen. 
Der  Übermut  der  römischen  Soldaten  trug  noch  dazu  bei,  die 
Erbitterung  zu  steigern ;  vergebens  suchte  Agrippa  die  Gemüter 
zu  beruhigen;  das  aufgeregte  Volk  beschlofs,  die  täglichen 
Opfer    für    den    Kaiser     einzustellen;     eine     zur    Mäfsigung 

11* 


104  VI-   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

ermahnende  Partei  zog  sich  auf  die  Oberstadt  zurück,  wo  sie 
von  der  zum  Kriege  drängenden  Partei,  die  den  Tempelberg 
besetzt  hielt,  angegriffen  wurde.  Die  Eiferer  gewannen  die 
Überhand,  verbrannten  den  Palast  des  Herodes  bis  auf  die 
Türme,  ermordeten  den  Hohenpriester  und  gingen  in  ihrer 
Wut  so  weit,  die  römische  Besatzung,  nachdem  ihr  freier 
Abzug  bewilligt  war,  niederzumachen.  Der  syrische  Legat 
Gallus  rückte  mit  einem  Heer  heran,  fand  es  aber  geraten, 
wieder  abzuziehen,  und  verlor  auf  dem  Rückzuge  seinen  Trofs 
mit  dem  Kriegsmaterial,  welches  den  Juden  weiterhin  gute 
Dienste  leistete.  Jetzt  wurde  der  Aufstand  organisiert  und 
jedem  Anführer  seine  besondere  Aufgabe  zuerteilt.  Josephus, 
der  Geschichtschreiber,  wurde  nach  Galiläa  geschickt,  wo  er 
ein  Heer  zusammenzog  und  die  Städte  befestigte.  Gegen  ihn 
erhob  sich  der  fanatische  Zelot  Johannes  von  Gischala 
und  gewann  das  Volk  für  sich;  mit  Mühe  gelang  es  dem 
Josephus,  sich  in  Galiläa  zu  behaupten,  während  man  in 
Jerusalem  die  Vorbereitungen  zum  Kriege  eifrig  fortsetzte. 
Angesichts  der  drohenden  Lage  beauftragte  Nero  den  als  Feld- 
herrn  bewährten  Vespasian  damit,  den  Aufstand  zu  unter- 
drücken. Er  drang  mit  drei  Legionen  und  vielen  Auxiliar- 
truppen,  im  ganzen  60000  Mann,  vor,  nahm  mit  leichter  Mühe 
Sepphoris  ein  und  belagerte  den  Josephus  in  Jotapata;  die 
Stadt  wurde  im  Juli  67  erstürmt,  und  Josephus  gefangen 
genommen;  auch  die  Stadt  Gischala,  welche  Johannes  besetzt 
hielt,  mufste  sich  ergeben;  Johannes  entkam  nach  Jerusalem; 
ganz  Galiläa  war  in  den  Händen  der  Römer. 

Während  Vespasian  Peräa,  Idumäa  und  Samaria  in  seine 
Gewalt  brachte,  stellte  sich  in  Jerusalem  Johannes  von  Gischala 
an  die  Spitze  der  Zeloten,  rief  die  Idumäer  zu  Hilfe  und  wütete 
mit  ihnen  gegen  alle,  welche  zur  Mäfsigung  rieten  und  daher 
von  ihm  beschuldigt  wurden,  es  mit  den  Römern  zu  halten. 

Während  Vespasian  auf  die  Nachricht  vom  Tode  des  Nero 
(Sommer  68)  zunächst  eine  abwartende  Stellung  einnahm, 
durchzog  ein  anderer  Zelot,  Simon  Bar-Giora,  verwüstend 
den  Süden,  drang  in  Jerusalem  ein  und  errichtete  mit  seinem 
Anhange  eine  zweite  Schreckensherrschaft  gegenüber  der  des 
Joliannes  von  Gischala.     Simon  hielt  die  Oberstadt,  Johannes 


1.  Übersicht  der  Gescliichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     1  65 

den  Tempelberg  besetzt,  beide  kämpften  gegen  einander,  von 
beiden  wurden  die  Besitzenden  als  römerfreundlich  verfolgt 
und  gebrandschatzt. 

Als  Vespasian  gegen  Vitellius  in  Syrien  und  Ägypten 
zum  Gegenkaiser  ausgerufen  wurde,  übertrug  er  die  Beendigung 
des  Feldzuges  seinem  Sohne  Titus  und  begab  sich  nach  Er- 
mordung des  Vitellius  im  Sommer  70  nach  Rom.  Vorher  schon 
war  Titus  im  April  des  Jahres  70'  mit  vier  Legionen  und 
zahlreichen  Hilfstruppen  vor  Jerusalem  gerückt  und  begann 
von  Norden  her  die  Belagerung.  Im  Mai  70  erlagen  die  erste 
und  zweite  Umfassungsmauer  den  Sturmböcken  der  Römer, 
während  die  Oberstadt  von  Simon,  die  Antonia  und  der  Tempel- 
herg  von  Johannes  verteidigt  wurde.  Vergebens  liefs  Titus 
sie  durch  Josephus  auffordern,  sich  zu  ergeben.  Nach  ver- 
zweifelter Gegenwehr  fiel  zunächst  die  Burg  Antonia  und  dann 
auch  der  Tempelplatz  in  die  Hände  der  Römer.  Titus  wollte 
den  Tempel  schonen,  aber  ein  Soldat  warf  eine  Brandfackel 
in  eine  der  Kammern,  die  Aufforderung  zum  Löschen  wurde 
im  wilden  Kampfgewühle  nicht  beachtet,  und  das  ganze  herr- 
liche Gebäude  wurde,  nachdem  Titus  noch  das  Innere  besichtigt 
hatte,  ein  Raub  der  Flammen.  Was  von  der  durch  Hunger 
und  Entbehrung  erschöpften  Bevölkerung  noch  übrig  w^ar, 
wurde  ohne  Unterschied  des  Alters  und  Geschlechts  nieder- 
gemacht. Johannes  war  mit  seiner  Schar  in  die  Oberstadt 
entkommen;  einen  Monat  später  (September  70}  konnte  auch 
diese  sich  nicht  mehr  halten ;  die  Einwohner,  soweit  sie  nicht 
dem  Schwert  der  Soldaten  erlagen,  wurden  teils  zu  Tierkämpfen 
und  Gladiatorenspielen  verwendet,  teils  in  die  Bergwerke  ge- 
schickt; die  stattlichsten  Erscheinungen,  unter  ihnen  auch 
Johannes  und  Simon,  wurden  für  den  Triumphzug  aufgespart, 
den  im  folgenden  Jahre  Titus  gemeinsam  mit  seinem  Vater 
feierte.  Als  letzte  Zuflucht  der  Aufständischen  wurden  in  den 
beiden  folgenden  Jahren  die  Festungen  Machärüs  im  Osten 
und  Masada  im  Westen  des  Toten-  Meeres  eingenommen, 
letztere  erst,  nachdem  die  Belagerten  auf  Verabredung  ihre 
Angehörigen  und  dann  sich  selbst  gegenseitig  getötet  hatten. 
Das  eroberte  Land  nahm  Vespasian  in  Privatbesitz  und  liefs 
es  verpachten.    Jerusalem  bestand  nur  noch  als  ein  römisches 


166  VI.   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

Heerlager.  Die  Tempelsteuer  vor  zwei  Drachmen,  welche 
Jeder  Jude  im  Römischen  Reiche  zu  zahlen  hatte,  wurde  nicht 
aufgehoben,  sondern  nach  Rom,  eine  Zeitlang  sogar  an  den 
Tempel  des  Jupiter  Capitolinus,  entrichtet. 

Ein  Nachspiel  der  Zerstörung  Jerusalems  im  Jahre  70, 
und  vielleicht  nur  wegen  der  Dürftigkeit  der  Nachrichten 
geringer  als  diese  erscheinend,  erfolgte,  als  Hadrian  auf  seinem 
Besuche  Palästinas  130  p.*C.  verfügte,  auf  der  Stätte  des  alten 
Jerusalem  eine  Stadt  mit  dem  Namen  Ädia  Capitolhia  und 
auf  der  Stelle  des  alten  Tempels  einen  Tempel  des  Jupiter 
Capitolinus  zu  errichten.  Ein  Aufstand  unter  Bar-Kocliha,  den 
Babhi  ÄJciba  für  den  erwarteten  Messias  erklärte,  verbreitete 
sich  über  ganz  Palästina  und  war  um  so  schwerer  zu  dämpfen, 
weil  die  Juden  eine  offene  Feldschlacht  vermieden  und  aus 
Burgen,  Höhlen  und  Schlupfwinkeln  im  Guerillakriege  gegen 
die  Prokuratoren  Rufus  und  nach  ihm  Severus  kämpften. 
Schliefslich  wurde  Bar-Kochba  in  Beth-ther  (unweit  Bethlehem) 
belagert  und  fand  bei  der  Einnahme  der  Stadt  135  den  Tod. 
Jerusalem  wurde  als  Aelia  Capitolina  mit  einer  heidnischen 
Bevölkerung  besiedelt,  den  Juden  aber  war  es  jahrhunderte- 
lang bei  Todesstrafe  verboten,  den  Bezirk  der  heiligen  Stadt 
zu  betreten.  Fortan  war  es  nur  das  von  Pharisäern  und 
Rabbinen  eifrig  gepflegte  und  im  Talmud  ausgebaute  Gesetz, 
welches  als  ein  geistiges  Band  die  Juden  aller  Länder  zu- 
sammenhielt, zu  immer  schroff'erer  Absonderung  gegen  die 
NichtJuden  und  zu  entsprechenden  Anfeindungen  von  Seiten 
der  letzt ern  der  Hauptanlafs  wurde. 


536—332 

458 

444 
332—301 

301 
301— 19S 

198 

198—65 

175—164 

168 


Tabelle  zur  Geschichte  des  Judentums. 

Die  Juden  unter  der  Perserherrschaft. 

Esra. 

Nehemia. 

Alexander  und  die  Diadochen. 

Schlacht  bei  Ipsus. 

Die  Juden  unter   ägyptischer   Oberhoheit. 

Skopas  an  den  Jordanquellen  besiegt. 

Die  Syrerzeit  und  die  Hasmonäer. 

Antiochus  IV.  Epiphanes. 

(Dezember)  Edikt  des  Antiochus  Epiphanes. 


1.    Übersicht  dei*  Geschichte  der  Juden  vom  babylonischen  Exil  usw.     \(j'J 


167—166 
166—160 

165 
160—143 

153 

150 

143- 
143—135 

141 
135—104 

104—103 
103—76 
76—67 
67—65 


65 

Goa.C.bis 
70  p.  C. 

63 


54 
49 

48 


47 


44 
43 
42 

40 


40 


Aufstand  des  Matthathias. 

Judas  Makkabäus. 

Wiederherstellung  des  Opferdienstes.     Das  Buch  Daniel. 

Jonathan  tibernimmt  den  Oberbefehl, 

wird  zum  Hohenpriester  und 

zum  Meridarcheu  ernannt. 

Jonathan  von  Tryphon  hingerichtet. 

Simon, 

erobert  die  Akra. 

Johannes  Hyrkanns  stellt  das  Reich  Davids  in  vollem  Umfange 
wieder  her. 

Aristobulos  I.  nimmt  den  Königstitel  an. 

Alexander  Jannäus. 

Salome  Alexandra. 

Hyrkanus  IL,  von  seinem  Bruder  Aristobulos  IL  bei  Jericho  be- 
siegt, mufs  ihm  Hohepriestertum  und  Königswürde  abtreten, 
wird  aber  von  seinem  Freund  und  Ratgeber,  dem  Idumäer 
Antipatros,  zum  Widerstand  ermutigt.  Aristobul  mit  Hilfe 
des  Aretas  besiegt  und  auf  dem  Tempelberg  belagert. 

Pompejus  macht  Syrien  zur  römischen  Provinz. 

Die  Juden  unter  römischer  Oberhoheit. 

Pompejus  erobert  den  Tempelberg,   bestätigt  Hyrkanus  IL  als 

Hohenpriester,  entzieht  ihm  aber  die  Königswürde.   Aristobulos 

mit  seinen  Söhnen  Alexander  und  Antigonos  gefangen  nach 

Rom  geführt. 
Crassus  plündert  die  Tempelschätze  (stirbt  53). 
Bürgerkrieg  zwischen  Pompejus  und  Cäsar,  Aristobul   in  Rom 

vergiftet,  sein  Sohn  Alexander  in  Antiochien  enthauptet. 
Schlacht  bei  Pharsalus.    Hyrkanus  und  sein  Ratgeber  Antipatros 

erklären   sich   für  Cäsar   und   leisten   ihm   in  Palästina   und 

Ägypten  wertvolle  Dienste. 
Cäsar  bestätigt  den  Hyrkanus  als  Hohenpriester  und  Ethnarchen. 

Antipatros    wird   zum   Prokurator    von    Judäa,    seine    Söhne 

Phasael  und  Herodes  zu  Statthaltern  ernannt. 
Cäsar  ermordet. 

Cassius  brandschatzt  Syrien  und  Judäa.     Antipatros   ermordet. 
Schlacht  bei  Philippi.     Antonius  bedrückt  die  Juden,   ernennt 

Phasael  und  Herodes  zu  Tetrarchen. 
Einbruch   der  Parther;   Antigonus   von   ihnen   zum  König   der 

Juden   ernannt,    Hyrkanus    gefangen    nach   Babylon   geführt. 

Phasael  stirbt. 
Herodes  in  Rom  auf  Betreiben  des  Antonius   vom  Senat  zum 

König  der  Juden  ernannt. 


168 


VI.   Die  Religion  des   alten  Judentums. 


40—4 
37 


31 


4  a. 

C. 

bis 

6 

P- 

C. 

4  a. 

C. 

bis 

33 

P- 

C. 

4  a. 

C. 

bis 

39 

P- 

C. 

41—44 
50—100 

52—60 

60—62 
62-04 
64—66 
66—70 

135 


Herodes  der  Grofse,  König  der  Juden. 

Herodes  erobert  mit  Hilfe  der  Römer  Jerusalem,  Antigonos  in 
Antiochien  enthauptet.  Hyrkanus  von  Herodes  aus  der  Ge- 
fangenschaft befreit,  aber  sechs  Jahre  spä'^er  (30  a.  C.)  hin- 
gerichtet. 

Schlacht  bei  Actium.  Herodes,  von  Augustus  begnadigt,  läfst 
aus  Argwohn  seine  Gemahlin  Mariamme  und  deren  Mutter 
hinrichten  (28  a.  G.),  ebenso  seine  Söhne  von  ihr,  Alexander 
und  Aristobulos  (7  a.  C.),  und  noch  kurz  vor  seinem  Tode 
den  Antipatros,  seinen  Sohn  aus  seiner  frühern  Ehe.  Drei 
andere  Söhne  erhalten  von  Augustus  nach  seinem  Tode, 
Archelaus  Judäa,  Samaria  und  Idumäa,  Herodes  Antipas 
Galiläa  und  Peräa,  Philippus  das  Land  nordöstlich  vom 
Jordan. 

Archelaus,  Ethnarch  von  Judäa,  6  p.  G.  abgesetzt,  sein  Land 
weiterhin  von  römischen  Prokuratoren  verwaltet;  Pontius 
Pilatus  26—36  p.  C. 

Philippus  Tetrarch  im  Ostjordanlande,  welches  33  unter  römische 
Verwaltung  gestellt  und  von  Caligula  37  nebst  dem  Königs- 
titel seinem  Freunde  Agrippa  L,  Sohn  des  7  a.  C.  hingerichteten 
Aristobulos  und  Bruder  der  Herodias,  verliehen  wird. 

Herodes  Antipas  Tetrarch  von  Galiläa,  39  von  Caligula  ab- 
gesetzt; sein  Land  wird  dem  Agrippa  geschenkt,  welchem 
41  p.  C.  von  Claudius  auch  Judäa  verliehen  wird,  so  dafs  er 
noch  einmal  das  ganze  Reich  Davids  unter  seinem  Scepter 
vereinigt. 

Agrippa  L,  König  der  Juden;  sein  noch  minderjähriger  Sohn  er- 
hält nach  sechsjähriger  Vormundschaft  unter  seinem  Oheim  als 

Agrippa  H.  den  Königstitel,  das  Gebiet  des  Philippus,  die  Auf- 
sicht über  den  Tempelschatz  und  das  Recht,  die  Hohenpriester 
zu  ernennen,  während  Judäa  und  Galiläa  von  römischen  Pro- 
kuratoren verwaltet  werden. 

Felix  Prokurator,  unter  dem  58—60  Paulus  in  Cäsarea  gefangen 
gehalten  wird. 

Festus  Prokurator,  welcher  Paulus  nach  Rom  schickt. 

Albinus  Prokurator. 

Gessius  Florus  Prokurator. 

Der  jüdische  Krieg,  Zerstörung  Jerusalems,  Zerstreuung  der 
Juden  unter  die  Völker. 

Letzter  jüdischer  Aufstand  unter  Bar-Kochba. 


2.  Quellen  zur  Geschichte  der  Religion  des  altern  Judentums.      Iß9 

2.   Quellen  zur  Geschichte  der  Kelig-ion  des  altern  Jadcutums. 

Eine  unerwartete  und  auch  für  die  Religionsgeschichte 
wertvolle  Bereicherung  haben  die  Quellen  zur  Geschichte  des 
alten  Judentums  durch  die  während  des  letzten  Jahrzehntes 
gemachten  und  publizierten  Papyrusfunde  aus  dem  südlichen 
Ägypten  erfahren.  Dort  liegt  unterhalb  des  ersten  Katarakts 
und  gegenüber  der  Stadt  Syene  (Assuan)  die  drei  Kilometer 
breite  Nilinsel  Elephantine,  auf  welcher  schon  seit  den  Zeiten 
der  XXVI.  Dynastie  zum  Schutze  der  Südgrenze  des  Reiches 
eine  vorwiegend  aus  jüdischen  Söldnern  bestehende  Militär- 
kolonie angesiedelt  war.  Wir  erfahren  aus  den  hier  gefundenen, 
in  aramäischer  Sprache  verfafsten  Papyrusresten,  bestehend 
aus  Kaufkontrakten,  Heiratsverträgen,  Briefen  und  andern 
Dokumenten,  dafs  die  jüdische  Kolonie  in  Elephantine  entweder 
schon  vor  der  Proklamation  des  den  Jahvekultus  auf  Jerusalem 
beschränkenden  Deuteronomium  (621  a.  C.)  oder  ohne  Rück- 
sicht auf  diese  Neuerung  ihrem  Gotte  Jalm  (verkürzte  Form 
für  Jahve)  einen  Temj>el  errichtet  hatte  und  ihn  durch  Speis-, 
Rauch-  und  Brandopfer  verehrte.  Von  dem  gegen  die  ägyp- 
tische Religion  wütenden  Kambyses  war  dieser  jüdische  Tempel 
verschont  worden,  wurde  aber,  während  der  Abwesenheit  des 
die  Juden  in  ihren  Rechten  schützenden  persischen  Satrapen 
Arsames,  auf  Betreiben  der  ägyptischen  Priester  des  Chnubi, 
im  [Jahre  410  a.  C.  zerstört  und  trotz  der  Bemühungen  der 
Juden  von  Elephantine  nicht  wieder  aufgebaut.  Das  wichtigste 
Ergebnis  dieser  Funde  für  unsere  Zwecke  ist  der  vollkommene 
Einklang  nach  Form  und  Inhalt,  in  welchem  diese  aramäischen 
Papyri  mit  den  in  den  Büchern  Esra  und  Nehemia  enthaltenen 
Urkunden  und  Memoiren  stehen,  deren  historische  Glaub- 
würdigkeit (wie  Eduard  Meyer  gezeigt  hat)  von  der  modernen 
Kritik  mit  Unrecht  in  Zweifel  gezogen  worden  war. 

Unter  den  übrigen  Schriften  aus  nachexilischer  Zeit,  welche 
noch  Aufnahme  in  den  alttestamentlichen  Kanon  gefunden 
haben,  verdient  aufser  dem  oben  (S.  125 — 128)  besprochenen 
Hieb  und  Koheleth  noch  besondere  Erwähnung  das  Buch 
Daniel,  weil,  wie  unten  zu  "zeigen  sein  wird,  Jesus  seine 
messianischen  und  eschatologischen  Anschauungen  mit  Vor- 


170  VI-    Die  Eeligion  des  alten  Judentums. 

liebe  an  Aussprüche  dieses  Werkes  angelehnt  hat.  In  der 
Form,  wie  es  vorliegt,  ist  das  Buch  Daniel  eine  an  die  Juden 
gerichtete  Trostschrift,  welche  in  der  Zeit  der  äufsersten  Be- 
drängnis durch  die  Reformen  des  Antiochus  IV.  Epiphanes 
die  Nähe  des  Heils  verkündigt  und  zum  Ausharren  in  den 
Zeiten  der  Trübsal  ermahnt.  Als  Abfassungszeit  des  Buches 
ergibt  sich,  abgesehen  von  altern  Legenden,  die  in  demselben 
verarbeitet  sein  mögen,  die  Zeit  zwischen,  der  Wiederherstellung 
des  Opferkultus  nach  dreijähriger  Unterbrechung  im  Dezember 
165,  welche  8,14  erwähnt  wird,  und  dem  im  Juni  164  erfolgten 
Tode  des  Antiochus  Epiphanes,  der  dem  Verfasser  noch  nicht 
bekannt  ist.  Der  Held  des  Werkes,  dessen  Erlebnisse  Kap.  1 — 6 
erzählt  werden,  während  er  in  den  folgenden  Kapiteln  redend 
eingeführt  wird,  ist  der  Ezechiel  14,14  neben  Noah  und  Iliob 
als  ein  Gerechter  der  Vorzeit  genannte  Daniel,  welcher,  wie 
im  Buche  Daniel  behauptet  wird,  als  jüdischer  Knabe  am 
Hofe  des  Nebukadnezar  (605 — 562)  erzogen  worden  sein  und 
noch  bis  in  die  Zeiten  des  Belsazar  (d.  i.  Nabunähid,  555 — 539), 
ja  sogar  bis  in  die  Zeiten  des  Darius  (521 — 485)  gelebt  haben 
soll,  und  dem  in  Gesichten  das  Schicksal  der  vier  Weltreiche, 
des  babylonischen,  medischen  und  persischen,  die  als  zwei 
gezählt  werden,  des  griechischen,  mitsamt  den  Kämpfen  der 
Diadochen,  sowie  der  Bedrückung  der  Juden  durch  Antiochus 
Epiphanes  als  vaiiciiiia  post  eventmn  offenbart  werden.  Der 
Hauptinhalt  der  zwölf  Kapitel  des  Werkes  ist  folgender. 

Kap.  I.  Daniel"  angeblich  schon  im  dritten  Jahre  des 
Jojaqim  (605)  nach  Babylon  gebracht,  wird  mit  drei  andern 
jüdischen  Knaben  am  Hofe  des  Nebukadnezar  erzogen. 

Kap.  II.  Nebukadnezars  Traum  von  dem  Standbilde  mit  gol- 
denem Kopf,  silberner  Brust,  ehernem  Bauch,  eisernen  Schenkeln 
und  Füfsen  aus  Eisen  und  Ton,  und  dem  Stein,  welcher  herab- 
stürzt und  das  Standbild  zermalmt,  wird  von  Daniel  auf  vier  W^elt- 
reiche  und  ein  am  Schlüsse  erstehendes  Gottesreich  gedeutet. 

Kap.  III.  Errettung  der  drei  Gefährten  Daniels,  Sadrach, 
Mesach  und  Abed-Nego,  im  feurigen  Ofen. 

Kap.  IV.  Legende  von  dem  siebenjährigen  Wahnsinn 
Nebukadnezars,  seiner  Verstofsung  unter  die  Tiere  des  Feldes 
und  Wiedereinsetzung  in  sein  Königreich. 


2.   Quellen  zur  Geschichte  der  Religion  des  altern  Judentums.     171 

Kap.  V.  Belsazar,  angeblich  der  Sohn  Nebukadnezars, 
wird,  nachdem  er  die  Tempelgefäfse  bei  einem  Gelage  pro- 
faniert hat  und  nachdem  ihm  durch  eine  an  der  Wand  er- 
scheinende, von  Daniel  gedeutete  Inschrift  sein  nahes  Endo 
verkündigt  worden,  von  dem  König  der  Meder,  angeblich 
Darius,  seines  Thrones  entsetzt  und  getötet. 

Kap.  VI.  Daniel  wird,  weil  er  gegen  das  Gebot  des  Königs 
zu  Jahve  betet,  von  Darius  in  die  Löwengrube  geworfen  und 
durch  einen  Engel  vor  Schaden  behütet. 

Kap.  VII.  Traumgesicht  Daniels  von  den  vier  Tieren, 
Löwe,  Bär,  Panther  und  dem  Tier  mit  den  zehn  Hörnern, 
welche  (entsprechend  dem  Gold,  Silber,'  Erz  und  Eisen  in 
Kap.  II)  nach  der  wahrscheinlichem  Deutung  das  babylonische, 
medische  und  persische  (welche  unliistorisch  als  zwei  gezählt 
werden)  und  die  Reiche  Alexanders  und  der  Diadochen  be- 
zeichnen. Das  elfte  Hörn  ist  Antiochus  Epiphanes,  nach  dessen 
Vernichtung  (VII,  13 — 14)  das  ewige  Messianische  Reich  des 
Menschensohnes  beginnt. 

Kap.  VIII.  Gesicht  Daniels  von  dem  Widder  mit  zwei 
Hörnern  (dem  modischen  und  persischen  Reiche)  und  dem 
ihn  zertretenden  Ziegenbock  mit  einem  grofsen  Hörn  (Alexander) 
und  vier  andern  an  seine  Stelle  tretenden  Hörnern  (dem  maze- 
donischen, pergamenischen,  ägyptischen  und  syrischen  Reiche) 
sowie  dem  kleinen  Hörn  (Antiochus  Epiphanes). 

Kap.  IX.  Die  von  Jeremia  25,11  geweissagten  70  Jahre 
der  babylonischen  Knechtschaft  (606—536)  werden  als  70  Jahr- 
wochen gedeutet,  so  dafs  sie,  die  Sabbate  abgerechnet,  die  Zeit 
bis  auf  Antiochus  Epiphanes  umfassen.  Der  im  letzten  Verse 
wie  auch  11,31  und  12,11  erwähnte  „Greuel  der  Verwüstung" 
scheint  sich  auf  Altar  und  Statue  des  olympischen  Zeus  zu 
beziehen,  welchen  Antiochus  im  Tempel  von  Jerusalem  auf- 
stellen liefs  (oben  S.  147  fg.). 

Kap.  X — XII.  Gesicht  Daniels  über  die  Kämpfe  der  Ptole- 
mäer  und  Seleuciden,  über  die  Greuel  des  Antiochus  Epiphanes 
und  über  die  ihnen  folgende  Aufrichtung  des  Messianischen 
Reiches. 

Während  das  Buch  Daniel  in  seinen  Vorstellungen  über 
Dämonologie,  Auferstehungslehre  und  das  erwartete  Messias- 


172 


VI.    Die  Religion  des  alten  Judentums. 


reich  eine  starke  Abhängigkeit  von  den  entsprechenden  irani- 
schen Anschauungen  erkennen  läfst,  so  ist  dies  bei  den  teils 
schon  ursprünghch  griechisch  geschriebenen,  teils  aus  dem 
Hebräischen  oder  Aramäischen  übersetzten  Apokryphen  des 
Alten  Testaments  nur  teilweise  der  Fall,  und  man  sieht 
an  diesen  Büchern  deutlich,  wie  der  auf  der  Kenntnis  der 
persischen  Weltanschauung  beruhende  Umschwung  des  alten 
Hebraismus  sich  nur  allmählich  vollzog,  wie  denn  noch  zu 
Jesu  Zeiten  die  ursprünglich  iranische  Dämonologie  und  Auf- 
erstehungslehre von  den  Pharisäern  angenommen,  hingegen 
von  den  dem  alten  Mosaismus  treuen  Sadducäern  verworfen 
wurden.  Unter  den  Apokryphen  kann  man  in  diesem  Sinne 
drei  Gruppen  unterscheiden,  je  nachdem  diese  (als  Anhang 
zur  Septuaginta  uns  überkommenen)  Bücher  teils  babylonisch- 
persischen, teils  ägyptisch -griechischen  Einflufs  erkennen 
lassen,  während  eine  dritte  Gruppe  weder  von  iranischen  noch 
von  griechischen  Einwirkungen  nennenswerte  Spuren  aufweist. 
Die  Verteilung  der  apokryphischen  Bücher  unter  diese  drei 
Gruppen  ist  im  wesentlichen  folgende. 

Apokryphen: 


111.  Alexandrinisclie 

Weisheit  Salomonis 
Stücke  in  Esther 
Makkabäer  III  u.  IV 


II.  Palästinensische 

Judith 

Jesus  Sirach 
Makkabäer  I 


I.  Palästinensisch- 
Babylonisclie 

Tobias 
Baruch 
Makkabäer  II 
Susanna 
Bei  zu  Babel 
Drache  zu  Babel 
Gebet  Asariä 
Gesang  der  drei 
Männer. 


Von  diesen  drei  Gruppen  zeigt  die  palästinensisch- 
babylonische ein  starkes  Hervortreten  der  Vorstellungen 
von  guten  und  bösen  Engeln  und  der  Unsterblichkeitslehre 
in   der  iranischen  Form  einer   materiellen  Auferstehung  von 


2.   Quellen  zur  Geschichte  der  Keligion  des  altern  Judentums.     173 

den  Toton,  während  sich  in  der  alexandrinischen  Grui)pe 
der  Einflufs  der  griechischen  Philosophie  in  den  Andeutungen 
einer  Präexistenz  der  Seele,  des  Leibes  als  ihres  Kerkers  und 
der  Unsterblichkeit  als  einer  Befreiung  aus  dem  Gefängnisse 
der  körperlichen  Existenz  nicht  verkennen  läfst,  und  endlich 
die  rein  palästinensische  Gruppe,  die  von  ausländischen 
Einflüssen  des  Parsismus  und  der  griechischen  Philosophie 
kaum  merklich  berührt  ist  und  in  dem  überkommenen  Gleise 
des  theokratischen  Partikularismus  verharrt. 

Als  eine  weitere  Quelle  für  die  Fortentwicklung  des  alten 
Judentums  werden ,  aufser  den  Werken  des  Philo  und 
Joseph  US,  besonders  auch  die  Schriften  des  neutestament- 
lichen  Kanons  heranzuziehen  sein,  sofern  in  den  Reden  Jesu 
und  den  Briefen  des  Apostels  Paulus  neben  dem  spezifisch 
Christlichen,  welches  einer  spätem  Betrachtung  vorzubehalten 
ist,  viele  Gedankenelemente  sich  finden,  bei  welchen  diese 
Begründer  einer  neuen  Weltanschauung  sich  noch  in  den 
ererbten  Vorstellungen  des  durch  iranische  Einflüsse  modi- 
fizierten Judentums  befangen  zeigen. 


3.  Das  böse  Prinzip  neben  dem  gnten. 

Die  Gottesidee  ist,  wie  schon  mehrfach  gezeigt  wurde, 
als  exoterische  Vorstellung,  d.  h.  als  ein  Versuch,  das 
Unerkennbare  in  den  Formen  unserer  Erkenntnis  aufzufassen, 
nicht  nur  praktisch  von  hohem  Werte,  sondern  auch  wissen- 
schaftlich durchaus  zulässig,  beides  jedoch  nur,  wenn  und 
soweit  Gott  aufgefafst  wird  als  die  Verkörperung  des  keim- 
artig in  uns  allen  liegenden  Moralischen,  als  Urquell  und 
Hüter  des  Sittengesetzes,  sowie  als  höchstes  Ziel,  dem  wir 
durch  Verwirklichung  dieses  Gesetzes  in  Gerechtigkeit,  Liebe 
und  Entsagung  zustreben. 

Von  dieser  Idee  Gottes  als  des  um  der  menschlichen 
Schwachheit  willen  personifizierten  Inbegrifi's  der  Moralität 
war  der  alte  Hebraismus  noch  weit  entfernt.  Ihm  war  sein 
Jahve  der  alleinige  Schöpfer  der  Welt  mit  allem,  was  sie 
enthält.  Gutem  wie  Bösem,  und  es  ist  ganz  konsequent,  wenn 
das  Alte  Testament  nicht  nur  das  physische  Übel,  sondern 


174  ^I-   Diß  Religion  des  alten  Judentums. 

auch  das  moralische  Böse  von  Gott  gewirkt  werden  läfst. 
Daher  ist  es  Jahve,  welcher,  wie  schon  oben  S.  122  ausgeführt 
wurde,  das  Herz  des  Pharao  verstockt,  einen  bösen  Geist  in 
Saul  fahren  läfst,  den  David  zu  der  Sünde  verlockt,  das  Volk 
zu  zählen,  einen  Lüs-eno-eist  in  den  Mund  von  vierhundert 
Propheten  legt,  um  den  Ahab  zu  verderben,  und  der  beim 
zweiten  Jesaia  Kap.  45  ausruft:  „Ich  bin  Jahve,  und  keiner 
sonst,  der  das  Licht  bildet  und  Finsternis  schafft,  der  Heil 
wirkt  und  Unheil  schafft,  —  ich,  Jahve,  bin  es,  der  alles 
dies  bewirkt." 

Dieser  althebräische  Gottesbegriff  bedurfte  gar  sehr  der 
Läuterung,  wenn  Gott  zu  dem  werden  sollte,  was  allein  seiner 
würdig  ist,  zum  Prinzip  der  Moralität,  zum  Ideal  sittlicher 
Vollkommenheit,  wie  ihn  schon  die  auf  prophetischem  Einflüsse 
beruhende  Stelle  3.  Mos.  19,2  auffafst:  „Ihr  sollt  heilig  sein, 
denn  ich  bin  heilig,  der  Herr  euer  Gott",  und  wie  ihn  schärfer 
und  schöner  noch  Jesus  am  Schlüsse  des  ersten  Kapitels  der 
Bergpredigt  in  dem  alle  vorhergehenden  Sittenlehren  krönenden. 
Ausspruche  bestimmt:  „Darum  sollt  ihr  vollkommen  sein,  gleich 
wie  euer  Vater  im  Himmel  vollkommen  ist"  (Matth.  5,48). 

Um  den  althebräischen  Gottesbegriff  zu  diesem  Ideal  der 
Sittlichkeit  zu  gestalten,  bedurfte  er  gar  sehr  der  Umformung ; 
vor.  allem  mufste  er  von  der  im  Alten  Testament  ihm  zu- 
geschriebenen Urheberschaft  des  Bösen  entlastet  und  dieses 
auf  eine  andere  Quelle  zurückgeführt  werden.  Hierzu  bot  eine 
geeignete  Anknüpfung  die  Figur  des  Satan,  welche  schon 
der  althebräischen  Mythologie  eigen  ist,  in  dieser  aber  eine 
wesentlich  andere  Rolle  spielt  als  die,  welche  ihm  im  weitern 
Verlaufe  zugeteilt  wurde. 

Wie  die  ganze  Natur,  so  sind  auch  alle  in  ihr  wirkenden 
Kräfte  von  Jahve  geschaffen  und  von  ihm  abhängig.  In  halb 
poetischer,  leicht  durchsichtiger  Personifikation  erscheinen  sie 
als  seine  Diener  oder  Boten  (ü"'Dn!:73,  ayysXo!,,  Engel);  vgl. 
Psalm  104,4:  „Du  machest  deine  Engel  zu  Winden,  und  deine 
Diener  zu  Feuerflammen."  Als  blofse  Organe  des  göttlichen 
Willens  wirken  sie  nicht  nur  das  Gute,  sondern  auch  das 
Schlimme  sowohl  unter  den  Feinden  Israels  (Jesaia  37,36), 
als    auch    unter    dem    Volke    Gottes    selbst,    2.  Sam.  24,16: 


3.  Das  böse  Prinzip  neben  dem  guten.  175 

,,Und  da  der  Engel  seine  Hand  ausstreckte  über  Jerusalem, 
dafs  er  sie  verderbete;  reuete  es  den  Herrn  über  dem  Übel, 
und  sprach  zu  dem  Engel,  zu  dem  Verderber  im  Volk:  Es 
ist  genug,  lafs  nun  deine  Hand  ab."  Zu  diesen  Engeln  oder 
„Kindern  Gottes"  (hoie  clohlmj,  wie  sie  Hieb  1  und  anderweit 
heifsen  und  den  Thron  Gottes  umgeben  oder  vor  ihm  in  Audienz 
erscheinen,  gehört  auch  der  Satan  (1:2b,  d.  i.  „Widersacher"), 
welcher  die  Aufgabe  hat,  die  Sünden  der  Menschen  zu  erspähen 
und  vor  Gottes  Angesicht  zu  bringen.  In  dieser  Rolle  erscheint 
er  Sacharja  3,  wo  er  vor  Jahve  tritt,  um  den  Hohenpriester 
Josua  zu  verklagen,  aber  zum  Schweigen  gebracht  wird,  und 
Hieb  Kap.  1 — 2,  wo  er  die  Rechtschaffenheit  Hiobs  vor  Gott 
anzweifelt,  und  von  diesem  die  Erlaubnis  erhält,  den  Hiob 
den  härtesten  Prüfungen  zu  unterwerfen.  Von  dem  Satan 
dieser  alttestamentlichen  Stellen,  welcher  ein  Diener  Gottes 
ist  und  die  allerdings  wenig  beneidenswerte  Aufgabe  hat,  als 
göttlicher  Staatsanwalt  die  Menschen  vor  Gott  zu  verklagen, 
ist  ein  grofser  Schritt  bis  zu  dem  Satan,  wie  er  im  Neuen 
Testament  dasteht,  als  Prinzip  und  Urheber  alles  Bösen  in 
der  Welt,  1.  Joh.  3,8:  „Wer  Sünde  tut,  der  ist  vom  Teufel, 
denn  der  Teufel  sündiget  von  Anfang."  Ein  solcher  Um- 
schwung in  der  Auffassung  des  Satan  ist  aus  einer  Fort- 
entwicklung der  althebräischen  Weltanschauung  nicht  zu  be- 
greifen, und  so  würden  wir,  um  ihn  zu  erklären,  das  Eingreifen 
eines  fremden  Elements  postulieren  müssen,  böte  nicht  dieses 
fremde  Element  sich  ganz  ungesucht  in  der  Weltanschauung 
^QV  Perser  dar,  denen  die  Juden  die  Rückkehr  aus  dem  baby- 
lonischen Exil  zu  danken  hatten,  und  mit  welchen  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  eine  traditionelle  Freundschaft  und 
ein  reger,  durch  den  Zusammenhang  der  palästinensischen  mit 
den  in  Babylonien  zurückgebliebenen  Juden  unterhaltener  Ver- 
kehr bestand.  Vergebens  protestierte  der  zweite  Jesaia  (oben 
S.  122)  gegen  die  ihn  umgebende  Weltanschauung  von  Ahura- 
mazda  und  Angramainyu  als  den  Beherrschern  der  Reiche 
des  anfanglosen  Lichts  und  der  anfanglosen  Finsternis;  diese 
Lehre  bot  zu  sehr  gerade  das,  was  dem  alten  Hebraismus 
fehlte,  um  nicht  von  dem  geistig  lebendigem  Teile  der  Juden 
als    eine  auf  die  materielle  Befreiung  durch  Kyros  folgende 


176 


VI.   Die  Religion  des  alten  Judentums. 


geistige  Befreiung  begrüfst'  zu  werden,  und  so  ist  es  ohne 
Zweifel  die  Lehre  von  Angramainyu,  durch  deren  Einflufs  der 
Satan  aus  einem  Engel  und  Diener  Gottes  zu  dem  wider- 
göttlichen Urprinzip  alles  Bösen  wurde.  Besonders  deutlich 
und  fast  mit  Händen  zu  greifen  ist  dieser  Einflufs  bei  dem 
Berichte  von  der  als  Sünde  angerechneten  Volkszählung  durch 
David,  welche  in  zwei  parallelen  Texten,  einem  altern  2.  Sam.  24 
und  einem  Jüngern  1.  Chron.  21,  mit  denselben  Worten  erzählt 
wird  bis  auf  den  Anfangsvers,  welcher  eine  sehr  charak- 
teristische Abänderung  erfahren  hat:  ' 


2.  Sam.  24,1 : 
Und  der  Zorn  des  Herrn  er- 
grimmte abermal  wider  Israel, 
und  reizte  David  unter  ihnen, 
dafs  er  sprach :  Gehe  hin,  zähle 
Israel  und  Juda. 


1.  Chron.  21,1: 
Und  der  Satan  stand  wider 
Israel,  und  gab  David  ein,  dafs 
er  Israel  zählen  liefs. 


Bedürfte  es  noch  eines  Beweises,  dafs  diese  Übertragung 
des  Bösen  von  Jahve  auf  den  Satan  durch  iranischen  Einflufs 
bedingt  ist,  so  würde  dieser  Beweis  schon  in  der  Tatsache 
liegen,  dafs  diejenigen  biblischen  Bücher,  welche,  wie  Daniel, 
Tobias.  Baruch  u.  a,,  ihrem  ganzen  Inhalte  nach  auf  Baby- 
lonien  hinweisen,  ganz  in  der  Weise  der  Avestalehre  den  Jahve 
von  einem  Hofstaate  guter  Engel,  hingegen  den  Satan  von 
emer  entsprechenden  Heerschar  böser  Dämonen  —  von  denen 
der  im  Buche  Tobias  die  Freier  der  Sara  tötende  Asmodäus 
(gleich  Acslima  Daeva,  S.  139)  sogar  einen  persischen  Namen 
trägt  —  umgeben  denken,  während  diejenigen  Apokryphen, 
welche,  wie  Judith  und  Sirach,  einen  palästinensischen  oder, 
wie  die  Weisheit  Salomonis,  einen  alexandrinischen  Charakter 
an  sich  tragen,  wenig  oder  gar  nichts  von  Dämonologie  ent- 
halten. 

Auch  im  Zeitalter  Jesu  huldigt  nur  der  fortschrittliche 
Teil  des  Volkes,  an  seiner  Spitze  die  Pharisäer,  dem  Glauben 
an  Engel  und  Teufel,  während  der  durch  die  Sadducäer  ver- 
tretene, konservativ  am  alten  Mosaismus  festhaltende  Teil  der 
Nation  die  Dämonologie  wie  auch  die  Unsterblichkeitslehre 
verwarf;  Apostelgesch.  23,8:   „Denn  die  Sadducäer  sagen,  es 


3.   Das  böse  rrinzip  neben  dem  guten.  177 

sei  keine  Aulerstehimg,  noch  Engel,  noch  Geist;  die  Pharisäer 
aber  bekennen  beides."  Während  die  Sadducäer  mit  ihrer 
alle  Neuerungen  ablehnenden  Haltung  besonders  unter  den 
Vornehmen  ihre  Anhänger  hatten,  zeigte  sich  zu  Jesu  Zeit  die 
Masse  des  Volkes  schon  von  jenen,  auf  iranischem  Einflüsse 
beruhenden  Vorstellungen  durchdrungen,  wie  sie  namentlich 
von  den  Pharisäern  vertreten  und  auch  von  Jesu  selbst  ge- 
teilt wurden.  Schon  oben  bei  Besprechung  der  iranischen 
FravasMs  oder  individuellen  Schutzgeister  wurde  erwähnt, 
dafs  der  Ausspruch  Jesu  in  betreff  der  Kinder,  Matth.  18,10: 
„Ihre  Engel  im  Himmel  sehen  allezeit  das  Angesicht  meines 
Vaters  im  Himmel",  in  den  althebräischen  Vorstellungen  keine 
Stütze  findet  und  somit  allem  Anscheine  nach  auf  iranischem 
Einflüsse  beruht;  wie  sehr  aber  andererseits  das  Bewufstsein 
Jesu  von  dem  Glauben  an  die  Existenz  „des  Teufels  und  seiner 
Engel"  (Matth.  25,41}  beherrscht  wird,  davon  legt  fast  jede 
Seite  der  Evangelien  Zeugnis  ab,  er  sieht  den  Satanas  vom 
Himmel  fallen  als  einen  Blitz  (Luc.  10,18),  warnt  die  Jünger  vor 
dem  Satan,  der  sie  sichten  möchte  wie  den  Weizen  (Luc.  22,31) 
und  bezeichnet  die  Mahnung  des  Petrus,  der  Meister  möge 
sich  nicht  in  Gefahr  begeben,  kurzweg  als  eine  Eingebung  des 
Teufels  (Matth.  16,23).  Wie  das  Böse  in  der  Welt,  so  führt 
Jesus  auch  das  Übel  auf  den  Satan  zurück  (Luc.  13,16);  er 
teilt  durchaus  die  volkstümliche  Ansicht,  dafs  gewisse  Krank- 
heiten, wie  namentlich  Wahnsinn  und  andere  neurasthenische 
Leiden,  die  man  sich  physisch  nicht  zu  erklären  wufste,  auf 
einer  Besessenheit  des  Kranken  von  einem  bösen  Dämon  be- 
ruhten, treibt  durch  sein  Wort  die  Teufel  aus,  aus  Maria 
Magdalena  sogar  deren  sieben  (Luc.  8,2,  Marc.  16,9),  und  ver- 
leiht dieselbe  Gabe  auch  seinen  Jüngern  (Matth.  10,8,  Marc. 
3,15  u.  a.).  Es  ist  durchaus  glaublich  und  auch  in  der  Gegen- 
wart nicht  ohne  Beispiel,  dafs  durch  ein  mächtiges,  mit  Glauben 
aufgenommenes  Wort :  „Ich  will  es,  sei  gesund ! "  in  derartigen 
Krankheiten  eine  vorübergehende,  vielleicht  auch  eine  dauernde 
Heilung  erreicht  werden  kann.  Dafs  solche  Heilwirkungen, 
von  Mund  zu  Mund  weitererzählt,  immer  mehr  den  Charakter 
des  Wunderbaren  annahmen,  ist  ganz  dem  Gesetz  der  Sagen- 
bildung in  allen  Ländern  und  Zeiten  entsprechend,  und  ebenso 

Detjssen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii.  12 


178  VI.   Die  Religion  des  alten  -Judentums. 

begreiflich  ist  es,  dafs  schliefslich  der  Volkshumor  sich  der- 
artiger Vorkommnisse  bemächtigte,  und  so  davon  zu  erzählen 
wufste,  wie  der  Herr  den  aus  zwei  Besessenen  ausgetriebenen 
Teufeln  erlaubt  habe,  in  eine  Herde  Säue  zu  fahren,  welche 
sich  sodann  mit  einem  Sturm  ins  (galiläische)  Meer  gestürzt 
habe  und  ertrunken  sei,  zur  grofsen  Befriedigung  aller  ortho- 
doxen, das  Schweinefleisch  verabscheuenden  Juden.* 

Als  charakteristisch  für  Jesu  Anschauung  von  den  Dä- 
monen mag  besonders  sein  Ausspruch  Matth.  12,43 — 45  (=  Luc. 
11,24 — 26)  erwähnt  werden:  „Wenn  der  unsaubere  Geist  von 
dem  Menschen  ausgefahren  ist,  so  durchwandelt  er  dürre 
Stätten,  suchet  Ruhe  und  findet  sie  nicht.  Da  spricht  er 
dann:  Ich  will  wieder  umkehren  in  mein  Haus,  daraus  ich 
gegangen  bin.  Und  wenn  er  kommt,  so  findet  er  es  müfsig, 
gekehret  und  geschmückt.  So  gehet  er  hin  und  nimmt  zu 
sich  sieben  andere  Geister,  die  ärger  sind  denn  er  selbst;  und 
wenn  sie  hineinkommen,  wohnen  sie  allda,  und  wird  mit  dem- 
selben Menschen  hernach  ärger,  denn  es  vorhin  war." 

Noch  mehr  an  die  oben  S.  140  fg.  mitgeteilten  iranischen 
Vorstellungen  erinnert  es,  wenn  der  Apostel  Paulus  das  sitt- 
liche Ringen  des  Menschen  als  einen  Kampf  gegen  die  in  der 
Welt  herrschenden  bösen  Geister  schildert;  Ephes.  6,11 — 12: 
„Ziehet  an  den  Harnisch  Gottes,  dafs  ihr  bestehen  könnet 
gegen  die  listigen  Anläufe  des  Teufels.  Denn  wir  haben  nicht 
mit  Fleisch  und  Blut  zu  kämpfen,  sondern  mit  Fürsten  und 
Gewaltigen,  nämlich  mit  den  Herren  der  Welt,  die  in  der 
Finsternis  dieser  Welt  herrschen,  mit  den  bösen  Geistern  unter 
dem  Himmel."  Wie  in  dieser  Stelle  wird  auch  2.  Kor.  4,4  der 
Teufel  als  der  Gott  dieser  Welt  bezeichnet. 

Mit  diesen  paulinischen  Anschauungen  stimmt  das  vierte 
Evangelium  überein,  in  welchem  wiederholt  (12,31.  14,30.  16,11) 
der  Teufel  als  „der  Fürst  dieser  Welt"  (6  apx«v  tou  xocfjiou 
TouTou)  bezeichnet  wird.  Schon  oben  S.  136  wurde  darauf 
hingewiesen,    wie    sehr    die    im   johanneischen    Evangelium 


*  Einen  andern  Eindruck  machte  diese  Erzählung  auf  ein  kleines 
Mädchen  in  England,  welches,  als  seine  mir  bekannte  Erzieherin  ihm  diese 
Geschichte  erzählte,  in  die  für  die  Denkungsart  und  Lebensgewohnheiten 
der  Nation  charakteristischen  Worte  ausbrach :   „  What  a  waste  of  bacon.^' 


3.  Das  böse  Prinzip  neben  dem  guten.  179 

herrschenden  Gegensätze  von  Licht  und  Finsternis  (1,5),  Wahr- 
heit und  Lüge  (8,44),  Leben  und  Tod  (5,24,  vgl.  1.  Joh.  3,14) 
an  die  entsprechenden  iranischen  Vorstellungen  erinnern. 

Wir  stehen  am  Endpunkte  einer  langen  Entwicklung;  sie 
reicht  von  der  althebräischen  Anschauung,  welche  das  Böse 
wie  das  Gute  auf  Gott  zurückführte,  bis  zu  der  Zeit,  wo  aUes 
Böse  und  schliefslich  die  ganze  empirische  Weltordnung  auf 
ein  gegengöttliches  Prinzip  zurückgeführt,  und  dadurch  erst 
ein  reiner  Gottesbegriff  gewonnen  wurde,  welcher  dieser  ganzen, 
im  Argen  liegenden  Welt  (1.  Joh.'5,19)  Gott  als  das  Prinzip 
der  Moralität,  d.  h.  der  auf  Selbstverleugnung  beruhenden 
Liebe  (dYocTCT]),  gegenüberstellt,  wie  es  zum  Ausdruck  kommt 
in  dem  herrlichen  Worte  1.  Joh.  4,16:  „Gott  ist  die  Liebe, 
und  wer  in  der  Liebe  bleibet,  der  bleibet  in  Gott  und 
Gott  in  ihm." 

4.  Die  Unsterblichkeit  der  Seele. 

Das  zweite  Grund  gebrechen  des  alten  Hebraismus  neben 
der  Belastung  Gottes  mit  der  Urheberschaft  des  Bösen  war 
das  oben  S.  119  als  Nihilismus  bezeichnete,  gänzliche  Fehlen 
eines  Glaubens  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  ohne  welchen 
eine  tiefere  religiöse  Auffassung  des  Daseins  nicht  möglich 
ist.  Denn  obgleich  das  moralische  Handeln  keineswegs  auf 
dem  Unsterblichkeitsglauben  beruht,  ja  sogar  Gefahr  läuft, 
verfälscht  zu  werden,  sobald  Furcht  und  Hoffnung  jenseitiger 
Vergeltung  das  Handeln  bestimmen,  obgleich  somit  die  Morali- 
tät den  Unsterblichkeitsglauben  nicht  als  eine  Voraussetzung 
bedarf,  so  bedarf  sie  ihn  doch  zu  ihrer  Interpretation,  da 
das  selbstverleugnende  Handeln  ohne  ein  Bewufstsein  unserer 
ewigen,  ansichseienden  Wesenheit  völlig  unverständlich  bleiben 
würde,  mithin  zu  seiner  Erklärung  ein  solches  Bewufstsein 
verlangt  und  auf  dasselbe  hinstrebt. 

Die  Hauptaufgabe  jeder  Eehgion,  die  ihren  Namen  ver- 
dient, ist  die  Zähmung  und  schliefslich  völlige  Überwindung 
des  Egoismus ;  dieser  aber  ist  mit  unserm  empirischen  Dasein 
so  gänzlich  verwachsen,  dafs  man  ihn  geradezu  als  dessen 
Wurzel  bezeichnen  kann.  Denn  als  empirische  Wesen,  als 
Erscheinungen  in  Raum,  Zeit  und  Kausalität  sind  wir  vermöge 

12* 


180  VI.  Die  Religion  des  alten  Judentums. 

der  Kausalität  unfrei,  in  allen  unsern  Handlungen  necessitiert, 
vermöge  der  Zeit  vergänglich,  haben,  wie  alles  in  der  Zeit, 
Anfang  und  Ende,  und  vermöge  des  Eaumes  egoistisch,  denn 
auf  der  räumlichen  Abgrenzung  der  Individuen  gegen  einander 
beruht  der  Unterschied  von  Ich  und  Nicht -Ich,  und  das 
Bewufstsein  dieses  Unterschiedes  ist  eben  der  Egoismus;  er 
ist  somit  die  Wurzel  unseres  empirischen  Daseins,  aus  welcher 
alle  unsere  Handlungen,  soweit  sie  empirisch  sind,  nach  dem 
Kausalitätsgesetze  mit  Notwendigkeit  entspringen.  Solange 
nun  der  Blick  auf  das  empirische  Dasein  eingeschränkt  ist, 
bleibt  die  religiöse,  in  reiner  Gerechtigkeit,  Nächstenliebe  und 
Entsagungen  aller  Art  sich  betätigende  Gesinnung,  so  sehr 
sie  auch  schon  vorhanden  sein  und  in  Taten  zum  Ausdrucke 
kommen  mag,  doch  völlig  unverständlich;  ein  Verständnis  und 
ihre  Interpretation  findet  sie  erst  in  dem  Mafse,  in  welchem 
wir  das  ganze  empirische,  im  Egoismus  wurzelnde  Dasein 
nicht  mehr  als  unser  eigentliches  Wesen,  sondern  als  blofse 
Schale  erkennen,  welche  unsere  wahre,  ansichseiende  Wesen- 
heit verhüllt,  und  durch  welche  der  metaphysische  Kern  unserer 
Natur  in  Taten  der  Moralität  zum  Durchbruche  kommt,  bis 
er  schliefslich  die  ganze  Schale  sprengt  und  dadurch  uns 
einem  Zustande  entgegenführt,  den  wir  nicht  kennen,  nicht 
verstehen,  und  von  dem  wir  blofs  wissen,  dafs  er  raumlos, 
also  sündlos,  kausalitätlos,  mithin  frei,  und  zeitlos,  somit  ohne 
Anfang  und  Ende  und  in  diesem  Sinne  unsterblich  ist. 

Nicht  also  aus  egoistischen  Gründen,  sondern  nur  um 
zum  Verständnis  seiner  selbst  zu  gelangen,  strebt  das  religiöse 
Bewufstsein  zum  Unsterblichkeitsglauben  hin,  und  diesem 
Streben  standen  auf  hebräischem  Boden  vermöge  des  semi- 
tischen, fest  in  der  Erscheinungswelt  und  ihren  Gesetzen  be- 
fangenen Realismus  (oben  S.  33  fg.)  so  grofse  Hindernisse  ent- 
gegen, dafs  dieselben  nur  durch  das  Eingreifen  einer  fremden, 
von  Haus  aus  idealistisch  gerichteten  Weltanschauung  über- 
wunden werden  konnten. 

In  denjenigen  alttestamentlichen  Schriften,  welche  vor 
der  nähern  Bekanntschaft  der  Israeliten  mit  der  persischen 
Religion  entstanden  sind,  ist  von  Unsterblichkeit  nirgendwo 
die  Rede.     Nach  dem  Tode,  nachdem  die  Menschen,  wie  der 


4,  Die  Unsterblichkeit  der  Seele.  181 

charakteristische  Ausdruck  lautet,  „zu  ihren  Vätern  versammelt 
sind",  führen  die  Abgeschiedenen  im  Hades  fscheolj  als 
Schatten  frcphälmj  ohne  Blut  und  Lebenskraft  fnepheschj  ein 
dumpfes,  freudeloses  Dasein,  in  welchem  sie  der  Oberwelt  wie 
dem  Einflüsse  Jahves,  der  sich  dann  zur  Vergeltung  nur  noch 
an  die  Nachkommen  halten  kann,  für  immer  entrückt  sind; 
Psalm  6,6:  „Denn  im  Tode  gedenket  man  deiner  nicht;  wer 
will  dir  in  der  Hölle  danken!"  Dementsprechend  werden 
die  beiden  Gesetzgebungen  in  den  Schlufskapiteln,  Deutero- 
nomium  28  und  Leviticus  26,  gekrönt  durch  eine  lange  Reihe 
von  Verheifsungen  und  Drohungen,  welche  sich  ohne  Aus- 
nahme nur  auf  das  irdische  Leben  und  seine  Verhältnisse  be- 
ziehen. Ebenso  findet  sich  bei  sämtlichen  Propheten  von  Amos 
bis  zu  Maleachi,  so  oft  dieselben  auch  Gelegenheit  nehmen, 
den  Frommen  Glück,  den  Übertretern  Unglück  in  Aussicht  zu 
stellen,  keine  Hindeutung  auf  ein  Fortleben  nach  dem  Tode. 
Denn  wenn  Jahve  Hosea  13,14  von  dem  sündigen  Ephraim 
ausruft:  „Sollte  ich  sie  aus  der  Gewalt  der  Unterwelt  befreien, 
sollte  ich  sie  vom  Tode  erlösen?  Wo  sind  deine  Seuchen, 
o  Tod?  Wo  sind  deine  Qualen,  o  Unterwelt?  Meine  Augen 
kennen  kein  Mitleid  mehr!"  —  so  steht  hier  der  angedrohten 
Verbannung  in  den  oben  erwähnten  scheol  ein  Fortleben  auf 
Erden,  nicht  aber  ein  solches  im  Jenseits  gegenüber;  und 
ebensowenig  kann  Ezechiel  Kap.  37  das  Feld  mit  den  toten 
Gebeinen,  welche  wieder  Leben  gewinnen,  von  etwas  anderm 
verstanden  werden,  als  von  einer  Neubelebung  der  im  Exil 
verdorrten  Nation,  wie  es  ja  Vers  11  ausdrücklich  besagt. 
Auch  einige  Stellen  der  Psalmen,  in  denen  man  ein  Auf- 
dämmern des  Unsterblichkeitsgedankens  finden  könnte,  sind 
zum  Teil  von  unsicherer  Deutung,  dazu  auch  undatierbar  und 
daher  möglicherweise  schon  unter  iranischem  Einflufs.  Solche 
Stellen  sind: 

Psalm  16,10:  „Denn  du  überlassest  mein  Leben  nicht  der 
Unterwelt,  gibst  nicht  zu,  dafs  dein  Frommer  die  Grube 
schaue." 

Psalm  17,15:  „Ich  aber  werde  um  meiner  Gerechtigkeit 
willen  dein  Angesicht  schauen,  werde  mich,  wenn  ich  er- 
wache, an  deiner  Gestalt  ersättigen!" 


182  VI.   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

Psalm  49,16:  „Aber  Gott  wird  meine  Seele  aus  der  Ge- 
walt der  Unterwelt  erlösen." 

Psalm  73,26:  „Wäre  gleich  mein  Fleisch  und  mein  Herz 
dahingeschwunden  —  Gott  ist  immerdar  meines  Herzens  Fels 
und  mein  Teil." 

Anders  als  mit  diesen  durchaus  zweifelhaften  Zeugnissen 
würde  es,  wenn  sie  vor  der  Kritik  bestehen  könnte,  mit  der 
bekannten  Stelle  Hieb  19,25 — 26  sich  verhalten,  welche  in 
Luthers  Übersetzung  lautet:  „Aber  ich  weifs,  dafs  mein  Er- 
löser lebt;  und  er  wird  mich  hernach  aus  der  Erde  auferwecken; 
und  werde  darnach  mit  dieser  meiner  Haut  umgeben  werden 
und  werde  in  meinem  Fleisch  Gott  schauen." 

Diese  Stelle,  welche  schon  Tausenden  zum  Tröste  ge- 
reicht, auch  zu  einem  bekannten  Kirchenliede  Anlafs  gegeben 
hat,  würde  nicht  nur  für  das  Fortleben  nach  dem  Tode,  sondern 
sogar  für  das  Dogma  von  der  Auferstehung  des  Fleisches 
Zeugnis  ablegen,  wenn  sie  nicht  auf  einem  kolossalen,  man 
möchte  sagen,  unverschämten  Übersetzungsfehler  beruhte  und 
nur  besagte,  dafs  Hiob  zuversichtlich  erwartet,  Gott  werde  ihn 
in  seiner  Not  nicht  im  Stiche  lassen,  vor  ihm  erscheinen,  auf 
der  Erde  vor  ihm  dastehen  (ü^p;  nsy-b?),  so  dafs  er  selbst 
nach  Zerstörung  seiner  Haut  in  dem  von  ihr  entblöfsten  Fleische 
noch  Gott  zu  schauen  hoffe.  Die  Septuaginta  hat  den  Über- 
setzungsfehler noch  nicht  (oI§a  yocp  oti.  devva6(;  sötw  6  IxXusiv 
[jis  [JisX);ov  iizl  yri<;  dvaaTTjcai  tö  SspiJ.a  p.o\>  t6  dvavxXouv  Taüra), 
erst  in  der  Vulgata  tritt  er  auf  (Scio  enim  quod  redeniptor 
mens  vivit,  et  in  novissimo  die  de  terra  surrecturiis  sum,  et 
rursiim  circumddbor  pelle  mea  et  in  carne  mea  videbo  Deum 
meumj^  von  welcher  ihn  dann  Luther  übernommen  haben  mag. 
Wörtlich  übersetzt,  wobei  allerdings  einiges  zweifelhaft  ist, 
lautet  die  Stelle:  „Aber  ich  weifs,  mein  Retter  lebt  und  wird 
zuletzt  hier  auf  dem  Boden  dastehn,  und  nachdem  meine  Haut 
in  dieser  Weise  zerstört  sein  wird,  selbst  aus  meinem  blofsen 
Fleische  heraus  werde  ich  Gott  schauen." 

Sicherer  als  alle  die  erwähnten  Stellen  spricht  von  einer 
Auferstehung  der  Toten  das  durch  Umkehr  der  Ziiffern  von 
Hiob  19,26  dem  Gedächtnis  sich  leicht  einprägende  Zitat 
Jesaia  26,19:  „Aufleben  werden  deine  Toten,  meine  Leichname 


4.  Die  Unsterblichkeit  der  Seele.  133 

auferstehn!  Wacht  auf  und  jubelt,  ihr  Bewohner  des  Staubes! 
Denn  ein  Tau  der  Pflanzen  ist  dein  Tau,  und  die  Erde  ge- 
biert die  Schatten  wieder."  Aber  diese  Jesaia- Stelle  gehört 
anerkanntermafsen  zu  einer  sehr  späten  Einschiebung  apoka- 
lyptischer Art  und  steht  allem  Anscheine  nach  schon  unter 
iranischem  Einflüsse.  Unzweifelhaft  ist  dieser  Einflufs  auf 
Daniel  12,  wo  die  Unsterblichkeitslehre,  und  zwar  in  der  bei 
den  Iraniern  üblichen  realistischen  Form  einer  Auferstehung 
von  den  Toten,  mit  voller  Deutlichkeit  vorgetragen  wird; 
Vers  2 :  „Und  Viele,  so  unter  der  Erde  schlafen  liegen,  werden 
aufwachen,  Etliche  zum  ewigen  Leben,  Etliche  zur  ewigen 
Schmach  und  Schande";  und  Vers  13:  „Du  aber,  Daniel,  gehe 
hin,  bis  das  Ende  komme,  und  ruhe,  dafs  du  aufstehest  in 
deinem  Teil  am  Ende  der  Tage!"  —  Dieselbe  Lehre  findet 
sich  in  dem  zur  palästinensisch -babylonischen  Gruppe  der 
Apokryphen  gehörigen  zweiten  Buche  der  Makkabäer,  wo  in 
Kap.  7  die  von  Antiochus  gemarterten  Brüder  in  dem  Glauben 
an  ihre  Auferstehung  Trost  finden. 

Sehr  wohl  zu  unterscheiden  von  dieser  realistischen  Form 
einer  Auferstehung  von  den  Toten  ist  die  unter  den  alexan- 
drinischen  Juden  aufkommende  und  auf  dem  Einflufs  der 
griechischen  Philosophie  beruhende  Lehre  von  der  Unsterblich- 
keit der  Seele,  wie  sie  von  Philo  Judaeus  (oben  II,  i,  S.  478)  und 
auch  im  Buche  der  Weisheit  (besonders  3,1  fg.)  vorgetragen 
wird,  welches  Kap.  8,19  die  Präexistenz  der  Seele  voraussetzt 
und  auch  die  platonische  Anschauung  vom  Körper  als  einer 
die  Seele  niederdrückenden  Last  teilt.  Kap.  9,15:  „Denn  der 
sterbliche  Körper  beschwert  die  Seele,  und  die  irdische  Hülle 
belastet  den  vieldenkenden  Geist." 

Wenig  oder  gar  nicht  berührt  von  diesen  iranischen  und 
alexandrinischen  Einflüssen  sind  diejenigen  Apokryphen,  welche, 
wie  Judith  und  Sirach,  durch  ihren  Inhalt  auf  rein  palästinen- 
sischen Ursprung  hinweisen  und,  wie  von  der  entwickelten 
Dämonologie,  so  auch  von  dem  Unsterblichkeitsglauben  keine 
sichern  Spuren  enthalten,  vielmehr  in  beiden  Punkten  bei 
der  althebräischen  Anschauung  verharren.  Auch  hier  zeigt 
sich  wieder,  dafs  der  Geist  der  neuen  Zeit  erst  allmählich  das 
Judentum  durchdrang.    Wie  in  der  Dämonologie,  so  huldigen 


184  VI>   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

auch  in  der  Auferstehungsfrage  die  Pharisäer,  und  was  ihnen 
nacheiferte,  zu  Jesu  Zeit,  der  auf . persischer  Einwirkung  be- 
ruhenden fortgeschrittenen  Anschauung,  wälirend  die  Sadducäer 
dem  alten  Mosaismus  getreu  bheben  und  weder  von  Engeln 
und  Dämonen,  noch  von  einem  Fortleben  nach  dem  Tode 
etwas  wissen  wollten.  Ihre  verfängliche  Frage,  wenn  ein 
Weib  sieben  Männer  gehabt  habe,  wessen  Weib  sie  in  der 
Auferstehung  sein  werde,  beantwortet  Jesus  Matth.  22,30  ganz 
entsprechend  seinen  Vorstellungen  von  den  idealen  Zuständen 
des  von  ihm  verkündigten  Himmelreiches,  sucht  aber  sodann 
das  Vorkommen  der  Auferstehungslehre  schon  im  mosaischen 
Gesetze  mit  einem  nicht  stichhaltigen  Argumente  zu  erweisen ; 
Matth.  22,31 — 32:  „Habt  ihr  aber  nicht  gelesen  von  der  Toten 
Auferstehung,  dafs  euch  gesagt  ist  von  Gott,  da  er  spricht: 
Ich  bin  der  Gott  Abrahams,  und  der  Gott  Isaaks,  und  der 
Gott  Jakobs  (2.  Mos.  3,6)?  Gott  aber  ist  nicht  ein  Gott  der 
Toten,  sondern  der  Lebendigen."  Folglich,  so  müssen  wir 
sohliefsen,  sind  Abraham,  Isaak  und  Jakob  noch  jetzt  lebendig. 
Da  dieser  Schlufs  ein  Kleben  an  dem  Buchstaben  des  Schrift- 
wortes voraussetzt,  wie  es  sonst  Jesu  Art  nicht  war  (vergleiche 
besonders  den  schönen  Zug  in  der  synoptischen,  dem  vierten 
Evangelium  eingelegten,  Erzählung  von  der  Ehebrecherin, 
Joh.  8,6,  wogegen  rhetorische  Hyperbeln  wie  Matth.  5,18  nichts 
bedeuten),  wohl  aber  den  Sadducäern  eigen  sein  mochte,  so 
könnte  man  hier  ein  blofses  argumentum  ad  liominem  vermuten, 
ein  Ausweg,  der  jedoch  wenig  für  sich  hat.  Sicher  steht  aber, 
dafs  Jesus,  in  diesem  Punkte  mit  den  Pharisäern  überein- 
stimmend, durchaus  an  der  Unsterblichkeit  in  der  iranischen 
Form  einer  Auferstehung  der  Toten  festhielt,  zugleich  aber  an 
der  althebräischen  Vergeltungslehre,  nur  dafs  er  die  Ver- 
geltung des  Guten  und  Bösen  in  das  Jenseits  verlegte,  wo- 
durch er  dem  Widerspruch  mit  der  Erfahrung  (oben  S.  124) 
entging,  und  zunächst  an  Stelle  des  althebräischen  immanenten 
ein  transscendenter  Eudämonismus  trat,  wie  dies  die 
häufigen  Wendungen  in  den  Reden  Jesu:  „Es  wird  euch 
im  Himmel  wohl  belohnet  werden"  und:  „Sie  haben  ihren 
Lohn  dahin"  deutlich  beweisen.  Ob  wir  freilich  in  der  Er- 
zählung Luc.  16,19  fg.  von  dem  reichen  Mann,  dessen  Schuld 


4.  Die  Unsterblichkeit  der  Seele,  185 

nur  in  seinem  Reichtum,  und  dem  armen  Lazarus,  dessen  Ver- 
dienst nur  in  seinem  Elend  zu  liegen  scheint,  ein  Stück  echter 
Überlieferung  oder  nicht  vielmehr  eine  Legende  aus  der  Zeit 
der  ersten  Christenheit  vor  uns  haben,  das  hängt  von  der 
schwer  zu  beantwortenden  Frage  ab,  inwieweit  schon  Jesus 
solche  sozialistische  Tendenzen,  wie  sie  ihm  das  dritte  Evan- 
gelium zuschreibt,  vertreten  habe.  Nach  Luc.  6,20  fg.  hätte 
Jesus  die  Armen,  Hungernden,  Weinenden  selig  gepriesen  und 
über  die  Reichen,  Satten,  Lachenden  sein  Wehe  ausgesprochen, 
aber  ein  Vergleich  mit  den  Seligpreisungen  der  Bergpredigt 
und  andern  Stellen  der  altern  Evangelien,  wie  auch  der  ganze 
Charakter  Jesu  läfst  vermuten,  dafs  er  zu  sehr  in  dem  Ewigen 
wurzelte,  zu  gering  über  die  Erden  weit  und  ihre  Interessen 
dachte,  als  dafs  wir  ihm  solche  volksbeglückende  und  anti- 
plutokratische  Tendenzen  zuschreiben  möchten,  welche  von 
«iner  gewissen  Richtung  seiner  Nachfolger,  allerdings  in 
Anknüpfung  an  gelegentliche  Aufserungen  Jesu,  entwickelt 
worden  sind. 

Das  Dogma  von  der  Auferstehung  der  Toten  hatte  ge- 
bildeten Griechen  gegenüber  einen  schweren  Stand.  Vor  ihnen 
sucht  der  Apostel  Paulus  1.  Kor.  15  diese  anstöfsige  Lehre 
zu  sublimieren,  indem  er,  anknüpfend  an  das  Bild  vom  Samen- 
korn, welches  durch  göttliche  Kraft  zur  Pflanze  wird,  den 
irdischen  Leib  (cöjxa  4'^X''^o^)  unterscheidet  von  dem  geist- 
lichen Leibe  der  Auferstehung  (awfxa  TCvsujjLaTixov)  und  diesen 
Gegensatz  in  tiefsinniger,  aber  nicht  sehr  durchsichtiger  Weise 
kombiniert  mit  seiner  Grundanschauung  von  dem  natürhchen 
Menschen  (av^pwTuo?  ^\>yi>i6Q)  und  dem  durch  die  Wiedergeburt 
erstehenden  geistlichen  Menschen  (av'ä^pwTco?  7rv£\j[jiaTcx6c),  von 
dem  wir  später  zu  handeln  haben  werden,  1.  Kor.  15,42 — 47: 
„Es  wird  gesäet  werweslich,  und  wird  auferstehen  unverweslich. 
Es  wird  gesäet  in  Unehre,  und  wird  auferstehen  in  Herrlich- 
keit. Es  wird  gesäet  in  Schwachheit,  und  wird  auferstehen 
in  Kraft.  Es  wird  gesäet  ein  natürlicher  Leib,  und  wird  auf- 
erstehen ein  geistlicher  Leib.  Es  gibt  einen  natürlichen  Körper, 
und  es  gibt  einen  geistlichen  Körper.  Wie  es  geschrieben 
stehet:  Der  erste  Mensch,  Adam,  ist  gemacht  in  das  natür- 
liche Leben;  und  der  letzte  Adam  in  das   geistliche  Leben. 


IQQ  VI.   Die  Religion  des  alten  Judentums. 

Aber  der  geistliche  Leib  ist  nicht  der  erste,  sondern  der  natür- 
hche,  darnach  der  geisthche.  Der  erste  Mensch  ist  von  der 
Erde,  und  irdisch;  der  andere  Mensch  ist  der  Herr  im  Himmeh" 
Im  vierten  Evangelium  erscheint  der  Auferstehungs- 
glaube schon  als  volkstümliche  Ansicht  (11,24);  für  die  eigene 
Anschauung  des  Evangelisten  genügt  es,  an  die  Worte  5,28 — 29 
zu  erinnern:  „Verwundert  euch  defs  nicht.  Denn  es  kommt 
die  Stunde,  in  welcher  Alle,  die  in  den  Gräbern  sind,  werden 
seine  Stimme  hören;  und  werden  hervorgehen,  die  da  Gutes 
getan  haben,  zur  Auferstehung  des  Lebens,  die  aber  Übels 
getan  haben,  zur  Auferstehung  des  Gerichts." 

5.  Die  Messiasidee. 

Der  Begriff  des  Himmelreichs  (ßaai>^s[a  töv  oupavwv) 
ist  uns  von  Kindheit  an  so  geläufig,  dafs  wir  seine  kolossale 
Paradoxie  und  die  in  ihm  liegende  contradiotio  in  acljedo  nicht 
leicht  bemerken.  Aber  welche  Vorstellung  man  sich  auch  von 
den  Zuständen  im  Jenseits  machen  oder  nicht  machen  mag, 
jedenfalls  haben  sie  nicht  die  mindeste  Ähnlichkeit  mit  den 
Reichen  dieser  Welt,  wie  sie  auf  den  Egoismus  sich  gründen 
und  nur  im  Kampfe  gegen  feindliche  Elemente  nach  innen 
und  aufsen  sich  erhalten  können.  Wenn  dasjenige ,  w^as  in 
der  brahmanischen  Religion  als  Erlöschen  in  Brahman  {brahma- 
nirvänamj\  in  der  buddhistischen,  mit  Verstümmelung  dieses 
Wortes,  als  ein  Erlöschen  fnirvanamj,  und  vom  allgemeinen 
religiösen  Bewufstsein  als  ewige  Seligkeit  bezeichnet  wird,  im 
Neuen  Testament  nach  Analogie  der  ihm  völlig  heterogenen 
Weltreiche  als  Himmelreich  benannt  zu  werden  pflegt,  so 
hat  dieser  seltsame  Name  seinen  Grund  in  den  besondern 
Schickungen  des  israelitischen  Volkes,  auf  welche  wir  hier 
kurz  zurückblicken  müssen. 

Schon  dem  David  war  2.  Sam.  7,13  verheifsen  worden, 
dafs  sein  Reich  von  ewiger  Dauer  sein  solle,  und  diese  Hoff- 
nung wurde  von  den  Israeliten  mit  der  ihnen  eigenen  Zähig- 
keit auch  in  den  trübsten  Zeiten  festgehalten.  Diese  trüben 
Zeiten  begannen  schon  mit  der  Spaltung  des  Reiches  nach 
Salomos  Tode,  steigerten  sich  in  den  Zeiten  der  assyrischen, 


5.  Die  Messiasidee.  187 

babylonischen,  persischen,  ptolemäischen  und  selcucidischen 
Fremdherrschaft  und  setzten  sich,  nach  kurzen  Unterbrechungen 
durch  die  Makkabäerzeit,  in  der  Bedrückung  des  Volkes  durch 
die  Römer  bis  zur  völligen  Auflösung  des  jüdischen  Volks- 
tums fort.  Eine  Erklärung  dieses  Elends  suchte  man  in  den 
nie  fehleaden  Versündigungen  des  Volkes,  da  nach  der  alt- 
hebräischen Vergeltungslehre  nicht  nur  jede  Frömmigkeit  zum 
Glück,  jede  Übertretung  der  Gebote  zum  Unglück  führt,  sondern 
auch  umgekehrt  jeder  glückliche  Zustand  auf  ein  vorher- 
gehendes Wohlverhalten ,  jedes  Hereinbrechen  von  Unglück 
auf  eine  begangene  Versündigung  mit  Sicherheit  zu  schliefsen 
erlaubte.  Schon  die  alten  Propheten  waren  unermüdlich  be- 
flissen, alles  Mifsgeschick  ihres  Volkes  als  Strafe  für  seinen 
Abfall  von  Gott  zu  erklären,  und  eben  dieselben  stellten  für 
eine  Bekehrung  zu  Jahve  als  Lohn  ein  goldenes  Zeitalter  in 
Aussicht.  Dann  wird  ein  Herrscher  aus  dem  Stamme  Davids, 
aus  Bethlehem  Ephrata  (Micha  5,1),  das  Volk  frei  und  grofs 
und  glücklich  machen,  alle  Völker  der  Erde  werden  ihm  ihre 
Huldigung  darbringen,  ja  auch  die  ganze  Ordnung  der  Natur 
wird  eine  umgekehrte  werden;  Jesaia  11,6 — 8:  „Die  Wölfe 
werden  bei  den  Lämmern  wohnen,  und  die  Pardel  bei  den 
Böcken  liegen.  Ein  kleiner  Knabe  wird  Kälber  und  junge 
Löwen  und  Mastvieh  mit  einander  treiben.  Kühe  und  Bären 
werden  an  der  Weide  gehen,  dafs  ihre  Jungen  bei  einander 
liegen;  und  Löw^en  werden  Stroh  essen  wie  die  Ochsen.  Und 
ein  Säugling  wird  seine  Lust  haben  am  Loch  der  Otter,  und 
ein  Entwöhnter  wird  seine  Hand  stecken  in  die  Höhle  des 
Basilisken," 

Aber  die  verheifsenen  glücklichen  Zeiten  blieben  aus,  auch 
dann  noch,  als  die  Gemeinde  der  Juden  seit  ihrer  Eückkehr 
aus  dem  Exil  sich  einem  Gesetzeskultus,  strenger  als  er  je 
vorher  gewesen,  ergab.  Vielmehr  wurden  die  Zustände  immer 
unerträglicher;  auf  den  Löwen  (Babylonien)  folgten  Bär  und 
Parder  (das  modisch -persische  Reich),  auf  sie  das  Tier  mit 
den  zehn  Hörnern  (Alexander  und  die  Diadochen)  und  dem 
elften  Hörn  (Antiochus  Epiphanes);  aber  ihnen  war  Zeit  und 
Stunde  gesetzt,  ihre  Macht  wurde  gebrochen,  und  was  dann 
folgt,  schildert  Daniel  7,lß — 14:  „Und  siehe,  es  kam  einer  in 


188  VI.  Die  Religion  des  alten  Judentums. 

des  Himmels  Wolken,  wie  eines  Menschen  Sohn,  bis  zu  dem 
Alten,  und  ward  vor  denselbigen  gebracht.  Der  gab  ihm  Ge- 
walt, Ehre  und  Reich,  dafs  ihm  alle  Völker,  Leute  und  Zungen 
dienen  sollten.  Seine  Gewalt  ist  ewig,  die  nicht  vergehet, 
und  sein  Königreich  hat  kein  Ende." 

Hier  ist  ein  höchst  merkwürdiger  Umschwung  zu  erkennen. 
Der  Verfasser,  durch  so  viele  Schicksalsschläge  belehrt,  ver- 
zweifelt an  einer  Besserung  der  politischen  Zustände.  Er  setzt 
seine  Hoffnung  auf  das  nahe  bevorstehende  Weltende.  Der 
so  oft  vergebens  erwartete  irdische  König  oder  Messias  ist 
zu  einem  menschenähnlichen,  aber  in  den  Wolken  des  Himmels 
erscheinenden  himmlischen  Messias,  das  erhoffte  irdische  Welt- 
reich ist  zu  einem  Himmelreich  (ßaaiXsia  rwv  oüpavöv)  geworden. 

Dafs  dieser  Umschwung,  die  Umwandlung  des  irdischen 
Messias  in  einen  himmlischen,  des  erwarteten  Erdreiches  in 
ein  Himmelreich,  wesentlich  durch  iranischen  Einflufs  mit- 
bedingt ist,  dürfte  sich  daraus  unzweifelhaft  ergeben,  dafs 
1.  das  auch  in  seiner  Dämonologie  und  Auferstehungslehre 
iranischen  Einflufs  bekundende  Buch  Daniel,  und  nur  dieses, 
unter  den  Schriften  des  Judentums  diese  Vergeistigung  der 
Messiasidee  enthält,  2.  das  Erscheinen  dieses  himmlischen 
Messias,  ganz  wie  in  Iran,  mit  der  Auferstehung  der  Toten 
und  dem  Ende  aller  Dinge  verbunden  erscheint,  wie  denn 
auch  viele  einzelne  Züge  an  das  oben  S.  142  fg.  geschilderte 
Auftreten  des  QaosJiyang  erinnern,  und  endlich  3.  ganz  wie 
bei  der  oben  besprochenen  Dämonologie  und  Auferstehungs- 
frage, so  auch  in  der  Auffassung  des  Messias  als  eines  himm- 
lischen Königs  das  palästinensische  Judentum  noch  auf  dem 
alten  Standpunkte  verharrte  und  nach  wie  vor  auf  einen  irdi- 
schen Messias  hoffte,  der  das  Volk  vom  Druck  der  Römer- 
herrschaft befreien  sollte.  Dafs  auch  ein  Teil  der  Jünger  Jesu 
diesen  materiellen  Hoffnungen  huldigte,  scheint  aus  Luc. 
24,21,  Apostelgesch.  1,6  hervorzugehen.  Wie  Jesus  selbst 
über  das  Messianische  Reich  dachte,  wird  später  zu  unter- 
suchen sein. 


1.  Quellen  zur  Geschichte  Jesu.  189 


VII.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

1.  Quellen  zur  Geschichte  Jesu. 

,An  der  Geschichtlichkeit  der  Person  Jesu  kann  nur  ein 
Narr  zweifeln.  Der  Tatbestand  des  neutestamentlichen  Schrift- 
tums ebenso  wie  die  erste  Genesis  des  Christentums  bleiben 
völlig  unerklärlich,  wenn  man  nicht  als  Urheber  der  ganzen 
Bewegung  einen  historischen  Jesus,  von  welcher  Art  er  auch 
immer  gewesen  sein  mag,  voraussetzt.  Wer  aufserdem  noch 
greifbare  Beweise  für  die  geschichtliche  Existenz  der  Person 
Jesu  verlangt,  der  wäre  zu  verweisen  auf  die  bekannten  Zeug- 
nisse des  Sueton  und  des  Tacitus. 

C.  Suetonius  Tranquillus  berichtet  im  „Leben  des 
Kaisers  Claudius"  von  diesem  cap.  25:  ludaeos  impulsore 
Chresto  assidue  tumtdtuantis  Borna  expnlit:  „Er  verbannte  die 
Juden  aus  Rom,  weil  sie  auf  Anstiften  eines  gewissen  Chrestus 
fortwährend  Unruhen  erregten." 

Der  Verfasser,  von  welchem  Sueton  diese  Notiz  über- 
nommen hat,  war  offenbar  sehr  wenig  orientiert.  Die  Streitig- 
keiten zwischen  den  in  Rom  lebenden  Juden  mit  der  eben- 
daselbst neuentstandenen  Christengemeinde  hält  er  für  eine 
Zänkerei  der  Juden  unter  einander,  als  deren  Anstifter  er 
einen  gewissen  Chrestus  bezeichnet,  den  sich  der  Verfasser 
allem  Anscheine  nach  als  zur  Zeit  des  Claudius  in  Rom  lebend 
dachte.  Der  Verfasser  war  also  über  das,  was  er  erzählt, 
sehr  mangelhaft  unterrichtet.  Aber  gerade  diese  Unkenntnis 
der  nähern  Verhältnisse  bürgt  uns  dafür,  dafs  hier  keine 
Fälschung  vorliegt,  dafs  zwischen  den  Juden  und  der  aus 
ihnen  hervorgegangenen  Partei  der  Christen  Streitigkeiten 
bestanden,  und  dafs  dabei  ein  gewisser  Christus,  dessen  Namen 
der  Verfasser  in  das  ihm  geläufigere  Chrestus  verwandelte, 
die  Hauptrolle  spielte,  dessen  Autorität  die  eine  Partei  an- 
erkannte, während  die  andere  sie  verwarf.  Wir  haben  also 
hier  das  Zeugnis  eines  unparteiischen,  der  Sache  sehr  gleich- 
gültig gegenüberstehenden  Römers  dafür,  dafs  schon  unter 
Claudius  (41 — 54  p.  C.)   in  Rom  eine  von  den  übrigen  Juden 


190  "^II-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

sich  absondernde  Gemeinde  bestand,  welche  Christus  als  ihr 
Haupt  betrachtete. 

Cornelius  Tacitus  erzählt  Annalen  15,44,  wie  Nero 
nach  dem  Brande  Roms,  um  den  Verdacht  von  sich  abzu- 
wälzen, diejenigen  beschuldigt  und  mit  den  ausgesuchtesten 
Strafen  belegt  habe,  welche  beim  Volke  wegen  ihrer  Schand- 
taten verhafst  (per  flagitia  invisosj  waren  und  den  Namen 
Christen  (ChristianiJ  führten.  Er  fährt  fort:  Auetor  nommis 
eius  Christus  Tiberio  imperitante  per  procuratorem  Pontium 
Pilatum  supplicio  affectus  erat;  repressaque  in  praesens  exi- 
tiabilis  superstitio  rursum  erumpehat,  non  modo  per  ludceam, 
originem  eius  mali,  sed  per  urhem  etiam,  quo  cuncta  undique 
atrocia  aut  pudenda  conßuunt  celehranturque ,  „der  Urheber 
dieses  Namens,  Christus,  wurde  während  der  Regierung  des 
Tiberius  durch  den  Prokurator  Pontius  Pilatus  mit  dem  Tode 
bestraft;  aber  der  für  den  Augenblick  unterdrückte,  verderb- 
liche Aberglaube  brach  wieder  aus,  nicht  nur  in  Judäa,  wo 
dieses  Übel  entsprungen  war,  sondern  auch  in  Rom,  wo  von 
überallher  alles  Scheufsliche  und  Schamlose  zusammenströmt 
und  verherrlicht  wird".  Für  die  Echtheit  dieser  Stelle  bürgt 
nicht  nur  ihr  in  jedem  Worte  unverkennbares  und  fast  un- 
nachahmliches taciteisches  Gepräge,  sondern  auch  die  ein- 
fache Überlegung,  dafs  sie  nicht,  wie  die  bekannte  Stelle  des 
Josephus  Antiq.  18,3,3,  von  Christen  eingefälscht  sein  kann, 
da  sie  ja  in  hohem  Grade  christenfeindlich  ist;  wollte  aber 
jemand  sich  zu  der  Behauptung  versteigen,  sie  sei  von  den 
Gegnern  des  Christentums  interpoliert  worden,  so  würde 
die  Stelle  bei  dieser  übrigens  sehr  unwahrscheinlichen  An- 
nahme dieselbe  Beweiskraft  für  die  historische  Existenz  Jesu 
behalten. 

Im  übrigen  sind  wir  für  die  Geschichte  Jesu  als  Quelle 
fast  ausschliefslich  auf  die  vier  Evangelien  des  Matthäus, 
Marcus,  Lucas  und  Johannes  beschränkt,  deren  Bezeichnung 
als  xaxa  MaT'^aiov,  Mdpxov,  Aouxav,  loavvTjv,  da  diese  Männer 
nicht  Urheber  der  „frohen  Botschaft"  sind,  sondern  über  die- 
selbe nur  berichten  wollen,  durchaus  nicht  gegen  die  Autor- 
schaft der  vier  Schriften  durch  die  Apostel  Matthäus  und 
Johannes  und  die  Apostelschüler  Marcus   und  Lucas   zeugen 


1.  Quellen  zur  Geschichte  Jesu.  191 

würde,  stünden  nicht  dieser  Autorschaft  aus  andern  Gründen 
die  schwersten  Bedenken  entgegen. 

Was  zunächst  das  vierte  Evangehum  betrifft,  so  werden 
wir  ihm  weiter  unten  eine  besondere  Betrachtung  widmen. 
Wir  werden  in  ihm  eine  in  ihrer  Art  wundervolle  Exemplifika- 
tion der  durch  Jesus  und  Paulus  geschaffenen  Christusgestalt 
der  Kirche  an  einem  mit  freier,  genialer  Konzeption  entworfenen 
Leben  Jesu  erkennen,  und  begnügen  uns  hier  mit  der  Be- 
merkung, dafs  jeder,  welcher  den  Erzählungen  und  Reden 
dieses  Evangeliums  irgendwelchen  historischen  Wert  einräumt, 
sich  dadurch  die  Möglichkeit  verschliefst,  über  die  vielleicht 
einzig  in  der  ganzen  Weltgeschichte  dastehende  Persönlich- 
keit Jesu  ein  authentisches  Bild  zu  gewinnen,  wozu  uns  die 
drei  ersten  Evangelien  weit  mehr  urkundliches  Material  dar- 
bieten, als  es  vielen  scheinen  mag. 

Allerdings  ist  nicht  daran  zu  denken,  Matthäus,  Marcus 
und  Lucas,  wie  sie  uns  vorliegen,  ohne  weiteres  als  glaub- 
würdige Zeugen  zu  betrachten,  aber  die  beiden  erstgenannten 
sind  doch  Fortbildungen  zweier  Urschriften,  über  welche  uns 
nur  das  unsichere  Zeugnis  des  Papias  erhalten  ist. 

Papias,  Bischof  von  Hierapolis  in  Phrygien,  gestorben 
163  p.  C.  und  angeblich  noch  ein  Schüler  des  Apostels  Johannes, 
berichtet  in  dem  bei  Eusebius  (Hist.  eccl.  III,  40)  erhaltenen 
Fragment  einer  verloren  gegangenen  Schrift  folgendes*: 

Ma.x'ZGdQC,  [}.h  ouv  eßpatSt,  ^iocasxtw  xa  \cyic(.  auvsypd^iaTO* 
'^pfj.'iqvsyas  5s  auxa  6c  ^v  Suvaxo?  'i'/.r/.axoQ.  „Matthäus  also  hat 
in  hebräischer  (d.  h.  aramäischer)  Sprache  die  Reden  (des 
Herrn)  verfafst;  es  erklärte  sie  aber  ein  jeder,  so  gut  er  konnte." 

Mapxo?  epjJLTjvsux'ir)?  IIsxpou  yevc'xsvoc,  3aa  s[Ji,vrjpt,6v£U(j£v,  dxpt- 
ßö^  eypa^'sv,  oh  {j-svxot,  xd^et,  xd  6x0  xcü  Xpiaxoö  t]  Xsx'^svxa  t] 
Tcpax^svxa*  oöxs  ydp  TJxouas  xoü  xupcou,  oüxs  7i:aprjXoXoi)'3"r]asv 
aux«,  uaxepov  5s  IIsxp«,  o^  irpöi^  xd^  X.9^'^'^^  iizoizlzo  tolc,  5t.5aaxa- 
\lac;,  ou)r  «aTcsp  öuvxalw  xöv  x\jpt.axwv  7üo!,oi)[j.£vo(;,  Xoyiov'  ogxs 
oüSsv  vj'xapxs  Mdpxo^,  ouxcoc;  svia  ypd'j'ac,  ^Q  dTC£[j.v'r][x6v£i)C£v. 
''Ev6(;  ydp  £7roiT]aaxo  Tüp6vo(.av,  xoö  (JLifjSsv  öv  -»^xouas  TrapaXtxstv, 
T]  vjjsuaac'^ai  xi,  sv  auxotc-  „Marcus  war  ein  Dolmetscher  des 
Petrus  und  hat  genau  aufgezeichnet  alles,  woran  er  sich 
erinnerte,  jedoch  nicht  in  der  Reihenfolge,  wie  es  von  Christus 


X92  VII-   lieben  und  Lehre  Jesu. 

sei  es  gesagt  oder  getan  worden  war;  denn  er  hatte  ja  den 
Herrn  weder  gehört,  noch  war  er  ihm  nachgefolgt,  sondern 
nur  späterhin  dem  Petrus,  welcher  die  Lehrvorträge  je  nach 
dem  Bedürfnis  einrichtete,  nicht  aber  in  der  Absicht,  eine 
chronologische  Darstellung  der  Denkwürdigkeiten  des  Herrn 
zu  veranstalten,  so  dafs  den  Marcus  kein  Vorwurf  trifft,  wenn 
er  einiges  in  der  Reihe  aufschrieb,  wie  er  sich  daran  erinnerte. 
Denn  nur  auf  Eines  war  er  bedacht,  dafs  er  nichts  weglief s, 
was  er  gehört  hatte,  und  nichts  hinzuerfand." 

Zunächst  ist  klar,  dafs  die  beiden  von  Papias  erwähnten 
Urschriften,  welche  wir  Urmatthäus  und  Urmarcus  nennen 
wollen,  nicht  identisch  mit  unserm  Matthäus  und  Marcus  sein 
können,  da  unser  Matthäus  nicht  aus  dem  Aramäischen  über- 
setzt, sondern  ursprünglich  schon  griechisch  geschrieben  worden 
ist,  wie  er  ja  auch  weit  mehr  enthält  als  die  Reden  des  Herrn, 
vielleicht  begleitet  von  ihrem  Anlafs,  von  dem  Papias  be- 
richtet; ebensowenig  deckt  sich  der  Urmarcus,  bei  dem  nach 
dem  Zeugnisse  des  Papias  die  chronologische  Anordnung 
mangelte,  mit  unserm  Marcus,  welcher  von  der  Taufe  durch 
Johannes  anfangend  den  Aufenthalt  in  Galiläa,  die  Flucht  vor 
Herodes  in  die  Tetrarchie  des  Phihppus  und  die  Reise  nach 
Jerusalem  nebst  Leiden,  Sterben  und  Auferstehung  geschicht- 
lich zusammenhängend  und  im  wesentlichen  übereinstimmend 
mit  Matthäus  und  Lucas  erzählt.  Bei  dieser  Lage  der  Sache 
läfst  sich  dem  sehr  unbequemen  Dilemma  nicht  entgehen,  dafs 
Papias  entweder  unsern  Matthäus  und  Marcus  noch  gar  nicht 
gekannt  hat,  oder,  falls  er  sie  kannte,  in  ihnen  nicht  den  echten 
Matthäus  und  Marcus,  von  denen  er  berichtet,  anerkennen 
konnte.  Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  haben  wir  in  Urmatthäus 
und  Urmarcus  die  ersten  Keime  zu  unserm  Matthäus  und 
Marcus  zu  sehen,  nur  dafs  zwischen  den  Evangelien  des 
Papias  und  den  unserigen  vieles  liegen  mufs,  was  uns  leider 
verloren  ist,  nicht  nur  an  mündlichen  Traditionen,  sondern 
auch  an  Schriftwerken.  Die  Berichte  bei  Matthäus,  Marcus 
und  Lucas  stimmen  vielfach  bis  aufs  Wort  dermafsen  überein, 
dafs  wir  eine  allen  dreien  gemeinsame,  direkt  oder  indirekt 
von  ihnen  benutzte,  in  griechischer  Sprache  geschriebene 
Quelle,  wir  wollen  sie  das   Synoptik on  nennen,  annehmen 


1.   Quellen  zur  Geschichte -Jesu.  X93 

müssen,  welche  verloren  gegangen  ist,  aber  sich  einigermafsen 
aus  Matthäus,  Marcus  und  Lucas  herausschälen  läfst  und  nur 
das  allen  dreien  Gemeinsame  enthielt,  nicht  aber  das,  was 
bei  einem  von  den  dreien  fehlt;  denn  es  ist  nicht  anzunehmen, 
dafs  spätere  Bearbeiter  irgend  etwas  von  dem,  was  dieses  von 
ihnen  als  Autorität  anerkannte  und  benutzte  Synoptikon  ent- 
hielt, fallen  liefsen,  es  sei  denn  aus  dogmatischen  Gründen, 
wie  denn  der  so  anstöfsige  Ausruf  Jesu  am  Kreuze:  „Mein 
Gott,  mein  Gott,  warum  hast  du  mich  verlassen",  in  welchem 
man  eine  Verzweiflung  an  seiner  ganzen  Lebensaufgabe  finden 
konnte,  sicher  echt  und  bei  Matthäus  und  Marcus  aufbewahrt 
ist,  während  Lucas  ihn  wegliefs,  weil  er  zu  den  von  ihm  aus 
andern  Quellen  berichteten  Worten  am  Kreuze  nicht  pafste. 
Unser  Synoptikon  ist  weder  mit  dem  Urmarcus,  von  dem  es 
sich  schon  in  der  Anordnung  unterschieden  haben  mul's, 
noch  mit  unserm  Marcus  identisch,  welcher  viele,  meist  aus- 
schmückende Zusätze  enthält,  die  bei  Matthäus  und  Lucas 
fehlen.  Neben  diesem  Synoptikon  mufs  es  noch  eine  reiche 
mündliche  Tradition,  wahrscheinlich  auch  noch  andere  schrift- 
liche Aufzeichnungen  gegeben  haben,  aus  deren  Zusammen- 
fassung und  Verschmelzung  mit  ihm  nach  und  nach  unsere 
drei  synoptischen  Evangelien  entstanden  sind.  Der  Prozefs 
im  einzelnen  wird  sich  schwerlich  in  einer  allgemein  be- 
friedigenden Weise  hypothetisch  rekonstruieren  lassen,  und 
nur  soviel  läfst  sich  von  unsern  drei  Evangelien  mit  einiger 
Sicherheit  behaupten,  dafs  Matthäus  aus  einer  Verschmelzung 
des  Synoptikon  mit  der  von  Papias  erwähnten  Eedenquelle 
hervorgegangen  ist  und  dabei  im  allgemeinen  nach  unserm 
Gefühl  das  Synoptikon  treuer  wiedergibt  als  Marcus,  da  die 
diesem  eigenen  anschaulichen  Züge  weit  eher  aus  späterer 
Ausschmückung  als  aus  Ursprünglichkeit  sich  erklären,  treuer 
auch  als  Lucas,  welcher  gleichfalls  Redenquelle  und  Synoptikon 
benutzt  haben  mufs,  aber  die  bei  Matthäus  noch  in  grofsen 
Komplexen  erhaltene  Redenquelle  zerstückelte  und  sie  den 
Begebenheiten,  nicht  immer  mit  Geschick,  einflocht.  Eigen- 
tümlich sind  dem  Matthäus  die  geflissentlichen  Nachweisungen 
der  Erfüllung  der  alttestamentlichen  Weissagungen,  wie  schon 
daraus  ersichtlich,  dafs  sie  die  Schriftstellen  aus  dem  hebräischen 

Deussen.  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii.  j^3 


194  ^11.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

Grundtext  übersetzen,  während  das  Synoptiken  und  so  auch 
Matthäus,  soweit  er  ihm  folgt,  nach  der  Septuaginta  zitiert. 
Ein  besonderer  Vorzug  des  Lucas  sind  die  ihm  allein  eigenen 
schönen  Parabeln  Vom  barmherzigen  Samariter,  verlorenen 
Sohn  u.  a.,  welche  bei  allem  ethischen  Werte  doch  einen  andern 
Charakter  als  die  echten  Gleichnisse  Jesu  tragen,  so  dafs  sie 
wohl  eher  der  im  Sinne  des  Meisters  dichtenden  ersten  Christen- 
gemeinde zuzuschreiben  sein  dürften. 

2.  Leben  und  Wirken  Jesu. 

Eine  Marmorstatue,  ein  herrliches  Götterbild,  von  bar- 
barischen Händen  zertrümmert,  viele  wesentliche  Teile  ver- 
schleppt und  unwiederbringlich  verloren,  das  Übrige  ohne 
Zusammenhang,  mit  fremden  Bruchstücken  untermischt  und 
ungeschickt  verbunden,  dazu  das  Ganze  durch  erdartige 
Schichten  verdeckt  und  überglast,  —  das  etwa  ist  der  Ein- 
druck, mit  welchem  wir  den  Überlieferungen  vom  Leben  und 
Wirken  Jesu  gegenüberstehen.  Einem  solchen  Material  gegen- 
über genügt  es  nicht,  mit  philologischer  Akribie  die  Texte  zu 
vergleichen  und  ihren  Wert  gegen  einander  abzuwägen,  viel- 
mehr müssen  wir  auf  einen  Künstler  hoffen,  welcher  imstande 
wäre,  mit  kongenialem  Blick  das  Verlorene  zu  ergänzen  und 
aus  den  Trümmern  das  Götterbild,  aus  dem  noch  Vorhandenen 
das  ursprüngliche  Ganze  wiederherzustellen. 

Der  schlimmste  Feind  der  historischen  Überlieferung  war 
dabei  das  bald  nach  Jesu  Hinscheiden  sich  einstellende  Be- 
dürfnis, den  zum  Himmel  entrückten  Sohn  Gottes  und  Messias 
gläubig  zu  verehren  und  alles,  was  die  Propheten  des  Alten 
Bundes  von  ihm  geweissagt  hatten  oder  gevveissagt  zu  haben 
schienen,  als  in  Erfüllung  gegangen  durch  Jesum  Christum 
zu  betrachten. 

Wie  sehr  ein  solches  Herzensbedürfnis,  so  berechtigt  es 
in  seiner  Art  sein  mag,  dem  nicht  weniger  berechtigten 
Wunsche,  das  Geschehene  mit  historischer  Treue  zu  bewahren, 
zerstörend  entgegensteht,  kann  man  am  besten  in  Palästina 
beobachten,  wo  fast  jede  historische  Kunde,  soweit  sie  über- 
haupt noch  vorhanden  sein   mochte,  verdunkelt  und  erstickt 


2.   Leben  und  Wirken  Jesu.  195 

worden  ist  durch  das  Streben  der  Gläubigen,  die  heiligen 
Orte,  oder  was  man  dafür  hielt,  in  Stätten  der  Verehrung  um- 
zuwandeln. In  Jerusalem  zeigt  man  uns  noch  heute  alles, 
was  wir  wünschen  können,  das  Fenster  der  Burg,  aus  welchem 
König  David  die  Bathseba  erblickte,  die  via  dolorosa  mit  dem 
^cce-/jo;no- Bogen  vmd  allen  übrigen  Einzelheiten,  die  Stelle, 
von  wo  der  Hahn  krähte,  als  Petrus  seinen  Herrn  verleugnete, 
ja  wohl  gar  noch  den  Baum,  an  welchem  Judas  sich  erhängt 
haben  soll.  Das  alles  ist  ja  spätere  Erfindung,  und  wo  wir 
an  einem  Orte  stehen,  der  Anspruch  darauf  hat,  der  echte  zu 
sein,  da  ist  er  durch  jenes  Bedürfnis  der  Verehrung  entstellt 
und  seines  ursprünglichen  Charakters  beraubt  worden.  Wo 
wir  im  Kidrontale  Gethsemane  erwarten,  da  finden  wir  einen 
von  den  Franziskanern  umhegten  und  sorgsam  gepflegten 
Blumengarten,  während  tiefer  unten  im  w^asserlosen  Kidron- 
tale noch  die  uralten  Ölbäume  stehen,  welche  uns  eine  Vor- 
stellung ermöglichen  von  der  letzten  Nacht,  die  der  Herr  mit 
seinem  Jüngern  verbrachte;  der  Olberg,  von  dem  er  auf 
Jerusalem  herniederblickte,  ist  durch  einen  Aussichtsturm  und 
prunkvolle  Kirchenbauten  entstellt;  und  suchen  wir  die  Grabes- 
kirche auf,  welche  in  ihrem  riesigen  Umfang,  sehr  fraglich 
ob  mit  Recht,  die  Stätte  der  Kreuzigung,  der  Salbung  des 
Leichnams  und  als  Mittelpunkt  das  heilige  Grab  selbst  um- 
schliefst, da  finden  wir  statt  des  letztern  ein  Tempelchen  mit 
Bank  und  Fufsboden  aus  Marmor,  welche  die  Möglichkeit 
geben,  zu  knien,  zu  beten,  den  Boden  zu  küssen,  aber  an  eine 
in  die  Felsen  gehauene  Grabkammer  mit  einer  kleinen  seitlichen 
Öffnung,  welche  durch  Vorwälzung  eines  mühlsteinartigen 
Blockes  verschlossen  werden  konnte  —  wie  deren  noch  manche 
in  der  Umgegend  von  Jerusalem  vorhanden  sind  — ,  nicht 
entfernt  mehr  erinnern.  Und  kommt  man  nach  Bethlehem, 
steigt  in  die  Krypta  der  grofsen  Marienkirche  herab  und  liest 
in  der  Geburtskapelle  auf  dem  Marmorboden  um  den  silbernen 
Stern  herum  die  grofse,  welthistorische  Inschrift:  Hlc  devirgine 
Maria  Icsiis  Christus  natus  est,  so  Avird  man  auch  dann  von 
dem  Eindruck  mächtig  ergrifi'en  werden,  wenn  man  nicht  in 
der  Lage  ist,  Bethlehem  als  Geburtsort  Jesu  anerkennen  zu 
können. 

13* 


196  VII.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

Jesus  stammte  notorisch  aus  Nazareth,  einem  kleinen  Land- 
städtchen in  Gahläa,  20  Kilometer  westlich  vom  Südende  des 
Sees  Genezareth,  und  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch 
dort  geboren.  Aber  als  der  Messias  mufste  er  nach  Micha  5,1 
aus  Bethlehem  Ephrata  stammen,  und  die  Legende  schlägt 
zu  diesem  Ende  in  den  beiden  Kindheitsberichten  bei  Matthäus 
und  Lucas  verschiedene  Wege  ein.  Nach  Lucas  wohnen  die 
Eltern  ursprünglich  in  Nazareth  und  sollen  bei  Gelegenheit 
des  nach  Verbannung  des  Archelaus  vom  syrischen  Legaten 
P.  Sulpicius  Quirinius  im  Jahre  7  p.  C,  wo  Jesus  schon  min- 
destens sieben  Jahre  alt  war,  veranstalteten  Census  infolge 
einer  bei  der  geordneten  römischen  Verwaltung  ebenso  un- 
denkbaren wie  unsinnigen  Mafsregel  gezwungen  worden  sein, 
die  weite  Reise  von  Nazareth  nach  Bethlehem  zu  machen,  nur 
um  dort,  wo  niemand  sie  kannte,  ihren  Namen  in  die  Schätzungs- 
liste eintragen  zu  lassen,  weil  die  Vorfahren  von  Joseph  tausend 
Jahre  vorher  dort  gewohnt  hatten. 

Einen  andern  Weg  schlägt  die  bei  Matthäus  erhaltenem  Sage 
ein.  Nach  ihr  wohnen  die  Eltern  ursprünglich  in  Bethlehem, 
wie  daraus  mit  Sicherheit  hervorgeht,  dafs  nach  ihrer. Rück- 
kehr aus  Ägypten  ausdrücklich  motiviert  wird,  warum  sie 
nicht  nach  Bethlehem  zurücldiehren,  sondern  „in  ejne  Stadt, 
die  da  heifst  Nazareth"  übersiedeln.  Dafs  Herodes  aus  Furcht 
vor  einem  neugeborenen  Knäblein  alle  Kinder  unter  ^wei 
Jahren  in  Bethlehem  und  Umgegend  habe  umbringen  lassen, 
ist  trotz  seines  argwöhnischen  und  zu  Grausamkeiten  geneigten 
Charakters  nicht  weniger  widersinnig  als  die  bei  Lucas  zu- 
grundeliegende Fiktion  der  Nötigung  zu  einer  weiten  Reise, 
nur  um  sich  zensieren  zu  lassen. 

Als  Beweis  der  Abstammung  Jesu  von  David  führen  die 
beiden  genannten  Berichte  zwei  Stammbäume  vor,  von  denen 
der  bei  Matthäus  das  Geschlecht  Jesu  bis  auf  Abraham,  der 
bei  Lucas  dasselbe  sogar  bis  auf  Adam  zurückführt.  Ohne  uns 
bei  den  willkürlichen  Konstruktionen  und  Widersprüchen  dieser 
beiden  Geschlechtsregister  aufzuhalten,  wollen  wir  nur  daran 
erinnern,  dafs  sie  nicht  in  Maria,  sondern  in  Joseph  auslaufen, 
TÖv  avSpa  MoLgloLQ,  wie  Matthäus  bemerkt,  während  Lucas  ein 
6c  svo[j.i'^£To  u[6?  'I«cifj9  einschiebt.     Sollen  diese  durch  müh- 


2.   Leben  und  Wirken  Jesu.  197 

same  Konstruktionen  gewonnenen  Stammbäume  nicht  ganz 
widersinnig  sein,  so  müssen  sie,  abgesehen  von  den  erwähnten 
Zusätzen,  aus  einer  Zeit  herrühren,  wo  man  von  einer  über- 
natürhchen  Zeugung  noch  nichts  wufste,  sondern  Jesum  ein- 
fach für  einen  Sohn  des  von  David  stammenden  Joseph  hielt. 
Diese  Anschauung  hegt  auch  noch  den  Worten  des  Apostels 
Paulus  zugrunde,  wenn  er  Röni;  1,3  sich  als  einen  Diener  Jesu 
bezeichnet,  toü  yevo[j.svou  ey,  GTrepjj.aroc;  AaßlS  xaTa  aapx.a*  xoO 
bgia^hxQC,  uloö  ©soü  Iv  5uva[j.£!,,  y.a,xd(.  7rvsij[j.a  dY!.«aiJV7]C,  s^  dva- 
CTda^wi:  vsxpwv,  „der  geboren  ist  von  dem  Samen  Davids, 
nach  dem  Fleisch,  und  kräftiglich  erwiesen  ein  Sohn  Gottes, 
nach  dem  Geist,  der  da  heiliget,  seit  der  Zeit  er  auferstanden 
ist  von  den  Toten".  Aus  dem  Gegensatze  xard  adpxa  und 
y.axd  TTvsüjj.oc  sowie  aus  dem  Ausdruck  Ix  CKigixoLzoQ  AaßcS 
geht  für  jeden,  der  sehen  will,  klar  hervor,  dafs  Paulus  von 
der  übernatürlichen  Zeugung  noch  nichts  wufste.  Sie  ist  die 
Frucht  einer  volkstümlichen  Neigung,  geistige  Verhältnisse 
ins  Konkrete  zu  übersetzen  und  dadurch  fafslicher  zu  machen, 
ähnlich  wie  man  in  Indien  dem  Gotte  Brahman,  weil  es  Rig- 
veda  10,81,3  heilst: 

~     „Allseitig  Auge  uud  allseitig  Antlitz, 
Allseitig  Arme  ;und  allseitig  Fufs", 

in  späterer  Zeit  viele  Gesichter  und  Arme  andichtete.  Es  ist 
daher  aus  der  .christlichen  Legende  durchaus  kein  Grund  dafür 
zu  entnehmen,  dafs  Jesus  nicht  das  Kind  seiner  beiden  Eltern, 
des  Joseph  und  der  Maria,  gewesen  sei. 

Wer  heutzutage  Nazareth  als  den  Ort,  wo  Jesus  höchst- 
wahrscheinlich geboren  wurde  und  wo  er  jedenfalls  die  Zeit 
seiner  Jugend  verbrachte,  mit  hochgespannten  Erwartungen 
besucht,  der  wird  einen  ähnlichen  Eindruck  empfangen  wie 
die  Besucher  von  Stratford  on  Avon,  als  dem  Geburts-  und 
Heimatsorte  Shakespeares,  nämlich  den  Eindruck  der  Ver- 
wunderung darüber,  wie  ein  so  grofser,  in  seiner  Art  welt- 
beherrschender Genius  die  erste,  für  die  Entwicklung  einflufs- 
reichste  Periode  seines  Lebens  fern  von  dem  Treiben  der 
grofsen  Welt  in  einer  kleinen  Provinzialstadt  verbringen 
konnte,  welche  sich  durch  nichts  vor  hundert  ähnlichen  aus- 


198  VII.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

zeichnet.  Dies  scheint  zu  beweisen,  dafs  der  Genius  zu  dem, 
was  er  selbst  mitbringt,  keiner  besonders  starken  Anregungen 
von  aufsen  bedarf,  und  dafs  vielmehr  das  Treiben  einer  Grofs- 
stadt  wegen  der  Überfülle  der  Eindrücke  den  jungen  Geist 
eher  zur  Oberflächlichkeit  verleiten  und  daher  auf  seine  Ent- 
wicklung ungünstig  einwirken  kann.  Und  so  fand  denn  auch 
Jesus  in  dem  kleinen,  dem  Alten  Testament  ganz  unbekannten 
Nazareth  alles,  was  er  zum  Aufbau  seines  geistigen  Lebens 
bedurfte,  und  was  sich  in  seinen  Eeden  so  lebensvoll  wider- 
spiegelt, den  blauen  Himmel  und  die  schöne  galiläische  Land- 
schaft mit  ihren  blühenden  Gärten,  ihren  Ol-  und  Feigen- 
bäumen. Hier  konnte  er  die  Vögel  unter  dem  Himmel  und 
die  Lilien  auf  dem  Felde  beobachten,  freilich  auch  die  Menschen- 
welt mit  ihren  perversen  Neigungen,  und  frühe  schon  mag  er 
seine  pessimistischen  Anschauungen  über  „die  böse  und  ehe- 
brecherische Art,  die  Narren  und  Blinden"  und  die  blinden 
Leiter  dieser  Blinden,  die  Pharisäer  und  Schriftgelehrten,  „die 
Heuchler,  die  Schlangen,  das  Otterngezücht",  eingesogen  haben. 
Ob  er  vor  seinem  öffentlichen  Auftreten  im  dreifsigsten  Jahre 
weit  über  Nazareth  hinaus,  namentlich  auch  nach  Jerusalem 
gekommen  ist,  mufs  zweifelhaft  bleiben.  Die  Apostel  datieren 
ihre  Kenntnis  von  Jesu  und  die  Predigt  über  ihn  erst  von  der 
Taufe  durch  Johannes  an  (vgl.  die  Anfangsworte  des  Marcus 
und  Apostelgesch.  1,21— 22  und  10,37),  und  aus  der  Zeit  vor- 
her haben  wir  nur  die  anmutige,  nach  Art  des  Lucas  jeden- 
falls stark  ausgeschmückte  Erzählung  vom  zwölfjährigen  Jesu 
im  Tempel,  welcher  nicht  nur  das  Bedenken  entgegensteht, 
dafs  alle  andern  Berichterstatter  davon  nichts  wissen,  sondern 
auch  das  Verhalten  seiner  Nazarether  Mitbürger  und  besonders 
auch  das  seiner  eigenen  Familie  dem  spätem  Auftreten  Jesu 
gegenüber,  welches  schon  hier  zur  Sprache  kommen  mag. 

Wie  Sokrates  der  Sohn  eines  Bildhauers  oder  richtiger 
w^ohl  Steinmetzen,  Kant  der  eines  Sattlermeisters,  so  war  auch 
Jesus  der  Sohn  eines  Handwerkers,  eines  einfachen  Zimmer- 
manns, und  hat  nach  Marc.  6,3  das  Zimmermannshandwerk 
auch  selbst  betrieben.  Vom  Vater  ist,  abgesehen  von  den 
Kindheitssagen,  weiter  nicht  mehr  die  Rede,  vielleicht  w^eil 
er  frühzeitig  verstorben  war,  die  Mutter  Maria  wird  von  den 


2.  Leben  und  Wirken  Jesu.  199 

Synoptikern  nur  selten  erwähnt  und  scheint  sich  nicht  über 
das  o-ewöhnhche  Niveau  der  einfachen  Büro-erfrauen  ihres 
Landes  und  Zeitalters  erhoben  zu  haben.  Ihrer  Ehe  sind  nach 
Jesu  Geburt  noch  vier  Söhne,  Jacobus,  Joses,  Simon  und 
Judas,  sowie  einige  Töchter  entsprossen,  und  bei  dieser  zahl- 
reichen Familie  mochte  ein  öfteres  Reisen  zum  Feste  nach 
Jerusalem  schwierig  und  eine  Lebensführung  in  den  einer 
einfachen  Handwerkerfamilie  gesteckten  Grenzen  geboten  sein. 
Sonach  wird  die  Jugendbildung  Jesu,  abgesehen  von  dem  Ein- 
druck der  ihn  umgebenden  anschaulichen  Welt  und  der  grofson 
Natur  in  seinem  Innern,  wesentlich  auf  das  Studium  des  Alten 
Testaments  und  den  etwa  daran  anknüpfenden  rabbinischen 
Schulunterricht  beschränkt  geblieben  sein,  und  eine  gewisse 
Enge  seines  Gesichtskreises  läfst  sich  bei  aller  Gröfse  und 
Tiefe  seiner  Anschauungen  nicht  verkennen.  Die  Geschichte 
der  Welt  mit  Ausnahme  dessen,  was  er  aus  dem  Alten  Testa- 
ment schöpfen  konnte,  scheint  ihm  fern  geblieben  zu  sein. 
Seine  so  sinnreichen  Reden  und  Gleichnisse  von  den  Reichen 
dieser  Welt  und  ihrer  Herrlichkeit,  von  den  Königen .  und  den 
sie  umgebenden  Grofsen  beweisen  nur,  dafs  ihm  diese  Kreise 
des  Lebens  fremd  geblieben  sind,  und  während  Johannes  der 
Täufer  doch  mit  dem  Hofleben  des  Herodes  Antipas  in  Zu- 
sammenhang gebracht  wird,  scheint  Jesus  dessen  Hauptstadt 
Tiberias  bei  seinen  zahlreichen  Wanderungen  in  Galiläa  nie 
betreten  zu  haben.  Von  einem  Interesse  Jesu  für  bildende 
Kunst,  Poesie  und  Musik  ist  nirgendwo  die  Rede;  als  seine 
Jünger  ihn  auf  die  Herrlichkeit  des  herodianischen  Tempels 
(oben  S.  158)  bewundernd  aufmerksam  machten,  hatte  er  als 
Antwort  nur  düstere  Zukunftsahnungen.  Schon  früh  scheint 
der  Gedanke  an  seine  grofse  Mission,  den  Menschen  die  Nähe 
des  Himmelreichs  zu  verkünden,  alle  andern  Interessen  zurück- 
gedrängt zu  haben,  woraus  auch  das  Verhalten  gegenüber 
seiner  Familie  sich  erklärt,  welche  ebenso  wie  die  Bürger  seiner 
Heimatstadt  für  seine  grofse  Aufgabe  kein  Verständnis  hatte. 
Ein  Besuch,  w^elchen  er  während  der  Periode  seiner  Wirk- 
samlveit  in  den  verschiedenen  Orten  Galiläas  seiner  Heimat- 
stadt Nazareth  machte,  endete  daher  mit  einem  Mifserfolg, 
Marc.  6,1 — 5:  „Und  er  ging  aus  von  dannen  und  kam  in  seine 


200  ^'^il-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

Vaterstadt;  und  seine  Jünger  folgeten  ihm  nach.  Und  da  der 
Sabbat  kam,  hub  er  an  zu  lehren  in  ihrer  Schule.  Und  viele, 
die  es  höreten,  verwunderten  sich  seiner  Lehre  und  sprachen: 
«Woher  kommt  Dem  solches?  und  was  Weisheit  ists  die  ihm 
gegeben  ist,  und  solche  Taten,  die  durch  seine  Hände  ge- 
schehen? Ist  er  nicht  der  Zimmermann,  Maria  Sohn  und  der 
Bruder  Jakobi,  und  Joses,  und  Judä,  und  Simonis?  Sind 
nicht  auch  seine  Schwestern  allhier  bei  uns?»  Und  sie  ärgerten 
sich  an  ihm.  Jesus  aber  sprach  zu  ihnen :  «  Ein  Prophet  gilt 
nirgend  weniger,  denn  im  Vaterlande  und  daheim  bei  den 
Seinen.»  Und  er  konnte  allda  nicht  eine  einzige  Tat  tun; 
ohne,  wenigen  Siechen  legte  er  die  Hände  auf  undheilete 
sie."  —  Von  einem  höchstwahrscheinlich  spätem  Vorgang, 
der  sich  zu  Kapernaum  im  Hause  des  Petrus  abspielte,  be- 
richtet Marc.  3,20 — 35:  „Und  sie  kamen  nach  Hause.  Und 
da  kam  abermals  das  Volk  zusammen,  also,  dafs  sie  nicht 
Kaum  hatten  zu  essen.  Und  da  die  Seinigen  es  gehört,  gingen 
sie  aus,  ihn  zu  ergreifen,  denn  sie  sagten:  Er  ist  von  Sinnen 
(s^sax'/],  was  Luther  allzu  wohlwollend  übersetzt:  Er  wird 
von  Sinnen  kommen)  ...  Es  kommen  nun  seine  Brüder  und 
seine  Mutter  und  standen  draufsen,  schickten  zu  ihm  und 
liefsen  ihn  rufen,  und  das  Volk  safs  um  ihn.  Und  sie  sprachen 
zu  ihm:  Siehe,  deine  Mutter  und  deine  Brüder  draufsen  fragen 
nach  dir.  Und  er  antwortete  ihnen  und  sprach:  Wer  ist 
meine  Mutter  und  meine  Brüder?  Und  er  sah  ringsum  auf 
die  Jünger,  die  mit  ihm  im  Kreise  safsen,  und  sprach:  Siehe, 
das  ist  meine  Mutter  und  meine  Brüder.  Denn  wer  Gottes 
Willen  tut,  der  ist  mein  Bruder,  und  meine  Schwester,  und 
meine  Mutter." 

Aus  diesen  spätem  Vorgängen  dürfen  wir  schliefsen,  dafs 
Jesus  seine  Jugend  in  Nazareth  zubrachte,  ohne  dafs  seine 
Mitbürger  oder  auch  seine  eigene  Familie  ein  Verständnis 
hatten  für  die  grofsen  Gedanken,  die  ihn  innerlich  bewegten 
und  an  dem  Studium  der  Schriften  des  Alten  Testaments 
allmählich  zur  Reife  kamen.  Vor  allem  war  es  das  Buch 
Daniel,  welches  er,  dessen  historische  Beziehung  auf  Antiochus 
Epiphanes  verkennend,  auf  seine  eigene,  unter  der  Herrschaft 
der  Römer  und  Herodianer  schmachtende  Zeit  bezog,  so  dafs 


2.   Lcbcii  und  Wirken  Jesu.  201 

er  im  Ansclilufs  an  die  Weissagungen  dieses  Buches  einen 
baldigen  Ablauf  der  vier  Weltreiche  und  das  ewige  Messia- 
nische  Reich  nebst  dem  Weltende  and  der  Auferstehung  der 
Toten  erwartete.  Und  als  er  hörte,  dafs  in  Judäa  am  untern 
Laufe  des  Jordan  ein  Prophet  aufgetreten  sei,  welcher  unter 
grol'sem  Zulauf  die  Nähe  des  von  Daniel  geweissagten  Himmel- 
reichs verkündete,  die  Menschen  aufforderte,  Bufse  zu  tun? 
und  sie'  als  Symbol  der  Reinigung  von  ihren  Sünden  im  Jordan 
taufte,  da  liefs  es  ihn  nicht  länger  in  seiner  Heimat,  und  er 
machte  sich  auf  nach  dem  gleichfalls  dtem  Herodes  gehörigen 
Peräa,  um  dort  den  neuen  Propheten  kennen  zu  lernen. 

Das  Auftreten  Johannes  des  Täufers  scheint  weder  in 
näherm  Zusammenhang  zu  stehen  mit  den  Nasiräern,  an 
welche  nur  seine  Kindheitslegende  erinnert,  noch  auch  mit 
den  Essenern,  mit  deren  Geheimhaltung  der  Lehren,  drei- 
jährigem strengen  Noviziat  und  Enthaltung  von  Fleisch- 
nahrung vielmehr  sein  offenes  Predigen  zu  allen,  sofortiges 
Vornehmen  der  Taufe  und  gelegentliches  Essen  von  Heu- 
schrecken in  entschiedenem  Widerspruch  steht.  Umsomehr 
erinnert  sein  Gebaren  an  das  der  Propheten,  namentlich  der 
alten,  noch  nicht  schriftstellernden,  eines  Elias  und  Elisa:  wie 
sie  trägt  er  einen  härenen  Mantel  und  ledernen  Gürtel  und 
scheut  sich  nicht,  mit  Gefahr  seines  Lebens  dem  A^olke  wie 
den  Fürsten  derbe  Wahrheiten  zu  sagen;  wie  sie  liebt  er 
drastische  Bilder  von  der  Wurfschaufel  und  der  Axt,  die  den 
Bäumen  an  die  Wurzel  gelegt  ist,  und  auch  darin  gleicht  er 
ihnen,  dafs  er  den  Gedanken,  welcher  ihn  bewegt,  durch  eine 
äufsere  Manipulation,  die  Taufe,  veranschaulicht. 

Ob  die  Taufe  der  Proselyten  schon  in  vorchristlicher  Zeit 
von  den  Juden  geübt  wurde,  ist  ja  zweifelhaft,  doch  ist  nicht 
eben  wahrscheinlich,  dafs  sie  diesen  Ritus  erst  von  den  ver- 
hafsten  Christen  übernommen  haben  sollten.  Wie  dem  auch  sei, 
jedenfalls  ist  das  Taufen  durch  Johannes  in  ähnlichem  Sinne  zu 
verstehen  wie  die  Proselytentaufe  durch  die  Juden.  Wie  durch 
sie  der  Proselyt  aus  dem  Heidentum  zum  Judentum  übertrat 
und  gleichsam  einen  neuen  Menschen  anzog,  so  wird  bei 
Johannes  die  Taufe  zum  Symbol  der  Sinnesänderung,  welche 
er  beim  Herannahen  des  Himmelreiches  durch  seine  Predigt 


202  ^11-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

fordert:  ij.eTavcitiTs,  YH^y-^  Y^p  vj  ßacusta  t«v  oupavöv,  „tut 
Bufse  (wörtlich,  ändert  euren  Sinn),  denn  das  Himmelreich 
ist  nahe  herbeigekommen".  Der  paradoxe  Begriff  eines  himm- 
lischen Messiasreiches  weist  unverkennbar  zurück  auf  das 
Buch  Daniel  als  seinen  Ursprung,  Da  das  Messiasreich  und 
mit  ihm  Auferstehung,  Weltgericht  und  Weltende  auch  nach 
den  Zeiten  des  Antiochus  Epiphanes  immer  noch  auf  sich 
w^arten  liefs,  so  lag  es  nahe,  unter  dem  vierten  Tier  unhistorisch 
das  römische  Weltreich  zu  verstehen,  und  mancher  unter  der 
Bedrückung  durch  die  Römer  seufzende  Jude  wird  Trost  ge- 
funden haben  in  den  Worten  Daniel  7,13:  „Ich  sähe  in  diesem 
Gesicht- des  nachts:  und  siehe,  es  kam  Einer  in  des  Himmels 
Wolken,  wie  eines  Menschen  Sohn,  bis  zu  dem  Alten;  und 
ward  vor  denselbigen  gebracht.  Der  gab  ihm  Gewalt,  Ehre 
und  Reich,  dafs  ihm  alle  Völker,  Leute  und  Zungen  dienen 
sollten.  Seine  Gewalt  ist  ewig,  die  nicht  vergehet,  und  sein 
Königreich  hat  kein  Ende."  Das  hier  verheifsene  Himmel- 
reich erscheint  doch  zugleich  als  ein  ewiges  Reich  auf  Erden, 
und  man  kann  zweifelhaft  sein,  in  welcher  von  beiden  Formen 
Johannes  der  Täufer  sich  das  Himmelreich  vorstellte,  dessen 
Herannahen  er  verkündigte,  und  als  dessen  Vorläufer,  als  den 
Jesaia  40,3  verkündigten  Prediger  in  der  Wüste  er  sich  selbst 
betrachtet  haben  mag. 

Zu  diesem  Prediger  in  der  Wüste  kam  also  auch  Jesus 
und  liefs  sich  von  ihm  taufen,  ein  Vorgang,  den  die  Legende 
in  ihrer  Weise  ausgeschmückt  hat.  über  den  Verkehr  Jesu 
mit  Johannes  wdssen  wir  nichts;  nach  dem  glaubwürdigen  Zeug- 
nisse bei  Matth.  4,12,  Marc.  1,14  blieb  er  bei  Johannes  bis  zu 
dessen  Verhaftung,  also  möglicherweise  längere  Zeit;  die 
Austerität  in  Fasten  und  Gebetsübungen  der  Johannesjünger 
hinderte  ihn,  sich  diesen  anzuschliefsen,  er  kehrte  nach  Galiläa 
zurück,  um  in  freierm  -and  tieferm  Geiste  das  Werk  des  ge- 
fangenen Propheten  fortzusetzen;  an  ihn  anknüpfend,  aber 
ohne  auf  die  äufsere  Zeremonie  der  Taufe  Wert  zu  legen,  fing 
auch  er  an  zu  predigen:  „Tut  Bufse,  denn  das  Himmel- 
reich ist  nahe  herbeigekommen." 

Über  das  Schicksal  Johannes  (Tes  Täufers  gibt  es  zwei 
Berichte,  welche  schwier  in  Einklang  zu  bringen  sind.     Nach 


2.  Leben  und  Wirken  Jesu.  20;> 

Josephus  hätte  Herodes  ihn  aus  Furcht,  dal's  er  das  Volk  auf- 
A\  iegehi  konnte,  in  der  Festung  Machärüs  (östHch  vom  Toten 
Meer)  gefangen  setzen  und  hinricliten  lassen.  Sollte  dieser 
Bericht  des  Josephus  für  wahr  gelten   müssen,   so  würde  die 

"Glaubwürdigkeit  der  evangelischen  Erzählung  über  den  Vorfall 
Stade  erschüttert  werden.  Zwar  könnten  bei  Gefangennahme 
und  Hinrichtung  beide  Motive,   die  Furcht  vor  einem  Volks- 

■  aufstände  und  der  Hafs  der  Herodias,  zusammengewirkt  haben; 
aber  als  Ort,  wo  diese  Vorgänge  sich  abspielten,  müssen  wir 
nach  den  Evangelien,  wenn  sie  ihn  auch  nicht  nennen,  jeden- 
falls Galiläa,  und  so  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  Haupt- 
stadt Tiberias  denken,  nicht  aber  das  ferne  Machärüs;  denn 
dafs  Herodes  dort  in  Peräa  seinen  Geburtstag  begangen  hätte, 
während  Herodias  und  ihre  Tochter  in  der  Nähe  und,  falls 
Marc.  6,21  nicht  eine  spätere  Einschiebung  ist,  „die  Obersten 
und  Hauptleute  und  Vornehmsten  in  Galiläa"  mit  bei  Tische 
waren,  ist  sehr  unwahrscheinlich,  nicht  zu  reden  davon,  dafs 

nach  Marc.  6,20  Herodes  gern  den  gefangenen  Johannes  ge- 
hört und  ihm  in  vielen  Sachen  gehorcht  habe,  und  dafs  ein 
Verkehr  des  Johannes  im  Gefängnisse  mit  seinen  Jüngern  und 

'durch  sie  mit  Jesu  in  der  Weise,  wie  es  die  Evangelien  be- 
richten, nicht  denkbar  gewesen  wäre,  wenn  Johannes  in  dem 
fernen,  auch  noch  durch  das  Gebiet  der  Dekapolis  getrennten 
Machärüs  gefangen  gehalten  worden  wäre. 

Schwierigkeit  macht  auch  die  Rede  Jesu  über  Johannes 
Matth.  11,7 — 13  (=  Luc.  7,24 — 28),  in  welcher  er  denselben 
rühmt,  dafs  er  nicht  charakterlos  wie  ein  vom  Wind  bewegtes 
Rohr,  nicht  weichlich  wie  die  Vornehmen  in  der  Könige 
Häusern,  sondern  der  gröfste  aller  Propheten  sei,  eine  Rede, 
welche  Jesus  nach  dem  Zusammenhang  während  der  Gefangen- 
schaft Johannis  gehalten  haben  soll,  und  deren  Form  doch 
das  Wirken  des  Johannes  in  Freiheit  und  den  fortgesetzten 
Zulauf  des  Volkes  zu  ihm  vorauszusetzen  scheint. 

Wenn  endlich  Marc.  6,14  (=  Matth.  14,2)  behauptet  wird, 
Herodes  habe  Jesum  für  den  von  den  Toten  auferstandenen 
Johannes  gehalten,  so  ist  eine  so  absurde  Annahme  bei  einem 
römisch  gebildeten  Herodianer  undenkbar.  Er  mag  gesagt 
haben,   da  sei  wieder  ein   solcher  wie  Johannes,   und  dieser 


204  VIT.   Leben  iiiicl  Lehre  Jesu. 

Ausspruch  hat  im  Volksmunde  die  Form  angenommen,  in  der 
er  berichtet  wird. 

Überaus  lebendig  und  anschaulich  ist  die  Schilderung, 
welche  die  Evangelien  von  Jesu  geben,  wie  er  nach  Gefangen- 
nahme des  Johannes  vom  Jordan  nach  Galiläa  zurückkehrt, 
Kapernaum  zu  seinem  Lieblingsaufenthalte  erwählt  und  von 
dort  aus  die  Städte  und  Märkte  Galiläas  und  jenseits  von 
dessen  Grenzen  durchzieht,  um  die  Nähe  des  Himmelreiches 
zu  verkünden,  bald  in  den  Synagogen  und  Häusern,  bald  am 
Meere  von  einem  Kahn  aus  oder  von  einer  Anhöhe  lehrend, 
immer  umgeben  von  einer  Volksmenge,  die  sich  an  ihn  heran- 
drängt, bis  ihn  plötzlich  das  bei  edeln  Naturen  so  starke  Be- 
dürfnis nach  der  Einsamkeit  wegführt,  seine  Jünger  ihn  suchen 
und  ihn  endlich  wiederfinden  in  stiller  Meditation  über  das 
Ewige,  welche  bei  ihm,  entsprechend  der  semitischen  Grund- 
anschauung, die  Form  des  Gebets  zu  seinem  himmlischen 
Vater  anzunehmen  pflegte. 

Da  Jesus  offenbar  kein  eigenes  Vermögen  besafs,  auch 
nicht,  wie  der  Aposel  Paulus,  ein  Gewerbe  betrieb,  so  fragt 
es  sich,  auf  welche  Art  er  bei  seinen  Wanderungen  durch  die 
Städte  und  Märkte  von  Galiläa  und  den  umliegenden  Land- 
schaften den  Lebensunterhalt  für  sich,  seine  Jünger  und  das 
gelegentlich  sich  anschliefsende  Gefolge  bestritten  haben  mag. 
Zur  Beantwortung  dieser  Frage  haben  wir  einen  Anhalt  an 
den  Ermahnungen,  welche  Jesus  seinen  Jüngern  bei  ihrer  Aus- 
sendung mit  auf  den  Weg  gab.  Matth.  10,8 — 14  (vgl.  Marc. 
6,8 — 11,  Luc.  9,3—5.  10,4 — 11):  „Umsonst  habt  ihrs  empfangen, 
umsonst  gebet  es  auch.  Ihr  sollt  nicht  Gold,  noch  Silber, 
noch  Erz  in  euren  Gürteln  haben;  auch  keine  Taschen  zur 
Wegfahrt,  auch  nicht  zween  Röcke,  noch  [zwei  Paar]  Schuhe^ 
auch  keinen  Stecken.  Denn  ein  Arbeiter  ist  seiner  Speise 
wert.  Wo  ihr  aber  in  eine  Stadt  oder  Markt  gehet,  da  er- 
kundiget euch,  ob  jemand  drinnen  sei,  der  es  wert  ist;  und 
bei  demselben  bleibet,  bis  ihr  von  dannen  ziehet. . . .  Und  wo 
euch  jemand  nicht  annehmen  wird,  noch  eure  Rede  hören,  so 
gehet  heraus  aus  demselbigen  Hause  oder  Stadt,  und  schüttelt 
den  Staub  von  euren  Füfsen."  Wenn  Jesus  Vers  25  hinzu- 
fügt: ,,Es  ist  dem  Jünger  genug,  dafs  er  sei  wie  sein  Meister", 


2.  Leben  und  Wirken  Jesu.  205 

SO  liegt  darin,  dafs  die  den  Jüngern  gegebenen  Vorschriften 
dieselben  waren,  welche  auch  der  Meister  belujgte.  Zum 
Mittelpunkte  seiner  Wirksamkeit  hatte  er  Kapernaum  erwählt, 
eine  blühende  Stadt  mit  regem  See-  und.  Landverkehr,  an  der 
Handelsstrafse  von  Damaskus  nach  dem  Mittelmeer  gelegen. 
Hier  pflegte  er-  wohl  im  Hause  des  Simon  Petrus,  dessen 
Schwiegermutter  er  vom  Fieber  befreit  hatte,  zu  wohnen,  hier 
erfolgte  auch  wohl  die  Berufung  des  Zollbeamten  Matthäus 
oder  Levi  und.  das  nachfolgende  Gastmahl  in  dessen  Hause, 
bei  welchem  Jesus  mitten  unter  den  Zöllnern  und.  Sündern 
safs,  zum  grofsen  Ärgernis  der  Gesetzesfrommen,  denen  er 
mit  beifsender  Ironie  die  Antwort  gab:  „Die  Gesunden  be- 
dürfen des  Arztes  nicht,  sondern  die  Kranken."  Im  Gegen- 
satze zu  der  asketischen  Strenge  Johannis  des  Täufers,  zu  dem 
er  sich  ähnlich  verhielt  wie  die  Stoiker  zu  den  Kynikern,  war 
Jesus  seiner  festen  Wurzelung  im  Ewigen,  semitisch  aus- 
gedrückt, seiner  Einheit  mit  Gott,  so  sicher,  dafs  er  ohne  etwas 
zu  verlieren,  sich  dem  heitern  Genüsse  der  Gegenwart  hin- 
geben konnte  und  gerade  dadurch  ein  grofses  Vorbild  für  alle 
künftigen  Zeiten  aufgestellt  hat.  Dem  Befremden  der  Johannes- 
jünger begegnet  er  mit  dem  Scherzworte:  „Wie  können  die 
Hochzeitleute  Leid  tragen,  so  lange  der  Bräutigam  bei  ihnen 
ist?"  und  deutet  in  den  folgenden  Worten  in  bildlicher  Weise 
an,  dafs  die  jüdischen  Satzungen  ein  verbrauchtes,  nicht  mehr 
zu  flickendes  Kleid  sind,  ein  alter  Schlauch,  welcher  den  neuen 
Wein  nicht  mehr  fassen  kann  (Matth.  9,15 — 17),  Schärfer  tritt 
er  den  Anhängern  der  Pharisäer  entgegen,  vergleicht  sie 
(Matth.  11,16 — 19)  launischen  Kindern,  welche  verlangen,  dafs 
man  tanzen  soll  wie  sie  pfeifen,  und  fährt  fort :  „Johannes  ist 
gekommen,  afs  nicht  und  trank  nicht:  so  sagen  sie,  er  hat 
den  Teufel.  Des  Menschen  Sohn  ist  gekommen,  isset  und 
trinket,  so  sagen  sie:  Siehe  wie  ist  der  Mensch  ein  Fresser, 
und  ein  Weinsäufer,  der  Zöllner  und  der  Sünder  Geselle!" 
und  „die  (pharisäische)  Weisheit  zeigt  an  dem  Treiben  ihrer 
eigenen  Kinder,  was  sie  wert  ist"  (xal  eSixai.to'^T]  y]  G09ia  0.7:0  töv 
Tsxvov.  a.\)xf^c).  Ähnlich  wie  Sokrates  und  aus  demselben  Grunde, 
nur  von  einem  ungleich  höhern  Standpunkte  aus,  war  auch 
Jesus  den  harmlosen  und  mafsvollen  Freuden   des  geselligen. 


206  VII.    Leben  und  Lehre  Jesu. 

durch  Reden  gewürzten  Mahles  nicht  feind;  sogar  das  Tlimmel- 
reich  stellt  er  sich  vor  unter  dem  Bilde  eines  festlichen  Ge- 
lages (Matth.  8,11),  und  mit  einer  gewissen  Wehmut  nimmt 
er  beim  letzten  Abendmahle  Abschied  vom  Gewächse  des 
Weinstocks  bis  an  den  Tag,  da  er  es  neu  trinken  werde  mit 
seinen  Jüngern  in  seines  Vaters  Haus  (Matth.  26,29).  —  Aber 
bei  den  weiten  Wanderungen,  welche  J^sus  von  Ort  zu  Ort 
unternahm,  waren,  ungeachtet  der  im  Orient  üblichen  Gast- 
freundschaft, doch  nicht  immer  Häuser  vorhanden,  um  Jesum 
und  sein  grofses  Gefolge  zu  bewirten,  und  wenn  auch,  wie 
Luc.  8,3  berichtet,  Frauen  befreundeter  Häuser  in  seinem  Ge- 
folge „Handreichung  taten  von  ihrer  Habe",  so  mochte  es  doch 
vorkommen,  dafs  Jesus  mit  seinen  Jüngern  auf  dem  Felde 
Ähren  ausraufte,  um  den  Hunger  zu  stillen,  was  nach  5.  Mos 
23,25  gestattet  war,  aber,  weil  es  an  einem  Sabbat  geschah, 
von  den  Pharisäern  vermöge  einer  rigoristischen  Auslegung 
von  2.  Mos.  20,10  für  Sabbatschändung  erklärt  wurde  und 
dadurch  Anlafs  gab  zu  dem  geistvollen  Ausspruche  Jesu:  „Der 
Sabbat  ist  um  des  Menschen  willen  gemacht  und  nicht  der 
Mensch  um  des  Sabbats  willen"  (Marc.  2,27).  Wie  sehr  es 
an  Geld  gebrach,  lehrt  die  Erzählung  Matth.  17,24 — 27,  wo 
Jesus  und  Petrus  nicht  imstande  sind,  die  jedem  Juden  ob- 
liegende jährliche  Tempelsteuer  von  zwei  Drachmen  auf- 
zubringen. Jesus  bemerkt  zu  ihm,  dafs  die  Kinder  von  dieser 
ihrem  himmlischen  Vater  zu  zahlenden  Steuer  eigentlich  be- 
freit bleiben  müfsten,  weiset  ihn  aber  dann  an,  als  Fischer 
durch  Fang  und  Verkauf  eines  gröfsern  Fisches  die  kleine 
Summe  zu  beschaffen,  wobei  er  scherzend  gesagt  haben  mag, 
der  Fisch  werde  den  Stater,  das  Silberstück  von  vier  Drachmen 
im  Munde  haben  (wie  wir  sagen:  Morgenstund  hat  Gold  im 
Mund),  was  dann  von  der  'Volkslegende  buchstäblich  ver- 
standen wurde.  Dafs  es  bei  weitern  Reisen  in  der  Umgegend 
zuweilen  auch  sogar  für  Jesum  an  einem  Unterkommen  fehlte, 
scheinen  die  Worte  zu  besagen:  „Die  Füchse  haben  Gruben 
und  die  Vögel  unter  dem  Himmel  haben  Nester,  aber  des 
Menschen  Sohn  hat  nicht,  da  er  sein  Haupt  hinlege"  (Matth. 
8,20).  Doch  soll  zum  Schlufs  nicht  unerwähnt  bleiben,  was 
nach  Luc.  22,35  in  der  letzten  Stunde  des  Zusammenseins  der 


2.   Leben  und  Wirken  Jesu.  2(.)7 

Herr  zu  seinen  Jüngern  sprach:  „So  oft  ich  euch  gesandt 
habe  ohne  Beutel,  ohne  Tasche,  und  ohne  Schuhe,  habt  ihr 
auch  je  Mangel  gehabt?    Sie  sprachen:  Nie  keinen!"  — 

Dafs  Jesus  „gewaltig  predigte  und  nicht  wie  die  Schrift- 
gelehrten", würden  wir  auch  dann  glauben,  wenn  es  nicht 
ausdrücklich  überliefert  wäre.  Die  meisten  der  Sprüche  und 
Reden,  welche  wir  der  Sammlung  eines  Augenzeugen,  des 
Matthäus  (oben  S.  191),  verdanken,  erweisen  sich  als  echt 
schon  durch  den  Umstand,  dafs  kein  anderer  in  der  Zeit  und 
Umgebung  Jesu  sich  denken  läfst,  von  dem  so  geistvolle,  so 
frei  über  die  Vorurteile  des  Zeitalters  sich  erhebende  Ge- 
danken hätten  ausgehen  können.  Und  auch  die  Worte,  in 
welche  gekleidet  diese  Gedanken  erscheinen,  zeugen  für  die 
Treue  der  Überlieferung  durch  ihr  Gepräge,  durch  einen  eigen- 
tümlichen Glanz,  welcher  ihnen  anhaftet  und  auch  im  Laufe 
aller  kommenden  Jahrhunderte  nicht  verblichen  ist.  Mitunter, 
wenn  auch  nicht  eben  häufig,  begegnet  uns  ein  sinnreiches 
Scherzwort,  wie  er  denn  z.  B.  den  Petrus  und  Andreas  von 
ihrem  Fischergewerbe  abruft,  indem  er  verspricht,  sie  zu 
Menschenfischern  zu  machen.  Oft  haben  diese  Scherzworte 
einen  sarkastischen  Beigeschmack,  wie  das  schon  oben  er- 
wähnte: „Die  Gesunden  bedürfen  des  Arztes  nicht,  sondern 
die' Kranken",  oder  die  Antwort,  die  dem  Jünger  zuteil  wurde, 
welcher,  ehe  er  sich  an  Jesus  anschlofs,  noch  seinen  verstorbenen 
Vater  begraben  wollte :  „Folge  du  mir  und  lafs  die  Toten  ihre 
Toten  begraben"  (Matth.  8,22).  Viele  dieser  Aussprüche  er- 
innern in  ihrer  scharfen  Pointierung  an  die  Art  des  Heraklit, 
während  der  überströmende  Eeichtum  an  Bildern  in  Jesu 
Sprache  nur  von  einem  Shakespeare  überboten  wird. 

Wundervoll  ist  auch  die  Geistesgegenwart,  mit  welcher 
er  die  verfänglichen  Fragen  der  Pharisäer  zu  beantworten 
weifs.  So,  wenn  sie  ihm  eine  Frage  vorlegen,  deren  Beant- 
wortung entweder  die  Römer  oder  das  Volk  gegen  ihn  auf- 
bringen mufste,  ob  es  recht  sei,  dem  Kaiser  den  Zins  zu 
geben,  i^nd  er  antwortet:  „So  gebt  dem  Kaiser,  was  des 
Kaisers  ist,  und  Gott,  was  Gottes  ist"  (Matth.  22,21).  Ganz 
ähnlich  liegt  der  Fall  bei  einem  versprengten  Stück  synop- 
tischer Überlieferung,   welches  sich   bei  Joh.  8,3 — 11   findet; 


208  VII-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

hier  bringen  -die  Pharisäer  Jesiim  in  Konflikt  zwischen  dem 
mosaischen  Gesetz  und  den  Forderungen  der  MenschHchkeit, 
indem  sie  ihm  eine  Ehebrecherin  vorführen,  welche  nach 
3.  Mos.  20,10  getötet  werden  mufste.  Jesus  bückt  sich  und 
schreibt  in  den.  Sand,  nichts  anderes,  wie  wir  glauben  und 
schon  in  unserer  Schrift  über  Jakob  Böhme  (2.  Aufl.,  S.  3) 
gesagt  haben,  als  die  Worte  des  Gesetzes:  „Sie  soll  des 
Todes  sterben",  wodurch  er  in  drastischer  Weise  dem  Gesetz 
die  gebührende  Anerkennung  zollte  und  zugleich  dasselbe  als 
toten  Buchstaben  behandelte,  in  Gedanken  das  paulinische 
Wort  antizipierend:  „Der  Buchstabe  tötet,  aber  der  Geist 
macht  lebendig"  (2.  Kor.  3,6). 

Die  Neigung  Jesu  für  bildliche  Au'sdrucksweise  findet 
ihren  Höhepunkt  in  seiner  Gewohnheit,  abstrakte  Gedanken 
in  Parabeln  zu  kleiden,  von  denen  das  Gleichnis  vom  Säe- 
mann,  von  den  törichten  und  klugen  Jungfrauen,  vielleicht 
auch,  wiewohl  sie  nur  bei  Lucas  stehen,  vom  barmherzigen 
Samariter  und  vom  verlornen  Sohne  herrliche  Beispiele  geben. 
Viele  derselben  sind  durch  die  Überlieferung  entstellt  und  ver- 
dorben worden,  wie  namentlich  das  Gleichnis  Matth.  22,2 — 14 
(vgl.  Luc.  14,16 — 24),  nach  w^elchem  ein  König  seine  Grofsen 
zur  Hochzeit  ladet,  und  als  sie  sich  entschuldigen,  seine  Gäste 
auf  der  Landstraf se  auflesen  läfst,  dann  aber  einen  bemerkt, 
der  kein  hochzeitliches  Kleid  anhat  und  denselben  zur  Ver- 
dammnis überliefert.  Hier  haben  sich  off'enbar  zwei  Parabeln 
wie  zwei  Kristalle  störend  durchdrungen,  deren  eine  die  Armen 
und  Geringen  ins  Himmelreich  lud,  während  die  andere  die 
Unwürdigen  von  demselben  ausschlofs.  Der  letztere  Zug  fehlt 
bei  Lucas,  der  somit,  abgesehen  von  den  bei  ihm  üblichen 
Ausschmückungen,  die  Überlieferung  reiner  bewahrt  zu  haben 
scheint. 

Auf  die  Frage,  warum  Jesus  in  Parabeln  lehre,  erhalten 
wir  aus  Jesu  eigenem  Munde  nach  Marc.  4,11 — 12  (vgl.  Matth. 
13,13—14)  die  seltsame  Antwort:  „Euch  ist  es  gegeben,  das 
Geheimnis  des  Reichs  Gottes  zu  wissen;  denen  aber  draufsen 
widerfährt  es  alles  durch  Gleichnisse.  Auf  dafs  sie  es  mit 
sehenden  Augen  sehen,  und  doch  nicht  erkennen,  und  mit 
hörenden  Ohren  hören,  und  doch  nicht  verstehen;   auf  dafs 


2.  Leben  und  Wirken  Jesu.  209 

sie  sich  nicht  dermaleinst  bekehren,  und  ihre  Sünden  ihnen 
vergeben  werden."  Wenn  diese  augenscheinhch  an  Jesaia 
(3,8 — 10  anknüpfenden  "Worte  wirkhch  von  Jesu  gesproch'en 
worden  sein  sollten,  so  würden  wir  schon  bei  ihm  die  Keime 
der  Prädestinationslehre  vor  uns  haben,  welche  allerdings,  wie 
später  zu  zeigen  sein  wird,  da  wo  der  Determinismus  sich  mit 
dem  Theismus  verbindet,  die  notwendige  Konsequenz  ist,  nur 
dafs  es  fraglich  bleiben  mufs,  ob  Jesus  diese  Konsequenz 
schon  gezogen  hat. 

Bei  Beurteilung  Jesu  soll  man  nie  aufser  Augen  lassen, 
dafs  wir  ihn  nur  als  einen  jungen  Mann  kennen,  welcher  nach 
dem,  trotz  allen  neuern  Hypothesen  immer  noch  am  wenigsten 
unwahrscheinlichen  Berichte  des  Lucas  erst  dreifsig  Jahre  alt 
war,  als  er  seine  kurze  öffentliche  Laufbahn  antrat.  So  er- 
scheint er  als  ein  junger,  feuriger,  noch  nicht  völlig  mit  sich 
fertiger  Geist,  wie  dies  namentlich  bei  seiner  heftigen  Polemik 
gegen  die  Schriftgelehrten  und  Pharisäer  Matth.  23  hervor- 
tritt, welche,  einzelne  Beobachtungen  verallgemeinernd,  gegen 
alle  psychologische  Wahrscheinhchkeit  eine  ganze  Menschen- 
klasse, unter  der  sich  doch  auch  Männer  wie  Gamaliel  und 
Paulus  befanden,  in  leidenschaftlicher  Rede  verurteilt.  Die 
Jugendlichkeit  Jesu  macht  sich  besonders  bemerkbar  in  einer 
gewissen  Exzentrizität  seines  ganzen,  eben  dadurch  so  liebens- 
würdigen und  die  Herzen  gewinnenden  Wesens.  Alle  seine 
Reden  zeigen  eine  Vorliebe  für  groteske,  das  Mafs  über- 
schreitende Ausdrücke;  so  erklärt  er  es  Matth.  19,24  für  leichter, 
dafs  ein  Kamel  durch  ein  Nadelöhr  gehe,  denn  dafs  ein  Reicher 
ins  Reich  Gottes  komme.  Man  hat  diesen  Vergleich  zu  stark 
gefunden  und  der  Sache  abzuhelfen  gesucht,  indem  man  ent- 
weder das  Kamel  zu  einem  Tau  verkleinerte  oder  das  Nadelöhr 
zu  einer  Zeltöffnung  vergröfserte.  Aber  eine  ganze  Reihe  ähn- 
licher Ausdrücke  beweisen  die  Vorliebe  des  jugendlichen  Feuer- 
geistes für  derartige  übertriebene  Wendungen.  Er  wirft  den 
Pharisäern  vor,  dafs  sie  Mücken  seihen  und  Kamele  ver- 
schlucken (Matth,  23,24);  er  ermahnt,  das  Licht  nicht  unter 
den  Scheffel  zu  stellen  (Matth.  5,15),  die  Perlen  nicht  vor  die 
Säue  zu  werfen  (Matth.  7,6),  beim  Almosengeben  die  linke 
Hand  nicht  wissen  zu  lassen,  was  die  rechte  tut  (Matth.  6,3); 

Peüssen,  Geschichte  der  Philosophie.     II.  ii.  14 


210  ^11-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

tadelt  es,  dafs  man  den  Splitter  im  Auge  des  Nächsten  und 
nicht  den  Balken  im  eigenen  Auge  sehe  (Matth.  7,3) ;  erklärt : 
„Wer  aber  ärgert  dieser  geringsten  Einen,  die  an  mich  glauben, 
dem  wäre  besser,  dafs  ein  Mühlstein  an  seinen  Hals  gehänget, 
und  er  ersäufet  würde  im  Meer,  da  es  am  tiefsten  ist"  (Matth. 
18,6);  erwidert  bei  seinem  Einzüge  in  Jerusalem  den  an  dem 
Jubel  des  Volkes  Anstofs  nehmenden  Pharisäern:  „Wo  diese 
werden  schweigen,  so  werden  die  Steine  schreien"  (Luc.  19,40); 
spricht  auf  dem  Ölberg  zu  seinen  Jüngern:  „So  ihr  Glauben 
habt  und  nicht  zweifelt,  so  werdet  ihr  nicht  allein  solches  mit 
dem  Feigenbaum  tun;  sondern  so  werdet  ihr  sagen  zu  dem 
Berge:  Hebe  dich  auf  und  wirf  dich  ins  Meer!  so  wird  es  ge- 
schehen" (Matth.  21,21);  und  sagt  bei  der  Gefangennahme  zu 
Petrus :  „Oder  meinest  du,  dafs  ich  nicht  könnte  meinen  Vater 
bitten,  dafs  er  mir  zuschickte  mehr  denn  zwölf  Legionen 
Engel?"  (Matth.  26,53). 

Exorbitant  wie  diese  Aussprüche  sind  auch  die  ethischen 
Forderungen  Jesu,  wenn  er  verlangt,  dem,  der  uns  auf  den 
rechten  Backen  schlage,  auch  den  linken  darzubieten  (Matth. 
5,39),  dem,  der  den  Rock  nehme,  auch  den  Mantel  (das  wert- 
vollere Stück)  zu  geben  (Matth.  5,40,  anders  Luc.  6,29),  nicht 
für  den  andern  Morgen  zu  sorgen  (Matth.  6,34),  wenn  er  zu 
dem  reichen  Jüngling  sagt:  „Willst  du  vollkommen  sein,  so 
gehe  hin,  verkaufe,  was  du  hast,  und  gib  es  den  Armen" 
(Matth.  19,21),  ja,  noch  weit  über  alles  dieses  hinaus  geht 
(Matth.  19,12;  vgl.  Matth.  5,27—30). 

Derartige  Vorschriften  scheinen  nicht  ganz  ernst  gemeint 
zu  sein,  sondern,  durch  Aufstellung  eines  unerreichbaren  und 
nicht  einmal  wünschenswerten  Ideals  nur  die  Richtung  an- 
deuten zu  wollen,  in  welcher  unser  Handeln  sich  zu  bewegen 
hat,  um  des  Himmelreiches  würdig  zu  werden. 

Als  die  beiden  Grundzüge  des  Charakters  Jesu  lassen  sich 
bezeichnen  einerseits  ein  leidenschaftlicher  und  rückhaltlos 
sich  äufsernder  Zorn  über  alles,  was  verwerflich  war  oder 
ihm  zu  sein  schien,  und  andererseits  ein  grenzenloses  Mitgefühl 
mit  allen  Leidenden,  Elenden  und  Unterdrückten:  „Kommet 
tier  zu  mir  alle,  die  ihr  mühselig  und  beladen  seid,  ich  will 
euch  erquicken."    Ein  besonders  rührender  und  sympathischer 


2.   Leben  und  Wirken  Jesu.  211 

Zug  ist  seine  Liebe  zu  den  Kindern:  „Lasset  die  Kindlein  zu 
mir  kommen,  und  wehret  ihnen  nicht;  denn  solcher  ist  das 
Reich  Gottes"  (Marc.  10,14).  Mufste  er  sich  nicht  sagen,  dafs 
die  Pharisäer  und  Schriftgelehrten,  welche  er  bekämpfte,  auch 
einst  solche  Kinder  gewesen  seien,  und  dafs  die  Kindlein, 
welche  er  herzte  und  segnete,  auch  dereinst  Männer  werden 
würden  wie  die,  über  welche  er  so  oft  die  Schale  seines  Zornes 
ausgegossen  hat?  Oder  glaubte  er  Weltende  und  Himmel- 
reich so  nahe,  dafs  es  den  Kindern,  die  er  in  seinen  Armen 
hielt,  erspart  bleiben  würde,  in  den  Kampf  des  Lebens  und 
seine  Versuchungen  einzutreten,  dafs  die  Vollendung  des 
Himmelreichs  hereinbrechen  werde,  ehe  Begierde,  Sünde  und 
Laster  den  unschuldigen  Kindergesichtern  ihre  Züge  ein- 
graben würden? 

Jenes  Mitgefühl  mit  allen  Leidenden  und  der  Wille  Jesu, 
ihnen  nach  Kräften  zu  helfen,  ist  die  eigentliche  Wurzel  ge- 
wesen, aus  der  die  zahlreichen  Wundergeschichten  erwachsen 
sind,  welche  die  Kunde  von  Jesu  Wirken  so  sehr  überwuchert 
und  verdunkelt  haben.  Es  wird  nicht  zu  umgehen  sein,  uns 
über  diesen  Punkt  mit  rückhaltloser  Deutlichkeit  auszusprechen. 

Unter  einem  Wunder  verstehen  wir  nicht  etwa  ein  Er- 
eignis, dessen  Möglichkeit  wir  zurzeit  einzusehen  noch  nicht 
imstande  sind,  sondern  ein  Wunder  im  vollen  und  wahren 
Sinne  des  Wortes  ist  eine  Begebenheit,  welche  nach  der  uns 
bekannten  Naturordnung  unmöglich  und  doch  wirklich  ist. 
Es  gibt  ein  solches  Wunder,  und  es  begibt  sich  täglich  und 
stündlich  vor  unsern  Augen.  Es  ist  die  unleugbare  Tatsache, 
dafs  wir,  obgleich  die  Naturordnung  unsere  Fähigkeit,  Lust 
und  Schmerz  zu  empfinden,  auf  unser  eigenes  Selbst  und  was 
zu  ihm  gehört,  beschränkt,  imstande  sind,  diese  durch  die 
räumliche  Trennung  der  Individuen  gesetzte  Naturordnung  zu 
durchbrechen,  und  das  Unmögliche  wirklich  zu  machen,  indem 
wir  das  Leiden  anderer  fühlen,  als  wäre  es  unser  eigenes, 
und  Opfer  an  unserm  persönlichen  Wohlsein  bringen,  um  die 
Not  unserer  Mitgeschöpfe  zu  lindern.  Diese  wunderbare  Tat- 
sache ist  aus  den  Gesetzen  der  empirischen  Realität  nicht  zu 
erklären,  weist  über  dieselbe  hinaus  und  enthält  ein  ganzes 
und  sicheres  Evangelium  dafür,  dafs  diese  aus  dem  Egoismus 

U* 


212  VII-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

entsprungene  Weltordnung  nicht  das  letzte  Wort  der  Natur, 
dafs  unsere  wahre  Bestimmung  nicht  diesseits,  sondern  jen- 
seits des  Grabes  zu  suchen  ist.  An  diesem  einen,  durch  die 
sicherste  Erfahrung  immer  wieder  aufs  neue  bezeugten  Wunder 
müssen  und  können  wir  uns  genügen  lassen,  wenn  wir  sehen, 
wie  zwar  die  mythische  Vorgeschichte  aller  Völker,  und  nicht 
sie  allein,  voll  ist  von  Wundererzählungen,  wie  aber  keine 
einzige  dieser  Erzählungen,  mögen  sie  innerhalb  oder  aufser- 
halb  des  biblischen  Gebietes  liegen,  auch  nur  entfernt  der- 
artig bezeugt  und  beglaubigt  ist,  dafs  wir  in  ihr  eine  Durch- 
brechung der  uns  bekannten,  durch  den  Verlauf  unseres  ganzen 
Lebens  bestätigten  Naturordnung  und  nicht  vielmehr  eine  aus 
der  Neigung  der  Menschen,  natürliche  Vorgänge  zu  vergröfsern 
und  ins  Wunderbare  zu  steigern,  entsprungene  Erdichtung  an- 
erkennen müfsten. 

Von  dem  Bericht  über  die  Auferstehung  Jesu  werden  wir 
weiter  unten  zu  handeln  haben.  Was  die  Wundererzählungen 
aus  seinem  Leben  betrifft,  so  hindert  uns  nichts,  anzuerkennen, 
dafs  diesem  aufserordentlichen  Menschen  auch  aufserordent- 
liche,  vielleicht  uns  noch  unbekannte  Kräfte  gegeben  waren, 
dafs  er  durch  den  Eindruck  seiner  mächtigen  Persönlichkeit 
in  neurasthenischen,  der  damaligen  Zeit  unerklärlichen  und 
daher  für  ein  Besessensein  von  Teufeln  gehaltenen  Zuständen, 
vielleicht  auch  in  andern  Krankheiten,  durch  physische  oder 
rein  geistige  Mittel  eine  vorübergehende,  möglicherweise  auch 
eine  dauernde  Heilung  zu  erzielen  vermochte.  Solche  Erfolge, 
von  Mund  zu  Mund  weitergetragen,  führten  dann  schlief slich 
dazu,  bei  dem  wunderbaren  Manne  nichts  für  unmöglich  zu 
halten,  und  auf  Anlässe  liin,  die  wir  nicht  mehr  kennen,  eine 
Erweckung  wirklich  Verstorbener,  eine  Speisung  von  fünf- 
tausend Menschen  mit  fünf  Broten  und  zwei  Fischen,  ein 
Wandeln  auf  dem  Meere  und  dergleichen  von  ihm  zu  be- 
richten. 

Über  eine  Fortentwicklung  Jesu,  soweit  von  einer  solchen 
während  der  kurzen  Zeit  seines  öffentlichen  Wirkens  die  Rede 
sein  kann,  sind  wir  auf  Vermutungen  angewiesen,  da  die 
Synoptiker  in  dieser  Hinsicht  vom  Synoptiken,  dieses  aber 
wiederum  vom  Urmarkus  abhängen,  welcher  nach  dem  Bericht 


2.   Leben  und  Wirken  Jesu.  213 

des  Papias  ohne  chronologische  Ordnung  war  (oben  S.  191). 
AVir  dürfen  aber  annehmen,  dafs  Jesus  im  allgemeinen  vom 
Partikularismus  zum  Universalismus  und  von  der  Ankündigung 
des  nahen  Messiasreiches  zur  Verwirklichung  desselben  als 
der  Messias  fortgeschritten  ist. 

Dafs  Jesus  zu  Anfang  seiner  Lehrtätigkeit  partikularistisch 
dachte  und  seine  Mission  auf  das  Judenvolk  beschränkte, 
spricht  er  mit  Bestimmtheit  aus,  Matth.  15,24 :  „Ich  bin  nicht 
gesandt,  denn  nur  zu  den  verlornen  Schafen  von  dem  Hause 
Israel."  Beweisend  hierfür  ist  auch,  dafs  er  zwölf  Jünger  er- 
wählte, offenbar  entsprechend  den  wenigstens  in  der  Theorie 
noch  fortbestehenden  zwölf  Stämmen  Israels,  sei  es,  dafs  Levi 
mitgezählt  oder  Joseph  als  Ephraim  und  Manasse  doppelt  ge- 
zählt wurde ;  ausdrücklich  befiehlt  er  seinen  Jüngern  bei  deren 
Aussendung,  Matth.  10,5 :  „Gehet  nicht  auf  der  Heiden  Strafse, 
und  ziehet  nicht  in  der  Samariter  Städte,  sondern  gehet  hin 
zu  den  verlornen  Schafen  aus  dem  Hause  Israel."  Aber  die 
Erfahrungen,  welche  er  an  seinen  eigenen  Landsleuten  und 
im  Gegensatze  dazu  an  NichtJuden,  wie  dem  kananäischen 
Weibe  (Matth.  15)  und  dem  Hauptmann  von  Kapernaum 
(Matth.  8)  machte,  erweiterten  seinen  Blick,  so  dafs  er  bei 
Gelegenheit  des  letztern  Vorganges  erklärte,  Matth.  8,11 — 12: 
„Viele  werden  kommen  vom  Morgen  und  vom  Abend,  und 
mit  Abraham  und  Isaak  im  Himmelreich  zu  Tische  sitzen, 
aber  die  Kinder  des  Eeichs  werden  ausgestofsen  in  die  äufserste 
Finsternis  hinaus,  da  wird  sein  Heulen  und  Zähnklappen." 
Diese  universalistische  Auffassung  seiner  Aufgabe  mufste  vor- 
hergehen oder  gleichzeitig  erfolgen,  wenn  Jesus  in  sich  den  von 
Daniel  7,13 — 14  verkündigten  Weltheiland  erblicken  sollte, 
„welchem  alle  Völker,  Leute  und  Zungen  dienen  sollten". 
Was  Jesum  veranlafste  zu  dem  grofsen  Schritt,  sich  nicht 
mehr  als  den  Verkündiger  des  Messiasreiches,  sondern  als  den 
erwarteten  Messias  selbst  zu  betrachten,  können  wir  nur  ver- 
mutungsweise ermitteln.  Ursprünglich  war  seine  Predigt  die- 
selbe wie  die  Johannes  des  Täufers:  „Tut  Bufse,  denn  das 
Himmelreich  ist  nahe  herbeigekommen"  (Matth.  4,17),  und 
eben  diese  Predigt  trug  er  auch  seinen  Jüngern  bei  ihrer 
Aussendung  auf  (Matth.  10,7).     Dafs  das  von  messianischen 


214  Vn.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

Hoffnungen  erfüllte  Volk  geneigt  war,  in  ihm  den  Messias  zu 
sehen,  dafs  Besessene  und  andere  Kranke  ihn  dafür  erklärten, 
konnte  wenig  Eindruck  auf  ihn  machen;  er  gebot  ihnen  zu 
schweigen.  Eine  stärkere  Anregung  empfing  er  schon,  als 
der  von  ihm  so  hochgeschätzte  Johannes  aus  dem  Gefängnisse 
ihn  fragen  liefs,  Matth.  11,3:  „Bist  du,  der  da  kommen  soll, 
oder  sollen  wir  eines  andern  warten?"  Die  Antwort,  welche 
Jesus  erteilt,  und  welche  seine  Messianität  voraussetzt,  mufs 
wohl  auf  späterer  Redaktion  beruhen.  Denn  wenn  nicht  alles 
täuscht,  liegt  die  entscheidende  Wendung  für  das  Bewufst- 
sein  Jesu  erst  in  dem  bekannten  Bekenntnisse  des  Petrus, 
Matth.  16,13 — 17:  „Da  kam  Jesus  in  die  Gegend  der  Stadt 
Cäsarea  Philippi,  und  fragte  seine  Jünger,  und  sprach:  Wer 
sagen  die  Leute,  dafs  des  Menschen  Sohn  sei?  Sie  sprachen: 
Etliche  sagen,  du  seiest  Johannes  der  Täufer;  die  andern,  du 
seiest  Elias;  etliche,  du  seiest  Jeremias,  oder  der  Propheten 
einer.  Er  sprach  zu  ihnen:  Wer  sägt  denn  ihr,  dafs  ich  sei? 
Da  antwortete  Simon  Petrus,  und  sprach:  Du  bist  Christus, 
des  lebendigen  Gottes  Sohn.  Und  Jesus  antwortete  und  sprach 
zu  ihm:  Selig  bist  du,  Simon,  Jonas  Sohn;  denn  Fleisch 
und  Blut  hat  dir  das  nicht  geoffenbaret,  sondern 
mein  Vater  im  Himmel."  Diese  Worte  beweisen,  dafs 
Jesus  in  der  spontanen  Aufserung  des  Petrus,  er  sei  Christus, 
d.  h.  der  Messias,  nicht  eine  individuelle  Anschauung  des 
Petrus,  sondern  eine  Eingebung  von  oben  erkannte,  welche 
als  solche  vollkommen  ausreichte,  um  in  ihm  jeden  Zweifel 
an  seinem  Berufe  zum  Messias  und  Sohn  Gottes  zu  beseitigen. 

3.  Jesu  Bewufstsein  von  Gott  und  von  der  Welt. 

Zunächst  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  Jesus 
sich  selbst  für  den  Messias  und  den  Sohn  Gottes,  nicht  in 
dem  Sinne,  in  welchem  alle  Menschen  Kinder  Gottes  heifsen, 
sondern  im  eminenten  und  ausschliefslichen  Sinne  des  Wortes 
gehalten  und  erklärt  hat.  Wer  hieran  noch  zweifeln  und  die 
eben  mitgeteilte  Erzählung  vom  Bekenntnis  des  Petrus,  wie 
so  vieles  in  den  Evangelien,  für  eine  spätere  Legende  halten 
wollte,  der  wäre  zu  verweisen  auf  die  Erklärung,  welche  Jesus 


3.  Jesu  Bewufstsein  von  Gott  und  von  der  Welt.  215 

selbst  vor  dem  Hohen  Rate  abgegeben  hat.  Mag  auch  noch 
so  viel  auf  späterer  Erfindung  beruhen,  die  Vorgänge  bei  einem 
gerichtlichen  Verhör,  von  dem  die  Entscheidung  über  Leben 
und  Tod  des  Angeschuldigten  abhing,  mufsten  auf  die  zahl- 
reichen Zeugen  dieses  Verhörs  einen  tiefen  Eindruck  machen 
und,  wenn  irgend  etwas,  treu  in  der  Erinnerung  erhalten 
werden.  Matth.  26,63—65  (vgl.  Marc.  14,61— 64;  Luc.22,68— 71) 
heifst  es:  „Und  der  Hohepriester  antwortete,  und  sprach  zu 
ihm:  Ich  beschwöre  dich  bei  dem  lebendigen  Gott,  dafs  du 
uns  sagest,  ob  du  seiest  Christus,  der  Sohn  Gottes.  Jesus 
sprach  zu  ihm:  Du  sagest  es  (d.  h.  Ich  bin's,  wie  bei  Marcus 
steht).  Doch  sage  ich  euch:  Von  nun  an  wird  es  geschehen, 
dafs  ihr  sehen  werdet  des  Menschen  Sohn  sitzen  zur  Rechten 
der  Kraft,  und  kommen  in  den  Wolken  des  Himmels.  Da 
zerrifs  der  Hohepriester  seine  Kleider,  und  sprach:  Er  hat 
Gott  gelästert;  was  bedürfen  wir  weiter  Zeugnis?  Siehe,  jetzt 
habt  ihr  seine  Gotteslästerung  gehört."  Hier  erklärt  sich 
Jesus  mit  ausdrücklicher  Beziehung  auf  Daniel  7,13 — 14  un- 
umwunden für  den  Messias  und  Sohn  Gottes.  Eine  solche 
Erklärung  mag  vielen  anstöfsig  erscheinen,  aber  wenn  man 
sich  klar  macht,  was  unter  Gott  und  einem  Sohne  Gottes 
vernünftigerweise  verstanden  werden  mufs,  so  wird  man  finden, 
dafs  Jesus  mit  seiner  Erklärung  vollkommen  im  Rechte  war. 
Wir  wissen  es,  und  alle  tiefern  Geister  der  Menschheit 
haben  es  erkannt  und  ausgesprochen,  dafs  die  wahre  und 
ewige  Realität,  dafs  der  Urgrund  des  Seins  und  das  höchste 
Ziel  unseres  Strebens  nicht  in  dieser  Erscheinungswelt,  son- 
dern in  dem  zu  suchen  ist,  was  uns  erst  zugänglich  wird, 
sofern  und  in  dem  Mafse  wie  wir  diese  ganze  in  Raum  und 
Zeit  ausgebreitete  Welt  von  uns  abgeschüttelt  und  über- 
wunden haben.  Wir  haben  aber  nach  dem  ganzen  Eindruck 
der  Überheferung  Jesuni  zu  denken  als  einen  Menschen,  welcher 
ohne  nennenswerte  Kämpfe  (denn  die  Versuchungsfabeln  be- 
weisen gar  nichts)  infolge  einer  überaus  glücklichen  Natur- 
anlage über  diese  Welt  hinausging  und  zum  Bewufstsein  der 
festen  Wurzelung  in  jenem  ewigen  Urgründe  und  der  völligen 
Einheit  mit  ihm  gelangt  ist.  Nun  erschien  ihm  jenes  ewige, 
über  die  Erscheinungswelt  hinausliegende  Reich,  entsprechend 


216  VII.    Leben  und  Lehre  Jesu. 

der  semitischen  Anschauung,  die  wir  oben  (S.  114 — 116) 
charakterisierten  und  als  relativ  berechtigt  anerkannten,  als 
Jahve,  als  persönlicher  Gott,  und  indem  Jesus  in  der  Natur 
nach  einem  Bilde  suchte,  um  die  Gottesgemeinschaft,  welche 
ihn  beseelte,  zum  fafslichen  Ausdruck  zu  bringen,  konnte  er 
kein  glücklicheres  Bild  finden,  als  das  Verhältnis  des  Sohnes 
zum  Vater,  bezeichnete  Gott  als  seinen  Vater  und  sich  selbst 
als  den  Sohn  Gottes.  Das  vierte  Evangelium,  welches  als 
historische  Quelle  nicht  verwendbar  ist,  aber  oft  mit  tiefer 
poetischer  Wahrheit  die  historischen  Vorgänge  interpretiert, 
hat  für  dieses  Bewufstsein  Jesu  von  seinem  Verhältnis  zu 
Gott  das  kurze  und  treffende  AVort:  „Ich  und  der  Vater 
sind  eins"  (Job.  10,30). 

Aus  diesem  Verhältnis  zu  Gott  ergibt  sich  von  selbst 
das  Verhältnis  Jesu  zur  Welt,  und-  auch  dieses  wird  durch 
ein  grofses  Wort  des  vierten  Evangeliums,  welches  in  der 
Kürze  alles  befafst,  gleichsam  blitzartig  erleuchtet,  wenn  Jesus 
Job.  16,33  sagt:  „Ich  habe  die  Welt  überwunden."  Diese 
Weltüberwindung  zeigt  sich  in  allem,  was  von  Jesu  glaubhaft 
überliefert  ist,  und  läfst  sich  nach  drei  Kichtungen  hin  ver- 
folgen, sofern  er  erstlich  die  Welt  und  ihre  Ordnung  verachtete, 
zweitens  dieser  Ordnung  fremd  blieb,  weil  er  es  nicht  für  der 
Mühe  wert  hielt,  sie  näher  kennen  zu  lernen,  und  drittens 
von  der  ethischen  Höhe  seiner  das  Land  wie  die  Zeit  weit 
überragenden  Anschauungen  aus  die  engen,  veralteten,  das 
geistige  und  sittliche  Leben  niederhaltenden  Formen,  in  denen 
sich  das  Leben  des  Volkes  und  seiner  Führer  bewegte,  schroff 
und  trotzig  bekämpfte,  wodurch  er  kurze  Zeit  nach  seinem 
öffentlichen  Auftreten  seinen  Untergang  herbeiführte.  Diese 
dreifache  Stellung  Jesu  zur  Welt  erfordert  eine  nähere  Be- 
leuchtung. 

1.  Jesu  Weltverachtung.  Wir  haben  oben  (S.  210) 
eine  Reihe  von  Forderungen  Jesu  zusammengestellt,  deren 
buchstäbliche  Befolgung  das  staatliche  und  bürgerliche  Leben 
völlig  auflösen  und  unmöglich  machen  würde.  Wollten  wir 
allem  gewalttätigen  und  raublustigen  Gesindel  erlauben,  uns 
nach  Belieben  zu  mifshandeln  und  zu  plündern,  wollten  wir 
aufhören,   am  heutigen  Tage  für  den  morgenden  zu  sorgen, 


3.  Jesu  Bewufstsein  von  Gott  und  von  der  Welt.  217 

und  alle  unsere  Habe  verschenken,  um  selbst  als  Bettler 
unsern  Mitmenschen  zur  Last  zu  fallen,  so  würden  daraus 
soziale  Zustände  entstehen,  welche  keinem  Wohlgesinnten  als 
wünschenswert  erscheinen  können.  Wir  haben  daher  oben 
der  Meinung  Ausdruck  gegeben,  dafs  diese  Vorschriften  nur 
die  Kichtung  bezeichnen  sollen,  in  der  sich  unser  Handeln 
zu  bewegen  hat,  somit  nicht  völlig  ernst  zu  nehmen  sind. 
Sofern  sie  aber  von  Jesu  wirklich  ernst  gemeint  sein  sollten, 
würden  sie  sich  wohl  nur  aus  der  Überzeugung  erklären, 
welche  von  Jesu  wiederholt  und  unmifsverständlich  aus- 
gesprochen wird,  dafs  das  Weltende  ganz  nahe  bevorstehe 
und  die  gegenwärtige  Generation  es  noch  erleben  werde. 
Matth.  16,27—28  (vgl.  Marc.  8,38—9,1,  Luc.  9,26—27):  „Denn 
es  wird  je  geschehen,  dafs  des  Menschen  Sohn  komme  in 
der  Herrlichkeit  seines  Vaters,  mit  seinen  Engeln;  und  als- 
dann wird  er  einem  jeglichen  vergelten  nach  seinen  Werken. 
Wahrlich  ich  sage  euch:  Es  stehen  etliche  hier,  die  nicht 
schmecken  werden  den  Tod,  bis  dafs  sie  des  Menschen  Sohn 
kommen  sehen  in  seinem  Reich" ;  Matth.  24,34  (vgl.  Marc.  13,30, 
Luc.  21,32):  „Wahrlich  ich  sage  euch:  Dies  Geschlecht  wird 
nicht  vergehen,  bis  dafs  dieses  alles  geschehe." 

2.  Jesu  Weltfremdheit.  Jesus  war  der  Sohn  eines 
Handwerkers  und  stammte  aus  einer  kleinen  Provinzial- 
stadt;  seine  Jünger  waren,  soweit  wir  deren  Vorleben  kennen, 
Fischer  und  Zöllner;  er  selbst  verkehrte  vorwiegend  mit  den 
niedrigsten  Schichten  des  Volkes,  und  es  ist  fraglich,  ob  und 
inwieweit  er  überhaupt  Gelegenheit  gehabt  hat,  den  höhern 
Kreisen  der  menschlichen  Gesellschaft  näherzutreten;  Tiberias, 
die  Hauptstadt  Galiläas,  hat  er,  wie  es  scheint,  nie  besucht, 
und  seine  Parabeln  von  Königen,  Vornehmen  und  Grofsen 
beweisen,  dafs  er  deren  Leben  nie  näher  kennen  gelernt  hat; 
auch  dürfte  er  bei  seinem  Leben  in  und  mit  Gott,  bei  seiner 
Geringschätzung  aller  irdischen  Herrlichkeit  und  der  Erwartung 
ihres  nahen  Unterganges  wohl  kaum  Wert  darauf  gelegt  haben, 
diesen  Dingen  näherzutreten.  Dafs  er  für  das  Wesen  des 
Menschen,  für  die  Schwäche,  Sündhaftigkeit  und  Bedürftig- 
keit des  menschlichen  Herzens  ein  tiefes  psychologisches  Ver- 
ständnis  besafs,    geht  aus   allen  seinen  Reden  hervor;    aber 


218  ^11-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

eine  andere  Frage  ist,  ob  sein  Blick  nicht  zu  sehr  auf  das 
Ganze  und  in  die  Ferne  gerichtet  war,  um  das  einzelne  Indi- 
viduum mit  seinen  kleinlichen  Interessen  und  Bestrebungen 
richtig  einzuschätzen.  Piaton  sagt  vom  Philosophen  (Theaetet 
p.  174B):  „Er  weifs  nichts  von  seinem  Nächsten  und  Nachbar, 
nicht  nur  nicht  was  er  betreibt,  sondern  kaum  ob  er  ein 
Mensch  ist  oder  irgendein  anderes  Geschöpf.  Was  aber  der 
Mensch  an  sich  sein  mag,  und  was  einer  solchen  Natur  ziemt 
anders  als  andern  zu  tun  und  zu  leiden ,  das  untersucht  er, 
und  läfst  es  sich  Mühe  kosten,  es  zu  erforschen."  Was  Piaton 
vom  Philosophen  sagt,  das  gilt  ebensosehr  von  einem  religiösen 
Genius.  Auch  Jesu  Kopf  und  Herz  war  zu  sehr  mit  der  Sorge 
für  den  Menschen  als  solchen  beschäftigt,  als  dafs  er  den 
einzelnen  Menschen  genauer  zu  sondieren  und  abzuschätzen 
vermocht  oder  auch  nur  gewünscht  hätte.  So  ist  es  zunächst 
kaum  zu  verstehen,  wie  Jesus  unter  den  zwölf  Jüngern,  die 
er  erwählt  hatte,  einen  Schurken,  wie  den  Judas,  dulden  und 
mit  den  elf  übrigen  vertrauensvoll  aussenden  konnte,  um  die 
Nähe  des  Himmelreichs  zu  verkündigen.  Man  hat  es  versucht, 
den  Judas  weifszuwaschen ;  er  habe,  so  meint  man,  durch 
seinen  Verrat  nur  Jesum  zwingen  wollen,  sich  für  den  Messias 
zu  erklären  und  die  Macht  an  sich  zu  reifsen;  aber  derartige 
Versuche  scheitern  an  der  Tatsache,  dafs  er  Geld  dafür  nahm, 
seinen  Verrat,  und  noch  dazu  in  so  schamloser  Weise,  aus- 
zuführen; daher  er  noch  um  eine  Stufe  tiefer  steht  als  der 
Verräter  Brutus,  mit  welchem  zusammen  er  von  Dante  in  den 
untersten  Höllenpfuhl  versetzt  wird.  Aber  auch  an  seinen 
andern  Jüngern  hat  der  Meister  nicht  viel  Freude  erlebt.  Oft 
genug  schilt  er  ihren  Unverstand  und  ihre  Kleinmütigkeit. 
Er  erzählt  ihnen  das  Gleichnis  vom  Säemann,  dessen  Be- 
deutung so  durchsichtig  ist;  sie  aber  verstehen  es  nicht, 
kommen  und  bitten  Jesum,  es  ihnen  zu  erklären,  worauf  er 
erwidert:  „Versteht  ihr  dieses  Gleichnis  nicht,  wie  wollt  ihr 
denn  die  andern  alle  verstehen?"  (Marc.  4,13).  Er  spricht  zu 
ihnen  das  geistvolle  Wort:  „Hütet  euch  vor  dem  Sauerteig 
der  Pharisäer",  sie  aber  verstehen  ihn  so  wenig,  dafs  sie 
unter  sich  sagen:  „Das  wird  es  sein,  dafs  wir  nicht  haben 
Brot  mit  uns  genommen"  (Matth.  16,7).     Während  Jesus  in 


3.  Jesu  Bew'ufstsein  von  Gott  und  von  der  Welt.  219 

Gethsemane  in  der  gröfsten  Seelennot  ist,  kämpfen  sie  mit  dem 
Schlafe,  und  als  der  Verräter  mit  den  Schergen  herankommt, 
ihren  Herrn  gefangen  zu  nehmen,  „da  verliefsen  ihn  alle 
Jünger  und  flohen"  (Matth.  26,56,  Marc.  14,50).  Wir 
brauchen  nicht  eben  hoch  von  uns  zu  denken,  um  zu  glauben, 
und  tausende  in  jeder  der  seit  Jesu  vergangenen  Generationen 
werden  diesen  Glauben  geteilt  haben,  dafs  sie  sich  stark 
genug  fülilten,  mit  einem  solchen  Herrn  und  Meister  lieber 
das  Aufserste  zu  erdulden,  als  ihn  im  Augenblick  der  gröfsten 
Not  schmählich  im  Stiche  zu  lassen.  War  die  Gesinnun»;  der 
Jünger  wirklich  eine  so  niedrige,  oder  war  der  Eindruck  der 
Persönlichkeit  Jesu  in  der  Gegenwart  nicht  so  mächtig,  wie 
er  auf  uns  in  der  Ferne  wirkt?  Diese  Frage  ist  um  so  schwerer 
zu  entscheiden,  als  möglicherweise  keine  einzige  Schrift  des 
Neuen  Testaments  von  einem  Augenzeugen  des  Wirkens  Jesu 
herrührt.  Am  meisten  kann  noch  die  Offenbarung  Johannis 
darauf  Anspruch  machen,  ein  Werk  des  Jüngers  Johannes  zu 
sein,  des  Donnersohnes,  wie  ihn  Jesus  nannte  (Marc.  3,17; 
vgl.  Luc.  9,54),  ein  Buch,  dessen  wilde  Poesie  wir  mit  der 
Bemerkung  auf  sich  beruhen  lassen  können,  dafs  der  Verfasser 
jedenfalls  von  dem  wirklichen  Entwicklungsgang,  den  die 
christliche  Kirche  genommen  hat,  keine  Ahnung  hatte.  Von 
dem  spätem  Wirken  der  meisten  Apostel  haben  wir,  abgesehen 
von  dem,  was  in  den  Briefen  des  Apostels  Paulus  steht,  keine 
sichere  Kunde,  dieser  aber  scheint  ihre  Verdienste  nicht  allzu- 
hoch anzuschlagen,  wenn  sie  von  ihm  nicht  ohne  leichte 
Ironie  als  oi  SoxoOvtö^  (Gal.  2,2.6),  oi  Soxoüvts?  axijAO!,  slvat, 
(Gal.  2,9),  o[  uTTspXiav  äiüoaxoXoi  (2.  Kor.  11,5  und  12,11)  be- 
zeichnet werden,  und  wenn  er,  gewifs  mit  Recht,  erklärt: 
„Ich  habe  viel  mehr  gearbeitet  als  sie  alle"  (1.  Kor.  15,10; 
vgl.  2.  Kor.  11,23).  Jesus  selbst  scheint  unter  seinen  Jüngern 
die  gröfste  Hoffnung  auf  Petrus  gesetzt  zu  haben,  zu  welchem 
er  nach  dessen  oben  erwähntem  Bekenntnis  die  Worte  spricht : 
„Du  bist  Petrus,  und  auf  diesen  Felsen  (Tterpa)  will  ich  bauen 
meine  Gemeinde,  und  die  Pforten  der  Höllen  sollen  sie  nicht 
überwältigen"  (Matth.  16,18).  Mit  diesem  Urteil  mufs  man 
vergleichen,  was  über  Petrus  berichtet  wird,  dafs  er  in  der 
Nacht  der  Gefangennahme,  ehe  der  Hahn  krähte,  d.  h.  ehe 


220  ^^^^-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

der  Morgen  nahte,  seinen  Herrn  dreimal  hinter  einander  ver- 
leugnet haben  soll,  und  dafs  er,  wie  Paulus  Gal.  2  erzählt, 
bei  einem  Besuch  in  Antiochien  sich  dazu  bestimmen  liefs, 
mit  den  Heidenchristen  zu  Tische  zu  sitzen,  dann  aber,  als 
einige  Judenchristen  von  der  durch  Jakobus  in  Jerusalem 
vertretenen  Richtung  angereist  kamen,  für  seine  Reputation 
in  Jerusalem  fürchtete  und  steh  von  den  Heidenchristen  zurück- 
zog, worauf  ihm  Paulus  vor  aller  Augen  die  bekannte  derbe 
Zurechtweisung  erteilte  (Gal.  2,14).  Die  Hochschätzung,  welche 
gerade  Petrus  im  katholischen  Mittelalter  genofs,  erklärt  sich 
zum  Teil  wohl  daraus,  dafs  er,  im  Gegensatze  zu  Paulus  als 
dem  Apostel  der  Gebildeten  und  Denkenden,  ein  typischer 
Vertreter  der  Volksseele  war,  welche  sich  -leicht  zur  Be- 
geisterung für  das  Hohe  und  Edle  entflammen  läfst,  aber  bald 
darauf  wankelmütig  ins  Gegenteil  umschlägt. 

3.  Jesu  Welt  trotz.  Es  ist  sehr  begreiflich,  dafs  ein 
Genius,  welcher  berufen  ist,  das  geistige  Leben  der  Mensch- 
heit in  ganz  neue  Bahnen  zu  leiten,  den  brennenden  Wunsch 
und  die  Hoffnung  hegt,  schon  die  Zeitgenossen  für  seine  Ideale 
zu  gewinnen,  —  es  ist  aber  auch  sehr  begreiflich,  dafs  ein 
beträchtlicher,  und  nicht  immer  der  schlechteste,  Teil  der  Zeit- 
genossen jeder  gewagten  Neuerung,  deren  Konsequenzen  er 
nicht  zu  übersehen  vermag,  mifstrauisch  gegenübersteht  und 
mit  Zähigkeit  an  dem  von  den  Vätern  überkommenen,  durch 
die  Zeit  bewährten  und  gleichsam  geheiligten  Alten  festhält, 
wie  denn  selbst  eine  so  edle  Natur  wie  die  des  Apostels 
Paulus  vor  seiner  Bekehrung  „über  die  Mafse  um  das  väter- 
Hche  Gesetz  eiferte"  (Gal.  1,14).  Auch  auf  geistigem  Gebiete 
gilt  das  Gesetz,  dafs  natura  non  facit  saltus,  dafs  eine  gesunde 
Entwicklung  nicht  in  Sprüngen  vor  sich  geht,  sondern  nur 
stetig  und  allmählich  von  weniger  Gutem  zum  Bessern  fort- 
schreitet. Wer  dies  aufser  acht  läfst  und  mit  Ungestüm  das 
Alte  einreifst,  um  Neues  und  Besseres  an  seine  Stelle  zu 
setzen,  der  läuft  Gefahr,  sich  selbst  zum  Märtyrer  seiner  Über- 
zeugung zu  machen,  und  dies  ist,  wie  bei  so  vielen  grofsen 
Erscheinungen  in  der  Weltgeschichte,  auch  bei  Jesu  der  Fall 
gewesen.  Sein  feuriges  Temperament  erlaubte  ihm  kein  ge- 
duldiges Abwarten,  und  er  ist   sich   des  Gewaltsamen  seines 


3.   Jesu  Bewul'stseiii  von  Gott  uiul  von  der  Welt.  221 

Auftretens  selbst  deutlich  bewul'st,  wenn  er  sagt:  „Von  den 
Tagen  Johannis  des  Täufers,  bis  hieher,  leidet  das  Himmelreich 
Gewalt;  und  die  Gewalt  tun,  reifsen  es  an  sich"  (Matth.  11,12). 
Schroff  und  rücksichtslos  stellt  er  seine  hohen  ethischen  An- 
schauungen dem  in  Buchstabenkultus  und  Werkheiligkeit 
erstarrten  Judentum  entgegen;  er  vernachlässigt  die  jüdischen 
Speisegesetze:  „Was  zum  Munde  eingehet,  das  verunreinigt 
den  Menschen  nicht,  sondern  was  zum  Munde  ausgehet,  das 
verunreiniget  den  Menschen"  (Matth.  15,11),  er  sitzt  zu  Tische 
mit  Zöllnern  und  Sündern,  verlangt  von  seinen  Jüngern  nicht, 
dafs  sie  fasten,  dafs  sie  die  Hände  vor  dem  Essen  waschen, 
und  behandelt  die  Kranken  auch  am  Sabbat.  Hierzu  kommen 
seine  heftigen  Ausfälle  gegen  das  Treiben  der  Pharisäer  und 
Schriftgelelirten,  von  denen  uns  Matth.  23  eine  Probe  erhalten 
ist.  Er  tadelt  ihre  Scheinheiligkeit  und  Habgier,  ihr  klein- 
liches Kleben  am  Buchstaben  des  Gesetzes  und  ihre  Bedrückung 
des  Volkes  durch  Vorschriften,  welche  sie  selber  zu  halten 
nicht  gesonnen  sind;  immer  kühner  wird  sein  Auftreten;  er 
läfst  es  sich  gefallen,  dafs  das  Volk  ihn  bei  seinem  Einzüge 
in  Jerusalem  als  Messias  feiert,  und  treibt  mit  eigener  Hand 
Krämer  und  Wechsler  aus  dem  Vorhofe  des  Tempels  weg, 
zum  Entsetzen  der  Pharisäer  und  Schriftgelehrten,  welche 
nicht  wagten,  gegen  ihn  einzuschreiten,  so  lange  er  von  einer 
ihm  zujubelnden  Volksmenge  umgeben  und  geschützt  war, 
und  erst  als  diese  sich  verlaufen  hatte,  Mittel  und  Wege 
fanden,  ihn  zu  verderben. 

4.  Das  Schicksal  Jesu. 

Nicht  immer  scheint  Jesus  den  Vorurteilen  seines  Zeit- 
alters so  kühn  entgegengetreten  zu  sein,  wie  in  Jerusalem 
während  der  letzten  Woche  seines  Lebens.  In  der  ersten 
Periode  seiner  Wirksamlceit,  welche  sich  von  der  Gefangen- 
nahme Johannes  des  Täufers  bis  über  dessen  Hinrichtung 
hinaus  erstreckt,  und  in  der  sich  Jesu  Wirken  auf  Galiläa 
und  dessen  Umgebung  beschränkte,  lassen  sich  Anzeichen 
einer  gewissen  Behutsamkeit  erkennen,  welche  in  dem  nach 
Heilerfolgen    so   häufigen  Verbote,    dieselben    kundzumacJien, 


222  Vn.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

zum  Ausdruck  kommen  und  vermuten  lassen,  dafs  auch  die 
Schärfe  in  der  Verurteilung  des  Pharisäerwesens  von  dem 
mildern,  in  der  Bergpredigt  angeschlagenen  Ton  bis  zu  der 
grofsen  Strafpredigt  in  Jerusalem  (Matth.  23)  stetig  zugenommen 
hat.  Als  nach  der  Enthauptung  des  Johannes  die  Aufmerksam- 
keit des  Herodes  auch  auf  Jesum  gelenkt  wurde,  fand  dieser 
es  geraten,  der  Gefahr  aus  dem  Wege  zu  gehen  (Matth.  14,13); 
wir  finden  ihn  bald  in  der  Wüste  (Speisung  der  Fünftausend) 
oder  auf  einem  entlegenen  Berge  (Speisung  der  Viertausend), 
bald  in  der  Gegend  von  Tyrus  und  Sidon,  bis  er  schliefslich 
seinen  Aufenthalt  in  der  Umgebung  von  Cäsarea  Philippi,  im 
Tetrarchat  des  milde  und  gerecht  regierenden  Philippus,  wählte, 
wo  er  vor  den  Nachstellungen  des  Herodes  (Luc.  13,31)  in 
Sicherheit  war.  Hier  erfolgte  das  Bekenntnis  des  Petrus  (oben 
S.  214)  und  der  Entschlufs  Jesu,  als  Messias  den  Gefahren 
Trotz  zu  bieten  und  seine  Gegner  in  der  Hochburg  des  Juden- 
tums, in  Jerusalem  selbst,  aufzusuchen.  Wohl  mag  er  auf 
dieser  letzten  Reise  von  düstern  Ahnungen  erfüllt  gewesen 
sein,  mag  auch  wohl  schon  neben  dem  ihm  aus  Daniel  vor- 
schwebenden Bilde  des  triumphierenden  Messias  Andeutungen 
eines  leidenden  Messias  in  Stellen  wie  Jes.  53  und  Ps.  22  als 
erster  gefunden  haben,  dafs  er  aber  den  Jüngern  sein  Leiden  und 
Sterben  und  wohl  gar  seine  Auferstehung,  wie  die  Evangelien 
erzählen,  mit  Bestimmtheit  vorausgesagt  habe,  ist  gegen  alle 
psychologische  Wahrscheinlichkeit  und  steht  auch  im  Wider- 
spruch damit,  dafs  Jesus  noch  in  Gethsemane  an  die  Möglich- 
keit glaubte,  dafs  dieser  Kelch  an  ihm  vorübergehen  könne. 
Wie  sich  Jesus  den  weitern  Gang  vorstellte,  den  die  Er- 
eignisse nehmen  würden,  ist  allerdings  schwer  zu  sagen.  Er 
wufste  sich  als  den  Messias,  der  bestimmt  sei,  noch  vor 
Ablauf  der  jetzt  lebenden  Generation  das  Weltende  und  Welt- 
gericht herbeizuführen.  Er  wufste  Elias  als  seinen  Vorläufer 
und  hat  sicher  an  dessen  Himmelfahrt  fest  geglaubt.  Durfte 
er  nicht  annehmen,  dafs  auch  ihn  sein  himmlischer  Vater  in 
Not  und  Gefalir  nicht  im  Stiche  lassen  werde,  dafs  er  durch 
ein  Wunder  gerettet,  etwa  wie  Elias  auf  feurigem  Wagen 
emporgehoben  werden  könnte  bis  zu  dem  Throne  des  Alten, 
wie  ihn  Daniel  nennt,  um  von  dort  in  den  Wolken  des  Himmels 


4.  Das  Schicksal  Jesu.  223 

als  Weltrichter  zurückzukehren?  Wie  dem  auch  sei,  jeden- 
falls war  es  die  Überzeugung,  dafs  Gott  ihn  nicht  verlassen 
werde,  welche  ihm  den  Mut  eingab,  in  Jerusalem  so  aufzu- 
treten, wie  wir  es  gesehen  haben.  Inzwischen  zogen  sich  die 
Wolken  über  ihm  zusammen;  im  Kreise  der  eigenen  Jünger 
fühlte  er  sich  vor  Verrat  nicht  mehr  sicher;  immer  deutlicher 
mochte  er  ahnen,  dafs  schlimme  Dinge  bevorstünden. 

In  dieser  Stimmung  feierte  er  mit  seinen  Jüngern  das  letzte 
Abendmahl.  Hierüber  haben  wir  den  urkundlichen  Bericht  des 
Apostels  Paulus,  der  ihn  ohne  Zweifel  von  Augenzeugen  erhalten 
hat,  1.  Kor.  11,23 — 26:  „Denn  der  Herr  Jesus  in  der  Nacht,  da 
er  verraten  ward,  nahm  er  das  Brot,  dankte  und  brach  es  und 
sprach:  Nehmet,  esset,  das  ist  mein  Leib,  der  für  euch  ge- 
brochen wird;  solches  tut  zu  meinem  Gedächtnis.  Desselbigen 
gleichen  auch  den  Kelch  nach  dem  Abendmahl  und  sprach: 
Dieser  Kelch  ist  das  neue  Testament  in  meinem  Blut;  solches 
tut,  so  oft  ihr  es  trinket,  zu  meinem  Gedächtnis.  Denn  so 
oft  ihr  von  diesem  Brot  esset,  und  von  diesem  Kelch  trinket, 
sollt  ihr  des  Herrn  Tod  verkündigen,  bis  dafs  er  kommt." 
Ohne  uns  hier  bei  dem  Wörtchen  „ist"  aufzuhalten,  welches 
so  viel  unnötigen  Staub  aufgewirbelt  hat,  müssen  wir  doch 
aus  dieser  Stelle  zweierlei  entnehmen,  erstlich,  dafs  Jesus 
nach  der  Wendung,  welche  die  Dinge  genommen  hatten, 
sein.en  Tod  mit  Bestimmtheit  voraussah,  und  zweitens,  dafs 
er  das  Bewufstsein  hatte,  für  seine  Anhänger  in  den  Tod  zu 
gehen.  Das  erstere  steht  allerdings  in  Widerspruch  damit, 
dafs  Jesus,  wie  schon  oben  bemerkt,  noch  in  Gethsemane 
eine  Rettung,  ein  Vorübergehen  des  Kelches  für  möglich  hielt, 
und  wir  werden  annehmen  dürfen,  dafs,  je  nach  der  Stimmung, 
beide  Möglichkeiten  abwechselnd  sein  Gemüt  beherrschten; 
das  letztere  aber  erklärt  sich  wohl  daraus,  dafs  Jesus  in  dem 
Mafse,  wie  die  Schwierigkeit  der  Lage  einen  andern  Ausweg 
immer  unwahrscheinlicher  machte,  anfing,  sich  mit  dem  Knecht 
Gottes  Jes.  53  zu  identifizieren  und  auf  sich  die  Worte  zu 
beziehen:  „Die  Strafe  liegt  auf  ihm,  auf  dafs  wir  Frieden 
hätten,  und  durch  seine  Wunden  sind  wir  geheilet." 

Furchtbar  ist  das  Schicksal,  welches  dem  geistig  wie 
sittlich  so  hoch-  über  seinem  Zeitalter  stehenden  Manne  von 


224  VII.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

seinen  Gegnern,  und  nicht  nur  von  diesen  allein,  "bereitet 
wurde.  Empörend  sind  die  Beschuldigungen  im  Verhör  Jesu 
vor  dem  Hohen  Rate,  denen  er  nur  ein  erhabenes  Schweigen 
entgegensetzte.  Entsetzlich  sind  die  Mifshandlungen  und  Ver- 
höhnungen durch  rohe  Kriegsknechte,  aber  das  Schwerste 
von  allem  war  doch,  dafs  keiner  der  Jünger,  die  er  erwählt, 
belehrt  und  geliebt  hatte,  ihm  Beistand  leistete,  dafs  sie 
sämtlich  in  der  Stunde  der  gröfsten  Not  ihren  Meister  schmäh- 
lich verlassen  hatten.  Doch  wie  alles  Erdenleid  nahm  auch 
dieses,  nahm  auch  die  Qual  des  langsamen  Verschmachtens 
am  Kreuze  ein  Ende.  Das  dritte  und  vierte  Evangelium  legen 
Jesu  am  Kreuze  sechs  schöne  und  würdige  Aussprüche  in  den 
Mund,  welche,  wenn  sie  historisch  wären,  bei  Matthäus  und 
Marcus  sicherlich  nicht  fehlen  würden.  Der  treueste  Bericht 
ist  bei  Matthäus  (in  allem  Wesentlichen  mit  Marcus  überein- 
stimmend) erhalten:  Kap.  27,46 — 50:  „Und  um  die  neunte 
Stunde  schrie  Jesus  laut,  und  sprach:  EU,  EU,  lama  asab- 
thani?  das  ist:  Mein  Gott,  mein  Gott,  warum  hast  du  mich 
verlassen?  Etliche  aber,  die  da  standen,  da  sie  das  höreten 
sprachen  sie:  Er  ruft  den  Elias.  Und  bald  lief  Einer  unter 
ihnen,  nahm  einen  Schwamm,  und  füllete  ihn  mit  Essig,  und 
steckte  ihn  auf  ein  Rohr,  und  tränli;te  ihn.  Die  Andern  aber 
sprachen:  Halt,  lafs  sehen,  ob  Elias  komme,  und  ihm  helfe! 
Aber  Jesus  schrie  abermal  laut,  und  verschied."  Wie  der 
letzte  Ausruf  Jesu  zu  verstehen  sei,  ob  er  einen  Trost  darin 
suchte,  dafs  er  sich  selbst  als  den  leidenden  Messias  in  den 
Worten  des  Psalms  (22,2)  wiedererkannte,  —  oder  ob  er,  von 
physischer  und  geistiger  Schwäche  übermannt,  einen  Augen- 
blick an  seiner  ganzen  Lebensaufgabe  irre  wurde  und  ver- 
zweifelte — ,  mufs  dahingestellt  bleiben.  Die  Bedeutung 
seines  Werkes  wird  durch  diese  Frage  nicht  berührt. 


Die  Geschichte  des  Todes  Jesu  bildet  eines  der  schwär- 
zesten Blätter  in  den  Annalen  der  Menschheit.  Hier  scheint 
das  Wort:  tout  comprendre  c'est  tont  pardonner  eine  Aus- 
nahme erleiden  zu  müssen.  Verziehen  werden  kann  diese 
Untat  nimmermehr,  und  sie  ist  nicht  verziehen  worden,  denn 


4.  Das  Schicksal  Jesu.  225 

fürchterlich  hat  sich  durch  alle  kommenden  Jahrhunderte  an 
dem  unglücklichen  Volke  der  Juden  das  (schwerlich  historische) 
Wort  erfüllt:  „Sein  Blut  komme  über  uns  und  unsere  Kinder!" 
(Matth.  27,25).  —  Aber  verstehen,  d.  h,  als  notwendige  Folge 
vorhergehender  Ursachen  begreifen  lassen,  wird  sich,  wie  alles 
in  der  Welt,  so  auch  dieses  Unerhörte,  dafs  die  Juden  den 
edelsten  Mann,  den  ihre  Nation  je  hervorgebracht  hat,  so 
schmählich  hingemordet  haben.  Der  Hauptgrund  dafür  ist 
sicherlich  darin  zu  suchen,  dafs  Jesus,  aufschiefsend  wie  ein 
Palmbaum  unter  niedrigem  Gestrüpp,  zu  hoch  über  seinem 
Zeitalter  und  Volke  stand,  um  von  ihm  verstanden  zu  werden; 
verstanden  ihn  doch  seine  eigenen  Jünger  nicht.  Wie  kann 
man  von  einem  römischen  Verwaltungsbeamten  gewöhnlichen 
Schlages,  wie  es  Pilatus  war,  erwarten,  dafs  er  einen  Jesus 
habe  würdigen  können?  Er  hatte  die  schwere  Aufgabe,  ein 
unbändiges,  verkommenes  Volk  im  Zaume  zu  halten,  und  um 
vor  ihm  Ruhe  zu  haben,  hat  er  nach  einigem  Widerstreben 
Jesum  geopfert  Aber  nicht  das  Volk,  sondern  seine  Leiter, 
die  Pharisäer  und  Schriftgelehrten,  sind  für  die  Ermordung 
Jesu  verantw^ortlich  zu  machen,  und  auch  diese,  die  blinden 
Leiter  der  Blinden,  wie  sie  Jesus  nennt,  haben  sich  nicht  aus 
Bosheit,  sondern  aus  Unwissenheit  an  ihm  versündigt,  sie 
wufsten  nicht,  was  sie  taten,  als  sie  ihn  ans  Kreuz  schlagen 
liefsen,  und  konnten  es  nicht  wissen.  Eingerostet  in  den  er- 
erbten Vorurteilen  ihres  Zeremonialgesetzes  und  unfähig  zu 
verstehen  oder  auch  nur  ernstlich  zu  prüfen,  was  diesem  zu- 
wider war,  mufsten  sie  in  Jesu  einen  verwegenen  Neuerer 
sehen,  der  um  so  gefährlicher  war,  je  heftiger  und  rücksichts- 
loser er  gegen  sie  auftrat.  Die  weltliche  Herrschaft  war  an 
die  Römer  verloren  gegangen;  nur  die  geistige  Leitung  des 
Volkes  w^ar  dem  Hohenpriester  und  den  Schriftgelehrten  ver- 
blieben. Was  Jesus  wollte,  war  ihnen  nicht  klar,  und  nur 
eines  war  ihnen  klar,  dafs  der  letzte  Rest  ihres  Einflusses  auf 
die  Volksmassen  verloren  ging,  wenn  dieselben  Jesu  zufielen, 
wozu  nach  den  Vorgängen  bei  seinem  Einzüge  in  Jerusalem 
alle  Aussicht  war.  Sie  kämpften  um  ihre  Existenz:  entweder 
sie  mufsten  fallen  oder  er;  sie  wählten  das  letztere,  denn  omms 
natura  vult  esse  conservatrix  sui.     Ein   zufälliges  Zusammen- 

Dkcssen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,u.  J5 


226  VII.   Leben  uud  Lehre  Jesu. 

treffen  von  Umständen,  vor  allem  die  Arglosigkeit  Jesu, 
vermöge  deren  er,  statt  wie  sonst  nach  Bethanien  zurück- 
zukehren,  die  verhängnisvolle  Nacht  in  Gethsemane  zubrachte, 
begünstigte  ihren  Anschlag.  Wir  wissen  nicht,  welche  Agi- 
tation sie  betrieben  haben,  um  die  Menge  umzustimmen  und 
die  schon  halb  verlorene  Volksgunst  wiederzugewinnen;  wäre 
es  ihnen  nicht  gelungen,  so  hätte  der  Ausgang  leicht  ein 
anderer  sein  können,  und  die  Entwicklung  der  Weltgeschichte 
würde  einen  andern  Gang  genommen  haben. 


Der  Glaube  an  die  Auferstehung  Jesu  ist  der  Grund  für 
die  Entstehung  der  christlichen  Kirche  geworden.  Wie  dieser 
Glaube  unter  den  entmutigten  und  den  Verlust  ihres  Meisters 
betrauernden  Jüngern  habe  entstehen  können,  läfst  sich  bei 
den  Widersprüchen  und  der  teilweisen  Verworrenheit  der 
evangelischen  Überlieferung  nur  vermutungsweise  ermitteln. 
Wollen  wir  aber  nicht  so  weit  gehen,  den  Berichten  der  Evan- 
gelien alle  Glaubwürdigkeit  abzusprechen,  wollen  wir  nicht 
annehmen,  dafs  das  alles  erst  später,  als  niemand  mehr  in 
der  Lage  war,  die  Gerüchte  an  dem  Tatbestande  zu  kontrollieren, 
willkürlich  erdichtet  worden  sei,  so  scheinen  sich  doch  zwei 
Tatsachen  aus  der  Mitte  der  sie  umrahmenden  Legenden  als 
historisch  gesichert  zu  ergeben : 

erstlich,  dafs  Jesus  am  Kreuze  wirklich  gestorben  .ist, 
denn  unmöglich  konnte  der  Glaube  seiner  siegreichen  und 
glorreichen  Auferstehung  an  das  Fortleben  einer  siechen,  durch 
Martern  aller  Art  geschwächten  Persönlichkeit  anknüpfen ;  und 

zweitens,  dafs  die  Frauen,  welche  am  Morgen  nach  dem 
Sabbat  kamen,  um  den  Leichnam  zu  salben,  das  Grab,  in 
welchem  sie  denselben  vermuteten,  leer  fanden,  eine  Tatsache, 
welche  den  Glauben,  der  Herr  sei  neubelebt  aus  dem  Grabe 
hervoro;eo;ano;en,  und  weiterhin  das  Gerücht,  man  habe  ihn 
hier  und  da  gesehen,  veranlafste.  Wie  aber -jene  Tatsache 
zu  erklären  ist,  auf  welchem  seltsamen  Zufalle  oder,  wenn 
man  will,  auf  welcher  Fügung  es  beruhte,  dafs  die  Frauen 
das  Grab  leer  fanden,  darüber  lassen  sich  nur  Vermutungen 
äufsern.    Dafs  die  Jüns-er  ihn  heimlich  aus  dem  Grabe  entwendet 


4.   Das  Schicksal  Jesu.  227 

und  daraufhin  die  Predigt  von  seiner  Auferstehung  gegründet 
hätten,  widerspricht  so  sehr  ihrem  weitern  ethischen  Verhalten, 
dafs  eine  solche,  schon  Matth.  27,64  erwähnte,  Möglichkeit 
schlechterdings  von  der  Hand  zu  weisen  ist.  Aber  an  einer 
kleinen  ^)?a  frans  ist,  scheint  es,  doch  nicht  vorbeizukommen. 
Denn  als  das  Gerücht  aufkam,  der  Herr  sei  auferstanden,  da 
waren  einige  oder  mindestens  einer,  welcher  wufste,  wie  die 
Sache  lag,  derjenige  nämlich,  welcher  den  Leichnam  entweder 
von  vornherein  anderswo  untergebracht  oder,  wenn  die  Frauen 
wirklich  bei  der  Grablegung  zugegen  gewesen  sein  sollten, 
ihn  von  dort,  wir  wissen  nicht,  ob  auf  Anordnung  des  Joseph 
von  Arimathia  oder  aus  andern  Gründen,  wieder  weggenommen 
und  an  einem  andern  Orte  bestattet  hatte.  Einer  also  mufste 
wissen,  wo  der  Leichnam  zu  finden  gewesen  wäre,  weil  er 
ihn  selbst  hingebracht  hatte,  dieser  eine  aber,  als  das  Gerücht, 
der  Auferstehung  aufkam,  hat  geschwiegen,  und  dafs  er  schwieg, 
das  ist  die  kleine  pm  frans,  an  welcher,  wie  es  scheint,  nicht 
vorbeizukommen  ist. 

Freilich  haben  wir  über  die  Erscheinungen  des  Auf- 
erstandenen  nicht  nur  die  phantasievollen  und  unvereinbaren 
Berichte  der  Evangelien,  sondern,  was  schwerer  wiegt  als  sie 
alle,  das  Zeugnis  des  Apostels  Paulus,  an  dessen  Redlichkeit 
als  einer  anima  Candida  nicht  zu  zweifeln  ist,  und  der  sich 
L  Kor.  15,3 — 8  also  vernehmen  läfst: 

„Denn  ich  habe  euch  zuvörderst  gegeben,  welches  ich 
auch  empfangen  habe:  dafs  Christus  gestorben  sei  für  unsre 
Sünden  nach  der  Schrift;  und  dafs  er  begraben  sei,  und  dafs 
er  auferstanden  sei  am  dritten  Tage,  nach  der  Schrift;  und 
dafs  er  gesehen  worden  ist  von  Kephas,  darnach  von  den 
zwölfen.  Darnach  ist  er  gesehen  worden  von  mehr  denn 
fünfhundert  Brüdern  auf  einmal:  derer  noch  viele  leben,  etliche 
aber  sind  entschlafen.  Darnach  ist  er  gesehen  worden  von 
Jakobo,  darnach  von  allen  Aposteln.  Am  letzten  nach  allen 
ist  er  auch-  von  mir,  als  einer  unzeitigen  Geburt,  gesehen 
worden." 

Die  letzte  der  sechs  von  Paulus  erwähnten  Christus- 
erscheinungen, welche  ihm  selbst  zuteil  geworden  ist,  liefert 
uns  den  Schlüssel  zu  allen  übrigen.     Bei  der  zu  ekstatischen 


228  ^H-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

Zuständen  neigenden  Natur  des  Apostels  Paulus  ist  es  begreif- 
lich, wie  seinem,  durch  gewaltige  innere  Kämpfe  und  Wand- 
lungen erschütterten  Gemüte  eine  subjektive  Vision  sich  als 
objektive  Begebenheit  darstellen  konnte,  wie  er  den  Herrn, 
dessen  Anhänger  er  so  eifrig  v.erfolgt  hatte,  und  dem  er  in 
plötzlicher  innerer  Umwandlung  mit  der  ganzen  Glut  seines 
feurigen  Temperaments  sich  hingab,  leibhaftig  als  eine  objek- 
tive Erscheinung  gesehen  zu  haben  glaubte.  Von  dieser  Art 
werden  auch  jene  frühern  Erscheinungen  gewesen  sein,  nicht 
nur  die,  welche  dem  Petrus  und  Jacobus,  sondern  auch  die, 
welche  allen  zwölf  Jüngern,  ja  auch  den  fünfhundert  Brüdern 
zuteil  wurden,  denn  dafs  bei  einer  gleichgesinnten  und  religiös 
aufgeregten  Versammlung  die  dem  einen  oder  andern  sich 
darstellenden  Visionen  eine  gewisse  Ansteckungskraft  üben 
und  allen  Anwesenden  sich  mitteilen  können,  ist  eine  psycho- 
logische, durch  Beispiele  aus  allen  Ländern  und  Zeiten  belegte 
Tatsache. 

5.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  Jesu. 

Bei  jedem  Denker  auf  philosophischem  wie  auf  religiösem 
Gebiete  haben  wir,  wie  zu  Eingang  dieses  Werkes  auseinander- 
gesetzt wurde,  zwei  Elemente  in  seinen  Gedanken  zu  unter- 
scheiden, das  traditionelle  Element,  welches  alles  befafst, 
was  er  aus  der  Tradition,  von  seinen  Vorgängern  wie  aus 
dem  Ideenkreise  seines  Zeitalters  und  Volkes  übernommen 
hat,  und  das  originelle  Element,  worunter  wir  nur  das  ver- 
stehen, was  der  philosophische  oder  religiöse  Genius  unmittel- 
bar aus  der  Natur,  aus  der  ihn  umgebenden  Aufsenwelt  wie 
aus  den  psychologischen  Erlebnissen  seines  eigenen  Innern 
schöpfte.  An  das  traditionelle  Element  knüpfen  sich  alle  die 
Mifsverständnisse  und  Verirrungen,  an  denen  das  geistige 
Leben  der  Menschheit  in  philosophischer  wie  in  religiöser  Hin- 
sicht so  reich  ist;  was  hingegen  ein  Denker  an  originellen 
Gedanken  unmittelbar  aus  dem  Eindruck  der  äufsern  und 
innern  Wirklichkeit  geschöpft  hat,  das  kann  wohl  einseitig, 
nicht  aber  eigentlich  falsch  sein,  so  wenig  die  Natur  selbst  es  ist. 

Diese  Unterscheidung  des  traditionellen  Elements  als  der 
blofsen  Schale  und  des   originellen  Elements   als  des  eigent- 


5.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  Jesu.  229 

lieh  wertvollen  und  für  alle  Zeiten  gültigen  Kerns  eines  Ge- 
dankenzusammenlianges  erweist  sich,  wie  überall,  so  auch 
bei  Jesu,  und  bei  diesem  in  besonders  hohem  Grade,  geboten 
und  fruchtbar. 

Wie  jeder  Mensch,  so  stand  auch  Jesus  zunächst  unter 
dem  Einflüsse  der  Traditionen  seines  Zeitalters,  und  in  dieser 
Hinsicht  ist  er  ein  bewufster  Schüler  des  Mose  und  ein  un- 
bewufster  Schüler  des  Zarathustra.  Viele  seiner  Gedanken 
sind  nur  eine  lebendige  Reproduktion  des  von  diesen  beiden 
Meistern  Überkommenen. 

Auf  dem  Mosaismus  beruhen  Jesu  Theismus  sowie  die 
Grundzüge  seiner  Weltanschauung  im  allgemeinen,  während 
er  von  den  Propheten  die  überall  hervortretende  Gering- 
schätzung der  äufserlichen  Kultusbräuche  und  das  Dringen 
auf  Reinheit  des  Herzens,  auf  Gerechtigkeit  und  Mitleid  über- 
nommen hat,  wie  sich  dies  am  kürzesten  und  schönsten  in 
dem  wiederholt  von  ihm  zitierten  Ausspruch  des  Hosea  (6,6) 
zusammenfassen  iäfst:  eXeov  '^sXw  xcd  ox>  ^ucLav,  „Ich  habe 
Wohlgefallen  an  Barmherzigkeit,  und  nicht  am  Opfer"  (Matth. 
9,13  und  12,7).  Hingegen  hat  Jesus  aus  der  iranischen  Welt- 
anschauung, nicht  direkt,  sondern  durch  Vermittlung  des  zu 
Jesu  Zeit  von  diesen  Vorstellungen  durchdrungenen  Juden- 
tums, wie  oben  gezeigt  wurde,  seine  ausgebildete  Dämonen- 
lehre, wie  auch  seinen  Unsterblichkeitsglauben  in  der  realisti- 
schen Form  einer  Auferstehung  von  den  Toten  übernommen. 
Aber  auch  die  jüdische  Messiasidee  hat  Jesus  in  der  durch 
iranischen  Einflufs  modifizierten  Form,  wie  sie  im  Buche  Daniel 
vorliegt,  sich  zu  eigen  gemacht,  und  nachdem  er  durch  gött- 
liche Eingebung,  wie  sie  dem  Petrus  geworden  war,  den  er- 
warteten Messias  in  sich  selbst  erkannt  hatte,  war  es  eine 
einfache  Konsequenz  dieser  Anschauungen,  dafs  er  sich  für 
berufen  hielt,  noch  bei  Lebzeiten  der  gegenwärtigen  Generation 
Weltende  und  Weltgericht  herbeizuführen,  wobei  natürlich  in 
dem  allgemeinen  Untergang  auch  der  Jerusalems  und  des 
T  empels  einbegriffen  war,  um  dem  neuen  Messianischen  Reiche 
Platz  zu  machen.  So  würde  sich  seine  Weissagung  erklären, 
dafs  kein  Stein  des  Tempels  auf  dem  andern  bleiben  werde, 
so  auch,   wenn  sie  historisch  sein  sollte,   die  ihm  von  seinen 


230  ^"II-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

Gegnern  schuldgegebene  Behauptung,  dafs  er  den  Tempel 
abbrechen  und  in  drei  Tagen  wieder  aufbauen  werde.  Diese 
Weissagungen  Jesu  lebten  in  mündlicher,  vielleicht  auch 
schon  schriftlich  fixierter  Erinnerung  fort,  als  der  jüdische 
Krieg  ausbrach  und  in  seinem  Gefolge  im  Jahre  70  p.  C.  die 
Zerstörung  Jerusalems  und  des  Tempels  sich  verwirklichte, 
während  der  Untergang  der  Welt  noch  auf  sich  warten  liefs. 
Jetzt  war  die  Tradition  genötigt,  die  beiden  von  Jesu  als 
Einheit  gedachten  und  noch  vor  Ablauf  der  lebenden  Gene- 
ration erwarteten  Katastrophen,  die  Zerstörung  Jerusalems  und 
den  Untergang  der  Welt,  von»  einander  zu  trennen,  wobei  die 
bald  nach  70  p.  C.  verfafste  Schilderung  dieser  Vorgänge  bei 
Matthäus,  wie  die  Worte  Matth.  24,29  „bald  (eu^s«?)  aber 
nach  dem  Trübsal  derselbigen  Zeit"  beweisen,  in  jener  Zeit 
der  höchsten  Not  und  Verwirrung  das  Weltende  als  nahe 
bevorstehend  dachte,  während  dasselbe  von  den  später  ver- 
fafsten  Berichten  des  Marcus  (vgl.  13,24)  und  Lucas  (vgl. 
21,24  fg.)  weiter  und  weiter  hinausgeschoben  wird.  Aber  auch 
in  dieser  modifizierten  Form  zeigen  die  eschatologischen  Reden 
Jesu  eine  starke  Abhängigkeit  von  iranischen  Vorstellungen. 
Wie  dort  (vgl.  oben  S.  142)  der  aus  dem  Samen  des  Zara- 
thustra  stammende  ^aoslnjang  (d.  h.  „der  da  retten  wird", 
„der  Heiland"),  so  bewirkt  hier  der  aus  dem  Samen  Davids 
stammende  Messias  die  Auferstehung  der  Toten  und  das  Welt- 
gericht. Wie  QaoshyanQ  dabei  von  fünfzehn  männlichen  und 
fünfzehn  weiblichen  Gehilfen  unterstützt  wird,  so  verhelfst 
Jesus  seinen  Jüngern,  dafs  sie  auf  zwölf  Stühlen  sitzen  werden 
und  richten  die  zwölf  Geschlechter  Israels  (Matth.  19,28),  wie 
der  Weltrichter  dort  die  schwarzen  von  den  weifsen  Schafen, 
so  scheidet  er  hier,  weniger  treffend,  die  Schafe  von  den 
Böcken  (Matth.  25,32).  Diese  Züge  werden  genügen,  um  zu 
zeigen,  dafs  hier  nicht  eine  zufällige  Analogie,  sondern  eine 
direkte  Abhängigkeit  vorliegt,  und  fragen  wir,  auf  wessen 
Seite  die  Priorität  zu  suchen  ist,  so  kann  es  nach  dem,  was 
oben  (S.  133).  über  das  Alter  der  iranischen  Vorstellungen 
beigebracht  wurde,  sowie  nach  den  zahlreichen  Spuren  per- 
sischer Einflüsse  auf  das  Judentum,  denen  wir  im  weitern 
Verlaufe  begegnet  sind,  wohl, keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs 


5.  Philosophische   Elemente  der  Lehre  Jesu.  231 

mit  so  vielem  andern  auch  die  eschatologischen  Vorstellungen 
von  Iran  nach  Palästina  gedrungen  und  dort  von  Jesu  über- 
nommen worden  sind. 

Wenden  wir  uns  von  diesen  auf  Tradition  beruhenden 
Vorstellungen  zu  der  Frage,  worin  denn  eigentlich  das  origi- 
nelle Element  der  Lehre  Jesu  zu  suchen  ist,  so  kann  es 
sich  dabei  nicht  sowohl  um  Gedanken  handeln,  welche  nie 
vorher  ausgesprochen  worden  wären,  als  vielmehr  um  solche 
welche  von  Jesus  aus  dem  unmittelbaren  Eindrucke  der  äufsern 
und  innern  Natur  geschöpft  wurden  und  in  der  Folge  zu  den 
tragenden  Grundpfeilern  der  christlichen  Weltanschauung  ge- 
worden sind.  Was  ist  unter  der  reichen  Fülle  der  in  Jesu 
Reden .  ausgestreuten  Keime  das  eigentlich  W^esentliche,  das 
Senfkorn,  aus  dem  nachmals  der  Baum  des  Christentums  er- 
wachsen ist?  —  Um  in  Beantwortung  dieser  Frage  einen 
methodisch  sichern  Weg  einzuschlagen,  müssen  wir  davon 
ausgehen,  dafs  das  Zentraldogma  des  Christentums,  dafs  die 
spezifische  Lehre,  welche  das  Christentum  vor  allen  andern 
Religionen  auszeichnet,  besteht  in  dem  von  Paulus  ausgebildeten 
und  vom  vierten  Evangelium  fertig  übernommenen  Dogma  der 
Wiedergeburt,  nach  welchem  das  Heil  nicht  von  einem  Tun 
und  Lassen  im  einzelnen,  sondern  von  einer  völligen  üm- 
schaffung  unseres  natürlichen  W^esens,  einer  xat-vr,  vMaic,  wie 
sich  der  Apostel  Paulus  ausdrückt,  zu  suchen  ist.  Diese  Lehre 
findet  sich,  von  un sichern  Anklängen  abgesehen,  beim  histori- 
schen Jesus  noch  nicht,  wohl  aber  lassen  sich  bei  ihm  die 
Keime  nachweisen,  aus  welchen  sie  entsprungen  ist,  und  diese 
Keime  bestehen  in  zwei  Gedanken,  welche  scheinbar  in  Wider- 
spruch mit  einander  stehen,  in  einer  Art  Antinomie,  aus  welcher, 
wie  aus  Stahl  und  Stein  der  lebendige  Feuerfunke,  jene  Grund- 
lehre des  Christentums  von  der  Wiedergeburt  hervorgegangen 
ist.  Mit  modernen  Ausdrücken  können  wir  jene  beiden  sich 
widerstreitenden  Gedanken  Jesu  als  seinen  Determinismus 
und  seinen  kategorischen  Imperativ  bezeichnen. 

1.  Jesu  Determinismus.  Zunächst  kann  es  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dafs  Jesus  überzeugt  war  von  der  empiri- 
schen Unfreiheit  des  Willens,  der  zufolge  jeder  so  handeln 
mufs    und    nicht  anders  handeln   kann,    als   es  seiner  Natur 


232  ^'^II-   Leben  und  Lehre  Jesu. 

gemäfs  ist.  Wie  der  Baum,  so  seine  Früchte ;  wie  der  Mensch, 
so  seine  Taten.  In  der  Bergpredigt  heifst  es  Matth.  7,16 — 18: 
„An  ihren  Früchten  sollt  ihr  sie  erkennen.  Kann  man  auch 
Trauben  lesen  von  den  Dornen,  oder  Feigen  von  den  Disteln? 
Also  ein  jeglicher  guter  Baum  bringet  gute  Früchte:  aber  ein 
fauler  Baum  bringet  arge  Früchte.  Ein  guter  Baum  kann 
nicht  arge  Früchte  bringen  und  ein  fauler  Baum  kann  nicht 
gute  Früchte  bringen."  Wie  dieses  Gleichnis  zu  verstehen 
sei,  lehrt  unmifsverständlich  der  Zusammenhang  Matth.  12, 
wo  die  Pharisäer  einen  besonders  auffallenden  Beweis  ihrer 
Verstocktheit  geben,  indem  sie  behaupten,  Jesus  treibe  die 
Teufel  aus  durch  der  Teufel  Obersten,  worauf  Jesus  erwidert, 
Matth.  12,33 — 35:  „Setzet  entweder  einen  guten  Baum,  so  wird 
die  Frucht  gut:  oder  setzet  einen  faulen  Baum,  so  wird  die 
Frucht  faul.  Denn  an  der  Frucht  erkennet  man  den  Baum. 
Ihr  Otterngezüchte,  wie  könnet  ihr  Gutes  reden,  die  weil  ihr 
böse  seid?  Wefs  das  Herz  voll  ist,  defs  gehet  der  Mund  über. 
Ein  guter  Mensch  bringet  Gutes  hervor  aus  seinem  guten 
Schatz  des  Herzens;  und  ein  böser  Mensch  bringet  Böses 
hervor  aus  seinem  bösen  Schatz."  Das  originelle  und  drastische 
Bild  von  dem  Baum  und  den  Früchten  deutet  darauf  hin,  dafs 
Jesus  die  Überzeugung  von  der  Unfreiheit  des  Willens,  so  oft 
sie  auch  schon  vor  ihm  ausgesprochen  sein  mag,  doch  nicht 
von  andern  übernommen,  sondern  unmittelbar  aus  der  Be- 
obachtung des  Treibens  der  Menschen  um  ihn  her  geschöpft 
hat.  Zugleich  aber  fühlte  er  in  sich  die  Gewifsheit,  welche 
jeder  von  uns  in  seinem  Innern  fühlt,  dafs  unser  Wille  frei 
ist,  nicht  nur  sofern  wir  tun  können,  was  wir  wollen,  sondern 
sofern  es  nur  auf  uns  ankommt,  anders  zu  wollen,  als  wir 
wollen,  ja  sogar  anders  zu  sein,  als  wir  sind,  und  nur  auf 
dieser  in  unserm  tiefsten  Innern  lebenden  Gewifsheit  kann  es 
beruhen,  dafs  Jesus  in  allen  seinen  Reden  von  den  Menschen 
fordert,  das  Gute  zu  tun  und  das  Böse  zu  meiden,  wie  wir 
sogleich  weiter  auszuführen  haben. 

2.  Jesu  kategorischer  Imperativ.  Alle  Forderungen, 
welche  Jesus  an  den  Menschen  stellt,  lassen  sich  zusammen- 
fassen in  dem  einen  grofsen  Imperativ,  Matth.  5,48:  „Darum 
sollt  ihr  vollkommen   sein,  gleichwie  euer  Vater  im  Himmel 


5.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  Jesu.  233 

vollkommen  ist!"  Dieser  Imperativ  ist  ein  kategorischer,  kein 
hypothetischer,  denn  so  oft  auch  Jesus  verheifst:  es  wird  euch 
im  Himmel  wohl  belohnt  werden,  so  sind  derartige  Ver- 
heifsungen  bei  ihm,  ähnlich  wie  die  Postulate  bei  Kant,  doch 
nur  eine  Folge,  nicht  aber  der  Grund  des  sittlichen  Wohl- 
verhaltens ;  er  sagt  nicht :  um  dafür  himmlischen  Lohn  zu  er- 
halten, sondern  weil  es  uns  eine  innere  Stimme  gebietet,  sollen 
wir  das  Gute  tun,  und  haben  wir  es  getan,  dann  sollen  wir 
sagen:  „Wir  sind  unnütze  Knechte;  wir  haben  getan,  was 
wir  zu  tun  schuldig  sind"  (Luc.  17,10).  Entkleiden  wir  dieses 
Wort  der  semitischen  Hülle,  in  welcher  es  auftritt,  so  besagt 
es:  Nicht  aus  Hoffnung  auf  Lohn  sollen  wir  das  Gute  tun, 
sondern  nur  darum,  weil  unser  Gewissen  es  uns  gebietet. 

Der  Widerspruch  zwischen  diesen  kategorischen  Forde- 
rungen Jesu  und  dem  gleichzeitig  von  ihm  vertretenen  Deter- 
minismus verschärft  sich  noch,  wenn  wir  andere  Aussprüche 
Jesu  ins  Auge  fassen.  Zu  den  Alten  ist  gesagt:  Du  sollst 
nicht  töten,  sollst  nicht  ehebrechen,  Jesus  verbietet,  den 
Bruder  zu  hassen,  ein  Weib  anzusehen  ihrer  zu  begehren ;  die 
Alten  verbieten  die  böse  Tat,  Jesus  auch  die  Gesinnung,  aus 
der  sie  entspringt;  die  Alten  verlangen:  Du  sollst  anders 
handeln  als  du  handelst;  Jesus  verlangt:  Du  sollst  anders 
sein  als  du  bist;  dies  aber  ist  nach  der  empirischen  Natur- 
ordnung unmöglich,  ebenso  wie  es  unmöglich  ist,  unsere 
Feinde  zu  lieben,  denjenigen  .zu  helfen,  welche  uns  schädigen, 
und  somit  indirekt  unsere  eigene  Schädigung  zu  fördern. 
Ihren  Höhepunkt  erreichen  diese  Forderungen  Jesu  in  dem 
grofsen  Worte,  dem  gröfsten,  welches  überhaupt  von  ihm  ge- 
sprochen worden  ist :  „Wer  mir  nachfolgen  will,  der  verleugne 
sich  selbst"  (dcTrapv-^cacrtr«  sauirov,  Matth.  16,24).  Man  kann 
alles  verleugnen,  sich  von  allem  lossagen,  nur  nicht  von  sich 
selbst,  wie  ein  Messer  alles  schneiden  kann,  nur  nicht  sich 
selbst.  Erfüllbar  wird  die  Forderung  nur,  wenn  in  dem  Satze : 
„er  verleugne  sich  selbst"  Subjekt  und  Objekt  verschieden 
sind,  wenn  derjenige,  welcher  sich  lossagt,  ein  anderer  ist  als 
der,  von  welchem  er  sich  lossagt;  der  letztere  ist,  mit  dem 
Apostel  Paulus  zu  reden,  der  alte  Mensch,  der  alte  Adam  in 
uns,  der  erstere   der  neue  Mensch,  der  Christus,  welcher  in 


234  VII.   Leben  und  Lehre  Jesu. 

uns  Gestalt  gewinnen  soll;  es  ist  der  Mensch  als  Gott,  welcher 
den  Menschen  als  Menschen  überwindet,  es  ist,  wie  Kant  sagt, 
der  Mensch  als  Ding  an  sich,  welcher  dem  Menschen  als  Er- 
scheinung das  Gesetz  gibt. 

Wie  dies  möglich  sei,  darüber  finden  sich  in  Jesu  Worten 
nur  Andeutungen,  wenn  er  Matth.  19,26  sagt:  „Bei  den  Menschen 
ist  es  unmöglich,  aber  bei  Gott  sind  alle  Dinge  möglich"  oder 
Matth.  15,13 :  „Alle  Pflanzen,  die  mein  himmlischer  Vater  nicht 
gepflanzet,  die  werden  ausgereutet." 

Das  Zusammenbestehen  der  empirischen  Unfreiheit  mit 
der  metaphysischen  Freiheit  unseres  Wesens  ist  das  letzte 
und  höchste  Kesultat  der  Philosophie  Kants,  bei  welchem  es 
sich  als  notwendige  Konsequenz  seiner  ganzen  Weltanschauung 
ergibt.  Jesus  hat  dieses  Kesultat  vorweggenommen,  indem  er 
einerseits  die  äufsere  Notwendigkeit  alles  Geschehens  erkannte, 
andererseits  die  innere  Freiheit  in  der  Selbstbestimmung  unseres 
Wollen s  empfand  und  mit  naiver  Unbefangenheit  aussprach. 
Wie  diese  Gegensätze  zu  versöhnen  seien,  darüber  finden  sich 
in  Jesu  Worten  nur  Andeutungen  wie  die  erwähnten,  deren 
weitere  Entwicklung  dem  Apostel  Paulus  zufiel.  Eine  Ver- 
folgung der  von  Jesu  aufgedeckten  Antinomie  zwischen  der 
Unfreiheit  unseres  dem  Gesetze  der  Kausalität  unterworfenen 
Handelns  und  der  Freiheit  des  Willens  als  unserer  ansich- 
seienden,  kausalitätlosen  Wesenheit  würde  zu  allen  wesent- 
lichen Grundanschauungen  der  Kantischen  Philosophie  ge- 
führt haben. 


VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften. 

Indem  wir  uns  von  dem  Leben  und  Wirken  Jesu  zu  dem 
des  Apostels  Paulus  wenden,  ist  uns  zumute  wie  dem,  welcher 
nach  einer  schönen,  aber  vmsichern  Seefahrt  das  Land  betritt 
und  festen  Boden  unter  den  Füfsen  fühlt.  Sind  uns  doch  hier 
neben  Berichten  durch  andere  eine  Reihe  von  Briefen  von  der 
eigenen  Hand  des  Apostels  erhalten,  denen  wir  nicht  nur 
manche    wertvolle    Angaben    über    sein    äufseres   Leben   und 


1.   Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  235 

Wirken,  sondern  auch  ein  deutliches  und  lebendiges  Bild  von 
seiner  Sinnesart  und  Weltanschauung  verdanken.  Überliefert 
sind  unter  dem  Namen  des  Apostels  Paulus  dreizehn  Briefe, 
von  denen  vier  (der  an  die  Galater,  die  beiden  an  die  Korinther 
und  der  an  die  Rö,mer)  unzweifelhaft  echt,  drei  andere  (die 
beiden  an  Timotheus  und  der  an  Titus)  sicher  unecht,  und 
die  sechs  übrigen  (zwei  an  die  Thessalonicher  und  je  einer  an 
die  Kolosser,  Epheser,  Philipper  und  an  Philemon)  einigen  Be- 
denken oflen  stehen,  so  jedoch,  dafs  bei  den  meisten  derselben 
die  Gründe  für  ihre  Echtheit  überwiegen.  Daneben  dient  als 
Hauptquelle  für  das  äufsere  Wirken  des  Paulus  die  Apostel- 
geschichte, deren  Verfasser,  mag  er  nun  Lucas  oder  anders 
geheifsen  haben,  zugleich  der  des  dritten  Evangeliums  ist  und 
hier,  wo  wir  seinen  Bericht  an  dem  des  Matthäus  und  Marcus 
kontrollieren  können,  nicht  gerade  den  Eindruck  eines  sehr 
sorgfältigen  und  zuverlässigen  Schriftstellers  macht.  Um  so 
wertvoller  sind  diejenigen  Teile  der  Apostelgeschichte,  wo  der 
Verfasser  den  wörtlichen  Bericht  eines  Augenzeugen  in  seinem 
Werke  wiedergibt,  wie  dies  bei  der  Reise  von  Troas  bis  Phi- 
lippi  auf  der  zweiten  (Apostelgesch.  16,10 — 17)  und  wieder  von 
Philippi  über  Troas  bis  Jerusalem  auf  der  dritten  Missionsreise 
(Apostelgesch.  20,5 — 21,  18),  sowie  bei  der  Fahrt  von  Cäsarea 
bis  nach  Rom  (Apostelgesch.  27,1—28,  31)  der  Fall  ist.  Es 
kommen  denn  auch  in  diesen  Berichten  des  Augenzeugen  keine 
eigentlichen  Wunder  vor,  denn  dafs  ein  Knabe  nach  einem 
schweren  Sturz  die  Besinnung  wiedererlangt,  dafs  bei  einem 
Erdbeben  die  Türen  eines  mangelhaften  Provinzialgefängnisses 
aufspringen,  dafs  eine  Schlange  ohne  Schaden  vom  Arme 
abgeschüttelt  werden  kann,  und  dafs  Kranke,  über  denen 
man  gebetet  hat,  post  hoc  wieder  gesund  werden,  kann  man 
nicht  als  Wunder  verzeichnen.  —  Nicht  frei  von  Wunder- 
erzählungen, und  schon  darum  weniger  historisch  gesichert 
als  dieser  Bericht  eines  Augenzeugen,  sind  die  übrigen  Nach- 
richten der  Apostelgeschichte  über  das  frühere  Wirken  des 
Apostels  Paulus,  doch  dürfen  wir  -ihnen  die  Hauptmomente 
seiner  Lebensgeschichte  ohne  Bedenken  entnehmen,  indem 
wir  versuchen,  ihnen  gehörigen  Orts  die  Briefe  des  Apostels 
einzufügen  und  dadurch  für  deren  Veranlassung  ein  besseres 


236  Vni.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

Verständnis  zu  gewinnen,  als  es  die  apokryphen  Unterschriften 
gewähren. 

„Saulus,  der  auch  Paulus  heifst"  (Apostelgesch.  13,9, 
wahrscheinlich  führte  er  von  Haus  aus  beide  Narnen,  erstem 
unter  seinen  Stammesgenossen,  letztern  in  seinem  Verkehr  mit 
den  Griechen)  war  geboren  zu  Tarsus  in  Cilicien,  einer  da- 
mals blühenden  und  reichen  Stadt,  deren  Bildungsanstalten  von 
Strabo  denen  in  Athen  und  Alexandria  gleichgesetzt  werden. 
Hier  war  Paulus  von  einer  jüdischen,  der  Sekte  der  Pharisäer 
angehörenden  Familie  aus  dem  Stamme  Benjamin  geboren, 
welche  das,  durch  Kauf  oder  besondere  Verdienste  erworbene, 
römische  Bürgerrecht  besafs.  Sein  Geburtsjahr  ist  nicht  be- 
kannt; da  wir  ihn  aber  bei  seiner,  wahrscheinlich  in  das 
Jahr  37  p.  C.  fallenden  Bekehrung  wohl  nicht  jünger  als  20, 
aber  auch  nicht  wohl  älter  als  27  Jahre  denken  können,  so 
wird  seine  Geburt  in  die  Zeit  zwischen  10  und  17  p.  C.  ge- 
setzt werden  dürfen.  Dafs  er  an  den  reichen  Mitteln  seiner 
Vaterstadt  zur  Erwerbung  einer  griechischen,  namentlich  auch 
philosophischen,  Bildung  vielen  Anteil  genommen  habe,  ist  bei 
seiner  Zugehörigkeit  zur  strengen  Sekte  der  Pharisäer,  wie 
auch  bei  seinem  ungünstigen  Urteil  über  die  griechische  Philo- 
sophie nicht  anzunehmen;  doch  besafs  er  eine  bei  einem  Juden 
achtungswerte  Kenntnis  der  -griechischen  Sprache,  wie  seine 
Schriften  beweisen.  Aber  wie  diese,  so  wird  auch  sein  münd- 
licher Vortrag  nicht  frei  von  Hebraismen  und  andern  Härten 
gewesen  sein,  und  wenn  die  feinen  Athener  ihn  verächtlich 
als  einen  Landstreicher  {aTZEgi).o\6yoc,  eigenthch  „Krähe")  be- 
zeichneten, so  dürfte  dies  teils  auf  seine  äufsere  Erscheinung, 
teils  auf  die  holperige  Form  seines  Vortrags  zu  beziehen  sein, 
denn  der  Inhalt  seiner  Predigt  von  dem  Auferstandenen  konnte, 
bei  ihrer  stoisch-pantheistischen  Färbung  und  ihrer  Berufung 
auf  den  Zeus-Hymnus  des  Kleanthes,  zwar  wohl  befremden, 
nicht  aber  Geringschätzung  hervorrufen;  nennt  er  sich  doch 
selbst  2.  Kor.  11,6  ihi6xriQ  xü  Aoyw  äX\'  ou  xf^  yvocöi..  —  Zu 
seiner  weitern  Ausbildung  als  Pharisäer  wurde  der  junge 
Paulus  nach  Jerusalem  geschickt,  wo  er  den  Unterricht  des 
weisen  Gamaliel  genofs,  des  grofsen  Greises,  dessen  Andenken 
noch  im  Talmud  fortlebte.     Hier  hat  sich  Paulus  neben   der 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  237 

labbinischen  Methode,  welche  auch  in  seinen  Schriften  nicht 
zu  verkennen  ist,  seine  überall  hervortretende  genaue  Kenntnis 
der  heiligen  Überlieferung  seines  Volkes  erworben,  wenn  auch 
nicht  in  streng  pliilologischem  Sinne,  da  er  sonst  nicht  einer 
Allegorie  zuliebe  Gal.  4,25  die  Hagär  (das  Neben  weih  Abrahams) 
mit  liähär  (dem  Berge  Sinai)  identifiziert  haben  würde.  Paulus 
gibt    sich    selbst   das    Zeugnis,    Gal.  1,14:    xpoexoTUTov    sv    xö 

ccTspo?  ^TjXoT-r]^  '57rdpxwv  t^«v  luaTpt.xöv  [j.ou  TCocpaScaeov,  „ich 
machte  mehr  Fortschritte  im  Judentum  als  viele  meiner  Alters- 
genossen in  meinem  Geschlecht,  da  ich  über  die  Mafsen  ein 
Eiferer  w^ar  für  die  Überlieferungen  meiner  Väter".  Ob  der 
junge  Student  von  Jesu  und  seinem  Wirken  irgendwelche  Notiz 
genommen  hat,  wissen  wir  nicht.  Er  selbst  sagt  2.  Kor.  5,16: 
„Darum  von  nun  an  kennen  wir  niemand  nach  dem  Fleisch; 
und  ob  wir  auch  Christum  gekannt  haben  nach  dem  Fleische, 
so  kennen  wir  ihn  doch  jetzt  nicht  mehr."  Hiernach  kann 
man  zweifeln,  ob  Paulus  Jesum  jemals  gesehen  hat.  Während 
der  letzten  AVoche  von  Jesu  Leben  wird  wohl  auch  er  als 
guter  Jude  zum  Osterfeste  in  Jerusalem  gewesen  sein,  aber, 
vertieft  in  das  Studium  des  Mose  und  der  Propheten,  all  dem 
Lärm  um  ihn  her  vielleicht  keine  sonderliche  Beachtung  ge- 
schenkt haben. 

Inzwischen  hatte  der  Glaube  an  die  Auferstehung  Jesu 
das  versprengte  Häuflein  seiner  Jünger. wieder  gesammelt  und, 
in  dem  Mafse  wie  er  sich  verbreitete,  immer  neue  Anhänger 
von  nah  und  fern  um  die  in  Jerusalem  versammelten  Apostel 
geschart.  Hier  oder  in  der  Umgegend  der  Stadt  mag  es  denn 
auch  gewesen  sein,  dafs  in  einer  begeisterten  Versammlung 
mehr  als  fünfhundert  Brüder  den  Auferstandenen  zu  sehen 
glaubten.  Auch  ein  Versuch,  in  der  jungen,  auf  die  nahe 
Wiederkunft  des  Herrn  hoffenden  Gemeinde  Gütergemeinschaft 
einzuführen,  scheint  gemacht  worden,  und  hier  wie  überall, 
wo  ein  derartiges  Unternehmen  sich  nicht  auf  einen  ganz 
engen  Kreis  beschränkte,  im'  Sande  verlaufen  zu  sein.  In- 
zwischen wuchs  die  Bewegung  in  beunruhigender  Weise  an, 
und  das  Synedrium  fand  es  geraten,  gegen  dieselbe  ein- 
zuschreiten.    Die   Hauptführer,    genannt   werden   Petrus    und 


238  YIIl.   Leben  und  Lebre  des  Apostels  Paulus. 

Johannes,  wurden  vor  den  Hohen  Rat  gefordert  und  verwarnt, 
vielleicht  auch  mit  einer  kurzen  Gefängnisstrafe  belegt,  ohne 
dafs  es  gelang,  ihrem  Predigen  Einhalt  zu  tun;  sie  erklärten, 
man  müsse  Gott  mehr  gehorchen  als  den  Menschen.  Einer 
der  zur  Pflege  der  Gemeinde  ernannten  Diakonen,  Stephanus, 
welcher  sich  am  weitesten  vorgewagt  haben  mochte,  wurde 
vor  das  Synedrium  gefordert  und  beim  Verlassen  desselben 
von  der  aufgeregten,  wütenden  Volksmenge  vor  die  Stadt  ge- 
schleppt und  durch  Steinwürfe  getötet.  Dies  war  das  Signal 
zu  einer  allgemeinen  Verfolgung  der  jungen  Sekte;  viele 
brachten  sich  durch  die  Flucht  in  Sicherheit,  und  gerade 
durch  sie  wurde  der  neue  Glaube  in  immer  weitern  Kreisen 
des  jüdischen  Landes  und  darüber  hinaus  verbreitet. 

Jetzt  war  der  Augenblick  gekommen,  wo  Saulus,  der 
junge  Pharisäer,  die  geheiligten  Überlieferungen  der  Väter 
gefährdet  sah  und  sich  entschlofs,  mit  der  ganzen  stürmischen 
Energie  seiner  Jugend  für  ihre  Rettung  einzutreten.  Er  er- 
wirkte sich  Briefe  vom  Hohen  Rat  und  die  nötigen  Mann- 
schaften, um  die  Christen,  Männer  wie  Weiber,  in  ihren 
Häusern  und  Versammlungen  aufzusuchen,  vor  Gericht  zu 
ziehen  und  ins  Gefängnis  zu  werfen.  Eben  war  er  wieder  auf 
einer  derartigen  Expedition  begriffen,  als  ilim  in  der  Nähe 
von  Damaskus  etwas  ganz  Unerwartetes  begegnete. 

Das  Ereignis  vor  Damaskus,  welches  für  die  ganze  Ent- 
wicklung der  christlichen  Kirche  von  entscheidender  Bedeutung 
geworden  ist,  wird  dreimal  in  der  Apostelgeschichte,  9,3 — 9. 
22,G — 11.  20,12—18,  jedesmal  in  etwas  anderer  Variation  erzählt. 
Paulus  selbst  sagt  Gal.  1,16  nur:  Es  gefiel  Gott  wohl,  seinen 
Sohn  zu  offenbaren  Iv  laoi  „in  mir"  (was  allerdings  auch  „an 
mir"  heifsen  könnte).  Ein  äufseres  Ereignis,  etwa  ein  plötzlich 
in  der  Nähe  des  Paulus  herabfallender  und  ihn  vorübergehend 
blendender  Blitz  mag  sich  in  seiner  aufgeregten  Phantasie  als 
eine  Erscheinung  Jesu  dargestellt  haben.  Auf  das  Plötzliche 
'des  Ereignisses  scheint  auch  der  von  Paulus  1.  Kor.  15,8  ge- 
brauchte Ausdruck  £XTp«[jLa  hinzudeuten.  Von  einer  Umwand- 
lung des  Charakters  (dergleichen  es  überhaupt  nicht  gibt) 
kann  natürlich  keine  Rede  sein;  es  war  dasselbe  Einsetzen 
der  ganzen  Persönlichkeit  für  eine  grofse  Aufgabe,  welche  den 


1.   Des  Paulus   Leben  und  Schriften.  239 

Jüngling  vor  seiner  Bekehrung  zum  eifrigen  Verfolger  und 
nach  derselben  zum  nicht  weniger  eifrigen  Beförderer  des 
Christentums  machte.  Wohl  mag  die  Standhaftigkeit,  welche 
der  Glaube  an  den  Auferstandenen  den  von  ihm  Verfolgten 
und  Gepeinigten  einflöfste,  nicht  ohne  Eindruck  auf  ihn  ge- 
blieben sein,  wohl  mag  er  auch  schon  in  der  strengen  Be- 
folgung des  mosaischen  Gesetzes  keine  rechte  Ruhe  für  seine 
Seele  mehr  gefunden  haben,  aber  zum  Durchbruche  kam  die 
Sache  plötzlich,  indem  aus  Anlafs  der  äufsern  Lichterscheinung 
ihm  ein  inneres  Licht  darüber  aufging,  dafs  dasjenige,  was 
er  vor  allem  schätzte,  die  aufopfernde  Hingabe  der  ganzen 
Persönlichkeit  an  eine  grol'se  Sache,  viel  mehr  auf  selten  der 
von  ihm  verfolgten  Christen  als  bei  seinen  Pharisäern  zu 
finden  sei.  Bei  der  zähen  Beharrlichkeit  aber,  mit  welcher 
der  Apostel  sein  ganzes  Leben  lang  durch  alle  Hindernisse 
hindurch  einen  einmal  vorgesetzten  Zweck  zu  verfolgen 
pflegte,  konnte  seine  Bekehrung  nicht  allmählich,  sondern, 
wenn  überhaupt,  dann  nur  plötzlich  und  mit  einem  Schlage 
stattfinden,  wie  dies  tatsächlich  vor  Damaskus  der  Fall  ge- 
wesen zu  sein  scheint.  Hören  wir,  was  der  Apostel  Gal. 
1,15 — 19 -weiter  über  seine  Bekehrung  berichtet:  ,,Da  es  aber 
Gott  wohlgefiel,  der  mich  von  meiner  Mutter  Leibe  hat  aus- 
gesondert und  berufen  durch  seine  Gnade,  dafs  er  seinen  Sohn 
ofl'enbarete  in  mir,  dafs  ich  ihn  durchs  Evangelium  verkündigen 
sollte  unter  den  Heiden,  alsobald  fuhr  ich  zu,  und  besprach 
mich  nicht  darüber  mit  Fleisch  und  Blut,  kam  auch  nicht 
gen  Jerusalem  zu  denen,  die  vor  mir  Apostel  waren,  sondern 
zog  hin  in  Arabien  und  kam  wiederum  gen  Damaskus.  Dar- 
nach über  drei  Jahre  kam  ich  gen  Jerusalem,  Petrum  zu 
schauen,  und  blieb  fünfzehn  Tage  bei  ihm.  Der  andern  Apostel 
aber  sah  ich  keinen,  ohne  Jacobum,  des  Herrn  Bruder." 

Auffallend  ist  es  zunächst,  dafs  Paulus  nach  dem  Ereignis 
nicht  nach  Jerusalem,  von  wo  er  gekommen  war,  und  wo  er 
seinen  Wohnsitz  hatte,  zurückkehrte,  sondern  von  Damaskus, 
nachdem  er  sich  von  dem  Erlebten  erholt  hatte,  nach  Arabien 
in  die  Einsamkeit  ging,  und  es  so  wenig  eilig  hatte,-  über 
Jesum,  von  dem  er  offenbar  sehr  wonig  wufste,  nähere  Er- 
kundigung bei  den  Aposteln   einzuziehen,   dafs  er  erst  nach 


240  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

seiner  Rückkehr  aus  Arabien,  erst  nachdem  drei  Jahre  seit 
seiner  Bekehrung  verstrichen  waren,  das  Bedürfnis  empfand, 
den  Petrus  zu  befragen  und  sich  zu  einem  nur  kurzen  Besuch 
von  fünfzehn  Tagen  nach  Jerusalem  zu  begeben.  Auch  dafs 
er  aufser  Petrus  und  Jacobus,  dem  Bruder  des  Herrn,  keinen 
der  andern  Apostel  besucht  hat,  ist  bemerkenswert.  Sicher- 
lich wären  sie  ihm  zu  erreichen  gewesen,  wenn  er  darauf  Wert 
gelegt  hätte.  Den  Schlüssel  zu  diesem  sonderbaren  Verhalten 
liefert  die  höchst  bedeutsame  Stelle,  Gal.  1,11 — 12:  „Ich  tue 
euch  aber  kund,  lieben  Brüder,  dafs  das  Evangelium,  das  von 
mir  gepredigt  ist,  nicht  menschlich  ist.  Denn  ich  habe  es 
von  keinem  Menschen  empfangen  noch  gelernet, 
sondern  durch  die  Offenbarung  Jesu  Christi."  Hierdurch  wird 
auch  die  Annahme  hinfällig,  als  habe  Paulus  in  Damaskus 
von  Ananias,  welcher  Art  auch  die  Berührung  mit  diesem  ge- 
wesen sein  mag,  wesentliche  Belehrungen  über  das  Christen- 
tum empfangen.  Er  beruft  sich  darauf,  seine  eigene  Offen- 
barung zu  haben,  und  diese  ist  ilmi  aller . Wahrscheinlichkeit 
nach  in  der  Einsamkeit  in  Arabien  zuteil  geworden.  Der 
Christus  des  Apostels  Paulus  ist  also  von  Haus  aus  nicht  ein 
historischer,  sondern  ein  idealer  Christus ;  auf  ihm  aber  beruht, 
wie  später  zu  zeigen  sein  wird,  ihren  dogmatischen  Grund- 
zügen nach  die  Christusgestalt  des  vierten  Evangeliums  und 
mit  ihm  die  der  christlichen  Kirche  bis  auf  den  heutigen  Tag. 
Die  Bekehrung  des  Paulus  fällt  nach  wahrscheinlicher 
Berechnung  in  das  Jahr  37,  sein  kurzer  Besuch  in  Jerusalem 
in  das  Jahr  41  p.  C.  Seine  erste  Missionsreise  mit  Barnabas 
trat  er  nach  Apostelgesch.  12  und  13  erst  an  nach  dem  44 
erfolgten  Tode  des  Herodes  Agrippa,  also  mutmafslich  erst 
45  p.  C.  Über  die  dazwischen  liegenden  vier  Jahre  berichtet 
Paulus  G^l.  1,21 — 24:  „Danach  kam  ich  in  die  Länder  Syrien 
und  Cilicien.  Ich  war  aber  unbekannt  von  Angesicht  den 
christlichen  Gemeinden  in  Judäa.  Sie  hatten  aber  allein  ge- 
höret, dafs,  der  uns  weiland  verfolgte,  der  prediget  jetzt  den 
Glauben,  welchen  er  weiland  verstörete,  und  priesen  Gott  über 
mir."  Nach  Apostelgesch.  11,25- — 26  wurde  Paulus  von  Barna- 
bas aus  Cilicien  nach  Antiochien  geholt,  um  in  der  neuen 
dort  entstandenen  Gemeinde  zu  wirken.    Von  hier  aus  trat  er. 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  241 

ohne  noch  einmal  in  Jerusalem  gewesen  zu  sein  (Gal.  1,22, 
anders  Apostelgesch.  11,30),  seine  erste  Missionsreise  an,  wahr- 
scheinlich 45  p.  C.  Nicht  genauer  bestimmen  läfst  sich  die 
Zeit  des  Abenteuers  in  Damaskus,  welches  Paulus  2.  Kor. 
11,32 — 33  erzählt:  „Zu  Damaskus  der  Landpfleger  des  Königs 
Aretas  verwahrete  die  Stadt  der  Damasker,  und  wollte  mich 
greifen.  Und  ich  ward  in  einem  Korbe  zum  Fenster  aus  durch 
die  Mauer  niedergelassen,  und  entrann  aus  seinen  Händen." 
Bei  seinem  ersten  Aufenthalt  in  Damaskus  nach  der  Bekehrung 
kann  es  nicht,  wie  es  nach  Apostelgesch.  9,25  scheinen  könnte, 
gewesen  sein,  da  Paulus  damals  noch  keinen  Grund  zur  Ver- 
folgung gegeben  hatte,  auch  nach  einer  solchen  Flucht  aus 
Damaskus  die  Rückkehr  dorthin  nach  seinem  Aufenthalte 
in  Arabien,  welche  er  selbst  Gal.  1,17  bezeugt,  nicht  mög- 
lich gewesen  wäre.  Es  mufs  also  nach  dieser  Rückkehr  aus 
Arabien,  aber  noch  während  der  Regierung  des  Aretas  IV. 
(bis  40  p.  C.)  geschehen  sein,  dafs  Paulus  durch  seine  Predigt 
sich  der  Behörde  verdächtig  machte  und  heimlich  entfliehen 
mufste. 

Vierzehn  Jahre  vor  die  Abfassung  des  zweiten  Korinther- 
briefes,  also  wahrscheinlich  in  das  Jahr  44  und  jedenfalls  vor 
die  erste  Missionsreise,  fällt  eine  für  die  Gemütsart  des  Apostels 
charakteristische  Begebenheit,  von  der  er  2.  Kor.  12,1 — 5 
spricht:  „Es  ist  mir  ja  das  Rühmen  nichts  nütze:  doch  will 
ich  kommen  auf  die  Gesichte  und  OflFenbarungen  des  Herrn. 
Ich  kenne  einen  Menschen  in  Christo  vor  vierzehn  Jahren 
(ist  er  in  dem  Leibe  gewesen,  so  weifs  ichs  nicht;  oder  ist 
er  aufser  dem  Leibe  gewesen,  so  weifs  ichs  auch  nicht;  Gott 
weifs  es).  Derselbige  ward  entzücket  bis  in  den  dritten 
Himmel.  Und  ich  kenne  denselbigen  Menschen  (ob  er  in 
dem  Leibe,  oder  aufser  dem  Leibe  gewesen  ist,  weifs  ich 
nicht;  Gott  weifs  es).  Er  ward  entzücket  in  das  Paradies:  und 
hörete  unaussprechliche  Worte,  welche  kein  Mensch  sagen 
kann.  Davon  will  ich  mich  rühmen:  von  mir  selbst  aber  will 
ich  mich  nichts  rühmen,  ohne  meiner  Schwachheit." 

Seine  erste  Missionsreise  unternahm  Paulus,  wie 
schon  bemerkt,  wahrscheinlich  im  Jahre  45  mit  Barnabas  und 
Johannes  Marcus.     Von  Antiochien  kamen  sie  nach  Seleucia, 

Peussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II, ii.  16 


242  VIII.  Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

fuhren  zu  Schiff  von  dort  nach  Salamis  auf  Cypern,  durch- 
wanderten die  Insel  bis  Paphos,  wo  sie  den  Statthalter  Servius 
Paulus  bekehrten,  und  setzten  dann  über  nach  Perge  in  Pam- 
phylien,  wo  Johannes  Marcus  sie  verliefs,  um  nach  Jerusalem 
zurückzukehren.  Paulus  und  Barnabas  zogen  von  Perge  nach 
Antiochien  in  Pisidien  und  weiter  nordwärts  bis  Ikonium. 
Ihre  Erfolge  an  diesen  beiden  Orten  regten  die  feindliche  Partei 
gegen  sie  auf,  so  dafs  sie  fliehen  mufsten.  Von  Ikonium 
wandten  sie  sich  südöstlich  nach  Lystra  und  Derbe,  kehrten 
auf  demselben  Wege  bis  nach  Perge  zurück  und  gelangten 
zu  Schiff  wieder  nach  Antiochien  in  Syrien,  Das  Verfahren 
des  Paulus  auf  dieser  wie  auf  den  folgenden  Keisen  bestand 
darin,  dafs  er  sich  zunächst  an  die  jüdischen  Synagogen,  wo 
solche  schon  bestanden,  wandte  und  den  Juden  verkündigte, 
dafs  der  von  ihnen  erwartete  Messias  gekommen,  in  Jerusalem 
gekreuzigt  und  begraben,  aber  von  Gott  wieder  von  den  Toten 
auferweckt  worden  sei.  Diese  Predigt  pflegte  dann  eine 
Spaltung  in  der  jüdischen  Gemeinde  zu  erregen;  ein  Teil  der- 
selben schenkte  den  Worten  des  Apostels  Glauben  und  schlofs 
sich  zu  einer.  Christengemeinde  zusammen,  welche  sich  bald 
weiter  ausbreitete,  während  ein  anderer  Teil  an  dem  Gedanken 
eines  gekreuzigten  Messias  grofsen  Anstofs  nahm  und  die  Ver- 
kündiger der  neuen  Lehre  verfolgte.  Mehr  Anklang  fand  das 
Evangelium  unter  der  nichtjüdischen  Bevölkerung.  Was 
Apostelgesch.  17,21  von  den  Athenern  gesagt  wird,  dafs  sie 
auf  nichts  anderes  gerichtet  waren  als  etwas  Neues  zu  hören, 
das  wird  wohl  von  den  Griechen  im  allgemeinen  gelten  dürfen. 
Dazu  kam,  dafs  der  Glaube  an  die  althellenischen  Götter  schon 
lange  stark  erschüttert  war,  und  dafs  die  Lehrsysteme  der 
Stoiker  und  Epikureer  nur  einen  unvollkommenen  Ersatz  boten, 
namentlich  für  die  niedern  Klassen  der  Bevölkerung,  welche 
daher  dem  christlichen  Dogma  mit  seinem  derben  Realismus 
ein  wilhges  Ohr  lieh,  zumal  die  neue  Lehre  mit  sittlichem 
Ernste  und  im  Tone  der  tiefsten  Überzeugung  vorgetragen 
wurde ;  daher  sie  unter  dem  griechischen  Volke  leicht  Wurzel 
schlug,  wiewohl  „nicht  viel  Weise  nach  dem  Fleisch,  nicht 
viel  Gewaltige,  nicht  viel  Edle"  (1.  Kor.  1,26)  zu  seinen  An- 
hängern zählten.  — 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  243 

Paulus  mochte  bei  der  gröfsern  Welterfahrung,  die  er  vor 
den  Üraposteln  voraus  hatte,  wohl  einsehen,  dafs  das  Christen- 
tum immer  nur  auf  enge  Kreise  beschränkt  bleiben  würde, 
wenn  er  seinen  Bekennern  aufser  der  unerläfslichen  Zeremonie 
der  Taufe  auch  noch  die  lästige  Prozedur  der  jüdischen  Be- 
schneidung auferlegte.  Er  tat  daher  den  grofsen,  bisher  durch 
keine  Tradition  gerechtfertigten  Schritt,  dafs  er  die  Hellenen  in 
die  christliche  Gemeinde  aufnahm,  ohne  ihnen  den  Durchgang 
durch  das  jüdische  Zeremoniell  zuzumuten.  Dieser  Schritt 
erregte  in  den  judenchristlichen  Kreisen  in  Jerusalem  grofsen 
Anstofs,  „und  etliche  kamen  herab  von  Judäa  [nach  Antiochien] 
und  lehrten  die  Brüder:  Wo  ihr  euch  nicht  beschneiden  lasset 
nach  der  Weise  Mose,  so  könnet  ihr  nicht  selig  werden" 
(Apostelgesch.  15,1).  Um  die  Streitfrage  zu  schlichten,  begab 
sich  Paulus  mit  Barnabas  und  Titus  14  Jahre  nach  Pauli  Be- 
kehrung, also  51  p.  C,  nach  Jerusalem,  worüber  er  selbst 
Gal.  2,1  fg.  berichtet:  „Darnach  über  vierzehn  Jahr  zog  ich 
abermal  hinauf  gen  Jerusalem  mit  Barnabas,  und  nahm 
Titus  auch  mit  mir.  Ich  zog  aber  hinauf  aus  einer  Offen- 
barung, und  besprach  mich  mit  ihnen  über  dem  Evangelio 
das  ich  predige  unter  den  Heiden;  besonders  aber  mit  denen, 
die  das  Ansehen  hatten,  auf  dafs  ich  niclit  vergeblich  liefe 
oder  gelaufen  hätte.  Aber  es  war  auch  Titus  nicht  gezwungen 
worden,  sich  zu  beschneiden,  der  mit  mir  war,  ob  er  wohl 
ein  Grieche  war.  Denn  da  etliche  falsche  Brüder  sich  mit 
eingedrungen,  und  neben  eingeschlichen  waren,  zu  verkund- 
schaften  unsere  Freiheit,  die  wir  haben  in  Christo  Jesu,  dafs 
sie  uns  gefangen  nähmen,  wichen  wir  denselbigen  nicht  eine 
Stunde,  Untertan  zu  sein,  auf  dafs  die  Wahrheit  des  Evangelii 
bei  euch  bestände.  Von  denen  aber,  die  das  Ansehen  hatten, 
welcherlei  sie  irgend  gewesen  sind,  da  liegt  mir  nichts  an; 
denn  Gott  achtet  das  Ansehen  der  Menschen  nicht.  Mich 
aber  haben  die,  so  das  Ansehen  hatten,  nichts  anderes  ge- 
lehret ;  sondern  im  Gegenteil,  da  sie  sahen,  dafs  mir  vertrauet 
war  das  Evangelium  an  die  Vorhaut,  gleichwie  Petro  das 
Evangelium  an  die  Beschneidung  (denn  der  mit  Petro  kräftig 
gewesen  ist  zum  Apostelamt  unter  die  Beschneidung,  der  ist 
mit  mir  auch 'kräftig  gewesen  unter  den  Heiden) ;  und  erkannten 

16* 


244  VIII.    Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

die  Gnade,  die  mir  gegeben  war,  Jacobus  und  Kephas 
und  Johannes,  die  für  Säulen  angesehen  waren  (ol  Soxcüvtsc 
cxijAO!.  stvat.);  gaben  sie  mir  und  Barnabas  die  rechte  Hand, 
und  wurden  mit  uns  eins,  dafs  wir  unter  den  Heiden, 
sie  aber  unter  der  Beschneidung  predigten;  allein  dafs  wir 
der  Armen  gedächten,  welches  ich  auch  fleifsig  bin  gewesen 
zu  tun." 

Ermutigt  durch  diesen  Erfolg,  kehrte  Paulus  nach  Antiochien 
zurück  und  unternahm  im  folgenden  Jahre  eine  zweite  Missions- 
reise, welche  ihn  weit  in  das  Gebiet  der  hellenischen  Welt 
führte.  Da  er  sich  mit  Barnabas  über  die  Mitnahme  des 
Johannes  Marcus,  der  sie  auf  der  ersten  Keise  verlassen  hatte, 
nicht  einigen  konnte,  trennte  er  sich  von  beiden,  und  wählte 
Silas  (Silvanus)  zu  seinem  Begleiter. 

Die  zweite  Missionsreise  (52 — 54  p.  C.)  setzte  da  ein, 
wo  die  erste  aufgehört  hatte,  führte  also  zunächst  durch  Syrien 
und  Cilicien  nach  Derbe  und  Lystra,  wo  sich  Timotheus  an- 
schlofs,  und  sodann  durch  Phrygien  nach  Galatien,  wo  Paulus 
die  Gemeinde  der  Galater  gründete.  Seine  Absicht,  in  Mysien 
und  Bithynien  zu  predigen,  gab  er  auf,  weil  „es  ihm  der  hei- 
hge  Geist  wehrte"  (Sokrates  würde  gesagt  haben,  weil  sein 
8at,[ji,6vi,ov  es  ihm  verbot),  und  kam  nach  Troas,  wo  ihm  der 
mazedonische  Mann  im  Traume  erschien  und  bat:  „Komm 
hernieder  in  Mazedonien  und  hilf  uns!"  (Apostelgesch.  16,9). 
Von  Troas  begleitete  ihn  ein  Augenzeuge  (dessen  Bericht 
Apostelgesch.  16,10 — 17  eingeschoben  ist,  und  welcher,  wie 
es  scheint,  weder  Silas  noch  Timotheus,  sondern  ein  Dritter 
war)  über  Samothrake  und  Neapolis  bis  Philippi,  wo  der 
Augenzeuge  wieder  verschwindet.  Hier  fanden  Paulus  und 
Silas  Aufnahme  in  dem  Hause  der  Purpurkrämerin  Lydia, 
erregten  aber  durch  ihr  Auftreten  Anstofs  und  wurden  ins 
Gefängnis  gesetzt,  aus  welchem  die  Befehlshaber,  nachdem 
sie  gehört  hatten,  dafs  die  Gefangenen  römische  Bürger  seien, 
sie  mit  allen  Ehren  hinausführten.  Von  Philippi  begaben  sich 
die  Reisenden  über  Amphipolis  und  Apollonia  nach  Thessa- 
lonich. Hier  fand  die  Predigt  des  Apostels  trotz  mehrwöchent- 
lichem "Wirken  bei  den  Juden  nur  wenig  Anklang,  um  so  mehr 
bei  den  Griechen,  worauf  die  Juden  einen  Aufstand  erregten, 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  245 

infolgedessen  Paulus  in  der  Nacht  nach  Beroea  geleitet  wurde ; 
hier  hatte  er  nicht  nur  bei  den  Griechen,  sondern  auch  unter 
den  Juden  gröfsere  Erfolge,  bis  aus  Thessalonich  feindlich 
gesinnte  Juden  eintrafen  und  auch  hier  einen  Aufstand  erregten, 
infolgedessen  Paulus  von  den  Brüdern  bis  an  das  Meer  und, 
wie  es  scheint,  zu  Schiff  bis  nach  Athen  geleitet  wurde,  wo- 
hin er  Timotheus  und  Silas  später  nachkommen  liefs.  In 
Athen  folgte  dann  das  Zusammentreffen  des  Paulus  mit  stoi- 
schen und  epikureischen  Philosophen,  sowie  seine  berühmte 
Predigt  auf  dem  Areopag  von  dem  „unbekannten  Gott".  Nur 
wenige  schlössen  sich  ihm  an,  unter  ihnen  Dionysios  Areo- 
pagita,  dessen  Name  uns  später  begegnen  wird  als  des 
vermeintlichen  Urhebers  gewisser  christlich -neuplatonischer 
Schriften,  welche  auf  die  Philosophie  des  Mittelalters  von 
grofsem  Einflufs  geworden  sind.  Von  Athen  wandte  sich 
Paulus,  nachdem  er,  wie  aus  1.  Thess,  3,2  sich  ergibt,  Timo- 
theus und  Silas  nach  Thessalonich  zurückgesandt  hatte,  zu- 
nächst allein  nach  Korinth,  wo  er  bei  Aquila  und  Priscilla, 
einem  jüdischen,  unter  Claudius  (oben  S.  189)  aus  Rom  ver- 
triebenen Ehepaar,  Wohnung  nahm  und  ein  Jahr  und  sechs 
Monate  verweilte.  Zunächst  scheint  er  sich  bis  zur  Rückkehr 
des  Timotheus  und  Silas  vorsichtig  zurückgehalten  und  bei 
seinen  Wirtsleuten,  welche  Zeltmacher  waren,  das  gleiche, 
von  ihm  schon  in  der  Jugend  erlernte  Gewerbe  betrieben  zu 
haben.  Nach  und  nach  trat  er  mit  der  Predigt  von  Christus 
hervor,  fand  aber  bei  den  Juden  so  wenig  Beifall,  dafs  er 
erklärte,  es  sei  nicht  seine  Schuld,  wenn  er  fortan  lieber  als 
an  seine  Stammesgenossen  sich  an  die  Heiden  wenden  würde, 
denen  er  sodann,  durch  ein  Traumgesicht  ermutigt,  frei  und 
ohne  Scheu  das  Evangelium  verkündigte.  Die  Juden  ver- 
suchten, ihn  bei  dem  Prokonsul  Gallio,  dem  Bruder  des 
Philosophen  Seneca,  zu  verklagen,  wurden  aber  von  ihm 
abgewiesen,  so  dafs  Paulus  ungestört  seinem  Missions- 
werke unter  den  Griechen  obliegen  konnte.  In  diese  Zeit 
des  anderthalbjährigen  Aufenthalts  in  Korinth  fällt  auch 
wahrscheinlich  die  Abfassung  der  beiden  Briefe  an  die  Thessa- 
lonicher,  welche  man  auf  Grund  der,  wie  so  oft,  unzuver- 
lässigen Nachrichten  der  Apostelgeschichte  ohne  Not  verdächtigt 


246  VIII.  Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

hat.*  Auch  Apostelgesch.  17,15  hegt  in  dem  &)Q  xo(.yj.aTC(.  noch 
die  Andeutung,  dafs  Silas  und  Timotheus  schon  in  Athen  zu 
Paulus  stiefsen,  aber  von  dem  um  das  Schicksal  der  jungen  Ge- 
meinde besorgten  Apostel  nochmals  nach  Thessalonich  gesandt 
wurden  und,  erst  längere  Zeit  darauf  von  dort  zurückkehrend, 
mit  Paulus  in  Korinth  zusammentrafen.  Auch  die  Idee  des  Anti- 
christ im  zweiten  Briefe  ist  nicht  befremdlich,  da  Paulus  sie 
ebenso  wie  Jesus  im  Buche  Daniel  vorgezeichnet  fand  (vgl. 
Daniel  9,27   und  Matth.  24,15  mit  2.  Thess.  2,4:    öars   auxov 

Von  Korinth  fuhr  Paulus  mit  Aquila  und  Priscilla  nach 
Ephesus,  wo  er  dieselben  zui;jückliers ,  um  zum  Feste  nach 
Jerusalem  zu  fahren.  Vorher  hatte  er  in  der  Synagoge  eine 
Unterredung  mit  den  Juden,  machte  sich  aber  bald  los  mit 
dem  Versprechen  wiederzukommen.  Was  er  mit  den  Juden 
verhandelt  hat,  wissen  wir  nicht.  Da  sie  später  nur  von  der 
Taufe  Johannis  wufsten,  so  müssen  wir  annehmen,  dafs  er 
aus  Mangel  an  Zeit  es  vermied,  ihnen  Christum  zu  predigen, 
indem  er  es  Aquila  und  Priscilla  überliefs,  den  Boden  für 
sein  künftiges  Wirken  vorzubereiten.  Dies  mufs  auch  von 
ihnen  geschehen  sein,  da  sie  später  ja  den  Apollos  aus  einem 
Johannesjünger  zu  einem  Christusjünger  machten,  so  dafs  er 
von  ihnen  und  andern  Brüdern  (d5sA^o[  Apostelgesch.  18,27) 
Empfehlungen  an  die  Gemeinde  in  Achaia  erhalten  konnte. 
Paulus  selbst  schiffte  sich  nach  Cäsarea  ein,  wird  dann  zum 
Feste  in  Jerusalem  gewesen  sein  (wiewohl  die  Apostelgeschichte 
vergifst,  es  zu  erwähnen)  und  kehrte  von  dort  nach  Antiochia 
in  sein  Standquartier  zurück,  von  wo  er  im  folgenden  Jahre 
seine  dritte  und  letzte  Missionsreise  unternahm. 

Die  dritte  Missionsreise  (55—58  p.  C.)  führte  Paulum, 
wir   wissen    nicht    mit    welchen    Begleitern,    zunächst    nach 


*  Dies  war  schon  meine  Meinung,  als  ich,  im  Frühjahr  1890,  in  Sa- 
loniki weilend,  an  den  Vertreter  der  neutestamentlichen  Exegese  zu  Kiel 
das  scherzhafte  Epigramm  richtete: 

Nach  Thessalonich  schrieb  Paulus  der  Gröfsere  zweimal, 
Wenn  auch  die  böse  Kritik  dieses  wie  alles  benagt. 

Aus  Thessalonich  schreibt  Paulus  der  Kleinere  heute.  — 
Für  ein  kanonisches  Werk  kommen  wir  leider  zu  spät. 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  247 

Galatien  und  Phrygien,  um  die  dort  bestehenden  Gemeinden  zu 
stärken,  und  weiter  nach  Ephesus,  wo  er  zwei  Jahre  und 
drei  Monate  verweilte.  Dort  scheinen  die  Verhältnisse  trotz 
dem  vorherigen  Wirken  des  Aquila  und  anderer  noch  sehr 
wenig  vorbereitet  gewesen  zu  sein.  Zunächst  gelang  es  dem 
Paulus  nur,  in  Nachbildung  des  Verfahrens  Jesu,  zwölf  Jünger 
aus  Johannesjüngern  zu  Jesusjüngern  zu  machen.  Nach  diesem 
ersten  Erfolge  lehrte  er  drei  Monate  lang  in  der  Synagoge^ 
fand  aber  so  starken  Widerspruch,  dafs  er  mit  seinen  An- 
hängern dieselbe  verliefs  und  die  Schule  (a^oXT])  eines  gewissen 
Tyrannos  zum  Mittelpunkte  seiner  Wirksamkeit  machte.  Hier 
gewann  er  während  der  übrigen  beiden  Jahre  unter  Juden 
und  Griechen  einen  grofsen  Anhang.  Eine  neue  Störung  drohte, 
als  der  Goldschmied  Demetrius,  welcher  silberne  Modelle  des 
Tempels  der  Artemis  verfertigte,  durch  die  Predigt  von  dem 
Gott,  der  nicht  in  Tempeln  wohnt,  sein  Gewerbe  gefährdet 
sah.  Er  erregte  in  Verein  mit  seinen  Handwerksgenossen 
einen  Volksaufstand,  welcher  von  dem  Stadtsekretär  (Ypatj.- 
}j.aT£{i(;)  durch  gütiges  Zureden  nur  mit  Mühe  gedämpft  wurde. 
Welche  Rolle  Paulus  dabei  spielte,  ist  nicht  klar.  Nach  der 
Apostelgeschichte  sollen  die  ihm  wohlwollenden  höhern  Be- 
amten ihn  zurückgehalten  haben,  sich  unter  die  aufgeregte 
Volksmenge  zu  begeben.  Paulus  selbst  aber  erwähnt  (1.  Kor. 
15,32),  dafs  er  in  Ephesus  mit  den  wilden  Tieren  gekämpft 
habe  (i'^Tjpt.ojjLdxTjaa).  Da  bei  einem  römischen  Bürger  von 
einer  Verwendung  in  Gladiatorenkämpfen  keine  Bede  sein  kann, 
so  scheint  er  mit  diesem  etwas  hyperbolischen  Ausdruck  nur 
sein  Ankämpfen  gegen  den  Aufruhr  der  tobenden  Volksmenge 
zu  bezeichnen,  in  welchen  er  mehr  verstrickt  gewesen  sein 
mag,  als  es  nach  der  Darstellung  der  Apostelgeschichte  den 
Anschein  hat. 

Aus  dem  mehrjährigen  Aufenthalt  des  Apostels  zu  Ephesus 
stammen  nach  wahrscheinlicher  Annahme  zwei  seiner  wich- 
tigsten Briefe,  der  an  die  Galater  und  der  erste  Brief  an  die 
Korinther. 

Die  Gemeinde  in  Galatien  (fraglich,  ob  in  dessen  Haupt- 
stadt, dem  durch  den  .  Kybelekult  berühmten  Pessinus)  war 
von  Paulus  auf  der  zweiten  Missionsreise  begründet  und  auf 


248  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

der  dritten  neu  gestärkt  worden.  Sie  bestand  vorwiegend  aus 
Heidenchristen.  Nachdem  aber  Paulus  sie  verlassen  hatte,  um 
nach  Ephesus  zu  gehen,  waren  unter  den  Galatern  juden- 
christliche Parteigänger  aufgetreten,  welche  das  Gewissen  der 
Gemeinde  verwirrten,  indem  sie  die  Notwendigkeit  der  Be- 
schneidung behaupteten  und  das  Ansehen  des  Apostels  Paulus 
zu  untergraben  suchten.  Gegen  beides  wendet  sich  der  Galater- 
brief,  indem  er  den  Unterschied  zwischen  dem  mosaischen 
Gesetze  und  der  evangelischen  Freiheit  mit  Schärfe  aus- 
einandersetzt und  dabei  höchst  wertvolle  Mitteilungen  über 
Pauli  Vorleben  und  sein  Verhältnis  zu  den  übrigen  Aposteln 
macht. 

Auch  der  erste  Brief  an  die  Korinther  ist  in  Ephesus 
wahrscheinlich  gegen  Ende  des  Aufenthalts  dort  geschrieben 
worden  im  Verfolge  eines  vorhergegangenen,  aber  verlorenen 
Briefwechsels  zwischen  Paulus  und  den  Korinthern.  Unter 
diesen  waren  Spaltungen  eingetreten,  indem  die  von  Paulus 
Bekehrten  sich  nach  ihm  nannten,  andere  nach  dem  die  christ- 
liche Lehre  mit  gröfserer  Beredsamkeit  vertretenden  Apollos, 
noch  andere  nach  Petrus,  wahrscheinlich  we  il  sie  mit  ihm  und 
seiner  Partei  den  Genufs  des  Opferfleisches  verwarfen,  noch 
andere  endlich  nach  Christus,  vermutlich  weil  sie  die  im 
Schwange  gehenden  Gnadengaben,  wie  Zungenreden  und 
Prophezeien,  seiner  unmittelbaren  Eingebung  zu  verdanken 
glaubten.  Demgegenüber  mahnt  der  Apostel  zur  Eintracht 
und  stellt  in  dem  wundervollen  dreizehnten  Kapitel  die  Liebe 
hoch  über  alle  andern  Betätigungen  der  christlichen  Gesinnung. 
Daneben  geben  ihm  Unzucht  und  Schwelgerei,  wie  sie  in  der 
reichen  und  üppigen  Stadt  herrschten,  Anlafs,  seine  Ansichten 
über  das  eheliche  und  das  bei  der  Nähe  des  Weltendes  vor- 
zuziehende ehelose  Leben  zu  entwickeln,  sowie  auch,  gegen- 
über der  bei  den  Liebesmahlen  eingerissenen  Unordnung,  die 
wahre  Bedeutung  des  Abendmahls  zu  erörtern  und  den  auf- 
gekommenen "Zweifeln  über  die  Auferstehung  der  Toten  durch 
Hinweisung  auf  Jesu  Auferstehuno;  nachdrücklich  zu  begegnen. 

Von  Ephesus  wandte  sich  der  Apostel  nach  Norden  und 
gelangte  auf  dem  Landwege  (wie  der  hier  sehr  ungenügende 
Bericht  der  Apostelgeschichte  vermuten  läfst)  nach  Mazedonien 


1.  Des  Paulus  lieben  und  Sclirifteu.  249 

und  von  dort  nach  Hellas,  wo  er  drei  Monate  verweilte,  wahr- 
scheinlich in  Korinth.  Vorher  aber  schrieb  er  aus  Mazedonien, 
mutmarslich  aus  Philippi,  den  zweiten  Brief  an  die  Korin- 
ther, welcher  bei  seiner  etwas  ungeordneten  Darstellung  den 
Eindruck  macht,  dafs  er  unter  Störungen  auf  der  Reise  verfafst 
wurde,  und  eine  sehr  gedrückte  Stimmung  verrät.  Zu  dieser 
trugen  nicht  wenig  bei  die  Nachrichten  aus  Korinth,  wo,  wie 
es  scheint,  „falsche  Apostel  und  trügliche  Arbeiter"  (2.  Kor. 
11,13)  geschäftig  waren,  das  Ansehen  des  Paulus  herabzu- 
setzen. Den  Höhepunkt  des  Briefes  bildet  die  Selbstverteidigung, 
welche  der  Apostel  2.  Kor.  11,22 — 28  ilirem  Treiben  entgegen- 
setzt: „Sie  sind  Ebräer,  ich  auch.  Sie  sind  Israeliter,  ich 
auch.  Sie  sind  Abrahams  Samen,  ich  auch.  Sie  sind  Diener 
Christi  (ich  rede  törlich),  ich  bin  wohl  mehr.  Ich  habe  mehr 
gearbeitet,  ich  habe  mehr  Schläge  erlitten,  ich  bin  öfter  ge- 
fangen, oft  in  Todesnöten  gewesen.  Von  den  Juden  habe  ich 
fünfmal  empfangen  vierzig  Streiche  weniger  einen.  Ich  bin 
dreimal  gestäupt,  einmal  gesteinigt,  dreimal  habe  ich  Schiff- 
bruch erlitten,  Tag  und  Nacht  habe  ich  zugebracht  in  der 
Tiefe  (des  Meeres).  Ich  habe  oft  gereiset,  ich  bin  in  Fähr- 
lichkeit  gewesen  zu  Wasser,  in  Fährlichkeit  unter  den  Mör- 
dern, in  Fährlichkeit  unter  den  Juden,  in  Fährlichkeit  unter 
den  Heiden,  in  Fährlichkeit  in  den  Städten,  in  Fährlichkeit 
in  der  Wüste,  in  Fährlichkeit  auf  dem  Meer,  in  Fährlichkeit 
unter  den  falschen  Brüdern,  in  Mühe  und  Arbeit,  in  viel 
Wachen,  in  Hunger  und  Durst,  in  viel  Fasten,  in  Frost  und 
Blölse,  ohne  was  sich  sonst  zuträgt,  nämlich,  dafs  ich  täglich 
werde  angelaufen  und  trage  Sorge  für  alle  Gemeinden." 

Neben  den  äufsern  Drangsalen,  von  welchen  diese  Stelle 
Zeugnis  gibt,  wurde  dem  Apostel  Paulus  sein  tapferes  Wirken 
noch  erschwert  durch  ein  körperliches  Leiden,  auf  welches  er 
wiederholt  anspielt.  So  redet  er  Gal.  4,14  von  den  Anfech- 
tungen, die  er  leide  nach  dem  Fleische,  und  sagt  am  Schlüsse 
des  Briefes  6,17:  „Hinfort  mache  mir  niemand  weiter  Mühe; 
denn  ich  trage  die  Malzeichen  des  Herrn  Jesu  an  meinem 
Leibe."  Noch  etwas  deutlicher  redet  er  darüber  2.  Kor.  12,7 — 9 : 
„Auf  dafs  ich  mich  nicht  der  hohen  Oifenbarung  überhebe, 
ist   mir  gegeben  ein  Pfahl  ins  Fleisch,    nämlich  des  Satans 


250  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

Engel,  der  mich  mit  Fäusten  schlage,  auf  dafs  ich  mich  nicht 
überhebe.  Dafür  ich  dreimal  den  Herrn  geflehet  habe,  dafs 
er  von  mir  wiche.  Und  er  hat  zu  mir  gesagt :  Lafs  dir  an 
meiner  Gnade  genügen,  denn  meine  Kraft  ist  in  den  Schwachen 
mächtig." 

Während  seines  mehrmonatlichen  Aufenthalts  in  Korinth 
hat  der  Apostel  Paulus  allem  Anschein  nach  den  wichtigsten 
seiner  Briefe,  den  an  die  Kömer,  verfafst  und  durch  Phöbe, 
eine  Christin  aus  dem  benachbarten  Kenchreä,  übersandt. 
Wann  und  wie  die  Christengemeinde  in  Rom  entstanden  war, 
ist  nicht  bekannt.  Vielleicht  war  von  Antiochien  in  Zusammen- 
hang mit  den  Handelsverbindungen  dieser  Stadt  mit  Rom  die 
Saat  des  Christentums  dorthin  importiert  worden,  jedenfalls 
vor  dem  die  Juden  aus  Rom  verbannenden  Edikt  des  Kaisers 
Claudius  (oben  S.  189),  dessen  Datum  wir  leider  nicht  kennen. 
(Nach  Orosius  ad  paganos  7,6,15  soll  es  im  neunten  Jahre 
des  Claudius,  also  50  p.  C.  gewesen  sein.)  Paulus  spricht  in 
dem  Briefe  die  Hoffnung  aus,  auf  einer  Reise  nach  Spanien 
die  Brüder  in  Rom  begrüfsen  zu  können,  eine  Hoff'nung,  welche 
einige  Jahre  später,  als  er  als  Gefangener  nach  Rom  deportiert 
wurde,  in  anderer  Weise  in  Erfüllung  ging,  als  er  es  erwartet 
hatte.  Im  übrigen  enthält  dieser  Brief,  da  die  Empfänger  dem 
Apostel  noch  unbekannt  waren,  weniger  persönliche  Herzens- 
ergüsse als  die  Briefe  an  die  Galater  und  Korinther;  um  so 
wichtiger  ist  er  für  das  Lehrsystem  des  Apostels,  einerseits 
voll  von  psychologischen  Tief  blicken,  andererseits  aber  reich 
an  fast  unerträglichen  Härten,  wie  sie  neben  der  auch  hier 
stark  hervortretenden  rabbinisierenden  Methode  besonders 
entspringen  aus  dem  Zusammenstofs  der  sehr  richtigen  ethi- 
schen Erkenntnisse  des  Apostels  mit  seinem  althebräischen 
Theismus. 

Von  Korinth  wollte  Paulus  zu  Schiß"  nach  Syrien  fahren, 
änderte  aber,  da  er  Grund  hatte,  Nachstellungen  von  den  Juden 
zu  fürchten,  diesen  Plan  und  zog,  von  mehrern  Begleitern 
umgeben,  nach  Philippi.  Für  die  weitere  Reise  von  dort  bis 
nach  Jerusalem  ist  in  die  Apostelgeschichte  (Apostelgesch. 
20,5 — 21,17)  das  Reisejournal  eines  Augenzeugen  eingelegt, 
welches  Troas,  Assos,  Mitylene,  Chios,   Samos,  Milet,  Kos, 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  251 

Khodos,  Patara,  Tyros,  Ptolemais  und  Cäsarea  als  Stationen 
verzeichnet  und  berichtet,  wie  der  Apostel  die  Ältesten  der 
Gemeinde  von  Ephesus  nach  Milet  beschied,  um  in  längerer 
Kede  von  ihnen  Abschied  zu  nehmen.  Diese  Eede,  so  g-ehalt- 
voll  sie  ist,  macht  doch  mit  ihren  allzudeutlichen  Anspielungen 
auf  das  bevorstehende  Schicksal  des  Apostels  und  mit  den 
zahlreichen  Keminiszenzen  an  Stellen  paulinischer  Briefe,  auf 
denen  eben  ihre  Schönheit  beruht,  den  Eindruck,  erst  hinter- 
her, sei  es  von  dem  Augenzeugen  oder  einer  andern  Hand, 
komponiert  worden  zu  sein. 

In  dem  Mafse  wie  Paulus  durch  sein  Wirken  unter  den 
Heiden  in  Kleinasien,  Mazedonien  und  Griechenland  Erfolge 
errungen  hatte  und  berühmt  geworden  war,  mufste  auch  der 
Hafs  der  Juden  gegen  ihn,  der  die  Beschneidung  mitsamt  dem 
mosaischen  Gesetze  für  antiquiert  erklärte,  sich  steigern,  und  es 
war  für  ihn  kein  geringes  Wagnis,  auf  das  Pfingstfest  58  p.  C. 
nach  Jerusalem  zu  gehen.  Schon  von  Korinth  aus  hatte  er  die 
Römer  ermahnt,  für  ihn  zu  beten,  ,,auf  dafs  er  errettet  werde 
von  den  Ungläubigen  in  Judäa"  (Rom.  15,31),  hatte  auch  aus 
Furcht  vor  den  Nachstellungen  der  Juden  von  Korinth  aus 
den  Seeweg  vermieden  und  den  Umweg  über  Mazedonien 
gewählt.  Auch  in  Milet  mag  er  seinen  trüben  Ahnungen 
Worte  geliehen  haben  ,  und  kaum  war  er  in  Tyros  ans  Land 
gestiegen,  als  die  Brüder  ihn  vor  den  Gefahren  einer  Reise 
nach  Jerusalem  warnten.  Auch  der  aus  Judäa  kommende  und 
mit  Paulus  in  Cäsarea  zusammentreffende  Agabus  brauchte 
eben  kein  grofser  Prophet  zu  sein,  um  dem  Paulus  die  Ge- 
fahren, welche  seiner  warteten,  nach  Art  der  alten  Propheten 
durch  eine  drastische  Manipulation  vorauszusagen.  Den  in 
Jerusalem  wohnenden  Christen  konnte  die  Erbitterung  nicht 
unbekannt  sein,  welche  unter  den  Juden  gegen  Paulus  bestand, 
und  so  war  es  mindestens  höchst  unklug  und  zeugte  von 
geringer  Welterfahrung,  als  der  alte  Jacobus  ihm  riet,  sich 
im  Tempel  einer  Reinigungszeremonie  zu  unterwerfen.  Vier 
arme  Teufel  von  Judenchristen  hatten  ein  Nasiräatsselübde 
unternommen,  welches  darin  bestand,  dafs  man  für  eine  be- 
stimmte Zeit  sich  berauschender  Getränke  enthielt  und  das 
Haar  wachsen  liefs,  welches  erst  am   Schlufs  des   Gelübdes 


252  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

im  Tempel  vom  Priester  abgeschnitten  und  dem  Herrn  geweiht 
wurde,  wobei  zugleich  ein  Lamm  als  Brandopfer,  ein  Schaf 
als  Sündopfer  und  ein  Widder  als  Dankopfer  sowie  ver- 
schiedene Ölkuchen  und  Ölfladen  darzubringen  waren.  Da 
die  Sache  ziemlich  kostspielig  war,  so  sollte  Paulus,  um  seine 
Anhänglichkeit  an  das  Judentum  zu  dokumentieren,  auf  den 
Rat  des  Jacobus  sich,  was  gesetzlich  zulässig  war,  den  vier 
armen  Nasiräern  für  die  Dauer  ihres  Gelübdes  anschliefsen 
und  die  Kosten  für  sie  tragen,  wozu  dann  wohl  ein  Teil  der 
in  Mazedonien  und  Griechenland  gesammelten  Liebesgaben 
verwendet  werden  mochte.  Paulus,  der  bei  eiserner  Festig- 
keit in  Verfolgung  seines  Hauptzweckes  doch  in  allem  Neben- 
säclilichen  äufserst  tolerant  und  gefügig,  der  den  Juden  ein 
Jude  und  den  Griechen  ein  Grieche  war,  unterzog  sich  um 
des  lieben  Friedens  willen  dieser  Zeremonie,  und  das  war  sein 
Verderben.  Man  entdeckte  ihn  im  Tempel,  behauptete  fälsch- 
lich, er  habe  einen  Griechen  mit  sich  in  den  Tempel  genommen, 
zerrte  ihn  auf  die  Strafse,  und  er  wäre  von  der  wütenden 
Volksmenge  gelyncht  worden,  hätte  nicht  zum  Glück  die 
römische  Miliz  interveniert  und  ihn  durch  den  schreienden 
und  tobenden  Pöbelhaufen  hindurch  auf  den  Armen  in  das 
bei  der  Burg  Antonia  befindliche  Feldlager  getragen  und  vor 
den  Militärtribunen  gebracht.  Da  Claudius  Lysias,  der  Tribun 
der  in  Jerusalem  liegenden  Kohorte,  angesichts  der  heftigen 
Anklagen  des  Volkes  und  seiner  Leiter  gegen  einen  Mann, 
an  dem  er  kerne  Schuld  finden  konnte,  sich  nicht  zu  raten 
wufste,  auch  von  einer  Verschwörung  zu  dem  Zwecke,  Paulum 
hinterlistig  zu  töten,  gemunkelt  wurde,  liefs  er  den  Gefangenen 
bei  der  Nacht  unter  sicherm  Geleite  nach  Cäsarea  zum  Pro- 
kurator Felix  bringen,  welcher,  obwohl  nur  ein  Freigelassener 
des  Kaisers  Claudius,  durch  dessen  Gunst  seine  verantwortungs- 
volle Stelle  im  Jahre  52  p.  C.  erlangt  hatte  und  seitdem  bis 
zu  seiner  Abberufung  im  Jahre  60,  wie  Tacitus  berichtet  (oben 
S.  163),  „in  jeder  Art  von  Grausamkeit  und  Habgier  das  ihm 
verliehene  Herrscherrecht  mit  sklavischer  Gesinnung  ausübte". 
In  seiner  Behandlung  des  Paulus  treten  diese  Charakterzüge, 
abgesehen  davon,  dafs  er  vielleicht  Geld  von  ihm  für  seine 
Freilassung  erwartete,  nicht  hervor.     Er  wies  eine  fünf  Tage 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  253 

später  ankommende  Deputation  der  Jerusalemer  Juden  bis  auf 
die  Zeit  ab,  wo  er  den  Lysias  verhört  haben  würde,  hel's  zu- 
sammen mit  seinem  Weibe  Drusilla,  welche  eine  Jüdin  war, 
den  Apostel  wiederholt  sich  vorführen  und  behielt  ihn  während 
der  zwei  letzten  Jahre  seiner  Prokuratur  in  milder  Haft,  welche 
es  den  Freunden  des  Gefangenen  ermöglichte,  ungehindert  mit 
ihm  zu  verkehren.  Bei  seiner  Abberufung,  wahrscheinlich  im 
Jahre  60,  übergab  er,  um  die  Juden,  welche  eine  Anklage 
gegen  ihn  beim  Kaiser  Nero  in  Rom  vorbereiteten,  nicht  noch 
mehr  gegen  sich  aufzubringen  (Apostelgesch.  24,27) ,  den 
Apostel  seinem  Nachfolger,  dem  rechtlich  gesinnten,  sein 
schweres  Amt  mit  einer  etwas  pedantischen  Beamtentreue  ver- 
waltenden Porcius  Festus.  Sobald  dieser  nach  Jerusalem 
kam,  erneuerten  die  Juden  ihre  Anklagen  gegen  Paulus.  Festus 
beschied  sie  nach  Cäsarea.  Als  sie  dort  erschienen,  ihre  An- 
klagen wiederholten,  und  Festus  vorschlug,  die  Verhandlung 
vor  dem  Synedrium  in  Jerusalem  vorbehaltlich  seiner  Ent- 
scheidung führen  zu  lassen,  lehnte  dies  Paulus  mit  Berufung 
auf  sein  römisches  Bürgerrecht  ab,  worauf  Festus  mit  bureau- 
kratischer  Korrektheit  entschied:  „Auf  den  Kaiser  hast  du 
dich  berufen,  zum  Kaiser  sollst  du  ziehen."  *  Auch  ein  Verhör 
des  Apostels  in  Gegenwart  des  Königs  Agrippa  und  der  ihn 
begleitenden  Berenike,  welches  beider  Herzen  für  den  Apostel 
gewann,  konnte  an  dieser  Entscheidung  nichts  mehr  ändern; 
es  war  beschlossene  Sache,  den  Apostel  behufs  seiner  Ver- 
antwortung nach  Rom  zu  senden.  Man  war  in  Cäsarea  froh, 
in  dieser  schwierigen  Sache  einen  gangbaren  Ausweg  gefunden 
zu  haben. 

Aus  seiner  Gefangenschaft  schrieb  Paulus,  zweifelhaft,  ob 
teilweise  noch  aus  Cäsarea  oder  schon  aus  Rom,  die  vier 
Briefe  an  den  Philemon,  die  Kolosser,  Epheser  und  Philipper, 
deren  Echtheit  freilich  nicht  durchweg  gesichert  ist. 


*  Vgl.  Mommsen,  Römisclies  Strafreclit,  S.  243:  „Bei  dem  Kapital- 
delikt hat  der  Statthalter  nach  Feststellung  einer  derartigen  Anschuldigung 
sich  der  formalen  Urteilsfällung  zu  enthalten  und  den  Angeschuldigten  an 
die  allein  zur  Fällung  eines  Todesurteils  über  den  römischen  Bürger  kom- 
petenten hauptstädtischen  Gerichte,  insonderheit  das  Kaisergericht  zu  ver- 
schicken." 


254  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

Unzweifelhaft,  wenn  auch  nicht  unbezweifelt,  echt  ist  der 
reizende  kleine  Brief  an  den  Philemon,  einen  wohlhabenden 
Bürger  aus  Kolossä,  der,  wahrscheinlich  in  Ephesus,  von 
Paulus  für  das  Christentum  gewonnen  worden  war.  Diesem 
war  ein  Sklave,  namens  Onesimos,  entlaufen,  welcher  des 
kümmerlichen  Lebens  in  der  Freiheit  so  überdrüssig  geworden 
war,  dafs  er  sich  nach  dem  stets  gedeckten  Tische  seines 
Herrn  zurücksehnte.  In  seiner  Not  wandte  er  sich  an  Paulus, 
der  ihn  bekehrte  und  ihn  als  einen  Bruder-  in  Christo  durch 
Tychikos  an  seinen  Herrn  mit  diesem  nicht  ohne  einen  An- 
flug von  Humor  geschriebenen  Begleitschreiben  zurücksandte, 
welches  nicht  nur  auf  den  milden,  versöhnlichen  Sinn  des 
Apostels  ein  schönes  Licht  wirft,  sondern  auch  für  die  sich 
vorbereitende  Stellung  des  Christentums  zur  Sklaverei  von 
Bedeutung  ist. 

Mit  derselben  Gelegenheit  wie  das  Schreiben  an  Philemon 
sandte  Paulus  durch  Tychikos  auch  den  Brief  an  die  Ko- 
losser,  eine  junge  Christengemeinde,  welchß  dem  Apostel 
persönlich  unbekannt  war,  da  er  bei  seiner  Reise  durch 
Phrygien  das  etwa  200  Kilometer  östlich  von  Ephesus  liegende 
Kolossä  nicht  besucht  zu  haben  scheint.  "Wenn  in  diesem 
Briefe  im  Vergleich  mit  den  frühern  die  Christologie  des 
Paulus  eine  Erweiterung  erfahren  hat,  welche  sich  schon  der 
des  vierten  Evangeliums  annähert,  so  liegt  in  dieser  Fort- 
entwicklung, da  sie  durchaus  in  der  Richtung  des  paulinischen 
Denkens  sich  bewegt,  kein  ausreichender  Grund  dafür,  diesen 
kurzen,  aber  v^ertvolle  Gedanken  enthaltenden  Brief  dem 
Paulus  abzusprechen. 

Bedenklicher  steht  vor  dem  Forum  der  neuern  Kritik  die 
Sache  des  Briefes  an  die  Epheser.  Sehr  auffallend  und 
ohne  Beispiel  in  der  Briefliteratur  des  Paulus  ist  zunächst 
die  starke  Abhängigkeit  dieses  Briefes  in  Gedankengang  und 
Wortlaut  von  dem  Kolosserbrief,  nur  dafs  dessen  Gedanken 
hier  weiter,  um  nicht  zu  sagen  breiter,  ausgeführt  werden- 
Möglich  wäre  allerdings,  dafs  der  Apostel,  wie  es  uns  allen 
begegnet,  in  zwei  zu  gleicher  Zeit  geschriebenen  Briefen  die- 
selben Gedanken  und  Wendungen  wiederholt  hätte,  um  sie 
an  verschiedene  Empfänger  zu  richten.     Aber  wer  sind  diese 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften.  255 

Empfänger?  A-ls  solche  nennt  der  Brief  nicht  nur  in  der  apo- 
kryphen Unterschrift,  sondern  auch  im  ersten  Verse  des  Textes 
selbst  die  Epheser ;  aber  wenn  man  die  oben  besprochenen 
nahen  Beziehungen  des  Apostels  zu  der  Gemeinde  zu  Ephesus 
erwägt,  so  sollte  man,  wie  es  so  schön  in  den  Korintherbriefen 
hervortritt,  auch  hier  eine  nähere  Bezugnahme  auf  das  per- 
sönliche Verhältnis  des  Apostels  zu  der  Gemeinde  von  Ephesus 
und  den  dort  gemachten  Erfahrungen  erwarten  und  nicht  blofse 
Allgemeinheiten,  wie  sie  an  jede  christliche  Gemeinde  gerichtet 
werden  konnten.  Dazu  kommt,  dafs  der  Brief  nur  Heiden- 
christen im  Auge  zu  haben  scheint,  während  in  Ephesus  doch 
auch  die  Judenchristen  einen  erheblichen  Prozentsatz  der  Ge- 
meinde bildeten.  Dies  scheint  man  schon  im  Altertum  gefühlt 
zu  haben,  daher  manche  Handschriften  die  Worte  I,  1  Iv  'E(piai>y 
auslassen,  wodurch  aber  das  vorhergehende  xolc,  ohai  unerklär- 
bar sein  würde.  Anerkannt  aber  mufs  werden,  dafs  dieser 
Brief  durchaus  in  paulinischem  Geiste  geschrieben  ist,  welcher 
hier  bestimmter  und  deutlicher  als  in  manchen  andern  Briefen 
zum  Ausdruck  kommt.  Daher  mufs  dieser  Brief,  wenn  nicht 
den  Paulus  selbst,  jedenfalls  eine  ganz  unter  dem  Einflüsse 
seiner  Denkungsart  stehqnde  Persönlichkeit  zum  Verfasser 
haben  und  kann  ohne  Bedenken  bei  Darstellung  der  Welt- 
anschauung des  Apostels  mitbenutzt  werden. 

Nicht  so  ergiebig  an  dogmatischen  Aufschlüssen  wie  der 
Epheserbrief,  aber  um  so  reicher  an  Mitteilungen  über  Gemüts- 
stimmung und  äufsere  Lage  des  Apostels  ist  der  sicher  aus 
■Rom  geschriebene  Brief  an  die  Philipper,  dessen  Über- 
bringer Epaphroditus  von  Philippi  mit  einer  Unterstützung  zu 
dem  gefangenen  Apostel  gesandt  worden  war  und  mit  diesem 
Briefe  nach  Philippi  zurückkehren  sollte.  Bei  aller  Bereit- 
willigkeit zu  sterben  und  bei  Christo  zu  sein,  hegt  Paulus 
dennoch  die  Hoffnung,  freigelassen  zu  werden  und  seine  Freunde 
in  Mazedonien  w^iederzusehen.  Für  seine  Anschauungen  aber 
ist  es  sehr  bedeutsam,  dafs  er  2,12 — 13  die  Philipper  auf- 
fordert, ihre  Seligkeit  mit  Furcht  und  Zittern  zu  schaffen,  und 
als  Begründung  scheinbar  unlogisch  hinzufügt:  „Denn  Gott 
ist  es,  der  in  euch  wirket  beide,  das  Wollen  und  das  Voll- 
bringen." 


256  'VIU.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

Der  Brief  an  die  Philipper  ist  das  letzte  Dokument,  welches 
wir  von  der  Hand  des  Apostels  besitzen,  denn  die  sogenannten 
Pastoralbriefe,  die  beiden  Briefe  an  Timotheus,  welche 
an  diesen  nach  Ephesus,  und  der  Brief  an  Titus,  welcher 
an  denselben  nach  Kreta,  beide  als  Organisatoren  der  dort 
befindlichen  Gemeinden,  gerichtet  sind,  lassen  sich  auf  keine 
Weise  in  das  uns  bekannte  Schema  des  Lebens  des  Apostels 
einreihen,  setzen  zudem  eine  Entwicklung  dieser  Gemeinden, 
sowie  ein  Eindringen  judenchristlicher  und  sogar  gnostischer 
Häretiker  voraus,  wie  es  beides  erst  nach  längerm  Bestände 
der  Gemeinden  möglich  war.  Können  daher  auch  diese  drei 
Briefe  nicht  dem  Paulus  selbst  zuerkannt  werden,  so  sind  sie 
doch  aus  seiner  Schule  hervorgegangen,  mögen  vielfach  auf 
mündliche  oder  schriftliche  Äufserungen  des  Apostels  zurück- 
gehen und  sind  in  jedem  Falle  wertvolle  Zeugnisse  für  das 
geistige  Leben  in  den  ersten  Christengemeinden.  Dafs  man 
aber  diese  Dokumente  in  der  Form  abfafste,  als  seien  sie  von 
Paulus  selbst  geschrieben,  und  sie  mit  allerlei  Reminiszenzen 
an  sein  Wirken  und  das  seiner  Mitarbeiter  ausstattete,  ist  als 
ein  Akt  der  Pietät  gegen  den  grofsen  Lehrer  aufzufassen  und 
nicht  mit  dem  gehässigen  Namen  einer  Fälschung  zu  belegen, 
denn  das  Altertum  dachte  und  empfand  wie  in  vielen  andern 
Fällen  so  auch  in  diesem  Punkte  anders,  als  wir  im  Zeitalter 
der  kritischen  und  hyperlvritischen  Epigonen  zu  denken  und 
zu  empfinden  gewohnt  sind. 

Aus  dem  Leben  des  Apostels  Paulus  bleibt  uns  nur  noch 
übrig,  seine  Reise  von  Cäsarea  nach  Rom  als  römischer' 
Gefangener  zu  betrachten,  welche  die  letzte  Reise  in  seinem 
tatenreichen  Leben  werden  sollte  und  über  die  wir  in  den 
beiden  letzten  Kapiteln  der  Apostelgeschichte  den  auch  für 
die  Kenntnis  des  antiken  Seewesens  höchst  wertvollen  Bericht 
eines  Augenzeugen  besitzen. 

Im  Spätsommer  wahrscheinlich  des  Jahres  61  wurde  Paulus 
mit  mehrern  andern  Gefangenen  dem  Centurio  Julius,  welcher 
dem  Apostel  wohlwollte,  übergeben,  und  begann  die  Reise 
auf  einem  Schiff  aus  Adramyttium  in  Mysien,  welches  die 
Reisenden  nur  ein  Stück  des  Weges  bringen  konnte,  vermut- 
lich weil    es    auf  der  Heimreise  nach  Mysien  begriffen  war. 


1.  Des  Paulus  Ijeben  und  Schriften.  257 

Die  Fahrt  ging  zunächst  nach  Sidon,  wo  es  dem  Paulus  ver- 
gönnt war,  einige  Zeit  seine  Freunde  zu  besuchen,  dann 
zwischen  Cypern  und  Cihcien  durch  nach  Myra  in  Lykien, 
Hier  wurden  die  Gefangenen  auf  ein  anderes  Schiff  verladen, 
welches  von  Alexandria  kam  und  nach  Italien  fahren  wollte. 
Das  Schiff  war  mit  Waren  und  Menschen  gefüllt;  aufser  der 
Bemannung  befanden  sich  an  Bord  eine  Abteilung  römischer 
Soldaten,  sodann  Paulus  mit  den  übrigen  Gefangenen  und 
wohl  auch  noch  andere  Keisende,  namentlich  auch  solche, 
welche  freiwillig  dem  Apostel  das  Geleit  nach  Eom  gaben, 
im  ganzen  276  Seelen.  Infolge  widriger  Winde  ging  die  Fahrt 
nur  langsam  vonstatten,  und  die  Zeit  der  Äquinoktien  (der 
vTjCTita,  des  Fastens  am  grofsen  Versöhnungstage)  war  schon 
vorüber,  als  das  Schiff  endlich  Kreta  erreichte  und  in  einen 
kleinen  Hafen  an  der  Südseite  der  Insel  östlich  vom  Vor- 
gehirge  Matala  einlief,  welcher  wahrscheinlich  euphemistisch 
damals  wie  neute  noch  den  Namen  KaXol  ALfj-evs?,  „Schöner 
Hafen",  führte.  Paulus  riet,  hier  zu  überwintern,  aber  der 
Kapitän  fand  die  Bucht  nicht  dazu  geeignet  und  hoffte  bei 
dem  herrschenden  Südwind  noch  den  Hafen  der  Stadt  Phoinix 
(vielleicht  des  heutigen  Lutro)  im  Westen  der  Südseite  Kretas 
zu  erreichen.  Aber  nach  begonnener  Fahrt  schlug  der  Wind 
um  nach  Nordost  und  wurde  so  stürmisch,  dafs  man  anfing 
die  Herrschaft  über  das  Schiff  zu  verlieren;  mit  Mühe  gelang 
es  zwischen  Kreta  und  der  kleinen  Insel  Klauda  (jetzt  Gavdos) 
das  am  Schiff  angebundene  Rettungsboot  heraufzuziehen,  dann 
trieb  das  Schiff,  vom  Sturme  gejagt,  nach  Südwesten,  und 
man  reffte  die  Segel,  da  man  fürchten  mufste,  auf  die  ^upTic, 
die  Sandbänke  der  afrikanischen  Küste,  getrieben  zu  werden. 
Vierzehn  Tage  und  Nächte  seit  der  Abfahrt  von  Kreta  war 
das  Schiff  ein  Spiel  des  Sturmes  und  der  Wellen,  alle  glaubten 
sich  verloren,  aber  Paulus,  gehoben  durch  die  moralische 
Kraft,  welche  sich  ihm  als  eine  göttliche  Erscheinung  dar- 
stellte, sprach  den  Mitreisenden  Mut  ein,  begann  vor  ihren 
Augen  zu  essen  und  ermunterte  sie,  seinem  Beispiel  zu  folgen. 
In  der  vierzehnten  Nacht  wurde  man  durch  Lotung  die  Nähe 
eines  Landes  gewahr  und  warf  die  Anker  aus,  um  nicht  auf 
den  Strand  geworfen  zu  werden.    Bei  Tagesanbruch  sah  man 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii-  17 


258  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

Land  vor  sich  und  eine  Bucht,  welche  man  nach  Kappung 
der  Anker  und  Losbindung  des  Steuerruders  durch  Segeln 
zu  erreichen  hoffte.  Aber  der  Wind  trieb  das  Schiff  auf  eine 
vorspringende  Landzunge,  auf  welcher  das  Vorderteil  strandete, 
während  das  Hinterteil  durch  die  Gewalt  der  Wellen  abbrach. 
Der  Absicht,  die  Kriegsgefangenen  zu  töten,  weil  man  einen 
Fluchtversuch  befürchtete,  widersetzte  sich  der  Centurio,  um 
Paulum  zu  retten,  und  erlaubte  den  des  Schwimmens  Kundigen 
ans  Land  zu  schwimmen,  während  die  übrigen  sich  auf  Planken 
und  andern  Schiffstrümmern  retteten,  so  dafs,  während  das 
Schiff  selbst  ein  Raub  der  Wellen  wurde,  alle  Mitreisenden 
unversehrt  ans  Land  gelangten.  Von  den  Bewohnern  der 
Insel  Malta,  denn  an  dieser  waren  sie  gescheitert,  wurden  die 
von  Entbehrung,  Kälte  und  Nässe  erschöpften  Schiffbrüchigen 
freundlich  aufgenommen  und  gepflegt,  und  Paulus  wufste  sich 
während  des  dreimonatlichen  Aufenthalts  auf  der  Insel  der 
Kranken  anzunehmen  und  durch  Gebet  und  ermutigenden  Zu- 
spruch ihre  Genesung  zu  befördern.  Als  die  bessere  Jahres- 
zeit eingetreten  war,  wurden  die  Gefangenen  auf  einem  alexan- 
drinischen  Schiffe  über  Syrakus  und  Rhegium  in  glücklicher 
und  schneller  Fahrt  nach  Puteoli  gebracht,  von  wo  sie  nach 
siebentägigem  Aufenthalt  und  Verkehr  mit  den  auch  dort 
schon  angesiedelten  Christen  wahrscheinlich  zu  Lande  auf  der 
Via  Appia  nach  Rom  gelangten.  Die  römischen  Christen 
kamen  dem  Paulus  teils  bis  Forum  Appium,  teils  bis  Tres 
Tahernae,  etwa  eine  Tagereise  weit  von  Rom,  entgegen.  Nach 
der  Ankunft  in  Rom  wurden  die  Gefangenen  von  dem  sie 
führenden  Centurio  Julius  dem  axga.TOTZs.ha.^iri^  (dem  praefecüis 
pradorio  oder,  wie  Mommsen  will,  dem  princcps  castrorum 
peregrinoriim)  übergeben,  welcher  dem  Paulus  gestattete,  unter 
Bewachung  durch  einen  Soldaten  Iv  iSuo  [xw^opiaTt,,  d.  h.  in 
einer  gemieteten  Privatwohnung,  die  Zeit  seines  Verhörs  ab- 
zuwarten. Über  das,  was  uns  am  meisten  interessieren  würde, 
über  den  Verkehr  mit  der  römischen  Christengemeinde,  an 
welche  Paulus  drei  Jahre  vorher  seinen  Römerbrief  gerichtet 
hatte,  sagt  die  Apostelgeschichte  bedauerlicherweise  nichts, 
hingegen  wird  weitläufig  über  sein  Auftreten  in  der  jüdischen 
Gemeinde  in  Rom  berichtet,  welches  ganz  nach  dem  üblichen 


1.  Des  Paulus    Leben  und  Schriften.  259 

Schema  verläuft :  der  Apostel  verkündet  Jesum  als  den  Messias, 
einige  stimmen  ihm  zu,  andere  widersprechen,  und  Paulus  be- 
klagt ihre  Verstocktheit.  Auffallend  ist,  was  die  Juden  zu 
Paulus  28,22  über  die  Christensekte  äufsern :  xspl  [jisv  yap  xfic, 
odgian,)<;  zodixt]^  yvooTov  eötiv  -i^f^tv  ort  TCavraxou  dvTtXeYSTat.. 
Aus  diesen  Worten  scheint  hervorzugehen,  dafs  zwischen  den 
Juden  und  den  Christen  in  Rom  keine  nähere  Beziehung  be- 
stand, wahrscheinlich  weil  der  Christenglaube  vorbehaltlich 
einer  entgegengesetzten  Entscheidung  des  Kaisers  noch  als 
eine  religio  ülicita  galt,  daher  seine  Anhänger  Grund  hatten, 
sich  in  der  Stille  zu  halten.  Hierauf  scheinen  auch  die  Worte 
28,30  zu  deuten,  xai  oLizthiytxo  Tuavxac  xohc,  sLaTcopsuotJLsvoui;  izghc, 
aÜTov,  welche  besagen,  dafs  Paulus  nur  bei  den  Judon,  nicht 
aber  bei  den  Christen  in  öffentlicher  Versammlung  auftrat, 
sondern  die  Besuche  der  letztern  nur  in  seiner  Privatwohnuns 
empfing,  wo  es  ihm  dann  möghch  war,  mit  allem  Freimut  zu 
reden.  Dieser  Zustand  währte,  wie  aus  dem  Aorist  in  den 
W^orten  £[j.et,v£  hizxia:>  SXtjv  hervorgeht,  zwei  Jahre  und  nicht 
länger;  diese  genaue  Zeitbestimmung  hätte  der  Verfasser  nicht 
geben  können,  wenn  er  nicht  auch  gewufst  hätte,  was  nach- 
her geschehen,  was  aus  Paulus  nach  Ablauf  dieser  zwei  Jahre 
geworden  war.  Unbegreiflicherweise  hat  es  uns  der  Bericht- 
erstatter verschwiegen,  und  wir  sind  auf  die  Vermutungen 
angewiesen,  welche  sich  aus  dem  Philipperbrief  und  den  all- 
gemeinen Zeitverhältnissen  ergeben.  Im  Brief  an  die  Philipper 
zeigt  sich  der  Apostel  bereit  zu  sterben  (1,23)  und  das  Leiden 
Christi  auch  an  sich  zu  erdulden  (3,10),  über  sein  Schicksal 
ist  er  noch  in  Ungewifsheit  (2,23),  düstere  Ahnungen  erfüllen 
ihn  (2,17),  aber  gleichwohl  spricht  er  zuversichtlich  die  Hoff- 
nung aus,  freigesprochen  zu  werden  und  seine  Freunde  wieder- 
zusehen; 1,25:  „In  guter  Zuversicht  weifs  ich,  dafs  ich  bleiben 
und  bei  euch  bleiben  und  bei  euch  allen  sein  werde,  euch 
zur  Förderung  und  zur  Freude  des  Glaubens";  2,24:  „Ich  ver- 
traue aber  in  dem  Herrn,  dafs  auch  ich  selbst  schier  kommen 
werde."     Diese  Hoffnungen  sollten  sich  nicht  erfüllen. 

Im  Monat  Juli  des  Jahres  64  brach  der  grofse  Brand  von 
Rom  aus;  Nero  schob,  um  den  Verdacht  von  sich  abzuwälzen, 
die  Schuld  auf  die  Christen;  eine  furchtbare  Christen  Verfolgung 

17* 


2G0  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

brach  aus  und  allem  Anscheine  nach  ist  ihr  auch  der  Apostel 
Paulus  zum  Opfer  gefallen.  Was  von  einer  Freisprechung, 
Reise  nach  Spanien  und  abermaligen  Gefangenschaft  von 
Spätem  erzählt  wird,  beruht  auf  einer  falsch  gedeuteten  rheto- 
rischen Floskel  des  Clemens  Romanus  und  vagen  Vermutungen 
späterer  Schriftsteller.  Dafs  Paulus  aus  der  beglaubigten  Ge- 
schichte plötzlich,  wie  in  einer  Versenkung,  verschwindet,  er- 
klärt sich,  wenn  er  mit  vielen  andern  Christen  der  Wut  des 
aufgereizten  Pöbels  erlegen  ist.  Hätte  er  diese  Katastrophe 
überlebt,  so  würde  das  weitere  Wirken  eines  Mannes  von 
seiner  Berühmtheit  ganz  andere  Spuren  in  der  geschichtlichen 
Erinnerung  liinterlassen  haben. 

Drei  Züge  sind  es,  welche  in  dem  Charakter  des  Apostels 
Paulus  besonders  hervortreten  und  ihm  sein  eigentümliches 
Gepräge  geben:  Zunächst  eine  ungemeine  Lebhaftigkeit  des 
Geistes,  welche  ihn  nicht  nur  befähigte,  die  Eindrücke  der 
Aufsenwelt  mit  gröfster  Empfänglichkeit  aufzunehmen  und  in 
sich  zu  verarbeiten,  sondern  sich  gelegentlich  auch  in  offen- 
barenden Träumen  äufserte,  ja  sogar  Visionen  und  ekstatische 
Zustände  bei  ihm  veranlafste.  Mit  dieser  geistigen  Beweglich- 
keit verband  der  Apostel  eine  grofse  Beharrlichkeit  des  Willens, 
welche  sich  durch  kein  Hindernis  beirren  und  abhalten  liel's, 
den  vorgesetzten  Zweck  mit  Einsetzung  der  ganzen  Persönlich- 
keit und  bis  zur  Aufopferung  derselben  zu  verfolgen.  Diese 
unbeugsame  Festigkeit  in  Durchführung  seiner  Lebensaufgabe 
war  bei  Paulus  gepaart  mit  einer  seltenen  Milde,  Duldsam- 
keit und  Nachgiebigkeit  in  allem^  was  er  für  nebensächlich 
hielt,  er  war  den  Juden  ein  Jude  und  den  Griechen  ein  Grieche 
(L  Kor.  9,20);  er  hatte  kein  Bedenken  gegen  das  Essen  von 
Fleisch,  selbst  wenn  es  von  einem  Götzenopfer  herrülirte,  wollte 
aber  lieber  für  sein  ganzes  Leben  auf  Fleischessen  verzichten, 
als  dafs  er  dadurch  bei  dem  schwächern  Bruder  Anstofs  er- 
regte. In  dieser  Akkommodationsfähigkeit  seiner  Natur  bildet 
Paulus  den  gröfsten  Gegensatz  und  damit  zugleich  die  für 
den  Fortgang  des  Christentums  notwendigste  Ergänzung  zu 
dem  Charakter  Jesu.  Wenn  Jesus  seine  Forderungen  ohne 
Rücksicht  auf  die  bestehenden  Verhältnisse  kühn  und  schroff 
aufstellte    und   dadurch  im  höchsten   Grade    fähig  war,    den 


1.  Des  Paulus  Leben  und  Schriften. 


261 


Menschen  das  Neue  zu  geben,  nicht  aber  ihm  bei  denselben 
Eingang  zu  verschaffen,  so  war  für  diese  letztere  Aufgabe  der 
Apostel  Paulus,  vermöge  seiner  Anpassung  an  die  äufsern  Um- 
stände, im  höchsten  Grade  die  geeignete  und  berufene  Persön- 
lichkeit. Beider  Schicksal  nahm  die  entscheidende  Wendung 
in  Jerusalem,  und  beide  fielen  den  entgegengesetzten  Grund- 
eigenschaften ilir.es  Charakters  zum  Opfer:  Jesus  führte  durch 
sein  schroffes  Auftreten  seinen  Untergang  herbei,  Paulus  geriet 
durch  sein  gefügiges  Eingehen  auf  Vorurteile,  welche  er  für 
sich  selbst  längst  überwunden  hatte,  in  eine  Gefangenschaft, 
aus  der  er  nicht  mehr  frei  werden  sollte. 


p.c. 
10—17  (?) 


40 


44 
45 


51 
52—54 


54 
55—58 


58 


Tabelle  zum  Leben  des  Apostels  Paulus. 

Paulus  (Saulus),  geboren  zu  Tarsus  in  Cilicien,  aus  dem  Stamme 
Benjamin,  als  römischer  Bürger. 

Studiert  unter  Gamaliel  in  Jerusalem. 

Bekehrung  (dTiox-aXu^jat  tov  ulbv  auToü  h  i\xoC).  Zieht  sich  nach 
Arabien  in  die  Einsamkeit  zurück.  Von  dort  Rückkehr  nach 
Damaskus. 

(jjLSToc  £TTi  xpia)  RelsB  nach  Jerusalem,  wo  er  Petrus  und  Jacobus 
besucht  und  15  Tage  verweilt. 

Geht  von  dort  nach  Syrien  und  Cilicien. 

Wird  von  Barnabas  nach  Antiochien  geholt  (Apostelgesch. 
11,25—26). 

Hinrichtung  des  Jacobus.    Tod  des  Agrippa. 

Erste  Missionsreise  mit  Barnabas  über  Cypern  nach  An- 
tiochien (in  Pisidien),  Ikonium,  Lystra,  Derbe  und 
zurück  auf  demselben  Wege  (Apostelgesch.  13 — 14). 

Apostelsynode  in  Jerusalem  (Apostelgesch.  15). 

Zweite  Missionsreise  über  Derbe  und  Lystra  nach  Galati en, 
Philippi,  Thessalon  ich  und  Korinth  (V,^  Jahre;  erster 
und  zweiter  Brief  an  die  Thessalonicher).  Zu  Schiff  nach 
Ephesus  und  zurück  nach  Syrien. 

Reise  nach  Jerusalem. 

Dritte  Missionsreise  durch  Galatien  und  Phrygien  nach 
Ephesus  (21/4  Jahre;  Brief  an  die  Galater,  erster  Brief  an 
die  Korinther),  von  dort  nach'  Mazedonien  (zweiter  Brief 
an  die  Korinther)  und  durch  Achaia  nach  Korinth  (Brief 
an  die  Körner).  Von  dort  über  Mazedonien,  Troas  und 
Milet  nach  Jerusalem. 

Zu  Pfingsten  in  Jerusalem  gefangen  genommen. 


262  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 


58-60 

61 

62 
62—64 

64 


Zweijährige  Gefangenschaft  zu  Cäsarea  unter  Felix. 
(Herbst)  unter  Festus  nach  Rom. 
(Frühjahr)  Ankunft  in  Rom. 
Gefangenschaft  in  Rom  (Iv  iSitp  fxta- 

i(0[JLaTl). 


(Briefe  an  Fhilemon,  die 

Kolosser,  Epheser  [?]  und 

PJiilipper). 


(Juli)  Brand  Roms.     Christenverfolgung.     Pauli  Hinrichtung. 


Unecht  sind  der  erste  und  zweite  Brief  an  Timotlieiis  und  der  Brief 
an  Titus,  unglaubhaft  die  Sage  von  Pauli  Befreiung  und  einer  zweiten  Ge- 
fangenschaft. 

2.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

a)  Das  traditionelle  Element:  der  Christus  für  uns. 

Der  Apostel  sagt  1.  Kor.  2,10:  „Der  Geist  erforschet  alle 
Dinge,  auch  die  Tiefen  der  Gottheit."  Er  versteht  darunter 
den  Geist  Gottes,  sofern  er  sich  im  Menschen  offenhart,  während 
er  über  die  Weisheit  dieser  Welt  eine  sehr  ungünstige  Meinung 
hat;  1.  Kor.  3,19:  „Dieser  Welt  Weisheit  ist  Torheit  bei  Gott"; 
1.  Kor.  2,14:  „Der  natürliche  Mensch  aber  vernimmt  nichts 
vom  Geist  Gottes :  es  ist  ihm  eine  Torheit,  und  kann  es  nicht 
erkennen,  denn  es  mufs  geistlich  gerichtet  sein";  1.  Kor.  1,20: 
„Wo  sind  die  Klugen?  Wo  sind  die  Schriftgelehrten?  Wo 
sind  die  Weltweisen?  Hat  nicht  Gott  die  Weisheit  dieser 
Welt  zur  Torheit  gemacht?"  Koloss.  2,8:  „Sehet  zu,  dafs 
euch  niemand  beraube  durch  die  Philosophia  und  lose  Ver- 
führung nach  der  Menschen  Lehre."  —  Bedürfte  es  noch  eines 
Beweises,  so  würden  diese  Stellen  ihn  erbringen  dafür,  dafs 
Paulus  die  griechische  Philosophie,  deren  herrlichste  Erzeug- 
nisse zu  seiner  Zeit  fertig  vorlagen  und  jedem  leicht  zugäng- 
lich waren,  weder  näher  gekannt,  noch  auch  kennen  zu  lernen 
für  der  Mühe  wert  gehalten  hat.  Ein  leichter  Anflug  von 
stoischem  Pantheismus,  wie  er  damals  in  der  Luft  lag,  läfst 
sich  in  der  Rede  zu  Athen  (namentlich  Apostelgesch.  17,28), 
deren  Authentizität  allerdings  nicht  gesichert  ist,  auch  wohl 
in  Stellen  wie  Rom.  11,36  verspüren,  im  übrigen  aber  kann 
von  einem  Einflüsse  der  griechischen  Philosophie  auf  die  Ge- 
danken des  Apostels  Paulus  keine  Rede  sein. 

Um  so  mehr  ist  sein  Denken  von  der  althebräischen  und 
jüdischen   Tradition   abhängig.  .  Das  Alte   Testament  hat   er 


2.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  des  Apostels  Paulus.      2G3 

nach  Messiasverlieifsungen  fleifsig  durchforscht;  die  unter 
iranischem  Einflüsse  stehende  Fortentwicklung  des  Judentums 
in  Dämonologie,  Auferstehungslehre  und  Messiaserwartungen 
hat,  wie  oben  gezeigt  wurde,  auch  er  als  Pharisäerzögling  sich 
zu  eigen  gemacht,  und  auch  die  schöne  und  tröstliche  Vor- 
stellung der  Iranier  von  den  Fravashi's  (oben  S.  138)  scheint, 
wie  bei  Jesu  (Matth.  18,10),  so  auch  bei  Paulus  in  dem  Ge- 
danken von  der  himmlischen  Behausung,  mit  welcher  über- 
kleidet zu  werden  ihn  verlangt  (2.  Kor.  5,2),  nicht  undeutlich 
durchzublicken.  Ein  drittes  traditionelles  Element  neben  diesen 
althebräischen  und  iranischen  Einflüssen  liegt  in  dem  Wenigen, 
aber  sehr  Bedeutsamen,  was  diesem  Apostel  von  dem  histo- 
rischen Leben  und  Wirken  Jesu  bekannt  gewesen  ist.  Wer 
es  versuchen  wollte,  aus  den  Briefen  des  Paulus  ein  Leben 
Jesu  zusammenzustellen,  der  würde  erstaunen  über  das  geringe 
Material,  welches  ihm  dabei  zu  Gebote  stünde.  Es  sind  immer 
nur  dieselben  Gedanken,  dafs  der  Sohn  Gottes  in  Christo 
Mensch  geworden,  von  den  Juden  gekreuzigt,  von  Gott  wieder 
auferweckt  worden  ist  und  in  nächster  Zeit  wiederkommen 
wird,  welche  den  Inhalt  der  Predigt  des  Apostels  bildeten  und 
in  zahlreichen  Wendungen  sich  durch  alle  seine  Briefe  durch- 
ziehen. 

Dieser  Tatsache,  dafs  der  allmächtige  Gott  die  Menschen 
nicht  gehindert  hatte,  an  seinem  von  ihm  gesandten  Sohne 
nach  qualvollen  Martern  die  schmählichste  Todesstrafe  zu  voll- 
ziehen, stand  die  erste  Christenheit,  stand  vor  allem  der 
Apostel  Paulus  als  einer  schwer  zu  begreifenden  Fügung  gegen- 
über. Sie  wurde  für  ihn  das  Problem,  zu  dessen  Lösung  die 
Worte  Jesu :  „Das  ist  mein  Leib,  der  für  euch  gebrochen  wird" 
(1.  Kor.  11,24)  die  Anleitung  gaben.  Er  fand  diese  Lösung 
in  der  seltsamen  Theorie,  dafs  Gott  absichtlich  und  mit  Vor- 
bedacht seinen  Sohn  in  Leiden  und  Tod  hingegeben  habe  als 
ein  Sühnopfer  (LXaffTiqpt.ov,  Gnadenstuhl,  wie  Luther  übersetzt, 
Rom.  3,25),  um  für  die  Sünden  der  ganzen  Menscliheit  Genug- 
tuung zu  leisten.  Der  Stammvater  der  Menschheit,  so  ge- 
staltete sich  diese  Theorie  im  Geiste  des  Paulus,  der  erste 
Mensch,  Adam,  hat  gesündigt  und  ist  dafür  gestorben;  diese 
erste  Sünde,  als  Erbsünde,  und  mit  ihr  der  Tod,  ist  „zu  allen 


264  "VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

Menschen  durchgedrungen"  (Rom.  5,12);  sie  sind  allzumal 
Sünder,  wie  die  Erfahrung  zeigt  (Rom.  3,12),  und  wie  es  auch 
daraus  sich  ergibt,  dafs  alle  Menschen  sterben  müssen,  welches 
nicht  der  Fall  sein  würde,  wenn  sie  nicht  Sünder  wären, 
„denn  der  Tod  ist  der  Sünden  Sold"  (Rom.  6,23).  Zwar  hat 
Gott  den  Juden  das  mosaische  Gesetz  und  den  Heiden  als 
Ersatz  das  Gesetz  ihres  Gewissens  gegeben  (Rom.  2,15),  beides 
aber  nicht,  als  wenn  sie  es  zu  halten  vermöchten,  sondern 
nur,  damit  sie  zur  Erkenntnis  ihrer  Sünde  gelangen,  „darum, 
dafs  kein  Fleisch  durch  des  Gesetzes  Werke  vor  ihm  gerecht 
sein  mag,  denn  durch  das  Gesetz  kommt  Erkenntnis  der  Sünde" 
(Rom.  3,20).  Eine  Sühnung  der  Sünde  erfolgt  erst  durch  den 
Opfertod  Jesu  und  nur  für  die,  welche  die  Begnadigung  im 
Glauben  annehmen;  „so  halten  wir  es  nun,  dafs  der  Mensch 
gerecht  werde,  ohne  des  Gesetzes  Werke,  [allein]  durch  den 
Glauben"  (iziazsi  St-xaioüa^ai  av'^poxov,  jj^glc  l'pywv  vojjiou,  Rom. 
3,28),  während  das  Gesetz  nur  eine  vorbereitende  Bedeutung 
hat,  nur  ein  Erzieher  oder  Zuchtmeister  (TcaiSaywyoc,  Gal.  3,24) 
auf  Christum  gewesen  ist.  Die  gröfste  Schwierigkeit  dieser 
paulinischen  Vorstellung  liegt  darin,  dafs  die  Gnade  durch 
Christum  nicht  schon  immer  da  war,  sondern  erst  in  einem 
bestimmten  Zeitpunkte  eingetreten  ist,  nachdem  das  Gesetz 
viele  Jahrhunderte  vorher  gegeben  wurde,  während  man,  da  der 
Erlösungsprozefs  jeden  einzelnen  Menschen  betrifft,  erwarten 
sollte,  dafs  jedem  Individuum  die  Erkenntnis  der  Sünde  durch 
das  Gesetz  und  zugleich  die  Rechtfertigung  durch  die  Gnade 
dargeboten  werden  müfste.  Der  Apostel  hat  eben  nur  den 
gegenwärtigen  Zustand  vor  Augen,  wo  Gesetz  und  Evangelium, 
Erkenntnis  der  Sünde  und  Begnadigung  gleichzeitig  an  jeden 
Menschen  herantreten;  was  aus  all  den  zwischen  Mose  und 
Jesu  abgelaufenen  Generationen  wird,  welchen  zwar  die  Er- 
kenntnis ihrer  Sünde  durch  das  Gesetz  zum  Bewufstsein  ge- 
bracht wurde,  aber  der  allein  mögliche  Weg  zum  Heil  in 
Christo  versagt  blieb,  darauf  findet  sich  in  der  Theorie  des 
Apostels  keine  befriedigende  Antwort. 

Hingegen  läfst  sich  gegen  die  paulinische  Rechtfertigungs- 
lehre nicht  der  Vorwurf  erheben,  dafs  sie  es  den  Menschen 
allzu    leicht    macht,    wenn    sie    das    Heil    blofs    an    die   eine 


2.  Philosophische  Elemente  der  Lehre  des  Apostels  Paulus.      2G5 

Bedingung  des  Glaubens  knüpft;  denn,  wenn  Paulus  das  Wort 
Glaube  gebraucht,  so  versteht  er  darunter  nicht  nur  (wie  der 
Verfasser  des  Hebräerbriefes  11,1)  ein  gläubiges  Annehmen 
äufserer  Tatsachen,  sondern  einen  Glauben,  wie  er  ihn  selbst 
besafs,  einen  lebendigen  Glauben,  bei  welchem  Kreuzigung 
und  Auferstehung  Jesu  das  Gemüt  so  tief  ergreifen,  dafs  sie 
zur  Kreuzigung  des  eigenen  Fleisches  und  zur  Auferstehung 
in  einem  neuen  Leben  werden;  Eöm.  6,4:  „So  sind  wir  ja  mit 
ihm  begraben  durch  die  Taufe  in  den  Tod:  auf  dafs  gleich 
wie  Christus  ist  auferwecket  von  den  Toten,  durch  die  Herr- 
lichkeit des  Vaters,  also  sollen  auch  wir  in  einem  neuen  Leben 
wandeln."  Aus  einem  solchen  Glauben  folgt,  in  dem  Mafse 
wie  er  im  Menschen  sich  lebendig  erhält,  mit  Notwendigkeit 
das  sittliche  Wohlverhalten,  er  ist  eine  7i:i(jT!.(;  hi'  oLydiz-qc  evepyou- 
fxsvTj,  „ein  Glaube,  der  sich  durch  die  Liebe  betätigt"  (Gal.  5,6). 

b)  Das  originelle  Element:  der  Christus  in  uns. 

In  diese  auf  althebräischer,  jüdischer  und  historischer 
Tradition  beruhenden  Gedanken  wie  in  eine  Schale  gleichsam 
eingebettet  ist  dasjenige,  was  wir  als  das  originelle  Element 
der  Lehre  Pauli  bezeichnen  können,  und  was  sich  als  die  un- 
mittelbare Fortsetzung  des  gleichnamigen  Elements  im  Ge- 
dankenkreise Jesu  betrachten  läfst,  ohne  dafs  es  darum  nach- 
weisbar von  Jesu  übernommen  wäre,  vielmehr  von  dem  einen 
wie  von  dem  andern  unmittelbar  aus  der  Natur  geschöpft 
sein  konnte.  Denn  das  feine  moralische  Gefühl  für  den  Unter- 
schied des  Guten  und  Bösen,  welches  wir  oben  (S.  53)  als 
den  die  Hebräer  vor  allen  andern  Völkern  auszeichnenden 
Charakter  hervorhoben,  erscheint  bei  Jesu  und  Paulo,  in 
welchen  beiden  der  hebräische  Genius  zum  hellsten 'Bewufst- 
sein  über  sich  selbst  und  die  Welt  in  betreff  des  moralischen 
Empfindens  gelangt  war,  als  eine  zweifache  Erkenntnis,  sofern 
beide  grofse  Lehrer  der  Menschheit  aus  der  Betrachtung  der 
sie  umgebenden  Menschenwelt  die  Überzeugung  von  der  Un- 
freiheit des  Willens  und  aus  den  Tiefen  des  eigenen  Gemüts 
die  Gewifsheit  von  der  Verantwortlichkeit,  Imputabilität  und 
folglich  Freiheit  des  Willens  schöpften,  und  diese  beiden 
philosophischen,    antinomisch   entgegengesetzten  Grundlehren 


266  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

jeder  tiefern  Ethik  schärfer  und  deutlicher  aussprachen,  als 
es  je  vorher,  sei  es  in  der  indischen  oder  griechischen  oder 
auch  hebräischen  Welt  (vgl.  jedoch  Jerem.  10,23)  der  Fall 
gewesen  war.  Beide,  Jesus  und  Paulus,  sind  einerseits  An- 
hänger des  Determinismus,  und  beide  lassen  sich  doch 
dadurch  nicht  abhalten,  andererseits  Imperative  aufzustellen, 
welche  kategorische  heifsen  müssen,  weil  sie,  wenn  auch 
(ähnlich  wie  bei  Kant)  hin  und  wieder  begleitet  von  der  Aus- 
sicht auf  künftige  Seligkeit  oder  Verdammnis,  doch  nicht  auf 
diese  gegründet  werden,  sondern  aus  den  metaphysischen 
Tiefen  des  Gemüts  als  sittliche  Forderungen  unmittelbar  ent- 
springen. Wir  haben  gesehen,  wie  diese  beiden  Fundamental- 
sätze bei  Jesu  aus  der  naiven  Göttlichkeit  seiner  Natur  hervor- 
quellen, ohne  dafs  ein  deutliches  Bewufstsein  ihrer  Unverein- 
barkeit oder  auch  nur  Gegensätzlichkeit  vorhanden  gewesen 
wäre,  und  haben  nunmehr  zu  zeigen,  wie  Paulus  vermöge  der 
mehr  systematischen  Anlage  seines  Geistes  eben  dieselben 
beiden  ethischen  Grundwahrheiten  mit  einander  und  mit  seinen 
anderweitigen  Anschauungen,  nicht  immer  mit  Glück,  zu  ver- 
knüpfen bemüht  ist. 

Zunächst  ist  Paulus  nicht  weniger  als  Jesus  von  der 
empirischen  Unfreiheit  oder,  wie  er  sich  ausdrückt,  von  der 
Unmöglichkeit  des  fleischlichen  Menschen,  das  Gute  zu  voll- 
bringen, überzeugt;  Eöm.  7,23:  „Ich  sehe  aber  ein  ander  Ge- 
setz in  meinen  Gliedern,  das  da  widerstreitet  dem  Gesetz  in 
meinem  Gemüte,  und  nimmt  mich  gefangen  in  der  Sünden 
Gesetz,  welches  ist  in  meinen  Gliedern."  Aber  diese  richtige 
philosophische  Erkenntnis  verbindet  sich  bei  Paulus  mit  dem 
aus  dem  Alten  Testament  überkommenen  Theismus.  Hier 
aber  wie 'überall  gilt  die  Formel: 

Determinismus  +  Theismus  =  Prädestination, 

und  dementsprechend  gibt  Paulus  an  zahlreichen  Stellen  der 
Überzeugung  Ausdruck,  dafs  alle,  welche  der  Gnade  teilhaft 
werden,  von  Anfang  an  durch  Gott  dazu  vorausbestimmt  sind» 
wie  er  denn  auch  von  sich  selbst  erklärt,  dafs  Gott  ihn  „von 
Mutterleibe  durch  seine  Gnade  ausgesondert  und  berufen" 
habe  (Gal.  1,15).     Diese  grauenhafte  Lehre  findet  ihren  deut- 


2.   Pliilosophiscbe  Elemente  der  Lehre  des  Apostels  Paulus.      267 

liebsten,  man  darf  wohl  sagen  krassesten  Ausdruck  im  neunten 
Kapitel  des  Römerbriefes,  namentlicb  in  dem  Gleicbnis  von 
dem  Töpfer  und  seinen  Gefäfsen,  Rom.  9,21:  „Hat  nicbt  ein 
Töpfer  Macbt  aus  einem  Klumpen  zu  macben  ein  Fafs  zu 
Ebren  und  das  andere  zu  Unebren?"  9,16:  „So  liegt  es  nun 
nicbt  an  jemandes  Wollen  oder  Laufen,  sondern  an  Gottes 
Erbarmen."  Ebenso  beifst  es  nocb  im  Pbilipperbrief  2,12: 
„Scbaffet,  dafs  ibr  selig  werdet  mit  Furcbt  und  Zittern.  Denn 
Gott  ists,  der  in  eucb  wirket  beide,  das  Wollen  und  das  Voll- 
bringen, nacb  seinem  Woblgefallen."  Dafs  wir  unsere  Selig- 
keit mit  Furcbt  und  Zittern  scbaffen  sollen,  berubt  darauf, 
dafs  Gott  allein  nacb  Willkür  uns  begnadigen  oder  ver- 
dammen kann,  und  docb  ruft  der  Apostel  uns  in  imperativer 
Form  zu:  „Scbaffet  eure  Seligkeit!",  und  äbnbcbe  Imperative 
treten  uns  aus  bundert  Stellen  seiner  Werke  entgegen,  in 
welcben  der  Apostel  seine  Leser  unermüdlicb  ermabnt  und 
auffordert,  das  Gute  zu  tun  und  das  Böse  zu  meiden.  Gilt 
nicbt  aucb  bier  der  Kantiscbe,  von  Scbiller  so  glücklieb  formu- 
lierte Satz: „Du  kannst,  denn  du  sollst"?  Müssen  wir  nicbt, 
und  mufste  nicbt  der  Apostel  selbst  annebmen,  dafs  diejenigen, 
an  welcbe  er  seine  Ermabnungen  ricbtet,  aucb  irgendwie  im- 
stande sein  mufsten,  dieselben  zu  befolgen?  —  Ebe  wir  dieser 
Frage  weiter  nacbgeben,  wollen  wir  die  wie  bei  Jesu,  so  aucb 
bei  Paulo  neben  seinem  Determinismus  bestellende  imperative 
Form  seiner  Ethik  nocb  etwas  näher  ins  Auge  fassen. 

Was  das  Gute  sei,  was  wir  tun  sollen,  wissen  wir,  denn 
Gott  bat  es  uns  offenbart,  den  Juden  durch  das  Gesetz  Mosis, 
den  Heiden  durch  das  in  ihren  Herzen  geschriebene  Gesetz  des 
Gewissens.  Aber  weder  von  den  Juden  nocb  von  den  Heiden 
konnte  dieses  Gesetz  befolgt  werden,  „sintemal  es  durch  das 
Fleisch  geschwächet  war  (rjo'^svet.,  unwirksam  war,  Rom.  8,3)". 
Hier  wie  aucb  Gal.  3,21  fg.  und  anderweit  begegnen  wir  der 
seltsamen  Auffassung,  dafs  das  mosaische  Gesetz  gar  nicht 
gegeben  worden  sei,  um  gehalten  zu  werden,  ja  dafs  der 
Mensch  überhaupt  nicht  imstande  sei  es  zu  halten.  Aber  alle 
fünf  Bücher  Mosis  enthalten  nichts,  was  den  Menschen  etwas 
Unmögliches  zumutete  oder  von  ihnen  forderte,  und  sicherlich 
wäre  das  alttestamentliche  Gesetz  nicht  gegeben  worden,  wenn 


268  VIII.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

es  nicht  selbst  bis  zu  den  minutiösesten  Vorschriften  herab 
auch  gehalten  werden  könnte.  Aber  selbst  die  pünktlichste 
Befolgung  dieses  Gesetzes  würde  der  Apostel  für  ungenügend 
erklären,  weil  er  unter  dem  Worte  v6|j.o?  nominell  das  mosaische, 
auf  die  Erfüllung  äufserer  Werke  gerichtete  Gesetz,  in  Wahr- 
heit aber  das  Sittengesetz  versteht,  welches  nicht  Legalität, 
sondern  Moralität,  nicht  nur  die  guten  Werke,  sondern  auch 
die  gute,  d.  h.  selbstverleugnende  („das  Fleisch  kreuzigende") 
Gesinnung  fordert,  welche  sich  zu  geben  nicht  in  der  Macht 
des  natürlichen  Menschen  steht.  Darum  sagt  er  Rom.  2,29: 
„Das  ist  ein  Jude,  der  inwendig  verborgen  ist;  und  die  Be- 
schneidung des  Herzens  ist  eine  Beschneidung,  die  im  Geist  und 
nicht  in  Buchstaben  geschieht."  Wird  das  jüdische  Gesetz  so 
verstanden,  so  wird  es  begreiflich,  dafs  der  Apostel  es  auf  die- 
selbe Linie  stellt  mit  dem  Sittengesetze,  welches  auch  den  Heiden 
gegeben  ist,  „damit,  dafs  sie  beweisen,  des  Gesetzes  Werk  sei 
beschrieben  in  ihren  Herzen,  sintemal  ihr  Gewissen  sie  bezeuget, 
dazu  auch  die  Gedanken,  die  sich  unter  einander  verklagen  oder 
entschuldigen"  (Rom.  2,15).  Daher  bezieht  es.  sich  auf  beide, 
Juden  wie  Heiden,  wenn  es  Rom.  7,22 — 25  heifst:  „Denn  ich 
habe  Lust  an  Gottes  Gesetz,  nach  dem  inwendigen  Menschen; 
ich  sehe  aber  ein  anderes  Gesetz  in  meinen  Gliedern,  das  da 
widerstreitet  dem  Gesetz  in  meinem  Gemüte,  und  nimmt  mich 
gefangen  in  der  Sünden  Gesetz,  welches  ist  in  meinen  Gliedern. 
—  Ich  elender  Mensch,  wer  wird  mich  erlösen  von  dem  Leibe 
dieses  Todes?    Ich  danke  Gott  durch  Jesum  Christum!" 

Christus  also  ist  es,  durch  den  allein  Rettung  möglich 
ist,  der  Christus,  welcher  sich  dem  Apostel  in  den  Einöden 
Arabiens  offenbarte,  möglicherweise  nicht  der,  welchen  Petrus 
in  Jerusalem  verkündigte;  darum  sagt  Paulus  2.  Kor.  5,16: 
„Darum  von  nun  an  kennen  wir  niemand  nach  dem  Fleisch; 
und  ob  wir  auch  Christum  gekannt  haben  nach  dem  Fleisch, 
so  kennen  wir  ihn  doch  jetzt  nicht  mehr.  Darum,  ist 
jemand  in  Christo,  so  ist  er  eine  neue  Kreatur"  (xaiv-rj 
xxlaiQ,  derselbe  Ausdruck  Gal.  6,15;  vgl.  auch  Tit.  3,5  das 
Aoij-pov  xf^c,  TCaXcyysvsccac).  An  Stellen  wie  diesen  sehen  wir, 
wie  als  Resultat  schwerer  innerer  Gedankenkämpfe  des  Apostels 
Paulus   das   tiefsinnige  Fundamentaldogma  des  Christentums 


2.  Pliilosophische  Elemente  der  Lehre  des  Apostels  Paulus.       209 

sich  ans  Licht  emporwindet,  die  Lehre  von  der  Wieder- 
geburt, d.  h.  die  grofse  Wahrheit,  dafs  Heil  und  Rettung 
zu  erwarten  ist  nicht  von  einem  hlofsen  Tun  und  Lassen, 
welche  nur  eine  Folgeerscheinung  darstellen,  sondern  von 
einer  völligen  Umwandlung  des  natürlichen  Menschen,  welche 
dieser  als  solcher  aus  eigenen  Kräften  nicht  zu  vollbringen 
vermag,  denn,  wie  Paulus  Rom.  7,18  sagt:  „ich  weifs,  dafs  in 
mir,  das  ist  in  meinem  Fleisch,  wohnet  nichts  Gutes".  Die 
Kraft,  welche  das  Wunder  dieser  Umwandlung  vollbringt, 
wird  von  dem  Apostel  unter  Christus  verstanden;  dieser 
Christus  mufs  in  uns  geboren  werden,  in  uns  „Gestalt  ge- 
winnen" (Gal.  4,19),  wir  müssen  mit  Christo  begraben  werden 
durch  die  Taufe  in  den  Tod  (Rom.  6,4),  unser  alter  Mensch 
mufs  mit  Christo  gekreuzigt  werden  (Rom.  6,6),  wir  müssen 
unser  Fleisch  kreuzigen  samt  den  Lüsten  und  Begierden 
(Gal.  5,24),  wir  sollen  der  Welt  gekreuzigt  werden  und  die 
Welt  uns  (Gal.  6,14),  sollen  den  alten  Menschen  ausziehen 
und  den  neuen  Menschen  anziehen  (Kol.  3,9),  sollen  Christum 
anziehen  (Gal.  3,27),  und  gleich  wie  Christus  ist  auferstanden 
von  den  Toten,  also  sollen  auch  wir  in  einem  neuen  Leben 
wandeln,  so  dafs  wir  mit  Paulus  Gal.  2,20  sagen  können:,  „Ich 
lebe,  aber  doch  nun  nicht  ich,  sondern  Christus  lebet  in  mir." 
Verstehen  wir  unter  Monergismus  die  Lehre,  dafs  der 
Mensch  als  solcher  nur  egoistische,  d.  h.  sündliche  Handlungen 
vollbringen  kann,  und  dafs  alles  Gute  in  uns  durch  Gott  oder 
Christum  gewirkt  wird,  hingegen  unter  Synergismus  die 
Meinung,  dafs  der  Mensch  irgendwie  mitwirken  mufs,  wäre 
es  auch  nur,  sofern  er  der  Gnade  entgegenkommt,  sein  Herz 
ihr  öffnet,  ihr  nicht  widerstrebt  usw. ,  so  wird  aus  allem  Ge- 
sagten klar  sein,  dafs  Paulus,  soweit  er  konsequent  ist,  auf 
dem  Standpunkte  des  Monergismus  steht,  und  dafs  diese  Lehre, 
wonach  Gott  allein,  und  nur  er,  alles  Gute,  sowohl  das  Wollen 
als  auch  das  Vollbringen  in  uns  wirkt,  die  einzige  Auffassung 
ist,  welche  der  Konsequenz  des  Systems  entspricht.  Wenn 
man  von  jeher  Bedenken  getragen  hat,  diese  Konsequenz  zu 
ziehen  und  immer  wieder  zum  Synergismus  abgewichen  ist, 
so  geschah  es  aus  Furcht  vor  dem  Schreckgespenst  der  Prä- 
destination, und   allerdings  ist  diese  unvermeidlich,    solange 


270  Ylll.   Leben  und  Lehre  des  Apostels  Paulus. 

wir  dem  semitischen  Realismus  huldigen  und  aus  Gott  und 
Mensch  zwei  individuell  einander  gegenüberstehende  und  sich 
gegenseitig  ausschliefsende  .Wesen  machen.  Hier  ist  der 
Punkt,  wo  das  Christentum  eine  notwendige  Ergänzung  oder 
Berichtigung  aus  der  indischen  Lehre  entnehmen  mufs,  dafs 
Gott,  das  Prinzip  der  Welt,  der  Ätman,  wie  die  Inder  sagen, 
nicht  ein  uns  als  ein  anderer  gegenüberstehendes  Wesen, 
sondern  unser  eigenes  metaphysisches  Selbst  ist,  aus  welchem 
die  das  Gute  wirkenden  Kräfte  in  die  von  ihm  abgeirrte  Er- 
scheinung dringen,  um  dieselbe  umzuwandeln  und  zu  ihrer 
wahren  und  ewigen  Wesenheit  zurückzuführen.  Sonach  wird 
das  Gute  in  gewissem  Sinne  ganz  ohne  unser  Zutun  gewirkt, 
und  ist  doch  in  gewissem  Sinne  ganz  und  gar  unser  eigenes 
W^erk,  und  es  wird  begreiflich,  wie  Jesus  und  Paulus,  ob- 
gleich sie  alle  moralischen  Handlungen  auf  Gott  als  ihren 
Ursj)rung  zurückführen,  doch  unermüdlich  dem  Menschen  ein- 
schärfen, das  Gute  zu  tun  und  das  Böse  zu  meiden,  in  dem 
unbestimmten,  aber  sichern  Gefühl,  dafs  der  Mensch  auch  im- 
stande sein  mufs,  das  Gebotene  zu  vollbringen. 


IX.   Das  vierte  Evangelium. 

1.  Paulus  und  das  vierte  Evangelium. 

Das  Bedürfnis  der  christlichen  Gemeinde,  die  von  Paulus 
auf  Grund  einer  Innern  Offenbarung  geschaffene  Christusgestalt 
der  Kirche  auch  an  dem  Leben  Jesu  selbst  dargestellt  und 
erläutert  zu  sehen,  wurde  der  Anlafs  zu  einer  literarischen 
Komposition  höchst  origineller  Art,  welche  schon  dadurch  Ge- 
fahr läuft,  in  ein  falsches  Licht  gerückt  zu  werden,  dafs  sie 
den  drei  Evangelien  des  Matthäus,  Marcus  und  Lucas  als  ein 
viertes  Evangelium  koordiniert  wird,  während  in  Wahrheit 
dieses  vierte  Evangelium  von  den  drfei  übrigen  grundverschieden 
ist  und  an  Wert  in  gewissem  Sinne  ihnen  nicht  gleichkommt^ 
in  anderm  Sinne  sie  alle  weit  übertrifft.  Jene  sind  Volks- 
bücher und  enthalten,  wie  wir  gesehen  haben,  in  den  Er- 
zählungen und  vielmehr  noch  in  den  Reden  ein  gutes  Stück 
echter  historischer  Tradition,  das  Evangelium  Johannis  hin- 


1.   Paulus  und  das  vierte  Evangelium.  271 

gegen  ist  eine  von  Grund  aus  ideale  Schöpfung,  welche 
Begebenheiten  und  Reden  in  der  freiesten  Weise  gestaltet, 
nur  um  durch  sie  das  Wesen  des  von  Paulus  der  Welt  ge- 
predigten Sohnes  Gottes  in  lebendiger  Weise  zur  Anschauung 
zu  bringen.  Alle  Grundgedanken  des  Paulus  über  den  gött- 
lichen Heilsplan,  das  Wesen  des  Sohnes  Gottes,  die  Wieder- 
geburt, den  ]\Ionergismus,  die  an  Stelle  der  Knechtschaft  ge- 
tretene Kindschaft  und  die  Betätigung  derselben  durch  die 
Liebe,  bilden  die  wesentlichen  und  konstruktiven  Elemente, 
welche  in  diesem  wunderbaren  W^erke  zu  einem  organischen 
Ganzen  von  hoher  künstlerischer  Vollendung,  jedoch  ohne  jedes 
Anrecht  auf  historische  Geltung  vereinigt  sind.  Dafs  es  aber 
neben  manchen  geschichtlichen  Reminiszenzen  ganz  wesent- 
lich paulinische  Anschauungen  sind,  welche  das  Grundgewebe 
dieser  Komposition  bilden,  ergibt  sich  vor  allem  daraus,  dafs 
die  Gedanken,  deren  Entwicklung  wir  in  den  Briefen  des 
Paulus  noch  schrittweise  verfolgen  können,  und  welche  oft 
nur  als  das  Ergebnis  eines  schweren  geistigen  Ringens  sich 
mühsam  zum  Lichte  emporarbeiten,  dafs  eben  diese  Gedanken, 
namentlich  der  von  der  vorzeitlichen  Existenz  des  Sohnes 
Gottes,  und  die  Idee  der  Wiedergeburt  in  dem  vierten  Evan- 
gelium als  fertige  Resultate  wie  ein  deus  ex  macJiina  auftreten, 
welches  ein  sicheres  Anzeichen  dafür  ist,  dafs  ihr  Ursprung 
im  paulinischen  Gedankenkreise  zu  suchen  ist,  wo  wir  ihre 
Genesis  noch  beobachten  können. 

2.  Universeller  Charakter  des  vierten  Evanareliums. 

Neben  dieser  paulinischen  Grundlage,  welche  in  den  folgen- 
den Abschnitten  näher  nachzuweisen  sein  wird,  und  gewissen 
unverkennbaren,  aber  in  freiester  Weise  verwerteten  histori- 
schen Erinnerungen  steht  unser  Evangelium  ebenso  wie  Jesus 
und  Paulus  selbst  unter  dem  Einflüsse  der  althebräischen  und 
iranisch-jüdischen  Tradition,  wozu  sich  als  fünfter  und  letzter 
Faktor  ein  bei  Jesu  und  Paulo  noch  nicht  merkbarer  Einflufs 
der  griechisch-alexandrinischen  Philosophie  in  der  von  Heraklit 
zu  den  Stoikern,  von  diesen  zu  den  jüdisch-alexandrinischen 
Philosophen   gelangten  Form  von  dem  weltschafFenden  Logos 


272  ^^-   I^^s  vierte  Evangelium. 

gesellt,  wie  denn  als  Grundthema  des  ganzen  Evangeliums 
die  Worte  1,14  gelten  können: 

6  Xöyoc  capi  e^svexo, 

„das  Wort  ward  Fleisch",  das  heifst :  der  diese  Welt  schaffende, 
durchdringende  und  erleuchtende  Logos,  von  dem  eure  Philo- 
sophen reden,  ist  in  Jesu  Christo  Fleisch  geworden. 

Sonach  sind  es  nicht  weniger  als  fünf  verschiedene  Ele- 
mente, das  althehräische,  iranisch -jüdische,  stoisch- alexan- 
drinische,  paulinische  und  ein  historisches  Element,  welche  in 
diesem  Evangelium  zusammengeflossen  und  zu  einem  Ganzen 
voll  Bestand  vereinigt  sind,  und  die  sich,  wie  im  ganzen  Werke, 
so  schon  in  dem  wunderbaren  Prolog  bemerkbar  machen, 
wie  wir  in  der  Kürze  an  dessen  Worten  zeigen  wollen. 

Im  Anfang  war  das  Wort ,  und  das  Wort  war  bei  Gott, 
und  Gott  war  das  Wort.  Dasselbige  war  im  Anfang  bei  Gott. 
fGriechiscli-alcxandrinisch.J 

Alle  Dinge  sind  durch  dasselbige  gemacht,  und  ohne  das- 
selbige ist  nichts  gemacht,  was  gemacht  ist.     fÄltliehrüisch.J 

In  ihm  war  das  Leben,  und  das  Leben  war  das  Licht  der 
Menschen.  Und  das  Licht  scheinet  in  der  Finsternis,  und  die 
Finsternis  haben  es  nicht  begriffen.    {Iranisch,  vgl.  oben  S.  136.) 

Es  ward  ein  Mensch  von  Gott  gesandt,  der  hiefs  Johannes. 
Derselbige  kam  zum  Zeugnis,  dafs  er  von  dem  Lichte  zeugete, 
auf  dafs  sie  alle  durch  ihn  glaubeten.  Er  war  nicht  das  Licht, 
sondern  dafs  er  zeugete  von  dem  Licht.     fHistoriscli.J 

Es  war  das  wahrhaftige  Licht,  welches  alle  Menschen  er- 
leuchtet, kommend  in  die  Welt.  Es  war  in  der  Welt,  und 
die  Welt  ist  durch  dasselbige  gemacht,  und  die  Welt  kannte 
es  nicht.  Er  kam  in  sein  Eigentum,  und  die  Seinen  nähmen 
ihn  nicht  auf.     (Hebräisch-iranisch.J 

Wie  viele  ihn  aber  aufnahmen,  denen  gab  er  Macht, 
Gottes  Kinder  zu  werden,  die  an  seinen  Namen  glauben, 
welche  nicht  von  dem  Geblüt,  noch  von  dem  Willen  des 
Fleisches,  noch  von  dem  Willen  eines  Mannes,  sondern  von 
Gott  geboren  sind.     fPaulimsch.J 

Und  das  Wort  ward  Fleisch  fgriecMsch-alexandrinischJ, 
und  wohnete  unter  uns,  und  wir  sahen  seine  Herrlichkeit  als 


2.  Universeller  Charakter  des  vierten  Evangeliums.  273 

des  eingebornen  Sohnes  vom  Vater,  voller  Gnade  und  Wahr- 
heit. Johannes  zeuget  von  ihm,  ruft  und  spricht:  Dieser 
war  es,  von  dem  ich  gesagt  habe:  Nach  mir  wird  kommen, 
der  vor  mir  gewesen  ist;  denn  er  war  eher  denn  ich. 
fHistorisch.J 

Und  von  seiner  Fülle  haben  wir  alle  genommen  Gnade 
um  Gnade.  Denn  das  Gesetz  ist  durch  Mosen  gegeben;  die 
Gnade  und  Wahrheit  ist  durch  Jesum  Christum  geworden. 
Niemand  hat  Gott  je  gesehen.  Der  eingeborne  Sohn,  der  in 
des  Vaters  Schofs  ist,  der  hat  es  uns  verkündiget.    {Fauliniscli.J 


Dafs  ein  Werk  von  so  weitem  historischen  Horizont  und 
solcher  philosopliischen  Tiefe  verfafst  worden  sein  soll  von 
dem  Jünger  Johannes,  welcher  bis  ins  Mannesalter  hinein  mit 
seinem  Vater  Zebedäus  und  seinem  Bruder  Jacobus  am  Gali- 
läischen  Meere  das  Fischerhand  werk  betrieben  hatte,  davon 
kann  doch  eigentlich  heute  keine  Rede  mehr  sein.  Wie  hätte 
ein  solcher,  der  noch  in  dem  nach  55  p.  C.  geschriebenen 
Galaterbrief  2,9  vom  Apostel  Paulus  mit  einer  leichten  Ironie 
behandelt  wird,  sich  erst  im  spätem  Alter  die  historische  und 
philosophische  Bildung  aneignen  können,  welche  der  Verfasser 
dieses  Evangeliums  besafs,  wie  auch  das  edle  Griechisch, 
welches  unsere  Schrift  vor  fast  allen  andern  des  neutestament- 
lichen  Kanons  auszeichnet?  So  viel  aber  ist  gewifs,  dafs 
unser  Autor  dem  johanneischen  Kreise  angehörte,  manche  auf 
Johannes  zurückgehende  Überlieferung  benutzt  haben  mag  .und 
für  diesen  Jünger,  „der  an  Jesu  Brust  lag",  „den  der  Herr 
lieb  hatte",  eine  besondere  Vorliebe  zeigt,  ja,  wohl  auch  den 
Eindruck  macht,  dafs  er  (wie  schon  von  dem  Verfasser  des 
anerkannt  unechten  Anhangs  Kap.  21  geschieht),  nicht  un- 
gern für  diesen  Jünger  selbst  gehalten  werden  möchte,  ohne 
dafs  er  dies  irgendwo  bestimmt  erklärte,  wofür  besonders 
charakteristisch  ist  die  Stelle  bei  der  Erzählung  von  dem  ver- 
meinthch  den  erfolgten  Tod  beweisenden  Lanzenstich  in  Jesu 
Seite,  19,35:  „Und  der  das  gesehen  hat,  der  hat  es  bezeuget, 
und  sein  Zeugnis  ist  wahr:  und  derselbige  weifs,  dafs  er  die 
Wahrheit  saget,  auf  dafs  auch  ihr  glaubet."     Hierzu  kommt, 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    II,n-  18 


274  IX.   Das  vierte  Evangelium. 

dafs  zu  dem  Charakter  des  Jüngers  Johannes,  der  nach  Luc.  9,54 
mit  seinem  Bruder  Jacobus  auf  die  Städte  Samarias  Feuer 
vom  Himmel  fallen  lassen  wollte  und  vermutlich  um  dieses 
Jähzorns  willen  von  Jesu  Marc.  3,17  als  Donnersohn  be- 
zeichnet wurde,  dafs  zu  einem  solchen  Charakter  allenfalls  die 
wilden,  apokalyptischen  Bilder  der  Offenbarung  Johannis  passen 
möchten,  nicht  aber  das  milde  Licht  und  die  philosophische 
Ruhe  des  vierten  Evangeliums. 


3.  Die  paulinische  Heilstheorie  und  der  Pragmatismus  des  vierten 

Evangeliums. 

Wir  haben  gesehen,  wie  der  Glaube  an  Jesus,  als  den 
gottgesandten  Messias,  und  die  Tatsache  der  Kreuzigung  Jesu 
im  Geiste  des  Apostels  Paulus  sich  zu  der  Theorie  verknüpften, 
dafs  Gott  nach  einem  vorher  beschlossenen  Heilsplane  seinen 
Sohn,  um  für  die  Sünden  der  Welt  Genugtuung  zu  leisten,  in 
Leiden  und  Tod  hingegeben  habe.  Zu  welchen  Konsequenzen 
diese  Theorie  führt,  ersieht  man  an  dem  Pragmatismus  des 
vierten  Evangeliums,  welcher  ein  ganz  unhistorischer  ist. 
Unter  einem  historischen  Pragmatismus  verstehen  wir  einen 
solchen,  welcher  die  Begebenheiten  aus  ihren  natürlichen  Ur- 
sachen ableitet,  wie  in  der  Profan  geschieh  te  geschieht,  auch 
allenfalls  noch  einen  solchen,  welcher  zu  diesen  Ursachen  ein 
unmittelbares  Eingreifen  Gottes  oder  der  Götter  mitrechnet, 
wie  es  in  den  Heiligenlegenden  aller  Völker  der  Fall  ist;  aber 
von  beiden  verschieden  ist  der  Pragmatismus  des  vierten 
Evangeliums,  nach  welchem  alle  Begebenheiten  nicht  durch 
natürliche  oder  auch  übernatürliche  Ursachen  bewirkt  wer- 
den, sondern  allein  durch  den  in  Gottes  Ratschlufs  voraus- 
bestimmten Zweck,  die  Herrlichkeit  des  Sohnes  Gottes  den 
Menschen  zu  offenbaren.  Daher  die  öfter  vorkommende  Wen- 
dung in  den  Reden  des  johanneischen  Jesu:  „Meine  Stunde 
ist  noch  nicht  gekommen"  (vgl.  2,4.  7,6),  daher  auch  die 
wiederholten  Versuche  der  Juden,  Jesum  gefangen  zu  nehmen, 
erfolglos  bleiben;  7,30:  „Da  suchten  sie  ihn  zu  greifen,  aber 
niemand  legte  die  Hand  an  ihn,  denn  seine  Stunde  war  noch 
nicht  gekommen";  8,20:   „niemand  griff  ihn,  denn  seine  Stunde 


3.  Die  paulin.  Heilstlieorie  u.  der  Pragmatismus  d.  vierten  Evangeliums.     275 

war  noch  nicht  gekommen".  Besonders  grell  tritt  dieser 
Pragmatismus  der  Vorausbestimmung  an  einigen  Ereignissen 
hervor,  so  namentlich  bei  dem  Blindgeborenen  im  Kap.  9,  in 
bezug  auf  welchen  die  Jünger  dem  Herrn  die  sonderbare 
Doppelfrage  vorlegen,  9,2 :  „Meister,  wer  hat  gesündiget,  dieser 
oder  seine  Eltern,  dafs  er  ist  bhndgeboren?"  Wollen  wir 
nicht  unsern  Autor  einer  Gedankenlosigkeit  beschuldigen,  so 
werden  hier  zwei  mögliche  Erklärungsgründe  aufgestellt :  Der 
Mensch  ist  blindgeboren,  entweder,  weil  seine  Eltern  ge- 
sündigt haben,  gemäfs  der  mosaischen  Theorie,  nach  welcher 
die  Missetat  der  Eltern  heimgesucht  wird  an  den  Kindern 
(2.  Mos.  20,5),  oder  weil  er  selbst  gesündigt  hat,  eine  Möglich- 
keit, welche  eine  Seelenwanderung  in  der  Weise  der  Inder 
voraussetzt.  So  betrachtet  würde  die  Doppelfrage  der  Jünger 
ein  grofses,  welthistorisches  Problem  aufrollen :  Wer  hat  Kecht 
in  der  Erklärung  der  Leiden  des  Lebens,  Mose,  der  keine  Un- 
sterblichkeit kennt,  daher  die  Sünden  der  Väter  an  den  Kindern 
vergolten  werden  läfst,  oder  die  Inder,  nach  deren  Pragmatis- 
mus alle  Leiden  des  Lebens  die  Folgen  der  eigenen  Versündi- 
gung in  einer  frühern  Geburt  sind.  Aber  weder  der  alt- 
hebräische noch  der  altindische  Pragmatismus  ist  der  unsers 
Autors,  M^ elcher  seinen  Jesus  entscheiden  läfst:  „Es  hat  weder 
dieser  gesündigt  noch  seine  Eltern,  sondern,  dafs  die  Werke 
Gottes  offenbar  würden  an  ihm."  Also  nur  darum  mufste  der 
arme  Mensch  von  Geburt  an  blind  sein,  damit  dem  Sohne 
Gottes  eine  Gelegenheit  geboten  würde,  seine  Macht  an  ihm 
zu  offenbaren.  —  Ähnlich  liegt  der  Fall  des  Lazarus,  welcher 
aus  demselben  Grunde  krank  werden  und  sterben  mufs; 
11,4:  „Da  Jesus  das  hörete,  sprach  er:  Die  Krankheit  ist  nicht 
zum  Tode,  sondern  zur  Ehre  Gottes,  dafs  der  Sohn  Gottes  da- 
durch geehrt  werde"  (vgl.  11,42).  —  Alles  aber  wird  über- 
boten durch  die  Rolle,  welche  dieses  Evangelium  den  Judas 
spielen  läfst.  Jesus  erwählt  den  Judas,  obgleich  er  „von 
Anfang  an"  (6,64)  weifs,  dafs  derselbe  ihn  verraten  werde, 
und  dieses  sogar  offen  ausspricht,  6,70:  „Habe  ich  nicht  euch 
zwölfe  erwählet?  Und  euer  einer  ist  ein  Teufel!"  Warum, 
so  wird  doch  jeder  fragen,  wählte  denn  Jesus  den  Judas, 
wenn  er  wufste,   dafs  er   ein  Teufel  war?     Darum,   so  lautet 

18* 


276  IX.   Das  vierte  Evangelium. 

die  Antwort,  weil  in  dem  ewigen  Ratschlüsse  Gottes  dieser 
Unglücksmensch  notwendig  war,  um  die  Gefangennahme  Jesu 
herbeizuführen. 


4.  Der  Sohn  Gottes,  allwissend  und  allmächtig. 

Lesen  wir  die  Briefe  des  Paulus  nach  der  Reihenfolge 
ihrer  Abfassungszeit,  so  läfst  sich  vom  ersten  bis  zum  letzten, 
vom  ersten  Briefe  an  die  Thessalonicher  bis  zum  Briefe  an 
die  Philipper  verfolgen,  wie  Jesus  dem  Apostel  unter  den 
Händen  aus  einem  individuellen  Wesen  sich  fortentwickelt 
zu  einem  kosmischen  Prinzip,  als  welches  er  neben  Gott 
schon  erscheint  1.  Kor.  8,6:  „So  haben  wir  doch  nur  einen 
Gott,  den  Vater,  von  welchem  alle  Dinge  sind  und  wir  in 
ihm;  und  einen  Herrn  Jesum  Christ,  durch  welchen  alle 
Dinge  sind  und  wir  durch  ihn."  Deutlicher  reden  die  spätesten 
Briefe,  Kol.  1,15,  wo  es  von  Christo  heifst:  „Welcher  ist  das 
Ebenbild  des  unsichtbaren  Gottes,  der  Erstgeborne  vor  allen 
Kreaturen.  Denn  durch  ihn  ist  alles  geschaffen,  das  im  Himmel 
und  auf  Erden  ist,  das  Sichtbare  und  Unsichtbare" ;  vgl.  auch 
Eph.  3,9:  „Die  Mitteilung  des  Geheimnisses,  das  von  der  Welt 
her  in  Gott  verborgen  gewesen  ist,  der  alle  Dinge  geschaffen 
hat  durch  Jesum  Christum."  Diese  Fortentwicklung  Jesu  von 
einem  individuellen  zu  einem  kosmischen  Prinzip  ist  neben 
der  Anknüpfung  an  die  griechische  Philosophie  die  Vorstufe 
und  Voraussetzung  der  Logoslehre  des  vierten  Evangeliums. 
In  diesem  erscheint  Jesus  von  vornherein  als  eine  Inkarnation 
Gottes,  ausgestattet  mit  den  göttlichen  Prädikaten  der  All- 
wissenheit und  Allmacht.  Der  johanneische  Jesus  ist  all- 
wissend, Job.  2,24 — 25:  „Aber  Jesus  vertraute  sich  ihnen 
nicht,  denn  er  kannte  sie  alle.  Und  bedurfte  nicht,  dafs  jemand 
Zeugnis  gäbe  von  einem  Menschen :  denn  er  wufste  wolil,  was 
im  Menschen  war."  Er  kennt  den  Nathanael,  ehe  er  ihn 
noch  gesehen  hat  (1,48).  Er  enthüllt  dem  samaritischen  Weibe 
seine  Vergangenheit  (4,18),  weifs,  dafs  er  vor  Abraham  schon 
da  war  (8,58),  sagt  auf  das  bestimmteste  voraus,  dafs  der 
Tempel  seines  Leibes  abgebrochen  und  von  ihm  selbst  am 
dritten  Tage  wieder  erbaut  werden  wird  (2,19 — 21),  sagt  die 


4.   Der  Sohn  Gottes,  allwissend  und  allmächtig.  277 

Auferstehung  der  Toten  voraus  (5,28),  meldet  seinen  Jüngern 
den  in  der  Ferne  erfolgten  Tod  des  Lazarus  (11,11 — 14),  und 
auch  in  dem  Zusatzkapitel  von  anderer  Hand  erklärt  Petrus: 
„Herr,  du  weifst  alle  Dinge"  (21,17).  Diese  Allwissenheit 
scheint  sich  gelegentlich  auch  auf  andere  zu  übertragen,  denn 
dem  Johannes  wird  eingegeben  zu  taufen,  um  den  Messias 
zu  erkennen,  und  nachdem  die  Taube  als  das  verabredete 
Kennzeichen  sich  auf  Jesum  herabgelassen  hat  (1,32 — 33), 
weifs  Johannes  sofort  und  sagt  es  voraus,  dafs  Jesus  das 
Lamm  (a[j.vc(;,  vgl.  Jesaia  53,7)  Gottes  sei,  „welches  der  Welt 
Sünde  trägt"  (1,29).  Ja  sogar  der  Hohepriester  Kaiphas  weis- 
sagt, ohne  selbst  zu  verstehen,  was  er  sagt,  den  Opfertod 
Jesu  (11,51).  —  Weiter  ist  Jesus  als  inkarmerter  Gott  auch 
allmächtig;  als  solcher  bedarf  er  keiner  Speise  (4,34),  geht 
durch  verschlossene  Türen  (20,19.26),  er  hat  die  Welt  er- 
schaffen (1,3),  Gott  hat  ihm  Macht  gegeben  über  alles  Fleisch 
(17,2),  und  er  betätigt  diese  Macht  durch  acnt  Wunderwerke, 
welche  alles  hmter  sich  lassen,  was  die  Synoptiker  von  dieser 
Art  berichten. 

Das  erste  Wunder,  die  Verwandlung  des  Wassers  in 
Wein  auf  der  Hochzeit  zu  Kana,  ist  ohne  jeden  ethischen 
Gehalt  und  hat  daher  lediglich  den  Zweck,  die  magische 
Macht  des  Gottessohnes  über  die  Natur  zu  erweisen  (Kap.  2). 
Dann  folgt  die  Heilung  des  Sohnes  des  Königischen  aus  der 
Ferne  (4,52),  des  Gichtbrüchigen,  bei  dem  die  magische  Wir- 
kung des  durch  einen  Engel  bewegten  Wassers  ersetzt  wird 
durch  die  nicht  weniger  magische  Wirkung  des  Wortes  Jesu 
(5,4.8).  Aus  der  synoptischen  Überlieferung  sind  die  Speisung 
der  Fünftausend  und  das  Wandeln  auf  dem  Meere  herüber- 
genommen; eigentümlich  dem  vierten  Evangelium  und,  wie 
oben  gezeigt,  bedingt  durch  den  Zweck,  die  Herrlichkeit  des 
Sohnes  Gottes  zu  offenbaren,  sind  die  Heilung  des  Blind- 
geborenen (Kap.  9)  und  die  Auferweckung  des  Lazarus  (Kap.  11), 
woran  sich  als  achtes  Wunderwerk  die  aus  der  allgemeinen 
Tradition  übernommene  Auferstehung  Jesu  schliefst,  welche 
hier  nicht,  wie  nach  der  paulinischen  Predigt,  durch  Gott, 
sondern  durch  Jesum  selbst  bewirkt  wird  (2,19;  über  die  ur- 
sprüngliche Bedeutung  dieses  Wortes  vgl.  oben  S.  229  fg.).    Auch 


278  IX.   Das  vierte  Evangelium. 

sonst  fehlt  es  in  unserm  Evangelium  nicht  an  Zügen  magischer 
Wirkung;  so  bei  der  Gefangennahme  (18,6):  „Als  nun  Jesus 
zu  ihnen  sprach:  Ich  bins,  wichen  sie  zurück  und  fielen  zu 
Boden";  und  nach  der  Auferstehung  20,22  heifst  es:  „Und 
da  er  das  sagte,  blies  er  sie  an,  und  spricht  zu  ihnen :  Nehmet 
hin  den  heiligen  Geist."  Das  stärkste  Beispiel  ist  die  Art, 
wie  hier  der  Verrat  des  Judas  eingeleitet  wird.  Nach  Matth. 
26,23,  Marc.  14,20  will  Jesus  beim  letzten  Mahle  nur  sagen: 
Einer,  der  mir  so  nahe  steht,  dafs  er  mit  mir  die  Hand  in 
die  Schüssel  taucht,  d.  h.  mit  mir  aus  derselben  Schüssel  ifst, 
wird  mich  verraten.  Und  was  wird  daraus  im  vierten  Evan- 
gelium? Jesus  erklärt:  Einer  unter  euch  wird  mich  verraten. 
Petrus  winkt  dem  Johannes,  den  Herrn  zu  fragen,  welcher  es 
sei.  Jesus  antwortet :  „Der  ist's,  dem  ich  den  Bissen  eintauche 
und  gebe.  Und  er  tauchte  den  Bissen  ein  und  gab  ihn  Juda 
Simonis  Ischarioth.  Und  nach  dem  Bissen  fuhr  der  Satan  in 
ihn"  (13,26 — 27).  Hiernach  sieht  es  fast  so  aus,  als  hätte 
Jesus  durch  Überreichung  des  Bissens  das  Fahren  des  Satans  in 
Judas  und  somit  dessen  Verrat  selbst  veranlafst.  —  Zu  solchen 
Konsequenzen  führt  der  Pragmatismus  dieses  Evangeliums. 

5.  Die  Wiedergeburt  und  der  Monergismns. 

Wir  sahen  oben,  wie  im  Gedankengang  des  Apostels 
Paulus  aus  den  beiden  fundamentalen  Überzeugungen  von  der 
Unfreiheit  des  Willens  und  den  gleichwohl  zu  Recht  be- 
stehenden ethischen  Forderungen  die  Lehre  von  der  Wieder- 
geburt als  das  Zentraldogma  des  Christentums  allmählich 
entstand,  ohne  dafs  für  die  Bezeichnung  dieser  Wiedergeburt 
schon  ein  bestimmter  Terminus  vorhanden  wäre.  Vielmehr 
beschreibt  Paulus  diesen  Prozefs  mit  mannigfachen  Ausdrücken 
als  eine  neue  Schöpfung  (Gal.  6,15,  2.  Kor.  5,17),  als  ein  Um- 
gewandeltwerden ([j.£Ta[j.op9oOG'^£,  Rom.  12,2),  ein  Geboren- 
werden Christi  in  uns,  das  Anziehen  eines  neuen  Menschen, 
und  erst  im  unechten  Titusbrief  3,5  begegnet  uns  das  Wort 
luaXiYYsvsaia.  —  Diese  verschiedenen  Bezeichnungen  beweisen, 
dafs  Paulus  erst  sucht  nach  einem  Ausdruck  für  das,  was 
ihn    innerlich   beschäftigt,    dafs    somit   das  Dogma    von    der 


5.  Die  Wiedergeburt  und  der  Monergismus.  279 

Wiedergeburt  bei  ihm  noch  nicht  fertig  dasteht,  sondern  erst 
im  Entstehen  begriften  ist.  —  Ganz  anders  im  vierten  Evan- 
gehum.  Hier  tritt  Jesus  dem  von  etwas  ganz  anderm  redenden 
Nikodemus  plötzhch  und  unvermittelt  mit  der  Forderung  ent- 
gegen (3,3):  „Es  sei  denn,  dafs  jemand  von  neuem  geboren 
werde  (y£vvr,^fi  avw'isv),  kann  er  das  Reich  Gottes  nicht  sehen", 
und  ebenso  paradox  und  unerwartet  ist  es,  wenn  schon  der 
Prolog  (1,13)  von  solchen  redet,  die  nicht  von  Menschen, 
sondern  von  Gott  geboren  sind  (Ix  'ieox)  eyevvi^^YjCav).  Die 
Art,  wie  in  diesen  Stellen  ein  so  originelles  Dogma  wie  das 
von  der  Wiedergeburt  ohne  Umstände  als  eine  anerkannte 
^^'ahrheit  auftritt,  ist  ein  deutlicher  Beweis  dafür,  dafs  dieses 
Dogma  unter  den  Händen  des  Paulus  entstanden  und  im 
vierten  Evangelium  von  diesem  fertig  übernommen  worden 
ist.  Und  so  findet  auch  die  damit  zusammenhängende  pau- 
linische  Lehre  vom  Monergismus,  nach  w^elcher  Gott  allein  es 
ist,  der  sowohl  das  Wollen  als  auch  das  Vollbringen  des 
Guten  in  uns  bewirkt,  im  vierten  Evangelium  vielfach  seinen 
Ausdruck ;  6,29 :  „Das  ist  Gottes  Werk,  dafs  ihr  an  den  glaubet, 
den  er  gesandt  hat";  6,37:  „Alles  was  mir  mein  Vater  gibt, 
das  kommt  zu  mir";  6,44:  „Es  kann  niemand  zu  mir  kommen, 
es  sei  denn,  dafs  ihn  zieht  der  Vater,  der  mich  gesandt  hat"; 
6,65:  „Darum  habe  ich  euch  gesagt,  niemand  kann  zu  mir 
kommen,  es  sei  ihm  denn  von  meinem  Vater  gegeben";  14,6: 
„Niemand  kommt  zum  Vater  denn  durch  mich";  15,5:  „Ohne 
mich  könnt  ihr  nichts  tun." 

Ist  somit  der  Beweis  erbracht,  dafs  das  vierte  Evangelium 
in  allen  Hauptpunkten  der  Lehre  von  den  paulinischen  Ge- 
danken abhängig  ist,  so  dürfen  wir  annehmen,  dafs  diese 
Abhängigkeit  wohl  auch  noch  auf  andere  Gedanken  sich  er- 
streckt. So  begegnet  uns  der  paulinische  Gegensatz  von 
Fleisch  und  Geist  zur  Bezeichnung  des  natürlichen  und  des 
wiedergeborenen  Menschen,  3,6:  „Was  vom  Fleisch  geboren 
wird,  das  ist  Fleisch,  und  was  vom  Geist  geboren  wird, 
das  ist  Geist."  Die  von  Paulus  erkämpfte  Freiheit  vom 
mosaischen  Gesetz  kommt  schon  im  Prolog  zum  Ausdruck; 
1,17 — 18:  „Denn  das  Gesetz  ist  durch  Mosen  gegeben:  die 
Gnade  und  Wahrheit  ist  durch  Jesum  Christum  geworden 


280  IX-   Das  vierte  Evangelium. 

(also  nicht  durch  Mose).  Niemand  hat  Gott  je  gesehen  (also 
auch  Mose  nicht,,  wie  4.  Mos.  12,8,  5.  Mos.  34,10  behauptet 
wird),  der  eingeborene  Sohn,  der  in  des  Vaters  Schofs  ist,  der 
hat  es  uns  verkündigt."  Man  vergleiche  die  Seitenblicke,  die 
der  vierte  Evangelist  gelegentlich  (z.  B,  3,10.  4,21.  5,39.  6,49 
[8,6].  8,58.  10,8)  auf  die  Religion  der  Väter  wirft,  wie  auch 
8,36:  „So  euch  nun  der  Sohn  frei  macht,  so  seid  ihr  recht 
frei."  Der  paulinische  Gegensatz  zwischen  Knechtschaft  und 
Kindschaft  erscheint  15,15  als  der  zwischen  den  Knechten 
und  den  Freunden,  und  das  von  Paulus  gebrauchte  Bild  von 
Christo  als  dem  Leib  und  den  Christen  als  seinen  Gliedern 
(1.  Kor.  12,12)  mag  Anlafs  gegeben  haben  zu  dem  im  vierten 
Evangelium  Kap.  15  ausgeführten  von  dem  Weinstock  und 
seinen  Reben.  Endlich  mag  in  betreff  des  Gebotes  der  Liebe 
noch  erwähnt  werden,  dafs  bei  Paulus  die  unter  den  Korinthern 
betriebenen  sogenannten  Gnadengaben,  wie  Zungenreden  und 
Weissagen,  dem  Apostel  Anlafs  gaben,  in  dem  herrlichen 
Kapitel  1.  Kor.  13  die  Liebe  höher  als  sie  alle  zu  stellen, 
während  im  vierten  Evangelium  derselbe  Gedanke  nicht  durch 
einen  bestimmten  Anlafs  vermittelt,  wie  im  ersten  Korinther- 
brief,  sondern  unvermittelt  und  also  wohl  auch  hier  in  An- 
lehnung an  Paulus  auftritt,  13,34:  „Ein  neu  Gebot  gebe  ich 
euch,  dafs  ihr  euch  unter  einander  liebet,  wie  ich  euch  geliebt 
habe,  auf  dafs  auch  ihr  einander  lieb  habet." 

Die  zahlreichen  von  uns  beigebrachten  Gründe  für  eine 
Abhängigkeit  des  vierten  Evangeliums  vom  paulinischen  Ge- 
dankenkreise dürften  hinreichen,  unsere  zu  Eingang  aufgestellte 
Behauptung  zu  erweisen,  dafs  das  Evangelium  Johannis,  weit 
davon  entfernt,  das  Werk  eines  unmittelbaren  Jüngers  zu  sein, 
vielmehr  seine  Entstehung  dem  Bedürfnis  verdankt,  die  wesent- 
lich aus  eigener,  innerer  Offenbarung  erwachsene  Christus- 
gestalt des  Apostels  Paulus  in  einem  Leben  Jesu  anschaulich 
dargestellt  zu  sehen. 

Die  Aussprüche  des  synoptischen  Jesus,  die  in  der  Tiefe 
des  eigenen  Bewufstseins  wurzelnde  Christusgestalt  des  Apostels 
Paulus  und  die  metaphysischen  Spekulationen  des  vierten 
Evangeliums  haben  gleichmäfsig  zum  Aufbau  des  Christus 
der  Kirche  beigetragen.    Alle  drei  sind  nicht  nur  für  die  Ge- 


5.  Die  "Wiedergeburt  und  der  Monergismus.  281 

schichte  der  Philosophie,  sondern  auch  für  die  philosophische 
Wahrheit  selbst  von  hohem  Werte.  Aber  wichtiger  als  der 
Synthetiker  Johannes  ist  uns  der  Analytiker  Paulus,  und  beider 
Systeme  an  Wert  für  die  Menschheit  weit  überragend  ist  das- 
jenige, was  wir  aus  der  synoptischen  Überlieferung  als  echte 
Gedanken  Jesu  anerkennen  und  uns  zu  eigen  machen  können. 


X.   Kern  und  Schale  des  Christentums. 

Der  Apostel  sagt  2.  Kor.  4,7:  e'xofJ-sv  6s  xöv  j-irjCaDpöv  toütov 
SV  haxgoLYlvoic,  cxsusaw,  „wir  haben  aber  diesen  Schatz  in  irdenen 
Gefäfsen".  In  anderm  Sinne  als  dem,  welchen  der  Zusammen- 
hang der  Stelle  fordert,  können  wir  diese  Worte  auf  das  ganze 
Christentum  beziehen  und  an  ihm  einen  unvergänglichen  Schatz 
von  den  vergänglichen  Gefäfsen,  die  ihn  einschliefsen ,  einen 
unverherbaren  Kern  echter  philosophischer  Wahrheit  von  einer 
sehr  unphilosophischen  Schale  unterscheiden.  Die  fundamen- 
tale Bedeutung  dieser  Unterscheidung  wird  sich  aus  dem  ganzen 
weitern  Verlauf  unserer  Darstellung  ergeben ;  es  wird  sich  dabei 
zeigen,  wie  die  Aneignung  des  Kernes  mitsamt  seiner  Schale 
den  Grundcharakter  der  Philosophie  des  Mittelalters, 
die  Befreiung  des  Kernes  von  der  ihn  einschliefsenden  Schale 
die  Hauptaufgabe  der  neuern  Philosophie  gebildet  hat; 
erstere  hat  nur  zu  oft  über  der  Schale  den  Kern  vernach- 
lässigt, letzterg  nur  zu  oft  mit  der  Schale  auch  den  Kern 
weggeworfen  und  verloren. 

1.  Der  Kern  des  Christentums. 

Vier  grofse  Grundwahrheiten  sind  es,  welche  die  Philo- 
sophie dem  Christentum  verdankt,  und  welche  sie  nie  aufgeben 
kann,  will  sie  nicht  das  Beste  verlieren,  was  sie  überhaupt 
besitzt. 

Erste  Wahrheit:  Der  Determinismus.  Dafs  der 
Wille  des  Menschen  nicht  frei,  sondern  durch  die  jedes- 
maligen Motive  mit  Notwendigkeit  bestimmt  ist,  dafs,  mit 
andern  Worten,  dem  die  ganze  Natur  beherrschenden  Kausali- 
tätsgesetz auch  das  Wollen  und  Handeln  des  Menschen  unter- 


282  X.   Kern  und  Schale  des  Christentums. 

liegt,  ist  eine  Grundwahrheit,  deren  Spuren  sich  zwar  auch 
in  dem  indischen,  griechischen  und  althebräischen  Denken 
nachweisen  lassen,  welche  aber  erst  von  Jesus  und  Paulus 
mit  voller  Deutlichkeit  ausgesprochen  und  zum  Grundstein 
ihrer  ganzen  Weltanschauung  gemacht  worden  ist.  Wie  der 
Baum,  so  seine  Früchte,  wie  der  Mensch,  so  seine  Taten. 
Dieses  von  Jesu  gebrauchte  Bild  läfst  keinen  Zweifel  darüber, 
dafs  er  die  Unfreiheit  des  Willens  mit  aller  Deutlichkeit 
erkannt  hat.  Dieselbe  Erkenntnis  finden  wir  beim  Apostel 
Paulus,  nur  dafs  sie  sich  bei  ihm  mit  dem  aus  dem  Alten 
Testament  vererbten  Theismus  verbindet  und  dadurch  zur 
Prädestination  als  ihrer  Konsequenz  führt.  Wie  der  Mensch 
geschaffen  ist,  so  ist  er  beschaffen,  und  wie  er  beschaffen  ist, 
so  mufs  er  handeln.  Frei  sein  kann  nur  ein  solches  Wesen, 
welches  sich  selbst  erschaffen,  welches  die  Beschaffenheit, 
nach  der  es  mit  Notwendigkeit  handelt,  aus  sich  selbst  heraus 
geboren  hat. 

Zweite  Wahrheit:  Der  kategorische  Imperativ- 
Jesus  und  Paulus  lassen  sich  durch  die  von  beiden  klar  er- 
kannte Unfreiheit  des  Willens  nicht  davon  abhalten,  unermüd- 
lich vom  Menschen  zu  fordern,  dafs  er  das  Gute  vollbringe 
und  das  Böse  meide.  Diese  Imperative,  von  denen  Jesu  Worte 
und  Pauli  Schriften  voll  sind,  müssen  als  kategorische  im 
Kantischen  Sinne  anerkannt  werden.  Zwar  ist  oft  genug  im 
Neuen  Testament  vom  himmlischen  Lohn,  von  der  Aussicht 
auf  einen  seligen  Endzustand  die  Rede;  aber  es  ist  etwas 
ganz  anderes,  ob  dieser  himmlische  Lohn  als  Grund  für  das 
sittliche  Wohlverhalten,  oder  ob  er  nur  als  eine  Folge  des- 
selben erscheint.  Letzteres  ist  auch  bei  Kant  der  Fall,  wenn 
er  in  der  Dialektik  der  praktischen  Vernunft  Unsterblichkeit 
und  jenseitige  Vergeltung  als  Postulate  aufstellt,  ohne  dafs 
darum  jener  Imperativ  aufhört,  ein  kategorischer  zu  sein, 
welchen  er  formuliert  in  den  Worten:  „Handle  so,  dafs  die 
Maxime  deines  Willens  jederzeit  zugleich  als  Prinzip  einer 
allgemeinen  Gesetzgebung  gelten  könne."  Diese  Worte  be- 
sagen nicht,  dafs  wir  die  allgemeine  Glückseligkeit  befördern 
sollen,  weil  unsere  eigene  darin  mit  einbegriffen  ist,  son- 
dern ihr  wahrer  und  tieferer,  wenn   auch  nicht  überall  von 


1.  Der  Kern  des  Christentums.  283 

Kant  streng  festgehaltener  Sinn  ist:  Handle  nicht  individuell, 
sondern  überindividuell,  handle  s(f,  wie  der  handeln  würde,  den 
du  dir  als  den  allgemeinen  Gesetzgeber  des  Weltalls  vorstellst. 
So  aufgefafst  trifi't  der  Kantische  Imperativ  mit  dem  Jesu  zu- 
sammen: „darum  sollt  ihr  vollkommen  sein,  gleichwie  euer 
Vater  im  Himmel  vollkommen  ist".  Schärfer  noch  aber  als 
bei  Kant  in  dem  Kapitel  von  den  Triebfedern  der  reinen 
praktischen  Vernunft  tritt  der  wahre  Inhalt  dieses  kategori- 
schen Imperativs  hervor  in  den  Worten  Jesu :  „Will  mir 
jemand  nachfolgen,  der  verleugne  sich  selbst  und  nehme  sein 
Kreuz  auf  sich  und  folge  mir"  (Matth.  16,24),  und  in  den 
Worten  Pauli :  „Welche  aber  Christo  angehören,  die  kreuzigen 
ihr  Fleisch  samt  den  Lüsten  und  Begierden"  (Gal.  5,24).  Unter 
Fleisch  ist  hier  wie  überall  bei  Paulus  der  Egoismus  zu  ver- 
stehen, welcher  die  Wurzel  des  ganzen  natürlichen  Menschen 
bildet,  und  aus  welchem  alle  Handlungen  desselben  nach  dem 
Kausalitätsgesetz  mit  Notwendigkeit  hervorgehen,  daher  es 
Rom.  7,18  heifst:  ,,Denn  ich  weifs,  dafs  in  mir,  das  ist  in 
meinem  Fleisch,  wohnet  nichts  Gutes." 

Dritte  Wahrheit:  Die  Wiedergeburt.  Hieraus  ergibt 
sich,  dafs  nicht  ein  blofses  Tun  und  Lassen,  sondern' eine 
völlige  "Neuschöpfung  (y.awr]  xtIük;)  ,  eine  Umwandlung  des 
alten  Menschen  in  den  neuen,  wie  Paulus,  eine  Wendung  des 
Willens  von  der  Bejahung  zur  Verneinung,  wie  Schopenhauer 
sagt,  dasjenige  ist,  was  dem  aus  den  letzten  metaphysischen 
Tiefen  unserer  Natur  entspringenden  kategorischen  Imperativ 
Genüge  leistet.  Diese  Wiedergeburt  erscheint  in  der  Dar- 
stellung bei  Paulus  wie  bei  Schopenhauer  in  der  Regel  als 
ein  einmaliger  Akt,  indem  beide  in  der  begrifflichen  Betrach- 
tung zusammenrücken,  was  sich  meist  nur  allmählich  im 
Verlauf  des  ganzen  empirischen  Daseins  vollzieht.  Denn  der 
,  höchste  Zw^eck  und  der  eigentliche  Sinn  dieses  Daseins  besteht 
darin,  dafs  der  sich  bejahende  Wille  aus  der  Erkenntnis  der 
Folgen  dieser  Bejahung  an  sich  selbst  und  in  der  umgebenden 
Aufsenwelt  nach  und  nach  zu  einer  Läuterung  des  ihm  ein- 
geborenen Egoismus  gelangt.  „Aus  der  Erkenntnis  entspringt 
die  Erlösung"  fjnänäd  mohshahj ^  wie  die  Inder  sagen,  aber 
diese  Erkenntnis  ist  keine  Erkenntnis,  wie  sie  dem  natürlichen 


284  X.   Kern  und  Schale  des  Christentums. 

Willen  die  Motive  seines  Handelns  liefert,  sondern  ganz  anderer 
Art,  und  kann  durch  keine  •Belehrung,  kann  überhaupt  nicht 
durch  natürliche  Mittel  bewirkt  werden. 

Vierte  Wahrheit:  Der  Monergismus.  Wenn  das 
Christentum  in  seinen  hellsten  Augenblicken  und  da,  wo  es 
konsequent  ist,  erklärt,  dafs  diese  Umwandlung,  weil  sie  den 
ganzen  natürlichen  Menschen  betrifft,  nicht  von  diesem  selbst, 
sondern  von  Gott,  von  dem,  was  das  Christentum  Gott  nennt, 
gewirkt  werde,  so  wird  sich  eine  tiefere  Philosophie  dieser 
reinlichen  Scheidung  der  natürlichen,  d.  h.  egoistischen,  und 
der  moralischen,  d.  h.  das  eigene  Selbst  verleugnenden  Hand- 
lungen, voll  und  ganz  anschlief sen  müssen.  Beide  sind  so 
entgegengesetzt  wie  Tag  und  Nacht,  wenn  sie  auch  eben  wie 
diese  empirisch  ununterscheidbar  zusammenfliefsen  und  in 
einander  übergehen.  Jede  Handlung,  deren  letzter  Zweck  die 
Beförderung  des  eigenen  Wohles  ist,  entspringt  aus  dem 
Egoismus,  dieser  Wurzel  des  natürlichen  Menschen,  und  jede 
Handlung,  auch  die  kleinste,  bei  welcher  das  Bewufstsein  vor- 
handen ist,  unser  eigenes  Wohl  einem  höhern  Zweck  zum 
Opfer  zu  bringen,  ist  aus  der  natürlichen  Ordnung  der  Dinge 
nicht  abzuleiten  oder  zu  begreifen.  Sie  wird,  wie  das  Christen- 
tum sagt,  durch  Gott  gewirkt.  Aber  das  ist  eben  der 
tiefere  Sinn  des  Gottesbegriffes,  dafs  unser  empirisches 
Dasein,  welches  den  Gesetzen  des  Raumes,  der  Zeit  und  der 
Kausalität  unterliegt,  folglich  egoistisch,  sterblich  und  unfrei 
ist,  nicht  unser  wahres,  metaphysisches  Wesen,  sondern  eine 
Abirrung  von  demselben  bedeutet,  aus  welchem  wir,  wie 
eine  innere  Stimme  fordert,  zu  unserer  eigenen,  an  sich 
seienden,  raumlosen,  zeitlosen,  kausalitätlosen,  folglich  sünd- 
losen, unsterblichen  und  freien  Wesenheit,  mit  andern  Wor- 
ten zu  Gott  zurückkehren  sollen.  Jede  egoistische  Handlung 
entspringt  aus  dem  angeborenen  Befangensein  in  Raum,  Zeit 
und  Kausalität,  ist  somit  unfrei,  und  die  mit  dieser  empiri- 
schen Unfreiheit  nach  Kants  Lehre  zusammenbestehende 
Freiheit  des  Willens  bedeutet  nichts  Geringeres,  als  die  bei 
jeder  Handlung  unseres  Lebens  offenstehende  Möglichkeit, 
dafs  wir  imstande  sind,  wie  ein  Vogel  aus  der  Schlinge,  uns 
von  dem  ganzen  phantasmagorischen  Zyklus  der  empirischen 


1.  Der  Kern  des  Christentums.  285 

Realität    loszumachen    und    uns    auf  unsere  an  sich  seiende, 
göttliche  Natur  zurückzuziehen,  d.  h.  zu  Gott  zurückzukehren. 

2.  Die  Schale  des  Christentums. 

Dieser  köstliche  Kern  ethischer  und  metaphysischer  Grund- 
wahrheiten findet  sich  im  System  der  christlichen  Lehre  ein- 
gebettet in  einer  harten,  auf  der  Beibehaltuiig  des  altsemitischen 
Realismus  (oben  S.  32)  beruhenden  Schale,  welche  mit  den 
sichersten  Resultaten  der  historischen,  naturwissenschaftlichen 
und  philosophischen  Forschung  in  unversöhnlichem  Wider- 
spruche steht. 

Ewig  ist  nach  diesem  System  nicht  die  Welt,  nicht  ein- 
mal die  Substanz,  deren  Unschaff barkeit  und  Unvernichtbar- 
keit  doch  auf  einem  Grundgesetze  a  priori  beruht,  sondern 
allein  JaJive;  Ps.  90,2:  „Ehe  denn  die  Berge  worden,  und  die 
Erde,  und  die  Welt  geschaffen  worden,  bist  du,  Gott,  von 
Ewigkeit  zu  Ewigkeit."  Diesen  Gott  denkt  sich  der  Hebräer 
und,  ihm  folgend,  das  Christentum  zwar  allwissend  und  all- 
mächtig, übrigens  aber  menschenähnlich;  denn  wenn  es 
1.  Mos.  1,27  heifst:  „Gott  schuf  den  Menschen  ihm  zum  Bilde", 
so  bedeutet  das,  in  die  Sprache  der  Wissenschaft  übersetzt: 
der  Mensch  stellt  sich  Gott  nach  dem  Bilde  eines  Menschen 
vor,  eine  Hypothese,  welche  unter  allen,  die  man  je  zur  Er- 
klärung der  Welt  aufgestellt  hat,  die  verwegenste  und  unmög- 
lichste ist.  Dieser  Gott  beschliefst  zu  einer  bestimmten 
Zeit,  man  sieht  nicht  recht  warum,  nachdem  eine  unendliche 
Zeit  ungenützt  verstrichen  ist,  eine  Welt  zu  schaffen.  Im 
Verlaufe  von  sechs  Tagen  schafft  er,  wie  es  scheint,  aus 
nichts  (Hebr.  11,3)  die  Welt,  d.  h.  die  Erde  und  das 
Übrige.  Sonne,  Mond  und  alle  Sterne  scheinen  nur  da  zu 
sein,  um  der  kleinen  Erde  Wärme  und  Licht  zu  spenden. 
Von  den  möglicherweise,  ja  auf  Grund  der  Analogie  wahr- 
scheinlicherweise vorhandenen  Bewohnern  anderer  Planeten 
unseres  Sonnensystems  und  der  zahllosen  übrigen  Sonnen- 
systeme ist  keine  Rede,  noch  weniger  davon,  ob  auch  sie 
einer  Erlösung  bedürfen  und  auf  welche  Weise  sie  zu  der- 
selben gelangen  können.  Wir  stofsen  hier  sogleich  auf  das 
Grundgebrechen  der  christlichen  Dogmatik;  es  besteht  darin, 


286  X.   Kern  und  Schale  des  Christentums. 

dafs  sie  Gott  zum  Prinzip  der  Welterlösung  und  zugleich 
zum  Prinzip  der  Weltschöpfung  macht.  Liegt  diese  Welt 
im  Argen,  ist  der  Fürst  dieser  Welt  der  Teufel,  bedürfen  wir 
einer  Erlösung  aus  ihr,  so  kann  sie  nicht  die  Schöpfung  eines 
allweisen,  allmächtigen  und  allgütigen  Gottes  sein,  ist  sie  hin- 
gegen das  Werk  eines  solchen  Gottes,  so  kann  derselbe  für 
das  Böse  und  das  Übel,  dessen  die  Welt  voll  ist,  nicht  ver- 
antwortlich gemacht  werden,  wie  es  doch  nach  der  alt- 
testamentlichen,  vom  Christentum  beibehaltenen  Anschauung 
unvermeidlich  igt.  Die  Annahme,  dafs  Gott  den  Menschen 
geschaffen  und  ihm  dabei  die  Freiheit  des  Willens  ver- 
liehen habe,  genügt  nicht,  um  über  diese  Schwierigkeit  hin- 
wegzukommen, denn  warum  verlieh  Gott  den  Menschen  dieses 
gefährliche  Geschenk,  da  er  doch  vermöge  seiner  Allwissenheit 
voraussehen  konnte,  wie  die  Sache  ablaufen  würde,  und  ver- 
möge seiner  Allmacht  imstande  sein  mufste,  eine  andere  Ein- 
richtung zu  treffen;  aber  eine  Freiheit  des  Willens  ist  über- 
haupt weder  vereinbar  mit  Gottes  Allwissenheit,  welche  eine 
Vorausbestimmtheit  alles  Künftigen  involviert,  noch  auch  mit 
einer  Schöpfung  des  Menschen  durch  Gott,  denn  alles,  was 
geschaffen  ist,  mufs  auch  irgendwie  beschaffen  sein  und  gemäfs 
dieser  Beschaffenheit  nach  dem  Kausalitätsgesetz  mit  Not- 
wendigkeit handeln.  Frei  kann,  wie  schon  oben  gesagt  wurde, 
nur  ein  solches  Wesen  sein,  welches  sich  selbst  erschaffen, 
welches  die  Eigenschaften,  nach  denen  es  handelt  und  handeln 
mufs,  aus  sich  selbst  heraus  geboren  hat.  Unbekümmert  um 
diese  Schwierigkeiten  lehrt  das  System,  dafs  Gott  den  Men- 
schen frei  geschaffen,  und  dafs  der  erste  Mensch  in  seiner 
Unerfahrenheit  alsbald  die  ihm  verliehene  Freiheit  benutzt  hat, 
um  eine  Handlung  des  Ungehorsams  zu  begehen,  welche  nach 
menschlichen  Begriffen  ziemlich  harmlos,  als  ein  blofser  Akt 
des  Vorwitzes  erscheint,  aber  die  fürchterlichsten  Folgen  hat, 
sofern  durch  denselben  Adam  mit  allen  seinen  Nachkommen 
den  Leiden  des  Daseins,  dem  ihnen  nachfolgenden  Tode 
welcher  der  Sold  der  Sünde  ist,  und  nach  dem  Tode  der  ewigen 
Verdammnis  anheimfällt.  Um  ihn  aus  dieser  zu  retten,  sendet 
Gott  seinen  Sohn,  welcher  nach  vorbedachtem  Ratschlufs  als 
ein   sündloser   Mensch  (eine   contradictio   in  adjecto)   geboren 


2.  Die  Schale  des  Christentums.  287 

wird,  leidet  und  stirbt,  wodurch  er  für  die  Sünden  der  ganzen 
Menschheit  die  Genugtuung  geleistet  hat,  welche  Gottes  Ge- 
rechtigkeit erfordert.  Aber  wenn  es  ungerecht  ist,  dem  Sünder 
die  verdiente  Strafe  zu  erlassen,  so  wird,  nach  menschlichen 
Begritfen,  die  Ungerechtigkeit  nicht  ausgeglichen,  sondern 
verdoppelt,  wenn  die  verdiente  Strafe  von  dem  Schuldigen 
genommen  und  auf  einen  Unschuldigen  gelegt  wird.  Nach 
dieser  Theorie,  welche  den  Begriff  einer  materiellen  Kom- 
pensation in  einer  nicht  eben  glücklichen  Weise  auf  das  Gebiet 
des  Ethischen  überträgt,  sind  durch  den  Opfertod  des  Sohnes 
Gottes  die  Menschen  von  der  Gewalt  des  Teufels  erlöst,  doch 
besteht  dabei  die  Bedingung,  dafs  sie  die  ihnen  gebotene 
Gnade  im  Glauben  annehmen.  Nach  der  tiefern  Auffassung 
des  Apostels  Paulus  ist  dieser  Glaube  nicht  eine  blofs  äufser- 
liche  Annahme  der  Heilstatsachen,  sondern  eine  so  tiefe  Er- 
fassung derselben,  dafs  Kreuzigung  und  Auferstehung  des 
Heilands  für  uns  zu  einer  Kreuzigung  unseres  ganzen  natür- 
lichen Menschen  und  zu  einer  Auferstehung  in  einem  neuen 
heiligen  Lebenswandel  wird,  aber  diese  tiefere  Auffassung 
wird  in  der  christlichen  Kirche  und  auch  im  Neuen  Testa- 
ment keineswegs  immer  festgehalten;  vielmehr  ist  der  Glaube 
sehr  häufig,  wie  er  schon  Hebr.  11,1  definiert  wird,  nur  eine 
eA7T:t.^o[j.£vwv  uTCcaTaai?,  -n:pay;j,dT«v  'ikzjjpc,  ou  ßXsTCop-svov,  „eine 
gewisse  Zuversicht  des,  das  man  hoffet,  und  nicht  zweifelt  an 
dem,  das  man  nicht  siehet",  eine  Erklärung,  welche  am  Ende 
doch  auf  ein  Überzeugtsein  ohne  zureichende  Gründe  hinaus- 
läuft; wonach  also  dasjenige,  vor  dem  wir  im  Leben  wie  in 
der  Wissenschaft  mit  Recht  gewarnt  werden,  irgend  etwas 
als  wahr  anzunehmen,  von  dem  wir  uns  nicht  überzeugen 
können,  hier  als  Bedingung  der  ewigen  Seligkeit  gefordert 
wird.  Aber  auch  diese  Bedingung  kann  der  Mensch  nicht 
aus  eigener  Kraft  erfüllen,  sondern  es  ist  die  Gnade  Gottes, 
welche  willkürlich  den  einen  zum  Glauben  und  Heil,  den  andern 
zur  ewigen  Verdammnis  vorausbestimmt  hat.  Berechnet  man 
nun,  wie  viele  Menschen  und  ganze  Völker  der  Erde  in  der 
vorchristlichen  und  nachchristlichen  Zeit  die  Glaubensbotschaft 
nie  haben  vernehmen  können,  der  Bewohner  anderer  Welten 
gar  nicht  zu  gedenken,  wie  viele  ferner  schon  hier  auf  der 


288  X.   Kern  und  Schale  des  Christentums. 

Erde  durch  einen  gewissen  Grad  historischer  und  naturwissen- 
schaftHcher  Bildung  unfähig  geworden  sind,  den  Kirchen- 
glauben festzuhalten,  so  dürfte  wohl  nur  ein  kleiner  Prozent- 
satz aller  Menschen  der  Seligkeit  teilhaftig  werden,  während 
alle  übrigen  dem  ewigen  Verderben  verfallen. 

So  wunderlich  nimmt  sich  bei  vorurteilsfreier  Betrachtung 
die  äufsere  Schale  aus,  welche  die  ewigen  Heilswahrheiten 
unserer  Religion  umschliefst  und  nur  zu  oft  verdunkelt,  — 
und  doch  ist  es  besser,  den  Kern  mitsamt  der  Schale  fest- 
zuhalten, als,  wie  es  heutzutage  leider  nur  zu  oft  geschieht, 
mit  der  Schale  auch  den  Kern  wegzuwerfen  und  zu  verlieren. 


XI.   Der  christliche  Gedanke  und  die  antil<e  Welt. 

1.  Der  christliche  Gedanke. 

Der  Grundgedanke  des  Christentums  ist  so  paradox,  so 
unpopulär,  so  sehr  der  menschhchen  Natur  zuwider,  dafs  man 
sich  bilhg  wundern  mufs,  wie  ein  solcher  Gedanke  unter 
Menschen,  wie  wir  nun  einmal  sind,  Wurzel  schlagen  konnte. 
Bricht  doch  dieser  Gedanke  den  Stab  nicht  nur  über  diesem 
und  jenem  Tun  und  Lassen,  verlangt  er  doch  eine  völlige 
Umwandlung  unserer  ganzen  empirischen  Natur,  und  diese 
Umwandlung  kann  nicht  von  uns,  sondern  mufs  von  Gott 
gewirkt  werden,  und  uns  bleibt  nichts  übrig,  als  demütig 
„mit  Furcht  und  Zittern"  abzuwarten,  ob  es  der  göttlichen 
Gnade  belieben  mag,  sich  unser  zu  erbarmen.  Wie  sollte  der 
natürliche  Mensch,  dessen  Wesen  in  der  Entwicklung  des 
klassischen  Altertums  einen  so  klaren  und  schönen  Ausdruck 
gefunden  hatte,  sich  nicht  mit  dem  ganzen  Stolze,  den  ihm 
das  Bewufstsein  des  eigenen  Wertes  gab,  gegen  eine  solche 
Lehre  aufbäumen !  Zwar  waren  auch  dem  lebensfrohen  Volke 
der  Griechen  Anklänge  an  den  christlichen  Gedanken  nicht 
fremd  geblieben.  Schon  Anaximandros  scheint  das  ganze 
empirische  Dasein  für  eine  Schuld  (a§t.xia)  anzusehen,  welche 
durch  den  Tod  gesühnt  werden  mufs,  und  Piatons  Ethik 
erhebt  sich  bis  zu  den  Gedanken,  dafs  das  Erdenleben  in 
Wahrheit  ein  Tod,  dafs  Unrechtleiden  besser  sei  als  Unrecht- 
tun, und  dafs  die  höchste  Aufgabe  des  Daseins  darin  bestehe, 
demselben  zu  entfliehen;  Theaetet  p.  176 A:  „Es  ist  nicht 
möglich,  o  Theodoros,  dafs  das  Böse  zunichte  werde,  denn 
ein  Gegensatz   gegen  das  Gute  mufs  immer  sein,  noch  auch, 

Dkussen,  Gescliichte  der  riiilosophie.     II,ii,  2.  19 


290  XI.   Der  christliche  Gedanke  und  die  antike  Welt. 

dafs  es  seinen  Sitz  habe  bei  den  Göttern,  sondern  in  der 
sterblichen  Natur  und  um  die  Stätte  hienieden  treibt  es  sich 
um  mit  Notwendigkeit;  und  darum  soll  man  bestrebt  sein, 
von  hier  dorthin  zu  fliehen  so  schnell  wie  möglich;  das  aber 
ist  die  Flucht,  dafs  man  Gott  ähnlich  werde  so  sehr  man  es 
vermag,  die  Gottähnlichkeit  aber  besteht  darin,  dafs  man 
gerecht  und  heilig  und  weise  werde."  —  Aber  Gedanken  wie 
diese  lagen  dem  Geiste  des  klassischen  Altertums  zu  fern,  als 
dafs  sie  nicht  auf  den  Kreis  weniger  Auserwählter,  einen 
Philo  Judaeus,  einen  Plotinos  und  was  ihnen  nacheiferte,  hätten 
beschränkt  bleiben  müssen.  Schon  Aristoteles  steht  einer 
solchen  weltflüchtigen  Stimmung  völlig  ablehnend  gegenüber, 
und  die  im  spätem  Altertum  herrschenden  Systeme  der  Stoiker 
und  Epikureer  sind  nur  darauf  bedacht,  in  der  einen  oder 
andern  Weise  das  Dasein  auf  dieser  Erde  möglichst  wohnlich 
und  behaglich  einzurichten. 

Wenn  es  dem  Piatonismus  und  dem  bestechenden  Glänze 
seiner  Diktion  nicht  möglich  war,  derartigen  Gedanken  zur 
Herrschaft  im  Altertum  zu  verhelfen,  wie  konnte  dies  dem 
Christentum  und  seiner  stammelnden  Sprache  gelingen,  zumal 
dasselbe  nicht  auf  nationalem  Boden  entsprossen  war,  sondern 
aus  dem  barbarischen,  durch  seine  fortwährenden  Unruhen 
verrufenen  Palästina,  und  von  dem  kleinen,  im  Altertum 
wegen  seines  Aberglaubens  —  creclat  Judaeus  Apella!  Hör. 
Sat.  1,5,100  —  verachteten  Volke  der  Juden  herstammte?  Die 
Antwort  wird  lauten  müssen:  nur  die  Ermüdung  des  antiken 
Geistes  machte  es  möglich,  dafs  er  sich  dem  weltfeindlichen 
Christentum  in  die  Arme  warf,  und  nur  die  Unschuld  und 
kindliche  Unerfahrenheit  der  germanischen  Völker  machte  es 
möglich,  dafs  sie  die  Schätze  der  eigenen  Mythologie  ohne 
Bewufstsein  ihres  unersetzlichen  Wertes  aufopferten  und  sich 
den  christlichen  Gedanken  einimpfen  liefsen,  —  aber  nur  der 
ewigen  Wahrheit  dieses  so  paradoxen  Gedankens  ist  es  zu- 
zuschreiben, dafs  er  sich  in  dem  rastlos  fortschreitenden  Welt- 
leben bis  auf  die  Gegenwart  erhalten  hat  und,  wiewohl  in 
geläuterter  Form,  auch  in  aller  Zukunft  erhalten  wird. 


I 


2.   Die  antike  Welt.  291 

2.  Die  antike  Welt. 

Müde  allerdings  war  beim  Einbruch  des  Christentums  die 
griechisch-römische  Welt  geworden,  soweit  von  der  Ermüdung 
eines  ganzen  Zeitalters  die  Rede  sein  kann.  Denn  obgleich 
die  Göttin  Natur  jedes  Zeitalter  mit  einer  Anzahl  überlegener 
Geister  beschenkt,  so  bedürfen  dieselben  doch  eines  Resonanz- 
bodens, der  Teilnahme  der  Zeitgenossen,  und  sind  diese  durch 
Aufhäufung  von  geistigen  Schätzen  gesättigt,  übersättigt  und 
abgestumpft,  so  kann  sich  der  Genius  so  wenig  entfalten  wie 
die  Pflanze,  wenn  ihr  Boden  und  Nahrung,  Luft,  Licht  und 
"Wärme  mangeln.  In  dieser  Lage  aber  war  der  antike  Geist 
beim  Auftreten  des  Christentums. 

Längst  vorüber  waren  die  Zeiten,  wo  die  griechischen 
Kantone  in  fröhlichem  Aufblühen  und  frischen  Fehden  gegen 
einander  auch  zu  geistiger  Produktion  erstarkt  waren,  wo 
sodann  Athen  und  Sparta  in  dem  unseligen  Peloponnesischen 
Kriege  sich  gegenseitig  zerfleischt  hatten  und  als  Folge  davon 
dem  macedonischen  Eroberer  zur  Beute  wurden  (338  a.  C), 
dessen  Reich  seinem  grofsen  Sohne  nur  als  Sprungbrett  diente, 
um  hellenische  Kultur  bis  nach  Indien  hineinzutragen,  und 
wo  das  von  ihm  geschaff'ene  Weltreich  in  vier  sich  gegen- 
seitig bekämpfende  und  schwächende  Monarchien,  die  mace- 
donische,  pergamenische,  syrische  und  ägyptische,  auseinander- 
gebrochen war. 

Inzwischen  hatte  Rom  aus  kleinen  Anfängen,  getragen 
durch  die  handfeste  Tapferkeit  und  die  ehrbare  Tugend  seiner 
Bürger,  sich  zur  Herrin  von  ganz  Italien  gemacht,  und  den 
geübten  Waffen  seiner  Legionen  waren  nach  und  nach  Spanien 
(197),  Macedonien  (168),  Karthago  (146),  Pergamum  (133), 
Syrien  (65),  Gallien  (52),  Ägypten  (31)  erlegen. 

Aber  die  mit  der  Eroberung  so  vieler  Länder  betrauten 
Feldherren  erstrebten  und  erlangten  an  der  Spitze  ihrer  sieg- 
reichen Heere  eine  Selbständigkeit,  welche  zu  Zwietracht  und 
Bürgerkriegen  zwischen  Marius  und  Sulla,  zwischen  Pompejus 
und  Cäsar  führten,  bis  schliefslich  der  Feldherr  zum  Monarchen, 
der  Imperator  zum  Kaiser  wurde  und  nach  der  Schlacht  bei 
Aktium  (31  a.  C.)  Augustus   das  Erbe  seines  grofsen  Oheims 

19* 


292  XI.    Der  christlicbe  tJedaiike  und  die  antike  Welt. 

antrat  und  cimcta  discordiis  civüihus  fessa  )wminc  principis 
sub  imperntm  accrpit,  „das  ganze,  der  Bürgerkriege  müde  Reich 
als  Alleinherrscher  in  Besitz  nahm".  Aber  mit  dem  Verfall 
des  Vaterlandes  war  auch  die  Religion  der  Väter  im  weiten 
Römischen  Reiche  in  Verfall  geraten,  neben  der  Zwietracht 
der  Machthaber  ging  die  Zwietracht  der  verschiedenen  Philo- 
sophenschulen her,  bis  auch  hier  alles  der  unaufhörlichen 
Streitigkeiten  müde  geworden  und  der  geistige  Boden  für  die 
grofse  Revolution  vorbereitet  war,  welche  im  geistigen  Leben 
der  Zeit  durch  das  Christentum,  nicht  von  oben  nach  unten, 
sondern  von  unten  nach  oben  in  Gang  gebracht  wurde,  bis 
der  in  den  untern  Volksschichten  erstarkte  neue  Glaube  auch 
die  Spitzen  des  geistigen  und  des  politischen  Lebens  ergriff 
und  unter  seine  Herrschaft  beugte. 


3.  lufsere  Ausbreitung  des  Cliristentums. 

Paulus  war  es,  welcher  in  unermüdlichem  Missionseifer 
das  Christentum  in  Syrien  und  Kleinasien,  in  Macedonien  und 
Griechenland  verbreitet  und  schlief slich  sogar  in  Rom  ge- 
predigt liatte.  Hingegen  scheinen  die  übrigen  Apostel  ihre 
Tätigkeit  vorwiegend  auf  Palästina  und  Syrien  beschränkt  zu 
haben;  nur  unsichere  und  teilweise  mit  dem  Tatsächlichen  in 
Widerspruch  stehende  Sagen  wissen  davon  zu  berichten,  dafs 
auch  Petrus  nach  Rom  gekommen  sei,  dafs  Andreas  in  Skythien, 
Thomas  in  Parthien  und  Bartholomäus  in  Indien  das  Christen- 
tum verbreitet  habe.  Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  machte 
das  Christentum  im  griechisch-römischen  Weltreiche  erstaun- 
lich schnelle  Fortschritte.  So  berichtet  Plinius  Secundus, 
welcher  111 — 113  als  Prokonsul  die  Provinz  Bithynien  ver- 
waltete, in  einem  Briefe  an  den  Kaiser  Trajan  (Epist.  X,  96), 
dafs  durch  das  Anwachsen  des  Christentums  die  Göttertempel 
schon  fast  verödet  seien  fprope  jam  dcsolafa-  templaj  und  die 
Opfertiere  vergebens  zum  Kaufe  angeboten  würden,  dafs  er 
die  gegen  geheime  Verbindungen  (hdacriae)  bestehenden  Gesetze 
mit  Strenge  angewendet  und  die  als  Christen  ihm  Angegebenen 
verhört  habe,  aber  vihil  aliud  incon  quam  snpcrstitioncm  pra- 
vaiii  (t  iinniodicant.    In  seinem  Antwortschreiben  (Epist.  X,  97) 


3.   Aiilseie  Ausltroituiijr  des  Christentums.  293 

billigt  der  Kaiser  das  Verfahren  des  Piinius,  bestimmt  aber, 
dafs  man  die  Christen  nicht  aufspüren,  sondern  nur,  wenn 
sie  als  solche  angegeben  würden,  gerichtlich  verhören  und 
bestrafen  solle  f'conqiiirendi  nou  sunt;  si  dcfcrantnr  et  arfiuan- 
iur,  pumciidi  sunfj.  — 

Wie  im  Orient,  wo  bald  darauf  Edessa  ein  Hauptsitz  des 
Christentums  wurde,  verbreitete  sich  auch  im  Abendlande, 
namentlich  von  Karthago,  Lugdunum  und  Vienna  aus,  das 
Christentum  durch  Einzelne  bis  nach  dem  linksrheinischen 
(jermanien  und  nach  Britannien  hin,  so  dafs  wir  um  das 
Jahr  150  in  allen  Teilen  des  Kömischen  Reiches  und  über 
seine  Grenze  hinaus  christliche  Gemeinden  finden,  ungeachtet 
der  Verfolgungen,  denen  die  Christen  von  Seiten  des  Volkes 
wie  der  Regierung  ausgesetzt  waren. 

Während  die  Juden  schon  durch  die  Edikte  des  C.  Julius 
Cäsar  in  ihren  Privilegien  geschützt  und  als  eine  religio  licita 
anerkannt  waren,  auch  wegen  der  Einschränkung  ihrer  Religion 
auf  ein  durch  Rasse  und  Lebensgewohnheiten  scharf  unter- 
schiedenes Volk  weniger  gefährlich  erschienen,  so  fiel  das 
Christentum  unter  den  Begriff  der  verbotenen  Hetärien,  galt 
nach  wie  vor  als  eine  religio  iUicita,  und  seine  Anhänger 
waren  genötigt,  ihre  Zusammenkünfte  selbst  in  Katakomben 
und  andern  geheimen  Orten  abzuhalten,  wodurch  sie  zu  den 
absurdesten  Verleumdungen,  sie  schlachteten  kleine  Kinder, 
tränken  Menschenblut,  verehrten  als  Gott  einen  Eselskopf  usw., 
Anlafs  boten  und  sich  beim  Volke  gründlich  verhafst  machten. 
Aber  auch  unter  den  gebildeten  Römern  war  das  Urteil  über 
die  Christen  kaum  weniger  ungünstig,  wie  daraus  zu  ersehen, 
dafs  Tacitus  (Annal.  XV,  44)  sie  als  per  flagitia  invisos  be- 
zeichnet und  behauptet,  sie  seien  odio  Immani  gcneris  covvicH, 
während  Sueton  (Vita  Neronis  cap.  XVI)  von  ihnen  redet  als 
einem  genus  liomiinim  superstitiofns  vovae  ac  maleficae.  Indem 
dieser  Hafs  die  Christen  zur  geheimen  Ausübung  ihres  Kultus 
nötigte,  und  diese  Geheimhaltung  in  unheilvoller  Wechsel- 
wirkung neuen  Hafs  erzeugte,  kam  die  gesteigerte  Volkswut 
hier  und  da  zunächst  in  lokalen  Verfolgungen  der  Christen 
zum  Ausbruch.  Bald  aber  sah  sich  auch  die  Staatsregierimg 
veranlafst,    gegen   die    Christen   einzuschreiten,    da    dieselben 


294  XI.    Der  christliche  Gedanke  und  die  antike  ^^'clt. 

weder  die  Götter  der  Staatsreligion  anerkannten,  noch  auch 
dem  Kaiser  die  übHche  Verehrung  als  einem  Wesen  höherer 
Art  zollten,  von  religiösen  Festen  und  öflfentlichen  Lustbar- 
keiten fernblieben,  auch  wohl  gelegentlich  sich  weigerten, 
Amter  zu  verwalten  und  Kriegsdienste  zu  leisten,  und  durch 
alles  dieses  als  religionslose  Atheisten  und  staatsgefährliche 
Neuerer  in  Verruf  waren.  Daher  erklärt  sich  die  auffallende 
Erscheinung,  dafs  es  in  der  Regel  gerade  die  bessern  Kaiser 
waren,  welche  die  neue  Sekte  verfolgten  und  zu  unterdrücken 
suchten.  Die  neronische  Verfolgung  nach  dem  Brande  Roms 
im  Jahre  64  p.  C.  scheint  bis  zum  Tode  des  Nero  fortgedauert, 
aber  doch  auf  Rom  und  seine  Umgebung  sieh  beschränkt  zu 
haben.  Vespasian  (69 — 79)  und  Titus  (79—81)  bedrückten  die 
Christen  nicht,  nur  dafs  sie  ebenso  wie  die  Juden  die  jähr- 
liche Tempelsteuer  bezahlen  mufsten;  unter  Domitian  (81 — 9G) 
wurden  mehrfach  Christen  als  Atheisten  hingerichtet.  Nerva 
(96 — 98)  liefs  sie  in  Ruhe;  Trajan  (98—117)  empfahl,  wie  oben 
gezeigt,  dem  Plinius,  die  Christen  nur,  wenn  Klage  gegen  sie 
erhoben  würde,  vor  Gericht  zu  ziehen  und  aljzuurteilen;  Hadrian 
(117  —  138)  verachtete,  wie  alle  ausländischen  Kulte,  auch  das 
Christentum,  trat  aber  doch  dem  Verlangen  des  Volkes,  bei 
öffentlichen  Festen  einige  Christen  hingerichtet  zu  sehen,  ent- 
gegen. Unter  Antoninus  Pius  (138 — 161)  und  seinem  Nach- 
folger Mark  Aurel  (161 — 180)  waren  es  namentlich  öffentliche 
Kalamitäten,  wie  Erdbeben,  Brand  und  Pest,  welche  als  eine 
Strafe  der  Götter  wegen  des  ihnen  feindlichen  Christentums 
angesehen  wurden  und  dadurch  die  Volkswut  gegen  die  Christen 
erregten,  welcher  der  milde  gesinnte  Antoninus  nach  Möglich- 
keit entgegentrat,  während  Mark  Aurel  zu  sehr  von  dem  höhern 
Werte  seines  Stoicismus  überzeugt  war,  um  nicht  sogar  Folte- 
rung der  Christen  zum  Zwecke  des  Widerrufs  und  Konfiskation 
ihres  Vermögens  zugunsten  ihrer  Angeber  zu  dulden.  Milder 
behandelte  sie,  durch  weiblichen  Einflufs  bestimmt,  sein  laster- 
hafter Sohn  Commodus  (180 — 192).  Septimius  Severus  .(193 — 
211),  anfangs  gegen  die  Christen  milde  gestimmt,  verbot  durch 
ein  202  erlassenes  Edikt  den  Übertritt  zum  Judentum  und 
Christentum  und  gab  dadurch  der  Verfolgungswut  neue  Nah- 
rung.   Auch  unter  seinem  Sohne  Caracalla  (211—217)  dauerten 


I 


3.   Äufsere  Ausbreitung  des  Cliristeutums.  295 

die  Verfolgungen  wenigstens  in  einzelnen  Provinzen  fort,  wälirend 
dessen  angeblicher  Sohn  Elagabalus  (218—222)  und  sein  ihm 
folgender  Vetter  Alexander  Severus  (222 — 235)  dem  Christentum 
Duldung  gewährten.  Feindlicher  gegen  dasselbe  stellte  sich 
der  Usurpator  Maxirainüs  Thrax  (235 — 238),  welcher  durch 
sein  Edikt  gegen  den  Klerus  dem  Christentum  den  Boden  zu 
entziehen  suchte,  während  Gordianus  (238 — 244)  und  Philippus 
Arabs  (244—249)  das  Christentum  sogar  offen  begünstigten. 
Unter  dem  letztern  wurde  248  das  tausendjährige  Bestehen 
des  Römischen  Reiches  gefeiert;  die  ruhmreichen  Erinnerungen 
an  die  Vergangenheit  und  mit  ihnen  das  Interesse  für  die 
Staatsgötter  wurden  neu  belebt,  und  um  ihren  Kultus  als  un- 
entbehrliche Stütze  der  staatlichen  Ordnung  wiederherzustellen, 
beschlofs  der  tapfere,  an  Stelle  des  Philippus  von  dem  Heere 
zum  Kaiser  erwählte  Feldherr  Decius  (249—^251),  das  Christen- 
tum durch  eine  systematische,  auf  alle  Teile  des  Reiches  sich 
erstreckende  Verfolgung  gänzlich  auszurotten.  Die  Magistrate 
der  Städte  wurden  angewiesen,  die  Bischöfe  zu  töten,  alle 
übrigen  aber,  deren  grofse  Zahl  für  den  Bestand  des  Reiches 
schon  nicht  mehr  zu  entbehren  war,  durch  alle  möglichen 
Mittel,  durch  Folter,  Gefängnis  und  Hunger  zum  Abschwören 
des  Christentums  zu  zwingen.  Viele  liefsen  sich  bewegen  zu 
opfern  füinrißcati ,  sacrißcatij  und  erhielten  dafür  eine  Be- 
scheinigung {lihellusj  ausgestellt  flibellaticij,  andere  wufsten 
diese  Bescheinigung  zu  erkaufen;  die  das  Christentum  auch 
unter  Martern  Bekennenden  hiefsen  confessores,  die,  welche 
bis  zum  Tode  standhaft  blieben,  wurden  martyns  genannt. 
Viele  liefsen  sich  durch  diese,  auch  während  der  folgenden 
Regierungen  des  Gallus  und  Valerianus  zehn  Jahre  lang  fort- 
gesetzten Verfolgungen  bewegen,  zu  dem  alten  Götterglauben 
zurückzukehren,  viele  erlitten  den  .Märtyrertod,  aber  noch 
gröfser  war  die  Zahl  derer,  welche  durch  Standhaftigkeit  der 
Gefolterten  und  Getöteten  für  den  Christenglauben  gewonnen 
wurden;  das  Blut  der  Märtyrer  wurde  der  Same  der  Kirche. 
Erst  unter  Galhenus  (2G0-268)  und  Claudius  H.  (268—270) 
wurden  die  Verfolgungen  eingestellt,  auch  unter  Aurelian 
(270 — 275)  wegen  dessen  frühzeitig  erfolgten  Todes  nicht  wieder 
aufgenommen,    und    ebenso    ruhten    sie    unter    seinen    durch 


296  XI.    Der  christliche  Gedanke  und  die  antike  Welt. 

Bekämpfung  auswärtiger  Feinde  in  xVnspruch  genommenen,  in 
rascher  Folge  wechselnden  Nachfolgern,  Tacitus,  Probus  und 
Carus,  so  dafs  die  Kirche  einen  vierzigjährigen  Frieden  genofs 
und  in  dieser  Zeit  nicht  gehindert  wurde,  sich  mächtig  aus- 
zubreiten. Diokletian  (284—305),  von  dem  Heere  zum  Augustus 
erwählt,  ernannte  zum  zweiten  Augustus  seinen  Waffen- 
gefährten Maximian  und  zu  Cäsaren,  d.  h.  Thronfolgern,  seine 
beiden  Schwiegersöhne,  den  Constantius,  welcher  seine  frühere 
Gemahlin,  die  Christin  Helena  verstofsen  mufste,  und  den 
Galerius,  und  verteilte  die  Verwaltung  des  weiten  Reiches  in 
der  Art,  dafs  Constantius  in  Gallien,  Maximian  in  Italien, 
Galerius  in  den  Balkanländern  und  er  selbst  in  Kleinasien 
residierte.  Anfangs  gegen  die  Christen  eine  schon  zur  Tradi- 
tion gewordene  Toleranz  übend,  liefs  er  sich  gegen  Ende  seiner 
Regierung  durch  Galerius  zu  vier  immer  mehr  verschärften 
Edikten  gegen  die  Christen  bestimmen,  auf  Grund  deren  acht 
Jahre  lang,  303 — 311,  eine  schwere  Christenverfolgung  in 
allen  Teilen  des  Reiches  ausbrach,  welche  nur  im  Gebiete  des 
Constantius  (Gallien  und  Britannien)  gemildert  wurde  und, 
als  nach  dessen  Tode  Constantinus,  sein  Sohn  von  der  Helena, 
ihm  .306  als  Cäsar  folgte,  in  seinem  Gebiete  ganz  aufhörte, 
während  sie  im  Osten  des  Reiches  unter  Galerius  und  zwei 
von  ihm  ernannten  Cäsaren  nur  um  so  stärker  fortwütete,  bis 
Galerius,  die  Vergeblichkeit  seiner  Bemühungen  erkennend, 
311  in  Gemeinschaft  mit  Constantin  ein  Toleranzedikt  erliefs, 
welches  den  Christen  in  allen  Teilen  des  Reiches  freie  Religions- 
übung zusicherte.  Im  Grunde  war  es  auch  hier  die  Tyrannei 
des  Begrifies  (Phil.  d.  Griechen,  S.  162),  welche  Verfolger  wie 
Verfolgte  wie  ein  Dämon  beseelt  und  so  viel  Verwirrung  und 
Unglück  veranlafst  hatte;  denn  nur  ein  abstrakter  Begritf  war 
es,  welcher  die  Verfolger  alle  Gebote  der  Menschlichkeit  ver- 
gessen liefs,  und  welcher  den  Verfolgten  die  Standhaftigkeit 
verlieh,  um  seinetwillen  sich  selbst  und  ihre  Familien  in  namen- 
loses Unglück  zu  stürzen.  Inzwischen  hatten  Diokletian  und 
Maximian  bereits  305  die  Regierung  niedergelegt,  und  an  ihre 
Stelle  waren  im  Osten  Galerius,  im  Westen  Constantius  und 
nach  seinem  Tode  306  Constantin  getreten,  während  in  Rom  die 
Prätorianer  den  Maxentius,  Sohn  des  Maximianus,  zum  Kaiser 


3.   Äufsore  Ansliieitiing  des  Cliristcntums.  297 

erhoben  hatten.  Dieser  war  ursprünglich  dem  Christentum 
geneigt,  his  ihn  die  Eifersucht  auf  Constantin  veranlafste,  sich 
der  heidnischen  Partei  zuzuwenden.  Es  kam  zwischen  den 
beiden  zum  Krieg,  Constantin  ging  über  die  Alpen  und  be- 
siegte den  Maxentius  zu  Turin  und  bei  den  Saoca  rubra  un- 
weit  lioms  (Itoc  siguo  vincaslj:  Maxentius  floh  und  ertrank  im 
Tiber  312.  Im  Osten  trat  nach  dem  Tode  des  Galerius  311 
Licinius  an  seine  Stelle;  auch  dieser  war  zuerst  dem  Christen- 
tum nicht  abgeneigt  und  erliefs  gemeinsam  mit  Constantin 
ein  Toleranzedikt;  aber  auch  ihn  veranlafste  die  Eifersucht, 
sich  auf  Seite  der  heidnischen  Partei  zu  stellen;  beide  Herrscher 
gerieten  in  Streit,  und  der  Kampf  zwischen  Licinius  und  Con- 
stantin wurde  zum  Entscheidungskampf  zwischen  Heidentum 
und  Christentum.  Nach  Besiegung  des  Licinius  (hingerichtet 
325)  bheb  Constantin  Alleinherrscher  (324 — 337);  er  gewährte 
dem  Christentum  volle  staatliche  Anerkennung  und  viele  Ver- 
günstigungen, zeigte  sich  aber  auch  dem  Heidentum  gegen- 
über duldsam.  Die  Taufe  empfing  er  erst  kurz  vor  seinem 
Tode.  Die  Verwaltung  des  Reiches  ging  an  seine  drei  zu 
Augusti  ernannten  Söhne,  Constantin  II.  im  Westen,  Constans 
in  Italien,  Constantius  im  Osten,  über,  deren  Bedrückung  des 
Heidentums  und  Bevorzugung  des  Christentums  sie  nicht  ab- 
hielt, bald  mit  einander  in  Streit  zu  geraten.  Constantin 
wurde  bei  einem  Feldzuge  gegen  Constans  340  erschlagen, 
sein  Bruder  Constans  fiel  zehn  Jahre  später  einer  Verschwörung 
zum  Opfer;  Constantius,  zum  Alleinherrscher  geworden,  liefs 
nicht  nur  die  heidnischen  Tempel  schliefsen  und  die  Opfer  ver- 
bieten, sondern  verfolgte  als  Gegner  des  Parteiwesens  auch  den 
Athanasius  und  seine  Anhänger.  Er  ernannte  zum  Cäsar  seinen 
Vetter  Julianus,  welcher  durch  siegreiche  Kämpfe  im  Elsafs, 
am  Rhein  und  in  den  Niederlanden  die  Eifersucht  des  Kaisers 
erregte  und,  als  dieser  ihm  seine  besten  Truppen  entziehen 
wollte,  von  dem  für  ihn  begeisterten  Heere  zu  Paris  zum 
Kaiser  ausgerufen  wurde.  Constantius  starb,  ehe  es  zum  Zu- 
sammenstofs  kam,  und  Julianus  (361—363),  der  in  den  Idealen 
der  antiken  Welt  lebte  und  ein  begeisterter  Anhänger  der 
neuplatonischen  Philosophie  war,  suchte,  ohne  die  Christen 
direkt  zu  bedrücken,   durch  Entziehung  ihrer  Privilegien  und 


298  XL    Der  christliche  Gedanke  und  die  antike  Welt. 

Erneuerung  des  alten  Gotterkultus  das  absterbende  Heidentum 
neu  zu  beleben,  bis  er,  zwei  Jahre  nach  seinem  Regierungs- 
antritt, in  Persien  seiner  ungestümen  Tapferkeit  zum  Opfer 
fiel.  Mit  seinem  Tode  war  der  Untergang  des  antiken  Heiden- 
tums und  der  Sieg  des  Christentums  entschieden,  wie  es  der 
dem  sterbenden  Kaiser  in  den  Mund  gelegte  Ausruf  besagt: 
o,ao?  v£V''xr|xac,  o  ToLkikalsl  „0,  Galiläer,  nun  hast  du  doch 
gesiegt!" 

In  den  folgenden  Jahren  regieren  im  Westen  Valentinianus 
und  sein  Sohn  Gratianus,  im  Osten  Valens  und  nach  seinem 
Tode  (378),  von  Gratianus  zum  Mitregenten  ernannt,  Theo- 
dosius,  welcher,  nachdem  Gratianus  im  Kampfe  gefallen  war 
und  nach  Beseitigung  einiger  Nebenkaiser,  zum  letzten  Male 
(383 — 395)  das  ganze  Römische  Reich  unter  seinem  Szepter 
vereinigte.  Er  liefs  390  eine  wegen  seiner  Greueltat  in  Thessa- 
lonich vom  Bischof  Ambrosius  in  Mailand  über  ihn  verhängte 
achtmonatige  Kirchenbufse  willig  über  sich  ergehen  und 
machte  392  durch  ein  allgemeines  Verbot  dex  heidnischen  Opfer 
dem  Heidentum  in  den  Städten  ein  Ende,  während  es  sich  bei 
den  Dorfbewohnern  {payanij  noch  länger  erhielt  und  erst  all- 
mählich erlosch. 

Dem  endgültigen  Siege  des  Christentums  folgte  bald 
darauf  (476)  der  Zusammenbruch  des  weströmischen  Staates. 
Es  wäre  zu  viel  gesagt,  wollte  man  ihn  in  erster  Linie  dem 
Christentum  schuld  geben.  Vielmehr  waren  es  die  aus  dem 
Kinderschlaf  erwachten  und  ihrer  Kraft  sich  bewui'st  ge- 
wordenen nordischen  Barbaren,  vor  allen  die  Germanen,  welche 
nicht  mehr  zu  bändigen  waren,  unaufhaltsam  gegen  das  Rö- 
mische Reich  anstürmten  und  dessen  Auflösung  herbeiführten. 
Aber  in  dem  Mafse,  wie  ihre  Angriffskraft  wuchs,  war  die 
W^iderstandsfähigkeit  des  römischen  Bürgers  geschwunden, 
seitdem  der  alte  Götterkultus  verdrängt  w^ar  durch  den  Christen- 
glauben, welcher  schon  darum  den  Ruin  des  Staates  gelassen 
und  gleichgültig  anzusehen  lehrte,  weil  er  in  kürzester  Zeit 
die  Wiederkunft  des  Herrn  und  mit  ihr  das  Ende  aller  irdischen 
Herrlichkeit  erwartete. 


Die  Patristik. 

XII.  Die  erste  Periode  der  Patristik: 

Vom  apostolischen  Zeitalter  bis  zum  Konzil  zu  Nicaea 

(100—325  p.  C). 

1.  Vorbemerkungen. 

Neben  den  äufsern  Verfolgungen,  welchen  das  Christen- 
tum während  der  ersten  drei  Jahrhunderte  seines  Bestehens 
teils  durch  den  Unverstand  der  Menge,  teils  durch  den  Ver- 
stand und  das  staatskluge  Verhalten  der  Regiereaden  aus- 
gesetzt war,  hatte  die  junge  Kirche  in  demselben  Zeitraum 
manche  innere  Krisen  zu  überwinden,  welche  einerseits  durch 
ihr  Hervorwachsen  aus  dem  Schol'se  des  Judentums,  anderer- 
seits durch  gewisse  keimartig  in  ihr  liegende  und  zur  Fort- 
entwicldung  drängende  Prinzipien  über  sie  heraufbeschworen 
wurden. 

In  erster  Hinsicht  hatte  die  Kirche  schon  im  apostolischen 
Zeitalter  und  so  auch  in  der  ihm  folgenden  Periode  viel  zu 
leiden  durch  den  Gegensatz  zwischen  den  Judenchristen, 
welche  die  Beibehaltung  der  Beschneidung,  des  mosaischen 
Gesetzes  und  der  jüdischen  Werkheiligkeit  für  Bedingungen 
der  Seligkeit  erklärten  und  geneigt  waren,  Jesum  als  einen 
blofsen  Menschen,  als  den  letzten  und  höchsten  der  Propheten 
anzusehen,  und  den  Heidenchristen,  welchen  nach  pau- 
linischem  und  johanneischem  Vorgange  Jesus  eine  Inkarnation 
der  Gottheit,    der   fleischgewordene  Logos  war   und  welchen 


300  XII.   I)ie*eiste  Periode  der  Patristik. 

die  durch  das  Evangelium  erlangte  Freiheit  vom  Gesetze 
nicht  selten  als  Deckmantel  weltlicher  und  sinnlicher  Gelüste 
dienen  mufste. 

Aber  noch  schwerer  krankte  die  Kirche  daran,  dafs  die 
in  ihr  liegenden  intellektuellen  und  moralischen  Tendenzen 
auf  eine  extreme  Ausbildung  hindrängten,  woraus  einerseits 
der  Gnostizismus,  andererseits  der  Montanismus  und 
schliefslich  der  beide  Tendenzen  in  sich  vereinigende  Mani- 
chäismus  hervorging. 

Indem  die  Kirche  derartige  Bestrebungen  entweder  als 
Häresien  aus  sich  ausschied  oder  dieselben,  so  gut  es  gehen 
wollte  und  zum  Schaden  der  logischen  Konsequenz,  zu  sich 
zurückbog,  gelangte  sie  endlich  dazu,  eine  katholische,  alle 
Christen  in  sich  befassende  Gemeinschaft  zu  werden,  bis  im 
weitern  Verlaufe  (1054  p.  C.)  diese  katholische.  Kirche  in  eine 
römisch-katholische  und  eine  griechisch-katholische 
und  damit  in  zwei  contradidiones  in  adjedo  auseinanderbrach. 

Wir  wollen  versuclien,  die  Hauptmomente  dieses  Entwick- 
lungsganges in  der  Kürze  zu  charakterisieren. 

2.  Die  apostolischen  Väter. 

An  der  Schwelle  der  Patristik,  der  Geschichte  der  patres 
ecdesiae  oder  Kirchenväter,  begegnen  uns  die  apostolischen 
Väter,  welche  so  heifsen,  weil  sie  mit  Recht  oder  Unrecht 
dafür  gelten,  noch  unmittelbare  Schüler  der  zwölf  Apostel 
gewesen  zu  sein.  Von  sieben  unter  ihnen  haben  sich  eine 
Anzahl  Schriften,  meist  in  Briefform,  erhalten,  in  Nachbildung 
der  paulinischen  Briefe,  an  deren  Tiefe,  Aktualität  und  inneres 
Leben  jedoch  die  Schriften  dieser  apostolischen  Väter  nicht 
entfernt  heranreichen.  Eine  Erklärung  dieser  Dekadenz  daraus, 
dafs  der  biblische  Kanon  inspiriert,  die  an  ihn  sich  schliefsende 
Kirchenliteratur  aber  nicht  mehr  inspiriert  sei,  würde  auf  der 
jedenfalls  irrigen  Voraussetzung  beruhen,  dafs  der  Heilige  Geist 
nur  über  den  Anfängen  der  Kirche,  nicht  aber  mehr  über 
deren  weitern  Schicksalen  gewacht  habe,  und  beruht  dazu 
auf  einer  nicht  mehr  haltbaren  Vorstellung  von  der  Inspira- 
tion, einem  Begriff,  welcher  durchaus  nicht  zu  verwerfen  ist. 


2.   Die  apostolischen  Väter.  301 

aber  gar  sehr  der  Umformung  bedarf.  Allerdings  steht  der 
empirischen  Erkenntnis,  welche  nur  die  Zusammenhänge  der 
Dinge  in  Raum,  Zeit  und  Kausalität  klarzulegen  vermag,  eine 
andere  Art  der  Erkenntnis  gegenüber,  die  metaphysische, 
welche  sich  über  alle  diese  Zusammenhänge  erhebt,  in  dem 
ansichseienden,  uns  allen  innewohnenden  Wesen  der  Dinge, 
also  in  dem,  was  die  Religion  in  ihrer  Sprache  Gott  nennt, 
wurzelt,  und  das,  was  sich  ihr  hier  offenbart,  nach  drei  Rich- 
tungen hin,  als  philosophische,  künstlerische  und  religiöse 
Inspiration,  gleichsam  durch  höhere  Eingebung  empfängt  und 
zum  Ausdruck  bringt.  Als  Beispiele  dieser  Inspiration  können 
aus  der  alten  Welt  in  philosophischer  Hinsicht  Parmenides, 
Piaton  und  Aristoteles,  in  künstlerischer  Aischylos,  Sophokles 
und  Euripides  und  in  religiöser  Jesus,  Paulus  und  das  vierte 
Evangelium  dienen.  Der  auffallende  Umstand,  dafs  nach  diesen 
grofsen  Erscheinungen  lange  Jahrhunderte  hindurch  nichts 
hervortritt,  was  ihnen  auch  nur  entfernt  an  die  Seite  gestellt 
werden  könnte,  erklärt  sich  aus  einem  allgemeinen  Natur- 
gesetze, welches  man  das  Gesetz  der  Epigonie  nennen 
könnte.  Eine  fruchtbare,  in  der  Entwicklung  der  Menschheit 
neu  auftretende  Idee  pflegt  bei  ihrem  ersten  Aufkommen  die 
besten  Geister  des  Zeitalters  zu  ergreifen,  sie  von  Grund  aus 
zu  erschüttern  und  zu  den  höchsten,  ihrer  Kraft  erreichbaren 
Leistungen  anzuspornen;  sind  aber  diese  Leistungen  voll- 
bracht, ist  gleichsam  die  neu  entdeckte  Mine  ausgeschöpft, 
so  tritt  naturgemäfs  eine  Zeit  der  Ermattung  ein,  welcher  es 
nicht  an  geistigen  Kräften,  wohl  aber  an  der  x\nregung  zu 
ihrer  höchsten  Anspannung  mangelt. 

Wie  überall,  so  bewährt  sich  dieses  Gesetz  auch  auf 
religiösem  Gebiete,  wenn  wir  mit  den  Schriften  des  Neuen 
Testaments  die  der  apostolischen  Väter  vergleichen,  welche 
es  für  unsern  Zweck  genügen  wird  hier  in  der  Kürze  anzu- 
führen. Die  für  sie  am  meisten  charakteristischen  Züge  sind 
eine  weitgehende  allegorische  Erklärung  des  x\lten  Testaments, 
ungezügelte  chiliastische  Hoffnungen  und  eine  vorzugsweise 
praktische,  moralisierende  Tendenz.  Viele  Erzeugnisse  dieser 
Literaturgattung  mögen  verloren  gegangen  sein,  anderes  ist 
von  zweifelhafter  Echtheit.     Die  Hauptschriften  sind; 


302  XII.   Die  erste  Periode  der  Patristik. 

1.  der  Brief  des  Clemens  an  die  Korinther, 

2.  die  Briefe  des  Ignatius  von  Antiocliien, 

3.  der  Brief  des  Polykarp  von  Smyrna, 

4.  der  Brief  des  Barnabas, 

5.  der  Hirt  des  Hermas, 

G.  der  zweite  (unechte)  Brief  des  Clemens,. 

7.  die  hihoLffq  Toü  xuptcu  Sia  töv  SwSey.a  (xttcctcaov. 

1.  Der  erste  Brief  des  Clemens  Tiomanus,  dessen 
Verfasser  von  einigen  als  erster,  von  andern  als  dritter  Nacli- 
folger  des  Petrus  auf  dem  römischen  Bischofsstuhl  bezeichnet 
wird,  nimmt  eine  Spaltung  in  der  korinthischen  Gemeinde 
zur  Zeit  des  Domitian  zum  Anlafs,  um  den  Korinthern  neben 
dem  Glauben  und  der  Liebe  besonders  die  Eintracht  und  die 
willige  Unterordnung  unter  die  von  den  Aposteln  eingesetzten 
Aufseher  (Itc^xottoi)  und  Diener  (Siaxovo',)  zu  empfehlen.  Der 
Anspruch  einer  hohem  Autorität  des  römischen  Bischofs  über 
die  der  übrigen  Gemeinden  tritt  in  dem  Schreiben,  dessen 
Abfassung  von  den  meisten  in  die  Jahre  93 — 95  p.  C.  gesetzt 
wird,  schon  deutlich  hervor. 

2.  Die  sieben  Briefe  des  Ignatius  von  Antiocliien. 
Ignatius,  noch  ein  Schüler  des  Apostels  Johannes,  Bischof 
von  Antiocliien,  starb  als  Märtyrer  um  115  p.  C,  sei  es  in 
Antiocliien,  sei  es  in  Kom,  wohin  er  auf  Befehl  des  Trajan 
gefangen  abgeführt  und  von  Leoparden  zerrissen  worden  sein 
soll.  Auf  der  Reise  nach  Rom  soll  er  die  sieben  Briefe  ver- 
fafst  haben,  von  denen  fünf  an  kleinasiatische  Gemeinden,  die 
beiden  übrigen  an  die  Römer  und  an  Polykarp  gerichtet  sind. 
Er  warnt  in  diesen  Briefen  vor  Irrlehren  gnostischer  Art  und 
empfiehlt  als  sichersten  Schutz  gegen  dieselben  die  willige 
Unterordnung  der  Gemeindeglieder  unter  die  Autorität  der 
Bischöfe  und  Altesten. 

3.  Der  Brief  des  Polykarp  an  die  Philipper.  Poly- 
karp, Bischof  von  Smyrna,  angeblich  noch  vom  Apostel 
Johannes  in  sein  Amt  eingesetzt,  erlitt  als  Greis  von  8G  Jahren 
auf  dem  Scheiterhaufen  zu  Smyrna  den  Märtyrertod,  entweder 
unter  Mark  Aurel  oder  schon  155  p.  C.  Sein  mutmafslich  noch 
unter  Trajan  verfafster  Brief  an  die  Philipper  crmahnt  ähnlich 
wie  die  Briefe  des  Ignatius  zum  Gehorsam,  warnt  vor  Irrlehren, 


2.   Die  apostolischen  Vätor.  303 

ergeht  sicli  in  moralischen  Betrachtungen  und  stellt  die  nahe 
Wiederkunft  Christi  in  Aussicht. 

4.  Der  Brief  des  Barn.abas,  nicht  von  dem  Mitarbeiter 
des  Paulus,  aber  in  dessen  Sinn  und  unter  seinem  Namen  von 
einem  Heidenchristen,  nach  Ilarnack  wahrscheinlich  erst  um 
das  Jahr  130  p.  C.  verfafst,  erklärt  das  Zeremonialgesetz  des 
Alten  Testaments  für  unverbindlich,  stellt  ihm  das  neue  Ge- 
setz Jesu  Christi  gegenüber  und  gefällt  sich  in  allegorischen 
Umdeutungen  des  Alten  Testaments,  welche  er  als  die  yvöci«; 
bezeichnet  und  der  blofsen  xlaxic  als  eine  höhere  Stufe  gegen- 
überstellt. 

5.  Der  Hirt  des  Hermas.  Der  Verfasser  dieser  Schrift 
kann  nicht  der  Rom.  1G,14  erwähnte  Hermas,  sondern  eher 
der  gleichnamige  Bruder  des  römischen  Bischofs  Pius  (um 
150  p.  C.)  gewesen  sein,  würde  mithin  in  dessen  Zeit  gehören. 
Den  Namen  Pastor  (7i:ct!J.T,v)  führt  das  lateinisch  und  griechisch 
vorhandene  Buch  davon,  dafs  darin  ein  Engel  in  Hirtengestalt 
dem  Hermas  erscheint.  Die  in  der  alten  Kirche  hohes,  nicht 
selten  kanonisches  Ansehen  geniefsende  Schrift  enthält  fünf 
Gesichte  [visioncs,  6pdc7£t,c),  zwölf  Gebote  (mandata,  ivxoXat) 
und  zehn  Gleichnisse  [simüitiidines,  -jüapaßoXai),  in  welchen  die 
nahe  Wiederkunft  Christi  in  Aussicht  gestellt  und,  zur  Vor- 
bereitung auf  dieselbe,  Bufse  gefordert  wird. 

6.  Der  sogenannte  zweite  Brief  des  Clemens  Roma- 
nus kann,  obwohl  unecht,  dieser  Reihe  eingeordnet  werden, 
weil  er  die  älteste  uns  erhaltene  Homilie  (Gemeindepredigt) 
enthält,  in  welcher  schon  deutliche  Beziehungen  auf'gnostische  . 
Irrlehren  sich  erkennen  lassen.  Die  Abfassungszeit  ist  un- 
gewifs,  nach  Harnack  würde  sie  zwischen  130  und  170  p.  C. 
liegen. 

7.  Die  Lehre  der  zwölf  Apostel  {hihy:/j^  x'jp-'ou  hÄ 
Töv  SoSsxa  dcTCocTCAwv  -zolc,  e'^veaiv)  enthält  in  den  ersten  zehn 
Kapiteln  eine  gottesdienstliche  Ordnung  mit  Vorschriften  über" 
Taufe,  Gebet,  Fasten  und  Abendmahl,  sodann  in  den  folgenden 
sieben  Kapiteln  eine  Gemeindeordnung,  welche  von  den  Gnaden- 
gaben sowie  von  den  Rechten  und  Pflichten  der  Bischöfe  und 
Diakonen  handelt  und  mit  Ermahnungen  im  Hinblick  auf  die 
nahe    Wiederkunft    des    Herrn    schliefst.      Verfafst    ist    diese 


304  Xll.   Die  erste  Periode  der  Patristik. 

Schrift  nach  Harnack  zwischen  131  und  IGO  p.  C.  und  wird 
schon  von  Clemens  Alexandrinus  zu  den  heiligen  Schriften 
gerechnet. 

3.  Die  Apologeten. 

Jede  in  der  Welt  neu  aufkommende  Eichtung  bedarf,  um 
sich  durchzusetzen,  einer  Apologetik,  welche  sie  vor  Mifs- 
verständnissen  und  Mifsdeutungen  zu  schützen  und  ihre  Be- 
rechtigung nachzuweisen  unternimmt,  wobei  eine  polemische 
Auseinandersetzung  mit  den  bis  dahin  herrschenden  Gedanken- 
strömungen unvermeidlich  ist.  Dies  gilt  im  besondern  Mafse 
vom  Christentum,  welches  als  eine  religio  ilUcita  den  Tag  zu 
scheuen  hatte  und  gerade  dadurch  allen  möglichen  Verdächti- 
gungen und  Anfeindungen  reiche  Nahrung  bot,  nicht  nur  beim 
Volke,  sondern  auch  bei  den  eine  Gefährdung  der  Staats- 
ordnung befürchtenden  Regierenden,  und  nicht  am  wenigsten 
bei  den  zu  Hütern  der  geistigen  Güter  des  Zeitalters  berufenen 
Vertretern  der  Wissenschaft.  An  alle  diese  Kreise  wendet  sich 
die  namentlich  im  zweiten  christlichen  Jahrhundert  blühende, 
aber  auch  in  den  folgenden  Zeiten  tätige  christliche  Apolo- 
getik; sie  tritt  den  verleumderischen  Nachreden  entgegen, 
welche  unter  dem  Volke  über  die  Heimlichkeiten  des  christ- 
lichen Kultus  umliefen,  und  setzt  ihnen  ein  noch  für  uns  wert- 
volles Bild  der  christlichen  Gottesverehrung  und  Sitte  ent- 
gegen; sie  w^endet  sich  an  die  Kaiser  und  Machthaber,  um 
die  Ungefährlichkeit  des  Christentums  für  den  Bestand  der 
-öffentlichen  Ordnung  zu  erweisen;  vor  allem  aber  ist  die 
Apologetik  bestrebt,  der  hellenischen  wie  der  jüdischen  Wissen- 
schaft gegenüber  die  christliche  Offenbarung  als  die  wahre, 
allen  andern  überlegene  Philosophie  hinzustellen,  wobei  die 
Gedanken  der  griechischen  Philosophen,  soweit  sie  der  christ- 
lichen Anschauung  widerstreben,  bekämpft,  soweit  sie  mit  ihr 
'übereinstimmen,  herübergenommen  werden,  mit  der  aber- 
witzigen, aber  damals  nicht  zum  ersten  Male  (Phil.  d.  Griechen, 
S.  465  Anm.  und  468  fg.)  auftretenden  Behauptung,  dafs  Heraklit 
und  Sokrates,  Piaton  und  Aristoteles  ihre  Weisheit  aus  Mose 
und  den  Propheten  geschöpft  hätten.  Als  Typus  und  be- 
deutendster  Vertreter    dieser   Apologetik    kann    Justin    der 


3.  Die  Apologeten.  305 

Märtyrer  gelten,  welchem  bereits  Quadratus  (KdSpaxoc)  mit 
einer  dem  Kaiser  Hadrian  überreichten,  aber  verlorenen,  und 
Marcianus  Aristides  mit  einer  an  Antoninus  Pius  gerichteten 
und  vollständig  nur  noch  in  syrischer  Übersetzung  vorhandenen 
Apologie  vorausgegangen  waren,  in  welcher  der  höhere  Wert 
des  Christentums  gegenüber  den  Religionen  der  Barbaren, 
Hellenen  und  Juden  behauptet  und  eine  warme  Schilderung 
des  Lebens  der  Christen  entworfen  wird.  Der  ursprüngliche 
griechische  Text  dieser  Apologie  des  Aristides  ist  teilweise 
erhalten  als  Einlage  in  dem  von  einem  Johannes  (vielleicht 
dem  Damascener,  f  vor  754  p.  C.)  verfafsten,  vielgelesenen  und 
vielfach  übersetzten  Roman  Barlaam  und  Josaphat,  welcher 
schildert,  wie  Josaphat,  ein  indischer  Königssohn,  durch 
die  Erscheinungen  eines  Greises,  eines  Kranken  und  eines 
Leichnams  die  Nichtigkeit  alles  Irdischen  inne  wird,  in  die 
Einsamkeit  flieht,  von  dem  Eremiten  Barlaam  zum  Christen- 
tum bekehrt  wird  und  allen  sinnlichen  Verlockungen  zum  Trotze 
bis  an  sein  Ende  ein  frommes,  entsagungsvolles  Leben  führt. 
Es  ist,  wie  man  längst  erkannt  hat,  kein  anderer  als  Buddha 
selbst,  dessen  Geschichte  hier  erzählt  wird,  und  welcher  unter 
dem  Namen  Josaphat  versehentlich  unter  die  Heiligen  der 
katholischen  Kirche  geraten  ist. 

Justin  der  Märtyrer,  geboren  bald  nach  100  p.  C.  zu 
Flavia  Neapolis,  dem  alten  Sichem,  von  heidnischen  Eltern, 
und  philosophisch  von  Piaton  und  den  Stoikern  gebildet,  trat 
um  13ö  zum  Christentum  über,  blieb  aber  auch  weiterhin  „der 
Christ  im  Philosophenmantel  (Tpcßwvj",  nur  dafs  er  das  Christen- 
tum für  die  wahre  Philosophie  erklärte  und  als  Wanderprediger 
verkündigte.  Von  Ephesus,  wo  sein  Gespräch  mit  dem  Juden 
Tryphon  stattgefunden  haben  soll,  begab  6r  sich  nach  Rom, 
gründete  dort  eine  Schule  und  erlitt  unter  Mark  Aurel  zwischen 
1G3  und  IGT  p.  C.  den  Märtyrertod  durch  Enthauptung.  Von 
den  ihm  zugeschriebenen  Schriften  sind  als  echt  zu  betrachten: 
1.  Die  nach  der  unechten  Überschrift  mehreren  Kaisem  ge- 
widmete Apologie,  jetzt  in  zwei  Teile  zerlegt,  in  welcher  er 
dem  Vorwurf  der  Gottlosigkeit  entgegentritt  und  eine  Schil- 
derung von  dem  liebevollen  und  entsagenden  Leben  der  Christen 
entwirft,    ferner    die    vermeintliche    Staatsgefährlichkeit    des 

Deussen,  Geschichte  der  PhiloBophie.     II, ii, 2.  20 


306  XII.    Die  erste  Periode  der  Patristik. 

Christentums  zu  widerlegen  und  die  Überlegenheit  des  Christen- 
tums als  der  wahren  Philosophie  über  die  Religion  und  Philo- 
sophie der  Heiden  nachzuweisen  unternimmt.  2.  In  seinem 
Dialog  mit  dem  Juden  Tryphon  (rrpoi;  Tpi)9«va  '^o'JSa^cv 
?>'Ä\oyo;)  erklärt  er  das  mosaische  Gesetz  für  überwunden  durch 
das  neue  Gesetz  Christi,  bezieht  die  Weissagungen  des  Alten 
Testaments  auf  Christum  und  sieht  in  der  Christengemeinde 
das  wahre,  Gott  wohlgefällige  Israel.  Christus  ist  ihm  der 
Acyoc,  welcher  aber  samenartig,  als  Acyo?  aizzgixrx.Tiy.cc,  (wie 
Justin  mit  völliger  Umdeutung  dieses  stoischen  Begriffs  be- 
hauptet), schon  vor  Christo  bei  den  hebräischen  Propheten 
und  bei  griechischen  Philosophen  wie  dem  (platonischen) 
Sokrates  und  Heraklit  vorhanden  war.  Piaton,  so  meint  er, 
habe  das  Alte  Testament  gekannt,  aber  vielfach  mifsverstanden; 
doch  ist  auch  ihm  Gott  nur  wie  bei  Piaton  der  die  Materie 
formende  5-irj[j.f,c'jpycc;,  die  Unsterblichkeit  ist  der  Seele  nicht 
wesentlich  eigen,  sondern  wird  ihr  als  eine  Gnade  von  Gott 
verliehen;  zur  Erlösung  gelangt  der  Mensch  kraft  der  ihm 
eigenen  Freiheit;  das  tausendjährige  Reich  und  die  ihm  folgende 
Auferstehung  der  Toten  sowie  ewige  Höllenstrafen  für  die 
Bösen  stehen  als  Weltende  nahe  bevor. 

Von  spätem  Apologeten  mögen  genannt  werden  der  Syrer 
Tatian,  ein  Schüler  Justins,  der  in  Rom  zum  Christentum 
übertrat  und  später  im  Orient  sich  der  Sekte  der  Enkratiten 
angeschlossen  haben  soll,  wegen  seiner  etwa  165  p.  C.  ver- 
fafsten  Apologie  izgoc  "E/vAYjva?  mit  ihren  rohen  und  ungerechten 
Angriffen  gegen  Piaton  und  Aristoteles;  —  ferner  Athena- 
goras,  der  in  seiner  w^ahrscheinlich  177  verfafsten  rpecßsia 
Tcspl  Xp'.CTiavöv  die  Christen  gegen  die  Vorwürfe  des  Atheismus 
und  der  Unsittlichkeit  verteidigt;  —  Theophilus,  Bischof 
von  Antiochien,  der  in  seiner  Schrift  Trpoc  AütcX'jxov  Lehre-  und 
Leben  der  Christen  der  heidnischen  Götterverehrung  gegen- 
überstellt; —  und  der  von  unbekannter  Hand  verfafste  Brief 
an  Diognet  (zpoc;  Alc^vtiTov),  welcher  den  christlichen  Kultus 
behandelt;  —  sowie  des  liermias  oberflächliche  Verspottung 
der  heidnischen  Philosophen  (Siacjp.ao? töv  e'^w  9',Aoa69ov), 
wahrscheinlich  schon  der  Zeit  nach  Constantin  angehörig.  Zu 
den  Apologeten  sind  endlich  auch  Irenaeus  und  Tertullian 


3.   Die  Apologeten.  307 

zu   rechnen,  von   denen  weiter  unten  in   anderm  Zusammen- 
hange die  Rede  sein  wird. 

Wie  in  den  Apologeten  seine  Verteidiger,  so  fand  das 
Christentum  auch  hterarisch  gegen  dasselbe  ankämpfende 
Gegner,  unter  denen  neben  dem  Redner  Fronto,  dem  Lehrer 
des  Mark  Aurel,  und  Lucian  im  Peregrinus  Proteus  besonders 
der  um  178  verfafste  Xcyoc  aAVj^Tqc  des  Platonikers  Celsus 
Erwähnung  verdient,  dessen  scharfsinnige  und  gelehrte  An- 
griffe gegen  das  Christentum  uns  in  ^  der  Gegenschrift  des 
Origenes  xa-:a  KeXco'j  erhalten  sind. 

i.  Die  Gnosis  und  der  Manichäismns. 

Gefährlicher  noch  als  die  vom  Staate  und  von  der  Be- 
völkerung ausgehenden  Verfolgungen,  gefährlicher  auch  als 
die  Anfeindungen  von  Seiten  der  weltlichen  Wissenschaft 
wurden  dem  Christentum  gewisse  keimartig  in  ihm  liegende 
Tendenzen,  welche  zur  Fortentwicklung  drängten  und  den  Be- 
stand der  jungen  Kirche  bedrohten.  Die  ernsteste  dieser  dem 
Christentum  aus  seinen  eigenen  Prinzipien  erwachsenen  Ge- 
fahren war  die  in  den  ersten  Jahrhunderten  weitverbreitete 
und  vielgestaltige  Erscheinung,  welche  man  unter  dem  Worte 
vvöaic,  „die  Erkenntnis",  zu  befassen  pflegt. 

Schon  Jesus  soll  nach  Matth.  13,11  zu  seinen  Jüngern  im 
Gegensatz  zum  Volke  gesagt  haben:  „Euch  ist  gegeben,  dafs 
ihr  das  Geheimnis  des  Himmelreichs  vernehmet  (yvövat.  toc 
fjLucT-rjpta  ~fj?  ^oLaChdoiC.  xöv  oüpavüv)",  und  der  Apostel  Paulus 
erklärt:  „Der  Geist  erforschet  alle  Dinge,  auch  die  Tiefen  der 
Gottheit"  (1.  Kor.  2,10).  Die  christliche  Lehre  erhob  den  An- 
spruch, in  diese  Tiefen  der  Gottheit  eingedrungen  zu  sein  und 
den  Menschen  die  höchsten  Wahrheiten  zu  offenbaren.  Die 
Wahrheit  aber  läfst  sich  nicht  eindämmen,  sie  greift  immer 
weiter  um  sich,  zieht  nach  allen  Seiten  ihre  Konsequenzen 
und  zerstört  alles,  was  ihr  selbst  oder  diesen  Konsequenzen 
widerspricht.  Das  Christentum  aber  trug  infolge  seines  Hervor- 
gehens aus  dem  Judentum  einen  verderblichen  Keim  in  sich; 
er  bestand  in  dem  innern  Widerspruch,  dafs  derselbe  Gott, 
welcher  durch   seinen  Sohn  die  Erlösung  der  Welt  bewirkte, 

20* 


308  XII.    Die  erste  Periode  der  Patristik. 

als  Gott- Schöpfer  eben  diese  der  Erlösung  bedürftige  Welt 
hervorgebracht  haben  sollte.  Ist  die  Welt  ein  Werk  Gottes, 
so  kann  es  keiner  Erlösung  aus  ihr  bedürfen,  bedarf  es  aber 
aus  ihr  einer  Erlösung,  so  kann'  sie  nicht  das  Werk  eines 
allweiscn,  allgütigen  und  allmächtigen  Gottes  sein.  Dieses 
erkannt  zu  haben,  ist  das  hohe  und  bleibende  Verdienst  der 
christlichen  Gnosis.  Daher  verfolgt  sie  die  allen  ihren  Arten 
und  Schattierungen  gemeinsame  Tendenz,  das  Prinzip  der 
Welterlösung  von  den;  Prinzip  der  Weltschöpfung,  den  Gott- 
Erlöser  von  dem  Gott- Schöpfer  zu  unterscheiden  und  dem 
letztern  eine  niedrigere  Stellung  in  der  Hierarchie  des  christ- 
lichen Pantheons  anzuweisen.  Dieser  unzweifelhaft  richtige 
und  fruchtbare  Grundgedanke  der  Gnosis  erscheint  aber  in 
allen  ihren  Formen,  dem  Geschmack  des  Zeitalters  entsprechend, 
wie  er  sich  auch  im  Neupythagoreismus  und  spätem  Neu- 
platonismus  kundgibt,  in  einer  mythologisch  so  wunderlich 
verbrämten  und  verzerrten  Gestalt,  dafs  man  kaum  glauben 
kann,  es  sei  den  aufgeklärtem  Vertretern  der  Gnosis  'damit 
völlig  ernst  gewesen,  vielmehr  vermuten  möchte,  dafs  sie  diese 
phantastische  Form  nur  wählten,  um  dem  Geschmack  der 
Zeiten  Rechnung  zu  tragen,  während  sie  in  Wahrheit  dadurch 
ihren  wertvollen  Grundgedanken  einer  dauernden  Wirkung 
unfähig  und  für  die  Kirche  unannehmbar  gemacht  haben. 

Es  würde  zu  weit  führen,  wollten  wir  alle  Formen  hier 
verzeichnen,  welche  die  christliche  Gnosis  im  Orient  und 
Occident  angenommen  hat;  es  mufs  uns  genügen,  als  seine 
Haupt  Vertreter  Basilides,  Valentinus  und  Bardesanes  kurz  zu 
besprechen  imd  an  sie  die  ihnen  auf  das  nächste  verwandte 
Erscheinung  des  Manichäismus  anzuschliefsen. 

Basilides,  angeblich  aus  Syrien  stammend,  trug  seit 
125  p.  C.  in  Alexandria  sein  System  vor,  dessen  Grund- 
anschauung in  dem  platonischen  Gegensatze  von  Seele  und 
Leib  wurzelt;  die  Seele  stammt  aus  dem  Geisterreich,  der  Leib 
gehört  dem  Reiche  der  Materie  ab.  An  der  Spitze  des  Geiöter- 
reiches  steht  der  unsagbare,  namenlose  Gott,  welcher  als  Erst- 
geborenen den  voij?,  aus  diesem  den  ac^o;  und  aus  diesem 
fünf  weitere  Prinzipien  hervorgehen  läfst;  diese  sieben  Prin- 
zipien bilden  den   obersten  Himmel,   aus  welchem  in   stufen- 


4.  Die  Gnosis  und  der  Manichäismus.  309 

weiser  Emanation  364  weitere  Himmel  hervorgehen;  alle  die 
so  entstandenen  365  Himmel  sind  mit  Engeln  und  göttlichen 
Kräften  bevölkert,  Ihre  Gesamtheit  bildet  das  XAi^pojia,  und 
ihr  oberster  'Beherrscher  wird  durch  das  Geheimwort  Abraxas 
bezeichnet,  dessen  Buchstaben  (dßpa^dc;:)  nach  ihrem  Zahlen- 
werte  1  +  2  +  100+ 1  +  60-}- 1  +  200  auf  die  365  Himmel  hin- 
deuten. Der  Beherrscher  des  untersten  Himmels  ist  der  Juden- 
gott, welcher  aus  der  Materie  und  den  in  sie  verirrten  himm- 
lischen Lichtelementen  die  Erdenwelt  und  den  Menschen 
gebildet  hat  und  eine  Herrschaft  anstrebt,  welcher  sich  die 
Himmelsmächte  widersetzen.  Um  die  himmlischen  Seelen  aus 
der  Materie  zu  befreien,  sendet  der  oberste  Gott  seinen  erst- 
geborenen Sohn,  den  vour,  welcher  als  Christus  auf  die  Erde 
herabgestiegen,  aber  nicht  gekreuzigt  worden  ist,  da  an  seiner 
Stelle  Simon  von  Kyrene  ans  Kreuz  geschlagen  wurde.  Wer 
an  den  Gekreuzigten  glaubt,  wird  noch  nicht  von  der  Seelen- 
wanderung befreit;  nur  der  Glaube  an  den  voO?  verleiht  das 
wahre  Wissen  und  bewirkt  die  volle  Erlösung  und  Rückkehr 
der  Seele  in  die  Himmelswelt. 

Von  Valentinus,  welcher  die  bedeutendste  Richtung  der 
Gnosis  begründete,  ist  nur  wenig  bekannt.  Er  stammte  wahr- 
scheinlich aus  Ägypten,  lehrte  zuerst  in  Alexandrien,  dann 
136  —  165  p,  C.  in  Rom  und  soll  in  Cypern  gestorben  sein.  Er 
verfafste  ein  Werk  -igl  twv  Tp'.üv  9-jc;£wv  und  andere  Schriften 
praktischen  Inhalts,  von  denen  nur  spärliche  Fragmente  sich 
erhalten  haben.  Als  Quelle  seiner  Erkenntnis  bezeichnet  er 
den  Aijoc,  welcher  ihm  als  neugeborenes  Kind  in  einer  Vision 
erschienen  sei.  Seine  Lehre  verfliefst  für  uns  mit  der  der 
Valentinianer,  welche  sich  in  viele  Richtungen  spalteten, 
und  von  .deren  vielfach  widerspruchsvollen  Lehren  sich  aus 
den  Berichten  des  Hippolyt,  Clemens. Alexandrinus  unti  anderer 
nur  ein  unsicheres  Bild  gewinnen  läl'st,  dessen  Grundzüge  die 
Lehren  von  den  Äonen,  von  den  Verirrungen  der  ao^^la.  und 
von  Schöpfung  und  Erlösung  des  Menschen  bilden.  —  An  der 
Spitze  des  Systems  steht  ein  höchster,  völlig  transscendenter 
und  unerkennbarer  Gott,  welcher  mit  vielen  Namen  als  der 
vollkommene  Äon  (tsXs'.o;  aiov),  die  unentständene  Einheit 
([j.ovac  dyivvrjTor),  der  vorseiende  Mensch  (5  rcpowv  avj^ptozor),  der 


310  XII.    Die  erste  Periode  der  Patristik. 

Abgrund  (ßu'jcc)  usw.  bezeichnet  wird.  Viele  stellen  ihm  einen 
weiblichen  Aon  zur  Seite,  das  Schweigen  (aiyrj,  mitunter 
auch  Einsicht  (svvota)  oder  Liebe  [äyaTZfi)  genannt.  Beide  er- 
zeugen als  weitere  Äonen  den  voü?  und  die  (XAr^zwx,  mit  welchen 
zusammen  sie  die  Vierheit  der  obersten  Gottheiten,  die  schon 
von  den  Pythagoreern  als  die  Wurzel  des  Weltalls  gefeierte 
Vierheit  (xeTpaxTijc)  bilden.  Aus  voü?  und  dXrj'ireta  entspringen 
Xoyo?  und  'Cwiq,  aus  diesen  av'rrpuTToc,  der  Urmensch,  und 
iy.yJ.r^al(x.,  die  Urkirche.  Diese  acht  bilden  die  o^hodc  der 
obersten  göttlichen  Potenzen.  Eine  weitere  hsvAc  von  zehn 
Äonen  wird  von  löjoc  und  cwi],  eine  hohtxfxc  von  zwölf  Äonen 
von  av'^p6)TC0i;  und  iy/lr^aia.  erzeugt.  Diese  dreifsig  Äcnen,  als 
männliches  und  weibliches  Prinzip  zu  fünfzehn  cu^uyia',  ver- 
bunden, bilden  das  TTATjpwixa,  die  Fülle  der  Gottheiten  (vgl. 
Evang.  Joh.  1,16).  —  In  romanhafter  Weise  werden  die  Schick- 
sale der  aoc^loi,  der  jüngsten  unter  diesen  dreifsig  Äonen,  ge- 
schildert. In  Verkennung  ihrer  untergeordneten  Stellung 
möchte  sie  sich  in  Liebe  zum  Urvater  erheben,  und  mufs 
vom  opoc,  dem  Grenzhüter  der  Äonenwelt,  über  dessen  Un- 
nahbarkeit belehrt  werden.  Der  Äonenwelt  verlustig  ge- 
gangen und  von  ihrem  männlichen  Äon  getrennt,  gebiert 
sie  ohne  Gatten  eine  gestaltlose  W^esenheit,  a[j.op9o?  oücia. 
Flehend  wendet  sich  die  co9[a  an  den  Urvater,  auf  dessen  Ge- 
heifs  sie  geläutert  und  durch  den  opo?  wieder  in  das  xAT,po[j.a 
eingeführt  wird,  W^eiter  lassen,  um  auch  ihrem  Kinde  zu 
helfen,  voO::  und  akf^e.i'x  aus  sich  Christus  und  den  Heiligen 
Geist  emanieren;  Christus  gibt  dem  gestaltlosen  Kinde  der 
co9ia  Form  und  Wesenheit  und  kehrt  darauf  mit  dem  Heiligen 
Geist  in  das  7r);T,pw[j.a  zurück,  wo  beide  die  Äonen  über  ihre 
Stellung  zum  Vater  belehren.  Aufserhalb  des  TLAi^pwij.a  ver- 
bleibt die  Tochter  der  ao9ia,  die  Achamoth  (dx,a[ji.o j" ,  von 
r:7;::n,  W^eisheit,  Plural  Chochamoth,  gewöhnlich  Chochmoth, 
schon  Proverb.  9,1  personifiziert  und  als  Singular,  gebraucht). 
Aus  Dankbarkeit  für  die  ihnen  von  Christus  und  dem  Heiligen 
Geist  gewordene  Beseligung  schaffen  die  Äonen  als  gemein- 
same Frucht  des  -KWjpwij.a  ein  herrliches  Gebilde,  Jesus  den  ' 
Heiland,  welcher  die  Achamoth  erlöst,  indem  er  sie  von  den 
ihr  anhaftenden  willensartigen  Elementen  96ßcc  (Furcht),  a'jtc-/] 


4.   Die  Gnosis  und  der  Manichäismus.  311 

(Trauer),  d-cp''a  (Not)  und  hir^cc  (Flelicnj  befreit.  Aus  diesen 
gellt  die  physische  Welt  hervor,  aus  dem  9cßoc  der  Demiurg, 
aus  der  Xutit,  die  Materie,  aus  der  arropia  die  Dämonen  und 
aus  der  hir^ciz  die  liul'se.  Aus  den  drei  letztern  Elementen 
bildet  der  Demiurg,  der  Gott  des  Alten  Testaments,  welcher 
sich  für  den  höchsten  Gott  hält,  die  Welt  und  die  Menschen. 
Zugleich  aber  werden  von  dem  zweiten  Jesus  und  der  cco'.o. 
geistige  Kräfte  in  die  Welt  ausgestrahlt,  welche  in  die  mensch- 
liche Seele,  soweit  dieselbe  nicht  von  Dämonen  in  Besitz 
senommen  ist,  ein2;ehen.  —  Als  die  Zeit  erfüllet  war,  wurde 
als  gemeinsames  Erzeugnis  des  Demiurg,  der  Achamoth  und 
des  Heiligen  Geistes  der  dritte  Jesus  als  Sohn  der  Maria 
geboren.  Wie  der  erste  Christus  die  acc^ioc,  der  zweite  die 
Achamoth,  so  erlöst  der  dritte  Christus  die  Menschen,  welche 
in  drei  Klassen,  Hyliker,  Psychiker  und  Pneumatiker,  zer- 
fallen. Die  Hyliker  sind  vorwiegend  in  der  Heidenwelt  ver- 
treten, sie  haben  die  Verbindung  mit  Gott  verloren,  sind  ganz 
in  die  Materie  verstrickt  und  fallen,  wie  es  scheint,  mit  dieser 
der  Vernichtung  anheim.  Die  Psychiker,  vorwiegend  durch 
die  Juden  vertreten,  werden  durch  Glauben  und  gute  Werke 
einer  geringen  Erlösung  teilhaft,  die  Pneumatiker  bedürfen 
keiner  Erlösung,  sie'  besitzen  die  Gnosis  und  gehen  vermöge 
derselben  in  das  TrXiqpoij.a  ein. 

Aus  der  Schule  des  Valentinus  stammt  das  nur  in  kop- 
tischer Übersetzung  erhaltene  Üuch  lliazic,  ^09''a,  „Glaube 
und  Weisheit",  welches  in  der  Form  von  Gesprächen  zwischen 
dem  auferstandenen  Christus  und  seinen  Jüngern,  namentlich 
der  Maria  Magdalena,  die  Leiden  der  aus  dem  Pleroma  herab- 
gestürzten Sophia  und  ihre  Erlösung  als  Vorbild  der  leidenden 
und  zur  Erlösung  gelangenden  Menschheit  schildert.  {WiaTi^ 
2L09'!a,  opus  gnosticum  Valentino  adjudicatum,  e  codice  Coptico 
Londiniensi  descripsit  et  latine  vertit  Schwartze,  ed.  Peter- 
mann, Berlin  1851.) 

Einfacher  als  die  Gnosis  des  Valentinus  und  mehr  der 
kirchlichen  Lehre  sich  annähernd  ist  die  des  Syrers  Barde- 
sänes,  „Sohn  des  Daizan"  (d.  h.  geboren  am  Daizan,  einem 
Flusse  bei  Edessa),  geboren  153  p.  C,  welcher  die  Sünde  aus 
der  dem  Menschen  von  Gott  verliehenen  Freiheit  des  Willens 


312  XII-    l>ie  erste  Periode  der  Patristik. 

erklärte  und  durch  seine  Hymnen,  von  denen  sich  einige 
Bruchstücke  erhalten  haben,  viel  zur  Verbreitung  der  gnosti- 
schen  Lehren  beitrug. 

Eine  umfassende  Verschmelzung  christlich -gnostischer 
Elemente  mit  Lehren  des  Parsismus  und  teilweise  des  Bud- 
dhismus unternahm  der  Perser  Mani  (lateinisch:  Manes  oder 
Manichaeus).  Sein  Vater  Fatak  war  aus  vornehmem  Geschlecht, 
seine  Mutter  stammte  von  den  Arsacidenkönigen  ab.  Er  selbst, 
geboren  216  und  von  seinem  Vater  zu  Ktesiphon  in  der  baby- 
lonisch-christlichen Sekte  der  Moghtasilah  erzogen,  trat  242 
unter  Sapores  I.  als  Lehrer  einer  neuen  Religion  auf,  indem 
er  sich  für  den  von  Christus  verheifsenen  Pcirakleten  ausgab. 
Er  wurde  verfolgt,  brachte  längere  Zeit  im  Auslande,  nament- 
lich auch  in  Indien  zu,  kehrte  272  nach  Persien  zurück,  genofs 
zeitweilig  den  Schutz  der"  Regierung,  wurde  aber  infolge  der 
Anfeindungen  durch  die  Magier  276  unter  Baranes  L  gekreuzigt 
und  seine  Haut  wurde  öffentlich  ausgestellt.  Er  hinterliefs 
zahlreiche  Schiiften  in  syrischer  und  persischer  Sprache,  in 
einem  eigenen  Alphabet,  aufser  Briefen  (darunter  die  von 
Augustin  bekämpfte  epistula  fundamenti)  und  Traktaten 
namentlich  sieben  Bücher:  l.  das  Buch  der  Geheimnisse,  2.  das 
Buch  der  Giganten,  3.  das  Buch  der  Vorschriften,  4.  das  Buch 
Schahpurakaii  (wohl  an  den  König  Sapores  gerichtet),  5.  das 
Buch  der  Lebendigmachung,  6.  die  Tcpa-yjjiaTsia,'  7.  eine  Art 
Evangelium.  — 

Da  diese  Schriften  bis  auf  Mitteilungen  in  spätem  Schrift- 
stellern und  einige  neuerdings  in  Zentralasien  aufgefundene 
Bruchstücke  verloren  sind*,  so  bilden  unsere  Hauptquelle  für 


*  Als  Probe   mag  ein  Gebet   an  Mani   nnd  Jesus   dienen  (bei  Müller, 
Handschriftenreste  in  Estrangelo-Scbrift  aus  Tarfan,  II.  Teil,  Berlin  1904:, 

S.  6G): 

„Mani,  Götter-Sohn,  Herr, 

Beieber  des  Glaubens,  grofser,  dir, 

Erwählter,  bringe  ich  Verehrung  dar. 

Strahlenden  Antlitzes  —  mögest  du  werden. 

Mani,  Herr,  Lebengebender. 

Er  belebt  die  Toten  und  erleuchtet  die  Finsteren. 

Führe  mich,  Mani, 

Herr;  und  «Jungfrau  des  Lichtes» 

Antworte  mir'  durch  Glanz  .... 


4.   Die  Gnosis  und  der  Manicbäismus.  313 

die  Kenntnis  des  Manicbäismus  die  Acta  Archelai  des  Hege- 
inonius  (verfafst  zwischen  300  und  350),  welche  über  eine 
iingierte  Disputation  zwischen  Mani  und  dem  christlichen 
Bischof  Archelaus  von  Carchar  in  Mesopotamien  Bericht  er- 
statten. Hiernach  lehrte  Mani  im  Anscblui's  an  die  iranischen 
Anschauungen  (Phil.  d.  Bibel,  S.  134—143),  dafs  von  Ewigkeit 
her  zwei  Reiche  bestehen,  die  terra  lucida,  ein  Reich  des  Lichts, 
beherrscht  von  dem  Vater  des  Lichts  und  seinen  zwölf  Äonen, 
und  die  terra  pcstifera^  das  Reich  der  Finsternis,  dessen  Be- 
herrscher der  mit  dem  Judengott  identifizierte  Satan  und 
seine  Dämonen  sind.  Um  sie  zu  bekämpfen,  erzeugt  der  Vater 
des  Lichts  mit  der  Mutter  des  Lebens  den  Urmenschen  (den 
~pü-:or  av'^^puTro?,  entsprechend  dem  iranischen  Gayo  Meretan) 
und  sendet  ihn  gegen  die  Dämonen.  Er  unterliegt,  wird  zwar 
selbst  durch  das  ihm  zu  Hilfe  gesandte  ^«v  7T:v£0;j.a  befreit 
und  als  Jesus  impatililis  in  die  Sonne  versetzt,  aber  Elemente 
seines  Lichts  werden  ihm  von  den  Dämonen  geraubt  und  als 
Jesus  patibiUs  (die  Weltseele)  von  der  {jXt]  verschlungen.  Aus 
diesen  Lichtelementen  und  der  Materie  bildet  auf  Befehl  des 
höchsten  Gottes  das  l^qv  TCv£Ü|j.a  die  aus  verschiedenen  Himmeln 
und  Erden  bestehende  Welt.  Die  ersten  Menschen,  Adam 
und  Eva,  letztere  als  Verkörperung  der  Sinnenlust,  werden 
nicht  wie  im  Iranischen  durch  Ahuramazda  geschaffen  und 
alsdann  von  den  Dämonen  verführt  (Phil.  d.  Bibel,  S.  140  fg.), 
sondern  sind  von  vornherein  eine  Schöpfung  der  Dämonen 
aus  der  Materie  und  den  in  ihr  enthaltenen  Lichtelementen. 
Von  ihnen  stammen  die  Menschen  ab,  welche  dann  noch  weiter 
von  den  Dämonen  durch  falsche  Religionen  wie  die  des  Mose 
und  der  Propheten  irregeführt  werden.  Um  sie  zu  retten, 
steigt  der  Jesus  impatihilis  aus  der  Sonne  in  einem  Schein- 
leibe zur  Erde  herab,  führt  dort  ein  Scheinleben  und  erteilt 
den   Menschen    die  Belehrungen,    auf  Grund    deren    sie    ihre 


0  leuchtender  Mani 

Herr  wachsenden  Ruhmes,  Lebengebender  I 

Schütze  mich  in  der  Leiblichkeit!  Jesus  (Yishö), 

0  Herr,  erlöse  meine  Seele 

Aus  diesem  Geboren-Tot(sein) ! 

Prächtig  ist  dein  strahlender  Thron...." 


314  XII.    Die  erste  Periode  der  Patristik. 

Erlösung  selbst  zu  vollbringen  haben:  wem  dies  nicht  gelingt, 
der  hat  im  Jenseits  noch  schwere  Läuterungen  durchzumachen, 
während  eine  eigentliche  Seelenwanderung  von  Mani,  wie  es 
scheint,  nicht  gelehrt  wurde.  Sehr  an  die  buddhistische  Unter- 
scheidung zwischen  den  Mönchen  fbhilxshtij  und  den  blolsen 
Verehrern  {iipdsdhaj  erinnert  die  manichäische  Unterscheidung 
zwischen  den  dcdi  und  den  für  ihren  Unterhalt  Sorge  tragenden 
auditons.  Die  dccti  sind  die  Wissenden  und  werden  durch 
drei  Siegel  vom  sinnlichen  Leben  abgeschlossen,  durch  das 
si(jimctilum  oris,  welches  den  Genufs  tierischer  Nahrung,  das 
signacidum  mamis,  welches  gemeine  Handarbeit,  und  das 
siqnacidum  sirnis,  welches  jeden  Geschlechtsgenufs  verbietet, 
während  den  nuditorcs  zwar  nur  pflanzliche  Nahrung,  im 
übrigen  aber  weltliche  Hantierungen  und  die  Ehe  gestattet 
sind.  An  der  Spitze  der  von  Mani  gegründeten  und  bald 
weit  sich  verbreitenden  Kirche  steht  ein  Imäm  (Papst)  mit 
dem  Sitz  in  Babylon,  später  in  Samarkand,  unter  ihm  in 
stufenweiser  Rangordnung  12  niagistri,  72  i'piscopi^  sodann 
die  electi  und  endlich  die  miditorrs.  Der  Kultus  der  Manichäer 
war  einfach,  ihr  Hauptfest  das  im  Monat  März  gefeierte  Fest 
des  Lehrstuhls  (ß'?i[j.a),  dessen  fünf  Stufen  die  fünf  Klassen 
der  Maniverehrer  rei)räsentierten.  Wie  im  Iranischen  werden 
am  Ende  der  Weltgeschichte  alle  von  der  ^laterie  geläuterten 
Seelen  um  den  höchsten  Gott  versammelt,  während  ein  W^elt- 
brand  die  von  Lichtelementen  entblöfste  materielle  Welt  ver- 
nichtet. — 

Die  Vorzüge  des  Manichäismus,  namentlich  seine  Aus- 
scheidung des  Alten  Testaments,  seine  gründliche  Erklärung 
des  Bösen  in  der  W^elt  und  seine  einfache  Erlösungslehre, 
gewannen  ihm  bald  zahlreiche  Anhänger,  nicht  nur  im  Orient, 
wo  er  sogar  die  mohammedanische  Eroberung  überdauerte 
und  bis  über  das  Jahr  1000  hinaus  bestand,  sondern  auch  im 
Abendlande,  wo  selbst  Augustinus  ihm  neun  Jahre  lang  als 
Auditor  anhing  und  dessen  Zeitgenosse  Faustus  für  seine 
Verbreitung  wirkte.  Sein  Hauptsitz  war  für  das  Abendland 
in  Afrika,  wo  er  erst  durch  die  Vandalen  ausgerottet  wurdej 
während  er  im  Römischen  und  Byzantinischen  Reiche  trotz 
der  Verfolgungen  durch  Kaiser  wie  Diokletian  und  Justinian 


4.   Die  Gnosis  und  der  Manicliäismus.  315 

und  der  Bekämpfung  durch  Leo  den  Grofsen  sich  heimhch 
noch  lange  erhielt  und  in  seinen  Nachwirkungen  auf  Paulicianer, 
Bosomilen  und  Katharer  bis  ins  13.  Jahrhundert  hinein  nach- 
weisen  läfst. 

5.  Der  Monfanismus. 

Nicht  weniger  bedrohlich  für  den  Bestand  der  jungen 
Kirche  als  die  gnostischen  waren  die  asketischen  Extra- 
vaganzen, welche  ebenso  wie  jene  als  Keime  im  Urchristentum 
lagen  und  zur  Entwicklung  drängten.  Denn  für  das  Christen- 
tum ist  die  ganze  Welt  mit  aller  ihrer  Schönheit  und  Ordnung 
nicht  Selbstzweck,  sondern  etwas,  welches  war  überwinden 
müssen,  um  dadurch  unserer  wahren  und  ewigen  Bestimmung 
teilhaft  zu  werden.  Schon  Jesus  zeigt  sich  ganz  von  diesem 
Geiste  erfüllt;  viele  seiner  Forderungen  sind,  wie  früher  gezeigt 
wurde  (Phil.  d.  Bibel,  S.  209  fg.  216  fg.),  mit  einem  geordneten 
Bestände  des  Staates  und  der  bürgerlichen  Gesellschaft  schlecht- 
hin unvertfräglich,  verlangen  eine  Verzichtleistung  auf  alles  in 
der  Welt  und  zuletzt  sogar  auf  uns  selbst:  „Will  mir  jemand 
nachfolgen,  der  verleugne  sich  selbst,  und  nehme  sein  Kreuz 
auf  sich,  und  folge  mir"  (Matth.  16,24j.  In  demselben  Sinne 
sagt  der  Apostel  Paulus:  „Welche  aber  Christo  angehören, 
die  kreuzigen  ihr  Fleisch  samt  den  Lüsten  und  Begierden" 
(Gal.  5,24),  und  das  vierte  Evangelium  legt  (18,36)  seinem 
Jesus  das  grofse  Wort  in  den  Mund:  „Mein  Reich  ist  nicht 
von  dieser  Welt."  Aber  das  Christentum  strebte  ein  Reich 
von  dieser  Welt  an  und  mufste  es  anstreben,  wenn  es  über- 
haupt in  der  Welt  auf  die  Dauer  Bestand  haben  und  nicht 
vor  lauter  Weltflucht  sich  schliefslich  aus  der  Welt  ganz  ver- 
flüchtigen sollte.  Aus  diesen  Verhältnissen  erklärt  sich  einer- 
seits  die  starke  und  weitverbreitete  Neigung  der  ersten  Christen 
zu  einem  asketischen,  weltflüchtigen  Leben,  andererseits  aber 
auch  der  starke  Widerstand,  welchen  die  Kirche  diesen  in 
ihrem  eigenen  Prinzip  liegenden  und  doch  sie  mit  Auflösung 
bedrohenden  Bestrebungen  entgegensetzte,  zumal  dieselben, 
ähnlich  wie  der  Gnostizismus,  in  so  phantastischer  Einkleidung 
erschienen,  dafs  unter  dieser  auch  die  Sache  selbst  leiden, 
sich  Verfolgungen  aussetzen  und  schliefslich  verdrängt  werden 


316  XII.    Die  erste  Periode  der  Patristik. 

raufste.  Als  hervorragendster  Typus  dieser  in  schwärmeri- 
scher Form  auftretenden  Askese  mag  uns  der  Montanisraus 
dienen. 

Um  das  Jahr  loG  p.  C.  trat  in  dem  schon  durch  den 
Kybelekultus  zur  Schwärmerei  disponierten  Phrygien  zu  Arda- 
bau  ein  gewisser  Montanus,  bis  vor  kurzem  noch  heid- 
nischer Priester,  nach  seiner  Bekehrung  zum  Christentum 
auf,  berief  sich  auf  seine  ihm  in  ekstatischen  Zuständen  zu- 
teil gewordenen  Visionen,  erklärte  sich  für  den  von  Christo 
verheil'senen  Parakleten  und  verkündigte,  unterstützt  von  den 
beiden  Prophetinnen  Priscilla  und  Maximilla  ("f  179),  das  un- 
mittelbare Bevorstehen  der  so  lange  von  der  Kirche  vergeblich 
erwarteten  Wiederkunft  Christi,  das  mit  ihr  anbrechende,  in 
der  Apokalypse  geweissagte  tausendjährige  Reich  und  das 
Herabkommen  des  himmlischen  Jerusalems,  als  dessen  Stätte 
Pepuza,  ein  im  westlichen  Teile  Phrygiens  gelegenes  Städt- 
chen, auserwählt  sei.  Die  Kirche,  so  lehrte  er,  sei  nunmehr 
aus  dem  Kindesalter  des  altlestamentlichen  Prophetismus  und 
dem  Jünglingsalter  der  Zeit  Christi  und  der  Apostel  in  ihr 
Mannesalter,  aus  dem  Reiche  des  Vaters  und  des  Sohnes  in 
das  des  Geistes  getreten,  welchem  entsprechend  er  für  seine 
Prophezeiungen  eine  höhere  Stufe  gegenüber  den  Propheten 
und  •  dem  Evangelium  beanspruchte.  Ohne  im  übrigen  das 
Dogma  der  Kirche  anzutasten,  eiferte  er  gegen  die  in  ihr  ein- 
gerissene Verweltlichung,  erklärte  die  zweite  Ehe  für  Ehe- 
bruch, verlangte,  dafs  beim  Gottesdienst  nicht  nur  die  ver- 
heirateten Weiber,  sondern,  gegen  die  übliche  Praxis,  auch 
die  Witwen  und  Jungfrauen  nur  verschleiert  erscheinen  dürften, 
steigerte  die  in  der  Kirche  herrschenden  Fastenübungen  und 
ermahnte  zu  geflissentlicher  Aufsuchung  des  Martyriums.  Am 
meisten  Anstofs  mochte  es  wohl  erregen,  dafs  er  die  in  der 
Kirche  sich  bereits  anbahnende  Hierarchie  nicht  anerkannte, 
Pepuza  für  den  Sitz  des  Patriarchen  und  der  ihn  umgebenden 
xo'.vovc'  erklärte  und  alle  Christen,  als  blofse  '«^r/i'/'^'-i  ^u  seinen 
Anhängern  als  den  wahren  lhvjix<x~iy.o[  zu  machen  suchte.  Seine 
Aussprüche  und  die  seiner  Prophetinnen  wurden  gesammelt  und 
höher  gestellt  als  die  Offenbarungen  des  Evangeliums.  Die  von 
Montanus  als  unmittelbar  bevorstehend  geweissagte  Wiederkunft 


5.  Der  Montanismus.  317 

Christi  und  die  geforderte  würdige  Vorbereitung  auf  dieselbe 
durch  ein  heihges,  asketisches  Leben  entfesselte  in  der  Kirche 
eine  mächtige  Bewegung,  rief  aber  auch  den  heftigsten  Wider- 
spruch hervor,  zunächst  in  Kleinasien,  wo  schon  um  170  p.  C. 
die  Montanisten  durch  mehrere  Synoden  aus  der  Kirche  aus- 
geschieden wurden,  dann  aber  auch  in  Rom,  wo  namentlich 
Praxeas  gegen  dieselben  eiferte.  Eine  starke  Stütze  erfuhr 
der  Montanismus  in  Afrika  dadurch,  dafs  Tertullian  mit  der 
ganzen  Macht  seiner  Persönlichkeit  für  denselben  eintrat,  und 
noch  lange  erhielt  sich  der  Montanismus  gegenüber  der  Be- 
kämpfung durch  die  Apologeten  und  der  Verfolgung  von  selten 
Constantins  und  anderer  Kaiser;  noch  Augustin  fand  in  Kar- 
thago eine  kleine  Gemeinde  von  Tertullianisten  vor  und  führte 
sie  in  den  Schofs  der  Kirche  zurück,  und  erst  gegen  500  p.  C. 
erlosch  der  Montanismus,  während  die  asketischen  Tendenzen, 
denen  er  seine  eigentliche  Kraft  verdankte,  in  weniger  phan- 
tastischen Formen  in  der  christlichen  Kirche,  eben  weil  sie 
derselben  wesentlich  sind,  auch  weiterhin  fortdauerten. 

6.  Die  alexandrinische  Theologie. 

Während  im  westlichen  Teile  des  Römischen  Reiches  durch 
Männer  wie  Irenaeus  und  Tertullian  um  das  Jahr  200  p.  C. 
sowohl  der  Gedanke  einer  rcgula  fidei  als  auch  der  einer 
hierarchischen  Organisation  mächtig  erstarkte,  bildete 
sich  gleichzeitig  zu  Alexandria  in  Ägypten  in  einer  Schule  zur 
Heranbildung  künftiger  '/.oLzq-^/ir^x a.1  (d.  h.  Lehrer  der  xainfjxoü- 
[j.£vot.)  unter  Lehrern  wie  Pantaenus,  Clemens  und  Origenes 
eine  Theologie  aus,  welche  sich  von  beidem,  von  einem  Er- 
starren sowohl  in  Dogmatismus  als  auch  in  Hierarchie,  noch 
freihielt  und  auch  in  der  geistigen  Auffassung  des  Christen- 
tums jenen  abendländischen  Autoritäten  weit  überlegen  war. 
Mit  der  Gnosis  teilen  jene  alexandrinischen  Katechetenlehrer 
die  Anschauung,  dafs  erst  die  Gnosis  dem  Glauben  die  wahre 
Vollendung  gibt  (Sta  TauTT,c  ycng  TiXsioO-ai  -q  Tziazic,  wie  es  bei 
Clemens  Strom.  7,10,14  heifst),  halten  sich  aber  von  den  die 
Gnosis  charakterisierenden  Phantastereien  frei  und  bilden  so 
durch    Aufbau    de^;    christlichen    Gedankens    auf    platonisch- 


318  XII.   Die  erste  Periode  der  Patristik. 

stoischen  Anschauungen  eine  wissenschaftliche  Theologie  aus, 
welche  von  selten  der  Kirche  zwar  nur  eine  bedingte  Zu- 
stimmung fand,  aher  doch  durch  ihre  geistvolle  Behandlung  des 
Dogmas  auf  die  Folgezeit  von  grofsem  Einflufs  geworden  ist. 

Von  Pantaenus,  welcher  der  Katechetenschule  bis 
200  p.  C.  vorstand,  hat  sich  aufser  spätem  Berichten  bei 
Eusebius  und  Hieronymus  nichts  erhalten.  Um  so  ausgiebiger 
sind  wir  durch  eigene  Schriftwerke  über  seinen  Schüler  und 
Nachfolger  im  Lehramt,  den  Clemens  Alexandrinus,  unter- 
richtet. 

T.  Flavius  Clemens  stand  der  Katechetenschule  zwar  nur 
kurze  Zeit  vor,  da  er  sich  den  unter  Septimius  Severus  aus- 
brechenden Verfolgungen  202  p.c.  mit  Berufung  auf  Matth.  10,23 
durch  die  Flucht  entzog,  aber  bis  zu  seinem  216  erfolgten 
Tode  eine  bedeutende  literarische  Wirksamkeit  entfaltete. 
Namentlich  ist  von  seiner  Hand  ein .  grofses  dreigliederiges 
Werk  vorhanden;  der  erste  Teil,  der  Aöjoc  -Jzgo-gzTzziy.hc.  izgoQ 
"EAXrjva?,  fordert  in  begeisterten  Worten  die  Hellenen  auf,  sich 
dem  Christentum  anzuschliefsen,  der  zweite,  der  naiSaYOYoc, 
gibt  in  drei  Büchern  eine  Anleitung  zum  christlichen  Leben, 
und  der  dritte  Teil,  die  ^iTpoii-axeLC  (Teppiche,  d.  h.  bunte  und 
doch  geordnete  Aphorismen),  sucht  mit  Hilfe  platonischer  und 
stoischer  Anschauungen  das  christliche  Dogma  zu  vertiefen. 
Wie  bei  Philo  Judaeus  steht  im  Mittelpunkte  seiner  Betrach- 
tungen der  Acyo:;,  nur  dafs  dieser  Begriff  bei  Philo  ein  Mittel- 
wesen zwischen  Gott  und  Welt  bildet,  bei  Clemens  hingegen, 
in  näherm  Anschlufs  an  die  Stoa,  die  ganze  Fülle  der  Gottheit 
umfafst.  Von  dem  Logos  als  dem  anfanglosen  Prinzip  (der 
avapxoc  ötpyj,)  unterscheidet  er  den  Logos  als  das  menschen- 
freundliche Werkzeug  Gottes  (das  9t.Adv'3~po-ov  opYfxvov  toü 
■^^soü,  Protr.  1,77),  eine  erstgeborene  Kraft  (TrpwTcycvoc  Sijvaair) 
Gottes,  welche  die  Hellenen  durch  die  Philosophie,  die  Juden 
durch  das  Gesetz  als  ■Kcciha.jidycc.  auf  Christum  vorbereitet  hat. 
Dieser  letztere  war  beides,  als  Gott  dTcajr,?,  als  Mensch  eij.Tra'irrrj^, 
er  hat  nur  die  Rolle  eines  Menschen  übernommen  (hier  zeigt 
Clemens  eine  Hinneigung  zum  Doketismus)  und  das  heil- 
bringende Drama  der  Menschwerdung  aufgeführt  (t6  CQXTJpwv 
8pa[;.a  ttjc  dv'^p6)7;crY|T0?  uTcsxpivaTo,  Protr.  10,18),  durch  welches 


6.   Die  alexMiulrinische  Theologie.  319 

auch  wir  der  olt-olZhix  teilhaft  werden,  in  der  Clemens  mit  den 
Stoikern  das  sunimuni  honum  erkennt. 

Was  Clemens  durch  seine  Schriften  angebahnt  hatte,  die 
Versöhnung  des  christlichen  Dogmas  mit  der  griechischen, 
namentlich  platonischen  und  stoischen  Philosophie,  das  ge- 
langte zur  Vollendung,  soweit  eine  solche  möglich  war,  in 
dem  Lehrsystem  des  Origenes,  des  ersten  Begründers  einer 
Theologie  als  Wissenschaft.  Geboren  w^ar  er  185  p.  C.  zu 
Alexandria  in  Ägypten ;  sein  Vater  Leonides  fiel  202  der  Ver- 
folgung unter  Septimius  Severus  zum  Opfer,  während  der 
junge  Origenes,  vorgebildet  durch  den  Unterricht  des  Clemens 
wie  auch  w^ahrscheinlich  des  Neuplatonikers  Ammonius  Sak- 
kas,  schon  203  als  achtzehnjähriger  Jüngling  zum  Nachfolger 
des  Clemens  im  Lehramte  der  Katechetenschule  zu  Alexandria 
berufen  wurde.  Wegen  des  eisernen  Fleifses,  mit  dem  er  als 
Lehrer  wie  als  Schriftsteller  wirkte,  als  dSaaavTioc  und  xaXx- 
ivTspoi:  gerühmt,  zeichnete  er  sich  nicht  weniger  aus  durch 
seine  strenge  asketische  Lebensweise,  welche  er  so  weit  trieb, 
dafs  er  auf  Grund  von  Matth.  19,12  eüvoüxwsv  saiJTov.  Sein 
Ruhm  erregte  die  Eifersucht  des  Bischofs  Demetrius,  auf 
dessen  Betreiben  er  231  als  Irrlehrer  abgesetzt  und  exkom- 
muniziert wurde.  Er  begab  sich  nach  Cäsarea  in  Palästina, 
wo  er  als  Lehrer  wie  als  Schriftsteller  unermüdlich  tätig  war, 
bis  er,  während  der  decianischen  Verfolgung  gefangen  gesetzt 
und  gefoltert,  als  achtundsechzigjähriger  Greis  im  Jahre  254 
zu  Tyrus  seinen  Leiden  erlag.  Von  seinen  exegetischen  Ar- 
beiten war  am  berühmtesten  die  bis  auf  Fragmente  verlorene 
Hexapla,  in  welcher  er  den  hebräischen  Text  des  Alten  Testa- 
ments in  Parallele  mit  einer  griechischen  Transskription  und 
den  Übersetzungen  der  Septuaginta  des  Aquila,  Symmachos 
und  Theodotion  stellte  und  mit  kritischen  Anmerkungen  und 
Schoben  versah.  Sein  systematisches  Hauptw^erk  waren  die 
vier  Bücher  Trspl  ap^öv,  welches  vollständig  nur  in  der  latei- 
nischen, die  Häresien  abschwächenden  Übersetzung  des  Rufinus 
De  2Jrincij)/is  erhalten  ist.  Von  besonderm  Interesse  sind  noch 
die  acht  Bücher  xa-a  KeXco'j,  namentlich  durch  das,  was  darin 
aus  der  verlorenen  Schrift  dieses  mit  scharfsinnigen  Argu- 
menten das  Christentum  angreifenden  (von  Origenes  fälschlich 


320  XII.   Die  erste  Periode  der  Patristik. 

* 

für  einen  Epikureer  gehaltenen)  Platonikers  uns  erhalten  ist.  — 
Die  Heilige  Schrift  ist  nach  Origenes  durchaus  inspiriert,  aber 
wie  der  Mensch  aus  Körper  (aü[j.a),  Seele  (^}jux'^)  ^"^  Geist 
(T:vsO[j.a)  besteht,  so  haben  auch  die  Bibelworte  als  Leib  einen 
historischen,  als  Seele  einen  moralischen  und  als  Geist  einen 
mystischen  Sinn.  Wie  zum  Alten  Testament  das  Neue,  so 
verhält  sich  zum  Neuen  Testament  die  höchste,  erst  in  der 
Zukunft  zu  enthüllende  Wahrheit.  Ganz  neuplatonisch  ist  die 
Auffassung  Gottes  als  der  letzten  Einheit,  der  hdc,  oder  [xovdc, 
welche,  wie  bei  Plotin,  über  Subjekt  und  Objekt  erhaben 
(sTCixs'-va  voO  xal  ohalcnQ,  contra  Celsum  7, 08)  ist.  Von  Ewig- 
keit her  ist  der  Sohn  durch  den  Vater  gezeugt  und  verhält 
sich  zu  ihm  (ganz  neuplatonisch)  wie  der  Glanz  zu  dem  Lichte; 
wie  das  Licht  nie  ohne  Glanz,  so  ist  der  Vater  nie  ohne  den 
Sohn  gewesen;  wie  der  Glanz  gleichen  Wesens  ist  mit  dem 
Lichte,  so  der  Sohn  6[jLccija!.0(:  mit  dem  Vater,  alDer  doch 
nicht  aÜTctrsoc,  sondern  nur  SsuTipo?  '^scc,  er  steht  als  Media- 
tor zwischen  Gott  und  den  Kreaturen,  in  gleichem  Abstände 
von  Gott  wie  die  Kreaturen  von  ihm.  Die  Ewigkeit  der  Seelen 
(Engel,  Menschen,  Dämonen)  verbindet  Origenes  mit  ihrem 
schriftmäfsigen  Geschaffensein  in  der  Art,  dafs  er  den  Wider- 
spruch durch  die  Behauptung  verhüllt,  die  Seelen  seien  von 
Ewigkeit  her  durch  Gott  geschaffen.  Er  schuf  sie  alle  gleich, 
moralisch  indifferent,  verlieh  ihnen  aber  die  Freiheit,  vermöge 
deren  sie  das  Gute  oder  das  Böse  aus  sich  selbst  erschaff'en. 
Um  sie  von  letzterm  zu  läutern,  schaff't  Gott  aus  nichts  die 
Materie  und  eine  Reihe  aufeinanderfolgender  Welten  als 
Läuterungsorte  der  gefallenen  Seelen,  welche  auch  in  der 
Materie  ihre  Freiheit  behalten,  vermöge  deren  sie  sich  wieder 
zu  Gott  erheben,  indem  sie  durch  Teilnahme  an  seiner  Gött- 
lichkeit selbst  vergottet  werden  (fjLSToxt;  ^^ic,  sxsbou  'ä'scT-/]Tcc 
trsoTCoioijfxevot.).  Hierbei  werden  sie  durch  den  in  Jesu  fleisch- 
gewordenen Logos  unterstützt,  dessen  Tod  Origenes  nach 
Matth.  20,28  als  Xuxpov,  als  das  dem  Teufel  für  die  Seelen  zu 
zahlende  Lösegeld  auffafst.  Die  Hölle  behält  Origenes  bei, 
aber  nur  als  ein  Läuterungsfeuer  (-jrOp  "xa'trapat.cv).  Am  Ende 
aller  Dinge  findet  eine  dTroxardaxacu  statt,  eine  Wiederbringung 
aller  Dinge  zu  Gott,  so  dafs  Gott  sein  wird  alles  in  allem.  — 


G.   Die  alexandriiiisilio  Theologie.  321 

!So  war  Origenes  hoinülit,  die  Schriftlehren  von  dem  GeschatlVn- 
sein  der  Seelen  und  den  jenseitigen  Hüllenstrafen  mit  den 
Forderungen  der  Vernunft  und  Menschlichkeit  durch  die  An- 
nahme einer  zeitlosen  Seelenschöpfung  und  einer  6L7:cy.rx~a.CTixaic. 
-dcvTov  in  Einklang  zu  bringen,  und  verfiel  dadurch  in  zwei 
Ketzereien,  W' eiche  die  Kirche  so  engherzig  war  ihm  nie  zu 
verzeihen. 

7.   Die  katholische  Kirche. 

Zwei  innere  Gefahren  waren  es,  wie  wir  gesehen  haben, 
welche  das  Christentum  in  den  ersten  Jahrhunderten  seines 
Bestehens  bedrohten,  einerseits  das  Bestreben,  in  der  Er- 
gründung  der  ewigen  Wahrheit  über  die  Grenzen  des  Erkenn- 
baren hinauszugehen,  welches  zum  Gnostizismus  führte 
und  andererseits  das  Bewufstsein  von  dem  weltverneinenden 
Charakter  des  Christentums,  aus  welchem  unter  andern  ver- 
wandten Erscheinungen  namentlich  der  Montanismus  her- 
vorging. Beiden  Richtungen,  so  begreiflich  die  Motive  auch 
w^aren,  aus  denen  sie  hervorgingen,  setzte  die  Kirche  einen 
energischen  Widerstand  entgegen  vermöge  des  Selbsterhal- 
tungstriebes, welcher  nicht  nur  Individuen,  sondern  auch  In- 
stitutionen innewohnt  und  bei  diesen  wie  bei  jenen  in  dem 
bellum  omninm  contra  omncs,  w^elches  nun  einmal  allem  Erden- 
dasein w^esentlich  ist,  seine  relative  Berechtigung  findet. 

Der  Gefahr  einer  Zersplitterung  der  Lehrmeinungen  und 
dadurch  zu  befürchtenden  Innern  Auflösung  der  Kirche  be- 
gegnete dieselbe  durch  Aufstellung  einer  festen,  für  alle 
verbindlichen  regula  ßdei,  welche  den  Gnostikern  gegenüber 
an  der  Identität  des  Weltschöpfers  mit  dem  Welterlöser  fest- 
hielt, in  der  schon  Matth.  28,19  dem  von  seinen  Jüngern 
scheidenden  Herrn  in  den  Mund  gelegten  Taufordnung  auf 
den  Namen  des  Vaters,  Sohnes  und  Geistes  ihren  Ausdruck 
fand,  sodann  zu  dem  auf  die  Apostel  zurückgeführten,  aber 
erst  gegen  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  nachweisbaren 
Sjimbolum  Apostolicum  erweitert  wurde  und  in  dem  nach 
und  nach  festgestellten  Kanon  der  neutestamentlichen 
Schriften  Begründung  und  Beglaubigung  erhielt. 

Den  nicht  weniger  die  kirchliche  Gemeinschaft  zersetzenden 

Devssex,  GefcLicbte  der  riiilosophie.     II, ri, 2.  21 


322  XII.    Die  erste  Teriode  der  Patristik. 

asketischen  und  chiliastischen  Neigungen  des  Montanismus  und 
verwandter  Bestrebungen  trat  die  Kirche  durch  Hinarbeiten 
auf  eine  gleichfalls  allgemein  verbindliche  weltliche  Organi- 
sation entgegen,  wie  eine  solche  schon  in  den  durch  das 
Neue  Testament  beglaubigten  Bischöfen,  Presbytern  und 
Diakonen  den  Gemeinden  vorgeschrieben  worden  war.  In 
der  weltbeherrschenden  Stellung  der  Stadt  Rom,  in  welcher 
Paulus  und  angeblich  auch  Petrus  das  Martyrium  erlitten 
hatten,  war  es  begründet,  dafs  die  römische  Gemeinde  ein 
schon  im  Briefe  des  Clemens  Romanus  an  die  Korinther  her- 
vortretendes Aufsichtsrecht  über  alle  andern  Gemeinden  be- 
anspruchte und  zugestanden  erhielt.  Kurz  vor  dem  Episkopat 
des  Viktor  (189 — 198)  kam  denn  auch  eine  (in  ihren  ersten 
Namen  wahrscheinlich  fingierte)  Bischofsliste  zum  Vorschein, 
welche  die  römischen  Bischöfe  in  direkter  Abfolge  auf  Petrus 
selbst  zurückführte. 

Unter  den  Männern,  welche  das  Bestreben  der  Kirche, 
durch  Ausscheidung  separatistischer  Einflüsse  zu  einer  katho- 
lischen  Kirche  zu  erstarken,  am  kräftigsten  unterstützten, 
verdienen  zwei  als  Typen  besonders  hervorgehoben  zu  werden, 
Irenaeus  in  Gallien  und  Tertullian  in  Afrika. 

Irenaeus  stammte  aus  Kleinasien,  war  noch  ein  Schüler 
des  Polykarp  gewesen,  kam  dann  später  nach  Lugdunum  in 
Gallien,  wo  er  zuerst  als  Presbyter,  sodann  seit  177  als  Bischof 
wirkte  und  in  dieser  Stellung,  die  er  bis  zu  seinem  etwa  202 
erfolgten  Tode  innehatte,  sowie  in  seinen  Schriften  den  Geist 
der  kleinasiatischen  Theologie  mit  ihrer  Lehre  von  der  dva- 
y.z(fify.\c(.l(^ci:;  oder  rccapitulatio  (d,  h.  dem  Ausgang  aller  Dinge 
von  Gott  und  der  endlichen  Rückkehr- zu  ihm)  im  Abendlande 
vertrat.  Sein  Hauptstreben  war  dementsprechend,  die  auf  eine 
Trennung  der  weltschafienden  und  welterlösenden  Potenz  hin- 
arbeitende Gnosis  zu  bekämpfen,  wie  dieses  besonders  in 
seinem  Hauptwerke,  der  in  fünf  Büchern,  vollständig  nur  in 
lateinischer  Übersetzung  vorhandenen  Schrift  Advcrsns  Imcrescs 
(sAsy/or  xal  dvarpoTTv]  r-?;;  'I;i'jf^(ov'j;xo'j  yvcocöwr,  wie  der  ursprüng- 
liche Titel  lautete)  hervortrat.  —  Die  Gnosis  ist  nach  ihm 
eine  Tochter  der  griechischen  Philosophie,  und  er  steht  dieser 
daher    nicht    freundlich    o;e2:enüber.      Die    gnostische    Unter- 


7.    Die  katholische  Kirche.  3l>-i 

■Scheidung  des  Schöpfers  vom  Erlöser  erscheint  ihm  als  eine 
Blasphemie;  die  stufenweise  Entwicklung  der  vom  Alten  zum 
Neuen  Testament  führenden  Heilsordnung  ist,  wie  er  (an  die 
paulinische  Anschauung  von  dem  vc[j.o^  als  einem  Tra^iSa^wYÖi; 
£'.r  Xp'.STcv  anknüpfend)  darlegt,  in  dem  göttlichen  Erziehungs- 
plane begründet,  welcher  von  Adam  durch  die  Propheten  zu 
Christus  als  dem  zweiten  Adam  führt.  Gottes  wahre  Wesen- 
heit ist  iucouiprclicutiihilis,  sie  wird  erst  comiyrehensibilis  durch 
■den  Acyor,  welcher  mit  Gott  sanper  coexistens  und  doch  ihm 
subordiniert  ist.  Der  Acyo:;  und  der  von  ihm  nicht  streng 
unterschiedene  Heilige  Geist,  das  Vcrhioii  und  die  Saplentia, 
sind  die  beiden  Hände  Gottes,  mittels  deren  er  die  Materie 
und  die  Welt  erscliafi'en  hat,  und  durch  welche  er  sich  den 
Menschen  offenbart,  den  Heiden  durch  die  Stimme  des  Ge- 
wissens, den  Juden  durch  Gesetz  und  Propheten,  den  Christen 
durch  Christum,  welcher  als  Mensch  der  Versuchung  und  dem 
Tode  unterworfen  war,  als  Logos  von  beidem  unberührt  blieb. 
Christus  hat  das  Erlösungswerk  iu  compendio  vollbracht,  in- 
dem er  die  Macht  des  Teufels  brach  und  die  Menschen  wieder 
mit  Gott  einigte  (f'vcoasv).  Dieses  Heil  wird  von  den  Menschen 
vermöge  der  ihnen  verliehenen  Freiheit  des  Willens  er- 
griffen. Es  gibt  keine  Präexistenz  der  Seele  und  keine 
Seelenwanderung.  Die  Welt  besteht,  entsprechend  den  sechs 
^chöpfungstagen,  6000  Jahre,  dann  folgt,  dem  siebenten 
Tage  entsprechend,  nach  Überwindung  des  im  Anschlufs  an 
2.  Thess.  2,4  (vgl.  oben,  Phil.  d.  Bibel,  S.  246)  erscheinen- 
■den  Antichrists  die  tausendjährige  Herrschaft  Christi  und  nach 
ihr  eine  allgemeine  licsiirrectio  carnis,  das  Gericht,  ewige 
Höllenstrafen  der  Bösen  und  ewige  Seligkeit  der  Guten  mit 
und  in  dem  Vater,  welcher  dann  nach  1.  Kor.  15,28  sein  wird 
alles  in  allem.  —  Wie  für  die  innere  Einheit  der  Kirche 
vermöge  der  für  alle  verbindlichen  Glaubensregel,  so  tritt 
Irenaeus  mit  Entschiedenheit  auch  für  den  Anschlufs  aller 
Gemeinden  an  die  Kirche  Roms  ein,  „denn  zu  dieser  Kirche 
mufs  sich  wegen  ihrer  Ursprünglichkeit  (jiropter  potentiorem 
principalitatcmj  die  gesamte  Kirche,  das  heifst  die  Gesamtheit 
der  Gläubigen  von  überall  her,  zusammenscharen,  weil  in  ihr 
immer  von   den  überall  verbreiteten  Gemeinden  die   von  den 

•21* 


324  ^11-   Die  erste  Periode  der  Patristik. 

Aposteln  herrührende  Tradition  auf  bewalirt  (conscrvaiaj  worden 
ist"  (Adv.  haeres.  3,3,1— lij. 

Einer  der  eifrigsten  Vorkämpfer  für  die  Einlieit  der  Kirche 
neben  und  nach  Irenaeus,  wenn  auch  nicht  wie  dieser  für  den 
Primat  des  römischen  Episkopats,  war  Tertullian,  welcher 
durch  seine  zahlreichen,  von  feuriger  Beredsamkeit  getragenen^ 
mit  Witz  und  Sarkasmen  gewürzten  Schriften  in  lateinischer 
Sprache,  ungeachtet  seines  Anschlusses  an  den  Montanismus,, 
von  grofsem  Einflufs  auf  die  Förderung  des  Gedankens  einer 
katholischen  Kirche  geworden  ist. 

Q.  SepfiuuKS  Florerts  Tcrtullianus  M^ar  geboren  etwa  IGO  p.  C. 
zu  Karthago  von  heidnischen  Eltern,  ergriff  die  Laufbahn  eines 
Juristen  und  Rhetors,  wandte  sich  infolge  des  Eindruckes,  den 
die  Standhaftigkeit  der  Märtyrer  auf  ihn  machte,  mutmafslich 
um  das  Jahr  193  dem  Christentum  zu,  welches  er  seitdem 
mit  Einsetzung  seiner  ganzen  mächtigen  Persönlichkeit  gegen 
Gnostiker  und  andere  Häretiker  verteidigte,  auch  dann  noch, 
als  ihn  seine  asketischen  Neigungen,  wahrscheinlich  202  p.  C.^ 
bestimmten,  für  den  Montanismus  einzutreten  und  schliefslich 
mit  .der  Kirche  zu  zerfallen,  ohne  dafs  er  bis  zu  seinem  etwa 
220  erfolgten  Tode  aufhörte,  in  apologetischen,  dogmatischen 
und  ethischen  Schriften  für  den  christlichen  Glauben  zu  wirken. 
Alle  weltliche  Wissenschaft  ist  ihm,  wie  dem  Apostel,  eine 
Torheit  vor  Gott,  die  griechische  Philosophie  erklärt  er  für 
die  Mutter  aller  Häresien,  und  seine  offen  zur  Schau  getragene 
Verachtung  der  alten  Philosophen  würde  nicht  ahnen  lassen, 
wie  gut  er  sie  kennt  und  wieviel  er  ihnen,  namentlich  den 
Stoikern,  in  seinem  Materialismus  und  seiner  Logoslehre  zu 
verdanken  hat.  Aber  nicht  in  ihnen,  sondern  in  der  auf 
göttlicher  Offenbarung  beruhenden  Glaubensregel  liegt  der 
Inbegriff  aller  Wahrheit,  und  es  ist  die  höchste  Weisheit, 
nichts  für  wahr  zu  halten,  was  ihr  widerspricht:  adversiis 
reguUim  nihil  scire  omnia  scirc  est  (De  praescriptionibus  14). 
Die  dem  christlichen  Dogma  anhängenden  Widersinnigkeiten 
gibt  er  offen  als  solche  zu,  ja,  er  sieht  in  ihnen  einen  Beweis 
für  die  Wahrheit  der  christlichen  Lehre :  Natus  est  dei  filius^ 
imn  pudet,  quia  ^mdendum  est;  et  mortuus  est  dei  flius,  prorsus 
crcdihile  est,   quia  ineptuni  est;   et  sepidtus  resnrrc.rit ,  certitm 


7.   Die  katholische  Kirche.  325 

€st,  quin  n)ipossiJiiJc  (De  cariie  Christi  5).  Aus  Aufserungen 
dieser  Art  hat  man  den  dem  Tertullian  zugeschriebenen,  bei 
ihm  'selbst  nicht  nachweisbaren,  aber  seine  Anschauungen 
richtig  zusammenfassenden  Ausspruch  gebildet:  crcdo  qnia 
uhsiirdum  est,  ich  glaube  es,  nicht  nur  obgleich,  sondern  weil 
es  widersinnig  ist.  So  empörend  auch  ein  solches,  aller  Ver- 
nunft und  Wissenschaft  hohnsprechendes  Wort  erscheinen 
mag,  so  liegt  doch  in  ihm  ein  dunkles  Vorgefühl  davon,  dafs 
die  metaphysische  Wahrheit  zu  allem  empirischen  Wissen  in 
einem  durchgängigen,  wohlbegründeten  Widerspruch  steht: 
Empirisch  ist  der  Mensch  der  Kausalität  unterworfen  und 
daher  unfrei,  in  der  Zeit  lebend  und  daher  sterblich,  meta- 
physisch hingegen  ist  es  ebenso  wahr,  dafs  wir  unserm  wahren 
Wesen  nach  unsterblich  und  frei  sind;  wie  beides  zusammen 
l)estehen  könne,  ist  schon  öfter  angedeutet  worden  und  wird 
im  weitern  Verlauf  noch  näher  entwickelt  werden.  Von  einer 
solchen  Einsicht  ist  Tertullian  freilich  noch  weit  entfernt;  ihm 
dient  der  erwähnte  Grundsatz  nur  dazu,  ihm  über  alles  An- 
stöi'sige  der  christlichen  Lehre  hinwegzuhelfen,  das  Unmögliche 
möglich  zu  machen  und  seinen  Christenglauben  mit  einem  aus 
der  Stoa  übernommenen  massiven  Materialismus  und  Sensualis- 
mus zu  verbinden.  Alles,  was  die  Sinne  uns  lehren,  ist  wahr, 
denn  Gott  kann  uns  nicht  betrügen  wollen,  und  alles,  was 
existiert,  ist  körperlich:  vUul  est  iucorporale,  nisi  qiiod  non  est 
(De  carne  Christi  11;  De  anima  7),  und  da  Gott  und  die  Seele 
existieren,  so  müssen  auch  sie  materiell  sein.  „Wer  kann 
leugnen,  dafs  Gott  körperlich  ist,  auch  wenn  er  ein  Geist  ist? 
nämlich  als  Geist  ein  Körper  von  besonderer  Art  in  eigen- 
tümlicher Gestalt."  Dieser  materielle  Gott  schafft  die  Materie 
und  aus  ihr  die  Welt  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte,  in 
welchem,  wie  bei  Piaton,  zugleich  mit  der  Welt  die  Zeit  er- 
schaffen wurde,  welche  vorher  noch  nicht  bestand;  es  gab 
eine  Zeit,  in  welcher  es  noch  keine  Zeit  gab.  Um  durch  ihn 
die  Welt  zu  schaffen,  erzeugt  Gott  vermöge  einer  materiellen 
Emanation  seinen  Sohn,  den  Logos,  welcher  das  götthche 
Schöpferwort  und  zugleich  die  weltordnende  Vernunft  und  die 
schöpferische  Kraft  ist.  Er  verhält  sich  zum  Vater  wie  die 
Strahlen  fradiij   zur  Sonne,   und   der  Geist  verhält   sich  zum 


326  XII.   Die  erste  Periode  der  Patristik. 

Sohne  wie  zu  diesen  Strahlen  ihre  die  Erde  berührenden 
Spitzen  fapiccsj.  Der  erste  Mensch  ist  nach  dem  Ebenbild 
Gottes  geschaffen,  wobei  Christus,  der  Logos,  als  Modell 
diente.  Durch  Adams  Sündenfall  ist  die  Sünde  als  Erbsünde 
auf  alle  Menschen  fortgepflanzt  worden,  doch  ist  ihnen  ein 
göttlicher  Keim  geblieben:  anima  nahiralitcr  cliristiana  (De 
testimonio  animae  I);  die  Christenseele  ist  ein  Engel,  welcher 
auf  einer  gezähmten  Bestie  reitet.  Die  Seele  ist  ein  körper- 
liches Wesen,  durchzieht  den  ganzen  Körper  und  hat  (wie  auch 
die  Jaina's  in  Indien,  Phil.  d.  Inder,  III,  260,  lehren)  die  Gröfse 
und  Gestalt  des  Körpers,  welchen  sie  beseelt.  Sie  ist  aus  der 
Seele  des  Vaters  bei  der  Zeugung  entstanden,  besitzt  aber 
nichtsdestoweniger  Unsterblichkeit  und  Freiheit  des  Willens, 
vermöge  deren  sie  unter  Mithilfe  des  als-  ein  materielles  Fluidum 
auf  sie  wirkenden  Heiligen  Geistes  zur  Erlösung  gelangt.  — 
Die  Freiheit  nimmt  Tertullian  auch  für  die  Wahl  der  Religion 
den  Verfolgern  des  Christentums  gegenüber  in  Anspruch;  die 
Religion,  meint  er,  sei  eine  individuelle  Angelegenheit,  welche 
keinen  andern  etwas  angehe:  non  alii prodcst  aut  ohcst  altcrius 
religio^  —  und  das  wäre  richtig,  wenn  unsere  religiösen  Über- 
zeugungen nicht  für  unser  Verhalten  zu  den  Mitmenschen  von 
unmittelbarer  und  mafsgebender  Bedeutung  wären. 

Weniger  wegen  seiner  wissenschaftlichen  Bedeutung,  als 
wegen  seines,  namentlich  in  der  Schrift:  De  caiholicae  ccchsiae 
Imitate  betätigten  energischen  Eintretens  für  die  Einheit  der 
katholischen  Kirche  verdient  neben  Irenaeus  und  Tertullian 
hervorgehoben  zu  werden  Cyprian  (Tltascins  Cacc'dhis  Ci/- 
prianusj,  welcher,  geboren  um  200  zu  Karthago  und  als  Rhetor 
gebildet,  246  zum  Christentum  übertrat,  248  zum  Bischof  von 
Karthago  gewählt  wurde,  in  der  decianischen  Verfolgung  um 
200  sich  der  Forderung  des  Pöbels:  Cypricuium  ad  leoncm!  durch 
die  Flucht  entzog  und  von  seinem  Asyl  aus  die  Angelegen- 
heiten der  Gemeinde  leitete,  nach  Jahresfrist  zu  seinem  Posten 
zurückkehrte,  unter  Valerianus  2ö7  verbannt  und  nach  seiner 
Rückkehr  258  zu  Karthago  enthauptet  wurde.  In  seinen 
Schriften  ist  er  wesentlich  von  Tertullian  abhängig,  dessen 
Werke  er  sich,  wie  Hieronymus  erzählt,  täglich  mit  dem  Worte: 
Ba  magistrum !  reichen  liefs,  unterscheidet  sich  aber  von  diesem 


7.   Die  katholische  Kirclie.  327 

seinem  Lehrer  und  Vorbilde  durch  griilVere  Milde  und  prak- 
tischen Sinn.  Inwieweit  er  den  Primat  des  Römischen  Stuhles 
anerkannte,  ist  strittig,  sicher  aber  ist,  dal's  er  die  Einheit 
der  Kirche  unter  der  Leitung  des  von  Petrus  begründeten 
Episkopats  in  der  oben  erwähnten  Schrift  wie  auch  in  seinen 
Sl  Briefen  mit  Eifer  und  Erfolg  zu  lordern  bemüht  war; 
Epist.  43,5:  Dens  unus  est  et  Christus  unus  et  nna  ccclesia  et 
cathedra  una  super  Fetrum  äomirti  voce  fundata.  Diese  katho- 
lische Kirche  ist  für  ihn  nicht  nur  eine  Gemeinschaft  der 
Gläubigen,  sondern  eine  göttliche  Heilsanstalt,  aufserhalb  deren 
keine  Kettung  möglich  ist;  Epist.  73,21:  s<dus  caira  ecclcsiam 
non  est. 

Der  schöne  Gedanke  einer  katholischen,  alle  Christen  ver- 
einigenden Kirche,  für  welchen  Irenaeus,  Tertullian,  Cyprian 
und  viele  andere  sich  bemühten,  konnte  nicht  ohne  schwere 
Opfer  seiner  Verwirklichung  nähergebracht  werden.  Wie  ein 
Schiff  zwischen  links  und  rechts  drohenden  Klippen,  bald 
diesen,  bald  jenen  ausweichend,  mit  Mühe  und  Gefahr  seinen 
Kurs  nimmt,  so  mufste  die  Kirche  die  extremen  Richtungen, 
zu  welchen  die  Konsequenz  ihres  Grundgedankens  hindrängte, 
vermeiden,  indem  sie  zwischen  beiden  einen  Mittelweg  ein- 
schlug und  was  diesem  widerstrebte  entw^eder  als  Häresie 
ausschied  oder,  so  gut  es  gehen  wollte,  mit  ihren  Grund- 
anschauungen versöhnte,  wobei  nicht  selten  Worte  und  Formeln 
dienen  mufsten,  um  tiefer  liegende  Differenzen  zu  verdecken. 
So  hatte  die  Kirche  zwischen  dem  Ebionitismus,  welcher 
am  Alten  Testament,  dem  mosaischen  Gesetz  und  wohl  gar 
der  Beschneidung  festhielt  und  in  Christo  nur  den  letzten  und 
höchsten  der  Propheten  sah,  und  zwischen  dem  zum  Gnosti- 
zismus  ausartenden  Paulinismus,  welcher  möglichst  von  der 
alttestamentlichen  Grundlage  loszukommen  suchte,  einen  Mittel- 
weg eingeschlagen;  und  ebenso  versuchte  sie  auf  Kosten  der 
Konsequenz  die  Mitte  zu  halten  zwischen  den  extravaganten, 
mit  dem  weltlichen  Bestände  der  Kirche  unvereinbaren  aske- 
tischen Forderungen  des  Montanismus  und  andererseits 
gewissen  aus  der  Gnosis  hervorwachsenden  Richtungen 
antinomistischer  und  libertinistischer  Tendenz,  deren 
Anhänsrer  als  Pneumatiker  ihre  Erhabenheit  über  das  Gesetz 


328  XII.    Die  erste  Periode  der  Patristilc. 

des  Judengottes  selbst  durch  zügellose  Orgien  betätigt  haben 
sollen. 

Unter  den  zahlreichen  Streitigkeiten,  welche  die  Gemüter 
in  der  damaligen  Zeit  entzweiten  und  die  Einheit  der  Kirche 
gefährdeten,  war  keine,  welche  so  viel  Staub  aufwirbelte  und 
so  leidenschaftliche  Kämpfe  entfesselte,  wie  die  Frage  nach 
dem  Wesen  Christi  und  seinem  Verhältnis  zu  Gott  dem  \^ater. 
In  dieser  Frage,  welche  über  allen  Bereich  der  menschlichen 
Erfahrung  hinausführte  und  nur  durch  die  als  göttliche  Offen- 
barung anerkannten  Schriftworte  beantwortet  werden  konnte, 
welche  jedoch  einer  verschiedenen,  durch  kein  Erfahrungs- 
wissen kontrollierbaren  Auslegung  fähig  waren,  gingen  die 
Meinungen  der  Kirchenlehrer  weit  auseinander.  Viele  erklärten 
sich  für  den  streng  an  der  Einheit  Gottes  ([lovapyja)  fest- 
haltenden Monarchianismus.  Von  diesem  Standpunkte  aus 
eröffneten  sich  jedoch  für  die  Auffassung  der  Person  Christi 
zwei  ganz  entgegengesetzte  Wege.  Entweder  man  hielt  ihn 
für  einen  blofsen  mit  göttlicher  Kraft  ausgerüsteten  Menschen 
(dynamischer  Monarchianismus),  wodurch  man  in  die 
Häresie  der  Ebioniten  verßel,  oder  man  betrachtete  ihn  als 
einen  blofsen  Modus  des  einen  göttlichen  Wesens  (moda- 
listisc her  Monarchianismus),  eine  Annahme,  welche  dann 
wiederum  zu  der  unerträglichen  Konsequenz  führte,  dafs  der 
allmächtige  Gott  selbst  von  den  Juden  «'ekreuzio-t  worden  sei 
(Patripassianismus).  Auch  hier  schlug  die  Kirche  einen 
Mittelweg  ein  und  suchte  sich  bei  der  von  namhaften  Kirchen- 
lehrern wie  Irenaeus  und  Origenes  vertretenen  Theorie  zu  be- 
ruhigen, dafs  der  Sohn  zwar  von  Ewigkeit  her  vom  Vater  gezeugt, 
aber  doch  diesem   subordiniert   sei  (Subordinatianismus). 

Brennend  wurde  diese  Frage,  als  um  das  Jahr  318  zu 
Alexandria  der  Presbyter  Arius  den  alten  Subordinatianismus 
zu  der  Behauptung  zuspitzte,  der  Logos  sei  nicht  anfanglos, 
sondern  vor  der  Welt  als  erste  der  Kreaturen  von  Gott  ge- 
schaffen {iy.-[a~r^,  nicht  sYsvvT,trJ  und  dem  Vater  durchaus 
wesensungleich  (dvcij.cor  xaToc  -avTa  zf^^  toO  rcaTpbr  o'jj''arj. 
Ihm  trat  der  Diakonus  Athanasius  entgegen,  indem  er  lehrte, 
dafs  der  Sohn  mit  dem  Vater  wesensidentisch,  öaoo'jccr,  und 
von  Ewigkeit  her  vom  Vater  gezeugt  {^■)'^T)r^'Zr^,  nicht  t/.-'.aTr^} 


7.   Die  katholische  Kirclie.  329 

sei.  Beide  fanden  zahlreiche  Anhänger,  immer  heftiger  wogte 
der  Streit,  und  um  ihn  beizulegen,  legte  der  Kaiser  Constantin 
im  Jahre  325  auf  dem  Konzil  zu  Xicaea  in  Bithynien  den 
versammelten  Bischöfen  die  Frage  zur  Entscheidung  vor.  Ob- 
gleich eine  Majorität  widerstrebte,  wurde  doch  unter  dem 
Druck,  welchen  der  anwesende  Kaiser  auf  die  Versammlung 
ausübte,  eine  Formel  gefunden  und  zum  Beschlufs  erhoben, 
nach  welcher  der  Gottheit  nur  eine  Substanz  und  zugleich 
drei  Personen  beigelegt  wurden.  Die  bixoo'jaic-'qc,  hatte  gesiegt, 
Arius  wurde  verbannt  und  Athanasius  328  zum  Bischof  von 
Alexandria  erhoben.  Aber  der  Streit  sollte  noch  nicht  so  bald 
zur  Ruhe  kommen,  zumal  auch  Constantin  wieder  schwankend 
wurde  und  seine  Nachfolger  Constantius  ("f  361)  und  Valens 
("f  378)  einen  Mittelweg  suchten  und  die  Widerstrebenden, 
Valens  sogar  die  Semiarianer,  verfolgten.  Athanasius  wurde 
nicht  weniger  als  viermal  verbannt  und  viermal  zurückgerufen, 
bis  er  373  sein  wechselvolles  Leben  beschlofs,  ohne  den  vollen 
Sieg  seiner  Lehre  zu  erleben.  Der  Occident,  unterstützt  durch 
das  dem  Athanasius  ergebene  Mönchtum,  hielt  an  dem  Be- 
schlufs des  Nicaenum  fest,  während  man  im  Orient  sich  mehr 
dem  Arianismus  zuneigte,  der  ja  im  Grunde  nur  den  hier  von 
alters  her  herrschenden  Subordinatianismus  auf  eine  bestimmtere 
Formel  gebracht  hatte.  Eine  Reihe  von  Vermittlungsversuchen 
trat  hervor.  Wenn  der  strenge  Athanasianismus  an  der 
ewigen  Zeugung  des  Sohnes  durch  den  Vater  und  an  der 
vollen  Wesensgleichheit  aller  drei  Personen  festhielt,  be- 
haupteten die  Pneumatomachen  die  Wesensgleichheit  des 
Sohnes,  aber  nicht  des  Geistes,  die  Semiarianer  die  ewige 
Zeugung,  aber  nur  die  Wesensähnlichkeit,  die  Homoier  die 
Wesensähnlichkeit  ohne  ewige  Zeugung,  während  die  extremen 
Arianer,  die  sogenannten  Anomoier,  sogar  die  Wesensähnlich- 
keit bestritten.  Auf  zahlreichen  Synoden  wurde  bald  die  eine, 
bald  die  andere  Richtung  verdammt  und  über  ihre  Anhänger 
die  Verbannung  verhängt,  bis  endlich  mit  Theodosius  (379 — 
395)  ein  strenger  Athanasianer  auf  den  Thron  gelangte,  unter 
welchem  381  auf  der  Synode  zu  Konstantinopel  die  volle  c;j.g- 
o'jcio!.,  die  Wesensgleichheit  des  Sohnes  und  des  Geistes  mit 
dem   Vater   {uJ.t.   cjs-'a,   ~zi'.;    'j-z::-^.^^::,   utia   suhstantia,   trcs 


330  XII.   Die  erste  Periode  der  Patristik. 

2yrso)i(U'),  zum  festen  Kirchengesetze  erhoben  wurde.  Auf 
derselben  Synode  wurde  der  Grund  zu  neuen  Streitigkeiten 
über  die  in  der  Person  Christi  vereinigten  beiden  Naturen  ge- 
legt, deren  weitere  Entwickluno-  der  folgenden  Periode  angehört. 


XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik: 

Vom  Konzil  zu  Nicaea  bis  auf  Karl  den  Großen 
(325—800  p.  C). 

1.  Geschichtlicher  Überblick. 

Unter  Constantin  hatte  das  Christentum  im  weiten  römi- 
schen Weltreiche,  wenn  auch  wohl  noch  nicht  die  Hälfte  seiner 
Bewohner  Christen  waren,  volle  staatliche  Anerkennung  er- 
langt. Nicht  durch  Bedrückung  des  Heidentums,  welche  sich 
schon  durch  die  immer  noch  grofse  Anzahl  seiner  Anhänger 
verbot,  sondern  durch  die  zahlreichen,  unter  Constantin  und 
seinen  Nachfolgern  dem  Christentum  gewährten  Privilegien^ 
Schenkungen,  Stiftungen  usw.  wuchs  die  Kirche  mächtig  an, 
und  es  waren  nicht  immer  die  besten  Elemente,  welche,  durch 
äufsere  Vorteile  verleitet,  nicht  nur  die  Zahl  ihrer  Bekenner, 
sondern  auch  die  des  höhern  und  niedern  Klerus  bald  ins  Un- 
gemessene vermehrten. 

Die  nächste  Folge  dieser  Erscheinung  war  eine  starke 
Verweltlichung  sowohl  der  Kirche  im  allgemeinen,  als  auch 
der  schnell  zu  Macht  und  Keichtum  gelangten  Priesterschaft, 
und  als  Reaktion  gegen  diesen  zunehmenden  Weltsinn  ent- 
wickelte sich  das  schon  vom  heiligen  Antonius  in  Ägypten 
(251 — 356  p.  C.)  durch  Lehre  und  Beispiel  kräftig  geförderte 
Mönchswesen,  welches  namentlich  im  Orient  infolge  der 
Neigung  zu  einem  beschaulichen  Leben  grofse  Ausbreitung 
fand,  während  im  Abendlande  Athanasius  nach  seiner  Ver- 
bannung nach  Trier  zu  demselben  anregte  und  Benedictus  von 
Nursia  durch  Gründung  des  Klosters  auf  dem  Monte  Cassino 
(529  p.  C.)  Vorbild  und  Regel  für  hundert  ähnliche  An- 
stalten schuf. 


1.   GeschichtlicLor  Überblick.  331 

Eine  weitere  Folge  der  staatlichen  Anerkennung  des 
Christentums  war  eine  starke,  die  Freiheit  der  Entwicklung 
hemmende  und  störende  Abhängigkeit  von  der  Staats- 
regierung, namentlich  von  dem  Kaiser  und  seinem  Hofe. 
Die  aristokratische  Presbyterialverfassung  der  alten  Zeit  war 
in  ein  monarchisches  Regiment  der  Bischöfe  übergegangen; 
unter  ihnen  beanspruchten  die  Bischöfe  der  Provinzialhaupt- 
städte  und  unter  diesen  wiederum  die  seit  der  Teilung  des 
Reiches  in  Diözesen  über  ihnen  stehenden  Patriarchen  zu 
Konstantinopel,  Antiochia,  Alexandria  und  Rom  eine  domi- 
nierende Stellung.  Über  die  Provinzialsynoden  erhoben  sich  die 
ökumenischen  Synoden  oder  Konzilien,  welche  auf  Anordnung 
des  Kaisers  und  nicht  selten  unter  seiner  persönlichen  Leitung 
stattfanden,  wodurch  der  Kaiser  und  die  Hofkamarilla  einen 
oft  unheilvollen  Einflufs  auf  die  Entwicklung  der  kirchlichen 
Lehre  und  Verfassung  gewannen.  So  blieb  denn  der  Schatz 
ewiger  Wahrheiten  nicht  nur  in  den  irdenen  Gefäfsen  fest 
eingeschlpssen,  sondern  diese  Gefäfse  waren  fürs  erste  auch 
Händen  anvertraut,  welche  zu  deren  Bewahrung  weder  ganz 
würdig  noch  auch  fähig  waren,  und  erst  dem  germanischen 
Genius  war  es  vorbehalten,  nach  Zertrümmerung  des  morschen 
Römischen  Reiches  und  nach  Wiedergeburt  des  antiken  Geistes 
in  der  Renaissance,  durch  die  deutsche  Reformation  und  durch 
die  ihr  Werk  weiter  und  zu  Ende  führende  deutsche  Philo- 
sophie die  Segnungen  des  Christentums  auch  für  die;jenigen 
nutzbar  zu  machen,  welche  das  kirchliche  Dogma  mit  seinen 
Härten  zu  ertragen  nicht  vermochten. 

Bis  dahin  war  freilich  noch  ein  weiter  Weg.  Zunächst 
hatten  die  germanischen  Stämme  nicht  versäumt,  das  zer- 
fallende Weströmische  Reich  in  Besitz  zu  nehmen  und  Italien 
und  Afrika,  Spanien  und  Gallien  mit  ihren  Horden  zu  überfluten. 
Der  Ausspruch  des  Maharbal  nach  der  Schlacht  bei  Cannae 
(Liv.  XXH,  51):  vinccrc  sa's,  Hannihal,  vicioria  nti  ncscis,  läfst 
sich  auch  auf  das  römische  Weltreich  und  seine  Geschichte 
anwenden.  Hatten  die  Römer  es  verstanden,  durch  Tapferkeit 
und  List  alle  Völker  um  das  Mittelmeer  her  zu  einem  grofsen 
Reiche  zu  vereinigen,  so  fehlte  ihnen  doch  die  Fähigkeit, 
diesem  Reiche  eine  Organisation  zu  geben,  welche  gleich  sehr 


332  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patriätik. 

den  Bestand  nach  innen  und  den  Schutz  nach  aufsen  auf  die 
Dauer  sichergestellt  hätte.  Es  ist  naturgemäfs,  dafs  mit  der 
Oröfse  eines  Reiches  auch  seine  Macht  zunimmt,  und  wenn 
schon  Livius  klagt,  dafs  Rom  an  seiner  eigenen  Gröfse  leide 
(nt  iam  magnitudhie  lahorct  suaj,  so  erklärt  sich  dieses  para- 
doxe Wort  nur  daraus,  dafs  die  organische  Gliederung  fehlte, 
welche  die  Vielheit  zur  Einheit  zusammenzuschliefsen  und  den 
einheitlichen  Willen  der  regierenden  Macht  durch  Glieder  und 
Unterglieder  bis  zu  den  letzten  Verzweigungen  des  Staats- 
organismus zur  Geltung  zu  bringen  vermocht  hätte.  Die  selt- 
same Erscheinung,  dafs  die  spätem  römischen  Kaiser  es  für 
nötig  fanden,  Augusti  und  Caesarcs  zu  ihren  Mitregenten  zu 
bestellen,  beweist  genugsam,  dafs  über  der  Vielheit  der  Teile 
die  Einheit  des  Ganzen  anfing  verloren  zu  gehen,  und  diese 
Mitregentschaften  waren  nur  das  Vorspiel  zu  dem  unheilvollen 
Schritt,  welchen  Theodosius,  der  sogenannte  Grofse,  tat,  als 
er  im  Jahre  395  p.  C.  das  Reich  unter  seine  beiden  unmündigen 
Söhne  Arcadius  und  Honorius  teilte  und  so  zwei  dujch  Eifer- 
süchtelei und  heimliche  Begünstigung  der  Gegner  sich  gegen- 
seitig schädigende  Monarchien  schuf,  gerade  zu  der  Zeit,  wo 
ein  Zusammenhalten  gegen  die  von  Norden  anstürmenden 
Barbaren  nötiger  als  je  gewesen  wäre.  Hatte  doch  eben  erst, 
seit  375,  das  asiatische  Reitervolk  der  Hunnen  die  in  Süd- 
rufsland östlich  und  westlich  vom  Dnjepr  angesiedelten  Ost- 
goten und  Westgoten  aus  ihren  Wohnsitzen  aufgestört,  wo- 
durch diese  veranlafst  wurden,  von  Mösien  und  Pannonien 
aus  beide  Bruderreiche  zu  bedrängen.  Der  Westgotenkönig 
Alarich  wendet  sich  nach  einem  Raubzuge  in  Griechenland 
gegen  das  Weströmische  Reich,  wo  er  nach  wiederholten  Ein- 
fällen 410  Rom  erobert  und  plündert,  aber  auf  seinem  weitern 
Zuge  in  Süditalien  stirbt;  seine  Westgoten  ziehen  nach 
Gallien  und  Spanien,  verdrängen  von  dort  die  Vandalen  und 
gründen  in  Südgallien  und  Spanien  415  das  Westgotenreich, 
welches  in  Spanien  dreihundert  Jahre  bis  zu  seiner  Vernichtung 
durch  die  Araber  im  Jahre  711  besteht.  Die  von  ihnen  ver- 
drängten Vandalen  setzen  nach  Afrika  über,  wo  sie  429  das 
bis  534  bestehende  Vandalenreich  gründen,  die  Küsten  der 
Mittelmeerländer    auf    ihren    Raubzügen    verwüsten    und    im 


1,    Geschichtlicher  Überblick.  333 

Jahre  455  die  Stadt  Rom  vierzehn  Tage  lang  pUindern.  In  Itahen 
folgen  auf  Valentinian  III.  seit  455  eine  Reihe  machtloser,  teils 
von  Ostrom,  teils  von  dem  Suevenführer  Ricimer  eingesetzte 
und  abgesetzte  Kaiser,  bis  endlich  476  Odoaker  den  letzten 
Kaiser  Romulus  Augustulus  entthront,  aber  schon .  493  von 
Theoderich  dem  Grofsen  besiegt  und  getötet  wird,  welcher  das 
bis  553  in  Italien  bestehende  Ostgotenreich  gründet.  In- 
zwischen sind  die  Franken  unter  Chlodwig  vom  Mittel-  und 
Niederrhein  her  in  Gallien  vorgedrungen  und  haben  nach  den 
Siegen  bei  Soissons  (486)  und  am  Oberrhein  (496)  im  nörd- 
lichen Gallien  das  Frankenreich  gegründet,  so  dafs  um  das 
Jahr  500  sämtliche  Hauptländer  des  Weströmischen 
Reiches  in  Händen  germanischer  Stämme  sind,  von 
denen  die  Ostgoten  Italien,  die  Vandalen  Afrika,  die  West- 
goten Spanien  und  die  Franken  Gallien  beherrschen. 

Mit  Ausnahme  der  Franken,  welche  infolge  des  Gelübdes 
des  Chlodwig  in  der  Schlacht  am  Oberrhein  den  katholischen 
(athanasianischen)  Glauben  angenommen  hatten,  waren  alle 
diese  germanischen  Stämme  ursprünglich  Anhänger  des  Arianis- 
mus,  welcher  sich  schon  wegen  seiner  gröfsern  Fafslichkeit 
den  einfachen  Naturmenschen  empfehlen  mochte  und  durch 
Ulfilas,  Bischof  der  Goten  (311—383),  unter  den  Westgoten 
Verbreitung  fand,  von  denen  Ostgoten,  Vandalen  und  Sueven 
ihn  überkommen  hatten.  Mit  Ausnahme  der  Vandalen,  welche 
ihrem  Charakter  gemäfs  die  Athanasianer  mit  Härte  verfolgten, 
wurde  die  katholische  Lehre  von  den  germanischen,  dem 
Arianismus  huldigenden  Eroberern  nicht  weiter  bedrückt,  nur 
dafs  der  konfessionelle  Unterschied  zur  Abgrenzung  den  ger- 
manischen Siegern  gegenüber  der  von  ihnen  beherrschten  Be- 
völkerung nicht  unwillkommen  war.  Übrigens  wurden  nach 
und  nach  alle  diese  Stämme  für  den  Katholizismus  gewonnen, 
zu  welchem  die  Burgunder  im  Jahre  517,  die  Sueven  550,  die 
Langobarden  587  und  die  Westgoten  589  übertraten. 

Während  der  politischen  Wirren  dieser  Zeiten  wufste  der 
Römische  Stuhl  durch  kluge  Benutzung  der  jedesmaligen  Kon- 
stellation, ungeachtet  mancher  vorübergehenden  Demütigungen, 
sein  Ansehen  namentlich  durch  die  Energie  Leos  I.  (440 — 461) 
und  Gregors  I.  (590 — 604)  zu  behaupten  und  zu  erweitern.    Ein 


334  Xlir.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

reicher  Besitz  von  Ländereien  in  allen  Teilen  Italiens,  das 
sogenannte  Patrimoniiim  Petri,  und  das  dem  Papste  {jiapu, 
offiziell  zuerst  seit  502  so  genannt)  zustehende  Recht  der 
niedern  Jurisdiktion  auf  diesen  Gebieten  machte  es  Gregor  I. 
möglich,  in  den  Verhandlungen  mit  den  eingedrungenen  Lango- 
barden als  weltlicher  Herrscher  aufzutreten. 

Inzwischen  hatte  das  Oströmische  Reich  von  der  Be- 
drängung durch  die  Hunnen  seit  dem  Tode  des  Attila  sich 
wieder  erholt  und  war  unter  der  aus  dem  Bauernstande  hervor- 
gegangenen Dynastie  des  Justinus  I.  (518 — 527)  und  seines 
Neffen  Justinian  L  (527 — 565)  zu  neuem  Ansehen  gelangt,  so 
dafs  man  daran  denken  konnte,  die  an  die  Vandalen  und  Ost- 
goten verlorenen  Provinzen  Afrika  und  Italien  dem  Ost- 
röniischen  Reiche  zu  gewinnen.  Den  mit  Mifstrauen  und  Un- 
dank vergoltenen  Bemühungen  des  Belisar  gelang  es  534,  das 
Vandalenreich  zu  vernichten  und  die  Ostgoten  in  Italien  mit 
Erfolg  zu  bekämpfen.  Ihm  folgte  nach  seiner  Abberufung  der 
Eunuch  Narses,  welcher  das  Ostgotenheer  unter  seinen  letzten 
Königen  Totila  und  Teja  aufrieb  und  Italien  553  zu  einem 
byzantinischen  Exarchat  machte,  welches  fünfzehn  Jahre  später 
durch  den  Einfall  der  Langobarden  auf  Venedig,  Ravenna  und 
Calabrien  eingeschränkt  wurde,  während  das  neuerrichtete 
und  bis  nach  Süditalien  sich  erstreckende  Reich  der  Lango- 
barden über  zweihundert  Jahre  bis  zu  seiner  Eroberung  durch 
Karl  den  Grofsen  (774)  Italien  abermals  unter  germanische 
Herrschaft  brachte. 

Verhängnisvoller  für  das  byzantinische  Kaiserreich  als  die 
fortgesetzten  Bedrohungen  durch  die  Perser  im  Osten  und  die 
Bulgaren  und  Serben  im  Norden  wurden  ihm  nach  Begründung 
des  Islam  die  Einfälle  der  Araber.  Dem  Kalifen  Omar  (1)34—044) 
gelang  es,  nach  Zerstörung  des  Perserreiches  im  folgenden 
Jahre  Jerusalem  Qi^d>^  und  Alexandria  G42  zu  erobern  und  da- 
durch die  Provinzen  Syrien  und  Ägypten  vom  Oströmischen 
Reiche  für  immer  loszureifsen.  \\'eitere  Eroberungen  der  Ka- 
lifen hatten  zur  Folge,  dafs  nach  der  Zerstörung  Karthagos 
(t)97)  ganz  Afrika  dem  Byzantinischen  Reiche  und  nach  der 
Schlacht  am  Wadi  Bekka  (711)  fast  das  ganze  Spanien  den 
Westgoten    entrissen    und    dem    srofsen    Reiche    der    Kalifen 


1.   Geschichtlicher  Clcrblick.  335 

«inverleibt  wurden,  welches,  vom  Indus  bis  zum  Atlantisehen 
Ozean  sich  erstreckend,  die  Expansion  des  Oströmischen, 
Langobardischen  und  Fränkischen  Reiches  nach  Süden  hin 
auf  Jahrhunderte  unmöglich  machte  und  die  christliche  Welt 
auf  die  Länder  nördlich  vom  Mittelmeer  einschränkte,  während 
-dieselbe  nach  Norden  zu  durch  eine  Kette  heidnischer,  dem 
Christentum  und  der  Zivilisation  noch  nicht  erschlossener 
Völker  abgegrenzt  wurde.  Nach  Niederwerfung  der  Langobarden 
•durch  Pipin  (754)  und  durch  Karl  den  Grofsen  (774)  sind  es 
neben  dem  absterbenden  Byzantinischen  Reiche  und  dem  durch 
die  Karolinger  in  seinem  Besitztum  gesicherten  Kirchenstaate 
vor  allem  die  unter  dem  Soepter  Karls  des  Grofsen  vereinigten 
germanischen  Stämme,  in  deren  Händen  die  Aneignung  und 
Fortentwicklung  der  antiken  Kultur  und  mit  ihr  des  christ- 
lichen Gedankens  liest. 


•2.  Die  monophysitischen  und  inonotheletischen  Streitig'keiten. 

Der  Gedanke  eines  Mensch  gewordenen  Gottes  liefs  sich 
als  volkstümliche  Vorstellung  ertragen;  sobald  man  aber  ver- 
suchte, diesen  Gedanken  psj'chologisch  zu  konstruieren  und 
dadurch  wissenschaftlich  begreiflich  zu  machen,  mufste  sich, 
je  länger  je  mehr,  die  völlige  Unmöglichkeit  herausstellen, 
■die  ganze  zugrunde  liegende  Idee  eines  Gott-Menschen  zu  ver- 
stehen, und  diese  Unmöglichkeit  zum  deutlichen  Bewufstsein 
gebracht  zu  haben,  das  dürfte  wohl  das  eigentliche  positive 
Ergebnis  der  monophysitischen  und  monotheletischen  Streitig- 
keiten gewesen  sein,  welche  jahrhundertelang  unter  allgemeinster 
Teilnahme  von  Kaiser  und  Hof,  Patriarchen  und  Bischöfen, 
Priestern,  Mönchen  und  Volk  mit  Erbitterung  geführt  wurden 
und  zu  zahlreichen  Verketzerungen,  Verfolgungen  und  Verban- 
nungen wohlgesinnter  und  hochgebildeter  Männer  Anlafs  gegeben 
haben.  Wir  können  uns  hier  begnügen,  diese  unfruchtbaren 
Streitigkeiten  in  ihren  allgemeinsten  Umrissen   zu  verfolsen. 

Auch  hier  mufs  man  in  der  Weise  des  Thukydides  die 
•eigentlich  tiefere  Ursache  von  dem  unmittelbaren  äufsern 
Anlafs  unterscheiden.  Die  Ursache  lag  in  der  Grundidee  des 
Christentums  vom  Gott-Menschen,  den  äufsern  Anlafs  bildete 


336  XIII.   Die  zweite  Periode  der  l'atristik. 

ein  Einfall  des  Bischofs  Apollinaris  von  Laodicea,  welcher, 
ausgehend  von  der  aristotelischen  Dreiteilung  des  Menschen 
in  crö[jLa  (Leib),  'h'jyji  (Seele)  und  voOc  (Geist),  die  Hypothese 
aufstellte,  daXs  bei  Christo  an  Stelle  des  allen  Menschen 
eigenen  vcüc  der  göttliche  Acyc;  getreten  sei.  Diese  Auffassung 
widersprach  aber  der  kirchlichen  Lehre,  dafs  Christus  nicht 
nur  wahrer  Gott,  sondern  auch  wahrer  Mensch  gewesen  sei; 
und  wie  hätte  er  auch  sonst  durch  seinen  Opfertod  für  die 
Sünden  der  Menschen  bezahlen,  wie  hätte  er  den  Menschen 
ein  sittliches  Vorbild  sein  können,  wenn  er  nicht  die  mensch- 
liche Natur  voll  und  ganz  angenommen  hätte?  Die  Meinung 
des  Apollinaris  stiefs  denn  auch  alsbald  auf  den  lebhaftesten 
Widerspruch,  wurde  377  und  382  zu  Rom  sowie  378  zu 
Antiochia  als  Irrlehre  verworfen,  und  auf  der  ersten  Kon- 
stantinopolitaner  Synode  im  Jahre  381  (oben  S.  329)  wurde 
ihr  als  kirchliches  Dogma  entgegengestellt,  dafs  Christus 
wahrer  Gott  und  zugleich  doch  ein  wahrer  und  vollständiger 
Mensch  gewesen  sei.  Am  schärfsten  drückt  dies  Augustinus 
aus,  wenn  von  ihm  Epist.  137  Christus  bezeichnet  wird  als 
i»  unitatc  pcrsonuc  copulans  ufranirptc  naturam.  Christus  sollte 
also  zwei  Naturen,  eine  göttliche  und  eine  menschliche,  und 
nichtsdestoweniger  nur  eine,  in  sich  einheitliche  Person  be- 
sessen haben.  Hiermit  aber  war  dem  menschlichen  Denken 
ein  schweres  oder,  richtiger  gesagt,  ein  unlösbares  Problem 
aufgegeben  worden.  Denn  wenn  wir  unter  Natur  die  Gesamt:- 
heit  der  Merkmale  verstehen,  welche  einem  Wesen  zukommen, 
so  können  diese  Merkmale  entweder  als  ohne  Widerspruch 
mit  einander  vereinbar  gedacht  werden,  und  dann  bilden  sie 
zusammen  nicht  zwei  Naturen,  sondern  eine,  oder  diese  Merk- 
male sind  als  göttlich  und  menschlich,  leidlos  und  leidend, 
unsterblich  und  sterblich,  einander  kontradiktorisch  entgegen- 
gesetzt, und  dann  können  sie,  nach  dem  Satze  des  Wider- 
spruches, nicht  in  einer  Person,  d.  h.  in  einem  Individuum 
zusammen  bestehen;  denn,  wie  schon  Aristoteles  (Metaphysik 
IV,  3,  p.  lOOöb  19)  sagt:  xö  yap  auTÖ  a[j.a  uTrapyet.v  xe  xal  ]xr\ 
hKtxgiuv  aSuvaxov  x«  auxo  xai.  xaxa  xö  aüxo,  „es  ist  unmög- 
lich, dafs  einem  und  demselben  in  derselben  Hinsicht  eines 
und  dasselbe  zukomme  und  zugleich  nicht  zukomme".    Legte 


2.   Die  mouophysitiscbcn  und  monotheletischen  Streitigkeiten.     537 

man  bei  Christo  den  Nacluiruck  auf  die  untrennbare  Einheit 
der  Person,  so  liel's  sich  die  Zweiheit  der  Naturen  nicht  aul- 
rechthalten;  betonte  man  hingegen  die  Zweiheit  der  Naturen, 
so  lief  die  Einheit  der  Person  Gefahr,  in  eine  göttliche  und 
eine  menschhche  Person  auseinandergerissen  zu  werden.  Auf 
Grund  dieses  Dilemmas  entwickelten  sich  zwei  Schulen,  welche 
sich  unter  einander  auf  das  heftigste  befehdeten,  die  alexan- 
drinische,  vertreten  namentlich  durch  die  drei  grol'sen 
Kappadokier,  ßasilius  den  Grofsen,  Gregor  von  Nyssa  und 
Gregor  von  Xazianz,  welche  in  mystischer,  mehr  das  Gefühl 
als  den  Verstand  befriedigender  Weise  das  Göttliche  und 
Menschliche  in  Christo  (etwa  wie  in  einer  glühenden  Eisen- 
kugel das  Eisen  und  die  Glut)  in  inniger  Durchdringung  an- 
schauten, wobei  aber  die  Zweiheit  der  Naturen  nicht  bestehen 
konnte,  —  und  in  eine  antiochenische,  deren  bedeutendster 
Vertreter  Theodoros  von  Mopsuestia  (Mc'jioy  ka-la.)  in  Cilicien. 
war,  welche  in  verstandesmäfsiger  Form  die  Zweiheit  der 
Naturen  auseinanderhielt,  die  rein  menschliche  Entwicklung 
Jesu  mit  Vorliebe  verfolgte,  diese  aber  mit  seiner  göttlichen. 
Natur  als  Einheit  zusammenzudenken  nicht  mehr  vermochte. 

Bald  bemächtigte  sich  das  hierarcliische  Interesse  dieses 
Zwiespalts  und  suchte  ihn  für  sich  auszunutzen.  Den  ersten 
Schlag  führte  Tlieophilus,  der  herrschsüchtige  Patriarch  von* 
Alexandria,  indem  er  den  als  Kanzelredner  berühmten,  aber 
wegen  seiner  Sittenstrenge  beim  Klerus  wie  bei  der  Kaiserin 
Eudoxia,  Gemahlin  des  Arkadius,  unbeliebten  Patriarchen  von 
Konstantinopel,  Johannes  Chrysostomus,  der  Ketzerei  be- 
schuldigte. Auf  der  bei  Chalkedon  od  quercmn  403  abgehaltenen 
Synode  wurde  Chrysos'tomus  abgesetzt  und  verbannt,  sehr 
bald  freilich,  um  die  Entrüstung  des  Volkes  über  diese  Be- 
handlung des  gefeierten  Kanzelredners  zu  beschwichtigen, 
zurückberufen;  als  er  jedoch  sich  unbeugsam  zeigte,  wurde 
er  Pfingsten  404  durch  eine  neue  Synode  abgesetzt  und  nach 
Armenien  verbannt,  wo  er  407  starb. 

In  eine  neue  und  heftigere  Phase  trat  der  Konflikt  zwischen 
der  alexandrinischen  und  antiochenischen  Schule,  nachdem  412 
der  streitsüchtige  Cyrill  den  Patriarchenstuhl  von  Alexandria 
bestiegen  hatte,  und  Nestorius,  ein  Antiochener  und  Schüler 

,   Deussex,  Geschichte  dor  l'hilosophie.     11.  ii,2.  22 


338  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

des  Theodoros  von  Mopsuestia  seit  428  als  Patriarch  von  Kon- 
stantinopel sich  gegen  die  dem  Volke  teure  Bezeichnung  der 
Maria  als  '^t.ozcy.oQ .  [deipara,  Gottesgebärerin)  erklärt  hatte,  da 
Maria  nur  den  Menschen  Jesus,  nicht  aber  den  in  ihm  wohnen- 
den und  von  Ewigkeit  vom  Vater  gezeugten  aö^oc  habe  ge- 
bären können.  Beide  Kirchenfürsten,  Cyrill  und  Nestorius, 
überschütteten  sich  mit  Anathematismen.  Eine  Synode  wurde 
431  zu  Ephesus  anberaumt,  wo  Cyrillus  in  überstürztem  Ver- 
fahren die  Verurteilung  des  Nestorius  durchsetzte,  welcher 
zwei  Jahre  darauf  von  dem  schwachen  Theodosius  IL,  um 
eine  Union  beider  Parteien  herbeizuführen,  fallen  gelassen  und 
in  die  thebaische  Wüste  verbannt  wurde,  wo  er  440  einsam 
und  verlassen  starb.  Noch  heftiger  entbrannte  der  Streit,  nach- 
dem 444  Dioskuros  dem  Cyrill  als  Patriarch  von  Alexandria 
gefolgt  war,  und  sein  Schützling,  ein  gewisser  Eutyches,  Abt 
in  Konstantinopel,  die  göttliche  Natur  Christi  so  stark  betonte, 
dafs  er  der  längst  verurteilten  Ketzerei  des  Christo  nur  einen 
Scheinleib  zugestehenden  Doketismus  sich  in  bedenklicher 
Weise  annäherte.  Eutyches' wurde  von  Flavian,  Patriarchen 
von  Konstantinopel,  abgesetzt,  beide  appellierten  an  Leo  den 
Grofsen  zu  Rom,  der  in  seiner  Epistola  ad  Flavianum  sich  für 
dessen  Zweinaturenlehre  erklärte,  während  der  Kaiser  Theo- 
dosius, um  den  Streit  zu  schlichten,  440  eine  abermalige  Synode 
nach  Ephesus  berief.  Sie  wird  die  Räubersynode  (cüvoSo^ 
X'TjGTpt.xi] ,  latrocinium  Ephesmum)  genannt,  weil  auf  ihr  Dios- 
kuros, gefolgt  von  einem  Aufgebot  bewaffneter  Soldaten, 
rabiater  Mönche  und  fanatischer  Pöbelhaufen,  unter  Mifshand- 
lung  der  Gegner  die  Wiedereinsetzung  des  Eutyches  und  die 
Exkommunikation  der  Antiochener  mit"  Einschlufs  des  auf  ihre 
Seite  getretenen  Leo  von  Rom  durchsetzte. 

Im  folgenden  Jahre  starb  der  solchen  Schwierigkeiten 
nicht  gewachsene  Kaiser  Theodosius  IL;  seine  energische 
Schwerter  Pulcheria  bestieg  mit  ihrem  Gatten  Marcianus  den 
byzantinischen  Kaiserthron,  und  beide  beraumten  451  ein 
ökumenisches  Konzil  zu  Chalkedon  an,  auf  welchem  die  alexan- 
drinische  Auffassung  von  der  einheitlichen  Natur  Christi  als 
monophysi tische  Ketzerei  verworfen,  Dioskuros  nebst  Eutyches 
abgesetzt  und  eine  vom  römischen  Patriarchen  Leo  I.  in  seiner 


2.  Die  monopliysitisclicii  und  monotheletischen  Streitigkeiteu.      339 

Epistola  ad  Flavianum  entworfene  Formel  zum  Dogma  er-* 
hoben  wurde.  Der  wesentlichste  Inhalt  derselben  lautet:  salvä 
propridatc  idrinsquc  natiirae  et  in  unam  coeimte  personam  im- 
jiassibil/'s  dens  fion  dcdignaius  est  hämo  esse  x)assibäis  et  rm- 
mortaUs  mortis  legibus  suhiacere;  qui  enim  verus  est^deus,  idem 
rerus  est  homo^  m/it  idraque  forma  cum  alterius  communione, 
qnod  proprium  est;  propter  hanc  unitateui  personae  in  idraque 
natura  intelligendam,  et  filius  hominis  legitur  dcscendisse  de  codo 
et  rursus  filius  dei  crucifixus  dicitur  ac  sepultus.  „Indem  die 
Eigentümlichkeit  jeder  der  beiden  Naturen  bestehen  bleibt, 
aber  in  einer  Person  sich  verbindet,  hat  der  vom  Leiden  freie 
Gott  es  nicht  verschmäht,  ein  dem  Leiden  unterworfener 
Mensch  zu  werden  und  als  Unsterblicher  den  Gesetzen  des 
Todes  zu  unterliegen;  er  ist  ein  wahrer  Gott  und  eben  der- 
selbe ist  ein  wahrer  Mensch;  jede  dieser  beiden  Formen  be- 
wirkt in  Gemeinschaft  mit  der  andern  das,  was  ihrer  Natur 
entspricht;  vermöge  dieser  Einheit  der  Person,  welche  zu  be- 
greifen ist  als  in  beiden  Naturen  bestehend,  ist  nach  der  Schrift 
einerseits  des  Menschen  Sohn  vom  Himmel  herabgestiegen, 
und  andererseits  der  Sohn  Gottes  gekreuzigt  und  begraben 
worden."  Die  in  dieser  Formel  behauptete  unzertrennliche 
Einheit  der  Person  und  dabei  fortwährend  in  jedem  Akte 
des  Lebens  sich  betätigende  Zweiheit  der  Naturen  liefs 
sich  wohl  mit  Worten  sagen,  nicht  aber  in  Begriffen  denken 
oder  irgendwie  verstehen.  Es  ist  daher  begreiflich,  dafs  keine 
der  beiden  Parteien  mit  ihr  sich  zufrieden  gab;  die  Mono- 
physiten  in  Syrien  und  Ägypten  sagten  sich  von  der  Kirche 
los  und  spalteten  sich  in  der  Folge  in  zahlreiche  Sekten, 
während  andererseits  die  persische  Kirche  ihren  eigenen  durch 
Nestorius  vorgezeichneten  Weg  ging.  Es  kam  sogar  zu  einer 
vorübergehenden  Spaltung  zwischen  der  römischen  und  grie- 
chischen Kirche  (484 — 519),  sowie  unter  Justinian  543  zu  einer 
Verurteilung  der  dem  ganzen  Streite  zugrunde  liegenden  Doktrin 
des  Origenes  (oben  S.  320),  ohne  dafs  die  Innern  Wirren  ge- 
hoben wurden,  während  die  Bedrohung  des  zerrütteten  Reiches 
durch  äufsere  Feinde  nah  und  immer  näher  rückte.  In  dieser 
Not  unternahm  der  Kaiser  Heraklius  (610—641)  einen  letzten 
Versuch,  die  im  Orient  zahlreichen  Monophysiten  zu  gewinnen, 

22* 


340  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

wodurch  aber  nur  als  Nachspiel  der  monophysitischen  Streitig- 
keiten der  monotheletische  Streit  heraufbeschworen  wurde- 
Hei'aklius  hatte  die  Patriarchen  von  Konstantinopel  und  Alexan- 
dria für  die  Anschauung  gewonnen,  dafs  in  Christo  nur  ein 
gottmenscli,licher  Wille  bestanden  habe,  und  auch  der  römische 
Papst  Honorius  hatte  seine  Zustimmung  dazu  gegeben.  In- 
dessen stellten  weitere  Verhandlungen  und  Vermittlungsver- 
suche immer  klarer  heraus,  dafs  dieser  Monotheletismus  doch 
nur  ein  verschleierter  Monophysitismus  sei,  und  dafs  das 
Dogma  von  den  zwei  Naturen  notwendig  auch  die  Annahme 
von  zwei  Willen  in  Christo  erfordert,  und  so  wurde,  nachdem 
schon  die  Hauptsitze  des  Monophysitismus,  Syrien  und  Ägypten, 
638  und  642  unwiederbringlich  an  die  Araber  verloren  ge- 
gangen waren,  680  auf  der  Synode  von  Konstantinopel  auf 
Grund  eines  Sendschreibens  des  Papstes  Agatho,  nach  welchem 
in  Christo  Suo  (p^jav/A  ^£Ar,[j.aTa  dhl'xlgi-^^ic,  axpezTG^r,  d;xspiCT(or, 
dauyX^Twc;  oh^i  uTrsvavTLa  dXAa  src'j.evov  t6  dv'ij'poTit.vov  xal  {iTcc- 
Tacac[j.evov  xw  'i'su.),  „zwei  natürliche  Willen  untrennbar,  un- 
wandelbar, unteilbar  und  un vermischbar,  jedoch  nicht  ein- 
ander widerstreitend,  sondern  so,  dafs  der  menschliche  Wille 
dem  göttlichen  folgsam  und  Untertan  gewesen  sei",  bestanden 
hätten.  Bei  dieser  Formel  beruhigte  man  sich,  die  Anhänger 
des  Monotheletismus,  unter  ihnen  auch  der  Papst  Honorius, 
wurden  als  Irrlehrer  verdammt,  und  dieses  Verdammungsurteil 
seines  Vorgängers  auf  dem  Römischen  Stuhle  wurde  von  dem 
Papste  Leo  II.  ausdrücklich  bestätigt. 

3.  Der  Frädestinationsstreit :  Augrustinns. 

Während  in  den  monophysitischen  und  monotheletischen 
Streitigkeiten  die  Kirche,  namentlich  die  orientalische,  ihre 
Kräfte  in  der  Diskussion  unfruchtbarer,  durch  keine  Erfahrung 
erweisbarer  und  freilich  auch  durch  keine  Erfahrung  wider- 
legbarer Lehrmeinungen  verbrauchte,  entspann  sich  in  dem 
mehr  auf  praktische  Fragen  gerichteten  Abendlande  ein  Kampf, 
dessen  Bedeutung  weit  über  das  Zeitalter  und  die  Formen, 
welche  er  in  demselben  annahm,  hinausreichte,  indem  er  ein 
Problem  behandelte,  welches  auch  heute  noch  das  Nachdenken 


*  3.   Der  Prädestinationsstreit:  Augustinus.  341 

des  Menschen  beschäfti2;t  und  in  alle  Zukunft  beschäftigen 
wird,  die  Frage  nach  der  Unfreiheit  oder  Freiheit  des 
menschlichen  Willens. 

Es  gibt  ein  Naturgesetz,  welches  alles  Endliche  ohne  Aus- 
nahme beherrscht,  das  Gesetz  der  Kausalität.  Dieses  Gesetz 
besagt,  dafs  jede  Veränderung  in  der  Natur  eine  Wirkung 
ist  und  nur  erfolgen  kann,  aber  unausbleiblich  erfolgen  mufs, 
nachdem  ihr  gewisse  andere  Veränderungen,  welche  wir  darum 
als  die  Ursache  jener  Wirkung  bezeichnen,  vorangegangen 
sind.  Auch  jede  Handlung  des  Menschen  ist  eine  Wirkung 
und  folgt,  wie  alles  in  der  Natur,  mit  Notwendigkeit  aus  ihrer 
Ursache,  welche  in  diesem  Falle  aus  zwei  Komponenten  be- 
steht, einerseits  den  von  aufsen  an  uns  herantretenden  Mo- 
tiven und  andererseits  den  durch  sie  zur  Aktion  veranlafsten 
innern  Charaktereigenschaften,  von  deren  Beschaffen- 
heit es  abhängt,  welches  der  verschiedenen  Motive  in  einem 
gegebenen  Falle  das  stärkste  ist;  nach  diesem  erfolgt  die 
Handlung,  wie  jedes  andere  Naturereignis,  mit  unabwendbarer 
Notwendigkeit,  (Ja  Charakter  und  Motive  als  Ursache  der 
jedesmaligen  Handlung  als  'Wirkung  der  Zeit  nach  vorher- 
gehen, somit  im  Augenblicke  des  Handelns  schon  der  Ver- 
gangenheit angehören  und  daher  niclit  mehr  in  unserer  Hand 
sind.  Je  klarer  unser  Verstand  diese  Verhältnisse,  zergliedert, 
um  so  mehr  überzeugen  wir  uns,  dafs  jede  unserer  Hand- 
lungen aus  ihren  schon  der  Vergangenheit  angehörigen  und 
daher  unabänderlich  feststehenden  Ursachen  mit  Notwendig:- 
keit  erfolgt.     (Thesis  des  Determinismus.) 

Mit  dieser  Erkenntnis  des  Verstandes  steht  in  Wider- 
spruch ein  in  den  letzten  Tiefen  unserer  Natur  wurzelndes 
Gefühl,  welches  jede  unserer  Handlungen  begleitet  und  in 
uns  das  Bewufstsein  lebendig  erhält,  dafs  wir  nicht  nur  anders 
handeln  können  als  wir  handeln,  sondern  auch  anders  wollen 
können  als  wir  wollen,  ja  sogar,  so  wunderlich  es  klingt,  dafs 
wir  in  jedem  Augenblick  unseres  Lebens  anders  sein  können 
als  wir  sind.  Was  wir  sind,  ist  durch  den  empirischen,  in 
der  ganzen  Körperbeschaffenheit  zum  Ausdruck  kommenden 
Charakter  fest  bestimmt,  und  jenes  Gefühl,  dafs  wir  auch 
anders  sein   können  als  wir  sind,   bedeutet  nichts  Geringeres 


342  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

als  die  in  jedem  Augenblick  und  bei  jeder  Handlung  unseres 
Lebens  bestehende  Möglichkeit,  uns  von  unserer  ganzen 
empirischen  Existenz  und  ihren  Gesetzen  loszusagen  und  auf 
unsere  ansichseiende,  ewige,  kausalitätlose,  göttliche  Natur 
zurückzuziehen,  worin  eben  jede  moralische,  das  eigene  Selbst 
verleugnende  Handlung  besteht. 

Diese  Antinomie  zwischen  Unfreiheit  und  Freiheit  des 
Willens,  dieses  schwerste  aller  dem  Menschengeiste  auf- 
gegebenen Probleme,  war  der  christlichen  Kirche  schon  durch 
die  bei  Jesus  und  Paulus  hervortretenden  Gedanken  auferlegt 
worden.  Jesus  erklärt  in  seiner  drastischen  Weise,  dafs  die 
Früchte  nicht  anders  sein  können  als  der  Baum,  und  verlangt 
dennoch,  dafs  die  Früchte  anders  sein  sollen  als  sie  sind. 
Bei  Paulus  verquickt  sich  diese  Antinomie  mit  dem  aus  dem 
Alten  Testament  überkommenen  Theismus;  Rom.  9,16:  „So 
liegt  es  nun  nicht  an  jemandes  Wollen  oder  Laufen,  sondern 
an  Gottes  Erbarmen";  Phil.  2,13:  „Denn  Gott  ist  es,  der  in 
euch  wirket  beides,  das  Wollen  und  das  Vollbringen,  nach 
seinem  Wohlgefallen";'  vgl.  Evang.  Johannis  ,15,5:  „Ohne  mich 
könnt  ihr  nichts  tun."  —  Dem  alle  andern  Väter  der  Kirche 
an  umfassender  Bildung,  Klarheit  des  Geistes  und  Konsequenz 
des  Denkens  überragenden  Aurelius  Augustinus  war  die  schwere 
Aufgabe  zugefallen,  diese  schon  im  Urchristentum  liegenden 
Keime  weiterzuentwickeln. 

Aurelius  Augustinus  wurde  geboren  am  13.  November 
354  zu  Thagaste  in  Numidien  als  Sohn  eines  heidnischen 
Vaters,  des  Decurio  (Senator)  Patricius  und  einer  christlichen 
Mutter  Monica,  welche  bis  zu  ihrem  Tode  (387)  in  unermüd- 
licher Sorge  die  geistige  Entwicklung  des  Sohnes  verfolgte, 
ohne  dafs  es  ihr  zunächst  gelungen  wäre,  ihn  für  das  Christen- 
tum zu  gewinnen.  Die  biblischen  Erzählungen  waren  ihm 
damals  noch  Ammenmärchen ,  und  seine  kräftig  entwickelte 
Natur  suchte  ihre  Befriedigung  in  einem  Leben  des  Ge- 
nusses. Was  der  Mutter  nicht  gelungen  war,  das  bewirkte 
der  Horten srus  des  Cicero;  sein  Studium  weckte  in  dem  Jüng- 
ling das  Verlangen,  die  W^ahrheit  über  das  Wesen  der  Dinge 
zu  ergründen,  und  er  glaubte  diese  in  dem  Dualismus  der 
Manichäer    zu    finden;    ihrer    Sekte    gehörte    er    zehn    Jahre 


3.  Der  Prädestinationsstreit:  Augustinus.  343 

(373 — 382)  als  anditor  an,  während  er  zuo-leich  in  Karthago 
als  Lehrer  der  Rhetorik  wirkte.  Allmählich  an  ihnen  irre 
werdend,  begab  er  sich  383  nach  Rom  und  bekleidete  seit  384 
eine  Stelle  als  Lehrer  der  Beredsamkeit  in  Mailand,  wobei  er 
vergeblich  Befriedigung  in  dem  Skeptizismus  der  Akademiker 
suchte.  Aus  diesem  rettete  ihn  das  Studium  der  ncuplato- 
nischen  Philosophie,  welche  späterhin  auf  die  Gestaltung  seiner 
christlichen  Anschauungen  nicht  ohne  Einflufs  geblieben  ist. 
Die  Predigten  des  Ambrosius,  welche  er  um  ihrer  Form  willen 
besuchte,  regten  ihn  an,  die  Bibel  zu  studieren  und  die  von 
den  Manichäern  am  Alten  Testament  geübte  Kritik  durch 
allegorische  Erklärung  desselben  zu  überwinden.  Ein  Wort 
aus  dem  Römerbriefe  (L3,13 — 14)  und  der  Eindruck  des 
Mönchslebens  veranlafsten  ihn,  sich  von  den  Sinnengenüssen 
loszusagen,  sein  Amt  aufzugeben,  sich  auf  das  Landgut  Cassi- 
ciacum  seines  Freundes  Verecundus  zurückzuziehen  und  dort 
in  stiller  Beschaulichkeit  und  in  Gesprächen  mit  teilnehmen- 
den Freunden  die  ihn  bewegenden  Gegensätze  der  neuplato- 
nischen und  christlichen  Anschauungen  zum  Ausgleich  kommen 
zu  lassen.  Er  empfing  387  durch  Ambrosius  die  Taufe,  kehrte 
im  folgenden  Jahre,  nach  dem  Tode  der  Mutter,  in  die  Heimat 
zurück  und  setzte  in  Thagaste  sein  kontemplatives  Leben  fort, 
bis  er  gegen  seinen  Wunsch  391  zum  Presbyter  und  396  zum 
Bischof  von  Hippo  Regius  ernannt  wurde.  In  dieser  be- 
scheidenen Lebensstellung  blieb  er  bis  zu  seinem  am  28.  August 
430  während  der  Belagerung  der  Stadt  durch  die  Vandalen 
erfolgten  Tode,  gewann  aber  durch  seine  ausgebreitete,  mit 
allen  Zeitströmungen  sich  befassende  schriftstellerische  Tätig- 
keit einen  dominierenden  Einflufs  auf  sein  Zeitalter  und  weit 
über  dasselbe  hinaus. 

In  zahlreichen  Schriften,  deren  Einflufs  sich  nicht  nur  auf 
die  Scholastiker  und  Mystiker  des  Mittelalters,  sondern  auch 
auf  die  Periode  des  Humanismus  und  der  Reformation,  ja  in 
gewissem  Sinne"  bis  auf  die  Gegenwart  hin  erstreckt,  bekämpfte 
er  seit  388  die  Manichäer,  seit  393  die  Donatisten,  seit 
412  die  Pelagianer,  während  er  aufser  zahlreichen  Predigten 
und  Briefen  seine  persönlichen  Lebenserfahrungen  in  den 
Confessiones,    sowie    den    in    seinen    letzten    Lebensjahren 


344  XIII.    Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

geschriebenen  Retractationes,  und  seine  Weltanschauung- 
namentlich in  den  grofsen  Werken  De  Trinitate  und  De 
Civitate  Dei  niederlegte.  Die  vielgelesenen  Confessiones 
in  13  Büchern  behandeln  in  Form  eines  Gebetes  an  Gott  das 
Leben  Augustins  mit  allen  seinen  Jugendverirrungen  und 
gnädigen  Wendungen  bis  zur  Taufe  (387)  hin.  Zu  Eingang 
finden  sich  die  berühmten  Worte,  welche  die  Grundstimmung 
des  Ganzen  aussprechen:  „Fecisti  nos  ad  te  et  inquictum  est 
cor  nostrum,  donec  requicscat  in  te."  In  den  Retractationes 
unterwirft  er  seine  bis  427  veröffentlichten  Schriften  einer 
kritischen  Musterung  und  teilweise  einer  Berichtigung. 

Wiederholt  berührt  Augustin  in  seinen  Schriften  die  Frage 
nach  der  Realität  der  Aufsenwelt,  welche  seit  Descartes  das 
Grundproblem  der  ganzen  neuern  Philosophie  geworden  ist. 
Schon  Augustin  erklärt  die  Überzeugung,  dafs  die  uns  um- 
gebende Welt  real  sei,  für  einen  blofsen  notwendigen  Glauben, 
und  findet,  wie  400  Jahre  nach  ihm  (^ankara  in  Indien  und 
1200  Jahre  nach  ihm  Descartes,  den  letzten  Grund  aller  Ge- 
wifsheit  in  der  Tatsache  des  eigenen  Denkens;  De  trinitate 
XIV,  7 :  nihil  enini  tarn  novjt  mens  quam  id  quod  sibi  j^raesto 
est,  nee  menti  magis  quidqiiam  praesto  est  quam  ipsa  sibi;  De 
Vera  religione  73:  omnis  ifiittir  qui  utrvm  sit  vcritas  duhitat, 
in  se  ipso  habet  verum  unde  non  duhifef*  Aus  dieser  Gewifs- 
heit  des  eigenen  Geistes  glaubt  Augustin  die  Gewifsheit  Gottes 
als  des  letzten  Grundes  aller  Wahrheit  schöpfen  zu  können. 
Gott  ist  ihm  wie  den  Neuplatonikern  das  Wesen  ohne  alle 
Bestimmungen,  das  etis  simjjlicissimum,  raumlos  und  zeitlos  und 
doch  sine  loco  ubiquc,  sine  tempore  sempiternus.  In  der  Trinitäts- 
lehre  lehnt  sich  Augustin  an  die  drei  ersten  Prinzipien  der  Neu- 
platoniker,  ev,  vou?,  "h^r/ji-,  an,  bestimmt  Gottes  Wesen  als  Sein, 
Erkennen  und  Leben  oder,  wie  er  auch  sagt,  Liebe,  und 
wird  dadurch  ein  Vorläufer  der  gleichfalls  auf  neuplatonischen 


*  Vgl.  Qankara,  ad  Brahmasütram  p.  6"20,6  (mein  „System  des  Vedanta" 
8.  137):  „denn  in  Abrede  stellen  können  wir  eine  Sache,  die  (von  aufsen) 
an  uns  herankommt,  nicht  aber,  die  unser  eigenes  Wesen  ist.  Denn  wer 
es  in  Abrede  stellt,  eben  dessen  eigenes  Wesen  ist  es."  —  Descartes, 
Meditationes  II:  nam  quod  ego  sim,  qui  dubitem,  qui  intelligam,  qui  velim, 
tarn  manifestum  est,  ut  nihil  oceurrat,  per  quod  'evidentius  expUcetur. 


3.  r>or  l'rädcstinationsstreit:  Augustinus.  345 

Anschauungen  beruhenden  Trinitätslehren  des  Scotus  Erigena, 
Abaelard,  Meister  Eckhart  und  Jakob  Böhme.  —  Die  Verwirk- 
hchung  des  Reiches  Gottes  in  der  Welt  schildern  die  22  Bücher 
De  cnitatc  Dci.  In  den  ersten  fünf  Büchern  tritt  er  dem  Vor- 
wurf entsesen,  als  habe  das  Christentum  den  Verfall  des 
antiken  Staates  verschuldet;  Ilium  sei  gefallen,  und  so  werde 
auch  Rom  fallen,  weil  sein  Reich  auf  Selbstsucht  gegründet 
und  daher  in  Sittenlosigkeit  entartet  sei;  die  Verwerflichkeit 
der  heidnischen  Kulte  und  die  Unzulänglichkeit  der  antiken 
Philosophie  werden  in  den  folgenden  fünf  Büchern  behandelt, 
während  die  letztbn  zwölf  der  Civitas  tcrrena  eines  Assur-Babel 
und  Rom  die  durch  Israel  und  die  christliche  Kirche  ver- 
wirklichte Civitus  Bei  gegenüberstellen. 

Am  wichtigsten  und  folgenreichsten  ist  das  Eingreifen 
Augustins  in  die  Prädestinationsstreitigkeiten  geworden.  An- 
lafs  dazu  bot  das  Auftreten  des  britischen  Mönches  Pelagius, 
bei  welchem  die  Schärfe  des  Denkens  weniger  entwickelt  war 
als  das  sittliche  Gefühl,  und  der  auf  Grund  des  letztern  be- 
hauptete, der  Fall  Adams  sei  nur  ein  individueller,  nicht  ein 
solcher  der  ganzen  Menschheit  gewesen;  noch  jetzt  werde  der 
Mensch  ohne  Sünde,  und  frei  geboren  und  könne  auf  Grund 
seines  liberum  arhitrinm  seine  Seligkeit  selbst  erwirken,  wobei 
er  durch  die  göttliche  Gnade,  sowie  durch  Vorbild  und  Lehre 
Christi  nur  eine  bei  der  allgemeinen  Verderbtheit  der  Menschen 
willkommene  Unterstützung  finde.  Mit  diesen  Ideen  kam  er 
409  nach  Rom,  gewann  dort  für  sich  den  Caelestius  und 
ging  mit  ihm  411  nach  Karthago,  von  wo  Pelagius  sich  nach 
Palästina  begab  und  dort  unter  den  synergistisch  gestimmten' 
Origenisten  Duldung  fand,  während  Caelestius  sich  in  Afrika 
um  das  Amt  eines  Presbyters  bewarb,  aber  als  Irrlehrer  ver- 
klagt und  auf  einer  Synode  zu  Karthago  412  exkommuniziert 
wurde.  Nun  griff  Augustin  in  den  Streit  ein  und  bekämpfte 
unermüdlich  bis  zu  seinem  Tode  hin  (430)  den  Pelagius  und 
Caelestius,  welche  beide  431  auf  dem  Konzil-  zu  Ephesus  zu- 
sammen mit  Nestorius  als  Irrlehrer  verdammt  wurden.  Die 
Theorie,  welche  Augustinus  dem  Pelagius  entgegenstellte,  ist 
im  wesentlichen  folgende. 

Der  erste  Mensch,  Adam,  war  nach  dem  Ebenbilde  Gottes 


346  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

erschaffen  und  hatte  von  diesem  das  liberum  arhitrinm,  die 
Freiheit  des  Willens  und  damit  die  Möglichkeit  erhalten,  dem 
göttlichen  Willen   zu  folgen  und  dadurch  Unsterblichkeit  zu 

erlangen : 

poterat  von  ^^cccarc  et  pou  mori. 

Vom  Satan  verführt,  fiel  Adam  und  mit  ihm  die  ganze  Mensch- 
heit, denn  er  war  die  ganze  Menschheit,  welche  er  als  natura 
seminalis  in  sich  befafste.  Wir  alle  als  Nachkommen  Adams 
haben  seine  Sünde  als  Erbsünde  fpeccatum  originalej  über- 
kommen und  mit  ihr  den  Tod,  welcher  nach  dem  W^orte  des 
Apostels  der  Sünde  Sold  ist  (Rom.  6^23).  Die  ganze  Mensch- 
heit ist  eine  einzige  massa  perditionis;  die  Freiheit  des  Willens 
ist  verloren  gegangen;  den  Zustand  des  Menschen  bezeichnet 
die  Formel: 

non  potest  non  peccare  et  von  mori. 

Gott  ist  gerecht,  und  nach  seiner  Gerechtigkeit  müfsten  alle 
Menschen  der  ewigen  Verdammnis  verfallen;  er  ist  aber  auch 
barmherzig,  und  um  seine  Barmherzigkeit  zu  bekunden,  will 
er  einen  Teil  der  Menschen  retten.  Vermöge  eines  elecretum 
ahsoJutiim,  welches  seinen  Grund  nur  in  dem  weisen  und 
geheimnisvollen  Wohlgefallen  Gottes  hat,  teilt  er  die  Menschen 
ein  in  Verworfene  (reprohati)  und  Auserwählte  (elcctij.  Nur 
an  letztere  wendet  sich  die  göttliche  Gnade;  sie  ist  unwider- 
stehlich firresistihilisj  und  unverlierbar  finamissihUisJ ;  sie  be- 
wirkt nach  Phil.  2,13  beides,  sowohl  das  Wollen  als  auch 
das  Vollbringen;  in  ersterer  Hinsicht  ist  sie  gratia  prae- 
vcniens  oder  opereins,  in  letzterer  die  gratia  subseqncns  oder 
cooperans;  in  ersterer  Hinsicht  bewirkt  sie  den  Glauben  und 
als  seine  Folge  den  Willen  zum  Guten,  in  letzterer  stärkt 
und  erhält  sie  ihn  durch  Einflöfsung  {infiisioj  neuer  W^illens- 
kräfte:  ut  velimus  operedur  incipiens,  volcntihus  cooperedur  per- 
ficiens.  Auch  das  Beharren  im  Guten  ist  ein  Gnadengeschenk, 
das  donum  perseverevntiac.  So  gelangt  der  Erwählte  endlich 
zur  völligen  Befreiung  von  der  concupiscentia  und  damit  zu 
einem  Zustande,  in  welchem  es  von  ihm  heifsen  wird: 

non  poierit  peccare  et  mori. 

Dieser  Zustand   wird   aber  erst  jenseits  des  Grabes  erreicht. 


3.    Der  Prädestinationsstreit:  Augustinus.  347 

Die  von  Augustin  aufgestellte  Lehre  der  Prädestination, 
nach  welcher  Gott  „nach  dem.  weisen  und  geheimen  Wohl- 
gefallen seines  Willens",  mit  andern  Worten,  aus  reiner  Will- 
kür einen  Teil  der  Menschen  rettet  und  die  übrigen  der  ewigen 
Verdammnis  überliefert,  war  zu  grauenhaft,  als  dafs  sie,  trotz 
ihrer  eisernen  Konsequenz,  auf  allgemeinere  Zustimmung  hätte 
rechnen  können.  Nur  wo  der  kalte  Verstand  die  Forderungen 
des  religiösen  Gefühls  völlig  unterdrückte,  konnte  man  sich 
bei  einer  Theorie  beruhigen,  welche  die  einen  zur  Verzweiflung 
an  ihrem  Seelenheil  brachte,  während  sie  die  andern  zu  sitt- 
licher Sorglosigkeit  verleitete. ,  Es  ist  daher  sehr  begreiflich, 
dafs  man  zwischen  Augustinus,  der  alles  von  der  Gnade,  und 
Pelagius,  der  alles  von  dem  freien  Willen  des  Menschen  ab- 
hängig machte,  einen  Mittelweg  einzuschlagen  suchte.  Einen 
solchen  betrat  Johannes  Cassianus,  Begründer  und  Vor- 
steher eines  Klosters  zu  Massilia,  dessen  Anhänger,  damals 
Massilienser,  in  spätem  Jahrhunderten  Semipelagianer 
genannt,  der  Theorie  huldigten,  dafs  das  Heil  von  einem 
Zusammenwirken  der  göttlichen  Gnade  und  des  menschlichen 
Willens  zu  erwarten  sei,  wobei  bald  das  eine,  bald  das  andere 
Moment  den  ersten  Anstofs  zur  Bekehrung  geben  und  bei  deren 
Durchführung  überwiegen  sollte.  Nach  langwierigen  Verhand- 
lungen und  Streitigkeiten  kam  man  endlich  529  auf  der  Synode 
zu  Arausio  (Orange)  zu  einem  im  folgenden  Jahre  von  dem 
Papste  Bonifacius  IL  sanktionierten  Beschlüsse,  nach  welchem 
die  augustinischen  Lehren  von  der  Erbsünde,  gänzlichen  Ver- 
dienstlosigkeit  des  Menschen  und  der  unbedingten  Notwendig- 
keit der  Gnade  anerkannt,  aber  die  Prädestination  verworfen 
und  an  ihre  Stelle  eine  blofse  Präscienz,  ein  Vorherwissen 
Gottes,  wie  der  Mensch  sich  entscheiden  werde,  gesetzt  wurden, 
wobei  man  sich  vorläufig  beruhigte. 


Die  Frage  nach  der  Prädestination  oder,  ohne  Mythologie 
gesprochen,  die  Frage  nach  der  Unfreiheit  oder  Freiheit  des 
menschlichen  Willens  war  ein  Problem,  welches  für  das 
augustinische.  Zeitalter  und  seine  Denkungsart  noch  nicht 
lösbar  war.  Allerdings  wäre  eine  Lösung  zu  finden  gewesen 
in  der  Lehre  des  Veda,  nach  welcher  der  Gott,  welcher  allein 


348.  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

in  uns  das  Wollen  und  Vollbringen  des  Guten  Avirkt  (Kathaka 
Upanishad  2,23:  „Nur  wen  er  wählt,  von  dem  wird  er  er- 
griffen"), nicht  eine  uns  fremd  gegenüberstehende  Persönlich- 
keit, sondern  unser  eigenes  metaphysisches  Selbst,  unser  Atman 
ist,  welcher  als  solcher  den  Gesetzen  der  empirischen  Realität, 
indisch  gesprochen,  den  Gesetzen  der  3Iayä,  d.  h.  des  Raumes, 
der  Zeit  und  der  Kausalität  fdcca-Juda-mmittaJ  nicht  unterliegt. 
Aber  diese  Lehre  lag  in  jener  Zeit  für  das  Abendland  in  un- 
erreichbarer Ferne,  und  wäre  sie  erreichbar  gewesen,  so  würde 
sie  dem  vom  semitischen  Realismus  umklammerten  Christen- 
tum nicht  verständlich  gewesen  sein,  wiewohl  der  Apostel 
Paulus,  wenn  er  den  natürlichen  und  den  geistigen  Menschen 
unterscheidet  und  den  letztern  mit  dem  Herrn  vom  Himmel 
identifiziert  (1.  Kor.  15,47),  nicht  fern  von  dieser  Erkenntnis  ist. 
Näher  kommt  ihr  noch  Piaton,  welcher  die  ewigen,  ehernen, 
grofsen  Gesetze,  nach  welchen  wir  alle  unseres  Daseins  Kreise 
vollenden  'müssen,  auf  das  Gebiet  des  yrfvcij.evov  xac  aTroXXi)- 
|j.£vov,  ovToc  hl  ohhiizoxt  cv,  „des  Entstehenden  und  Vergehenden, 
in  Wahrheit  aber  niemals  Seienden",  einschränkt,  wie  er  denn 
auch  den  Menschen  vor  der  Geburt  frei  dasjenige  Leben  er- 
wählen läl'st,  welchem  er  nach  der  Geburt  mit  Notwendigkeit 
verbunden  bleibt:  sxaaToc  a'.p'e'lT«  ß'lov,  w  auvecTai  1^  dvaYX.r,?, . . . 
rtl-zirx  eXoijivou,  '^soc  avaLTt-oc  (De  Rep.  X,  15,  p.  617E).  Eine 
volle  Lösung  der  Schwierigkeit  kann  diese  platonische,  auch 
in  neuerer  Zeit  als  Prädeterminismus  wieder  erneuerte  Lehre 
nicht  gewähren.  Sie  liegt  allein  in  Kants  grofser  Lehre,  dafs 
wir  als  Erscheinung  der  Kausalität  und  mit  ihr  der  Notwendig- 
keit unterworfen,  als  Ding  an  sich  aber  von  beiden  frei  sind ; 
nicht  als  wenn  wir,  wie  Piaton  meinte,  nur  vor  unserer  Geburt 
Ding  an  sich  und  frei,  nach  der  Geburt  aber  blofse  Erscheinung 
und  somit  unfrei  wären,  sondern,  so  gewifs  wir  allezeit  und 
in  jedem  Augenblick  unseres  Lebens  sowohl  Erscheinung  als 
auch  Ding  an  sich  sind,  so  gewifs  bestehen  in  jeder  einzelnen 
Handlung  einerseits  die  empirische  Unfreiheit  und.  anderer- 
seits die  metaphysische  Fjeilieit  neben  einander,  und  die  letz- 
tere bedeutet  niclits  anderes  als  die  in  jedem  Augenblicke 
des  Lebens  offenstehende  Möglichkeit,  uns  bei  jeder  einzelnen 
Handlung    aus    dem    ganzen    Netze    der    Kausalität    und    des 


3.  Der  Prädestinationsstieit:  Augustinus.  349 

Egoismus  loszulösen  und  auf  unsere  ansichseiende,  freie,  gött- 
liche Natur  zurückzuziehen,  worin  eben  das  moralische,  unser 
ganzes  empirisches  Ich  verleugnende;  Handeln  besteht.  Frei- 
lich müssen  sich  auch  die  moralischen  Handlungen  dem  all- 
gemeinen Schema  der  Kausalität  einordnen,  welches  verlangt, 
dafs  jede  Handlung  mit  Notwendigkeit  aus  ihren  Ursachen 
erfolgen  mufs,  nämlich  subjektiverseits  aus  dem  Charakter, 
welcher  allemal  Egoismus  ist,  und  objektiverseits  aus  den 
Motiven,  welche  allemal  in  Gefühlen  der  Lust  und  Unlust 
bestehen.  Aber  deutlich  zeigt  sich,  wie  bei  den  moralischen 
Handlungen  dieses  Schema  mit  einem  ganz  andern  Inhalt 
erfüllt  ist,  sofern  es  in  ihnen  nicht  mehr  der  individuelle, 
sondern  ein  über  alles  Lebende,  alles  was  Lust  und  Schmerz 
empfindet,  sich  erweiternder  Egoismus  ist,  welchem  dem- 
entsprechend nicht  mehr  das  eigene  Leiden ,  sondern  das 
Leiden  aller  Kreaturen  als  Mitleid  die  Motive  des  Handelns 
liefert. 

4.  Eindringen  neuplatonischer  Gedanken  in  das  Christentum: 
Dionysiüs  Areopagita. 

Auch  nachdem  durch  den  unglücklichen  Tod  des  edlen 
Kaisers  Julianus  im  Jahre  363  p.  C.  (Phil.  d.  Griechen,  oben 
II,  I,  S.  508  fg.)  die  letzte  Hoffnung  auf  Wiederherstellung 
der  Religion  der  Väter  im  griechisch-römischen  Weltreiche 
geschwunden  war,  übte  doch  nach  wie  vor  die  hellenische 
Kultur  eine  mächtige  Anziehungskraft  namentlich  auf  die- 
jenigen Kreise  der  Bevölkerung,  welche  durch  einen  gewissen 
Grad  von  Bildung  und  mit  ihr-  gesteigerten  geistigen  Bedürf- 
nissen in  dem  Christentum  mit  seiner  barbarischen  Sprache 
und  Form  auch  bei  aller  Hochachtung  vor  der  ihm  inne- 
wohnenden sittlichen  Kraft  doch  keine  volle  Befriedigung 
finden  konnten.  Besonders  war  es  die  griechische  Philosophie, 
welche  als  Neuplatonismus  in  dieser  ihrer  letzten  und,  wie 
man  damals  glaubte,  vollendetsten,  alles  Beste  aus  Piaton, 
Aristoteles  und  der  Stoa  in  sich  vereinigenden  Gestalt  dem 
Christentum  um  so  gefährlicher  wurde,  je  mehr  der  Neu- 
platonismus denselben  Gemütsbedürfnissen  wie  dieses  ent- 
gegenkam   und    doch    den    vielfachen   Anstofs,    welchen    der 


350  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

denkende  Menschengeist  an  dem  christlichen  Dogma  nahm, 
zu  vermeiden  wufste.  Und  welchen  tiefer  denkenden  Geist, 
welches  feiner  empfindende  Gemüt  hätte  es  nicht  ansprechen 
sollen,  wenn  der  Neuplatonismus  statt  der  vom  Christentum 
beibehaltenen  anthropomorphi  sehen  Gottesvorstellung  die 
völlige  Unerkennbarkeit  Gottes  als  des  ewigen  Urgrundes, 
statt  der  Weltschöpfung  in  der  Zeit  eine  zeitlose  Emanation 
alles  Seienden  aus  Gott,  statt  ewiger  Himmelsfreuden  und 
Höllenstrafen  nach  dem  kurzen,  hinfälligen  Erdenleben  eine 
stufenweise  Läuterung  auf  dem  Wege  der  Seelenwanderung 
bis  zur  endlichen  Wiedervereinigung  mit  dem  göttlichen  Ur- 
gründe in  der  ernsten,  weihevollen  Sprache  eines  Plotinos 
lehrte  und  dabei  die  jeder  tiefern  Keligion  wesentliche  aske- 
tische Tendenz  kräftiger  als  das  durch  so  viele  Zeitrücksichten 
gebundene  Christentum  betonte! 

Solange  die  katholische  Kirche  noch  in  der  Bildung  be- 
griffen war,  noch  um  ihre  Existenz  ringen  mufste,  hatte  sie 
alle  gnostischen  und  asketischen  Abweichungen  von  der  ge- 
wöhnlichen Heerstrafse  des  orthodoxen  Dogmas  energisch 
bekämpft,  nachdem  sie  aber  zur  weltlichen  Herrschaft  gelangt 
war  und  durch  die  grofsen  Konzilien  von  Nicaea  (325),  Kon- 
stantinopel (381),  Ephesus  (431)  und  Chalkedon  (451)  eine 
allgemeinere  Übereinstimmung  in  betreff  der  Fundamental- 
dogmen erstritten  hatte,  konnten  gerade  die  lebendigem  Na- 
turen an  dem  für  alle  Feststehenden,  allen  Zugänglichen  und 
daher  trivial  Gewordenen  kein  dauerndes  Genügen  finden, 
und  so  vollzog  sich  eine  gewisse  Annäherung  zwischen  christ- 
licher und  hellenischer,  speziell  neuplatonischer  Denkweise, 
indem  einerseits  Kirchenlehrer  wie  Origenes  und  Augustinus 
ihrem  Lehrsystem  einen  starken  Einschlag  neuplatonischer 
Gedanken  einwoben,  während  andererseits  auch  solche,  welche 
auf  dem  angestammten  Boden  hellenischer  Philosophie  ver- 
harrten, die  innere  Verwandtschaft  des  christlichen  Dogmas 
mit  ihren  Überzeugungen  nicht  verkannten  und  ihm  den  Wert 
einer  allegorischen,  für  die  Fassungskraft  der  Menge  geeigneten 
Einkleidung  der  philosophischen  Wahrheit  zugestanden.  Als 
Typus  der  letztern  Denkweise  kann  Synesios,  Bischof  von 
Ptolemais  in  der  Cyrenaica,  gelten,  welcher  in  seinen  Reden 


4.  Eindringen  neiiphitoniscbor  Godiuikcii  in  das  Christentuin.       351 

und  Hymnen,  mehr  noch  in  seinen  Briefen  zur  Zeit  der  hin- 
welkenden antiken  Welt  als  eine  der  lebensfrischesten  und 
ansprechendsten  Persönlichkeiten  uns  entgegentritt. 

Öynesios  wurde  geboren  unter  Kaiser  Valens  bald  nach 
370  p.  C.  zu  Kyrene  als  Abkömmling  eines  griechischen  vor- 
nehmen und  begüterten  Adelsgeschlechts,  welches  seinen 
Stammbaum  auf  Eurysthenes,  den  Nachkommen  des  Herakles, 
zurückführte.  Seine  erste  Erziehung  erhielt  er  in  seiner  Vater- 
stadt Kyrene  an  der  Hand  der  griechischen  Klassiker,  vor 
allem  des  Homer,  neben  welchem  die  griechischen  Lyriker 
und  die  Philosophen,  namentlich  Piaton  und  Aristoteles,  in 
den  Schriften  des  Synesios  häufige  Erwähnung  finden.  Zm' 
Fortsetzung  seiner  Studien  begab  er  sich  nach  Alexandria, 
Avo  die  edle,  durch  Schönheit  wie  durch  Sittenreinheit  gleich 
sehr  ausgezeichnete  Hypatia  seine  Lehrerin  in  der  Philosophie 
wurde.  Ihr  blieb  er  auch  nach  der  Rückkehr  in  die  Heimat 
in  höchster  Liebe  und  Verehrung  zugetan,  legte  ihr  seine 
Schriften,  ehe  er  sie  veröffentlichte,  zur  Beurteilung  vor,  nennt 
sie  in  den  Briefen  an  sie  seine  Lehrerin ,  seine  Mutter,  seine 
Schwester,  macht  sie  zur  Ratgeberin  in  den  Sorgen  seines 
häuslichen  und  öffentlichen  Lebens,  und  dieses  schöne  Ver- 
hältnis blieb  auch  dann  ungetrübt  bestehen,  nachdem  Synesios 
vor  der  Übernahme  seines  Bischofsamtes  zum  Christentum 
übergetreten  war,  welchem  Hypatia  ablehnend  gegenüberstand. 
Die  grauenhafte  Ermordung  der  Philosophin  durch  den  vom 
Patriarchen  Cyrillus  aufgehetzten  christlichen  Pöbel  im  Jahre 
415  scheint  Synesios  nicht  mehr  erlebt  zu  haben.  Noch  in 
jungen  Jahren  wurde  Synesios  von  seinen  Landsleuten  an  der 
Spitze  einer  Gesandtschaft  nach  Konstantinopel  geschickt, '  um 
von  dem  schwachen,  unter  dem  Einflüsse  des  Westgoten- 
führers Gainas  stehenden  Kaiser  Arkadius  für  die  unter  allerlei 
Unglücksfällen  leidende  Cyrenaica  einen  Erlafs  der  Steuern 
zu  erwirken.  In  die  Zeit  dieses  Konstantinopeler  Aufenthalts 
398 — 400  fällt  die  berühmte,  vor  Kaiser  und  Hof  gehaltene 
Rede  des  Synesios  izzgl  ßaausia?,  in  welcher  er,  wie  er  selbst 
erzählt,  kühner  als  je  ein  Hellene  es  gewagt,  den  Gegensatz 
zwischen  dem  Tyrannen  und  dem  philosophischen,  Gottes  Güte 
nachbildenden,   vor  allem   sich    selbst   regierenden    Herrscher 


352  XIII.    Die  zweite  Periode  der  Fatristik. 

entwickelt,  die  Abschliefsung  des  Kaisers  von  seinem  Volke 
durch  die  Hofetikette  beklagt  und  die  Rückkehr  zu  altrömischer 
Einfachheit  fordert.  Froh  war  er,  endlich  von  dem  intriganten 
Hofleben  der  Hauptstadt  in  seine  Heimat  zurückzukehren, 
worauf  ihm  403  zu  Alexandria  durch  „Gott,  das  Gesetz  und 
die  heilige  Hand  des  Theophilus"  eine  Christin  als  Gattin 
angetraut  wurde,  während  er  selbst  nach  wie  vor  Heide  blieb, 
ohne  doch  dem  Kultus  der  christlichen  Kirche  und  dem  aske- 
tischen Mönchswesen  seine  Achtung  zu  versagen.  Er  selbst 
zog  es  vor,  auf  dem  Wege  der  schönen  Natur  und  Kunst  sich 
zur  Betrachtung  des  Ewigen  zu  erheben  und  von  ihr  immer 
wieder  nicht  zur  Trivialität  des  Alltagslebens,  sondern  zur 
Beschäftigung  mit  den  Musen  zurückzukehren.  Mit  philosophi- 
schen Studien  und  in  regem  Briefwechsel  mit  seinen  Freunden 
verbrachte  er  die  folgenden  Jahre  teils  in  Kyrene,  teils  auf 
seinem  Landgute,  wo  die  beschauliche  Ruhe  nicht  nur  durch 
Verkehr  mit  den  einfachen  Landleuten,  durch  Landwirtschaft 
und  Jagd,  sondern  auch  durch  die  notwendige  Verteidigung 
seines  Landgutes  gegen  die  gelegentlichen  Einfälle  der  barbari- 
schen Maketen  zeitweilig  unterbrochen  wurde.  Eine  gröfsere 
und  dauernde  Störung  seiner  philosophischen  Studien  brach 
über  ihn  herein,  als  im  Jahre  409  Klerus  und  Volk  seiner 
Provinz  baten,  dafs  dem  nach  vielen  Richtungen  einflufsreichen 
Manne  der  erledigte  Bischofssitz  von  Ptolemais  (80  Kilometer 
südwestlich  von  Kyrene)  übertragen  werde.  In  dem  berühm- 
ten, an  seinen  Bruder  Euoptios  in  Alexandria  gerichteten,  aber 
zur  Mitteilung  an  den  Patriarchen  Theophilus  bestimmten 
105.  Briefe  äufsert  Synesios  seine  Bedenken,  da  er  über  viele 
Dinge  anderer  Anschauung  sei  als  die  Menge:  „Niemals  werde 
ich  mich  davon  überzeugen,  dafs  die  Entstehung  der  Seele 
dem  Leibe  erst  nachfolge,  niemals  annehmen,  dafs  die  Welt 
mit  allen  ihren  Teilen  vergehe;  die  Auferstehung,  die  in  aller 
Munde  ist,  halte  ich  für  etwas  Heiliges  und  Mysteriöses,  bin 
aber  weit  entfernt  von  der  Meinung  der  Menge  darüber."  Die 
reine  Wahrheit,  so  meint  er,  sei  für  die  Fassungskraft  der 
Menge  so  wenig  geeignet  wie  das  volle  Sonnenlicht  für  ein 
krankes  Auge.  Finde  der  Patriarch  in  diesem  Bedenken  kein 
unübersteigliches  Hindernis,  so  sei  er  zwar  bereit,  den  an  ihn 


4.  Eindringen  neuplatonisclier  Godaiikon  in  das  Christentniu.       ."5;} 

ergangenen  ehrenvollen  Ruf  als  eine  Fügung  Gottes  anzu- 
nehmen, könne  aber  seine  philosophischen  L  berzeugungen 
nicht  verleugnen  und  müsse  daher  versuchen,  sie  mit  den 
Forderungen  seines  Amtes  zu  vereinigen,  ~b.  [jiv  cl'xci  91X0- 
ao9«v,  ~a  S'i^w  9!.Xo[j.'j't«v.  In  diesem  klassischen  Ausspruch 
des  Synesibs  liegt  das  Programm  für  eine  unberechenbar 
ferne  Zukunft;  nie  wird  der  wissenschaftlich  Gebildete  sich 
zufriedengeben  können  mit  der  mythischen  Form,  in  welcher 
das  christliche  Dogma  die  ewigen  Heilswahrheiten  darbietet, 
und  schwerlich  wird  je  die  Zeit  kommen,  wo  auch  das  Volk 
anders  als  in  dieser  mythischen  Form  für  dieselben  empfäng- 
lich sein  wird.  —  Der  Patriarch  setzte  sich,  diplomatisch  wie 
e^  war,  über  die  Bedenken  des  Synesios  hinweg;  während 
eines  siebenmonatigen  Aufenthalts  in  Alexandria  empfing  der- 
selbe Taufe  und  Bischofsweihe  und  hielt  zu  Ostern  410  seinen 
Einzug  als  Metropolitanbischof  in  Ptolemais.  Eine  Reihe  un- 
glücklicher Jahre  w^ar  für  ihn  die  Folge  dieses  übereilten 
Schrittes;  sei  es,  dafs  seine  schöngeistige  Anlage  nicht  bis 
in  diejenige  Tiefe  zu  dringen  vermochte,  wo  der  Einheits- 
punkt von  Wissen  und  Glauben  liegt,  sei  es,  dafs  sein  Neu- 
platonismus  dazu  noch  nicht  die  ausreichende  Handhabe  bot,  — 
über  das  Bewufstsein  des  Zwiespalts  zwischen  seinem  Amte 
und  seinen  Überzeugungen  wufste  er  nicht  hinwegzukommen. 
Dazu  kamen  äufsere  Widerwärtigkeiten,  die  politischen  Schwie- 
rigkeiten, denen  sich  der  Idealist  und  Theoretiker  nicht  ge- 
wachsen fühlte,  der  Konflikt  mit  dem  rohen  Präfekten  An- 
dronikos  und  der  kurz  aufeinanderfolgende  Tod  seiner  drei 
Söhne,  welcher  ihn  tief  niederbeugte,  und  in  welchem  er  Trost 
suchte  nicht  in  den  Worten  der  Heiligen  Schrift,  sondern  in  den 
Lehren  des  Stoikers  Epiktet.  Synesios  starb  nach  dem  Amts- 
antritt des  Patriarchen  Cyrillus  412,  aber  vor  der  Ermordung 
der  Hypatia  415.  Ein  gnädiges  Geschick  hatte  es  ihm  erspart, 
das  schreckliche  Ende  der  geliebten  Lehrerin  zu  erleben. 

Die  philosophischen  Schriften  des  Synesios,  das  Lob  der 
Kahlheit,  der  Dion  und  die  Schrift  über  die  Träume,  bekunden 
eine  grol'se  Belesenheit  und  enthalten  viele  geistvolle  und  witzige 
Bemerkungen,  aber  keine  eigentlich  neuen  philosophischen 
Gedanken.     Seine  Philosophie  ist  durchaus  abhängig  von  der 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii,  2.  23 


354  XIII.    Die  zweite  Periode  der  Tatristik. 

alten  hellenischen,  namentlich  sind  es  Piaton  und  Aristoteles, 
welche  er  wie  eine  göttliche  Offenharung  verehrt,  aber  durch- 
aus mit  den  Augen  des  Plotinos  betrachtet,  wiewohl  er  den 
Plotinos  nur  einmal,  den  Jamblichos  gar  nicht  erwähnt,  aber, 
wie  sich  zeigen  wird,  unter  beider  Einflul's  steht.  Mit  Plotinos 
hält  er  fest  an  dem  unerkennbaren  Einen,  an  seiner  ersten 
Emanation  in  dem  vcuc  und  den  Ideen,  der  aus  diesen  emanie- 
renden psychischen  Welt  und  der  Materie  als  der  letzten, 
sich  in  das  Dunkel  verlierenden  Ausstrahlung  des  göttlichen 
Lichts.  Das  Eigentümliche  besteht  nur  in  der  Art,  wie  Sy- 
nesios  mit  diesem  neuplatonischen  Schema  seine  christlichen 
Anschauungen,  namentlich  über  die  Trinität,  zu  vereinigen 
sucht.  Hierbei  aber  laufen  in  seinen  Prosaschriften  und 
Hymnen  drei  verschiedene  Auffassungen  durch  einander  und 
zeigen,  dafs  Synesios  in  seinem  verhältnismäfsig  kurzen  Leben 
nicht  zu  voller  Klarheit  der  Grundanschauungen  durchgedrungen 
ist.  Einerseits  ist  er  im  Anschlufs  an  Plotinos  geneigt,  Vater, 
Sohn  und  Geist  mit  dessen  drei  ersten  Prinzipien,  dem  ev, 
dem  vo'j?  und  der  vb^j/-»],  zu  identifizieren,  dann  aber  hebt  er 
mit  Jamblichos,  und  hierin  zeigt  sich  Beeinflussung  durch 
diesen,  die  höchste  Monas  über  alles  hinaus  und  läfst  aus  ihr 
auch  die  Trias  emanieren,  und  endlich  verlegt  er,  im  nächsten 
Anschlufs  an  das  Christentum,  die  ganze  Dreieinigkeit  in  das 
überwesentliche  Eine,  aus  welchem  er  dann  die  Ideenwelt, 
das  Psychische  und  alles  übrige  entströmen  läfst.  Dafs  die 
menschliche  Seele  durch  einen  Abfall  von  Gott  sich  in  die 
Materie  verirrt  habe,  und  dafs  ihr  höchstes  Ziel  in  einer 
Rückkehr  zu  dem  göttlichen  Ursprung  bestehe,  nimmt  er  mit 
Plotinos  an,  ist  aber  ebensowenig  wie  dieser  über  den  Grund 
dieses  Abfalls  und  über  die  Materie,  welche  eine  letzte  Aus- 
strahlung des  Göttlichen  und  doch  auch  das  Böse  sein  soll, 
ins  klare  gekommen.  » 

Folgende  Verse  aus  dem  ersten  Hymnus  des  Synesios 
mögen  genügen,  um  die  Stellungnahme,  welche  er  als  Philo- 
soph seinem  christlichen  Lehramt  gegenüber  einnimmt,  zu 
charakterisieren.     Vers  öS  —  75: 

Der  Einheiten  lieil'ge   Einheit, 
Der  Monaden  erste  Monas, 


4.   Eiiuiringeii  neuplatünischer  Gedanköu  in  das  ChristentuKi.       355 

Aller  Höhen  Einfachheiten 

Einend  und   sie  in  Geburten 

Überwesentlich  gebärend,  — 

Von  dorther  dann  eilend   selber, 

Durch  die   erstgeborne  Form 

Unaussprechlich   ausgegossen, 

Steht   dreifalt'ger  Kraft  die   Monas, 

Und   die  überhohe   Quelle 

Kränzt  sich   mit  der  Kinder  Schönheit, 

Die   vom  Mitteli3unkte   laufen, 

Um   denselben   sich  bewegen.  — 

Halte  ein,   du  kühne  Leier, 
*  Halte   ein,   dem  Volke   zeige 

Hochehrwürd'ge  Weihen  nicht. 

Geh  und  singe  Niederes 

Und   das  Höhere  deck'  in   Schweigen. 


Weit  ernster  und  nachhaltiger  als  es  dem  mehr  ästhetisch 
als  philosophisch  bedeutenden  Synesios  möglich  gewesen  war, 
versuchte  etwa  hundert  Jahre  nach  ihm  ein  Unbekannter  unter 
dem  angenommenen  Namen  des  Dionysius  Areopagita  die 
neuplatonischen  Anschauungen  mit  dem  christlichen  Dogma 
zu  verschmelzen.  Ahnlich  wie  der  Verfasser  der  unechten 
Pastoralbriefe  denselben  allerlei  auf  die  Lebensverhältnisse  des 
Apostels  Paulus  bezügliche  Reminiszenzen  einwebt,  weifs  auch 
unser  Autor  die  Fiktion,  dafs  er  jener  einst  am  Areopag 
wohnende  (nach  Apostelgesch.  17,34  von  Paulus  zu  Athen 
'bekehrte  und  zuerst  von  Dionysios  von  Korinth  170  p.  C.  als 
erster  Bischof  von  Athen  erwähnte)  Dionysios  sei,  nicht  un- 
geschickt durchzuführen;  er  will  zu  Heliopolis  die  Sonnen- 
finsternis während  der  Kreuzigung  Christi  beobachtet  haben 
(Epist.  7,2),  will  mit  Petrus  und  Jacobus  beim  Tode  der  Mutter 
Jesu  zugegen  gewesen  sein  (Von  den  göttlichen  Namen  III,  2), 
korrespondiert  mit  Timotheus,  Titus  und  dem  auf  Patmos  ver- 
bannten Johannes  usw.  Solche  Fiktionen  sind  im  Sinne -des 
Altertums,  besonders  des  orientalischen,  nicht  als  Fälschungen 
anzusehen,  wurden  wenigstens  nicht  als  solche  empfunden; 
vielmehr   ist   nichts   gewöhnlicher,   namentlich  in  Indien,   als 

23* 


,^,5G  Xlll.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

dafs  ein  unbekannter  Schriftsteller  sein  Werk  einer  politisch 
oder  literarisch  hochstehenden  Persönlichkeit  nicht  nur,  wie 
auch  bei  uns  zu  geschehen  pflegt,  widmet,  sondern  das- 
selbe geradezu  als  von  ihr  verfafst  ausgibt,  teils  aus  Be- 
scheidenheit, teils  auch  um  ihm  leichtern  Eingang  zu  ver- 
schaffen, wie  dies  wohl  auch  von  unserm  Dionysius  Areopagita 
beabsichtigt  wurde  und,  wie  der  Erfolg  gezeigt  hat,  über 
Erwarten  gut  gelungen  ist;  denn  das  ganze  ]\Iittelalter  bis 
auf  Laurentius  Valla  hin  hat  an  der  Echtheit  dieser  Schriften 
festgehalten  und  in  ihnen  Dokumente  aus  der  Zeit  des  Ur- 
christentums verehrt.  In  Wahrheit  aber  haben  diese  Schriften 
einerseits  die  Philosophie  des  Neuplatonikers  Proklos  (450  p.  C), 
andererseits  die  Formeln  des  Konzils  zu  Chalkedon  (451)  zur 
Voraussetzung,  sind  der  ganzen  alten  Kirche  unbekannt  und 
werden  zum  ersten  ^lale  erwähnt  bei  dem  Religionsgespräch 
von  Konstantinopel  533  p.  C,  wo  die  Severianer  (eine  mono- 
physitische  Sek'te,  welche  mit  Severus  von  Antiochien  an- 
nahm, dafs  der  Leib  Christi  erst  nach  der  Auferstehung  äcfitrj.^- 
Toc  und  dTCa^T,;;  geworden  sei)  sich  auf  dieselben  beriefen. 
Zur  kirchlichen  Anerkennung  gelangten  sie  erst  durch  die 
Schollen,  welche  Maximus  Confessor  (580 — 662)  zu  ihnen 
schrieb,  in  denen  er  die  monophysitisch  klingenden  Stellen  in 
orthodoxem  Sinne  deutete.  Fünf  Schriften  haben  sich  unter 
dem  Namen  des  Dionysius  Areopagita  erhalten: 

1.  -spt  ^suov  ovc[j.dt,T«v,  „über  die  göttlichen  Namen", 

2.  TTspt.  oüpavcac  hgoig-^^inc,  „über  die  himmlische  Hierarchie", 

3.  zspt,  ixxkr^ai'xaziySqc  ispapyjar,  „über  die  kirchliche  Hier- . 
archie", 

4.  zspt.  [j.'jc;-!,xf,::  'rsoACYiac,  „über  die  mystische  Theologie", 

5.  zehn  Briefe,  gerichtet  an  den  Therapeuten  Gajus,  den 
Liturgen  Dorotheos,  den  Presbyter  Sosipater,  den  Hier- 
archen Polykarpos,  den  Therapeuten  Demophilos,  den 
Hierarchen  Titus  und  den  Theologen  Johannes  auf 
Patmos. 

•In  diesen  Schriften  unterscheidet  der  Verfasser  eine  be- 
jahende Theologie  {y.7.xoic^oi-v/.(i  'riCAC7''a),  welche  von  Gott 
durch  seine  Eigenschaften  und  Emanationen  (rcpccSo!.)  zu  den 
Einzeldingen  herabsteigt  und  Gott  als  den  Vielnamigen  (ttcX'jw- 


4.    Kindriiigen  iieuplatonischor  Gedanken  in  das  Cliristentum.        p,57 

vDfJLcr)  feiert,  und  eine  verneinende  Theologie  (drc9aT!.x-r] 
'tz.ZAzyl'x),  welche  auf  mystischem  Wege  zu  Gott  als  dem 
Namenlosen  (dcvuvjtj.cr)  gelangt,  indem,  sie  alle  Unterschiede 
der  Einzelwesen,  alle  Vielheit  in  dem  einen  göttlichen  Ur- 
gründe auslöscht.  Die  bejahende  Theologie  wird  vorwiegend 
in  der  Schrift  von  den  göttlichen  Namen  entwickelt,  an  welche 
wir  die  Bücher  von  der  himmlischen  und  der  irdischen  Hier- 
archie anschliefsen;  der  verneinenden  Theologie  ist  aufser  Hin- 
deutungen in  den  übrigen  Schriften  und  Briefen  die  nur  aus 
fünf  kurzen  Kapiteln  bestehende  Schrift  über  die  mystische 
Theologie  gewidmet. 

Die  Lehren  der  beiden  Theologien,  der  bejahenden  und 
verneinenden,  stehen  in  kontradiktorischem  Gegensatz  zu 
einander:  nach  der  einen  ist  Gott  vielnamig,  nach  der  andern 
namenlos;  diese  beiden  Vorstellungen  können  nicht  als  zwei 
völlig  ernstgemeinte  Überzeugungen  in  demselben  Kopfe  zu- 
sammenbestehen, und  fragen  wir,  welche  von  beiden  im  Sinne 
unseres  Autors  die  wahrere  ist,  so  lassen  Bezeichnungen  der 
negativen  Theologie  als  der  gültigem  (xupioTepa)  und  gött- 
lichem (reioTspa)  keinen  Zweifel  darüber, .  dafs  sie  die  eigene 
Theologie  unseres  Verfassers  ist;  De  div.  nom.  VH,  §  3:  y.al 
§',a  Yvwceor  6  0£cr  yivocx-iTat  xal  S',a  ayvcoCLar,  xa»,  Icriv  auToü 
xal  vcT,C'.r  y.y.l  Ac^or  '/.al  kiZ'.azr^iJ.'q  xa',  k7Z7.(^'q  y.7l  aiifZrp.'Z  xal 
hiz^y.  xal  oavT'xa''a  xal  Gvc|j.a  xal  to,  aXAa  Tcavxa,  —  xal  o'jts  voslra'. 
CUTS  Ao^öTa',  z'j-i  ovo[j.a«£Ta'/  xal  oux  la~i  n  töv  cvtwv,  ohhl  sv 
T'/r.  Töv  cvTf.)v  Y'.vQCxsTa',  ■  xal  ev  tolci  -dvTa  ia-l  xal  Iv  cuSevl 
o'jSsv  xal  ix  — dvTwv  -dac  Yiv6c;xi"ra'.  xal  iz  ouSsvör  o'jSsvI'  xal 
ydp  taOra  opTör  "spl  öeoij  a£yo[j.;v,  xal  Ix  rwv  cvro)'^  aTrdvTwv 
ujj.vsiTa',  xaTa  ttiV  TrdvTov  dvaAcylav,  6v  Ict'.v  aÄT'.oc'  xal  &aT',v. 
rvj'Z'.:  r,  j£(.oTd~^  tgO  ©toü  yvwcK:  i^  St'  ayvcoclac  y^'^"^'''-^!-'-^*''''!? 
xaTd  -TTjV  6~;p  voOv  svfOGLv,  cTav  6  vo'jc,  Töv  6'vTwv  zdvTov  aTtoardr, 
cTTiiTa  xal  £a'j-:6v  doelr,  evojfj  Tale  i)7:ip9a£a',v  dxTlaiv,  „Gott 
wird  erkannt  durch  das  Erkennen  und  durch  das  Nicht- 
erkennen;  einerseits  kommen  ihm  zu  Verstand,  Vernunft, 
Wissen,  Berührung,  Wahrnehmung,  Meinung,  Phantasie,  Name 
und  alles  übrige,  —  und  wiederum  wird  er  weder  erkannt, 
noch  ausgesprochen,  noch  genannt;  und  ist  nichts  von  dem 
Seienden,  wird  auch  in  nichts  von  dem,  das  ist,  erkannt;  er 


358  XIII.'  Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

ist  in  allen  alles  und  wiederum  in  keinem  irgend  etwas;  er 
wird  aus  allem  erkannt  von  allen 'und  wiederum  von  keinem 
aus  keinem;  denn  auch  jenes  sagen  wir  mit  Recht  von  Gott 
aus  und  preisen  ihn  aus  allem,  was  da  ist,  nach  der  Analogie 
von  allem,  dessen  Ursache  er  ist;  und  wiederum  ist  die  gött- 
lichste Erkenntnis  Gottes  diejenige,  welche  durch  Nichterkennen 
erreicht  wird,  vermöge  der  den  Geist  übersteigenden  Ver- 
einigung, wenn  der  Geist  von  allem  Seienden  absieht,  schliefs- 
lich  auch  sich  selbst  fahren  läfst  und  eins  wird  mit  den  über 
alles  Licht  erhabenen  Lichtstrahlen." 

Aber  wie  vereinigt  dieser  Standpunkt  die  mystische  Ver- 
senkung in  die  Gottheit  mit  den  Aussprüchen  der  Heiligen  Schrift, 
welche  ihm  durchaus  als"  göttliche  Offenbarung  gilt,  und  mit 
ihren  anthropomorphen  Vorstellungen?  De  div.  nom,  Paraphr.  I, 
§  4:  Tauxa  7^?  ^'-^^  ^'^  TrapaTTSTacjj.a-a,  jj/Jj  ex.cvTov  fj|j.öv  oLixiaioQ 
TtpocßaAAi'.v  Toic  zgoi'dx.aai,  xal  hijx  toüto  S£C[j.£vov  :ü£p',xaA'j[j.- 
tj-dtTov  TLvöv  .  . .  -l  hi  ia~i  t6  9',Adv'^p(i)7rcv  töv  lepöv  Ypa9wv;  — 
CT'-  xaTa  aYoc-TjCtv  jsiav,  Iva  yop-r^'^'^  xo  vct^tcv  x.al  dc/upr^TCv  sv 
T,|xtv,  aia'^TjTot^  C'jii-ßcAO'.r  l'i^rffrzo  C'.ove''  T'.a»,  ~2p',xa)oj|j.|j.aai.. 
„Alles  das  sind  Schleier,  weil  wir  nicht  imstande  sind,  die 
Realität  unmittelbar  zu  erfassen,  und  deswegen  gewisser  Hüllen 
bedürfen  . . .  Wie  aber  ist  dies  menschenfreundliche  Verhalten 
der  Heihgen  Schrift  zu  verstehen?  Aus  göttlicher  Liebe,  da- 
mit das  Geistige  und  Unfafsbare  uns  fafslich  werde,  bedient 
sie  sich   sinnlicher  Symbole  gleichsam   als  gewisser  Hüllen." 

Diese  Stellen  mufs  man  im  Auge  behalten,  wenn  man 
sieht,  wie  der  Verfasser  der  mystischen  Theologie,  ehe  er 
diese  abhandelt,  eine  ausführliche  Schrift  Trspt  ^e''«v  6vo[j.dT«v, 
„über  die  göttlichen  Namen",  vorausschickt,  welche  schon 
durch  ihren  Titel  andeutet,  dafs  es  sich  hierbei  um  Namen 
handelt,  und  deren  Inhalt  wir  nur  ganz  kurz  überblicken  wollen. 

Die  obersten  Benennungen  Gottes  sind  die  als  der  Gute 
und  Schöne.  Auf  seiner  Güte  beruht  das  Sein  aller  Dinge, 
auf  seiner  Schönheit  die  Form,  welche  er  ihnen  verleiht, 
„das  überwesentlich  Schöne  aber  wird  Schönheit  genannt, 
wegen  der  Schönheit  (xaAAcvT,),  welche  von  ihm  aus  allen 
Seienden,  jedem  nach  seiner  eigentümlichen  Weise,  mitgeteilt 
wird";   es   ist  „alles   Schönen   Schönheitsquell";,  es  ist  End- 


'    4.   Einilriiigen  iieuplatonischcr  Gedanken  in  das  Cliristentum.        359 

zweck  und  Vorbild  alles  Schönen  in  der  Welt  (De  div.  nom.  IV, 
§  7).  AA'eiter  wird  Gott  bezeichnet  als  die  Liebe  (IV-,  12), 
das  Leben  (cap.  VI),  die  Weisheit,  „als  das,  welches  alle 
Weisheit  ins  Dasein  führt  und  über  alle  Weisheit  und  alles 
Verständnis  erhaben  ist'"  (VII,  1),  die  Kraft  als  „Urheber 
aller  Kraft,  der  alles  mit  unbeugsamer,  unbegrenzter  Kraft 
ins  Dasein  bringt"  (VlII,  2),  woran  sich  eine  Reihe  weiterer 
von  Gott  in  der  Bibel  gebrauchter  Bezeichnungen  anschliefst. 
Bei  jeder  dieser  göttlichen  Eigenschaften  wird  versichert,  dafs 
sie  in  überwesentlicher  Vollkommenheit  der  Gottheit  eigen 
sind,  und  dafs  sie  aus  .der  Überfülle  Gottes,  ohne  dafs  die- 
selbe dadurch  vermindert  wird,  in  die  Welt  ausstrahlen; 
II,  11  Paraphr.:  zal  zoXXaTCAaataLicvTa',  [j.lv  a»,  ?>Mpsoc',  i~l  'zzl^ 
xat:'  exaJTCv,  [j.ho-jci  bk  a:^v/.c^o'~r~i,)::  sie  ~b  £v,  „und  zwar 
werden  die  göttlichen  Gaben  vielfach  gemacht  in  den  Einzel- 
dingen und  bleiben  doch  unabgängig  bestehen  in  dem  Einen". 

Mit  diesen  neüplatonischen  Anschauungen  verbindet  Dio- 
nysios  die  christliche  Lehre  von  der  Trinität  in  der  Weise, 
dafs  er  sämtliche  göttliche  Eigenschaften  jeder  der  drei  Per- 
sonen zuschreibt,  welche  von  einander  verschieden  sind  und 
doch  eine  Einheit  bilden,  vergleichbar  drei  Lichtern,  welche 
sich  zu  einem  Lichtmeere  vereinigen. 

Zwischen  der  Gottheit  und  der  irdischen  Hierarchie  steht 
als  Vorbild  der  letztern  die  himmlische  Hierarchie,  wie  sie  in 
der  Schrift  zspl  Tf,c  oupaviac  Upapx^a?  vom  Areopagiten  be- 
handelt ward.  Sie  zerfällt  in  eine  obere,  mittlere  und  untere 
Trias  von  Engeln,  ein  Name,  welcher  eigentlich  nur  der  letzten 
Triade  zukommt,  aber  auch  auf  die  beiden  obern  seine 'An- 
wendung findet,  weil  die  obern  Engel  auch  die  Kräfte  der  untern 
besitzen  und  ausüben,  nicht  aber  die  untern  auch  die  der 
obern.    Die  Namen  der  drei  Triaden  zeigt  folgendes  Schema: 


a£pa9Mj., 

X£pc-j,3c[x, 

^pcvoi. 

XUp',GTT|T£r, 

S'jva|j.£(.(:, 

i'E,c-jcicf.i, 

^91'^'; 

dpya7Y£Aci, 

aY7£ACi. 

Die  in  der  Schrift  -£pl  £xx.AT,JLaaTL/-T,c  [tg-y.z-/yj.c  beschriebene 
kirchliche  Hierarchie  ist  ein  Abbild  der  himmlischen  und  ent- 
hält wie  diese  drei  Stufen,  welche  durch  den  Bischof  ([zgy.zyr^c), 


?)ßO  XIII.    Die  zweite  Periode  der  Patristik.  * 

den  Priester  (up^ür)  und  den  Diakonen  (A£t,ToupYcc)  gebildet 
werden.  Der  überwesentliche  Jesus  ('ItjCoü?:  ■uTispouCLOc),  wie 
er  ein  Glied  der  Trinität  bildet,  ist  zu  den  Menschen  herab- 
gestiegen und  hat  durch  seine  'TöavSpf.x-/]  svip^sia  die  Kirche 
gegründet  als  eine  Anstalt,  um  die  Menschen  zu  Gott  empor- 
zuführen. Der  Aufstieg  erfolgt  in  drei  Stufen,  welche  als 
xa^apc'.c  (Reinigung),  9cort.c;j.c?  (Erleuchtung)  und  zcXzldtaic 
(Vollendung)  bezeichnet  werden.  Der  Diakon  bewirkt  die 
xdc^apc'.r,  der  Priester  den  9«T!,a|j.cc  und  der  Bischof  die  xe- 
löMcic,  welche  zur  Vergottung  (^soaic)  emporführt.  Wie  bei 
der  himmlischen  Hierarchie  können  auch  bei  der  kirchlichen 
die  Funktionen  der  niedern  Ordnungen  auch  von  den  höhern, 
nicht  aber  umgekehrt  auch  die  höhern  von  den  niedern  aus- 
geübt werden. 

Das  höchste  Ziel  der  Seele  ist  das  Einswerden  mit  Gott 
(rstjcT'.r),  zu  welchem  drei  Wege  führen,  die  unser  Autor  als 
die  süviüa,  k\<:/.ol'.hT^;  und  die  xux/j//.-^  yl-rr^a'4,  die  gerade,  die 
spiralförmige,  die  zentrale  Bewegung  bezeichnet. 

1.  Die  gerade  Bewegung  besteht  darin,  dafs  die  Seele  izgoc, 
Ta  TZipl  ea'jTTjV  izgo'ioyjacc,  xal  öcto  twv  s^w^sv,  ucTrep  dx6  xtvo)-; 
au'j-ßcAwv  TrsxoLX'Ajxsvov  xal  TüSTCATj'i'ucjj.svwv,  £7rl  zoLC  aTCAÖcr  xal 
Tjvoij.sva?  dvocY^xa'.  'Tstjpia?,  „sich  der  Umgebung  zuwendet  und 
von  den  Aufsendingen  als  von  mannigfachen  und  verviel- 
fältigten Symbolen  zu  den  einfachen  und  geeinigten  Erkennt- 
nissen emporgeführt  wird",  mit  andern  Worten,  in  dem  von 
der  Vielheit  der  Dinge  zur  Einheit  des  Göttlichen  empor- 
führenden ^^'eg•e  der  A1)straktion. 

'2.  Die  spiralförmige  Bewegung  erfolgt  dann,  wenn  die 
Seele  oly.iioc  sauTV]  xdc  t^eiar  £AAd[j.~£Ta'.  Yvcoa^'.r,  oh  vospwc  xal 
h'.7.io):,  oLu.T.  Aoyixwj  xa',  5u^o6',xwr,  xal  cbv  C'j[j.|jixTO!,c  xai.  [j.oTa- 
ßaTixa-:;  IvipYS'la',;,  „in  einer  ihr  innewohnenden  Weise  in  betreff 
der  göttlichen  Erkenntnisse  erleuchtet  wird,  jedoch  nicht  (wie 
auf  dem  dritten  Wege)  in  intelligibler  und  einswerdender  Art, 
sondern  logisch  und  diskursiv  und  gleichsam  mit  Hilfe  ver- 
mischter und  in  einander  überschwebender  Energien". 

Erfolgt  hiernach  die  gerade  Bewegung  a  posteriori  durch 
Zusammenfassung  des  Mannigfaltigen,  und  die  zweite  Be- 
wegung zwar  a  priori,  aber  nicht  rein,  sondern  mit  Hilfe  der 


4.  iMiulringeii   neuplatonisclier  Gedanken  in  das  Christentum.       30 1 

bei  ppimltormigem  Aulstcigen  von  immer  höherm  Standpunkte 
aus  betrachteten  Aul'senwelt,  so  besteht  die  dritte.  Bewegung 
darin,  dafs  die  Seele  rein  a  priori,  rein  in  sich  selbst  die 
Gottheit  sucht  und  findet,  wie  folgende  Stelle  zeigt : 

3.  Die  zentrale  Bewegung  der  Seele  ist  tj  si:  sa'j-XjV  eüco- 
8or  d~ö  Töv  £^o,  xal  twv  vospöv  oihzr^^  5'jvdu.e(.)v  tj  £vo£t.8'r]C  a'r)i- 
A'4tr,  „die  Einkehr  in  sich  selbst  und  Abkehr  von  den  Aufsen- 
dingen, bestehend  in  der  Zusammenwicklung  ihrer  intelligiblen 
Kräfte  zu  einer  Einheit". 

Das  Resultat  dieses  dritten  und  besten  Weges  ist  das- 
jenige, was  der  Verfasser  in  der  kurzen  Abhandlung  zspl 
[j-uSTiXT,?  ^soXo^iac  mit  wundervollem  Tiefsinn  zum  Ausdruck 
bringt.  Ihr  Grundgedanke  ist  die  völlige  Unerkennbarkeit 
und  allein  möghche  Erfassung  der  Gottheit  durch  unmittel- 
bares Einswerden  mit  ihr. 

Seltsam  nimmt  sich  am  Eingang  des  kleinen  Werkes  die 
Anrufung  der  Trinität  aus,  um  so  seltsamer,  als  der  Verfasser 
sogleich  darauf  die  Warnung  davor  ausspricht,  seine  Ge- 
danken Uneingeweihten  mitzuteilen:  „Habe  aber  acht,  dafs 
keiner  der  Uneingeweihten  dies  höre,  jene  meine  ich,  die  im 
Seienden  befangen  sind  und  die  sich  einbilden,  dafs  über  dem 
Seienden  nichts  überwesentlich  ist;  sondern  die  da  glauben 
mit  ihrem  Verstände  zu  begreifen  den,  welcher  die  Finsternis 
zu  seiner  Wohnung  gemacht  hat."  Gott  ist  durch  die  Er- 
kenntnis nicht  zu  erfassen,  um  ihn  zu  finden,  müssen  wir  in 
seine  über  alles  Licht  erhabene  Finsternis  (ttöv  hizigc^uzz') 
YV69CV)  eintauchen,  und  dies  geschieht,  indem  wir  uns  von  allen 
Aufsendingen  und   zuletzt  auch  von  uns   selbst  lossagen,  Iva 

dTTSpLXaAlJTrTG)?    YV«|X£V    £X£[v'ir]V    T7]V    ayVCOGtaV,    TT;V    uttö    TtdvTWV    T«V 

YvucjTwv  Iv  TZOLöi  Toic  oufft  7:£pixöxaAU|j.[j.£V'if]v ,  ,,um  un verhüllt 
jene  Unerkennbarlceit  zu  erkennen,  welche  von  allem  Erkenn- 
baren und  in  allem  Seienden  verborgen  ist",  wie  die  Statue 
im  Marmorblock,  so  dafs  es  der  blofsen  Wegnahme  fd9aLp£a',r) 
bedarf,  um  Gott  in  uns  zu  finden.  Was  wir  da  finden,  kann 
nicht  durch  viele  Reden,  auch  nicht  durch  ßpapAoy'a  mit- 
geteilt werden,  sondern  allein  durch  Schweigen.  Denn  Gott 
ist,  wie  das  letzte  Kapitel  darlegt,  nichts  von  allem  Seienden, 
Erkennbaren,   Mitteilbaren;   indem  wir  uns   zu  ihm   erheben, 


362  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

finden  wir,  „dafs  Gott  weder  Seele  noch  Geist  ist,  dafs  er 
weder  Phantasie,  noch  Vorstelhmg,  noch  Geist  hat,  dafs  er 
auch  Verstand  und  Geist  nicht  ist,  dafs  er  nicht  ausgesprochen 
und  nicht  gedacht  wird,  dafs  er  keine  Zahl,  keine  Ordnung, 
keine  Gröfse,  keine  Kleinheit,  keine  Gleichheit,  keine  Ungleich- 
heit ist,  keine  Ähnlichkeit,  keine  Unähnlichkeit,  dafs  er  nicht 
steht,  nicht  bewegt  wird,  nicht  ruht,  keine  Kraft  hat,  und 
weder  Kraft  noch  Licht  ist,  dafs  er  nicht  lebt  und  nicht  Leben 
ist,  auch  nicht  Wesenheit,  Ewigkeit,  Zeit;  dafs  er  mit  dem 
Geiste  nicht  berührt  oder  befühlt  werden  kann;  dafs  er  nicht 
Wissenschaft  ist,  nicht  Wahrheit,  nicht  Reich;  nicht  Weis- 
heit, Eines,  Einheit,  Gottheit  oder  Güte;  nicht  einmal  ein 
Geist,  wie  wir  uns  den  Geist  denken,  nicht  Sohnschaft,  nicht 
Vaterschaft,  überhaupt  nichts  von  dem,  was  uns  oder  einem 
andern  der  Seienden  bekannt  ist;  er  ist  auch  nichts  Nicht- 
seiendes  und  nichts  Seiendes,  und  das  Seiende  erkennt  ihn 
nicht,  insofern  er  ist,  und  er  erkennt  das  Seiende  nicht,  in- 
sofern es  Seiendes  ist;  er  hat  keinen  Verstand,  keinen  Namen, 
keine  Kenntnis;  er  ist  nicht  Finsternis,  nicht  Licht,  nicht 
Irrtum,  nicht  W^ahrheit ;  überhaupt  weder  Bejahung  noch 
Verneinung;  sondern  indem  wir  bei  dem,  was  nach  ihm 
kommt,  Bejahungen  und  Verneinungen  setzen,  setzen  wir  in 
ihm  weder  Bejahung  noch  Verneinung,  weil  über  alle  Be- 
jahung hinaus  die  vollkommene  einige  Ursache  von  allem 
liegt,  und  weil  über  jede  Verneinung  die  Überschwenglichkeit 
des  von  allem  Abgelösten  sich  erhebt,  der  über  allem  steht". 

5.  Ausgang  der  patristlschen  Periode  (500- sOO  p.  C). 

Nachdem  das  Weströmische  Reich  in  allen  seinen  Pro- 
vinzen von  den  Barbaren  der  Nordländer  überflutet  und  in 
Besitz  genommen  war,  nachdem  ferner  Justinian  529  die  letzte 
noch  in  Athen  bestehende  Philosophenschule  geschlossen  hatte, 
und  nachdem  schliefslich  dem  Oströmischen  Reiche  von  den 
Mohammedanern  die  beiden  Provinzen,  welche  noch  am  regsten 
das  geistige  Leb^n  gepflegt  hatten,  Syrien  mit  Antiochien 
(638)  und  Ägypten  mit  Alexandria  (642),  entrissen  worden 
vmd  unwiederbringlich  verloren  gegangen  waren,  trat  als  natür- 


5.   Alll^g;lng  der  patriotischen  Periode  (500—800  p.  C).  3r)3 

liehe  Folge  dieser  politischen  Wendungen  im  ganzen  griechisch- 
römischen Kulturkreise  auf  philosophischem  wie  auf  religiösem 
Gebiete  eine  Stagnation  ein,  welche  es  zu  keinen  neuen  geisti- 
gen Schöpfungen  mehr  kommen  liefs,  so  dafs  die  hervor- 
ragendsten Leistungen  dieser  Periode  sich  darauf  beschränkten, 
das  Überkommene  zu  reproduzieren  und  für  den  praktischen 
Gebrauch,  namentlich  auch  fih*  Schul  zwecke,  zurechtzuschnei- 
den.  Es  mag  für  unsere  Zwecke  genügen,  als  bedeutendste 
Erscheinungen  im  Abendlande  die  Leistungen  des  Marcianus 
Capella,  Boethius  und  Cassiodorus,  sowie  im  Orient  die  Be- 
mühungen des  Mönches  Johannes  Damascenus  kurz  zu  cha- 
rakterisieren. 

Marcianus  Minaeus  Felix  Capella,  zu  dessen  näherer 
Zeitbestimmung  die  spärlichen  Beziehungen  in  seinem  Werke 
nicht  ausreiche;!,  war  geboren  zu  Madaura  in  Afrika,  erhielt 
seine  Erziehung  in  Karthago  und  war  von  Beruf  Sachwalter. 
Er  schrieb  um  430,  nach  andern  um  470,  ein  enzyklopädisches, 
nach  Form  und  Inhalt  an  Varro  sich  anlehnendes  Werk  unter 
dem  Titel  Satirkon  in  neun  Büchern  in  schwülstigem  afrika- 
nischen  Stil,  Prosa  mit  eingeflochtenen  Versen.  Die  beiden 
ersten  Bücher  führen  den  mitunter  auch  das  Ganze  bezeichnen- 
den Titel  De  niiptiis  P/iüologiae  et  llercttrii  und  schildern  in 
einer  etwas  frostigen  Allegorie  die  in  der  Milchstrafse  statt- 
findende Vermählung  der  Wissenschaft  mit'  der  Weltklugheit, 
welchen  von  Apollo  als  Gefolge  die  Septem  artes  liberales  ver- 
liehen werden.  Diese  bilden  den  Inhalt  der  sieben  folgenden, 
den  gesamten  Wissensstoff  der  Zeit  kompilatorisch,  doch 
meist  ohne  nähere  Quellenangabe  befassenden  Bücher,  von 
denen  Buch  III  die  Grammatik,  IV  die  Dialektik,  Metaphysik 
und  Logik,  V  die  Rhetorik,  VI  die  Geometrie  (mit  Einschlufs 
der  Geographie),  VII  die  Arithmetik,  VIII  die  Astronomie 
(welche  auch  eine  Skizze  des  heliozentrischen  Systems  enthält, 
die  möglicherweise  auf  Kopernikus,  der  das  Buch  erwähnt, 
von  Einflufs  gewesen  ist),  IX  die  Musik  mit  Einschlufs  der 
Poesie.  Dieses  Werk  wurde,  ungeachtet  seiner  schwerfälligen 
Form,  im  Mittelalter  das  hauptsächliche  Lehrbuch  für  den  ge-  , 
lehrten  höhern  Unterricht,  welcher  Grammatik,  Dialektik  und 
Pihetorik  als  das  Tricium,  und  Geometrie,  Arithmetik,  Astro- 


364  XIII.    Die  zweite  Periode  der  Patristik. 

nomie  und  Musik  als  das  Quadriviimi  befafste,  wie  sie  ein 
alter  versus  mcniorialis  (etwas  abweichend  von  der  Ordnung) 
aufzählt  als: 

Livtjiia.   Tropus,  Batio;  Numerus,  Tenor,  Anyulus,  Astra. 

Das  Werk  wurde  im  Mittelalter  oft  abgeschrieben,  wodurch 
viele  Fehler  hineinkamen,  wie  auch  kommentiert  und  übersetzt. 

Was  Capeila  für  den  Schulunterricht,  das  wurde  für 
die  philosophischen  Grundlagen  der  mittelalterlichen  Bildung 
Anicius  Manlius  Torquatus  Severinus  Boethius.  Er 
war  geboren  zu  Rom  zwischen  470  und  480  aus  vornehmer 
und  angesehener  Familie,  wurde  gebildet  zu  Rom,  nach  an- 
dern zu  Athen,  widmete  sich  neben  der  Philosophie  politi- 
schen Studien,  wurde  510  von  dem  Ostgotenkönig  Theodorich 
zum  Konsul  ernannt  und  wirkte  lange  Zeit  segensreich  als 
Ratgeber  des  Königs,  bis  er  in  Verdacht  geriet,  mit  dem 
byzantinischen  Hofe  zu  konspirieren,  ins  Gefängnis  geworfen 
und  um  525  zu  Pavia  auf  Befehl  des  Königs,  wie  man  sagt 
ohne  Ver^liör,  hingerichtet  v.  urde.  Während  der  Gefangenschaft 
schrieb  er  sein  berühmtes  Werk  De  consoJcüione  iiliilosophieic 
lihri  V,  in  edler,  mit  Versen  untermischter  Prosa,  bestehend 
in  einem  Gespräche  mit  der  ihm  erscheinenden  Philosophia, 
welche  ihn  ermahnt,  durch  die  Vernunft  seiner  Affekte  Herr 
zu  werden  und  auf  die  Vorsehung  zu  vertrauen,  welche  alles 
zum  besten  wenden  werde.  Aufser  dieser  Hauptschrift  hat 
Boethius  namentlich  die  logischen  Schriften  des  Aristoteles 
sowie  die  Isagoge  des  Porphyrios  in  die  Kategorien  des  Aristo- 
teles übersetzt  und  kommentiert  und  sie  dadurch  dem  Mittel- 
alter zugänglich  gemacht.  Ob  Boethius  Christ  gewesen  sei, 
hängt  ab  von  der  noch  nicht  entschiedenen  Frage,  ob  die  ihm 
in  einer  (möglicherweise  eingefälschten)  Stelle  seines  Zeit- 
genossen Cassiodorus  zugeschriebenen  christlichen  Schriften 
De  Trinitate  u.  a.  von  ihm  verfafst  sind.  In  seiner  ConsoJatio 
tritt  eine  Beziehung  zum  Christentum  nirgendwo  hervor. 

Cassiodorus  (Magnus  Aurelius  Cassiodorus  Senator), 
geboren  gegen  480  zu  Scyllacium  (Squillace),  südlich  von 
Kroton  in  Calabrien,  aus  vornehmer  Familie,  Zeitgenosse  des 
Boethius,  aber  diesen  lange  überlebend,   bekleidete  eine  hohe 


ö.   Ausgang  der  patristisclieu  Periode  (500— 800  i).  C).  36;") 

Stelle  am  osto-otischen  Hofe  als  Geheimsekretär  des  Theodorich 
und  seiner  Nachfolger,  stets  bemüht,  in  den  Gegensätzen 
zwischen  üstgoten  und  Römern  versöhnlich  zu  wirken,  zog 
sich  während  der  Zeit  der  durch  Belisar  veranlafsten  Wirren 
"540  auf  das  von  ihm  gegründete  Kloster  Vivarium  (Vivarese 
bei  Squillace)  zurück,  wo  er  bis  ins  höchste  Alter,  er  wurde 
fast  100  Jahre  alt,  eine  mnfassende  schriftstellerische  Tätig- 
keit entfaltete  und  für  das  Abschreiben  klassischer  Werke 
durch  die  Mönche  anregend  und  vorbildlich  wirkte.  In  seinem 
Buche  De  nnima  tritt  er,  wie  schon  vor  ihm  Claudianus  Ma- 
mertus  (f  477),  der  stoischen,  seit  Tertullian  vielfach  ver- 
breiteten Auffassung  der  Seele  als  einer  materiellen  Substanz 
entgegen, '  erklärt,  dafs  sie  nicht  unter  den  aristotelischen 
Kategorien  der  Qualität  und  Quantität  subsumierbar,  sondern 
ganz  in  allen  Teilen  des  Körpers  {tota  est  in  partihiis  suis;  De 
animaG)  gegenwärtig  sei.  Eine  zweite  Hauptschrift  des  Cässio- 
dorus  sind  seine  Institiitiones  divinarum  et  saecidariwn  littera- 
rum  in  zwei  Teilen,  deren  erster  die  theologischen  Studien 
behandelt,  während  der  zweite  eine  Übersicht  der  Septem  artes 
liberales,  nämlich  der  drei  scientiae  sermonicidcs  und  der  "vier 
disciplinae  reales  gibt,  wobei  er  vielfach  auf  ßoethius  und 
Apuleius  fufst  und  sich  seiner  Tätigkeit  als  einer  blofs  kom- 
pilatorischen  deutlich  bewufst  ist.  Für  die  Geschichte  des 
Gotenreiches  ist  seine  Urkundensammlung  in  den  Variarum 
epistidarnm  lihri  XII  von  grundlegender  Wichtigkeit,  wälirend 
seine  Historia  Gotliorum  nur  in  dem  Auszuge  des  Jemandes 
erhalten  ist. 

Während  die  Arbeiten  des  Capella,  Boethius  und  Cassio- 
dorus  durch  die  auf  ihnen  beruhenden  Kompilationen  des 
Spaniers  Isidorus  Hispalensis  (Isidor  von  Sevilla)  um  600, 
sowie  der  Angelsachsen  Beda  Venerahilis  (um  700)  und  ^4?- 
cuinus  (um  800)  in  das  Mittelalter  übergeführt  wurden,  leistete 
für  die  griechische  W^elt  dasselbe  Johannes  Damascen/is,  mit 
dem  Beinamen  y^pucop'pcac,  geboren  etwa  700  zu  Damaskus, 
ein  eifriger  Verteidiger  der  Bilderverehrung  und  dadurch  den 
Anfeindungen  der  Kaiser  Leo  III.  des  Isauriers  (717 — 741)  und 
Konstantin  V.  Kopronymos  (741  —  775)  ausgesetzt.  Seine 
Lebensschicksale  erinnern  an  die  des  Cassiodorus;  wie  dieser 


366  XIII.   Die  zweite  Periode  der  Patrtstik. 

am  ostg'otischen  Hofe,  war  Johannes  ein  hoher  Beamter  am 
Hofe  eines  kaUfischen  Fürsten,  zog  sich  aber,  ähnhch  wie 
Cassiodorus,  um  das  Jahr  730  in  das  Kloster  St.  Sahas  bei 
Jerusalem  zurück.  Die  Veranlassung  zu  diesem  Schritte  soll 
ein  Wunder  gegeben  haben :  Leo  der  Isaurier,  um  den  Bilder- 
verehrer zu  strafen,  hatte  ihn  durch  einen  erdichteten  Brief 
bei  seinem  kalifischen  Herrn  verleumden  lassen,  welcher  dem 
Johannes  die  rechte  Hand  abhauen  liefs,  die  aber,  nachdem 
dieser  sich  anbetend  vor  einem  Marienbild  niedergeworfen 
hatte,  alsbald  wieder  angewachsen  sein  soll.  \Vie  dem  auch 
sei,  Johannes  sagte  dem  weltlichen  Leben  Valet,  zog  sich  in 
das  Kloster  zurück  und  beschäftigte  sich  bis  zu  seinem  754 
oder  früher  erfolgten  Tode  mit  schriftstellerischerf  Arbeiten. 
Aus  diesen  ging  als  Hauptresultat  das  berühmte,  noch  heute 
im  Orient  angesehene  Werk  hervor,  welches  den  Titel  Tzr^y}] 
yvwaiur  führt  und  aus  drei  Teilen  besteht;  der  erste,  die 
X£9aAa!.a  o'.Acaoo'.xa,  enthält  eine  Darstellung  der  Logik  und- 
Ontologie  nach  Aristoteles,  der  zweite  unter  dem  Titel  z^pl 
alpscsüv  liefert  eine  Widerlegung  der  Ketzereien  auf  (Irund 
der  "Vorarbeit  des  Epiphanius,  und  der  dritte,  wichtigste  Teil 
führt  den  Titel:  s.y.hoai;  axp^ß-^r  Tf^^  o^^zhclo-j  ziCTöwr  und  ent- 
hält eine  .systematische  Zusammenfassung  dessen,  was,  wie 
Johannes  sagt,  heilige  und  gelehrte  Männer  vor  ihm  dar- 
gelegt haben.  Dieses  Werk  ist  nicht  nur  für  die  griechische 
Kirche  in  der  Folgezeit  und  bis  auf  die  Gegenwart  hin  die 
Grundlage  der  Dogmatik  geblieben,  sondern  auch  mittels  einer 
durch  Burgundio  von  Pisa  im  12.  Jahrhundert  verfafsten  latei- 
nischen Übersetzung  im  Abendlande  auf  Scholastiker  wie 
Petrus  Lombardus  und  Thomas  Aquinas  von  erheblichem  Ein- 
flufs  o;eworden.  • 


Die  Scholastik. 

XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastik 
(von  800—1200  p.  C). 

1.   Yorbemerkungeii. 

Während  die  Patristik  bemüht  gewesen  war,  in  ihrer 
ersten  Periode  (100 — 325  p.  C.)  die  wesentlichsten  Dogmen 
des  Christentums  festzustellen,  und  in  ihrer  zweiten  Periode 
(325 — 800)  diese  Grunddogmen  zu  einem  System  der  Dog- 
matik  zu  verknüpfen,  beides  auf  Grund  und  unter  Mitwirkung 
der  Errungenschaften  der  griechischen  Philosophie,  so  fiel 
der  Scholastik  die  weitere  Aufgabe  zu,  die  erstarkte  und 
bereits  erstarrte  Dogmatik  des  Christentums  mit  den  anfangs 
nur  sehr  mangelhaft,  weiterhin,  namentlich  seit  1200,  immer 
vollständiger  auf  Umwegen  zu  den  Scholastikern  gelangenden 
Philosophemen  der  Griechen  zu  einer  Art  Religionsphilosophie 
zu  verweben,  wobei  man  in  der  ersten  Periode  der  Scholastik 
(800 — 1200  ,p.  C.)  wiederholt  versuchte,  auch  die  Grundlehren 
des  Christentums,  wie  namentlich  die  von  der  Trinität  und  Welt- 
schöpfung, mit  Hilfe  des  neuplatonischen  Emanationsschemas 
genetisch  zu  erzeugen  und  dadurch  begreiflich  zu  machen, 
dann  aber,  nachdem  diese  Versuche  an  dem  Widerspruche 
der  immer  herrischer  sich  gebärdenden  Orthodoxie  gescheitert 
waren,  in  einer  zweiten  Periode  (von  1200  p.  0.  an)  darauf 
verzichtete,  die  sogenannten  Mysterien  des  Christentums,  wier 
namentlich  die  Trinität  und  die  Inkarnation  philosophisch  zu 
konstruieren,  aber  um  so  mehr  und  erfolgreicher  daran  arbeitete, 


308  XIV. .  Die  erste  Periode  der  ^^cholastik. 

diese  unangetastet  bestehen  bleibenden  Mysterien  des  Christen- 
tums mit  einem  breiten,  aus  der  Theologie,  Kosmologie,  Psycho- 
logie und  Ethik  des  Aristoteles  entnommenen  Eahmen  zu  ver- 
brämen, woraus  dann  die  Hochblüte  der  Scholastik  in  den 
Systemen  eines  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino 
hervorging.  Kaum  aber  schien  dieses  durch  so  viele  Jahr- 
hunderte erstrebte  Ziel  einer  endgültigen  Versöhnung  von 
Theologie  und  Philosophie,  von  Glauben  und  Wissen  erreicht 
zu  sein,  als  auch  schon,  kurz  nach  1300  p.  C,  deutliche 
Symptome  des  Verfalles  der  Scholastik  sich  einstellten,  indem 
namentlich  eine  weitgehende,  mit  Orthodoxie  gepaarte  Skepsis 
jenes  mit  so  vieler  Kunst  hergestellte  Gebäude  unterwühlte 
und  dadurch  den  Sturz  der  Scholastik  vorbereitete,  welcher 
dann  durch  das  Wiedererwachen  des  klassischen  Altertums 
in  der  Renaissance,  seine  Pflege  im  Humanismus,  die  Kirchen- 
spaltung in  der  Reformation  und  das  Hand  in  Hand  mit  diesen 
Phänomenen  aufkommende  Interesse  für  die  Beobachtung  und 
das  Studium  der  Natur  erst  gegen  das  Jahr  1600  hin  deßnitiv 
besiegelt  wurde. 

Eine  analoge  Entwicklung  wie  die  hier  geschilderte  der 
lateinisch  redenden  Welt  spielte  sich  gleichzeitig  in  zwei 
andern,  parallel  neben  ihr  herlaufenden  Kulturkreisen,  dem 
arabischen  im  fernen  Osten  und  in  Spanien,  sowie  dem  jüdi- 
schen ab,  welcher  von  dem  durch  alle  Länder  zerstreuten  und 
nur  durch  gemeinsame  Rasse,  Sprache  und  Religion  zusammen- 
gehaltenen Judentum  gebildet  wurde. 

So  sehr  auch  die  neuere  Philosophie  der  mittelalterlichen 
an  methodischer  Behandlung  der  Probleme  und  Fruchtbarkeit 
der  Resultate  überlegen  ist,  so  hat  die  Philosophie  der  Haupt- 
kulturländer des  Mittelalters  doch  einen  Vorzug,  welcher  der 
neuern  Zeit  durch  Abschliefsung  der  Nationalitäten  gegen  ein- 
ander bedauerlicher  Weise  mehr  und  mehr  verloren  gegangen 
ist:  den  Vorzug  einer  einheitlichen  Sprache  der  Wissenschaft. 
Heute  haben  wir  eine  deutsche,  eine  englische,  eine  fran- 
zösische und  eine  italienische  Philosophie;  nur  spät  und  in 
unzulänglicher  Weise  werden  die  Geisteserzeugnisse  einer  dieser 
Nationen  den  drei  übrigen  bekannt,  denn  auf  Übersetzungen 
ist  kein  Verlafs,  und  eine  tiefere  Kenntnis  der  fremden  Sprachen, 


1.  Vorbemerkungen.  309 

wie  sie  für  das  philosophische  Verständnis  unenthehrhch  ist, 
findet  sich  verhäUnismäfsig  sehen.  Im  MittelaUer  redete  die 
Philosophie  in  Deutschland,  England,  Frankreich  und  Italien 
eine  und  dieselbe  Sprache:  das  Lateinische.  Jedes  neu 
erscheinende  Werk  wurde  sofort  in  allen  vier  Kulturländern 
gelesen  und  verstanden,  und  berühmte  Lehrer  waren  nicht  an 
ihr  engeres  Vaterland  gebunden :  Scotus  Erigena  stammte  aus 
Irland  oder  Schottland  und  lehrte  zu  Paris,  Anselm  war  ge- 
boren zu  Aosta  in  Piemont,  lebte  lange  Zeit  in  der  Normandie 
und  starb  als  Bischof  von  Canterbury  in  England;  Albertus 
Magnus  lehrte  zu  Paris  und  Köln,  sein  Schüler  Thomas  von 
Aquino  zu  Köln,  Paris,  Bologna,  Rom  und  Neapel.  In  der 
neuern  Philosophie  gehen  Franzosen,  Engländer,  Deutsche  ihre 
eigenen  Wege,  und  das  ist  sehr  zu  beklagen,  deiin  die  Wahr- 
heit ist  eine  für  alle,  und  die  Wissenschaft  durchaus  eine 
internationale  -Angelegenheit. 

Neben  dem  lateinischen,  Deutschland,  England,  Frank- 
reich und  Italien  zur  Einheit  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
verbindenden  Kulturkreise  bestanden  im  Mittelalter,  wie  schon 
bemerkt,  drei  andere:  der  griechische,  welcher  sich  darauf 
beschränkte,  die  Schätze  des  Altertums  zu  hüten,  bis.  sie  sich 
von  ihm  aus  in  der  Renaissancezeit  über  das  Abendland  er- 
gossen, der  arabische,,  der  im  fernen  Osten  blühte  und  in 
Spanien  eine  Nachblüte  erzeugte,  und  der  jüdische,  der  sich 
durch  alle  Kulturländer  erstreckte.  Die  weltgeschichtliche 
Mission  der  beiden  letzten  Kreise  bestand  darin,  um  und  nach 
1200  die  Schriften  des  Aristoteles  in  Übersetzungen  dem  Abend- 
lande zu  übermitteln  und  dadurch  seiner  philosophischen  Arbeit 
neue  Wege  zu  eröffnen. 

Merkwürdig  aber  und  auf  einer  Innern  Gesetzmäfsigkeit 
der  Entwicklung  beruhend  ist  es,  dafs  bei  Arabern,  Juden 
und  Lateinern  im  wesentlichen  derselbe  Vorgang  sich  abspielt: 
in  allen  drei  Sphären  sucht  man  in  einer  ersten  Periode  das 
christliche,  islamische,  jüdische  Dogma  auf  Grund  neuplato- 
nischer Anschauungen  genetisch  zu  erzeugen  und  dadurch 
philosophisch  begreiflich  zu  machen;  nachdem  aber  die  christ- 
liche, mohammedanische  und  jüdische  Orthodoxie  in  seltener 
Einmütigkeit    diese  Versuche  verw^orfen    und    abgelehnt    hat, 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii,  2.  -     24 


fO 


XIY.   l)ie  erste  Periode  der  Scholastik. 


flüchtet  sich  der  Neuplatonismus  in  die  Mystik,  während  die 
Scholastik  im  lateinischen,  arabischen  und  jüdischen  Kultur- 
kreise zum  Aristoteles  greift,  um  mit  Hilfe  seiner  Philosophie 
das  Dogma  der  betreffenden  Kirche  zu  stützen  und  um- 
rahmend zu  ergänzen.  Auf  alle  drei  Kulturkreise  und  den 
Verlauf  in  ihren  beiden  Perioden  bezieht  sich  das  bekannte 
Wort  des  Albertus  Magnus  (Summa  theologiae  I,  6):  Äd  tlieo- 
hxjiam  onmcs  aliae  scUrdiac  midUavf^tr.  welches  jedoch  die 
Unterscheidung  einer  philosophischen  und  theologischen 
Wissenschaft  voraussetzt,  die  wir  nicht  gelten  lassen  können. 
Nicht  die  Philosophie  war  die  Magd  der  Theologie,  sondern 
beide  lagen  während  des  Mittelalters  unter  der  Knechtschaft 
der  theologischen  und  philosophischen  Tradition  des  Alter- 
tums, bis  sich  der  menschliche  Geist  in  der  neuern  Philo- 
sophie nach  und  nach  von  dieser  Knechtschaft  emanzipierte 
und  auf  eigenen  Füfsen  zu  gehen  lernte. 

Die  Anordnung  des  Stoffes  der  Scholastik  macht  einige 
Schwierigkeit,  da  die  drei  Entwicklungsreihen  parallel  neben 
einander  verlaufen.  Da  indessen  das  Hauptinteresse  auf  den 
zwei  durch  das  Jahr  1200  geschiedenen  Perioden  der  christ- 
lich-lateinischen Scholastik  liegt,  während  die  arabische  und 
jüdische  weder  vor  noch  nach  ihnen  eine  geeignete  Stelle 
findet,  so  werden  wir  sie  nach  dem  «zweckmäfsigen  Vorgange 
anderer  zwischen  die  beiden  Perioden  der  christlichen  Philo- 
sophie einschalten.  Eine  allgemeine  chronologische  Übersicht 
bietet  das  folgende  Schema: 


Christlich- 
Lateinisch. 

850  Scotus  Erigena  l  S  ^ 

itOO  Realismus  und  Nomi- 
nalismus 

1092  Auselm  undRoscellin: 
Synode  von  Soissons 
llÜO  Ahaelard 

1200  Petrus  Lomhardus 


Kabbala 


Jüdisch. 
Jezirah 

850, 

Sohar 

1200 


En  Soph 

Azilah  (Adam  Kad- 

mon) 
Beriah  (Ideen) 
Jezirah  (Engel) 
Asijja  Sinnenwelt 
1150  Salomon  ben  Ge- 
birol  (Avicebron) 

1180  Moses   Maimun 


;^ 


Arabisch. 

850  Alkindi 
900  Alfarabi 
950  ichwan  el 
safa 


S"  fl020  Avicenna 
gH  I  ^  \1080  Alghazel 

I  £-11120  Avempace 
!  ^11140  Abubacer 


Im    j  _M 
i<    i  < 


1170  Averroes 


1.    Voibemcrkimgen.  37  [ 


'^      Mystik  des  Meister 
Eckhart 


1230  Albertus  Magnus 
1"260  Thomas  von  Aquino 
1300  Wilk'iislehre    des    Duns 
Sootus 
Nomiiialismus   des  Wilh.  v. 
Occam 

1400GemistosPIethonJ Geunadios  1401—1464  Kicolaus 

^^J^;^Georgios  Trapezuntios  Cusanus 

Bessarion- — 
Marsilius  Ficiinis  Theodoros  Gaza 

1500  Petrus  rem-  Paracelsus 

poiiatius^ — Augustinus    Ni-       Cardanus 
I      .     _        phus  Telesius 

I  I  Copernicus 

Lucilio  Andreas  Bacon,  Böhme,  Bruno 

Vanini.  Caesalpinus      Galilei,  Kepler. 

*2.   Johannes  Scotus  Eri(u)gena. 

Gleich  an  der  Schwelle  der  mittelalterlichen  Philosophie 
begegnet  uns  ein  Mann,  welcher  an  mystischem  Tiefsinn, 
AVeite  des  Blickes  und  Freiheit  der  Anschauungen  sein  eigenes 
Jahrhundert  wie  die  nächstfolgenden  weit  überragt,  daher 
auch  von  beiden  nicht  gebührend  gewürdigt  wurde.  Er  hiefs 
Johannes,  mit  dem  Beinamen  Scotus  (wahrscheinlich  nach 
Scofia  major,  wie  Irland  noch  bis  ins  elfte  Jahrhundert  hiefs), 
und  Erigetia  (genauer  Eriugena,  wie  die  ältesten  Handschriften 
haben,  nach  Eriii,  Erin,  dem  keltischen  Namen  für  Irland,  — 
wir  bleiben  bei  dem  durch  die  Tradition  sanktionierten  und 
wohlklingenderen  Erigcna),  und  war  geboren  etwa  810  zu 
Irland,  dessen  damals  blühenden  Schulen  er  eine  für  seine  Zeit 
Tortreffliche  Bildung,  namentlich  auch  neben  dem  Lateinischen 
die  Kenntnis  des  Griechischen,  verdankte.  Er  wurde,  als  nach 
dem  Vertrage  zu  Verdun  auf  dem  Kontinente  wieder  geordnete 
Verhältnisse  eingetreten  waren,  von  Karl  dem  Kahlen  (843  bis 
877)  zum  Vorsteher  der  Seliohi  PaJatiua  zu  Paris  berufen  und 
beauftragt,  die  Schriften  des  Dionysius  Areopagita,  welche 
der  byzantinische  Kaiser  Michael  Baibus  824  Ludwig  dem 
Frommen  geschenkt  hatte,  ins  Lateinische  zu  übertragen.  An 
dieser  Arbeit  erwuchs  sein  eigenes,  auf  die  Anschauungen  des 
Areopagiten  gegründetes,  aber  weit  über  denselben  hinaus- 
gehendes   System,   welches    er   in    seiner  Schrift  Tcspc  9^jacwr 

24* 


372  XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

[jL£pic;jj.c"j,  i.  e.  de  divisionc  naturae  entwickelte,  indem  er  nach 
grofsen,  universellen  Gesichtspunkten  alles  Seiende  umspannte 
und  die  Weltentwicklung  als  einen  Kreislauf  beschrieb,  ver- 
möge dessen  die  Dinge  aus  Gott  hervorgehen  und  wieder  in 
denselben  zurückkehren. 

Dieser  hohe  Standpunkt  machte  sich  auch  geltend  bei 
seinem  Eingreifen  in  den  Prädestinationsstreit  zwischen  dem 
Mönche  Gottschalk  und  dem  Erzbischof  Hinkmar  von  Rheims. 
Gottschalk  hatte  sich  im  schroffsten  Augustinischen  Sinne  für 
die  doppelte  Prädestination,  der  Guten  zum  Heil,  der  Bösen 
zur  Verdammnis  ausgesprochen.  Hinkmar  wollte  nur  die  ein- 
fache Prädestination  der  Guten  zur  Seligkeit,  hingegen  für  die 
Bösen  eine  blofse  Präscienz  zugeben.  Nach  Erigena  liegt 
alles.  Erschaffene,  liegen  die  Guten  wie  die  Bösen  in  Gott. 
Dieser  prädestiniert  sich  selbst,  und  natürlich  nur  zum  Guten. 
Von  den  Bösen  läfst  sich  nur  sagen,  dafs  Gott  sich  in  ihnen 
nicht  zum  Guten  prädestiniert  hat.  Seine  Präscienz  ist  iden- 
tisch mit  der  Prädestination  und  reicht  nicht  weiter  als  diese. 

Dieser  Standpunkt  des  Erigena  erregte  heftigen  V^-^ider- 
spruch  und  wurde  auf  den  Synoden  zu  Valence  (855)  und  zu 
Langres  (859)  verdammt.  Doch  hielt  sich  Erigena,  wahr- 
scheinlich vermöge  der  Gunst  des  Königs.  Mit  dem  Tode 
Karls  des  Kahlen  (877)  verschwindet  auch  Erigena  aus  der 
Geschichte.  Nur  unbestimmte  Sagen  wissen  zu  berichten,  dafs 
Alfred  der  Grofse  ihn  nach  Oxford  berufen,  dafs  er  später  eine 
Schule  in  Malmesbury  geleitet  habe  und  von  seinen  eigenen 
Schülern  ermordet  worden  sei. 

Der  historische  Horizont  Erigenas  ist  ein  beschränkter. 
Von  Piaton  kennt  er  nur  den  ersten  Teil  des  Timaeus  in  der 
Übersetzung  des  Chalcidius,  von  Aristoteles  nur  die  beiden 
logischen  Schriften,  categoriac  nebst  der  Isagoge  des  Porphyrius, 
und  de  interpretatione.  dazu  die  oben  (S.  363  fg.)  er^^^ähnten 
Hauptschriften  des  Marcianus  Capella,  Boethius  und  Cassio- 
dorus,  sowie  die  neuplatonische  Metaphysik  in  der  Form  des 
von  ihm  übersetzten  Dionysius  Areopagita.  Autorität  sind  für 
ihn  die  Heilige  Schrift  und,  ihr  nahezu  gleichstehend,  die 
Kirchenväter,  unter  denen  er  namentjich  die  griechischen, 
Origenes    und    andere,    näher    kennt.     Er    findet,    dafs    diese 


2.   Jobaiines  Scotiis  Eri(u)gena.  373 

Autoritäten  vielfach,  wie  eine  Pfauenfeder,  je  nacli  der  Seite, 
von  der  man  sie  betrachtet,  in  verschiedenen  I'arben  schillern, 
.und  ruft  die  Vernunft  zu  Hilfe,  um  die  daraus  entstehenden 
Schwierigkeiten  zu  lösen;  jedoch  mufs  die  Vernunft  durch  das 
göttliche  Licht  erleuchtet  sein,  wie  der  dunkle  Luftraum  durch 
die  Sonne.  In  diesem  Sinne  will  er  qt(ae  vere  praeäiccmtur 
cndere  et  qiiae  rcrc  crcänntny  inidUgcrc. 

Mit  diesen  Mitteln  ausgerüstet  tritt  er  in  seiner  Haupt- 
schrift, den  fünf  Büchern  de  divisione  naturae,  an  die  Gesamt- 
heit des  Seienden  heran  und  unternimmt  eine  Einteilung  alles 
Seienden,  welche  ihm  die  Vollständigkeit  seines  Verfahrens 
verbürgt  und  ein  merkwürdiges  Analogen  in  der  Sähkhya- 
Philosophie  (vgl.  Phil.  d.  Inder,  III,  S.  415  fg.)  findet,  wo  es, 
ohne  dafs  an  eine  historische  Abhängigkeit  zu  denken  wäre, 
da  eine  universelle  Betrachtungsweise  der  Natur  in  Europa 
wie  in  Indien  eine  solche  Vierfeilung  nahelegte,  im  2.  Verse 
der  Säiikhya-Kärikä  heifst: 

Die  Urerzeugerin  ist  unerzeugt ; 
Erzeugend  und   erzeugt  vom  Grofsen   an 
Sind  sieben;   sechzehn   sind' die  blofs  erzeugten; 
Der  Purusha   ist  nicht  erzeugt  noch  zeugend. 

Ebenso,  wiewohl  nicht  ganz  so  passend,  da  Gott  bei  ihm  in 
zwei  Kategorien  eingereiht  werden  mufste,  unterscheidet  Erigena 
vier  allein  mögliche  Klassen  von  Wesen,  je  nachdem  sie  ent- 
weder 1.  schaffend,  nicht  erschaffen,  oder  2.  erschaffen  und 
schaffend,  oder  3.  erschaffen,  nicht  schaffend,  oder  4.  weder 
erschaffen  noch  schaffend  sind,  wobei  er  alles  Seiende  diesen 
vier  Klassen  in  der  Weise  einordnet,  wie  sie  das  folgende 
Schema  zeigt: 

1.  creaf,  non  creatur:  Dens 

2.  creantur  et  creant :  genera,  species 

3.  creantto',  iwn'crecwt :  individua 

4.  mquc  creat,  neque  creatur:  Dens  ut  finis  I  reversio  sive 

onmhtm         j      deificatio. 

Die  Worte  resolidio  und  deificatio  deuten  auf  den  Doppel- 
prozefs  hin,  vermöge  dessen  alle  Dinge  aus  Gott  hervorgehen 
und  wieder  in   denselben  zurückkehren,^  woraus  schon  zu  er- 


(  analijsis  sive 
(      resohdio. 


374  XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

sehen  'ist,  dafs  der  Gottesbegriff  und  der  Schöpfungsbegriff 
des  Erigena  von  dem  der  Kirche  sich  wesentlich  unterscheidet. 
Sein  Gott  ist  nicht  ein  theistischer,  sondern  ein  pantheisti-; 
scher,  und  seine  Schöpfung  ist  nicht  eine  zeithche,  sondern 
eine  zeitlose  Emanation  aus  Gott,  wozu  freilich  die  Eückkehr 
in  Gott,  welche  doch  als  ein  zeitlicher  Akt  gedacht  werden 
mufs,  nicht  stimmen  will;  wenn  die  Dinge  von  Ewigkeit  her 
in  Gott  liegen,  so  bedarf  es  keiner  Rückkehr  zu  Gott.  Die 
gröfste  Schwierigkeit  des  Systems  aber  liegt  in  der  Erklärung 
des  Bösen,  wie  sich  dies  aus  der  Einzelbetrachtung  näher  er- 
geben wird. 

1.  (Jrcat.  non  creatnr:  Dens. 

In  diesem  Punkte  zeigt  sich  Erigena  stark  abhängig  vom 
Areopagiten.  Wie  dieser  unterscheidet  er  eine  Theologia  afßr- 
niatlva  und  eine  Tlieoloyia  negativa,  und  billigt  der  erstem 
nur  eine  metaphorische  Bedeutung  zu;  sie  redet  non  proprie 
sed  translative,  während  die  negative  Theologie,  non  trans- 
lative  sed  proprie  redet.  Wahrer  als  alle  positiven  Eigen- 
schaften, die  man  Gott  zuschreibt,  ist  es,  zu  leugnen,  dafs 
Gott  irgend  etwas  von  dem  sei,  was  man  von  ihm  aussagt; 
verins  negatur  Dens,  quid  eorum  qitae  de  eo  praedicaidur  csse^ 
quam  afßrmatur  esse.  Die  bejahende  Theologie  schreibt  Gott 
alle  Vollkommenheiten  zu,  die  wir  an  den  Dingen  wahrnehmen,, 
sie  alle  sind  seine  Theophanien,  Von  diesen  Theophanien, 
durch  welche  Gott  sich  in  den  Dingen  offenbart,  ist  als  eine 
zweite  Art  der  Theophanie  zu  unterscheiden  die  direkte  Offen- 
barung, in  welcher  Gott  aus  Gnade  sein  Wesen  den  Menschen 
kund  gemacht  hat.  Näher  betrachtet,  legt  Gott  sein  Wesen 
nach  drei  Seiten  hin  den  Menschen  dar,  als  Sein,  Weisheit 
und  Leben,  welche  den  drei  Personen  der  Trinität  entsprechen 
und  in  der  Einheit  des  göttlichen  Wesens  wurzeln.  Das  Sein 
des  Vaters  entfaltet  sich  als  Sohn  zu  einer  W^elt  der  Ideen,, 
welche  alle  von  dem  göttlichen  Logos  umschlossen  werden, 
und  die  Tätigkeit  des  Geistes  besteht  darin,  diese  Ideen  über 
die  Dinge  zu  verteilen  und  in  dem  Leben  der  Welt  zu  ver- 
wirklichen. Aber  die  wahre  Gotteserkenntnis  liegt  in  der 
negativen  Theologie,  welche  uns  darüber  belehrt.,  dafs  Gott 
nichts  von  alledem  ist,  was  von  ihm  irgend  ausgesagt  werden 


2.    Joliannos  Scotns  Eri(u)gena.  375 

könnte,  dafs  er  nur  erkannt  wird  nicht  nach  dem  was  er  ist 
(q^iikl  csfj,  sondern  nur  dafs  er  ist  fquia  solummodo  est),  dafs 
er  in  einer  lux  hmccessihilis  wohnt,  dafs  er  auch  über  die 
aristotehschen  Kategorien  erhaben  ist,  ohne  Kühe  und  Be- 
wegung, ohne  Tun  und  Leiden,  nicht  hebend  und  nicht  gehebt, 
dafs  er  für  unsere  Erkenntnis  ein  blofses  niltüuni  ist ;  hierin 
besteht  die  wahre  Weisheit:  Bens  melius  nesciendo  scitur,  cujus 
'Ignorant kl  i'cra  est  sapientm.  Er  ist  kein  e^is,  sondern  supcr- 
cssodialis,  er  ist  nicht  honus,  sondern  superljomn-;  oder,  wie 
Erigena  sich  auch  ausdrückt,  plus  quam  homis,  nicht  sapiens, 
sondern  plus  quam  sapiens',  suj)  er  sapiens,  ja  der  Philosopli 
versteigt  sich  bis  zu  dem  kühnen  Gedanken,  dafs  Gott,  als  über 
alles  Wissen  erhaben,  auch  von  sich  selbst  ein  Wissen  nicht 
besitze,  dafs,  wie  wir  die  verschiedenen  darauf  zielenden  Aus- 
sprüche zusammenfassen  können,  Deus  ipse  nescit  quid  Dcus  sit. 

2.  Creantur  et  creant:  gencra  und  species. 
Anknüpfend  an  den  mosaischen  Schöpfungsbericht,  deutet 
.Erigena  ihn  dahin  um,  dafs  die  Schöpfung  nicht  im  Sinne 
einer  zeitlichen  Folge,  sondern  nur  von  der  sachlichen  Ord- 
nung der  Dinge  zu  verstehen  sei.  Gott  selbst  ist  nur  das 
Nichts,  aus  dem  die  Welt  geschaften  wurde,  er  macht  sich 
erst  dm*ch  die  Schöpfung  aus  dem  Nichts  zu  einem  Etwas, 
die  Schöpfung  der  Idealwelt  ist  die  Selbstverwirklichung 
Gottes.  Die  Genera  und  Species  der  Dinge  sind  als  die  Causae 
primordiales  anfanglos  und  ebenso  ewig  wie  Gott.  Sie  alle, 
von  den  obersten  Kategorien  an  bis  herab  zu  den  Genera  und 
Species,  sind  die  Urbilder  (zpwxox'jTra)  der  Dinge  und  als  solche 
sind  sie  göttliche  Willensakte  C^reta  '^eXiqpi.aTa) ,  sind  Voraus- 
bestimmungen (Tupoop'la.aaTa),  und  werden  alle  befafst  in  dem 
göttlichen  Logos,  welcher,  vom  Vater  von  Ewigkeit  her  ge- 
zeugt, nur  das  Sein  des  Vaters  in  seiner  Selbstentfaltung  zur 
Ideenwelt,  zum  Logos,  zum  Sohne,  ist. 

3.  Creantur,  non  creant:  individua. 
Wie  die  zweite  Natur  des  Erigena  auf  einer  Identifikation 
der  platonischen  Ideenlehre  mit  dem  Logos,  dem  Sohne,  be- 
rulit,  so  besteht  ein  ähnliches  Verhältnis  zwischen  dem  Geiste 


37f)  Xl\.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

als  der  dritten  Person  der  Gottheit  mit  der  Erscheinungswelt, 
sofern  der  Heilige  Geist  nicht  nur  innerhalb  der  Ideenwelt 
das  Verhältnis  der  Genera  und  S^jecies  ordnet,  sondern  weiter 
auch  in  der  Erscheinungswelt  diese  Genera  und  Species  über 
die  Individuen  verteilt,  in  ihnen  verwirklicht  und  dadurch  das 
Leben  alles  Individuellen  bewirkt.  Es  ist  zunächst  das  Sein 
Gottes  des  Vaters,  welches  sich  durch  alles  Individuelle  hin- 
durch erstreckt  und  doch  in  jedem  ganz  vorhanden  ist;  es 
ist  ferner  der  Logos  als  Inbegriff'  der  Ideen,  welcher  diesem 
Sein  die  bestimmte  Form  verleiht,  welche  den  Individuen  eigen 
ist,  und  es  ist  der  Geist,  der  in  den  individuellen  Dingen  die 
Materie  als  ein  blofs  negatives  Substrat  mit  diesen  Formen 
umkleidet.  Somit  bestehen  alle  Individuen  nur  in  Gott  {in 
Deo  suhsisttintj.  und  sie  sind  unsterblich,  sofern  das  in  ihnen 
A^er wirklichte  göttliche  Sein  unsterblich  ist. 

Kein   Wesen  kann   zu  nichts   zerfallen, 

Das   Ewige  regt   sich  fort  in  allen, 

Am   Sein  erhalte  dich  beglückt, 

Das  Sein  ist    ewig,   denn  Gesetze.  * 

Bewahren  die  lebendigen   Schätze. 

Aus   denen   sich  das  All  geschmückt. 

Dieser  Goethesche  Vers  ist  geeignet,  die  Trinitätslehre 
des  Erigena  zu  veranschaulichen,  wenn  man  das  Sein  auf  den 
Vater,  die  lebendigen  Schätze  der  Ideenwelt  auf  den  Sohn 
und  die  gesetzmäfsige  Schmückung  des  Alls  mit  diesen 
Schätzen  auf  den  Geist  bezieht. 

Nur  von  Gott  kann  man  sagen,  dafs  er  j^er  se  iiisum  suh- 
s/stit,  von  den  Individuen  hingegen,  dafs  sie  ^)^'r  se  nini  suh- 
sistnnt.  vielmehr,  wie  bei  Piaton,  nur  gleichsam  als  die  Schatten 
der  realen  Wesenheiten  (^s?"c«f  iimhrac  corporumj  bestehen. 

Aber  woher  das  Böse  und  das  Übel  der  Welt,  wenn  die 
Dinge  nur  Gedanken  Gottes  sind,  wenn  Gott,  wie  oben  in 
den  Ideen,  so  auch  weiter  in  den  Individuen  nur  sich  selbst 
schaffet?  Hier  bleibt  unserm  Philosophen  der  einzige  Ausweg, 
dafs  er  das  Böse  und  das  Übel  nur  als  eine  Privation  des 
Seins,  als  eine  blbfse  Negation  erklärt.  Gott  hat  den  Men- 
schen die  Freiheit  verliehen  und  mit  ihr  die  Möglichkeit,  sich 


2.  .loliaunes  fecotus  En(ii)gena.  377 

von  Gott  als  ihrem  eigenen  wahren  Wesen  abzuwenden.  Diese 
Alhvendung  hat  keinen  realen  Grund,  sie  ist  ntcaKmh's,  entspringt 
aus  einer  blofsen  Negation,  sofern  die  menschliche  Vernunft 
der  Erkenntnis  ihrer  Gottwesenheit  ermangelt,  woraus  der 
Hochmut  hervorgeht,  welcher  die  Wurzel  alles  Bösen  in  der 
Welt  ist.  Eine  Folge  der  Sünde  ist  die  Umkleidung  des  Men- 
schen mit  der  Leihlichkeit,  angedeutet  in  der  Bibel  durch  die 
Schürzen  aus  Feigenblättern,  und  mit  ihr  die  vorher  nicht 
bestehende  Fortpflanzung  der  Menschen  auf  geschlechtlichem, 
tierischem  Wege,  sowie  die  Vererbung  der  Sünde  als  Erb- 
sünde auf  alle  folgenden  Generationen. 

4.  Ncqnc  creat,  neque  creatur:  Dens  nt  ßnis  omninm. 

Wie  ein  Fehler  als  seine  Konsequenz  einen  zweiten  nach 
sich  zieht,  so  sieht  sich  Erigena  genötigt,  nachdem  er  das 
Böse,  wenn  auch  nur  als  eine  negative  Instanz,  anerkannt  hat, 
eine  Rückkehr  der  Dinge  zu  Gott  zu  lehren,  beides  im  Wider- 
spruch mit  der  pantheistischen  Grundanschauung  des  Systems, 
nach  welcher,  da  alles  in  Goti  ist,  weder  ein  Böses  in  der 
^^'elt  bestehen  könnte,  noch  eine  Rückkehr  zu  Gott  erforder- 
lich sein  würde,  da  ja  alles  schon  von  vornherein  in  Gott  ist 
und  in  ihm  bleibt. 

Die  Rückkehr  der  Dinge  zu  Gott  vollzieht  sich,  wie  Eri- 
gena, die  Kirchenlehre  beibehaltend,  aber  in  allen  Punkten 
geistvoll  vertiefend,  ausführt,  durch  Christus,  in  welchem  der 
ewige  Logos  volle  menschliche  Natur  mit  Ausnahme  der  Sünde 
angenommen  hat.  Christi  Auferstehung  und  Himmelfahrt  ist 
eine  solche  der  ganzen  Menschheit,  nur  dafs  in  ihm  mit  einem 
Male  dasteht,  was  sich  in  der  Menschheit  als  ein  zeitlicher 
Prozefs  vollzieht,  bei  welchem  die  göttliche  Gnade,  vermittelt 
durch  die  Kirche,  und  die  nicht  verlorene  menschliche  Frei- 
heit zusammenwirken.  Die  Rückkehr  des  Menschen  und  mit 
ihm  aller  Dinge  zu  Gott  erfolgt  in  drei  Stufen,  vermöge  der 
Befreiung  von  der  Sinnlichkeit,  der  Wiederherstellung  der 
ursprünglichen,  vom  Geschlechtsunterschied  freien  Idealnatur 
und  der  endgültigen  Einswerdung  des  ^lenschen  und  mit  ihm 
aller  Dinge  in  Gott.  Das  individuelle  Sein  wird  dabei  nicht 
aufgehoben,  sondern  besteht  in  Gott  ebenso  fort  wie  der  Luft- 


378  XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

räum,  wenn  er  vom  Sonnenlicht,  wie  das  Eisen,  wenn  es  von 
der  Glut  durchdrungen  ist. 

Was  wird  aus  den  Bösen  nach  dem  Tode?  Die  Hölle 
wagt  Erigena  nicht  zu  beseitigen,  verlegt  sie  aber  mit  allem 
andern  in  die  Gesamtheit  des  göttlichen  Wesens.  Sie  ist  kein 
Ort,  sondern  ein  Zustand  der  Qual,  bestehend  in  der  Fort- 
dauer des  Begehrens  ohne  die  Möglichkeit  seiner  Befriedigung. 
Die  Strafe  trifft  dabei  nicht  die  göttliche  Natur  des  Menschen, 
sondern  nur  die  Abwendung  dieser  Natur  von  dem  Göttlichen, 
und  nur  auf  diese  Abwendung  bezieht  sich  die  Ewigkeit  der 
Höllenstrafen,  nicht  auf  die  Natur  selbst,  für  welche  Erigena 
sich  einer  allgemeinen  Apokatastasis  (wie  es  scheint  sogar 
mit  Einschlufs  des  Satans)  zuneigt;  de  div.  nat.  5,27:  Diviua 
honitas  cousumiuabit   imilitiam,   aeterua   vitd  ahsorhchit  mort<m, 

heatitudo  miscriain. 

*  * 

* 

Hatte  sich  schon  der  Papst  Nikolaus  I.  860  bei  Karl  dem 
Kahlen,  wiewohl  vergebens,  darüber  beschwert,  dafs  man  ihm 
die  Übersetzung  des  Dionysius  Areopagita  durch  Scotus  Eri- 
gena nicht  vor  der  Veröffentlichung  zur  Zensur  vorgelegt  habe^ 
so  wurde  durch  zwei  spätere  Päpste,  Leo  IX.  und  Honorius  HL, 
in  den  Jahren  1050  und  1225,  das  grofse  Meisterwerk  des 
Scotus  Erigena,  de  divisione  naturae,  zur  Vernichtung  durch 
den  Scheiterhaufen  verurteilt.  Ein  Glück,  dafs  es  nicht  mög- 
lich war,  den  Geist  mit  zu  verbrennen,  aus  dem  es  entstanden 
war,  und  dem  wir  noch  oft  genug  auf  unserm  Wege  wieder  be- 
gegnen werden. 

3.  Realismus  und  Xomiualismus. 

Das  Wort  Realismus  hat  in  der  mittelalterlichen  'Philo- 
sophie einen  von  dem  in  der  Neuzeit  gebräuchlichen  sehr 
verschiedenen,  ja  entgegengesetzten  Sinn.  In  der  neuern  Philo- 
sophie stehen  sich  gegenüber  der  Realismus  und  der  Idea- 
lismus, der  Realismus,  welcher  behauptet,  dafs  die  uns  um- 
gebende Welt  in  Raum  und  Zeit  im  höchsten  Sinne  real, 
dafs  sie  eine  Ordnung  der  Dinge  an  sich  selbst  sei,  eine  Rich- 
tung, welche,  wenn  konsequent  verfolgt,  notwendig  zum  Ma- 
terialismus sa)/s  pJnrisc  führt,  —  und  der  Idealismus,  welcher 


o.   Kealismus  und  Nominalismus.        "  379 

lehrt,  dafs  die  Aufsenwelt  nur  ideal,  nur  in  der  Idee,  in  der 
\'orstellung  besteht,  dafs  sie  nach  den  Indern  eine  blofse  nidi/a, 
nach  Piaton  eine  blofse  Welt  der  Schatten,  dafs  sie  nach  Kant 
nur  Erscheinung,  nicht  Ding  an  sich  ist. 

Etwas  ganz  anderes  bedeutet  der  Realismus  in  der  Philo- 
sophie des  Mittelalters;  hier  ist  sein  Gegensatz  der  Nomina- 
lismus, und  dieser  Gegensatz  betrifi't  nicht  die  Realität  der 
Aufsenwelt,  sondern  die  der  Uinvcrsalia,  d.  h.  der  allgemeinen 
Kategorien,  gonra  und  spccies,  von  denen  der  Realismus  be- 
hauptet, dafs  sie  real,  dafs  sie,  wenn  auch  nicht  gerade  in 
zeitlichem  Sinne,  ursprünglicher  und  wesenhafter  als  die  ent- 
sprechenden Einzelwesen  sind:  nnivcrsalia  aide  res,  während 
der  Nominalismus  alles  Allgemeine,  die  spccUs  und  genera  bis 
hinauf  zu  den  Kategorien  für  blofse,  auf  dem  AVege  der  Ab- 
straktion aus  den  Einzeldingen  gewonnene  Begriffe  fcouccptusj, 
ja  für  blofse  Namen  (iiomhia,  ßatus  vovisj  erklärt:  hiuvcrsalia 
post  res.  Der  Realismus  behauptet,  dafs  das  Einzelne  nicht 
sein  würde,  wenn  das  Allgemeine  nicht  wäre,  der  Nominalis- 
mus besteht  vielmehr  umgekehrt  darauf,  dafs  das  Allgemeine 
nicht  sein  würde,  wenn  das  Einzelne  nicht  wäre. 

Eine  vermittelnde  Richtung  sieht  mit  dem  Realismus  in 
dem  Allgemeinen  das  eigentliche  Wesen  der  Dinge,  nimmt 
aber  mit  dem  Nominalismus  an,  dafs  dieses  Allgemeine  nur 
in  den  Einzeldingen  wirklich  vorhanden  sei:  uiiivvrsalia  in  rebus. 

Der  im  Mittelalter  durch  Jahrhunderte  sich  hinziehende 
und  mit  grofsem  Eifer  geführte  Streit  zwischen  Realismus  und 
Nominalismus  hat  seinen  letzten  Grund  darin,  dafs  man  in  der 
Philosophie  des  Piaton  und  Aristoteles,  soweit  sie  damals  be- 
kannt waren,  eine  Zweideutigkeit  zu  erkennen  glaubte,  welche 
es  allen  drei  Parteien  möglich  machte,  sich  auf  dieselben  zu 
berufen. 

Piaton  hatte  erkannt,  dafs  in  der  Natur  bei  allem  Wechsel 
der  Erscheinungen  gewisse  Formen  oder  Typen,  welche  er  die 
Ideen  nannte,  beharren,  hatte  aber  als  Leitfaden,  um  diese 
allgemeinen  Typen  zu  finden,  die  allgemeinen  Begrifte  gewählt, 
so  dafs  er  nicht  nur  Ideen  der  species,  sondern  auch  der  getura. 
der  Qualitäten  und  Relationen  ansetzte;  so  ist  nach  ihm  ein 
bestimmtes  Einzelding  ein  Pferd,  weil  es  teil  hat  [\j.txi'/j.i)  an 


380  Xiy.   Die  erste  Periode  der  Scliolastik. 

der  Idee  der  Pferdheit,  und  dabei  ein  Tier,  schnell,  schön, 
gröfser  als  ein  anderes,  weil  es  zugleich  an  den  Ideen  der 
Tierheit,  Schnelligkeit,  Gröfse  usw.  teil  hat,  wie  dies  Phil, 
d.  Griechen,  S.  251  fg.,  näher  auseinandergesetzt  wurde.  Einen 
Schritt  weiter  ging  in  dieser  für  die  Philosophie  verhängnis- 
vollen Verschmelzung  der  logischen  mit  den  metaphysischen 
Allgemeinheiten  Aristoteles.  Vermöge  seiner  auf  die  Einzel- 
forschung  gerichteten  Neigung  sah  er  in  den  Einzelwesen  das 
Primäre  (die  TTpö-rat.  oucta',),  in  dem  Allgemeinen  nur  'das 
Sekundäre  (die  SsuTspai  ouGtac),  steht  aber  andererseits  so  weit 
unter  dem  Einflüsse  Piatons,  dafs  er  in  dem  Einzelnen  nur 
das  für  uns  Primäre  (das  TupcTspov  jrpor  r||j.a;),  hingegen  in 
dem  Allgemeinen  das  seiner  Natur  nach  Primäre  und  Ur- 
sprünglichere (das  TTpcTipov  9'jc;si)  erkennt.  Daher  konnten 
sich  im  Mittelalter  beide  Parteien,  die  Realisten  wie  die  No- 
minalisten, auf  den  Aristoteles  berufen,  während  der  Realis- 
mus eine  starke  Stütze  in  dem  namentlich  durch  Vermittlung 
des  Neuplatonismus  ihm  zugänglichen  Piaton  besafs,  da  der 
Neuplatonismus  in  seinen  vier  Stufen  des  sy,  der  IhioLi,  der 
vb'jyjr,  und  der  'jWq  das  Besondere  völlig  aus  dem  Allgemeinen 
emanieren  liefs.  In  diesem  Sinne  haben  wir  im  vorigen  Ab- 
schnitt Scotus  Erigena  als  einen  auf  dem  Neuplatonismus 
fufsenden  Vertreter  des  extremen  Realismus  kennen  gelernt. 
Schon  im  spätem  Altertum  hatten  die  erwähnten  Rich- 
tungen ihre  Vertretung  gefanden.  So  ist  Marcianus  Capella 
(oben  S.  363)  entschiedener  Nominalist,  Boethius  (oben  S.  364) 
vertritt  eine  vermittelnde  Richtung,  und  Porphyrius  als  Schüler 
des  Plotin  huldigt  dem  neuplatonischen  Realismus,  In  seiner 
Isagoge  zu  den  Kategorien  des  Aristoteles,  welche  dem  Mittel- 
alter in  der  lateinischen  Übersetzung  des  Boethius  vorlag, 
findet  sich  die  berühmte  Stelle,  auf  Grund  deren  im  Mittel- 
alter der  Kampf  zwischen  Realisten  und  Nominalisten  ent- 
brannte und  Jahrhunderte  lang  mit  Eifer  geführt  wurde.  Por- 
phyrius bespricht  dort  die  fünf  Prädikamente  r/r»  ?f.y.  ilifrrodia, 
spccies,  propritim  und  accidcns  und  macht  dabei  die  Bemerkung: 
dt  generihns  et  specielms  ilhid  qnidem,  sive  sithsisfant  sive  in 
solis  midis  irdcllectihns  posiia  sint,  sive  snhsisteiitia  corpondia 
sint  an  incorporcdia ,  et  ,ufrum  separcda  a  scnsilibus  au  in  scn- 


;?.   Realismus  und  Nominalismus.  381 

siUbus  posita  et  circa  liacc  cousisteidia,  dicerc  recusabo:  altissi- 
mum  enim  negotium  est  Iniiusmodi  et  majoris  egens  inquisitiovis.- 
„Was  nun  die  gcnera  und  spccics  betrifft,  so  werde  ich  über 
die  Frage,  ob  sie  subsistieren  [Thesis  des  Kealismus]  oder  ob 
sie  blofs  und  allein  im  Intellekt  existieren  [Thesis  des  No- 
minalismus], ferner,  falls  sie  subsistieren,  ob  sie  körperlich 
oder  unkörperlich  sind,  und  ob  sie  getrennt  von  den  Sinnen- 
dingen oder  nur  in  den  Sinnendingen  und  an  diesen  bestehend 
sind  [Thesis  der  vermittelnden  Eichtung],  es  vermeiden  mich 
zu  äufsern;  denn  eine  Aufgabe  wie  diese  ist  sehr  hoch  und 
bedarf  einer  eingehendem  Untersuchung." 

Alle  die  in  dieser  Stelle  des  Porphyrius  angedeuteten 
Richtungen  fanden  in  den  ersten  beiden  Jahrhunderten  des 
Mittelalters  zahlreiche  Vertreter,  welche,  anknüpfend  an  die 
Porphyriusstelle,  ihre  realistischen,  nominalistischen  oder  ver- 
mittelnden Anschauungen  in  zahlreichen  Variationen  mit  einem 
grofsen  Aufwände  von  Dialektik  zu  entwickeln  wufsten,  bis 
der  Nominalismus  eine  plötzliche  Niederlage  erlitt,  welche  ihn 
fast  um  allen  Kredit  brachte,  und  von  der  er  sich  zwei 
Jahrhunderte  lang  (bis  auf  William  von  Occam)  nicht  zu  er- 
holen vermochte.  ^,  Diese  Niederlage  wurde  dadurch  herbei- 
geführt, dafs  es-  einem  gewissen  Kanonikus  Roscellinus 
(geboren  um  1050  zu  Compiegne,  seit  1087  zu  Besangen, 
Tours  und  Loches  lehrend)  eingefallen  war,  den  von  ihm  ver- 
tretenen Nominalismus  auf  das  Dogma  der  Trinität  anzu- 
wenden. Hierbei  war  in  der  schon  seit  381  sanktionierten 
Formel:  ^oia  snhstantia,  trcs' pcrsonac  für  ihn  der  Begriff'  der 
Substanz  eine  blofs  in  der  Redeweise  der  Kirche  übliche  sub- 
jektive Zusammenfassung,  die  reale  Einheit  der  Gottheit  war 
aufgegeben  und  ihre  drei  Personen  blieben  als  drei  Götter 
neben  einander  bestehen.  Diese  Konsequenz  des  Nominalis- 
mus erregte  den  gröfsten  Anstofs,  und  Roscellin  wurde  auf 
der  Synode  zu  Soissons  1092  der  Ketzerei  des  Tritheismus 
überführt  und  gezwungen  zu  widerrufen, '  so  dafs  in  der  Folge- 
zeit nur  noch  wenige  sich  offen  zu  nominalistischen  An- 
schauungen zu  bekennen  wagten. 

So  charakteristisch  für  den  Geist  des  Mittelalters  diese 
Art  ist,  philosophische  Theorien  durch  Berufung  auf  ein  kirch- 


382  XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

liches  Dogma  zu  widerlegen,  so  liegen  doch  die  Gründe  noch 
tiefer,  welche  das  Mittelalter  veranlafsten,  o-anz  überwiegend 
der  Theorie  des  Realismus  anzuhängen.  Für  die  Scholastik 
kam  es  nicht  darauf  an,  durch  Beobachtung  der  Wirklichkeit 
auf  dem  Wege  der  Induktion  allgemeine  Begriffe  und  Sätze 
zu  gewinnen,  da  die  allgemeinen  Wahrheiten  durch  das  Dogma 
der  Kirche  und,  soweit  sie  diesem  nicht  widersprach,  durch 
die  Philosophie  der  Alten  von  vornherein  feststanden,  und  die 
Aufgabe  der  philosophischen  Forschung  nur  darin  bestehen 
durfte,  aus  diesem  als  real  anerkannten  Allgemeinen  durch 
dialektisches  Verfahren  auf  dem  W^ege  des  Fro  und  Contra  zu 
ermitteln,  was  mit  den  allgemeinen  W^ahrheiten  ohne  Wider- 
spruch zusammenbestehen  konnte.  Als  Beispiel  können  wir 
vorausgreifend  die  Art  betrachten,  wie  Anselm  von  Canterbury 
auf  ontologischem  Wege  das  Dasein  Gottes  erwies.  Gott 
existiert  entweder  nur  in  hddlcdu  solo  oder  auch  in  Wirk- 
lichkeit; die  erstere  Annahme  würde,  da  Gott  dasjenige  ist, 
quo  majus  ro(/üari  ut-quit ,  zu  dem  Widerspruche  führen,  dafs 
ro,  quo  majns  cogitari  nequit.  nie  jus  cogitari  posset^  dafs  „etwas 
Gröfseres  gedacht  werden  könnte,  als  dasjenige,  gröfser  als 
welches  nichts  gedacht  werden  kann",  woraus  es  dann  für 
Anselm  ohne  weiteres  feststand,  dafs  Gott  nicht  nur  in  der 
Idee,  sondern  auch  in  Wirklichkeit  bestehen  müsse. 

4.  An  sehn  von  Canterbury. 

Zwischen  Scotus  Erigena  und  Thomas  von  Aquino 
zeitlich  die  Mitte  haltend,  tritt  uns  200  Jahre  nach  dem  erstem 
und  um  ebensoviel  vor  dem  letztern  als  dritte  Erscheinung 
von  überragender  Bedeutung  entgegen  Anselm  von  Canter- 
bury, von  Erigena  dadurch  unterschieden,  dafs  er  nicht  neue 
M'ege  für  den  christlichen  Gedanken  sucht,  sondern  den- 
selben in  der  überlieferten  Form  als  ein  treuer  Sohn  der 
Kirche  durch  die  Vernunft  zu  begründen  bemüht  ist,  von  Thomas 
hingegen  dadurch,  dafs  die  Durchdringung  des  Glaubensinhalts 
mittels  der  Vernunft  von  Anselm  nur  im  Prinzip  gefordert, 
aber  noch  nicht  völlig  durchzuführen  versucht  wird,  daher  sie 
auch  vor  den  sogenannten  Mysterien  des  Christentums  nicht 
zurückschreckt,  während  eben  diese  Durchdringung  bei  Thomas 


4.   Anselm  von  Caiitoibury.  383 

Ton  Aquino  tatsächlich  durchgeluhrt  worden  ist,  soweit  sie 
überhaupt  dairchführbar  erschien,  nämlich  bis  auf  jene  Mysterien 
der  Trinität  und  Inkarnation,  welche  als  ein  yon  der  Vernunft 
unantastbares  Noli  mc  ta))(ic)'(  .stehen  bleiben.  , 

Anselm  wurde  geboren  im  Jahre  1033  zu  Aosta  im  Pie- 
montesischen  aus  vornehmer  Patrizierfamilie,  widmete  sich  dem 
geistlichen  Stande,  trat,  angezogen  durch  den  Kuf  des  Lan- 
franc,  1060  in  das  Kloster  zu  Bec  in  der  Normandie  ein,  dessen 
Abt  er  1078  wurde,  war  bei  der  Synode  zu  Soissons  (1092) 
persönlich  nicht  zugegen,  hatte  aber  brieflich  in  seltsamem 
Kontrast  zu  der  bekannten  Milde  seines  Charakters  verlangt, 
dafs  man  Roscellin,  ohne  sich  auf  eine  Diskussion  mit  ihm 
einzulassen,  zum  ^Viderruf  zwingen  müsse,  und  w^urde  1093 
im  Alter  von  (30  Jahren  auf  den  durch  Lanfrancs  Tod  seit 
1089  vakanten  Erzbischofsstuhl  von  Canterbury  erhoben,  den 
er  bis  zu  seinem  1109  erfolgten  Tode  inne  hatte.  —  Die  Be- 
deutung Anselms  knüpft  sich  vornehmlich  an  die  prinzipiell 
geforderte  Unterordnung  der  Erkenntnis  unter  den  Glauben, 
an  seine  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  und  an  eine  neue 
Theorie  der  Inkarnation. 

1.  Credo  nt  irdeUigam. 
Schon  Augustin  hatte  erklärt:  credimus  nf  coffnoscanrns, 
)i(>ti  co(/i/oscinnis  nf  crcdannis.  Im  Anschlufs  an  ihn  hat  An- 
selm das  Wort  geprägt,  welches  wie  kein  anderes  den  Stand- 
punkt der  Scholastik  kennzeichnet:  credo  nt  int  ellig  am ,  ich 
glaube,  damit  ich  verstehe  (Proslogium  1).  Die  Scholastik 
ist  nichts  weniger  als  vernunftfeindlich,  sie  will  nicht  nur 
glauben,  sondern  auch  das  Geglaubte,  sow^eit  nicht  in  den 
Mysterien  unübersteigliche  Grenzen  gesetzt  sind,  mit  der  Ver- 
nunft begreifen;  aber  sobald  sie  auf  Sätze  gerät,  welche  dem 
kirchlich  anerkannten  Dogma  widersprechen,  mufs  sie  sich 
sagen,  dafs  sie  sich  auf  einem  Irrwege  befindet.  Sofern  dieses 
Credo  ein  äufserliches  Fürwahrhalten  der  durch  die  Tradition 
sanktionierten  Tatsachen  und  Glaubenssätze  bedeutet,  kenn- 
zeichnet es  einen  in  der  neuern  Philosophie  längst  über- 
wundenen Standpunkt;  sofern  es  aber  behauptet,  dafs  man 
den  religiösen   Wahrheiten  nie  gerecht  werden   kann,    wenn 


384  XIV.    Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

man  sie  nicht  vorher  im  tiefsten  Herzen  erfal'st  hat  und  auf 
sich  wirken  läfst,  hat  der  Anselmsche  Spruch  auch  heute  noch 
seine  Bedeutung.,  und  niemand  wird  imstande  sein,  auch  ein 
philosophisches  System  nach  seinem  Werte  richtig  zu  be- 
urteilen, der  sich  nicht  so  tief  in  die  Gedanken  und  Empfin- 
dungen seines  Urhebers  zu  versetzen  und  einzuleben  vermag, 
dafs  er  sich  mit  demselben,  wenigstens  vorübergehend,  völlig 
identifiziert,  denn  nur  so  kann  er  dazu  gelangen,  die  oft  nur 
halb  ausgesprochenen  Gedanken  seines  Autors  nach  ihrer 
vollen  Tragweite  zu  würdigen. 

2.   Anselms  Beweise  für  das   Dasein  Gottes. 

Anselm  führt  für  das  Dasein  Gottes  zwei  Beweise,  den 
einen  im  Monologium,  den  andern  im  Proslogium.  Im  Mono- 
logium  geht  er  aus  von  dem  platonischen  Realismus.  Es  gibt 
Dinge,  welche  die  Eigenschaft  der  Wahrheit,  der  Güte,  der 
Gröfse,  des  Seins  an  sich  tragen.  Diese  Eigenschaften  sind 
an  den  Einzeldingen  immer  nur  relativ,  und  alles  Relative 
hat  ein  Absolutes  zur  Voraussetzung.  Folglich  gibt  es  eine 
Wahrheit  an  sich,  ein  Gutes  an  sich,  ein  Grofses  an  sich,  ein 
Sein  an  sich,  und  der  Inbegriff  dieser  Universalia  ist  Gott.  — 
Aber  selbst  wenn  man  mit  Piaton  und  Anselm  den  Univer- 
salien auch  Realität  zugesteht,  so  ist  ihr  Inbegriff  doch  noch 
weit  entfernt  von  dem  Begriff  eines  persönlichen  Gottes;  viel- 
mehr widerspricht  ein  solcher  der  platonisch -anselmschen 
Ideenlehre,  denn  es  liegt  im  Wesen  der  Ideen,  an  sich 
seiende  Wesenheiten  (auTo  /.ixt'  auxc,  j^er  se  ipsum)  zu  sein,, 
welche  als  solche  eines  Trägers  .zu  ihrer  Stütze  nicht  be- 
dürfen, vielmehr  einen  solchen  ausschliefsen. 

Im  Proslogium,  so  genannt,  weil  Anselm  nach  dem  Vor- 
bilde der  Confessiones  des  Augustin  für  seine  Darstellung  die 
Form  einer  Anrede  an  Gott  gewählt  hat,  argumentiert  er 
cap.  2  und  3  folgendermaJ'sen : 

Ergo,  Donmte,  qui das  „Also,  o  Herr,  der  du  zu  dem  Glauben 
fideiintellectmn,damilii,  die  Erkenntnis  verleihst,  verleihe  mir, 
ut,  qiiantiim  scis  eocpe-  dafs  ich,  soweit*  du  es  für  gut  findest, 
dire,  intclligani,  quia  es  erkennen  möge,  dafs  du  bist,  wie  wir 
sicut   credimus,   et  Jioc  es  glauben,  und  dafs  du  so  bist,  wie  wir 


4.   Aiiselin  von  Canterburv. 


385 


es  quod  crcdimus.  Et 
qiiidem  crcdimus,  tc  esse 
cdiquid,  quo  nihil  majus 
coyitari  possit.  An  ergo 
non  est  aliqua  talis  na- 
tura, quia  „dicit  insi- 
piens  in  corde  suo:  Non 
estDcus^'  ?  Sed  certe  idem 
ipscinsipicns,  cum  audit 
h  ocipsum,  quod  dico,ali- 
quid,  quo  majus  nihil 
cogifari  potest,  intelligit, 
quod  audit,  et  quod  in- 
telligit, in  intellectu  ejus 
est,  etiamsi  nonintelligat 
illud  esse.  Aliud  est 
mim,  rem  esse  in  intel- 
lectu, aliud  intelligere, 
rem  esse.  Nam  cumpic- 
tor praecogitat  quae fac- 
turus est,  habet  quidem 
in  intellectu,  sed  non- 
dum  esse  intelligit,  quod 
nondumfecit.  Cum  vero 
jam  pinxit,  et  habet  in 
intellectu,  et  intelligit 
f'sse,  quod  iam  fecit. 
Convincitur  ergo  etiam 
insipiens,  esse  vel  in  in- 
tellectu aliquid,  quo  nihil 
majus  cogitari  potest; 
quia  hoc  cum  audit,  in- 
telligit; et  quidquid  in- 
telligitur,in  intellectu  est. 
Et  certe  id,  quo  majus 
cogitari  nequit,  non  po- 
test esse  in  intellectu  solo. 
Si  enim  vel  in  solo  intel- 


dich  glauben.  Wir  glauben  aber,  dafs 
du  etwas  bist,  gröfser  als  welches  nichts 
gedacht  werden  kann.  Oder  sollte  es 
etwa  kein  Wesen  dieser  Art  geben, 
denn  n  die  Toren  sprechen  in  ihrem  Her- 
zen: es  ist  kein  Gott»?  Aber  gewifs 
ist,  dafs  eben  ein  solcher  Tor,  wenn  er 
diese  meine  Worte  hört,  sich  unter  dem, 
gröfser  als  welches  nichts  gedacht 
werden  kann,  etwas  denkt,  wenn  er 
es  hört,  und  was  er  denkt,  das  ist  in 
seinem  Intellekt,  auch  dann,  wenn  er 
nicht  einsieht,  dafs  es  existiert.  Denn 
freilich  ist  es  ein  anderes,  dafs  etwas  im 
Intellekt  vorhanden  sei,  und  ein  anderes, 
einzusehen,  dafs  dasselbe  in  Wirklich- 
keit vorhanden  ist.  Und  wenn  ein  Maler 
im  voraus  überlegt,  was  er  malen  will, 
so  hat  er  es  zwar  im  Intellekt,  weifs 
aber  auch,  dafs  das  Bild,  welches  er 
noch  nicht  gemalt  hat,  noch  nicht  wirk- 
lich vorhanden  ist ;  nachdem  er  es  aber 
gemalt  hat,  so  hat  er  es  sowohl  im  In- 
tellekt, als  auch  weifs  er,  dafs  das  Bild 
existiert,  welches  er  gemalt  hat.  Auch 
der  Tor  also  ist  genötigt  einzugestehen, 
dafs  wenigstens  in  seinem  Intellekt  et- 
was vorhanden  ist,  gröfser  als  welches 
nichts  gedacht  werden  kann;  denn  in- 
dem er  dieses  hört,  versteht  er  es ;  was 
aber  verstanden  wird,  ist  im  Intellekt 
vorhanden.  Nun  kann  aber  das,  gröfser 
als  welches  nichts  gedacht  werden  kann, 
nicht  im  Intellekt  allein  vorhanden  sein. 
Denn  gesetzt,  dasselbe  sei  im  Intellekt 
allein  vorhanden,  so  könnte  es  gedacht 
werden  als  auch  in  Wirklichkeit  be- 
stehend, und   das  wäre  ein  gröfsereso 


Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii,  2. 


25 


38ß 


XIY.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 


lectii  est,  pofest  cogitari 
-et  in  re,  quod  majus 
est.  Si  ergo  id.  quo  ma- 
jus cogitari-  iion  potest, 
est  in  solo  inteJlccfu,  id 
ilisum,  quo  majus  cogi- 
tari von  potest,  est  quo 
majus  cogitari  potest; 
scd  certe  Iwc  esse  non 
jjotest.  Existit  er(/o  pro- 
cid  dnhio  aliquid,  quo 
majus  cogitari  non  valet, 
et  in  intell'ectu,  et  in  re. 
^uod  utiquc  sie  vere 
est.  nt  nee  cogitari possit 
non  esse,  Nam  potest 
■cogitari  esse  aliquid, 
■quod  non  possit  cogitari 
non  esse;  quod  majus 
est,  quam  quod  non  esse 
cogitari  potest.  Quare 
si  id,  quo  majus  nequit 
cogitari,  potest  cogitari 
non  esse,  id  ipsum,  quo 
majus  cogitari  nequit, 
'non  est  id,  quo  majus 
cogitari  nequit:  quod 
eonvenire  non  potest. 
Sic  ergo  vere  est  aliquid, 
quo  majus  cogitari  non 
j)otest,  ut  nee  cogitari 
possit  non  esse:  et  hoc  es 
tu.  Domine  Dens  noster! 


Gesetzt  also,  dasjenige,  gröfser  als  wel- 
ches nichts  gedacht  werden  kann,  wäre 
nur  im  Intellekt  vorhanden,  so  würde 
ehen  dasjenige,  gröfser  als  welches  nichts 
gedacht  werden  kann,  ein  solches  sein, 
gröfser  als  welches  noch  etwas  gedacht 
werden  könnte;  und  das  ist  offenbar 
unmöglich.  Es  mufs  also  unzweifelhaft 
etwas  existieren,  gröfser  als  welches 
nichts  gedacht  werden  kann,  und  zwar 
sowohl  im  Intellekt,  als  auch  in  Wirk- 
lichkeit. Dasselbe  existiert  also  so  sicher 
in  Wahrheit,  dafs  nicht  einmal  gedacht 
werden  kann,  dafs  es  nicht  existiere.  Es 
kann  also  etwas  gedacht  werden,  von 
dem  sich  nicht  denken  läfst,  dafs  es 
nicht  existierte;  und  dieses  ist  gröfser 
als  das,  von  dem  man  sich  denken  kann, 
dafs  es  nicht  existierte.  Wenn  also  das- 
jenige, gröfser  als  welches  nichts  gedacht 
werden  kann,  gedacht  werden  könnte 
als  nicht  existierend,  so  würde  eben  das- 
jenige, gröfser  als  welches  nichts  ge- 
dacht werden  kann,  nicht  dasjenige  sein, 
gröfser  als  welches  nichts  gedacht  wer- 
den kann;  welches  unmöglich  ist.  Es 
ist  also  so  gewifs  wahr,  dafs  etwas  exi- 
stiert, gröfser  als  welches  nichts  ge- 
dacht werden  kann,  dafs  es  nicht  ein- 
mal gedacht  werden  kann  als  nicht  exi- 
stierend: und  das  bist  du,  o  Herr,  unser 
Gott!" 


Anknüpfend  an  die  bekannte  Stelle,  Psalm  14,1,  in  der 
Vulgata  13,1 :  Dixit  insipiens  in  corde  suo :  non  est  Bens,  sucht 
Anselm  diesem  Insipiens  zu  beweisen,  dafs  er,  entgegen  seiner 
Behauptung,  an  das  Dasein  Gottes  glaubt,  während  der  Mönch 


4.  Ansolm  von  Canterbury.  387 

Oaunilo  in  seinem  anonym  erschienenen  Lihcr  x>'t'o  insipientc 
advrrsus  ÄiisrJmi  iti  Proslogio  ratiocinationcni  dem  Anselm 
A'^orwirft,  er  identifiziere  die  Begriffe  intdligi  und  esse  in  in- 
tdledu,  worauf  wiederum  Anselm  in  seinem  Liher  apologeticus 
adversus  respondentem  p>ro  iusipieide  seine  Behauptung  zu  recht- 
fertigen sucht.  —  Die  unter  dem  Namen  des  ontologischen 
Beweises  so  berühmt  gewordene  Argumentation  des  Anselm 
läfst  sich  zusammenfassen  in  die  Worte:  Dens  est  id,  quo 
majus  cogitari  nequit.  Si  Dens  esset  in  intellectu  solo,  eo,  quo 
majiis  cogifari  nequit,  niujiis  cogitari  posset,  „Gott  ist  dasjenige, 
gröfser  als  welches  nichts  gedacht  werden  kann;  wäre  nun 
Gott  allein  im  Intellekt  vorhanden,  so  liefse  sich  noch  etwas 
■Gröfseres  denken  als  das,  gröfser  als  welches  nichts  gedacht 
werden  kann"  (nämlich  derselbe  Gott  als  nicht  nur  im  In- 
tellekt, sondern  auch  in  Wirklichkeit  bestehend),  welche  An- 
nahme einen  Widerspruch  enthalten,  somit  falsch  sein  würde. 
—  Der  Fehler  des  Anselmschen  Arguments  liegt  nicht  darin, 
-wo  Gaunilo  und  viel.e  nach  demselben  ihn  gesucht  haben, 
wenn  sie  dem  Anselm  vorwerfen,  er  habe  mit  Unrecht  cogitari 
gleichgesetzt  mit  esse  in  intellectu;  denn  beide  sind  genau  das- 
selbe; sondern  vielmehr,  wie  Kant  nachgewiesen  hat,  darin, 
■dafs  Anselm  das  esse  in  re  für  gröfser  hält  als  das  esse  in 
intellectu,  da  doch  beide  vollkommen  gleich  grofs  sind,  und  der 
Gott  in  Wirklichkeit  nicht  um  ein  Haar  breit  gröfser  ist  als  der 
Gott  in  der  Idee,  etwa  wie  die  Person  vor  dem  Spiegel  in  allen 
Einzelheiten  dasselbe  ist,  was  ihr  Abbild  im  Spiegel  zeigt, 
oder,  das  Kantische  Beispiel  zu  gebrauchen,  wie  hundert  Taler 
in  Wirklichkeit  dieselbe  Summe  sind  wie  hundert  Taler  in 
der  Idee,  nur  dafs  diese  Summe  das  eine  Mal  wirklich  da  ist 
und  das  andere  Mal  nicht. 

3.  Cur  Deus  lionw? 
In  der  Schrift  dieses  Namens  sucht  Anselm  in  das  so- 
genannte Mysterium  der  Inkarnation  einzudringen  und  begreif- 
lich zu  machen,  „warum  Gott  Mensch  werden  mufste",  worüber 
bis  zu  ihm  die  Vorstellung  herrschte,  dafs  Gott  seinen  Sohn 
als  Lösegeld  (Xuxpov,  schon  Matth.  20,28;  Marc.  10,45)  für  die 
Henschen,  auf  welche  der  Teufel  durch  den  Sündenfall  An- 

25* 


388  XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

Spruch  hatte,  gezahlt  habe,  was  dann  leicht  auf  die  Vor'stellung 
hinauslief,  dafs  Gott  den  Teufel  überlistet  habe.  Diese  un- 
wüi'dige  Vorstellung  sucht  Anselm  dadurch  zu  beseitigen,  dafs 
er  an  die  Stelle  eines  Konflikts  Gottes  mit  dem  Teufel  den 
Konflikt  zweier  Eigenschaften  Gottes  setzt,  nämlich  der  Ge- 
rechtigkeit, welche  verlangt,  dafs  alle  Nachkommen  Adams 
der  Verdammnis  anheimfallen,  und  der  Barmherzigkeit, 
welche  die  Menschen  retten  möchte,  wenn  sie  das  dargebotene 
Sühnopfer  im  Glauben  annehmen.  Diese  seit  Anselm  ange- 
nommene Theorie  ist  allerdings  nicht  imstande,  die  Schwierig- 
keit zu  lösen.  Denn  wenn  es  eine  Ungerechtigkeit  ist,  dem 
Schuldigen  zu  verzeihen,  so  ist  es  nicht  eine  Kompensation, 
sondern  eine  Verdoppelung  der  Ungerechtigkeit,  wenn  die  Strafe 
von  dem  Schuldigen  genommen  und  auf  einen  Unschuldigen 
gelegt  wird. 

5.  Abaelard  und  seine  Schule. 

Zwischen  dem  Realismus  des  Anselm  und  Wilhelm  von 
Champeaux  und  dem  Nominalismus  des  Roscellin  nimmt  als 
Schüler  der  beiden  letztern  eine  vermittelnde  Stellung  ein  der 
durch  seine  glänzende  Dialektik  und  Lehrgabe,  mehr  noch 
durch  seine  herben  Lebensschicksale  berühmt  gew^ordene 
Petrus  Abaelardus  (Abelard,  Abeillard) ;  geboren  1079  in  dem 
Dorfe  Palais  unweit  Nantes,  hörte  er  als  wandernder  Schüler 
zuerst  den  Nominalisten  Roscellin,  dann  zu  Paris  den  in  der 
Weise  seines  Lehrers  Anselm  von  Laon  den  Realismus  ver- 
tretenden Wilhelm  von  Champeaux.  Abaelard  wurde  bald 
sein  Gegner,  eröffnete  zunächst  eine  Schule  zu  Melun,  welche 
er  nach  1108  nach  Paris  auf  den  Hügel  Ste.  Genevieve  und 
1115  nach  der  Kathedralschule  von  Notre  Dame  verpflanzte. 
Als  geleierter,  von  angeblich  tausend  Studenten  besuchter 
Lehrer  fand  er  Eingang  in  dem  Hause  des  Kanonikus  Fulbert, 
wo  er  dessen  1101  geborene  schöne  und  gelehrte  Nichte  Heloise 
unterrichtete,  in  heftiger  Liebe  zu  ihr  entbrannte  und  sie  nach 
der  Bretagne  entführte,  wo  sie  ihm  einen  Sohn,  den  Astralabius, 
schenkte.  Vergebens  suchte  er  seine  Ehe  mit  Heloise  geheim- 
zuhalten, um  sich  den  Zugang  zu  den  geistlichen  Amtern  nicht 
zu  verschliefsen.     Der   rachsüchtige  Fulbert  fand  das  Mittel, 


5.   Ahaelard  uiul  seine  Schule.  339 

ihm  (nach  fx  Mose  23,1)  die  geistliche  Laufbahn  unmöghch 
zu  machen,  indem  er  ihn  bei  Nacht  überfallen  und  entmannen 
liel's.  Schon  1121  erwirkten  seine  Gegner  und  Neider  auf  der 
Synode  zu  Soissons  die  Verurteilung  seiner  Trinitätslehre;  er 
mufste  seinen  Tracfatxs  de  unitatc  et  trimtate  divina  ins  Feuer 
werfen  und  wurde  für  kurze  Zeit  sogar  gefangen  gesetzt.  Aus 
der  Haft  befreit,  verbrachte  er  die  übrigen  zwanzig  Jahre 
seines  Lebens  teils  in  klösterlicher  Zurückgezogenheit,  teils 
in  der.  von  seinen  ihm  zuströmenden  Schülern  erbauten  Ein- 
siedelei des  Paraklet  (bei  Nogent-sur-Seine),  welche  er  später, 
nach  Auflösung  des  Klosters  Argenteuil,  wohin  sie  geflüchtet 
war,  seiner  Heloise  und  einigen  ihrer  Klosterschwestern  über- 
wies, während  er  selbst  1136  auf  Drängen  seiner  Verehrer  noch 
einen  letzten  Versuch  machte,  auf  Ste.  Genevieve  zu  Paris  zu 
lehren.  Hier  erstand  ihm  als  unerbittlicher  Gegner  Bernhard 
von  Clairvaux,  welcher  seine  Verurteilung  wegen  zahlreicher 
Irrlehren  1141  auf  der  Synode  zu  Sens  betrieb.  Abaelard 
appellierte  an  den  Papst,  starb  aber,  durch  so  viele  Schicksals- 
schläge gebrochen,  auf  der  Reise  nach  Rom  1142  in  der  Priorei 
zu  St.  Marcel  (bei  Cluny  unweit  Macon).  Seine  Gebeine  wurden 
im  Paraklet  von  Heloise  gehütet  und  nach  deren  Tode  (1164) 
an  verschiedenen  Orten  aufbewahrt,  bis  seit  1817  beide  Lie- 
bende in  einem- berühmten  Grabmale  auf  dem  Pere-Lachaise 
vereinigt  ruhen. 

Die  Schriften  des  Abaelard  haben  bei  den  Menschen  nicht 
die  liebevolle  Fürsorge  gefunden,  auf  welche  die  Werke  eines 
hervorragenden  Geistes  bei  der  Nachwelt  Anspruch  haben. 
Manche  seiner  Schriften  sind  verloren  o-esangen,  von  andern 
besteht  geringe  Aussicht,  sie  noch  irgendwo  aufzufinden.  Von 
den  erhaltenen  und  publizierten  Werken  sind  die  wichtigsten 
der  Traetaft{S  de  uvitate  et  triiritate  dioiva,  die  nur  ihrem  ersten 
Teile  nach  erhaltene  Theologia,  die  ethische  Abhandlung  Scito 
tc  ipsum  seu  Ethica,  der  Dicdogus  ivier  PhilosojyJmm,  Judaeum 
d  Christianum,  die  Glossulae  zu  Aristoteles,  Porphyrius  und 
Boethius,  sowie  die  dialektischen  Schriften  Bidlectica  und  das 
gleichfalls  erst  von  Cousin  unter  den  Ouvrages  inedits  (1836) 
veröffentlichte  Sic  et  Nov. 

In  der  Universalienfrage  nimmt  Abaelard,  wie  bereits  be- 


390  XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastik. 

merkt,  eine  vermittelnde  Stellung  zwischen  dem  Kealismus 
des  Anselm  und  dem  Nominalismus  des  Roscellin  ein.  Die 
Universalia  existieren  vor  der  Schöpfung  als  Gedanken  in  dem 
Geiste  Gottes,  nach  der  Schöpfung  subsistieren  sie  nur  in  den 
Dingen,  und  zwar  nicht  gencralüer,  sondern  inäividualüery 
d.  h.  in  den  durch  die  individuelle  Existenz  bedingten  Spezi- 
fikationen, nicht  aber  als  reale  Allgemeinheiten,  da  es  eine 
Monstrosität  sein  würde,  eine  Sache  von  einer  Sache  zu 
prädizieren  [rem  de  repraedicarl  monstrum  ducunt,  Joh.  Salisber. 
Metalog.  II,  17).  Dennoch  sind  die  Universalia  nach  Abaelard 
nicht  blofse  voces,  sondern,  wie  er  sagt,  sennones,  d.  h.  Prädi- 
kate im  Urteil,  welche  als  solche  nicht  an  sich,  sondern  nur 
im  Subjekt  subsistieren.  Seine  Auffassung  läfst  sich  füglich 
in  der  Formel  ausdrücken:  universalia  in  rebus. 

Im  Gegensatze  zu  dem  Anselmschen  Credo  id  intelUgam 
mifst  Abaelard  der  Vernunft  eine  mehr  mafsgebende  Bedeutung 
zu,  sofern  der  Glaube,  wenn  er  nicht  vorher  vernunftmäfsig 
begriffen  worden  ist,  ein  toter  Glaube  bleibt.  Er  sagt  in  der 
Historia  calamitatum  mearum:  „Ich  befafste  mich  nun  zuerst 
damit,  das  Fundament  unseres  Glaubens  selbst  durch  mensch- 
liche Vernunftgründe  fafslich  zu  machen.  Zu  diesem  Zwecke 
schrieb  ich  eine  theologische  Abhandlung  «über  die  göttliche 
Einheit  und  Dreiheit »  für  den  Gebrauch  meiner  Schüler,  die 
nach  vernünftigen  wissenschaftlichen  Gründen  verlangten  und 
nicht  blofs  Worte  hören,  sondern  sich  auch  etw^as  dabei  denken 
wollten.  Sie  meinten,  es  sei  vergeblich,  viele  Worte  zu  machen, 
bei  denen  sich  nichts  denken  lasse;  man  könne  doch  nichts 
glauben,  was  man  nicht  vorher  begriffen  habe;  es  sei 
lächerlich,  wenn  einer  etwas  predigen  wolle,  was  weder  er 
selbst  noch  seine  Zuhörer  mit  dem  Verstand  fassen  könnten; 
das  seien  die  «blinden  Blindenleiter » ,  von  denen  der  Herr 
spreche."  Nach  dieser  Erklärung  läfst  sich  im  Gegensatze 
zu  Anselms  Credo  ut  intelUgeim  als  Abaelards  Prinzip  auf- 
stellen: Jntelligo  'tit  credam. 

Diesem  Grundsatze  entsprechend  argumentiert  er  wie  folgt: 
Da  Christus  doch  nach  der  Schrift  der  Logos  ist,  so  folgt, 
dafs  der  beste  Logiker  auöh  der  beste  Christ  ist,  und  Abae- 
lard trägt  kein  Bedenken,  in  seinem  1121  zu  Soissons  durch 


5.   Abaelard  und  seine  Schule.  39t 

ein  höchst  willkürliches  Verfahren  zur  Verbrennung  verurteil- 
ten Tradatus  de  tmitate  et  trinitate  divina  mit  Vernunftgründen 
in  das  Mysterium  der  Trinität  einzudringen,  indem  er  die  drei 
göttlichen  Grundeigenschaften  der  Allmacht,  All  Weisheit  und 
Allgüte  auf  die  drei  Personen  der  Gottheit  bezieht  und  in 
dem  Vater  die  Macht,  dem  Sohne  die  Weisheit  und  dem 
Geiste  die  Güte  Gottes  verwirklicht  findet,  wodurch  man  ihm 
allerdings  nicht  mit  Unrecht  schuld  gab,  in  die  monarchia-- 
nische  Ketzerei  des  Sabellius  (oben,  S.  356)  verfallen  zu  sein. 

Das  Wertvollste  in  Abaelards  Philosophie  dürften  die  in 
seinem  Werke  Scito  te  ipsum  ausgesprochenen  ethischen  Ge- 
danken sein,  vermögenderen  er  in  einem  Zeitalter  der  Opera 
operata  den  ganzen  Nachdruck  nicht  auf  die  äufsere  Tat,  son- 
dern auf  die  Gesinnung  legt,  aus  welcher  sie  hervorgeht;, 
cap.  7 :  opera  omnia  in  se  indifferentia  nee  nisi  pro  intentione- 
agentis  vel  bona  vel  mala  dicenda  sunt.  Eine  Handlung  ist 
nur  dann  sündhaft,  wenn  sie  dem  eigenen  sittlichen  Bewufst- 
sein  widerspricht:  non  est  peccatum  nisi  contra  conscientiam 
(cap.  13);  stimmt  sie  mit  ihm  zusammen,  so  kann  sie  wohl 
fehlerhaft,  doch  nicht  eigentlich  sündlich  heifsen;  tugendhaft 
aber  heifst  sie  nur  dann,  wenn  die  sittliche  Gesinnung  mit 
der  Norm  des  objektiven  Sittengesetzes  übereinstimmt,  mag^ 
dieses  den  Christen  als  Wille  Gottes  oder  auch  schon  den 
Heiden  als  das  natürliche  Sittengesetz  oflenbart  worden  sein, 
welches  im  Christentum  nur  reformiert,  erneuert,  verschärft,, 
nicht  aber  eigentlich  verändert  worden  ist. 

Die  dem  mittelalterlichen  Denken  wesentliche  dialektische 
Methode  der  Erwägung  des  Pro  und  Contra  wurde  durch  nichts 
sq  sehr  angeregt  und  gefördert  wie  durch  die  kecke  Schrift 
Sic  et  Non,  w^elche  in  einem  Zeitalter,  wo  man  geneigt  war,  die 
Autorität  der  Kirchenväter  der  Heiligen  Schrift  nahezu  gleich- 
zustellen, nur  die  Bibel  als  unbedingte  Norm  anerkennt,  während 
Abaelard  mit  grofser  Belesenheit  nicht  weniger  als  150  Punkte 
der  christlichen  Dogmatik  durchgeht  und  bei  jedem  derselben 
entgegengesetzte  Aussprüche  der  Kirchenväter  verzeichnet. 

Teils  aus  der  Schule  des  Abaelard,  teils  wenigstens  durch 
ihn  angeregt,  entstanden  die  in  der  nächsten  Zeit  in  grofsre 
Zahl  auftretenden  Libri  sententiarum   der  sogenannten   Sum- 


;^92  XIV.   Die  erste  Periode  der  Scholastili. 

misten,  welche  über  alle  Punkte  der  christlichen  Lehre  die 
Aussprüche  der  patres  ecdesiae  zusammenstellten,  diskutierten 
und  auf  dialektischem  Wege  auszugleichen  bemüht  waren. 
Das  bedeutendste  dieser  Werke  sind  die  Sententiarum  lihri 
qnattuor  des  Petrus  Lombardus,  eines  Schülers  des  Abae- 
lard  ("f  1164),  welcher  in  vier  Büchern  über  Gott,  die  Schöpfung, 
die  Erlösung  und  die  Sakramente  die  Hauptleliren  des  Christen- 
tums zusammenstellte,  für  die  Folgezeit  die  Grundlage  der 
christlichen  Dogmatik  darbot  und  viele  Kommentare,  unter 
anderm  auch  den  des  Thomas  von  Aquino,  hervorrief. 

« 

.     XV.   Die  Philosophie  der  Araber. 

1.  Geschichtlicher  Überblick. 

Während  die  übrigen  Stämme  der  Semiten  aus  Arabien 
nach  Norden  vordrangen  und  (wie  oben,  Phil.  d.  Bibel,  S.  29  fg., 
37  fg.,  73  fg.  gezeigt)  als  Babylonier  und  Assyrer,  als  Phoe- 
niker,  Hebräer  und  Aramäer  in  mannigfacher  W^eise  in  den 
Strom  des  W^eltlebens  hineingezogen  wurden,  blieben  die 
Araber  noch  viele  Jahrhunderte  hindurch  der  ursprünglichen 
Heimat  und  der  durch  sie  bedingten  Lebensweise  treu,  wie 
sie  denn  auch  den  reinsten  Typus  der  semitischen  Rasse  nach 
Sprache,  Charakter  und  äufserer  Erscheinung  repräsentieren. 
Durch  die  Natur  Arabiens,  welches  nur  in  den  Küstenstrichen 
und  einzelnen  Oasen  eine  Bebauung  des  Bodens  lohnt,  im 
übrigen  aber  teils  ganz  wüste  liegt,  teils  nur  kärgliche  Nah- 
rung für  Kamele,  Schafe  und  Ziegen,  stellenweise  auch  für 
Rosse,  bietet,  waren  seine  Bewohner  zum  gröfsten  Teile  auf 
das  Nomadenleben  angewiesen,  waren  geübt  in  kriegerischer 
Tüchtigkeit  wie  im  Ertragen  von  Entbehrungen,  und  blickten 
mit  Stolz  und  Geringschätzung  auf  eine  ackerbautreibende  Be- 
völkerung herab.  So  zerüelen  die  Araber  in  eine  grofse  An- 
zahl einzelner,  teils  sefshafter,  teils  mit  ihren  Zelten  und 
Herden  umherstreifender  Stämme  ohne  nationalen  Zusammen- 
hang und  ohne  eine  andere  Einheit  als  die,  welche  durch  die 
Gemeinschaft  der  Sprache  und  der  Religionsanschauungen  von 
Jeher  bestanden  hatte.     Doch  war   eine  Stadt  wie  Mekka  mit 


1.    üeschicbtliflier  Überblick.  393 

ihrem  uralten  Heiligtum,  der  Ka'ba,  schon  früh  im  weiten  Um- 
kreise für  die  umwohnenden  Stämme  ein  Gegenstand  der  Ver- 
ehrung, und  hier  wurde  der  Mann  geboren,  welcher  berufen 
war,  die  arabischen  Stämme  zu  einigen  und  die  in  ihnen 
schlummernden  und  noch  unverbrauchten  Kräfte  zu  einer  weit 
über  die  Halbinsel  hinaus  sich  erstreckenden  Wirksamkeit  zu 
entfesseln. 

Mohammed  (d.  h.  „der  Gepriesene")  wurde  nach  späterer 
Ansetzung  570  p.  C.  zu  Mekka  geboren.  Er  stammte  aus  dem 
angesehenen  Geschlechte  der  Koraisch,  verlor  aber  früh  seine 
Eltern  und  mufste  durch  Hüten  von  Schafen  und  Handels- 
geschäfte sein  Brot  mühsam  erwerben.  Ob  er,  wie  erzählt 
wird,  in  seiner  Jugend  auf  Handelsreisen  nach  Syrien  ge- 
langte und  dort  mit  jüdischen  und  christlichen  Kreisen  in  Be- 
rührung kam,  ist  zweifelhaft.  In  seinem  vierundzwanzigsten 
Jahre  trat  er  in  die  Dienste  der  reichen  Witwe  Chadidscha; 
sie  wurde,  obgleich  angeblich  15  Jahre  älter  als  er,  im  folgen- 
den Jahre  seine  Gattin,  schenkte  ihm  unter  andern  Kindern 
die  Fatima,  nachmalige  Gattin  des  Chalifen  'Ali,  und  wurde 
die  erste  und  treueste  Anhängerin  seiner  religiösen  An- 
schauungen. Diese  entwickelten  sich,  angeblich  seit  seinem 
vierzigsten  Jahre,  nach  neuern  Forschungen  jedoch  erheblich 
früher,  unter  dem  Einflüsse  von  Visionen  und  Eingebungen 
zu  einem  strengen  und  starren  Monotheismus,  für  welchen  er 
zunächst  aufser  seiner  Gattin  nur  wenige  Anhänger,  seinen 
Neffen  und  Schwiegersohn  'Ali,  seinen  nachmaligen  Schwieger- 
vater Abu  Bekr,  seinen  Sklaven  und  spätem  Adoptivsohn  Zaid 
fand,  während  zwar  das  geringe  Volk  sich  seiner  Lehre  zu- 
neigte, die  bessern  Stände  aber  ihn  teils  verlachten,  teils  von 
seiner  Anfeindung,  des  in  Mekka  herrschenden  und  für  viele 
andere  Stämme  tonangebenden  Polytheismus  eine  Störung  der 
Handelsverbindungen  ihrer  Stadt  befürchteten.  Die  daraus 
entspringenden  Anfeindungen  und  Bedrückungen  veranlafsten 
Mohammed  schliefslich,  mit  seinem  Anhange  Mekka  zu  ver- 
lassen und  nach  dem  300  Kilometer  nördlich  von  Mekka  und 
mehr  als  dieses  landeinwärts  liegenden  Jathrib  überzusiedeln, 
von  wo  seine  Mutter  stammte,  und  wohin  er  schon  früher  ein- 
mal als  Schiedsrichter  zwischen  streitenden  Stämmen  berufen 


394  ^^^-   I^ie  Philosophie  der  Araber. 

worden  war.  Das  Datum  dieser  von  den  Mohammedanern  die 
Hedschra  (d.  i.  Sezession)  genannten  Übersiedlung  ist  der 
16.  Juli  622,  mit  welchem  die  Mohammedaner  ihre  Zeitrechnung 
(nach  Mondjahren)  beginnen.  In  Jathrib,  später  wohl  Mohammed 
zu  Ehren  Medina,  als  „die  Stadt  des  Propheten"  (medtnat 
ul-nah'ij  genannt,  heiratete  er  nach  dem  Tode  der  Chadidscha 
mehrere  andere  Weiber,  unter  ihnen  die  'Aischa,  Tochter 
seines  Freundes  Abu  Bekr.  Allmählich  erstarkte  sein  Anhang 
so  weit,  dafs  er  gegen  Mekka  feindlich  vorgehen  konnte;  nach 
einigen  teils  glücklichen,  teils  unglücklichen  Wendungen  er- 
reichte er  zunächst  629  das  Recht  der  Pilgerfahrt  zu  den  Heilig- 
tümern der  Ka'ba,  und  schlief slich  630  an  der  Spitze  seiner 
Gläubigen  die  Übergabe  der  Stadt.  Zum  Herrscher  der  Stadt 
geworden,  zerstörte  er  die  in  der  Ka'ba  aufgestellten  Götzen- 
bilder und  machte  dieselbe  sowie  den  heiligen,  in  ihrer  Südost- 
wand eingemauerten  „schwarzen  Stein",  einen  alten  Fetisch^ 
zum  Mittelpunkte  der  neuen  Religion.  Die  Kapitulation  Mekkas 
und  weitere  kriegerische  Erfolge  Mohammeds  bewirkten,  dafs 
alle  Hauptstämme  der  Halbinsel  sich  ihm  und  seiner  Lehre 
unterwatfen.  Nach  Medina  zurückgekehrt,  empfing  er  von 
überall  her  die  Huldigungen  der  arabischen  Stämme  als  der 
Gesandte  Allahs  und  bereitete  schon  einen  Kriegszug  gegen 
das  Byzantinische  Reich  vor,  als  er,  von  einem  schweren  Fieber 
heimgesucht,  am  8.  Juni  632  in  den  Armen  seiner  Lieblings- 
gattin 'Aischa  starb  und  in  deren  Hütte  begraben  wurde,  neun 
Weiber  als  seine  Witwen  hinterlassend. 

Nach  dem  Tode  des  Propheten  wurden  die  ihm  angeblich 
vom  Engel  Gabriel  mitgeteilten  Offenbarungen  teils  aus  münd- 
licher Überlieferung,  teilweise  auch  nach  Aufzeichnungen  von 
Mohammeds  Schreiber,  durch  Abu  Bekr  unter  Mitwirkung  von 
'Omar  aufgezeichnet  und  unter  'Othman  definitiv  redigiert. 
Diese  Sammlung,  an  Umfang  noch  hinter  dem  Neuen  Testa- 
ment zurückstehend,  heifst  der  Koran  [kofän,  d.  h.  Rezitation) 
und  bildet  das  heilige  Religionsbuch  des  Islam.  Er  soll  in 
der  Urschrift  von  Ewigkeit  her  im  siebenten  Himmel  vor- 
handen gewesen  und  nach  der  gesegneten  „Nacht  des  Rat- 
schlusses" seit  611  durch  den  Engel  Gabriel  nach  und  nach 
dem  Propheten  mitgeteilt   worden    sein.     Der   Koran   besteht 


1.    (ieschiflitliclioi-  Überblick.  395 

aus  114,  weder  chronologisch  noch  systematisch,  sondern  ein- 
fach (wie  auch  öfter  in  Indien  geschieht)  nach  der  abnehmen- 
den Zahl  der  Verse  geordneten  Suren  (Kapiteln),  welche  nicht 
nur  Glaubens-  und  Sittenlehren,  sondern  auch  zivilrechtliche  und 
strafrechtliche,  stellenweise  sogar  gesundheitliche  Verordnungen 
enthalten  und  vieles  aus  der  jüdischen  und  christlichen  Literatur, 
zum  Teil   nicht  ohne  Mifsverständnisse,  aufgenommen  haben. 

Ahnlich  wie  in  Indien  neben  der  Qritti  zur  Ergänzung  die 
Smriti  (vgl.  oben,  Phil.  d.  Inder  I,  S.  57.  71)  steht,  bilden  im 
Islam  die  im  Koran  übergangenen  oder  undeutlich  behandelten 
Fragen  den  Gegenstand  des  Hadith  (d.  i.  Tradition),  von  dem 
es  sechs  als  kanonisch  anerkannte  Sammlungen  gibt, .  und 
welcher,  da  er  auf  Wort  und  Brauch,  d.h.  der  „Sunna"  des 
Propheten  beruht,  in  allen  Fällen  verbindlich  ist,  wo  der  Koran 
nicht  ausreicht.  Neben  den  Traditionen  vom  Propheten  umfafst 
die  Sunna  den  namentlich  in  Medina  überlieferten  Brauch  der 
Gemeinde  und  ist  mafsgebend  für  das  Verhalten  der  Gläubigen. 
Den  im  Westen  der  islamischen  Welt  vertretenen  Sunniten, 
so  benannt,  weil  sie  die  Verbindlichkeit  der  Sunna  anerkennen, 
sfehen  die  vorwiegend  in  Persien  und  Indien  zu  findenden 
Schi'iten  gegenüber,  welche  sich  als  die  „Partei"  (scMaJ  des 
'Ali  als  des  allein  rechtmäfsigen  Nachfolgers  des  Propheten 
bezeichnen,  weiterhin  in  viele  Sekten  auseinandergegangen 
sind,  nur  den  Koran  als  verbindlich  gelten  lassen  und  nicht, 
wie  der  westliche  Islam,  die  Suprematie  des  Sultan  anerkennen, 
während  sie  auf  einen  künftigen  Messias  aus  dem  Geschlechte 
des  'Ali  unter  dem  Namen  des  JlahcU  ihre  Hoffnung  setzen.  Der 
Gegensatz  zwischen  Sunniten  und  Schfiten  hat  in  der  christ- 
lichen Welt  ein  gewisses  Analogon  in  der  Spaltung  zwischen 
der  römisch-katholischen  Kirche,  welche  neben  der  Schrift  die 
Tradition  und  als  Oberhaupt  den  Papst  verehrt,  und  dem  an 
Sekten  reichen  Protestantismus,  welcher  beides,  Tradition  und 
Papsttum,  ablehnt. 

Im  Gegensatz  zum  Brahmanismus  und  Judentum,  welche 
(wenigstens  nach  der  Theorie)  keine  Mission  betreiben  können, 
jener  nicht,  weil  der  Übergang  aus  der  alle  Menschen  als 
solche  befassenden  Kaste*  der  Tüdras  zu  den  brahmanischen 
Kasten  nur  auf  dem  ^^'ege  der  Seelenwanderung  möghch  ist. 


396  ^^"-    I^i^  Philosophie  der  Araber. 

das  Judentum  nicht,  weil  eben  nur  die  Juden  das  auserwählte 
Volk  Gottes  sind,  gibt  es  drei  missionierende,  die  Bekehrung 
aller  Menschen  sich  zum  Ziel  setzende  Religionen,  den  Buddhis- 
mus, das  Christentum  und  den  Islam,  nur  dafs  selbst  der 
Islam  als  geduldete  Religionen  im  Abhängigkeitsverhältnis 
Christentum,  Judentum  und  Sabiertum  anerkennt. 

Solche  Mission  treibenden  Religionen  mufsten  bestrebt 
sein,  für  ihre  Grundlehren  eine  möglichst  kurze  und  allgemein 
verständliche  Form  aufzustellen,  und  als  solche  bestehen  für 
den  Buddhismus  die  vier  heiligen  Wahrheiten,  für  das 
Christentum  die  drei  Artikel  des  christlichen  Glaubens 
vmd  für  den  Mohammedanismus  die  fünf  Pfeiler  farkw^J  des 
Islam.  Diese,  auf  welchen  wie  auf  Grundpfeilern  das  ganze 
Gebäude  der  islamischen  Religion  ruht,  sind:  1,  die  beiden 
Grunddogmen,  2.  das  Gebet,  3.  das  Almosengeben,  4.  das 
Fasten  und  5.  die  Pilgerfahrt  nach  Mekka. 

1.  Die  beiden  Grunddogmen  lauten:  „es  gibt  keinen 
Gott  aufser  Allah,  und  Mohammed  ist  sein  Prophet".  (^Lä 
iluha  iUü  IJäh^  tva-Muliammadun  tushJu  'llah.J  Im  Gegensatze 
zum  Christentum,  dessen  durch  indogermanische  Einflüsse  be- 
fruchtete Erlösungslehre  dem  im  Realismus  befangenen  Geiste 
der  Semiten  nicht  zusagte,  läfst  sich  der  Islam  auffassen  als 
eine  Reaktion  und  Rückwendung  zu  dem  alttestamentlichen, 
starren  und  konsequenten  Monotheismus.  Sein  Gott  Älläh 
(der  Name  ist  schon  vorislamisch)  ist  allwissend  und  all- 
mächtig, dabei  stark  anthropomorphisch  aufgefafst,  einerseits 
als  barmherzig,  andererseits  als  zornmütig,  rachsüchtig,  grau- 
sam und  listig.  Er  erbarmt  sich  wessen  er  will,  und  ver- 
härtet wen  er  will;  er  hat,  wenigstens  nach  einigen  Koran- 
stellen, denen  andere  widersprechen,  alles  prädestiniert,  und 
dem  Menschen  bleibt  nichts  übrig,  als  demütig  sich  dem 
Willen  Gottes  zu  fügen;  das  Wort  Islam  bedeutet  „Ergebung 
in  Gott".  Als  seine  Organe  hat  Allah  gute  und  böse  Geister 
(BscliinvJ,  Engel  und  Teufel,  der  oberste  der  letztern  ist  der. 
Satan,  Ihl'is  (d.  i.  SiaßoAoc)  genannt.  Aus  der  jüdischen  und 
christlichen  Tradition  nahm  Mqhammed  die  Lehre  von  der 
Auferstehung  und  dem  jüngsten  Gericht  in  krassester  sinn- 
licher Form  herüber,  und  der  Koran  schwelgt  an  vielen  Stellen 


1.   Gescliichtliclier  rborblick.  397 

in  der  Schilderung  der  schrecklichen  Höllenqualen,  welche  den 
Bösen,  d.  h.  den  Ungläubigen,  bevorstehen,  und  der  unaus- 
sprechlichen Herrlichkeit  des  Paradieses  mit  seinen  blühenden 
Gärten,  frischen  Wassern,  seinem  Weine,  der  nicht  berauscht, 
seinen  schönen  schwarzäugigen  Mädchen,  welches  alles  den 
Gläubigen  erwartet,  vor  allen  den,  welcher  im  Kampfe  für 
Allah  und  seinen  Propheten  gefallen  ist.  —  Während  jede  tiefere 
Religionsauffassung  in  der  einen  oder  andern  Form  auf  Über- 
windung des  als  Naturprinzip  uns  innewohnenden  Egoismus 
hinarbeitet,  so  macht  der  Islam  gerade  diesen  Egoismus 
zur  Triebfeder  des  ethischen  Verhaltens;  er  kann  daher  mit 
Brahmanismus,  Buddhismus  und  Christentum  keinen  Vergleich 
aushalten  und  ist  unter  den  vier  w^eltbeherrschenden  Religionen 
weitaus  die  schlechteste.  —  Um  seinen  Willen  den  Alenschen 
zu  ofienbaren,  hat  Allah  ihnen  Propheten  gesandt;  solche  sind 
Adam,  Noah,  Abraham,  Moses  und  Jesus,  aber  der  letzte  und 
höchste  Prophet  ist  Mohammed;  er  und  seine  Nachfolger,  die 
Chalifen,  sind  die  geistlichen  und  zugleich  weltlichen  Be- 
herrscher und  sind  berufen,  die  ganze  Menschheit,  wenn  es 
nicht  anders  geht,  mit  Feuer  und  Schwert  zum  Islam  zu  be- 
kehren. 

2.  Das  Gebet  fsaläfj.  Fünfmal  täglich  fordert  der  Ge- 
betsrufer von  dem  hohen  Altan  des  Minaret  aus  die  Gläu- 
bigen zum  Gebete  auf.  Dann  kann  man  sehen,  wie  die  Muslims, 
wo  sie  sich  immer  befinden  mögen,  auf  der  Strafse,  im  Laden 
oder  Bureau,  auf  dem  Schiffe,  ihren  Teppich  ausbreiten,  auf 
demselben  niederknien  und,  das  Gesicht  nach  Mekka  gerichtet, 
die  vorgeschriebenen  Gebetsformeln  abmurmeln. 

3.  Das  Almosengeben  {zaMtJ  besteht  in  einem  von 
Staats  wegen  auferlegten  Zehnten,  ursprünglich  zum  Besten 
der  Armen. 

4.  Das    Fasten    (sijämj    im    Monat    Ramadan    besteht 
darin,  dafs  man  sich,  jedoch  nur  tagsüber,  solange  die  Sonne 
am  Himmel  steht,  der  Nahrung  und  des  Geschlechtsgenusses  ■ 
enthalten  soll.     Der  Fastenbruch   tritt  ein,   sobald   der  neue 
Mond  wirklich  gesehen  ist. 

5.  Die  Pilgerfahrt  nach  Mekka  fhaddschj  war  eine 
Pflicht,  für  welche,  bei  der  Schwierigkeit  der  Ausführung  für 


398  ^^'-   P'6  Philosophie  der  Araber. 

entfernt  Wohnende,  ein  Ersatzmann  gestellt  ödes-  die  Kosten 
für  einen  solchen  an  die  Armen  gegeben  werden  konnten. 
Jeder  Muslim  sollte  wenigstens  einmal  in  seinem  Leben  die 
Ka'ba  in  Mekka  besucht  haben;  auf  der  Pilgerfahrt  zu  sterben, 
ist  das  Beste,  was  dem  Menschen  zuteil  werden  kann. 

Charakteristisch  für  den  ür-Islam  ist  die  völlige  Einheit 
von  Kirche  und  Staat.  Mohammed  vereinigte  in  seiner  Person 
die  geistliche  und  die  weltliche  Herrschaft;  er  erstrebte  für 
das  in  einzelne  Stammverbände  zersplitterte  Arabien  die  Ein- 
heit des  (jrlaubens  und  zugleich  die  Einheit  der  Nation, 
allerdings  schwebte  ihm  das  religiöse  Ziel  als  eigentlicher 
Zweck  vor,  während  ihnl  die  nationale  Einigung  als  das  Mittel 
dazu  erschien.  Seine  Nachfolger  nennen  sich  Chalifen,  d.  h, 
„Stellvertreter"  des  Propheten.  In  der  alten  Zeit  waren  sie, 
wie  er  selbst,  das  religiöse  wie  das  politische  Oberhaupt  der 
weiten,  von  ihnen  eroberten  Länder. 

Da  Mohammed  keine  männlichen  Nachkommen  hinterliefs, 
auch  keinen  Nachfolger  bestimmt  hatte,  so  gelangte  zunächst 
sein  Schwiegervater  Abu  Bekr  (632  —  634),  der  Vater  der 
"Aischa,  zur  Regierung,  behauptete  sich  mit  Glück  gegen  die 
in  Arabien  ausgebrochenen  Aufstände  und  war  eben  im  Be- 
grifi',  seine  Heere  gegen  Syrien  zu  senden,  als  er  schon  nach 
zweijähriger  Regierung  starb.  Ihm  folgte  'Omar  (634 — 644), 
gleichfalls  ein  Schwiegervater  des  Propheten,  tatkräftig,  streng 
und  von  einfacher,  patriarchalischer  Lebensweise,  welcher, 
während  er  selbst  in  Medina  am  Grabe  des  Propheten  weilte, 
das  Chalifenreich  nicht  nur  innerlich  organisierte,  sondern  auch 
nach  aufsen  über  weite  Länder  ausdehnte,  indem  seinen  sieg- 
reichen Feldherren,  Chalid  (dem  „Schwerte  Gottes"),  Sa'd 
und  'Amr,  636  Persien,  638  Syrien  und  642  Ägypten  leichter 
Hand,  vergleichbar  überreifen  und  schon  am  Baume  faulenden 
Früchten,  zur  Beute  fielen.  Na;Ch  seiner  Ermordung  folgte 
der  schwache  und  von  seinen  Verwahdten  beherrschte  'Oth- 
*man  (644 — 656),  ein  Schwiegersohn  des  Propheten,  und  nach- 
dem dieser  von  der  Partei  der  Eiferer  gestürzt  und  ermordet 
war,  wurde  in  Medina  dem  Ali  (656  —  661),  dem  Neffen  des 
Propheten  und  Gemahl  seiner  Lieblingstochter  Fatima,  ge- 
huldigt.    Gegen  ihn  empörte  sich  Mu'awija,  der  Statthalter 


1.   (iescliiihtlicher  f'berblick.  399 

von  Syrien,  ein  Urenkel  des  Omaija,  eines  Verwandten  des 
Propheten,  und  gründete,  die  Residenz  nach  Damaskus  ver- 
legend, die  Dynastie  der  ümai jaden  (661—750),  unter 
welchen  das  Chalifenreich  nach  der  Eroberung  von  Karthago- 
(607)  über  das  ganze  nördliche  Afrika  und  nach  dem  Siege 
am  Wadi  Bekka  (711)  fast  über  das  ganze  Spanien  sich  aus- 
dehnte, bis  Karl  Martell  durch  den  Sieg  bei  Tours  und  Poitiers 
732  seinem  weitern  Vordringen  nach  Norden  eine  Grenze  setzte. 
Die  wegen  ihrer  weltlichen  Tendenzen  den  Strenggläubigen 
verhafste  Dynastie  der  Omaijaden  wurde  nach  der  blutigen 
Schlacht  am  Flusse  Zab,  einem  Nebenflufs  des  Tigris  (749),  ge- 
stürzt, und  das  Chalifat  ging  auf  die  von  'Abbas,  einem  Oheim 
des  Propheten,  sich  herleitende  Dynastie  der'Abbasiden 
(750 — 1258)  über,  welche  763  Bagdad  zu  ihrer  Residenz  aus- 
bauten, und  in  deren  Periode  unter  Herrschern  wie  Härün 
al-Raschid  (786—809)  uijd  seinen  Nachfolgern  die  moham- 
medanische Kultur  in  Kunst  und  Wissenschaft  emporblühte. 
Im  weitern  Verlauf  aber  verfiel  die  weltliche  Macht  der  'abba- 
sidischen  Herrscher,  die  Statthalter  der  einzelnen  Provinzen 
machten  sich  selbständig,  urfd  1258  wurde  Bagdad  durch 
einen  Enkel  des  Mongolen  Dschengis-Chan  erobert  und  da- 
durch der  Dynastie  der  'Abbasiden  nach  fünfhundertjährigem 
Bestehen  ein  Ende  bereitet. 

Schon  längst  war  infolge  der  Erschlaffung  der  Zentral- 
gewalt in  Bagdad  und  der  Bestrebungen  der  Statthalter  in 
den  einzelnen  Provinzen,  sich  unabhängig  zu  machen,  das 
grofse  Chalifenreich  in  eine  Anzahl  selbständiger  Herrschaften 
zerfallen;  schon  der  jüngste  Sohn  Härün  al-Raschids  gründete 
eine  als  Leibgarde  dienende  türkische  Truppe;  allmählich  be- 
ginnen diese  Söldner  eine  politische  Rolle  zu  spielen;  ihnen 
folgen  türkische  Horden,  unter  ihnen  namentlich  die  nach 
ihrem  Führer  Seldschuk  (um  das  Jahr  1000)  sich  nennenden 
türkischen  Seldschuken.  Ein  Zweig,  derselben,  die  Os- 
manen,  der  im  westlichen  Kleinasien  (in  Eskischehir,  dem 
alten  Dorylaeum)  festen  Fufs  gefafst  hatte,  bedrohte  mit  Hilfe 
der  von  ihnen  gebildeten  und  w^ohlorganisierten  Streitmacht 
der  Janitscharen  das  immer  mehr  eingeengte,  schliefslich  nur 
noch    auf  Konstantinopel    und    seine  Umgebung  beschränkte 


400  ^^  •   Diß  Philosophie  der  Araber. 

Byzantinische  Reich,  bis  auch  dieses  nach  fünfzigtägigem^ 
hartnäckigem  Kampfe  am  29,  Mai  1453  erstürmt  und  dadurch 
dem  Oströmischen  Reiche  ein  Ende  gemacht  wurde.  Bald 
darauf  wurden  auch  die  Inseln  des  Ageischen  Meeres  und  das 
griechische  Festland  von  den  Türken  erobert. 

Der  umgekehrte  Prozefs  spielte  sich  in  Spanien  ab,  welches 
unter  der  Herrschaft  der  Omaijaden  zu  grofser  Blüte  gelangt 
war,  während  sich  im  Norden,  in  Asturien,  Leon  und  Navarra, 
kleine  christliche  Reiche  bildeten.  Diesen  gelang  es  unter 
fortwährenden  Kämpfen,  in  welchen  die  von  der  Sage  ver- 
herrlichte Gestalt  des  von  den  Arabern  Cid  (d.  i.  Saijid,  „Herr") 
genannten  Don  Rodrigo  ("f  1099  zu  Valencia,  sein  Grab  in 
Burgos)  hervorragt,  1236  Cordoba,  1248  Sevilla  zu  erobern 
und  dem  letzten  noch  bestehenden  Chalifat  zu  Granada  1492 
ein  Ende  zu  bereiten,  worauf  sich  sein  letzter  König  Abu 
'Abdallah  nach  Afrika  zurückzog. 

2.  Die  Philosophie  der  Araber  im  Osten. 

Indem  der  Islam  so  viele  Länder  von  alter  und  hoher 
Zivilisation  überflutete,  konnte'  er  sich,  ungeachtet  der  bru- 
talen Selbstgenügsamkeit,  mit  der  er  sich  überall  einführte, 
doch  dem  Einflüsse  ihrer  überlegenen  Kultur  nicht  entziehen, 
und  wenn  er  auch  nicht  in  dem  Mafse  wie  Jahrtausende  vor- 
her die  Babylonier  von  den  überwundenen  Sumerern  (oben, 
Phil.  d.  Bibel,  S.  37  fg.)  oder  wie  Jahrhunderte  vorher  die 
Römer  von  den  besiegten  Griechen  (oben,  Phil.  d.  Griechen, 
S.  5)  in  geistige  Abhängigkeit  von  den  durch  sie  eroberten 
Ländern  geriet,  so  war  es  doch  zu  erwarten  und  sehr  be- 
greiflich, dafs  die  dem  Byzantinischen  Reiche  entrissenen, 
von  althellenischer  Bildung  durchtränkten  Länder,  namentlich 
Syrien  und  Ägypten,  auf  die  bessern  Elemente  des  Moham- 
medanismus und,  nachdem  der  erste  Fanatismus  verraucht 
war,  in  den  verschiedenen  Zweigen  der  griechischen  Wissen- 
schaft eine  mächtige  Anziehung  ausübten. 

Zunächst  war  es  die  Wertschätzung  der  griechischen 
Naturwissenschaft,  namentlich  der  Medizin,  durch  welche  be- 
stimmt christliche  Nestorianer  und  Monophysiten  in  Syrien 
die  naturwissenschaftlichen  und  weiterhin  auch  die  eigentlich 


2.    Die  Philosophie  dor  Araber  im  Osten.  4()1 

philosophischen  Schriften  des  Aristoteles  und  anderer  aus  dem 
Griechischen  ins  Syrische  und  aus  diesem  ins  Arabische, 
später  auch  direkt  aus  dem  Griechischen  ins  Arabische  über- 
setzten. 

Diesen  griechischen  Einflüssen  kam  das  schon  vorher  bei 
den  bessern  Elementen  des  Islam  bestehende  Verlangen  nach 
wissenschaftlicher  Begründung  der  islamischen  Theologie  ent- 
gegen.     Schon    früh    war    im    Islam,  eine    Richtung    hervor- 
getreten, welche  sich  des  kaläm  (Diskussion),  d.  h.  der  wissen- 
schaftlichen  Bearbeitung   der   islamischen  Dogmen,    beflissen 
hatte.    Ihre  Anhänger  hiefsen  Mittaliallimiin  (Besprecher,  For- 
scher), aus  deren  Kreisen  die  strengere  Richtung  der  MiCta- 
nla,  der  „sich  Absondernden",  hervorging,    ursprünglich  so 
benannt,  weil  sie  sich  vom  Weltleben  einer  asketischen  Lebens- 
führung zuwandten,  während  man  später,  als  rationalistische 
Elemente  in  dieser  Richtung  sich  immer  mehr  geltend  zu  machen 
anfingen,  den  Namen  Mutaziliten  so  deutete,  dafs  er  „Se- 
paratisten" oder  „Häretiker"  bezeichnete.     Ihnen   traten  dann 
weiter  die  nach  al-Asch^ari  (873 — 935)  sich  nennenden  Ascha- 
riten  entgegen,  welche  zum  orthodoxen  Dogma  der  islamischen 
Kirche  zurücklenkten   und   sowohl   gegen   die   neuplatonische 
Emanationslehre    als    auch    gegen    die    aristotelischen     An- 
schauungen von  der  Ewigkeit  der  Welt  und  der  Unverbrüch- 
lichkeit  der  Naturgesetze  im  Interesse  ihres   die  Welt  nach 
freiem   Willen   erschaffenden    und    ihre  kausalen   Zusammen- 
hänge willkürlich   durchbrechenden  Allah   scharfe  Opposition 
machten. 

Inzwischen  waren  unter  der  Herrschaft  der  prachtliebenden, 
die  Künste  und  Wissenschaften  befördernden  Chalifen  am  Hofe 
zu  Bagdad,  eines  Harun  al- Raschid  (780  —  809)  und  seiner 
Nachfolger,  namentlich  des  Al-Ma'mün  (813 — 833),  die  neu- 
platonischen und  aristotelischen  Schriften  durch  arabische 
Übersetzungen  immer  tiefer  in  die  Kreise  der  islamischen 
Studien  eingedrungen,  und  es  entwickelte  sich  im  Gegensatze 
zu  jenen  orthodoxen  Strömungen  und  in  vielfacher  Anfeindung 
durch  dieselben  eine  eigentümliche  Nachblüte  der  griechischen 
Philosophie,  bei  welcher,  ähnlich  wie  im  Abendlande,  in  einer 
ersten  Periode  (Al-Kindi,  Al-Färäbi,    die  lautern  Brüder}  der 

Deussex,  Geschiebte  der  Philosophie.     II,  ii,2.  26 


402  "  ^^  •   I'iP  Philosophie  der  Araber. 

Neuplatonismus  und  in  einer  zweiten  (Avicenna,  Al-Ghazel)  der 
Aristotelismus  im  Vordergrunde  der. Bestrebungen  stand,  nur 
dafs  die  Scheidung  keine  so  strenge  wie  bei  den  christlichen 
Scholastikern  war,  indem  bei  den  Arabern  auch  in  jener  ersten 
Periode  Aristoteles  als  „der  Philosoph"  den  Namen  und  das 
Schema  lieferte,  in  welches  eingebettet  die  neuplatonischen 
Anschauungen  erschienen,  wie  denn  namentlich  zwei  neu- 
platonische Schriften,  das  Buch  „de  causis"  und  die  „Theo- 
logie des  Aristoteles"  für  echt  aristotelisch  galten,  während 
auch  in  der  zweiten  Periode  der  durch  die  Augen  eines  Por- 
phyrius  und  Themistius  gesehene  Aristotelismus  sich  nicht 
rein,  sondern  in  vielfacher  Durchtränkung  mit  neuplatonischen 
Elementen  entwickelte.  Wir  wollen  die  Haupterscheinungen 
dieser  eklektischen  Mischphilosophie  in  der  chronologischen 
Reihenfolge  ihres  Auftretens  kurz  überblicken. 

Al-Kindi,  so  benannt  nach  dem  vornehmen  Adels- 
geschlecht, dem  er  entstammt  war,  und  gefeiert  als  „der 
Philosoph  der  Araber",  wurde  geboren  zu  Basra  gegen  800  p.  C. 
und  lehrte  zu  Bagdad  die  Mathematik,  welche  er  für  die  Grund- 
lage aller  Wissenschaft  erklärte,  dazu  Astronomie  mit  Ein- 
schlufs  der  Astrologie,  Medizin  und  Philosophie.  Von  seinen 
philosophischen  Schriften  hat  sich  nur  wenig  erhalten,  aber 
seine  Grundanschauung  von  einer  durchgängigen  Wechsel- 
wirkung und  Harmonie  aller  Verhältnisse  des  Weltalls  im 
Gröfsten  wie  im  Kleinsten,  vermöge  deren  jedes  einzelne  Ding, 
vollständig  durchschaut,  ein  Spiegel  des  ganzen  Universums 
sein  würde,  läfst  keinen  Zweifel  darüber,  dafs  er  wesentlich 
unter  dem  Einflüsse  des  Neuplatonismus  steht. 

Noch  nicht  auf  Al-Kindi,  wohl  aber  auf  die  nach  ihm  zu 
besprechenden  islamischen  Philosophen,  Al-Färabi,  die  lautern 
Brüder  und  Al-Ghazel,  ist  neben  dem  Neuplatonismus  noch 
eine  andere  Form  des  Mystizismus  von  Einflufs  gewesen, 
welche  unter  dem  Namen  des  Süfismus  in  der  mohamme- 
danischen Welt  eine  weite  Verbreitung  und  in  den  verschie- 
denen Orden  der  Derwische  ihren  äufsern  Ausdruck  und  eine 
gewisse  Organisation  gefunden  hat.  Es  liegt  im  Begriffe  der 
Gottheit,  welche  Vorstellung  man  auch  übrigens  von  ihr  haben 
mag,   dafs   der  edler  und   tiefer   angelegte   Mensch  ein   Ver- 


'2.   Die  riiilosopliic  Jcr  Aralior  im  Osten.  40,'> 

langen  empfindet,  sich  in  Gedanken  mit  ihr  zu  beschäftigen 
und  so  zu  einer  immer  innigem  Gemeinschaft,  ja  schliefslich 
zur  völligen  Einswerdung  mit  ihr  zu  gelangen.  Derartige 
Bestrebungen  mögen  auch  im  Islam  schon  früh  hervorgetreten 
sein  und  einen  äufsern  Ausdruck  darin  gefunden  haben,  dafs 
diejenigen,  %velche  nach  einer  solchen  Vergottung  strebten 
und  naturgemäfs  in  dem  Mafse,  in  welchem  dies  geschah, 
sich  von  der  We\i  und  der  Anhänglichkeit  an  sie  lossagten, 
als  Zeichen  ihrer  innern  Freiheit  von  der  Welt  sich  in  ein 
härenes  Gewand  aus  einfacher  Wolle  kleideten  und  daher 
Süfi's,  d.  h.  „Wollträger",  genannt  wurden.  Eine  solche 
Absonderung  von  der  Welt,  zuerst  von  Einzelnen  aus  eigenem 
Herzensdrange  angestrebt,  führte  naturgemäfs  zu  einem  Zu- 
sammenschlufs  der  Gleichgesinnten  und,  um  dem  Spott  der 
Weltkinder  wie  auch  der  Verfolgung  durch  die  Orthodoxie 
zu  entgehen,  zu  einer  Geheimhaltung  ihrer  Verbindung.  Eine 
mächtige  Förderung  konnte  der  Süfismus  von  Westen  her 
durch  den  Neuplatonismus,  von  Osten  her  durch  die  Vedänta- 
philosophie  und  den  Buddhismus  erfahren.  Welcher  dieser 
beiden  Einflüsse,  ob  der  griechische  oder  der  indische,  auf 
die  Entwicklung  des  Süfitums  am  meisten  eingewirkt  hat, 
ist  bei  der  innern  Verwandtschaft  der  griechischen  und  indi- 
schen Mystik  zurzeit  noch  nicht  sicher  zu  bestimmen.  Da 
aber  manches  darauf  hinweist,  den  Ursprung  des  Süfismus 
in  Turkestan  und  an  den  westlichen  Abhängen  des  Hindu- 
kusch zu  suchen,  so  dürfte  der  indische  Einflufs  der  über- 
wiegende, vielleicht  der  allein  mafsgebende  gewesen  sein. 
Hierfür  spricht  schon  zunächst  das  Gewicht,  welches  im  Süfis- 
mus ebenso  wie  im  Vedänta  auf  das  Erlangen  eines  geeigneten 
Lehrers  gelegt  wird,  ferner  auch,  dafs  die  angestrebte  Eins- 
werdung ftauhkJJ  mit  Gott,  welcher  mit  Vorliebe  nicht  als 
Allah,  sondern  als  ÄlIjaM,  „die  Wahrheit,  die  Realität",  ent- 
sprechend dem  indischen  satyam,  bezeichnet  wird,  wie  in  In- 
dien auf  dem  Wege  der  Erkenntnis  und,  wie  ebendort  seit 
den  Zeiten  der  Bhagavadgita,  auf  dem  der  liebenden  Hingabe 
erreicht  wird.  Zu  diesem  Ziele  führt  eine  stufenweise  Be- 
freiung von  den  Fesseln  der  Welt,  als  welche  Besitz,  Ehre, 
teilweise  wohl  auch  Familie  gelten.     Der  asketische  Verzicht 

26* 


404  ^^-    Di^  Philosophie  der  Araber. 

auf  diese  irdischen  Güter  bewirkt  eine  innere  Erleuchtung, 
durch  welche  man  schliefslich  zum  FancV,  dem  Entschwinden 
oder  Entwerden  (vergleichbar  dem  brahmanischen  brahma- 
inrvänam,  dem  buddhistischen  uirvanam)  gelangt,  bestehend 
in  einer  Befreiung  von  der  Aufsenwelt,  von  der  eigenen  Indi- 
vidualität und  schliefslich  von  dem  Bewufstsein  dieser  Be- 
freiung selbst.  —  Seit  dem  Jahre  800  gewann  der  Süfismus 
vom  Osten  der  islamischen  Welt  aus  immer  gröfsere  Aus- 
breitung nach  Westen  zu;  wir  finden  ihn  in  Bagdad,  sodann 
in  Syrien  und  Ägypten,  und  von  hier  aus  gelangte  er  seit 
900  p.  C.  über  Afrika  schliefslich  nach  Spanien,  wo  der  um 
1165  zu  Murcia  im  südöstlichen  Spanien  geborene  Ibn  'Arabi 
als  einer  der  gröfsten  Mystiker  gefeiert  wird.  Zu  einer  äufsern 
Organisation  und  zum  Teile  Degeneration  gelangte  der  Süfis- 
mus in  den  zahlreichen  Orden  der  Derwische.  Wie  tief  seine 
Mystik  auch  auf  Dichter  wie  Dscheläl  eddin  Rümi  (ge- 
boren 1207  zu  Balch)  und  Hafis  (geboren  gegen  1300  zu 
Schiraz)  eingewirkt  hat,  ist  bekannt. 

Al-Färäbi  wurde  geboren  kurz  vor  900,  studierte  und 
lehrte  in  Bagdad,  später  in  Aleppo  und  Damaskus,  wo  er  950 
starb.  Er  gilt  neben  Al-Kindi  als  ,,der  zweite  Philosoph". 
Ursprünglich  stand  er  unter  dem  Einfiufs  des  Süfismus, 
später  hat  er  die  von  diesem  gelehrte  Gott  werdung  als  un- 
erreichbar aufgegeben  und  sich  mit  einer  platonisch -plotini- 
schen  Gottverähnlichung  begnügt.  Die  schon  unter  Al-Kindi's 
Mitwirkung  ins  Arabische  übersetzte  „Theologie  des  Aristo- 
teles" (in  W^ahrheit  aus  einigen  der  schönsten  Kapiteln  des 
Plotin  bestehend)  hält  auch  Al-Färäbi  für  echt  aristotelisch, 
und  dementsprechend  ist  sein  ganzes  System,  wenn  man  es 
so  nennen  darf,  ein  seltsames  Gemisch  aristotelischer  und 
neuplatonischer  Gedanken.  In  der  Logik  hält  er  sich  an 
Aristoteles;  sie  ist  als  logica  docens  eine  selbständig  für  sich 
bestehende  Disziplin,  während  sie  für  den  vtefis  logiciis  das 
grofse  Instrument  ist  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit.  Die  Uni- 
versalia  bestehen  nur  in  den  Dingen,  nicht  aufser  ihnen,  von 
hahcnt  esse  separatum;  insofern  wird  das  Allgemeine  in  dem 
Einzelnen  durch  die  Sinnes  Wahrnehmung  perzipiert,  während 
andererseits  das  Einzelne  seiner  Form  nach  schon  im  Intellekt 


2.   Die  Philosophie  der  Araber  im  Osten.  405 


» 


vorhanden  ist.  Der  von  Aristoteles  gelehrten,  mit  dem  Dogma 
des  Islam  unverträglichen  Ewigkeit  der  Welt  weicht  Al-Färäbi 
aus  und  setzt  an  ihre  Stelle  eine  neuplatonische  Emanation, 
gedacht  als  einen  zeitlichen  Prozefs.  Für  das  Dasein  Gottes 
führt  er  den  kosmologischen  Beweis  im  Anschlufs  an  Aristo- 
teles. Damit  das  Potentielle  zum  Aktuellen  werden  konnte, 
war  ein  vorher  vorhandenes  Aktuelles  erforderlich,  und  dieses 
ist  Gott;  er  ist  wie  bei  Aristoteles  reines  Denken,  sowie  Denk- 
objekt und  Denksubjekt,  intelligcniia,  intelligihile  und  intelligens. 
Obgleich  Al-Färäbi  somit  den  Intellekt  schon  in  das  Urw^esen 
verlegt,  läfst  er  doch  in  neuplatonischer  Weise  aus  diesem 
Urwesen  das  Intellektuelle,  aus  diesem  das  Psychische,  aus 
diesem  die  Körperwelt  emanieren.  Da  alles  aus  Gott  stammt, 
welcher  der  Gute  ist,  so  ist  auch  alles  gut.  Der  Körperwelt 
gehört  auch  noch  der  intdledns  passivus  an ;  er  wird  zum 
activus  durch  Einstrahlung  des  von  aufsen  •  kommenden  in- 
idh'ctus  activus,  welcher  somit  acqvisitns  [l-oi-T-oi,  wie 
Alexander  Aphrodisiensis  lehrt)  und  seinem  Wesen  nach  im- 
materiell und  unsterblich  ist.  Diese  neuplatonische  Emana- 
tionslehre verbindet  Al-Färäbi  mit  einer  an  Aristoteles  an- 
knüpfenden physischen  Emanation  von  zehn  kosmischen 
Sphärengeistern  aus  Gott,  die  mit  den  Engeln  des  Islam  gleich- 
gesetzt werden.  Die  äufserste  Sphäre  ist  die  erste  Emanation 
und  daher  die  vollkommenste,  der  zehnte,  unterste  Sphären- 
geist ist  der  Träger  des"  intcllectus  activus,  welcher  aus  ihm 
in  die  Dinge  hineinstrahlt. 

Neben  dem  Aristotelismus,  Neuplatonismus  und  Süfismus 
macht  sich  als  viertes  Moment  besonders  der  Neupythagoreis- 
mus  mit  seinen  Zahlenspielereien  geltend  bei  der  Brüderschaft 
der  Lautern,  gewöhnlich  die  lautern  Brüder  (ichtvän  el- 
safäj  genannt,  einer  um  950  in  Basra  gegründeten  gelehrten 
Gesellschaft  mit  politischen  Hinterabsichten  und  dem  aus- 
gesprochenen Zwecke,  die  Philosophie  mit  dem  Glauben  zu 
versöhnen,  welche  trotz  ihrer  Anfeindung  durch  die  islamische 
Orthodoxie  und,  obgleich  ihre  Schriften  zu  Bagdad  1160  öffent- 
lich verbrannt  wurden,  doch  mit  ihrer  von  den  gelehrten 
Aristotelikern  gering  geschätzten  Popularphilosophie  in  der 
islamischen  Welt  srofse  Verbreitung  fanden.    Aus  ihrem  Kreise 


406  ^^-   I^iß  rbilosopliie  der  Araber. 

ging  eine  noch  heute  vorhandene  Enzyklopädie  in  51  Ab- 
schnitten hervor,  welche  unter  den  vier  Gruppen  der  Propä- 
deutik und  Logik,  der  Physik  und  Anthropologie,  der  Psycho- 
logie und  der  Theologie  die  Gesamtheit  des  damaligen  Wissens 
zusammenfafste.  Die  vom  Islam  gelehrte  Weltschöpfung  und 
andere  grobsinnliche  Anschauungen  des  Koran  werden  für 
Allegorien  erklärt,  und  an  ihre  Stelle  setzen  die  lautern 
Brüder  eine  neuplatonische  Emanationslehre  nach  neupytha- 
goreischem Schema,  indem  sie,  den  neun  Grundzahlen  ent- 
sprechend, neun  Stufen  der  Emanation  aufstellen.  Aus  Gott, 
Allah,  dem  unerkennbaren  Einen,  emanieren  als  Zweites  der 
die  Ideen  in  sich  befassende  kosmische  Intellekt  (vcu;),  als 
Drittes  die  Allseele  ('i'ux.''l)'  ^^^  Viertes  eine  Art  materia  prima, 
die  Ideen  als  räumliche,  aber  noch  stofflose  Formen  enthaltend, 
als  Fünftes  die  materia  sccnuda  {hvj~i^%  'jayJ,  die  mit  dem 
Stoff  erfüllten  Formen,  aber  noch  ohne  Harmonie  und  Schön- 
heit, als  Sechstes  der  xccixor,  die  kugelförmige,  in  einzelne 
Sphären  gegliederte  translunare  Welt,  als  Siebentes  die  als 
Naturkraft  in  dem  sublunaren  Gebiete  wirkende  Weltseele, 
als  Achtes  die  von  der  Weltseele  durchdrungenen  vier  Ele- 
mente, als  Neuntes  die  Stufenreihe  der  Minerale,  Pflanzen 
und  Tiere  bis  hinauf  zum  Menschen.  —  Das  menschliche 
Leben  steht  unter  dem  Einflufs  der  sieben  Planeten,  welche 
das  Schicksal  nicht  nur  voraussagen,  sondern  auch  bewirken. 
Gute  Sterne  sind  Venus,  Jupiter  und  Sonne,  böse  Mars,  Sa- 
turn und  Mond,  gemischt  aus  beidem  ist  Merkur,  der  Stern 
der  Bildung  und  der  Wissenschaft,  welche  als  solche  sich  auf 
Gutes  und  Böses  erstreckt.  In  anderer  Hinsicht  stehen  die 
sieben  Lebensstadien  der  Reihe  nach  unter  dem  Einflufs  der 
sieben  Planeten;  der  Mond  beherrscht  das  körperliche  Wachs- 
tum, Merkur  die  Ausbildung  des  Geistes,  Venus  das  Liebes- 
leben, die  Sonne  gewährt  Herrschaft,  Reichtum,  Familie,  Mars 
Tapferkeit  und  Edelmut,  Jupiter  leitet  die  religiöse  Vorberei- 
tung auf  das  Jenseits  und  Saturn  führt  in  das  Jenseits  hin- 
über. Bricht  das  Leben  vor  der  Zeit  ab,  so  kann  Belehrung 
durch  die  Propheten  diese  Einflüsse  ersetzen.  An  die  indischen 
ÄQramas  wie  an  die  platonischen  Erziehungsstadien  erinnert 
die  Art,  wie  das  menschliche  Leben  in  vier  Stufen  verlaufen 


2.    Die  l'liilosophie  der  Araber  im  Osten.  407 

soll:  die  erste,  vom  15.  bis  30.  Jahre,  soll  der  allgemeinen 
Bildung  gewidmet  sein,  die  zweite,  vom  oO.  bis  40.,  der 
Philosophie,  die  dritte,  vom.  40.  bis  50.,  der  prophetischen 
Ausbildung,  und  in  der  vierten,  vom  öO.  Jahre  ab,  ist  der  so 
Gebildete  über  Natur,  Belehrung  und  Gesetz  erhaben.  Der 
Mensch  ist  ein  Mikrokosmos,  seine  Seele  ein  Ausflufs  aus  der 
Weltseele;  die  Tugend  besteht  in  der  Liebe  zu  Gott  und  zu 
den  Menschen,  die  Askese  dient  zur  Befreiung  von  dem  Körper 
und  seinen  Mängeln,  die  Höllenstrafen  werden  auf  die  Leiden 
des  Lebens  gedeutet;  das  Ziel  ist,  wäe  im  Süfismus,  die  Rück- 
kehr der  Seele  in  Gott.  Der  Tod  ist  die  Geburt  der  Seele, 
die  Auferstehung  am  jüngsten  Tage  das  Eingehen  der  Einzel- 
seele in  die  Allseele  und  durch  sie  in  Gott. 

Avicenna  film  ShiaJ  wurde  geboren  080  unweit  Bochara 
in  Turkestan.  Schon  in  seiner  Jugend  zeichnete  er  sich  als 
Arzt  durch  glückliche  Heilungen  aus  und  als  Philosoph  durch 
Abfassung  einer  philosophischen  Enzyklopädie.  Sein  viel- 
bewegtes Leben  führte  ihn  zu  verschiedenen  staatlichen  Stel- 
lungen an  kleinen  Fürstenhöfen,  während  er  daneben  als  Lehrer 
der  Philosophie  und  Medizin  wirkte.  Eine  Zeitlang  war  er 
Wesir  des  Fürsten  von  Hamadan  (Ekbatana),  trat  dann  in 
Dienste  des  Fürsten  von  Ispahan  und  kehrte,  nachdem  durch 
diesen  Hamadan  erobert  w^ar,  dorthin  zurück,  wo  er  schon 
1037  starb,  und  wo  noch  heute  sein  Grab  gezeigt  wird.  So 
sehr  auch  er  im  übrigen  in  den  aus  Neuplatonismus  und 
Aristotelismus  gemischten  Traditionen  seiner  Zeit  befangen 
war,  widersprach  er  doch  der  neuplatonischen  Lehre  einer 
Emanation  auch  der  Materie  aus  Gott,  lehrte  im  Gegensatz 
dazu  mit  Aristoteles  die  Ewigkeit  von  Zeit,  Materie  und  Be- 
wegung, und  dieser  eine  Schritt  ist  entscheidend  genug,  um 
ihn  als  den  Hauptvertreter  des  reinem  Aristotelismus  im  Osten 
der  islamischen  Welt  zu  bezeichnen.  Die  Folge  war  eine 
scharfe  Scheidung  der  Materie  als  der  blofsen  Potentialität 
von  der  von  Gott  herrührenden  Aktualität  des  Geistes;  —  Aus 
Gott  emaniert  in  neuplatonischer  Weise  die  intelligentia  x^rima. 
der  vcü;:  des  Plotin,  w^elcher  sich  durch  eine  Reihe  sphärischer 
Geister  bis  herab  zur  menschlichen  Seele  fortjjflanzt ,  welche 
im    Vorderhirn    die    Sinneswahrnehmung,    im    Mittelhirn    die 


408  ^^  •    I*i^  Philosophie  der  Araber. 

Apperzeption,  im  Hinterhirn  das  Gedächtnis  bewirkt,  während 
der  götthche  aktive  Intellekt  ihr  entweder  durch  Belehrung 
oder  auch  durch  Erleuchtung  von  oben  zuteil  wird.  Zwar 
wird  nach  dem  Schema  der  Kausalität  Gott  als  die  schaffende 
und  erhaltende  Ursache  von  allem,  dem  Geistigen,  Seelischen 
und  auch  der  Materie,  festgehalten,  aber  diese  Lehre  mit  dem 
Satze  von  der  Ewigkeit  der  Materie  dadurch  in  Einklang  ge- 
bracht, dafs  die  Kausalität  zur  Identität  umgedeutet  wird,  in- 
dem die  Welt  als  Wirkung  mit  Gott  als  Ursache  gleichzeitig 
sein  und  die  Kausalität  nur  eine  innere  Abhängigkeit  alles 
andern  von  Gott  bedeuten  soll.  In  betreff  der  Universalia  lehrt 
mit  vielen  andern  auch  Avicenna,  dafs  sie  dreifach  bestehen, 
iivte  res  als  Ideen  im  Geiste  Gottes,  in  rebus,  sofern  sie  in 
den  Dingen  verwirklicht  sind,  und  post  res,  sofern  der  mensch- 
liche Geist  sie  durch  Abstraktion  aus  den  Dingen  gewinnt. 
Die  ursprüngliche  Betätigung  des  Geistes,  seine  inteniio  prima, 
besteht  in  der  Betrachtung  der  Dinge,  in  zweiter  Linie  be- 
schäftigt er  sich  vermöge  der  intcntio  sccunda  mit  den  Gesetzen 
des  eigenen  Denkens,  woraus  die  Logik  hervorgeht,  in  welcher 
Avicenna  sich  an  Aristoteles  anschliefst.  —  Von  seifen  der  Ortho- 
doxie wurde  Avicenna  bekämpft  und  seine  Lehre  verurteilt.  Seine 
philosophische  Enzyklopädie  wurde  1160  zu  Bagdad  zugleich 
mit  der  der  lautern  Brüder  auf  Befehl  des  Chalifen  verbrannt. 
Schon  vor  diesen  gewaltsamen  Exekutionen  waren  die  Be- 
mühungen der  Philosophen  um  eine  rationelle  Weltanschauung 
auch  mit  den  Waffen  der  Wissenschaft  zugunsten  der  theo- 
logischen Orthodoxie  bekämpft  worden.  Der  Mann,  der  im 
fernen  Osten  theologische  Rechtgläubigkeit  mit  philosophi- 
schem Skeptizismus  verband  und  daher  hier  eine  ähnliche 
Stellung  einnahm  wie  Duns  Scotus  in  der  christlichen  Scho- 
lastik, war  Al-Ghazel  fAl-Gliazäli) ,  geboren  zu  Tüs  an  der 
Nordostgrenze  Persiens  1059,  zu  Nischabur  in  Philosophie  und 
Süfismus  gebildet,  1091—95  Professor  in  Bagdad,  dann  seine 
Stellung  aufgebend,  um  auf  Reisen  Syrien,  Jerusalem  kurz 
vor  der  Einnahme  durch  die  Kreuzfahrer,  Alexandria,  Mekka 
und  Medina  zu  besuchen  und  dann  in  seine  Heimatstadt  zurück- 
zukehren, wo  er  als  Süfi  IUI  starb.  Zwei  auch  ins  Lateinische 
(die  erste  schon  vor  1200)  übersetzte  Hauptschriften  von  ihm 


2.   Die  rbildsopliie  der  Arnlier  im  Osten.  409 

sind  vorhanden,  in  der  ersten  stellt  er  die  philosophischen 
Lehren  im  Anschlufs  an  Al-Faräbi  und  Avicenna  zusammen, 
wälirend  er  in  der  zweiten  ihre  Widerlegung  zugunsten  der 
Orthodoxie  unternimmt.  Die  erste  Schrift  „Die  Zielpunkte  der 
Philosophen"  {Maqäfid  al-faläsifaj  gibt  eine  objektive,  offen- 
bar mit  Liebe  verfal'ste  Darstellung  der  philosophischen  Haupt- 
lehren, verfafst,  wie  Alghazel  zur  Beschwichtigung  seines  Ge- 
wissens und  zur  Rechtfertigung  vor  der  Welt  erklärte,  in  der 
Absicht,  dieselben  zu  widerlegen.  Diese  Widerlegung  lieferte 
er  sodann  in  seiner  berühmten  desirudio  phüosophorum  fTahä- 
ftit  al-fcdäsifaj,  in  welcher  er  namentlich  die  drei  Hauptlehren 
von  der  Ewigkeit  der  Welt,  der  Unverbrüchlichkeit  des  Kausal- 
zusammenhanges und  einer  blofs  geistigen  Auferstehung  der 
Seele  mit  den  von  der  Philosophie  selbst  gelieferten  Wafi'en 
bekämpft.  Für  den  weitern  Kreis  der  Gebildeten  schrieb  er 
sein  heute  noch  viel  gelesenes  Werk  „Wiederbelebung  der 
Wissenschaften  der  Religion"  ("J/ijä'  'idfini  al-dinj.  Da  die 
Welt  nach  den  Aristotelikern  räumlich  begrenzt  ist,  so  mufs 
sie  es  auch  zeitlich  sein,  mufs  von  Allah  zu  einer  bestimmten 
Zeit  aus  Nichts  geschafien  worden  sein.  Da  schon  der  mensch- 
liche Wille  frei  ist,  so  mufs  es  um  so  viel  mehr  der  göttliche 
sein,  und  auf  dieser  Freiheit  Gottes  beruht  es,  dafs  er  die 
Kausalitätskette  durch  Wunder  und  Vorsehung  im  einzelnen 
zu  durchbrechen  vermag.  Seine  Allwissenheit  ist  kein  zeit- 
liches Vorherwissen,  bei  welchem  alles  Künftige  schon  fest- 
stehen würde,  sondern  ein  zeitloses,  welches  die  Freiheit  des 
göttlichen  wie  des  menschlichen  Willens  nicht  ausschliefsen 
soll.  Die  Auferstehung  des  Leibes  ist  als  die  ümkleidung  mit 
einem  himmlischen  Leibe  zu  denken.  Nach  den  Philosophen 
will  Gott  die  Welt,  weil  er  sie  als  das  Beste  erkannt  hat; 
nach  Alghazel  erkennt  Gott  die  Welt  als  das  Beste,  weil  und 
nachdem  er  sie  gewollt  hat.  So  verlegt  er,  ähnlich  wie  Duns 
Scotus  im  Abendlande,  den  Schwerpunkt  aus  dem  Erkennen 
in  das  Wollen.  Die  intellektualistische  Konstruktion  der 
Dogmen  durch  die  Philosophen,  auch  wo  sie  gut  gemeint  sei, 
schädige,  wie  er  sagt,  die  Religion;  diese  erleide  gröfsern 
Schaden  durch  den,  der  sie  auf  fremdem  Wege  unterstütze, 
als  durch  den,  welcher  sie  auf  ihrem  eigenen  Wege  angreife. 


410  XV.  .  Die  rhilosopliie  der  Araber. 

3.  Die  Philosophie  der  Araber  im  Westen. 

Nach  dem  Sturz  der  Omaijaden  im  Osten  (750)  war  ein 
Abkömmling  ihrer  Dynastie,  Mu'awija,  nach  Spanien  gelangt 
und  hatte  sich  zum  Emir  von  Andalusien  mit  der  Hauptstadt 
Cordova  gemacht.  Unter  seinen  Nachfolgern,  namentheh  unter 
^Ahd  al-RahmanIII.(912— 961)undal-HakamII.(9()l— 97(i», 
welche  den  Chalifentitel  annahmen,  entwickelte  sich,  wie  ii\i 
Osten  im  9.,  so  in  Spanien  im  10.  Jahrhundert  eine  hohe 
Blüte  islamischer  Kultur,  bis  die  Berber  1013  Cordova  er- 
oberten und  das  spanische  Chalifenreich  in  eine  Anzahl  kleinerer 
Fürstentümer  zertrümmerten,  an  deren  Höfen,  wie  so  oft  in 
der  Weltgeschichte,  erst  nach  dem  Zerfall  der  politischen 
Gröfse  die  geistige  Kultur  zu  ihrem  Höhepunkt  gelangte. 
Schon  vorher  hatte  sich  durch  Studienreisen  nach  dem  Osten 
und  durch  gefeierte,  von  dort  kommende  Lehrer  der  Strom 
östlicher  Weisheit  nach  Spanien  ergossen,  wie  denn  bereits 
al-Hakam  eine  Bibliothek  von  400000  Bänden  angelegt  haben 
soll.  Zunächst  war  es  die  auf  griechischen  Vorbildern  be- 
ruhende Mathematik,  Naturwissenschaft  und  Medizin,  welche 
auch  in  Spanien  ihren  Einzug  hielt;  später  erst  erwachte  auch 
das  Interesse  für  die  Philosophie,  welche  hier  nicht  wie  im 
Orient  bedacht  war,  auf  die  religiösen  Vorstellungen  der  Massen 
reformierend  zu  wirken,  sondern  wesentlich  das  Privilegium 
einzelner  bevorzugter  Geister  bildete,  wie  solche  uns  in  Avem- 
pace,  Abubacer  und  Averro<^'S  im  folgenden  begegnen  werden. 

Avempace  flhii  BäddscJiaJ,  geboren  kurz  vor  1100  zu 
Saragossa  am  Ebro,  wurde  trotz  den  Anfeindungen  der  Menge 
Minister  des  almoravidischen  Statthalters  in  Saragossa,  gin» 
nach  dessen  Eroberung  (1118)  nach  Sevilla,  später  nach  Gra- 
nada und  schliefslich  nach  Fez,  wo  er  schon  1138  starb,  an- 
geblich vergiftet  durch  einen  neidischen  Arzt.  Von  Armut 
und  Vereinsamung  gedrückt,  fühlte  er  sich  all  sein  Leben  lang 
unglücklich.  Neben  Kommentaren  zu  Aristoteles  schrieb  er 
als  Hauptwerk  die  „Leitung  des  Einsamen'^  (Tadlnr  (d-inuta- 
wahhidj^  in  welchem  er,  in  nahem  Anschlufs  an  Al-P'ärabi  und 
unter  Ablehnung  des  volkstümlichen,  durch  Alghazel  vertretenen 
Glaubens,  den  Weg  aufzeigte,  um  von  der  stofflichen,  von  der 


.').   Die  riül(tsoiiliio  der  Araber  im  Westen.  411 

Form  durchdrungenen  Materie  zum  l^sychischen  als  einer 
Mittelstufe  und  von  ihm  zum  reinen,  stofflosen  Geiste  sich  zu 
erheben  und  mit  ihm  eins  zu  werden.  Die  Wahrnehmung  er- 
klärt er  für  trüglich,  über  das  Fortleben  der  Seele  äufsert  er 
sich  zweifelnd,  ewig  ist  nur  der  mit  dem  höchsten  Geiste  sich 
vereinigende  Menschengeist,  dem  der  denkende  Mensch,  von 
der  Menge  sich  isolierend  und  nur  mit  vereinzelten  Weisen 
sich  zusammenschliefsend,  auf  dem  Wege  des  vernunftmäfsigen 
Handelns  und  der  intellektuellen  Bildung  stufenweise  sich  an- 
nähert, um  in  der  völligen  Einswerdung  mit  ihm  die  höchste 
Seligkeit  zu  geniefsen. 

In  nahem  Anschlufs  an  Avempace  entwickelt  und  er- 
w^eitert  dessen  Gedanken  in  der  Form  eines  Romans  sein 
jüngerer  Zeitgenosse  Abu  Bacer  fÄbu  JBekr  Ihn  TofailJ^ 
welcher,  geboren  um  1100  zu  Guadix  (Wadi  Asch),  einem 
Städtchen  Andalusiens,  zuerst  als  Sekretär  in  Granada,  dann 
als  Wesir  des  Abu  Ja'qüb  zu  Fez  in  Marokko  lebte,  wo  er 
1185  starb.  Das  einzige  von  ihm  erhaltene  Werk  ist  ein 
philosophischer  Roman  unter  dem  seltsamen  Titel:  „DerLebende,^ 
Sohn  des  Wachenden"  fljajj  Ihn  JaqdhavJ,  lateinisch  übersetzt 
unter  dem  Titel  Fliilosoplnis  mdodidadiis.  Auf  einer  menschen- 
bewohnten Insel  leben  zwei  Philosophen,  Salaman,  welcher 
durch  Anbequemung  an  die  Volksreligion  Herrschaft  über  das 
Volk  gewinnt,  und  Asal,  der  für  seinen  reinern  philosophischen 
Gedanken  kein  Verständnis  findet  und  auf  eine  unbewohnte- 
Insel  auswandert.  Hier  findet  er  den  eigentlichen  Helden  des 
Romans  Hajj  (den  Lebenden),  welcher,  nicht  von  Menschen 
erzeugt  und  von  einer  Gazelle  grofsgezogen ,  sich,  etwa  wie 
Robinson,  eine  eigene  Existenzform  geschaflen  hat  und  auf 
dem  Wege  des  Nachdenkens  über  die  Wunder  der  Xatur  in 
7  mal  7  Jahren  selbständig  zur  höchsten  Erkenntnis  gelangt 
ist.  Von  Asal  erhält  er  Nachricht  über  die  von  Menschen 
bewohnte  Insel  und  -fährt  hinüber,  um  dem  Volke  seine 
philosophischen  Gedanken  mitzuteilen,  findet  aber  dafür  kein 
Verständnis  und  kehrt  in  die  Einsamkeit  zurück.  Der  Grund- 
gedanke ist  derselbe  wie  bei  Avempace:  der  Weise  mufs  der 
Menge  ihre  mythischen  Anscharuungen  lassen  und  sich  in  der 
Einsamkeit  von  Stufe  zu  Stufe  zur  Welt  der  Ideen  und  schliefs- 


412  XV.    Die  Philosoi)bie  der  Araber. 

}ich  zur  Einswerdung  mit  Gott  erheben,  welche  Abu  Bacer, 
hierin  über  Avempace  hinausgehend,  in  einer  mystischen 
Ekstase  findet,  in  der  die  ganze  vielheithche  Welt  verschwindet 
und  nur  noch  Gott  übrig  bleibt,  in  der  Einheit  mit  welchem 
der  Weise  zum  Genufs  der  höchsten  Seligkeit  gelangt. 

Der  bedeutendste  und  auf  die  christlichen  Scholastiker 
einflufsreichste  Interpret  des  Aristoteles  in  der  islamischen 
Welt  war  Averroes  flbn  TloschdJ,  geboren  1126  zu  Cordova 
in  einer  richterlichen  Familie,  in  seiner  Jugend  allseitig  ge- 
bildet im  theologischen,  juristischen,  medizinischen  und  philo- 
sophischen Wissen;  durch  seinen  Lehrer,  Freund  und  Pro- 
tektor Ibn  Tofail  (Abubacer)  wurde  er  schon  1153  dem  Cha- 
lifen  Abu  Ja'kub  empfohlen  als  der  berufenste  Gelehrte,  die 
Schriften  des  Aristoteles  zu  analysieren,  wirkte  seit  11G9  als 
Richter  in  Sevilla,  Cordova  und  Marokko,  gestützt  durch  die 
Gunst  des  Chalifen  Abu  Ja'kub  und  seines  Nachfolgers  Almansor 
(1184 — 1198),  bis  unter  dem  letztern  der  Fanatismus  der  Ortho- 
doxen die  Verweisung  des  Averroes  in  das  Judenstädtchen 
Elisena  (Lucena)  bei  Cordova  erwirkte,  von  wo  er  noch  ein- 
mal nach  Marokko  zurückkehrte  und  dort  kurz  darauf  im 
Jahre  1198  starb.  Unter  seinen  Schriften,  die  grofsenteils 
nur  in  lateinischer  Übersetzung  auf  uns  gekommen  sind,  ist 
aufser  zahlreichen  Kommentaren  zu  den,  dem  Averroes  nur  in 
arabischer  Übersetzung  zugänglichen  Schriften  des  Aristoteles 
am  berühmtesten  seine  gegen  des  Alghazel  desfruciio  pltiloso- 
plionmi  ftaliäfut  al-faläsifaj  gerichtete  Gegenschrift  dcstrnctio 
dcstructionis  {tahäfid  al-fahäfnfj,  in  welcher  er,  ohne  schon 
die  Theorie  von  der  doppelten  Wahrheit  zu  vertreten,  doch 
eine  scharfe  Grenze  zwischen  dem  den  Bedürfnissen  der  Menge 
entsprechenden  Volksglauben  und  der  auf  unbefangenes  Denken 
sich  gründenden  philosophischen  Wahrheit  zieht,  als  deren 
Inkarnation  und  höchster  Vertreter  ihm  Aristoteles  gilt,  dessen 
Auffassung  durch  Alghazel  er  für  oberflächlich,  sophistisch  und 
unhistorisch  erklärt.  Obgleich  auch  Averroes,  namentlich  in 
seiner  Theorie  von  den  himmlischen,  durch  Intellekte  regierten 
Sphären,  in  den  Traditionen  der  Araber  befangen  bleibt,  so 
vertritt  er  doch  einen  reinern.  Aristotelismus,  indem  er  mit 
Bestimmtheit   und   ohne  Abschwächung    sich    zu    den  Lehren 


3.  Die  Philosopliie  der  Aral)er  im  Westen.  413 

von  der  Ewigkeit  der  Welt,  der  Unvergänglichkeit  der  von 
jeher  bestehenden  und  potentiell  schon  die  Formen  in  sich 
enthaltenden  Materie,  der  Unverbrüchlichkeit  des  Kausal- 
zusammenhangs und  der  Vernichtung  der  individuellen  Seele 
durch  den  Tod  bekennt.  Unsterblich  ist  nach  ihm  nur  der 
eine,  allen  Menschen  gemeinsame  iritdledus  activus  (voü?  ttcit,- 
Tixcr);  er  verhält  sich  zu  dem  passiven,  individuellen  Intellekt 
wie  die  Sonne  zum  Gesicht,  und  die  Individuen  nehmen  nur, 
sofern  sie  ihn  besitzen,  an  seiner  Unsterblichkeit  teil,  eine 
Lehre,  welche  als  die  nnifas  intcVccUis  von  christlichen  Scho- 
lastikern, wie  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino,  mit 
Heftigkeit  bekämpft  und  von  dem  Papste  Leo  X.  mit  dem 
Anathema  belegt  würde. 


XVI.   Die  Philosophie  der  Juden. 

1.  Das  Schicksal  der  Juden  im  Mittelalter. 

Schon  früh  hatten  sich  die  Juden,  infolge  der  traurigen 
Verhältnisse  im  Mutterlande,  in  allen  Teilen  des  grofsen  Rö- 
mischen Weltreiches  angesiedelt,  bis  dann  nach  der  Zerstörung 
Jerusalems  durch  Titus  (70  p.  C.)  und  Niederwerfung  des 
letzten  Aufstandes  des  Bar-Cochba  (135  p.  C.)  unter  Hadrian 
der  nationale  Bestand  des  jüdischen  Volkes,  so  viel  davon 
noch  vorhanden  war,  völlig  aufgelöst,  und  die  Juden  über  alle 
Länder  der  zivilisierten  Welt  zerstreut  wurden.  Aber  sehr 
merkwürdig  und  in  der  Weltgeschichte  einzig  dastehend  ist 
es,  dafs  die  Juden  darum  doch  nicht  von  der  umwohnenden 
Bevölkerung  allmählich  aufgesogen  wurden  und  mit  ihr  ver- 
schmolzen, sondern  sich  in  ihrer  Eigenart  durch  alle  Jahr- 
hunderte bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  haben.  Der  Grund 
liegt  wohl  darin,  dafs  dieses  Volk,  seines  nationalen  Zusammen- 
hangs beraubt,  sich  um  so  fester  an  das  anklammerte,  was 
ihm  davon  noch  übrig  geblieben  w^ar,  an  seine  Sprache  und 
heilige  Literatur,  seine  Religion  und  seine  durch  diese  be- 
dingten Lebensgewohnheiten.  Immer  noch  sich  für  das  aus- 
erwählte Volk  Gottes  haltend,  immer  noch  auf  den  verheifsenen 
Messias  hoffend,  bildeten  sie  eine  Nation  unter  den  Nationen, 


414  XVI.   L)ie  Philosophie  der  Juden. 

hielten  durch  alle  Länder  hindurch  mit  einander  zusammen 
und  sonderten  sich  nicht  ohne  Hochmut  von  der  Bevölkerung 
ab,  unter  welcher  sie  lebten.  Die  Folge  war,  dafs  statt  des 
Mitleids,  welches  ihr  Schicksal  verdient  hätte,  statt  der  Grofs- 
mut,  mit  welcher  man  sonst  dem  Fremden  und  Schwachen 
entgegenzukommen  pflegt,  fast  überall  eine  tiefergehende  Ab- 
neigung gegen  diese  fremden  Eindringlinge  sich  bildete,  welche 
■durch  die  dem  Menschen  wie  dem  Tiere  eingepflanzten  Rassen- 
instinkte nur  noch  vermehrt  wurde.  Hierzu  kam,  dafs  der 
Jude,  im  BeM^ufstsein  seiner  Vereinsamung  und  prekären  Lage, 
sich  zu  Mäfsigkeit,  Fleifs  und  Sparsamkeit  angetrieben  fühlte 
und  so  nicht  selten  zu  einem  Wohlstande  gelangte,  welcher 
den  Neid  und  die  Begehrlichkeit  der  umwohnenden  Bevölke- 
rung erweckte. 

Erträghch,  trotz  solcher  gelegentlichen  Bedrückungen,  von 
denen  Philo  Judaeus  in  seiner  Icgatio  ad  Cajum  ein  Beispiel 
bietet,  war  die  Stellung  der  Juden  während  der  ersten  drei 
Jahrhunderte  unserer  Zeitrechnung  im  weiten  Römischen  Reiche, 
erträglicher  jedenfalls  als  die  der  Christen,  welche  nicht  wie  die 
Juden  durch  alte,  schon  von  Julius  Cäsar  herrührende  Privi- 
legien in  der  Ausübung  ihrer  Religion  geschützt  waren.  Noch 
313  wurde  durch  das  Edikt  von  Mailand  die  Rechtsgleichheit 
aller  Untertanen,  somit  auch  der  Juden,  durch  Konstantin  ge- 
sichert. Schwerere  Zeiten  aber  kamen  über  sie,  nachdem  das 
Christentum  Staatsre]io;ion  geworden  war,  und  die  auf  Julian 
gesetzten  Hoffnungen  durch  dessen  baldigen  Tod  vereitelt 
wurden.  Der  Zusammenbruch  des  Weströmischen  Reichen 
brachte  ihnen  einige  Erleichterung,  da  Ostgoten  und  Longo- 
barden  in  Italien  sich  duldsam  erwiesen,  und  auch  die  Lage 
in  Spanien  unter  den  Westgoten  erst  nach  Übertritt  des  Königs 
Reccared  vom  arianischen  zum  katholischen  Glauben  eine 
härtere  wurde,  bis  711  durch  die  mohammedanische  Eroberung- 
bessere  Zeiten  eintraten.  Auch  im  Oströmischen  Reiche  kamen 
die  Bedrückungen  der  Juden  durcli  Kaiser  wie  Justinian  I. 
und  Heraklius  mit  der  Eroberung  von  Syrien  Go8  und  Ägypten 
1)42  in  diesen  Provinzen  zum  Stillstand.  In  Babylonien  waren 
viele  Juden  seit  dem  babylonischen  Exil  ansässig  geblieben 
und    standen    während    der    neupersischen    Zeit    unter    einem 


1.   Das  Srhicksal  der  .IiuUn   im  Mittelalter.  415 

Exilarchen,  welchem  die  Anstellung  der  Geistlichen  und  Kichter 
sowie  die  Einziehung  der  Abgaben  oblag.  Im  übrigen  Perser- 
reiche  wechselten  je  nach  Laune  der  Herrscher  Bedrückung 
und  Schonung  der  Juden  mit  einander.  Es  entwickelte  sich 
in  den  Lehrhäusern  der  Juden  in  Babylonien  und  Palästina 
eine  rege  literarische  Tätigkeit,  aus  welcher  der  Talmud  in 
seinen  beiden- Formen,  der  jerusalemischen  und  der  umfang- 
reicheren babylonischen  hervorging.  In  beiden  Formen  be- 
steht der  Talmud  aus  der  neuhebräisch  geschriebenen  Mischna, 
welche  um  200,  und  der  in  aramäischer  Sprache  verfafsten 
Gemara,  welche  um  500  p.  C.  zum  Abschlufs  kam.  Die 
Mischna  („Fortsetzung")  schliefst  sich  an  den  Pentateuch 
an  und  enthält  in  sechs  Abschnitten  die  bis  dahin  nur  münd- 
lich vorhandenen  Fortentwicklungen  und  Ergänzungen  des 
mosaischen  Gesetzes  über  Landbau,  Sabbat,  Ehe,  Recht- 
sprechung, Ritual  und  Reinheitsvorschriften.  An  sie  schliefst 
sich  die  Gemara,  welche  aufser  Erläuterungen  zur  Mischna 
eine  reiche  Sammlung  gnomischer,  historischer  und  geogfaphi- 
scher  Elemente  befafst  und  sich  zu  einer  Art  Enzyklopädie 
des  gesamten  jüdischen  Wissens  der  damaligen  Zeit  gestaltet 
hat.  —  Soweit  die  Juden  neben  der  Thora  auch  den  auf  der 
rabbinischen  Gelehrsamkeit  beruhenden  Talmud  anerkennen, 
werden  sie  Rabbaniten  genannt  (von  Bahhan,  einem  ver- 
stärkten liahhi);  ihnen  entgegen  stellt  die  Sekte  der  Karaiten 
(von  qär(V,  lesen),  begründet  um  761  durch  Anan  ben  David, 
von  welchen  der  Talmud  verworfen  wird,  ähnlich  wie  von 
den  Schiiten  die  Sunna  und  von  den  Protestanten  die  Tra- 
dition des  katholischen  Mittelalters.  Als  Hauptvorkämpfer  des 
Talmud  und  der  jüdischen  Orthodoxie  verdient  Erwähnung 
Sa'adja  al-Fajjumi,  geboren  in  Fajjum  in  Ägypten  um  892, 
seit  928  Vorsteher  der  jüdischen  Akademie  zu  Sura  in  Baby- 
lonien. In  seinem  Hauptwerke  ,, Glauben  und  Wissen"  (Emunoili 
"Hc-De  othJ\ erieidigt  er  gegen  jüdische  und  christliche  Philo- 
sophen die  Einheit  Gottes,  Schöpfung  aus  Nichts,  Freiheit  des 
Willens  und  Auferstehung  des  Leibes. 

Seit  die  mohammedanischen  Eroberer  Persien,  Syrien  und 
Ägypten,  Nordafrika  und  Spanien'  in  Besitz  genommen  hatten, 
sahen  auch  die  Juden  in  diesen  Ländern  bessere  Tae-e.    Zwar 


416  .  \yT..   Die  Philosophie  der  Juden. 

hatte  sieb  Mohammed  sehr  scharf  gegen  dieselben  ausge- 
sprochen, aber  das  Bewufst&ein  der  Rassengemeinschaft,  die 
nahe  Verwandtschaft  der  arabischen  und  hebräischen  Sprache 
und  die  Gemeinsamkeit  so  vieler  alttestamentlicher  An- 
schauungen und  Lehren  bewirkten  zwischen  arabischen  und 
jüdischen,  häufig  in  ihren  Schriften  der  arabischen  Sprache 
sich  bedienenden  Denkern  eine  Annäherung,  so  dafs  nament- 
lich in  Spanien  Hand  in  Hand  mit  der  Hochblüte  der  arabi- 
schen auch  eine  solche  der  jüdischen  Literatur  und  Philosophie 
sich  entwickelte,  wie  es  denn  vorwiegend  jüdische,  des  Ara- 
bischen und  Lateinischen  kundige  Gelehrte  waren ,  welche 
aristotelische  Schriften  und  deren  Kommentare  aus  dem  Ara- 
bischen ins  Lateinische  übertrugen  und  dadurch  den  christ- 
lichen Scholastikern  zugänglich  machten. 

In  den  Reichen  der  Merowinger  und  Karolinger  war  die 
Behandlung  der  Juden  eine  milde,  aber  seit  dem  Vertrag  von 
Verdun  (843)  wurde  in  dem  Mafse,  w4e  die  Selbständigkeit 
der  H'ferzöge  erstarkte,  deren  Begehrlichkeit  nach  dem  jüdischen 
Besitze  geweckt,  und  durch  das  Anwachsen  der  Macht  der 
mittelalterlichen  Kirche  das  Streben  der  geistlichen  Macht- 
haber, die  Juden  zu  bekehren,  und  ihre  Neigung,  den  Pöbel 
gegen  sie  aufzuregen,  immer  mehr  gesteigert,  so  dafs  die 
Lage  der  Juden,  namentlich  in  den  Ländern  des  westlichen 
Europas,  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  immer  prekärer  und 
unerträglicher  w^urde.  Namentlich  waren  es  die  Kreuzzüge, 
welche  den  religiösen  Fanatismus  entfachten  und  auch  dem 
Hafs  gegen  die  Juden  neue  Nahrung  gaben;  das  ^Vüten  der 
Pest,  des  „schwarzen  Todes"  (1348  —  1350),  gab  den  umher- 
ziehenden Flagellanten  Gelegenheit,  dieses  Schicksal  zu  er- 
klären als  eine  Strafe  Gottes  an  dem  Volke  dafür,  dafs  es  die 
,, Christusmörder"  unter  sich  geduldet  hatte,  und  die  Sank- 
tionierung der  Inquisition  durch  das  lateranische  Konzil  (1215) 
und  ihre  trotz  dem  Widerstreben  des  Volkes  immer  wieder 
neu  versuchte  Einführung  in  den  verschiedenen  Ländern, 
namentlich  in  Spanien  unter  dem  Grofsinquisitor  Torquemada 
(seit  1483),  brachte  unter  andern  Opfern  des  Fanatismus  auch 
viele  tausend  Juden  auf  den  Scheiterhaufen.  Häufig  beschul- 
digte  man   sie   der  Brunnenvergiftung   oder   des   Schlachtens 


1.   Das  Schicksal  der  .luden  im  Mittelalter.  417 

von  Christenkindern  zu  rituellen  Zwecken;  immer  wieder  wur- 
den sie  in  den  einzelnen  Ländern  ausgewiesen  und  wieder 
zugelassen,  wenn  die  Fürsten  in  finanziellen  Nöten  ihrer  be- 
durften. So  wurden  die  Juden  namentlich  1402  aus  Spanien, 
1493  aus  Sicilien  und  1498  aus  Portugal  vertrieben  und  fanden 
eine  Zuflucht  teils  in  der  Türkei,  teils  in  Holland,  Polen  und 
andern  Ländern.  Auch  die  Reformation  vermochte,  trotz  der 
Fürsprache  Luthers,  ihre  Lage  zunächst  nicht  zu  verbessern; 
man  zw-ang  sie,  in  Ghettos  zusammenzuwohnen,  durch  äufsere 
Abzeichen  wie  Mantel,  Hut  und  Bart  sich  von  den  Christen 
zu  unterscheiden,  und  erst  das  19.  Jahrhundert  brachte  nach 
und  nach  in  den  verschiedenen  Ländern  die  Emanzipation  der 
Juden  und  ihre  Gleichstellung  vor  dem  Gesetze,  immer  noch 
mit  gewissen  Beschränkungen,  zur  Durchführung.  Eine  völlige 
Hebung  der  notwendig  daraus  sich  ergebenden  Mifsstände 
läfst  sich  nur  von  einer  vollständigen,  durch  Übertritt  zum 
Christentum  und  Connubium  erreichbaren  Assimilation  erhoffen. 

2.  Das  Judentum  unter  dem  Einflufs  des  Neuplatonismus. 

Entsprechend  dem  Entwicklungsgang  der  christlichen  und 
islamischen  Philosophie  steht  auch  die  Philosophie  der  Juden 
im  Mittelalter  teils  unter  dem  Einflüsse  des  Neuplatonismus, 
teils  und  namentlich  in  der  spätem  Zeit  unter  dem  des  Aristo- 
telismus. 

In  ersterer  Hinsicht  tritt  uns  als  merkwürdigste  Erschei- 
nung die  Geheimlehre  der  Kabbäla  (d.  h.  „Überlieferung",  von 
qihhel,  annehmen,  überkommen)  entgegen,  von  welcher  zwei 
Grundschriften  erhalten  sind,  das  Buch  Jezirah  (von  jäzar, 
bilden,  schaffen)  und  das  Buch  Sohar  (der  Glanz).  Über 
das  Alter  dieser  beiden  Schriften  gehen  die  Meinungen  w^eit 
aus  einander.  Nach  jüdischer  Anschauung  soll  die  Jezirah 
von  Rabbi  Akiba  (135  p.  C.)  und  der  Sohar  von  seinem  Schüler 
Simeon  ben  Jochai  verfafst  worden  sein,  wovon  jedoch  an- 
gesichts ihres  Inhalts  keine  Bede  sein  kann.  Wenn  hin- 
wiederum die  neuere  Forschung  die  Abfassungszeit  der  Jezirah 
auf  900  und  des  Sohar  auf  1200  p.  C.  oder  später  herabrückt, 
so  mag  dies  für  die  definitive  Redaktion  richtig  sein,  schliefst 
aber  nicht  aus,  dafs  die  in  ihnen  enthaltenen  Gedanken  weit 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     ll,ii,  2-  27 


418  XVI.    Die  Philosophie  der  Juden. 

älter  sind,  und  da  beide  Bücher  unverkennbar  unter  dem  Ein- 
flüsse neupythagoreischer  und  neuplatonischer  Lehren  stehen, 
so  wird  man  für  die  erste  Entstehung  der  in  ihnen  enthaltenen 
Thöorien  das  Zeitalter  annehmen  dürfen ,  wo  der  Neupy tha- 
goreismus  und  der  Neuplatonismus  das  allgemeine  Interesse 
beherrschten  und  auch  auf  die  Kreise  der  jüdischen  Denker 
nicht  wohl  ohne  Einwirkung  bleiben  konnten,  also  etwa  die 
Zeit  zwischen  200  und  600  p.  C,  von  wo  an  dann  diese  Lehren 
im  Laufe  der  folgenden  Jahrhunderte  ihre  weitere  Ausgestal- 
tung erfahren  haben  mögen. 

Das  Buch  Jezirah  gibt  sich  nach  dem  Schlufsabschnitt 
aus  für  eine  dem  Abraham  durch  Gott  gewordene  Offenbarung. 
Diese  Offenbarung  besteht  in  den  „32  Wegen  der  Weisheit", 
nämlich  den  10  Grundzahlen  und  den  22  Buchstaben  des 
hebräischen  Alphabets,  welche  alle,  analog  den  platonischen 
Ideen,  als  schaffende  Kräfte  erscheinen,  durch  welche  Gott 
sein  Wesen  in  der  Welt  verwirklicht.  Hierbei  aber  sind,  wie 
es  scheint,  zwei  verschiedene  Anschauungen  mit  einander  ver- 
schmolzen, eine  neupythagoreische,  welche  in  den  zehn  Grund- 
zahlen 1 — 10,  und  eine  jüdische,  welche  in  den  22  Buchstaben 
■des  hebräischen  Alphabets  die  Prinzipien  alles  Seienden  er- 
kennt. In  ersterer.  Hinsicht  emanieren  aus  dem  unerkenn- 
baren und  unaussprechbaren  höchsten  Wesen:  1.  der  Geist 
des  lebendigen  Gottes;  2.  der  Hauch,  der  vom  Geiste  kommt; 
in  ihn  hat  er  eingegraben  und  eingehauen  die  22  Buchstaben, 
die  blofs  einen  einzigen  Hauch  ausmachen;  3.  das  Wasser, 
das  vom  Winde  kommt,  eine  chaotische  Masse,  aus  welcher 
sich  das  erdige  Element  absetzt;  4.  das  Feuer,  das  vom  Wasser 
kommt  und  aus  welchem  Gott  den  Thron  seiner  Herrlichkeit, 
■die  himmlischen  Bäder,  die  Seraphim  und  die  dienenden  Engel 
gemacht  hat.  Die  folgenden  sechs  Zahlen  5 — 10  repräsen- 
tieren die  sechs  Himmelsgegenden,  Zenith  und  Nadir,  Ost  und 
West,  Süd  und  Nord.  Es  kann  auffallen,  dafs  erst  nach  Ema- 
nation der  Elemente,  Luft,  Wasser  mit  Erde  und  Feuer,  die 
sechs  Himmelsgegenden  emanieren,  doch  läfst  sich  denken, 
dafs  zuerst  die  Elemente  entstehen  und  dann  nach  den  sechs 
Richtungen  zur  Welt  ausgespannt  werden.  Mit  diesen  neu- 
pythagoreischen Anschauungen  ist  es  aber  schwer  zu  vereinen, 


!2.   Das  .ludentum  unter  dem  Einflufs  des  Xeuplatouismus.         419 

dafs  weiterhin  aus  den  22  Buchstaben,  welche  vorher  der 
zweiten  Emanation  eingebettet  waren,  (nach  3,4)  auch  Feuer, 
AVasser  und  Haucli,  und  (nach  4,2)  auch  die  sieben  Kardinal- 
punkte, nämlich  die  genannten  sechs  und  die  zentrale  Gegend 
abgeleitet  werden.  Wir  möchten  vermuten,  dafs  diese  letztere 
Konstruktion  auf  einer  eigentümlich  jüdischen  Anschauung 
beruht,  nach  welcher  das  aus  den  22  Buchstaben  bestehende 
göttliche  Schöpferwort  alle  Dinge  hervorbringt.  Entsprechend 
der  besondern  Heiligkeit  der  Zahlen  3,  7  und  12  werden  die 
22  Buchstaben  eingeteilt  in  die  drei  Mütter  (Aleph,  Mem, 
Schin),  die  sieben  doppelten  Buchstaben  (Beth  und  Pe,  Gimmel 
und  Kaph,  Daleth  und  Thav,  dazu,  um  die  Siebenzahl  voll- 
zumachen,' Resch)  und  die  zwölf  einfachen  Buchstaben,  worauf 
dann  allerlei  Verhältnisse  im  Weltall  wie  im  Menschen  diesen 
Kategorien  der  Dreiheit,  Siebenheit  und  Zwölfheit  eingeordnet 
werden.  Hiernach  scheint  die  oben  geäufserte  Vermutung 
gerechtfertigt,  dafs  wir  in  der  Jezirah  die  Fusion  einer  neu- 
pythagoreischen, an  die  zehn  Grundzahlen  anknüpfenden,  und 
einer  speziell  jüdischen  Anschauung  vor  uns  haben,  welche 
in  den  22  Buchstaben  das  aus  ihnen  bestehende  göttliche 
Schöpferwort  erkennt. 

Konnte  bei  dem  Buche  Jezirah  diese  |Fusion  aus  einem 
neupythagoreischen  und  einem  jüdischen  Element  nur  als  eine 
Vermutung  ausgesprochen  werden,  so  ist  in  betreff  des  zweiten 
Hauptwerkes  der  Kabbäla,  des  Buches  Sohar,  wohl  kein 
Zweifel  daran  möglich,  dafs  es  seine  Entstehung  einer  Kom- 
bination der  neuplatonischen  Emanationslehre  mit  der  von 
Philo  Judaeus  vertretenen  Anschauung  verdankt,  nach  welcher 
zwischen  der  unerkennbaren,  unnahbaren  Gottheit  und  der 
Welt  ein  Mittelwesen  eingeschoben  wird,  welches  bei  Philo 
aus  dem  Logos  und  den  in  ihm  enthaltenen  Ideen,  im  Buche 
Sohar  aus  dem  Adam  Kadmon  und  den  zehn  Sephiroth  be- 
steht, welche  sein  Wesen  ausmachen.  An  der  Spitze  des 
Systems  steht  Gott  als  ,,der  Alte  der  Alten,  das  Geheimnis 
der  Geheimnisse,  der  Verborgene  der  Verborgenen".  Im  An- 
klang an  das  griechische  axstpov  wird  er  auch  bezeichnet  als 
das  Fai  Soph,  d.  h.  „das  Unendliche". 

1.  Aus  ihm  emaniert  als  erstes  Erzeugnis  die  W^elt  Azilah 


420  XVI.    Die  Philosophie  der  Juden. 

(oläm  asiläli,  etwa:  die  Verbindungswelt  oder  auch  Wurzel- 
welt), und  diese  eben  besteht  aus  dem  Adam  Kadmon,  „dem 
uranfänglichen  Menschen",  welcher  sich  zusammensetzt  aus 
zehn  göttlichen  Kräften,  den  vielleicht  im  Anklang  an  das 
Buch  Jezirah  sogenannten  zehn  Scphirotli,  welche  sich  zu  Gott 
verhalten  wie  die  Strahlen  zum  Licht,  und  von  denen  jede 
folgende  aus  der  vorhergehenden  emaniert.  Die  ersten  neun 
bilden  drei  Triaden,  eine  intellektuelle,  liether  die  „Krone", 
chochmäh  die  „Weisheit"  und  hinäh  der  „V'erstand",  eine  mora- 
lische, chesed  die  „Barmherzigkeit",  dm  die  „Gerechtigkeit", 
tliip''ereth  die  „Schönheit",  und  eine  fundamentale,  nezach  die 
„Festigkeit",  hod  die  „Herrlichkeit"  und  jes(jd  das  ,, Funda- 
ment"; alle  neun  werden  umschlossen  von  malhuth  dem 
„Eeiche"  als  der  zehnten.  In  spielender  Weise  werden  alle 
zehn  zu  der  Figur  eines  Menschen  oder  auch  eines  Baumes 
vereinigt;  auch  fügt  man  sie  zu  drei  Säulen  zusammen,  wo- 
bei Krone,  Schönheit  und  Fundament  als  die  Säule  der  Mitte, 
W^eisheit,  Barmherzigkeit  und  Festigkeit  als  die  Säule  der 
Gnade,  und  Verstand,  Gericht  und  Herrlichkeit  als  die  Säule 
der  Gerechtigkeit  bezeichnet  werden. 

Aus  dem  Adam  Kadmon  oder  der  Welt  Azilah  emanieren 
in  unverkennbarer  Nachahmung  der  plotinischen  Emanations- 
stufen drei  weitere  Welten,  jede  wieder  aus  zehn  Sephiroth 
bestehend,  nur  dafs  deren  Wirkung  um  so  schwächer  ist,  je 
ferner  sie  dem  ersten  Ursprünge  stehen.  Ihre  Namen  scheinen 
aus  den  drei  Jesaia  43,7  vorkommenden  Namen  für  Schaffen, 
Bilden  und  Machen  entnommen  zu  sein. 

2.  Die  Welt  Beriah  (von  härü\  schaffen)  umfafst  die 
reinen  Formen  der  Dinge,  entsprechend  den  platonischen  Ideen. 
Sie  bilden  gleichsam  das  Gewand  Gottes,  werden  als  lebende 
Geister,  Träger  der  Harmonie  des  Weltalls  und  Vorsteher  der 
himmlischen  Sphären  vorgestellt.  Ihr  entspricht  in  der  Men- 
schenseele der  intellektuelle  Teil,  welcher  ncscliämäh  ge- 
nannt wird. 

3.  Die  Welt  Jezirah  (von  Jäzar,  bilden),  gleichfalls  aus 
zehn  Sephiroth  bestehend,  ist  in  dem  Mafse,  wie  sie  dem  Ur- 
sprung ferner  steht,  gröber  als  die  vorhergehende,  aber  immer 
noch  immateriell.    Sie  bildet  die  ^^^ohnung  von  Myriaden  von 


2.   Das  Jiuleutum  unter  dem  Eiiiflufs  des  Keuplatonismus.        421 

Eno-eln,  welche  nach  den  zehn  Sephiroth  in  zehn  Khissen 
zerfallen  und  den  einzelnen  Teilen  des  Universums  vorstehen, 
nach  denen  diese  Klassen  auch  benannt  werden ;  im  Menschen 
entspricht  ihr  der  ni'^ch  (Lehenshauch). 

4.  Die  \\"elt  ""Asijjah  (von  ' asäh ,  machen)  ist  materiell 
und  vergänglich,  im  Menschen  als  nephesch  (animalische  Seele) 
vorhanden.  In  ihr  befinden  sich  auch  die  sieben  Höllen  unter 
der  Herrschaft  des  Höllenfürsten  Saniäcl,  dessen  Name  als 
„Gift  Gottes"  gedeutet  wird.  Sie  haben  zahllose  Abteilungen, 
entsprechend  den  einzelnen  Sünden,  die  in  ihnen  gebüfst  werden. 

Das  Buch  Sohar  lehrt  die  Präexistenz  der  Seele,  ihre  Wan- 
derung durch  verschiedene  Leiber  und  endliche  Rückkehr  zu 
dem  göttlichen  Urwesen.  Auch  dies  entspricht  den  neuplato- 
nischen Anschauungen,  und  so  werden  wir  nicht  fehlgehen, 
wenn  wir  die  Kabbala' bezeichnen  als  einen  in  jüdischer  Ein- 
kleidung erscheinenden  Neuplatonismus ,  verknüpft  mit  der 
philonischen  Lehre  von  einem  Mittelwesen  zwischen  Gott  und 
Welt,  als  welches,  wie  bemerkt,  bei  Philo  Judaeus  der  stoische 
Logos  erscheint,  welcher  die  platonischen  Ideen  in  ähnlicher 
A\'eise  enthält  wie  der  jüdische  Adam  Kadmon  die  zehn 
Sephiroth.  —  Wenn  sonach  die  im  Buche  Sohar  überlieferten 
Gedanken  nach  unserer  oben  geäufserten  Meinung  in  die  Zeit 
zurückgehen  dürften,  wo  Philosophie  und  Christentum,  und  so 
wohl  auch  das  Judentum,  sich  dem  Einflufs  der  neuplatoni- 
schen Emanationslehre  nicht  entziehen  konnten,  so  ist  doch 
die  Form,  in  der  uns  diese  Gedanken  erhalten  sind,  eine  er- 
heblich spätere,  und  die  endgültige  Redaktion  des  Sohar  kann 
nicht  vor  1200  stattgefunden  haben,  da  nicht  nur  mit  den 
hebräischen  Konsonanten,  sondern  auch  mit  den  erst  später, 
etwa  570  p.  G.,  beigefügten  Vokalzeichen  allerlei  mystische 
Spielereien  getrieben  werden,  da  ferner  der  Eroberung  Jerusa- 
lems durch  die  Kreuzfahrer  und  Wiedereroberung  durch  die 
Sarazenen  gedacht  wird  und  sogar  ein  Verszitat  aus  dem 
Gedichte  Kether  malJndh  (die  Krone  des  Reiches)  von  Salomon 
ben  Gebirol  vorkommt. 

Nahe  verwandt  mit  den  Anschauungen  der  Kabbäla  ist 
die  Emanationslehre  dieses  Salomon  ben  Gebirol  «(1020 — 
1070),  der  von  den  christlichen  Scholastikern  Avicehron  oder 


422  X\l.   Die  Philosophie  der  Juden. 

Avencebrol  genannt  und  für  einen  arabischen  Philosophen 
gehalten  wurde.  Er  war  geboren  zu  Malaga,  erhielt  seine 
Erziehung  zu  Saragossa  und  schrieb  aufser  Gedichten  ein 
philosophisches  Werk  „Die  Quelle  des  Lebens",  ursprünglich 
arabisch  geschrieben,  später  unter  dem  Titel  Jleqor  chajjini 
ins  Hebräische  und  als  Föns  vitae  ins  Lateinische  übersetzt. 
Mit  dem  Neuplatonismus  läfst  Avicebron  die  drei  Welten, 
die  geistige  Welt  der  Ideen,  die  psychische  und  die  körper- 
liche Welt,  emanieren,  schiebt  aber  zwischen  diese  drei  Welten 
und  Gott  nicht  mit  Philo  den  begrifflichen  Logos  oder  mit 
der  Kabbäla  den  Urmenschen,  sondern  den  göttlichen 
Willen  ein,  welchem  die  Welt  der  Ideen  immanent  ist,  so 
dafs  der  jüdische  Philosoph  der  wahren  Erkenntnis  sehr  nahe 
kommt,  nach  welcher  der  weltschaffende  Wille,  um  in  Raum 
und  Zeit  zu  erscheinen,  sich  ihren  Verhältnissen  anpafst  und 
dadurch  zu  der  ganzen  Reihe  der  Ideen  wird,  die,  selbst  noch 
raumlos,  doch  schon  raumartige  Gebilde  sind,  woraus  sich 
auch  die  von  Plotin  (Enn.  II,  4,4)  vertretene  und  von  Avi- 
cebron übernommene  Lehre  von  einer  doppelten  Materie  er- 
klären dürfte,  einer  körperlichen,  aus  welcher  die  Sinnenwelt 
besteht,  und  einer  intelligiblen,  die  man  schon  der  Ideenwelt 
zuschreiben  mufs.  Alle  jene  Welten  aber  emanieren  aus  dem 
göttlichen  Willen,  welcher  eben  die  Quelle  des  Lebens,  der 
Meqor  cJiajjim  ist,  die  wir  nur  auf  intuitivem  Wege  und  durch 
Ekstase  zu  erkennen  vermögen. 

3.  Das  Judentum  unter  dem  Einflufs  des  Aristotelismus. 

Da  das  jüdische  Dogma  ebensowenig  wie  das  christliche 
und  islamische  imstande  war,  dem  denkenden  Menschengeiste 
einen  befriedigenden  Aufschlufs  über  die  Rätsel  des  Daseins 
zu  gewähren,  so  ist  es  begreiflich,  wie  auch  das  Judentum, 
nach  beiden  Richtungen  tastend,  eine  Anlehnung  einerseits 
an  den  Neuplatonismus,  andererseits  an  die  Philosophie  des 
Aristoteles  suchte,  wiewohl  die  Geschlossenheit  und  Starrheit 
der  jüdischen  Dogmatik  beiden  Versuchen  besondere  Schwierig- 
keiten in  den  Weg  stellte.  War  es  beim  Neuplatonismus  die 
Emanationslehre,  welche  sich  mit  der  Schöpfungsgeschichte 
der  Bibel    nur    durch    kühne    allegorische   Umdeutungen    der 


3,  Das  Judentum  unter  dem  Kiiiriufs  des  Aristotelismns.  423 

biblischen  Texte  in  Einklang  bringen  liefs,  so  standen  dem 
Eindringen  der  Philosophie  des  Aristoteles  besonders  die  von 
ihm  vertretenen  Lehren  von  der  Ewigkeit  der  Welt  und  der 
Unverbrüchlichkeit  des  Kausalzusammenhanges,  gegenüber 
einer  zeitlichen  Schöpfung  aus  Nichts  und  einem  Durch- 
brechen der  Naturordnung  durch  göttliche  Wunder,  hindernd 
entgegen. 

Dieser  Widerstand  gegen  die  griechische,  speziell  die 
aristotelische  Philosophie  tritt  besonders  deutlich  hervor  in 
dem  berühmten  Kusari,  dem  Werke  des  jüdischen  Dichters 
und  Philosophen  Jehuda-ha-Levi,  welcher,  geboren  um 
1185  p.  C.  in  Kastilien,  den  Beruf  eines  Arztes  ergriff,  aber 
in  ihm  weniger  Befriedigung  fand  als  in  der  dichterischen 
und  philosophischen  Verherrlichung  des  jüdischen  Glaubens. 
Von  Sehnsucht  nach  dem  Heiligen  Lande  erfüllt,  segelte  ha- 
Levi,  schon  über  fünfzig  Jahre  alt,  nach  dem  Orient,  gelangte 
nach  Ägypten  und  über  Arabien  nach  Palästina,  wo  sich  seine 
Spur  verliert.  Man  weifs  nicht,  wann  und  wo  er  gestorben 
ist.  Sein  ursprünglich  arabisch  geschriebenes  und  zweimal 
ins  Hebräische  übersetztes  Hauptwerk  Kusari  stellt  dar,  wie 
der  König  des  Landes  Kusar,  durch  Träume  beunruhigt,  sich 
zunächst  an  einen  aristotelischen  Philosophen  und,  als  dessen 
Belehrung  ihm  keine  Befriedigung  gewährt,  an  einen  christ- 
lichen und  islamischen  Lehrer  wendet,  welche  beide  durch 
die  ihnen  gemeinsame  Basis  den  König  auf  das  Judentum 
hinweisen.  Nun  wendet  er  sich  an  einen  jüdischen  Meister^ 
welcher  ihn  über  die  Schöpfung  aus  Nichts,  die  Freiheit  des 
Willens  und  die  Auferstehung  belehrt  und  die  durchgängige 
Übereinstimmung  dieser  offenbarten  Wahrheiten  mit  der 
menschlichen  Vernunft  nachzuweisen  unternimmt. 

Diese  und  andere  Versuche,  dem  jüdischen  Dogma  den 
Vorzug  vor  der  griechischen  Philosophie  zu  vindizieren,  konn- 
ten, namentlich  bei  dem  engen  Zusammenhange  der  arabischen 
und  jüdischen  Wissenschaft  in  Spanien,  das  Eindringen  des 
Aristoteles  in  die  Kreise  jüdischer  Denker  nicht  hindern,  und 
als  bedeutendster  Vertreter  dieser  Bestrebungen  ist,  nach 
minder  wichtigen  Vorgängern,  zu  nennen  Mose  ben  Mai- 
mün,  bei  den  christlichen  Scholastikern  als  Moses  Maimo- 


424  XVI.   Die  Philosophie  der  Juden. 

nides  bekannt  und  in  verdientem  Ansehen  stehend.  Er  wurde 
geboren  1135  zu  Cordova,  siedelte  nach  Eroberung  von  Cordova 
1 148  durch  die  Almohaden  mit  seiner  Famihe,  nach  einem  vor- 
übergehenden Aufenthalt  in  verschiedenen  spanischen  Städten, 
nach  Fez  und,  als  auch  dort  die  Bedrückungen  nicht  auf- 
hörten, über  Palästina  nach  Altkairo  über,  wo  er  Leibarzt  des 
Sultans  Saladin  war  und  als  Vorsteher  der  jüdischen  Gemeinde 
1204  im  Alter  von  (39  Jahren  starb.  Sein  bewegtes  Leben 
hinderte  ihn  nicht  daran,  sich  ein  vielseitiges  Wissen  und 
eine  umfassende  Kenntnis  der  arabischen  Philosophen  anzu- 
eignen, wiewohl  er  die  Schriften  des  Averroes,  seines  nächsten 
Geistesverwandten,  erst  in  seinen  letzten  Lebensjahren  kennen 
lernte.  Sein  Hauptwerk  ist  aufser  biblischen  und  talmudi- 
schen Studien  der  „Leiter  der  Verwirrten",  ursprünglich 
arabisch  geschrieben  als  Ddlälat  al-Ilä'irin,  später  ins  He- 
bräische als  3Ioreh  han-Nehuchim  und  ins  Lateinische  unter 
dem  Titel  Doctor  perplexorum  übersetzt.  —  Unter  den  ,, Ver- 
wirrten", an  welche  das  Hauptwerk  des  Maimonides  sich  wendet, 
sind  diejenigen  zu  verstehen,  welche  durch  Vernunftforschung 
den  Glauben  verloren  haben.  Zu  ihm  will  Maimonides  sie 
zurückführen,  indem  er  das  Gebiet  abzugrenzen  sucht,  in 
welchem  Aristoteles  sein  zuverlässigster  Führer  ist,  von  dem- 
jenigen, welches  nur  durch  die  Offenbarung  des  Alten  Testa- 
ments uns  erschlossen  wird.  Widersprechen  Moses  und  die 
Propheten  den  Vernunftforderungen,  so  müssen  die  Erzählungen 
der  Bibel  allegorisch  gedeutet  werden,  ein  Verfahren,  welches 
von  den  Anhängern  des  Maimonides  so  weit  getrieben  wurde, 
dafs  sie  unter  Abraham  die  [J.op9')]  und  unter  Sarah  die  uXr^ 
verstanden.  Nach  Maimonides  ist  Gott  schlechterdings  un- 
erkennbar, ebenso  erhaben  über  alle  ihm  beigelegten  Voll- 
kommenheiten wie  über  die  Unvollkommenheiten;  je  weniger 
wir  von  ihm  zu  wissen  glauben,  desto  besser  haben  wir  ihn 
erkannt,  er  ist  unkörperlich,  unwandelbar,  ohne  Potentialität, 
nur  reine  Aktualität.  Die  Ewigkeit  der  Welt  hält  Maimonides 
für  nicht  hinreichend  erwiesen  und  bleibt  bei  der  Schöpfung 
aus  Nichts,  auch  der  Materie,  stehen,  wiewohl  er  eine  gewisse 
Hinneigung  zu  der  platonischen  Anschauung  verrät,  welche 
Gott  zum  Demiurgen,  d.  h.  Bearbeiter  einer  schon  vorhandenen, 


3.   Das  Judentum  uuter  tlcm  Eintiul's  des  Aristotelisuui:^.  425 

schlechthin  formlosen  Materie  macht.  Ungeachtet  der  All- 
wissenheit Gottes  hält  unser  Philosoph  an  der  Freiheit  des 
Willens  fest;  Gott,  meint  er,  kenne  die  Wahl,  ohne  sie  doch 
zu  lenken.  Die  Unsterblichkeit  und  jenseitige  Vergeltung, 
sogar  die  Auferstehung  des  Leibes  hält  er  fest,  erklärt  aber 
dieses  letztere  Dogma  für  undiskutierbar.  Übrigens  soll  man 
nicht  aus  Furcht  und  Hoffnung  das  Gute  tun,  sondern  nur 
um  des  Guten  willen  und  aus  Liebe  zu  Gott.  In  der  Ethik 
schliefst  er  sich  eng  an  Aristoteles  an,  unterscheidet  mit  ihm 
die  ethischen  Tugenden,  welche  in  dem  Innehalten  der  rechten 
Mitte  bestehen,  und  die  von  ihm  höher  geschätzten  diano- 
etischen  Tugenden;  unter  allen  Pflichten  ist  das  Forschen 
nach  der  \\"ahrheit  die  höchste. 

Noch  bei  Lebzeiten  des  Maimonides,  viel  mehr  aber  noch 
nach  seinem  Tode  wurde  seine  Lehre  von  den  Verfechtern 
der  jüdischen  Orthodoxie  heftig  angefeindet,  ja,  sie  riefen 
gegen  dieselbe  sogar  die  christliche  Inquisition  zur  Hilfe,  er- 
reichten aber  dadurch  gerade  das  Gegenteil,  indem  der  den 
Juden  eigene  esprit  de  corps  sich  regte,  so  dafs  sie  durch 
alle  kommenden  Jahrhunderte  bis  auf  die  Gegenwart  hin  den 
Maimonides  als  einen  der  Ihrigen  betrachteten  und  hochhielten. 

Eine  Nachwirkung  des  Maimonides  bestand  darin,  dafs 
in  der  Folge  die  Schriften  arabischer  Aristoteliker  von  den 
Judeh  ins  Lateinische  übersetzt  und  dadurch  den  christlichen 
Scholastikern  zugänglich  gemacht  wurden,  bis  es  ihnen  end- 
lich gelang,  sich  die  Schriften  des  Aristoteles  und  seiner  Schule 
auch  in  direkten,  immer  noch  unvollkommenen  Übersetzungen 
der  o;riechischen  Orio-inale  zu  verschaften. 


XVII.  Die  Hochblüte  der  Scholastik. 

,  1.  Wachsende  Autorität  des  Aristoteles. 

Nachdem  das  frühere  Mittelalter  nur  die  logischen  Schriften 
des  Aristoteles,  und  von  ihnen  auch  nur  einen  Teil,  nament- 
lich die  catcgoriac  und  de  interpretatione  nebst  der  Isagoge 
des  Porphyrius,  besessen  hatte,  wurden  seit  1150  nach  und 
nach    die    sämtlichen    Schriften    des    Aristoteles    nebst    ihren 


426  XVII.    Die  Hochblüte  der  Scholastik. 

arabischen  Kommentatoren  durch  Übersetzungen  aus  dem 
Arabischen  ins  Lateinische  bekannt,  vielfach  durch  Vermitt- 
lung spanischer  und  provengalischer,  des  Arabischen  kundiger 
Juden.  So  wurden  namentlich  um  1150  p.  C.  auf  Befehl  des 
Erzbischofs  Raymund  von  Toledo  durch  den  Juden  Hispalensis 
(Avendear)  und  durch  Dominicus  Gundisalvi  die  metaphysi- 
schen und  physischen  Hauptschriften  des  Aristoteles  und  ihrer 
arabischen  Erklärer  aus  dem  Arabischen  mit  Hilfe  des  Kasti- 
lischen  ins  Lateinische  übersetzt.  Ebenso  liefs  Kaiser  Fried- 
rich n.  mit  Hilfe  von  Juden  aristotelische  Schriften  aus  dem 
Arabischen  ins  Lateinische  übersetzen,  so  dafs  man  um  1210 
den  ganzen  Aristoteles  in  arabisch-lateinischen  Übersetzungen 
lesen  konnte.  Bald  liefs  man  sich  hieran  nicht  mehr  genügen, 
und  seit  der  Errichtung  des  lateinischen  Kaisertums  in  Kon- 
stantinopel um  1204  gelang  es  nach  und  nach  den  Scholastikern, 
namentlich  infolge  der  Bemühungen  des  Albertus  Magnus  und 
Thomas  von  Aquino,  sich  die  Werke  des  Aristoteles  in  latei- 
nischen, direkt  aus  dem  Griechischen  hergestellten  Über- 
setzungen zu  verschaffen.  Besondere  Verdienste  erwarben  sich 
hierbei  Robert  Greathead  (f  1253  als  Bischof  von  Lincoln), 
welcher  Griechen  aus  ünteritalien  veranlafste,  aristotelische 
Schriften  zu  übersetzen,  und  Wilhelm  von  Moerbecke  ("f  1281 
als  Erzbischof  von  Korinth),  welcher  auf  Veranlassung  des 
Thomas  von  Aquino  1260 — 1270  die  Schriften  des  Aristoteles 
ins  Lateinische  übertrug.  Inzwischen  hatte  sich  der  Wider- 
stand der  Kirche,  wie  gegen  den  Pantheismus  und  die  Ema- 
nationslehre des  Neuplatonismus,  so  auch  gegen  das  Ein- 
dringen des  Aristoteles  in  die  christliche  Scholastik  erhoben. 
Man  nahm  nicht  nur  Anstofs  an  seiner  mit  dem  kirchlichen 
Dogma  unverträglichen  Lehre  von  der  Ewigkeit  der  Welt, 
sondern  man  beschuldigte  ihn  auch  des  Pantheismus,  wodurch 
er  in  die  Ketzerei  des  zu  Paris  im  Sinne  des  Erigena  lehren- 
den Amalrich  von  Bena  (f  1206)  und  der  Amalricaner  ver- 
wickelt und  zugleich  mit  [diesen  auf  der  Synode  zu  Paris 
1209  und  auf  dem  lateranischen  Konzil  1215  verurteilt  und 
seine  Schriften  verboten  wurden.  Im  gleichen  Sinne  wurde 
auf  einer  Provinzialsynode  zu  Paris  1210  das  Studium  der 
aristotelischen    Naturlehre    verboten:    ncc   libri   Aristotclis    de 


1.   Wacbseiide  Autorität  des  Aristoteles.  427 

naiiuali  iiliilosophia  nee  eommevia  legantur  Parisiis  imhliee  vcl 
sccreto.  Dasselbe  Verbot  wurde  in  den  durch  den  päpstlichen 
Legaten  sanktionierten  Statuten  der  Pariser  Universität  von 
1215  erneuert,  wogegen  allerdings  die  Professoren  von  Tou- 
louse 1229  protestierten;  schon  oben  (S.  378)  wurde  erwähnt, 
dafs  durch  eine  Bulle  des  Papstes  üonorius  1225  die  Ver- 
brennung aller  Exemplare  der  Schrift  des  Erigena  De  divisione 
naturae  angeordnet  worden  war.  Der  Grund,  aus  welchem 
diese  Bekämpfung  des  Pantheismus  auch  den  Aristoteles  traf, 
lag  neben  den  pantheistisch  gefärbten  Kommentaren  seiner 
Schriften  hauptsächlich  darin,  dafs  zwei  pantheistische  Ab- 
handlungen, die  sogenannte  Theologia  Aristotelis  und  das  Buch 
De  causis  für  echte  Schriften  des  Aristoteles  gehalten  wurden, 
♦  sehr  mit  Unrecht,  da  beide  neuplatonische  Produkte  sind;  die 
Theologie  des  Aristoteles  ist,  wie  nach  ihrer  Herausgabe 
und  Übersetzung  durch  Dieterici  (1882  und  1883j  sehr  bald 
erkannt  wurde,  im  wesentlichen  nur  die  Übersetzung  einiger 
der  schönsten  Abschnitte  der  Enneaden  des  Plotinos,  und  das 
Buch  De  cansis  besteht  zum  gröfsten  Teile  in  wörtlichen  Aus- 
zügen aus  der  Institutio  theologica  des  Proklus. 

Noch  ehe  Männer  wie  Albertus  Magnus  und  Thomas  von 
Aquino  mit  ihrer  Sachkenntnis  und  Autorität  die  Unechtheit 
dieser  beiden  Schriften  erwiesen,  fing  man  allgemein  an  zu 
erkennen,  dafs  die  echten  Schriften  des  Aristoteles  einen 
wesentlich  andern,  abgesehen  von  seiner  Lehre  der  Ewigkeit 
der  Welt,  mit  dem  kirchlichen  Dogma  nicht  unverträglichen 
Geist  atmeten,  wie  denn  schon  1231  Papst  Gregor  IX.  befahl, 
die  lihri  Aristotelis  erst  dann  zu  gebrauchen,  wenn  sie  ge- 
prüft und  von  jedem  Verdacht  gereinigt  worden  seien.  Mit 
Eifer  wandte  man  sich  nun  dem  Studium  der  echten  aristo- 
telischen Schriften  zu,  und  schon  1254  w^urde  das  Studium 
der  afistotehschen  Physik  und  Metaphysik  offiziell  dem  Studien- 
kreise der  Pariser  Universität  eingegliedert.  Inzwischen  war 
das  Ansehen  des  Aristoteles  hoch  und  immer  höher  gestiegen, 
man  bezeichnete  ihn  geradezu  als  einen  Pracciirsor  Christi  i)i 
natiiralihus ,  wodurch  er  zu  der  seltsamen  Ehre  gelangte,  mit 
Johannes  dem  Täufer  als  dem  Praecnrsor  Christi  in  gratuitis 
in  Parallele  gestellt  zu  werden,  und  ein  Albertus  Magnus  be- 


428  XYll.   Die  Hochblüte  der  Scholastik. 

trachtet  ihn  als  den  höchsten  Gipfel  aller  menschlichen  Weis- 
heit: natura  Jiunc  hominem  posuit  quasi  rcyulam  vcrifatis,  in 
qua  summam  inteJlecfus  htimani  2)erfectionem  denionstravit, 
während  auch  Dante  ihn  als  den  niaesfro  di  color  die  sanno 
bezeichnet. 

2.  Leben  und  Werke  des  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino. 

Die  Anerkennung  der  aristotelischen  Philosophie  als  der 
Regel  und  Norm  für  alle  durch  die  menschliche  Vernunft  er- 
reichbaren Wahrheiten  und  als  der  nicht  mehr  überbietbaren 
Summe  aller  weltlichen  Weisheit ,  wie  sie  sich  unter  den  er- 
wähnten Kämpfen  mit  der  kirchlichen  Orthodoxie  endlich  durch- 
gesetzt hatte,  führte  zu  einer  Weltherrschaft  dieses  Philo- 
sophen über  das  geistige  Leben  der  Menschheit,  wie  sie  in' 
der  Geschichte  der  Philosophie  ohne  Beispiel  dasteht,  wie  sie 
der  Kulmination  der  mittelalterlichen  Scholastik  im  13.  Jahr- 
hundert die  Grundlage  darbot  und  in  ihren  Nachwirkungen 
nahezu  vier  Jahrhunderte  hindurch  bestand,  bis  erst  um  das 
Jahr  1600  der  Sturz  des  Aristoteles  aus  der  Höhe  auch  den 
Sturz  Aer  ganzen  Scholastik  besiegelte. 

Diese  Hochblüte  der  mittelalterlichen  Scholastik  und  da- 
mit die  so  lange  ersehnte  und  endlich,  wie  man  glaubte,  glück- 
lich erreichte  Versöhnung  von  Glauben  und  Wissen,  Offen- 
barung und  Vernunft,  war  nach  dem  weniger  erheblichen 
Vorgang  anderer,  welche,  wie  namentlich  Alexander  von 
Haies  (geboren  zu  Glocester,  gestorben  1245  zu  Paris),  welcher 
in  seiner  S^inima  thcologiae  den  Aristoteles  nur  zum  weitern 
Ausbau  seines  theologischen  Systems  benutzt  hatte,  das  Ver- 
dienst zweier,  ihr  ganzes  Jahrhundert  überragender  und  als 
Lehrer  und  Schüler  eng  verbundener  Männer,  des  Deutschen 
Albertus  Magnus  und  des  Italieners  Thomas  Aquinas,  als 
deren  Blütezeit  wir  die  Jahre  1230  und  1260  festhalten  können. 
Ihre  Lehrsysteme  sind  so  nahe  verwandt,  dafs  es  zweckmäfsig 
erscheint,  sie  zu  einer  gemeinsamen  Darstellung  zu  verknüpfen, 
nachdem  wir  vorher  über  das  Leben  und  die  Schriften  dieser 
beiden  denkwürdigsten  Erscheinungen  der  mittelalterlichen 
Scholastik  das  Nötigste  in  der  Kürze  beigebracht  haben 
werden. 


2.  Leben  und  ^yerke  des  Albertus  ]\Iagnus  und  Thomas  von  Aquino.     429 

Albertus,  aus  dem  edlen  Geschlecht  derer  von  Bollstedt, 
wurde  geboren  1193  zu  Lauingen  an  der  Donau  unterhalb 
Ulm,  wo  er  in  dem  elterlichen  Schlosse  die  erste  Erziehung 
erhielt.  Unter  Leitung  eines  Oheims  zog  er,  19  Jahre  alt, 
nach  Padua,  um  die  artcs  liberales  zu  studieren,  und  hier  be- 
stimmten ihn  die  Predigten  des  Ordensgenerals  Jordanus  zum 
Eintritt  in  den  Dominikanerorden.  Er  wurde  zu  seiner  weitern 
Ausbildung  in  der  Theologie  an  die  berühmte  Universität  Bo- 
logna und  einige  Jahre  darauf  nach  Köln  geschickt,  um  an 
der  dortigen  Ordensschule  die  urtes  liberales  zu  lehren,  sowie 
über  Aristoteles,  die  Bibel  und  die  Sententiarum  libri  Vor- 
lesungen zu  halten.  Von  Köln,  als  seinem  bleibenden  Aufent- 
haltsort, wurde  er  vielfach  bei  Begründung  neuer  Dominikaner- 
schulen zu  Hildesheim,  Strafsburg,  Freiburg  i.  B.  und  Regens- 
burg verwendet,  lehrte  auch  in  Paris,  wohin  er  geschickt  war, 
um  im  Kloster  St.  Jacques  die  Studien  zu  organisieren,  und 
mufste  seine  Vorträge  oft  im  Freien  halten,  da  kein  Gebäude 
grofs  genug  war,  die  Zahl  der  Zuhörer  zu  fassen.  Unter  nicht 
weniger  grofsem  Zulaufe  lehrte  er  seit  1248  als  Regens  und 
Primarius  lector  wieder  zu  Köln,  während  der  Volksmund  ihm 
wiegen  seiner  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  übernatür- 
liche Kräfte  andichtete.  Er  wurde  1254  zum  Orden sprovinzial 
ernannt,  organisierte  als  solcher  die  wissenschaftlichen  Studien 
in  den  ihm  unterstellten  Klöstern,  kam  als  Magister  Palatii 
nach  Italien,  wo  er  zu  Anagni  (zwischen  Rom  und  Neapel) 
vor  dem  Papste  die  Sache  der  Bettelorden  verteidigte,  und 
wurde  1260  vom  Papste  Alexander  IV.,  trotz  seines  Wider- 
strebens, zum  Bischof  von  Regensburg  ernannt,  von  wo  er 
drei  Jahre  später  als  nunmehr  Siebzigjähriger  sich  in  sein 
geliebtes  Kloster  zu  Köln  zurückzog.  Hier  verbrachte  er, 
als  Boctor  universalis ,  in  wissenschaftlicher  Arbeit  und  von 
seinen  Zeitgenossen  geehrt,  den  Abend  seines  Lebens,  bis  er 
1280  im  Alter  von  87  Jahren  starb.  Neben  seinem  praktischen 
Wirken,  der  Organisation  der  Klöster,  dem  Schlichten  von 
Streitigkeiten  zwischen  dem  Erzbischof  von  Köln  und  der 
Bürgerschaft  usw.  entfaltete  Albertus  Magnus  eine  erstaunliche, 
auf  alle  Zweige  des  damaligen  Wissens  sich  erstreckende 
literarische  Tätigkeit.     Seine   zu  Lyon  1651  herausgegebenen 


430  XVII.    Die  Hücliblüte  der  Scholastik. 

Schriften  füllen  21  Foliobände,  von  denen  Band  1 — 6  Kom- 
mentare zu  den  logischen,  physischen,  metaphysischen,  psycho- 
logischen und  ethischen  Schriften  des  Aristoteles,  wie  auch  die 
Abhandlnng  De  Unit afe  intelledus  contra  Äverroem,  Band  7 — 11 
exegetische  Schriften  über  die  Psalmen,  Propheten,  Evangelien, 
Band  12  Predigten,  Band  13  den  Kommentar  zum  Areopagita, 
Band  14 — IG  zu  den  Sentenzen,  Band  17 — 18  die  Summa  tJico- 
lof/iae,  Band  19 — 21  vermischte  Schriften  enthalten.  Von  seinen 
philosophischen  Anschauungen  wird  unten  die  Rede  sein. 

Thomas  Aquinas  wurde  geboren  1225  auf  dem  Schlosse 
Roccasecca  bei  Aquino  zwischen  Rom  und  Neapel  als  ein 
jüngerer  Sohn  des  Grafen  Landulf,  eines  Verwandten  der 
hohenstaufischen  Kaiserfamilie.  Mit  fünf  Jahren  wurde  er  den 
Benediktinern  auf  dem  benachbarten  Monte  Cassino  zur  Er- 
ziehung übergeben,  bezog,  frühreif,  schon  mit  elf  Jahren  die 
Universität  zu  Neapel,  liefs  sich  dort,  erst  sechzehn  Jahre  alt, 
gegen  den  Wunsch  seiner  Familie  für  den  Dominikanerorden 
gewinnen  und  wurde  von  diesem,  um  ihn  dem  Einflufs  der 
Familie  zu  entziehen,  nach  Paris  geschickt,  aber  unterwegs  in 
Oberitalien  von  seinen  beiden  im  Lager  des  Kaisers  weilenden 
Brüdern  abgefangen  und  in  die  Heimat  zurückgeführt.  Hier 
in  Verwahrung  gehalten,  widerstand  er  den  durch  seine  Brüder 
an  ihn  herangebrachten  Versuchungen,  entkam  mit  Hilfe  seiner 
Schw^estern  nach  Neapel,  wo  er  das  Mönchsgelübde  ablegte 
und  von  den  Dominikanern  nach  Köln  zu  Albertus  Magnus 
geschickt  wurde,  der  seine  grofsen  Gaben  erkannte,  ihn 
1245 — 1248  mit  sich  nach  Paris  nahm  und  nach  ihrer  ge- 
meinsamen Rückkehr  nach  Köln  ihn  zum  JSIagistcr  studiorum 
ernannte.  Als  solcher  wurde  er  nach  Paris  berufen,  ver- 
teidigte zusammen  mit  seinem  Lehrer  in  Italien  die  Bettel- 
orden und  wirkte,  nach  Paris  zurückgekehrt,  dort  bis  1261 
als  hochgefeierter  Lehrer,  ohne  von  der  Milde  und  Demut  ab- 
zugehen, welche  in  dem  ihm  beigelegten  Ehrennamen  eines 
Doctor  angelicus  einen  passenden  Ausdruck  fand.  Vom  Papste 
1261  nach  Rom  berufen,  lehnte  er  die  ihm  zugedachten  kirch- 
lichen Auszeichnungen  standhaft  ab,  kehrte  nochmals  für  zwei 
Jahre  nach  Paris  zurück  und  folgte  sodann  dem  Rufe  seines 
Ordens  zur  Übernahme  eines  Lehramtes  in  Neapel,  wo  er  mit 


"2.  Leben  und  Werke  des  Albertus  Magnus  und  Tboiuas  von  Atiuino.     431 

den  höchsten  Ehrenbezeigungen  empfangen  wurde.  Nicht 
lange  darauf  wurde  er,  schon  krank  und  schwach,  1274  zur 
Beschickung  des  Kirchenkonzils  von  Lyon  erwählt,  starb  aber 
auf  der  Reise  dorthin,  ehe  er  noch  Rom  erreicht  hatte,  im 
Zisterzienserkloster  zu  Fossanuova.  Albertus  Magnus,  welcher 
seinen  Schüler  überlebte,  erklärte  ihn  für  ein  „Licht  der  Kirche", 
und  diese  ehrte  sein  Andenken  dadurch,  dafs  er  von  Papst 
Johann  XXIL  im  Jahre  1322  heilig  gesprochen  wurde.  —  Die 
^^'erke  des  Thomas  sind  oft  herausgegeben  worden,  zuerst 
Rom  1570,  dann  Venedig  1594  in  17  Foliobänden,  in  folgender 
Anordnung:  Band  1 — 5  enthalten  die  Kommentare  zu  aristote- 
lischen Schriften  über  Logik,  Physik,  Psychologie  und  Ethik, 
Band  6 — 7  den  Kommentar  ad  Fetri  Lonibardi  sententias.  Band  8 
Quuestioves  disputatae  über  verschiedene  philosophische  The- 
mata, Band  9  die  Summa  contra  gentiles,  Band  10 — 12  die  Summa 
iheologiae,  Band  13 — 16  Kommentare  zu  Büchern  des  Alten  und 
Neuen  Testaments  und  Band  17  das  Compendinm  fheologiae  und 
andere  Opuscula.  —  Die  Hauptschriften  des  Thomas  sind  in 
historischer  Reihenfolge  1.  Commentarius  ad  Pefri  Lomhardi 
seyitentiarum  Jihros  quattuor,  welcher  die  theologischen  Streit- 
fragen behandelt,  2.  die  vier  Bücher  De  vcrifate  fidei  catholicae 
contra  gentiles,  welche  die  theologischen  Dogmen  durch  die 
Vernunft  begründen  und  gegen  nichtchristliche  Systeme  ver- 
teidigen, und  3.  die  unvollendet  gebliebene  Ä^rw^na  thcologiae,  eine 
systematische  Darstellung  der  gesamten  christlichen  Dogmatik. 

3.  Das  Lelirsystem  des  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino. 

Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino,  als  Lehrer 
und  Schüler  mit  einander  eng  verbunden,  sind  die  Schöpfer 
eines  grofsen,  in  seiner  Art  imposanten  theologisch-philosophi- 
schen Lehrsystems,  durch  welches  man  die  lange  gesuchte 
und  sehnsüchtig  erstrebte  endgültige  Versöhnung  der  Bedürf- 
nisse des  religiösen  Gemüts  mit  den  unabweisbaren  Forde- 
rungen der  Vernunft  und  Wissenschaft  erreicht  zu  haben 
glaubte.  Dafs  dieser  Glaube  an  ein  dauerndes  Bündnis  zwischen 
Theologie  und  Philosophie  eitel  gewesen  war,  sollten  für  die 
Einsichtigen  schon  das  nächste,  für  alle,  nicht  Verblendete, 
die  ihm  folgenden  Jahrhunderte  beweisen,  —  dafs  aber  das 


432  XVII.   Die  Hochblüte  der  Scholastik. 

damals  und  noch  so  oft  in  der  Folge  vergeblich  erstrebte  Ziel 
nur  und  allein  erreichbar  ist  auf  dem  Wege  des  Kantischen, 
erst  von  Schopenhauer  in  seiner  vollen  Bedeutung  erkannten 
und  in  seine  Konsequenzen  fortentwickelten  Idealismus  mög- 
lich ist,  welcher  innerhalb  der  empirischen  Realität  den  im 
Materialismus  kulminierenden  Naturwissenschaften  freie  Hand 
läfst,  und  doch  im  Reiche  der  Dinge  an  sich  Freiheit,  Un- 
sterblichkeit und  eine  göttliche  Welt  als  wissenschaftlich  be- 
gründet nachweist,  das  glauben  wir  in  dem  ersten,  der  Philo- 
sophie der  Bibel  gewidmeten  Teile  dieses  Bandes  zur  Evidenz 
gezeigt  zu  haben. 

Albert  und  Thomas  zeigen  in  ihren  Lehren  eine  so  durch- 
gängige Verwandtschaft,  verhalten  sich  so  sehr  zu  einander 
als  der  bahnbrechende  Begründer  und  der  abschliefsende 
Vollender  eines  einheitlichen  Lehrsystems,  dafs  wir  die  meisten 
Lehren  in  ermüdender  Weise  zweimal  vortragen  müfsten, 
wollten  wir,  wie  es  gewöhnlich  geschieht,  jeden  dieser  Männer 
für  sich  behandeln,  was  besonders  bei  Albert  wegen  der  Un- 
geschlossenheit  seiner  Anschauungen  kein  in  sich  zusammen- 
stimmendes Bild  ergeben  würde.  Wir  ziehen  es  daher  vor, 
die  Lehrmeinungen  des  Albert  und  Thomas  in  der  abgeklärtem 
Form  zu  behandeln,  welche  ihnen  erst  Thomas  von  Aquino 
gegeben  hat,  werden  die  Abweichungen  des  Albert  vcn  diesem 
vollendeten  Ganzen  gehörigen  Orts  hervorheben,  vergessen 
aber  dabei  nie,  dafs  der  deutsche  Forscher  dieses  System  in 
allen  seinen  Teilen  durch  seine  Bearbeitung  der  aristotelischen 
Philosophie  begründet  hat,  und  dafs  ohne  einen  Albertus 
Magnus  ein  Thomas  von  Aquino  unmöglich  gewesen  sein 
würde.  Wir  werden  dieses  gröfste  Lehrsystem  des  Mittel- 
alters in  sechs  Punkten  behandeln,  welche  über  1.  die  Quellen, 
2.  die  Universalienfrage,  3.  die  Theologie,  4.  die  Kosmologie, 
5.  die  Psychologie  und  6,  die  Ethik  die  wesentlichsten  Lehren 
des  Albertus  und  Thomas  vorführen  sollen. 

1.  Die  Quellen  des  Systems.  Ofienbarung  und  Ver- 
nunft, d.  h.  im  Sinne  unserer  beiden  Meister,  Bibel  und  Aristo- 
teles sind  die  beiden  (Quellen,  aus  denen  alle  Weisheit  ihnen 
zufliefst.  Der  Wahlspruch  des  Anselm:  crech  vi  intdligam-, 
gilt  auch  ftir  sie,   aber  in  anderm  Sinne  als   bei  Anselm  und 


3.  Das  Lehrsystcni  des  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino.     433 

seinen  Zeitgenossen.  Waren  sie  bemüht  gewesen,  das  ganze 
Dogma  des  Christentums  Vernunft mäfsig  zu  konstruieren,  so 
werden  von  Albert  und  Thomas  gewisse  sogenannte  Mysterien 
des  Christentums,  namentlich  die  Trinität,  die  Inkarnation 
und  die  Auferstehung  des  Fleisches,  als  nur  durch  die  Offen- 
barung erweisbar,  der  philosophischen  Forschung  entzogen; 
sie  sind  übervernünftig,  jedoch  auch  nicht  widervernünftig, 
man  kann  von  ihnen  nur  beweisen,  dafs  sie  den  Anforderungen 
der  Vernunft  nicht  widersprechen. 

2.  Die  Universalienfrage.  Der  alte  Streit  zwischen 
Realismus  und  Xominalismus  ward  von  unsern  beiden  Philo- 
sophen in  dem  Sinne  geschlichtet,  dafs  sie  den  Universalien 
eine  dreifache  Existenz  zusprechen;  sie  sind  universalia  coite 
res  als  die  schöpferischen  Gedanken  im  Geiste  Gottes,  nni- 
versalki  in  rebus,  sofern  diese  Gedanken  in  den  erschaffenen 
Dingen  als  deren  formae  suhstantiaJcs  oder  quidditates  ihre 
Verwirklichung  gefunden  haben,  und  sie  sind  universalia  post 
res,  sofern  sie  vom  denkenden  Menschengeiste  aus  den  An- 
schauungen auf  dem  Wege  der  Abstraktion  als  die  Begriffe 
herausgezogen  werden. 

3.  Die  Theologie.  Nicht  das  Mysterium  der  Trinität, 
wohl  aber  die  mit  ihr  zusammen  bestehende  Einheit  Gottes 
kann  aus  der  Vernunft,  d.  h.  aus  dem  Aristoteles  bewiesen 
werden,  dessen  Begriff  von  Gott  als  dem  Inbegriff  aller  reinen 
Formen  von  dem  biblischen  allerdings  noch  sehr  weit  entfernt 
ist.  Immerhin  war  das  aristotelische  Argument,  dafs  alles 
Werden  ein  Übergang  vom  potentiellen  zum  aktuellen  Sein  ist, 
ein  solcher  Übergang  aber  nur  möglich  ist  durch  ein  vorher- 
bestehendes aktuelles  Sein,  für  unsere  beiden  Philosophen 
brauchbar.  Sie  führen  daher  unter  Ablehnung  des  Anselm- 
schen  ontologischen  Beweises,  gegen  welchen  ihr  gesunder 
Sinn,  wie  auch  das  Fehlen  dieses  Beweises  bei  Aristoteles 
Bedenken  erhebt,  den  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  nur 
a  posteriori,  d.  h.  durch  das  kosmologische  Argument,  welches 
dann  namentlich  von  Thomas  nach  mehreren  Seiten  aus- 
einandergelegt wird :  es  müsse  einen  ersten  Beweger  geben, 
die  Kette  der  Ursachen  und  Wirkungen  könne,  wäe  er  meint, 
nicht  ins  Unendliche  zurückgehen,  und  das  Zufällige,  worunter 

Deussex,  Geschichte  der  Philosophie.     II.ii,  2.  •  28 


434  XVII.    Die  Hochblüte  der  Scholastik. 

er  das  empirisch  Existierende  versteht,  erfordere  als  seine 
Ursache  ein  „schlechthin  notwendiges"  Wesen,  —  ein  ün- 
be^riff,  da  Notwendigsein  nichts  anderes  bedeutet  als  aus 
einem  bestimmten  Grunde  folgen,  somit  nie  etwas  schlechthin 
notwendig  sein  kann.  Hieran  schliefst  Thomas  das  physico- 
Üieologische  Argument;  das  unbewufst  zweckmäfsige  Wirken  in 
der  Xatur  kann  er  sich  nicht  anders  erklären  als  durch  die  An- 
nahme eines  planmäfsig  und  nach  Zwecken  wirkenden  W^elt- 
schöpfers,  welcher  auch  das  Böse  und  das  Übel  zuläfst,  weil 
•er  es  im  Dienste  des  Guten  zu  verwenden  weifs.  Schon  für 
Thomas  ist  Gott  das  ens  perfeciissimum .  der  Inbegriff  aller 
Vollkommenheiten,  nicht  aber  der  Inbegriff  aller  Eealität,  weil 
diese  Vorstellung  zur  Auffassung  Gottes  als  forma  universalis 
im  Sinne  des  Aristoteles  oder  auch  als  einer  maieria  iiniver- 
salis,  in  beiden  Fällen  aber  zur  Ketzerei  des  Pantheismus 
führen  würde. 

4.  Kosmologie.  Da  Aristoteles  die  mit  der  biblischen 
Schöpfurigslehre  unvereinbare  Ewigkeit  der  AVeit  lehrt,  so 
mufste  hier  von  ihm  abgegangen  und  zu  einer  dem  Piaton 
sich  nähernden  Anschauung  gegriffen  werden,  nach  welcher 
die  Welt  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  entstanden-  sein,  mit 
diesem  Zeitpunkte  aber  auch  die  Zeit  selbst  angefangen  haben 
soll.  Der  Anfanglosigkeit  der  Zeit  setzt  schon  Albert  das 
feine  Argument  entgegen,  dafs  bei  dieser  Annahme  der  gegen- 
wärtige Augenblick  nie  hätte  herankommen  können,  da  eine 
unendliche  Vergangenheit  nie  zu  Ende  gehen  konnte.  Ein 
Unendliches  kann  allerdings,  wie  Kant  zeigt,  nie  als  ein  fertiges 
Ganzes  gegeben,  es  kann  nur  aufgegeben  sein,  und  be- 
deutet nicht  einen  regrcssus  in  infinitum.  sondern  nur  in  indeßni- 
tum.  Schon  bei  Thomas  findet  sich  der  Leibnizische  Gedanke, 
dafs  Gott  unter  allen  möglichen  Welten  die  beste  ausgewählt 
habe.  Die  völlige  Abhängigkeit  dieser  Welt  von  Gott  folgt 
für  ihn  aus  seinem  Gottesbegriffe,  aber  die  zeitliche  Schöpfung 
ex  nihilo  hält  er  nur  aus  der  Offenbarung,  nicht  der  Philo- 
sophie für  erweisbar,  doch  soll,  wie  er  meint,  auch  das  Gegen- 
teil sich  philosophisch  nicht  erweisen  lassen.  In  der  Ansicht 
vom  Weltgebäude  folgt  Thomas  der  aristotelischen,  durch 
Ptolemäus  modifizierten  Theorie,  welche   ihm  durch  Boethius 


3.  T>as  I.t'hrsysttMii  dos  Albertus  Majinus  und  Thomas  von  Aqiiiiio.     435 

oder  andere  bekannt  sein  konnte.  Um  die  im  Mittelpunkt 
festliegende  Erde  drehen  sich  die  Planeten  und  der  Fixstern- 
liimmel,  angetrieben  durch  bewegende  Kräfte,  ob  aber  diese 
■durch  Gott  oder  durch  die  Engel  als  suhstantiae  separatae  im 
Gange  gehalten  werden,  läfst  er  unentschieden.  Die  Engel 
sind  von  Gott  vor  der  \\'elt  als  stofFlose  Wesen  erschaffen; 
da  ihnen  die  Materie  als  das  principiuin  individuationis  fehlt, 
so  sind  sie  nicht  eigentlich  individua,  sondern  jeder  eine  species 
für  sich:  ü'if  sunt  spceics,  qiiot  sni/t  hnlividua;  ihre  Wohnung 
ist  die  neunte  und  letzte  Sphäre,  das  inimuni  mohile  und  das 
Empyreum. 

5.  Psychologie.  In  der  Psychologie  bot  unsern  Scho- 
lastikern Aristoteles  eine  höchst  willkommene,  wenn  auch  zu 
modifizierende,  Grundlage,  Ihre  psychischen  Vermögen  sind 
nur  die  Übersetzungen  der  von  Aristoteles  angenommenen. 

Aristoteles:  i        Albert  und  Thomas: 

-,         ,  .    f  TCO'.-rir'.xc-r  I     ■  ^  77    ,       f  activus 

Mensch:      vG'jr<      ^  ,  uiteUectus  { 

'  1  T.oCi:ri~v/.oi  1  [  passivus. 


Tier:     |  {  !=  ^^J-'^"^''       .    ^ 

IXTV/CV,    X.'.vr^T'.XCV 


vis  sensitiva,  1 

appctitiva.  motiva     \ 
^  L_ / 


Pflanze:    tc  ~^zT.z':/,i'K   \ 


■^       ~  : r~7 ^ 


vis  nutritiva. 


Mit  Aristoteles  bezeichnen  unsere  Scholastiker  die  niedern 
Seelenkräfte  als  die  Entelechie  des  Leibes,  weichen  aber  darin 
von  ihm  ab,  dafs  sie  behaupten,  diese  niedern,  uns  mit  den 
Tieren  und  Pflanzen  gemeinsamen  Kräfte  bedürften  des  Leibes 
nur  um  zu  wirken,  nicht  aber  um  zu  existieren,  und  ^zeigen 
hierin  einen  anerkennenswerten  Fortschritt  über  den  Aristoteles 
hinaus,  welcher  Anschauen  und  Denken  gewaltsam  auseinander- 
gerissen hatte,  nur  die  Vernunft  für  unsterblich  erklärte  und 
die  Funktionen  des  Anschauens,  auf  welchen  alles  Denken  be- 
ruht, sowie  die  des  Willens,  in  denen  der  eigentliche  Kern 
der  Seele  liegt,  im  Tode  der  Vergänglichkeit  hatte  anheim- 
fallen lassen.  Im  Gegensatz  zu  ihm  erklären  unsere  Philo- 
sophen die  ganze  Seele  für  unsterblich,  Albert,  vermöge  ihrer 
Gemeinschaft  mit  Gott,  Thomas,  weil  sie  immateriell  und 
daher  unzerstörbar  sei.     Der  Schwierigkeit,   dafs  dann  auch. 

28* 


436  XVII.   Die  Hochblüte  der  Scholastik. 

die  Tierseelen  unsterblich  sein  müfsten,  begegnet  Thomas 
durch  die  Behauptung,  dafs  im  Gegensatz  zu  ihnen  heim 
Menschen  die  niedern  Seelenkräfte  durch  den  Zutritt  des  In- 
tellekts eine  Art  Umwandlung  erfahren  und  dadui;ch  an  seiner 
Unsterblichkeit  teilnehmen;  sie  bilden  den  Embryo,  worauf 
dann  der  Intellekt  von  aufsen,  wie  schon  Aristoteles  sagte, 
d.  h.  durch  göttliche  Schöpferkraft,  wie  Thomas  dies  erklärt^ 
hinzutritt  und  die  niedern  Kräfte  an  seiner  unsterblichen  Natur 
teilnehmen  läfst.  Der  Intellekt  gewinnt  die  seinem  Wesen 
verwandten  formae  suhstantialcs  nur  durch  Abstraktion  aus 
der  sie  enthaltenden  Anschauung,  es  gibt  keine  angeborenen 
Ideen,  so  wenig  wie  es  eine  Präexistenz  der  Seele  gab,  ehe 
sie  von  Gott  in  jedem  Individuum  geschaffen  wurde.  Gott  ist 
nach  Thomas  gleichsam  die  Sonne,  der  Intdlcdus  activus  das 
von  ihr  ausgehende  Licht,  der  lutclledns  passivus  das  Auge, 
welches  dieses  Licht  empfängt. 

Hatte  Averroes  nur  dem  einen,  allen  Menschen  gemein- 
samen intdlcctus  activus  die  Unsterblichkeit  vindiziert  und 
damit,  wenn  auch  verschleiert,  die  individuelle  Unsterblichkeit 
aufgehoben,  so  erklären  unsere  Philosophen  dieses  für  einen 
error  ahsiirdus,  wie  Albert,  einen  error  iinlccentior.  wie  Thomas 
sagt;  Albert  setzt  in  seiner  auf  Befehl  des  Papstes  Alexander  IV. 
'1255  verfafsten  Abhandlung  De  unitate  intcUectus  contra  Äver- 
roistas  den  30  Argumenten  des  Averroes  36  Gegenargumente 
entgegen,  und  Thomas  zeigt,  wie  nach  der  Theorie  des  Aver- 
roes alle  Menschen  dasselbe  denken  müfsten ,  und  wie  mit 
der  individuellen  Vernünftigkeit  auch  der  individuelle  Wille 
und  mit  ihm  die  Moralität  in  die  Brüche  gehen  müfste. 

6.  Ethik.  Die  erheblichste  Differenz  zwischen  unsern 
beiden  Meistern  liegt  in  ihrer  Behandlung  des  Problems  der 
Willensfreiheit.  Nach  Albertus  ist  der  Wille  des  Menschen 
frei,  und  es  liegt  nur  an  ihm,  sich  für  das  Gute  oder  das 
Böse  zu  entscheiden.  Zwar  ist  die  menschliche  Natur  durch 
den  Sündenfall  der  ersten  Eltern  verderbt,  aber  einen  gött- 
lichen Funken  fscintillaj  hat  sie  sich  bewahrt,  welcher  öuvtt,- 
pTjCic,  „die  Bewahrung",  mifsbräuchlich  auch  c•y>hr^^'^^clc  von 
den  Scholastikern  genannt  und  vom  Gewissen  fcotiscientiaj 
zu    unterscheiden    ist;    das   Gewissen   ist   der  Richter  in  uns 


3.  Das  Lelirsystem  des  Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquino.     4o7 

über  Gutem  und  Bösem,  die  s!/)itcresis  ist  die  Kraft,  die  uns 
geblieben  ist,  das  Gute  zu  vollbringen  und  das  Böse  zu  meiden. 
Die  Vermutung,  dafs  cuvTVjpvjC!.?  ein  verlesenes  a\J^dhr^alZ  sei, 
ist  daher  nicht  annehmbar.  In  Alberts  Tugendlehre  tritt  die 
für  das  Verfahren  der  Scholastik  charakteristische,  äufser- 
liche,  mechanische  Zusammenklitterung  des  griechischen  und 
biblischen  Denkens  besonders  grell  hervor,  sofern  er  an  die 
vier  Kardinal tugenden  der  Alten,  Weisheit,  Tapferkeit,  Mäfsig- 
keit  und  Gerechtigkeit,  die  drei  sogenannten  christlichen 
Tugenden,  Glaube,  Liebe  und  Hoffnung,  einfach  anhängt; 
erstere  sind  virtntes  acquisitac.  können  auch  durch  eigene  An- 
strengung erworben  werden,  letztere  virtutes  infusae  und 
werden  durch  den  Heiligen  Geist  uns  eingeflöfst.  Von  dieser 
stattlichen  Siebenzahl  können  wir  nur  zwei  als  echte  Tugenden 
anerkennen,  denn  Weisheit,  Tapferkeit  und  Mäfsigkeit,  so 
schätzbar  sie  sind,  können  zum  Guten,  aber  auch  zum  Bösen 
verwendet  werden,  der  Glaube  als  ein  Fürwahrhalten  ohne 
zureichende  Begründung  ist  eher  das  Gegenteil  einer  Tugend, 
und  die  Hoffnung  ist  ein  Kind  des  Egoismus,  dessen  Be- 
zähmuno;  und  schliefsliche  Vernichtuno;  das  Ziel  aller  wahren 
lielisrion  ist.  Es  bleiben  also  als  echte  Tugenden  nur  übrig 
die  Gerechtigkeit,  welche  den  Egoismus  so  weit  bändigt, 
dal's  er  sich  enthält,  den  Andern  zu  schädigen,  und  die  Liebe 
(dxazT]),  welche  eigene  Opfer  bringt,  um  dem  Andern  in  seiner 
Kot  zu  helfen  und  zur  völligen  Entsagung  ohne  äufsern 
Zweck  als  dem  Gipfel  aller  Tugend  hinüberleitet.  —  Kompli- 
zierter als  die  Ethik  des  Albertus  ist,  nicht  zu  ihrem  Vorteile, 
die  des  Thomas  von  Aquino;  auch  er  übernimmt  die  Zu-, 
sammenaddierung  der  vier  heidnischen  und  drei  christlichen 
Tugenden  zur  Siebenzahl,  zieht  aber  die  aristotelische  Unter- 
scheidung der  ethischen,  die  rechte  Mitte  haltenden  Tugenden 
von  den  höherstehenden  dianoetischen  mit  herein,  wozu  bei 
ihm  noch  die  plotinische  Unterscheidung  von  bürgerlichen, 
reinigenden  und  vollendenden  Tugenden  fvirtutcs  politicae, 
purgatoriae  und  exemplaresj  hinzukommt.  Das  Endziel  des 
Menschen  besteht  in  der  Gottähnlichkeit,  die  Gottähnlichkeit 
in  der  Vollkommenheit,  und  diese  bewirkt  die  wahre  Glück- 
seligkeit. Jedes  Wesen  strebt  nach  Glückseligkeit  notwendiger- 


438  XYII.    Die  Hochblüte  der  Scliulastik. 

weise  und  wird  zum  Handeln  durch  diejenigen  Motive  deter- 
miniert, welche  ihm  dazu  die  zweckmäfsigsten  zu  sein  scheinen. 
So  auch  der  Mensch,  nur  dafs  er  vermöge  der  Vernunft  das 
Bewufstsein  hat,  |nach  dem  stärksten  Motiv  mit  Notwendig- 
keit zu  handeln,  und  in  diesem  Bewufstsein  liegt  seine  Frei- 
heit. So  wird  der  schöne  Name  der  Freiheit  gerettet,  während 
Thomas  im  Grunde  dem  vxyn  den  arabischen  Philosophen  über- 
kommenen Determinismus  huldigt. 

i.   Die  Scholastik  in  poetischer  Verklärung-. 

Wenn  wir  von  Indien  und  dem  fernem  Osten  absehen, 
deren  Kultur  ihren  besondern  Weg  gegangen  ist,  so  lassen 
sich  in  der  Entwicklung  des  Abendlandes  ganz  im  allgemeinen 
vier  Hauptperioden  unterscheiden,  die  griechisch-römische 
Welt,  das  Mittelalter,  die  Renaissance  und  die  Neuzeit.  Jedes 
dieser  Zeitalter  hat  nicht  nur  seine  eigentümliche  Philosophie 
hervorgebracht,  sondern  die  gütige  Natur  hat  auch  jedem 
derselben  einen  alle  andern  überragenden  Dichtergenius  ge- 
schenkt, welcher,  wie  es  im  Hamlet  heifst,  der  Natur  ihren 
Spiegel  vorzuhalten  und  „dem  Jahrhundert  und  Körper  der 
Zeit  den  Abdruck  seiner  Gestalt  zu  zeigen"  bestimmt  war, 
der  antiken  Zeit  den  Homer,  welcher,  schon  an  ihrer  Ein- 
gangspforte wie  eine  Leuchte  aufgerichtet,  sie  bis  zum  Ende 
hin  überstrahlt  und  mit  seinem  Geiste  erfüllt,  dem  Mittelalter 
den  Dante,  in  dessen  Dichtung  sich  der  ganze  Geist  der 
Scholastik  mit  den  durch  sie  der  Menschheit  angelegten  gei- 
stigen Fesseln  widerspiegelt,  der  Renaissance  den  Shake- 
speare, in  welchem  der  Mensch  diese  Fesseln  abgeworfen 
hat  und  wieder,  wie  im  Altertum,  der  Natur  und  ihren  Reali- 
täten rein  gegenübersteht,  und  der  Neuzeit  unsern  Goethe, 
der  in  seinen  mannigfachen  Dichtungen  die  vielverzweigten 
Interessen  der  modernen  Welt  wie  in  einem  Brennpunkte  zu- 
sammenfafst.  In  diesem  Sinne  verdient  nach  Besprechung 
der  Hochblüte  der  Scholastik  die  unmittelbar  nach  ihr  um 
1300  p.  C.  auftretende  Gestalt  des  Dante  eine  kurze  Erwähnung. 

Dante  (eigentlich  Durmüc)  Alighieri  wurde  geboren  zu 
Florenz  1265.  Auf  seine  ideale  Jugendliebe,  die  der  Neun- 
jährige zu  der  um   ein  Jahr  Jüngern  Beatrice  fafste,  bezieht 


4.   Die  Scholastik  in  poetischer  Veikläruiig.  4;;9 

sich  seine  Dichtung  La  vita  nnova:  dafs  er  eine  gelehrte  Bil- 
dung erhielt  oder  sich  selbsttätig  aneignete,  ergibt  sich,  wenn 
es  auch  nicht  sicher  überliefert  ist,  aus  seinem  Hauptwerke. 
Er  wurde  1300  als  Prior  in  den  Rat  der  Stadt  Florenz  se- 
wählt  und,  da  er  zu  der  Partei  der  Weifsen  hielt,  1302  von 
Karl  von  Valois  unter  Androhung  der  Todesstrafe  verbannt. 
Er  verliefs  seine  Vaterstadt,  um  sie  nie  wiederzusehen,  irrte 
seitdem  oft  in  kümmerlichen  Verhältnissen  in  Italien  umher, 
hielt  sich  vorübergehend  in  Verona,  vielleicht  auch  in  Bologna 
und  Padua  auf  und  fand  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens 
eine  Zuflucht  in  Ravenna,  wo  er  1321  gestorben  ist. 

Das  grofse  Hauptwerk  Dantes,  von  ihm  selbst,  weil  der 
Ausgang  ein  glücklicher  ist,  nach  dem  Brauch  der  damaligen 
Zeit  Conimed/'a,  von  der  bewundernden  Nachwelt  La  diviva 
Commech'a  genannt,  wurde  von  ihm  der  Hauptsache  nach  in 
seinen  letzten  Lebensjahren,  1313 — 1321,  verfafst,  ist  in  der 
kunstvollen  Form  von  Terzinen  gedichtet  und  behandelt  aufser 
dem  einleitenden  Canto  in  drei  Teilen,  Inferno,  Purgatorw  und 
Paradiso,  zu  je  33  Canti,  eine  Vision,  in  welcher  der  Dichter 
durch  die  drei  Gebiete  der  Hölle,  des  Fegefeuers  und  des 
Paradieses  geführt  wird. 

Mitten  auf  seinem  Lebenswege  findet  er  sich  verirrt  in 
einem  dunklen  Walde,  beängstigt  durch  drei  Tiere,  einen 
buntgefleckten  Panther  (lomaj,  einen  Löwen  und  eine  Wölfin, 
welche  ursprünglich  wohl  die  Sinnlichkeit,  Gewalttätigkeit 
und  Habgier  als  die  den  Menschen  in  der  Jugend,  im  Mannes- 
alter und  im  Greisenalter  anhaftenden  Hauptlaster  versinn- 
bildlichen, daneben  auch  auf  Florenz,  Frankreich  und  das 
Papsttum  gedeutet  worden  sind  und  vielleicht  gedeutet  werden 
können.  Da  erscheint  ihm  der  Schatten  des  Dichters  Virgil 
und  bietet  sich  als  Führer  an,  um  ihn  durch  die  Reiche  des 
Inferno  und  Purgatorio  zu  geleiten,  während  er  als  Heide  das 
Paradiso  nicht  betreten  darf  und  die  Führung  durch  dieses 
der  Jugendgeliebten  des  Dichters,  Beatrice,  überläfst. 

Beide  Dichter,  der  antike  und  der  mittelalterliche,  steigen 
zunächst  durch  Treppen  und  Schluchten  in  das  Inferno  herab, 
welches  sich  trichterförmig  von  der  Oberfläche  der  Erde  bis 
zu  deren  Mittelpunkt  in  neun  ringsherum  laufenden  und  immer 


440  XVII-   I'ie  Hochblüte  der  Scholastik. 

enger  werdenden  Kreisen  vertieft.  Hier  begegnen  ihnen  von 
der  Oberfläche  zum  Mittelpunkt  hin  immer  ärgere  Sünder,  im 
Vorhof  diejenigen,  welche  auf  der  Erde  ohne  Ehre  und  ohne 
Schande  gelebt  haben,  dann  in  den  neun  Kreisen  nach  unten 
zu  die  edlen  Geister  des  Heidentums,  welche  die  Taufe  nicht 
empfangen  haben,  die  ^^'ollüstigen  und  Schlemmer,  die  Gei- 
zigen und  Verschwender,  die  Zornigen  und  Rachsüchtigen, 
die  Epikureer  und  Ketzer,  die  Gewalttätigen,  die  Lügner,  Be- 
trüger und  zuletzt  die  Verräter  an  Freunden  und  Wohltätern, 
unter  ihnen  Judas  Ischarioth,  Brutus  und  Cassius,  welche  von 
den  Kinnbacken  des  Lucifer  zermalmt  werden. 

Von  Lucifer,  welcher  den  Mittelpunkt  der  Erde  einnimmt, 
steigen  Virgil  und  Dante,  dem  Lauf  eines  Bächleins  folgend, 
in  der  dem  Inferno  entgegengesetzten  Erdhalbkugel  zur  Ober- 
fläche empor,  wo  sie  ein  Greis,  Cato  von  Utica,  als  Wächter 
des  Einganges  zum  Purgatorio  empfängt.  Dieses  erhebt  sich 
als  ein  steiler  Bergkegel  in  sieben  durch  Treppen  verbundenen 
Terrassen,  auf  denen  die  Sünden  der  Hochmütigen,  Neidischen, 
Zornigen,  Lässigen,  Geizigen,  Verschwender,  Schwelger  und 
Weltlichgesinnten  gebüfst  werden.  Den  Gipfel  des  Läuterungs- 
l3erges  bildet  das  irdische  Paradies. 

Weiter  darf  Virgil  als  Träger  der  irdischen  W^eisheit  nicht 
folgen,  und  Beatrice  als  Vertreterin  der  göttlichen  Offenbarung 
übernimmt  es,  unsern  Dichter  höher  und  höher  hinauf  durch 
die  neun  den  Erdball  umkreisenden  Sphären  von  Mond,  Merkur, 
Venus,  Sonne,  Mars,  Jupiter,  Saturn,  Tierkreis,  Fixstern- 
himmel und  prinmm  mohilc  bis  zum  Empyreum  unter  mannig- 
fachen scholastischen  Belehrungen  zu  geleiten.  Hier  ver- 
schwindet Beatrice,  und  der  heilige  Bernhard  übernimmt  es, 
dem  Dichter  in  einer  mystischen  Vision  die  Anschauung  der 
Gottheit  zu  gewähren.  Auf  der  ganzen  Wanderung  durch  die 
drei  Reiche  der  Hölle,  des  Fegefeuers  und  des  Paradieses  be- 
gegnen dem  Dichter  bekannte,  oft  erst  kürzlich  verstorbene 
Persönlichkeiten,  im  Gespräche  mit  welchen  die  entarteten 
Zustände  des  Staates  und  der  Kirche  aufgedeckt  werden, 
während  namentlich  im  dritten  Teil  mannigfache  theologische 
und  philosophische  Fragen  im  Sinne  der  Scholastik  aufgeworfen 
und   beantwortet  werden,   immer   noch   durchsetzt  mit  Rück-- 


4.    Dio  Scholastik  in  iioetisclier  Verkläiung.  441 

blicken  auf  die  politischen  Verhältnisse  von  Staat  und  Kirche 
und  ihre  Verkommenheit.  Die  dogmatischen  Belehrungen 
schliel'sen  sich  am  nächsten  an  Thomas  von  Aquino,  daneben 
auch  an  Albertus  und  frühere  an.  So  werden  bei  der  durch 
die  neun  Sphären  immer  höher  hinauf  führenden  Reise  in  den 
vier  ersten  Sphären  von  Mond,  Merkur,  Venus  und  Sonne  die 
Gesetze  der  Bewegung  des  Weltalls,  die  Wirksamkeit  der 
Himmelskörper,  der  Zustand  der  Himmelsbewohner,  die  Frei- 
heit des  Willens,  das  Verdienst  und  seine  himmlische  Be- 
lohnung, der  Fall  des  Menschen,  die  Gründung  der  Kirche 
als  Rettungsanstalt,  die  Erlösung  durch  Christus  und  der  Zu- 
stand der  Seligen  nach  der  Auferstehung  des  Leibes  behandelt. 
Hieran  schliefst  sich  in  der  Sphäre  des  Mars  eine  Besprechung 
der  Zustände  in  Florenz,  in  der  des  Jupiter  und  Saturn  werden 
die  Erwerbung  des  Heils  und  die  Prädestination,  in  der  des 
Fixsternhimmels  die  drei  theologischen  Tugenden,  Glaube, 
Liebe  und  Hofihung,  in  dem  primiim  mobile  die  Erschaflung 
und  der  Fall  der  Engel,  im  Empyreum  die  Prädestination  in 
Hinsicht  auf  die  als  Kinder  Gestorbenen  behandelt,  bis  schliefs- 
lich  die  Mysterien  der  Trinität  und  Inkarnation  nicht  durch 
Belehrung,  sondern  durch  unmittelbare  Anschauung  in  Bildern 
mitsreteilt  werden. 


XVHI.   Auflehnungen  gegen  das  Prinzip  der 
Scholastik. 

].  YorbemerkungOD. 

In  dem  grofsen,  von  Albert  begründeten,  von  Thomas  zur 
Vo'llendung  gebrachten  theologisch -philosophischen  System 
glaubte  man,  und  glauben  kurzsichtige  Gemüter  noch  heute, 
die  so  lange  vergeblich  ersehnte  und  endlich  mühsam  erreichte 
Versöhnung  zwischen  den  Ansprüchen  der  Wissenschaft  und 
den  Forderungen  des  religiösen  Gemüts  gefunden  zu  haben. 
Eine  solche  Versöhnung  mufs  möglich  sein,  da  die  Natur  nur 
eine  und  mit  sich  einstimmig  ist,  somit  auch  die  Wahrheiten 
sich  nie  widersprechen  können,  aber  erreichbar  ist  diese  Ver- 
söhnung   nur    auf  dem   einen   Wege   des   indisch -platonisch- 


442  XYIII.    Aoflelinungen  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik. 

kantischen  Idealismus,  welcher  die  Welt  für  blofse  Mäyä, 
sl'SoAa,  Erscheinung  erklärt,  ohne  welche  Erkenntnis  wir  un- 
weigerlich dem  vollständigen  Materialismus  verfallen:  out 
Kayitiamsmus.  a>if  Matcrkdismus.  Von  dieser  Erkenntnis  war 
allerdings  das  Mittelalter  noch  weit  entfernt,  und  so  konnte 
das  von  ihm  gestiftete  Bündnis  zwischen  religiöser  und  philo- 
sophischer Wahrheit  oder,  richtiger  gesagt,  zwischen  Bibel 
und  Aristoteles  keinen  Bestand  haben,  und  kaum  waren  Albert 
und  Thomas  vom  Schauplatze  abgetreten,  als  sich  schon  nach 
drei  Richtungen  hin  die  Symptome  des  Verfalls  der  Scholastik 
ankündigten,  indem  das  Prinzip,  auf  welchem  sie  sich  auf- 
baut, von  verschiedenen  Seiten,  erstlich  durch  die  Willens- 
lehre des  Duns  Scotus,  sodann  durch  die  Mystik  des  Meister 
Eckhart  und  endlich  durch  die  von  William  von  Occam  ge- 
wagte Erneuerung  des  Nominalismus  durchlöchert  und  unter- 
miniert wurde. 

1.  Die  Scholastik  war  nichts  weniger  als  vernunftfeind- 
^ich;  sie  verlangte  den  Glauben,  aber  sie  wollte  auch  erkennen, 
was  sie  glaubte :  credo  ut  inteUigam  war  ihr  ^^'ahlspruch,  den 
sie  in  ihrer  ersten  Periode  vollständig,  in  ihrer  zweiten  mit 
Ausschlufs  der  sogenannten  Mysterien  geltend  machte,  und 
auch  von  diesen  glaubte  sie  beweisen  zu  können,  dafs  sie 
wenigstens  nicht  vernunftwidrig  seien.  Diese  ganze  Basis, 
auf  welcher  das  System  des  Thomas  aufgebaut  war,  wurde 
erschüttert  durch  das  Auftreten  des  Franziskanermönches 
Duns  Scotus,  welcher  schon  im  tiefen  Mittelalter  den  Satz 
aussprach:  volnntas  est  super ior  intellectu.  und  erklärte,  dafs 
es  nicht  darauf  ankomme,  die  göttlichen  Dinge  mit  dem  In- 
tellekt zu  erfassen,  sondern  vielmehr  darauf,  den  eigenen 
Willen  dem  göttlichen,  in  der  Kirche  verkörperten  Willen  zu 
unterwerfen. 

2.  Der  Neuplatonismus,  welcher  bestrebt  gewesen  war, 
auf  ekstatischem  Wege  eine  unmittelbare  Einswerdung  mit 
Gott  zu  erreichen,  war  zwar  von  der  Kirche  verworfen  und 
unterdrückt  worden,  glimmte  aber  wie  ein  heimliches  Feuer 
unter  der  Asche  fort  und  brach  in  hellen  Flammen  wieder 
aus  in  der  schimsten  Erscheinung  der  mittelalterlichen  Philo- 
sophie, in  der  Mystik  des  Meister  Eckhart,  welche  zwar 


1.    Vorbemorkungen.  44o 

auch  auf  intellektuellein  ^^'ege,  aber  in  ganz  anderer  Weise 
als  Albert  und  Thomas  alles  irdische  Sein  in  seiner  Nichtig- 
keit zu  erkennen  und  sich  über  dasselbe  unmittelbar  zu  dem 
Gefühl  der  völligen  Einheit  mit  Gott  zu  erheben  suchte.  „Freut 
euch  mit  mir,  Herr,"'  sagte  zu  Eckhart  seine  geistige  Tochter, 
„ich  bin  Gott  geworden ! " 

3.  Nachdem  der  Nominalismus  infolge  des  unseligen  Ein- 
falles des  Kanonikus  Roseellin,  ihn  auch  auf  die  Trinität  an- 
zuwenden (oben  S.  381  fg.j,  um  allen  Kredit  gekommen  M-ar, 
herrschte  die  folgenden  Jahrhunderte  hindurch  der  Realismus, 
und  er  ist  für  die  Methode  der  Forschung  im  Mittelalter  ebenso 
wesentlich,  wie  es  für  unsere  Forschung  der  Nominalismus  ist. 
Wir  gehen  in  unserer  Wissenschaft  von  dem  in  der  An- 
schauung vorliegenden  Tatsächlichen  aus,  beobachten  das- 
selbe, fassen  diese  Beobachtungen  zusammen  und  gelangen, 
auf  induktivem  Wege  aufsteigend,  zu  speziellen  und  durch 
sie  zu  allgemeinen  Sätzen  und  Begriffen,  welche  für  uns  nur 
Wert  und  Bedeutung  haben,  sofern  sie  den  in  der  Natur  ge- 
gebenen Inhalt  zusammenfassen.  Diese  uns  so  selbstverständ- 
lich erscheinende  Methode  war,  bis  auf  wenige  Ausnahmen, 
dem  Mittelalter  abhanden  gekommen;  von  Autoritäten  ge- 
gängelt, war  der  menschliche  Geist  in  eine  Krankheit  ver- 
fallen, welche  man  als  Naturblindheit  bezeichnen  könnte.  Wer 
das  hieraus  entspringende  Verfahren  aus  der  Anschauung 
kennen  lernen  möchte,  braucht  nur  nach  Indien  zu  gehen, 
welches  in  geistiger  Hinsicht  noch  heute  auf  dem  Standpunkt 
des  Mittelalters  steht;  man  trifft  dort  scharfsinnige  und  ge- 
lehrte Männer,  welche  jedoch  unfähig  sind,  die  Sache  selbst 
ins  Auge  zu  fassen,  vielmehr  immer  ausgehen  von  den  alten 
geheiligten  Autoritäten,  um  an  der  Hand  ihrer  Aussprüche 
alles  Einzelne  zu  entwickeln.  Sie  stellen  eine  Frage  auf 
fvishayaj ,  über  welche  sich  ein  Zweifel  fsarnrai/aj  erhebt,  es 
wird  Meinung  fpürvapalshaj  und  Gegenmeinung  futtara- 
pül\sliaj  erwogen,  die  erstere  in  ihrer  Unhaltbarkeit  nach- 
gewiesen, die  letztere  als  Resultat  (siddhäniaj  festgehalten  und 
in  ihrer  Erstreckung  fsafigaffj,  d.  h.  in  den  Konsequenzen, 
welche  ihr  anhängen,  verfolgt.  Überraschend  ähnlich  war  die 
Methode  bei  uns  im  Mittelalter.     In  den  allgemeinen  Sätzen, 


444  XVIII.    Aiit'lehnungen  gegen  das  l'rinzip  der  Scholastik. 

wie  sie  in  Bibel  und  Aristoteles  fertig  vorlagen,  glaubte  man 
den  Inbegriff  aller  Wahrheit  zu  besitzen  und  aus  ihnen  durch 
Aufstellung  des  Pro  und  Contra,  Widerlegung  des  einen  und 
Festhalten  des  andern  alles  Einzelne  mittels  des  syllogistischen 
Verfahrens  entwickeln  zu  können.  Diese  ganze  Methode  ruht 
auf  der  Voraussetzung,  dafs  die  allgemeinen  Sätze  und  Begriffe 
(die  universalia)  ursprünglicher  sind  als  das  aus  ihnen  abzu- 
leitende Einzelne  (die  /tö),  somit  auf  einem  dem  mittelalter- 
lichen Denken  in  Fleisch  und  Blut  übergegangenen  Realismus. 
Dieser  ganzen,  im  Realismus  wurzelnden  Methode  des  Mittel- 
alters wurde  der  Boden  entzogen,  wenn  man  es  wagen  durfte, 
den  geächteten  Nominalismus  wieder  in  seine  Rechte  einzu- 
setzen, wie  dies,  nach  dem  minder  erheblichen  Vorgange  an- 
derer, durch  den  Engländer  William  von  Occam  geschah, 
nachdem  soeben  noch  die  syllogistische  Methode  des  Mittel- 
alters in  Albert  und  Thomas  ihre  höchste  Vollendung  er- 
reicht hatte. 

2.  Die  Willenslehre  des  Duns  Scotus. 

Der  Ruhm  des  durch  Männer  wie  Albert  und  Thomas 
vertretenen  Dominikanerordens  erregte  die  Eifersucht  des  an- 
dern Bettelordens,  der  Franziskaner,  welche  sich  in  mancherlei 
Bemängelungen  der  thomistischen  Lehre  kundgab.  Alle  diese 
Gegensätze  fanden  ihre  Zusammenfassung  und  ihren  schärfsten 
Ausdruck  in  dem  Leben  und  Wirken  eines  nicht  weniger  als 
jene  beiden  Dominikaner  aufserordentlichen  Mannes,  des  Jo- 
hannes Duns  Scotus,  nach  den  Beinamen  zu  schliefsen,  aus 
Dunston  in  England  oder  Duns  in  Schottland  oder  Dun  in 
Irland  (Scotia  major)  stammend.  Da  er  schon  1308  starb 
und  nach  einigen  nur  42,  nach  andern  gar  nur  37  Jahre  alt 
geworden  ist,  so  würde  sein  Geburtsjahr  auf  1265  oder  1274, 
das  Todesjahr  des  Thomas,  anzusetzen  sein,  dessen  System 
durch  Duns  zwar  nicht  den  Todesstofs,  aber  doch  eine  starke 
Erschütterung  seiner  Grundlagen  erlitten  hat.  Seine  Erziehung 
erfuhr  Duns  in  Oxford,  soll  sich  besonders  auch,  ähnlich  wie 
später  Descartes,  für  die  Mathematik  interessiert  haben,  trat 
in  den  Franziskanerorden  ein,  wurde,  erst  23  Jahre  alt,  also 
mutmafslich  1297,  Professor  der  Theologie  in  Oxford,  von  wo 


•J.    IHp  ^VitlensloIlre  des  Diins  Scotus.  445 

sich  der  Ruhm  seiner  Lehrtätigkeit  als  des  Doctor  .whfüis, 
wie  ihn  seine  Anhänger  nannten,  so  schnell  auf  dem  Kontinent 
verbreitete,  dafs  er  1301  als  Lehrer  nach  Paris  berufen  und 
von  dort  1308  von  seinem  Orden  nach  Köln  geschickt  wurde, 
wo  er  jedoch  noch  in  demselben  Jahre  starb.  Ungeachtet 
seines  kurzen  Lebens  hat  er  eine  ganze  Reihe  von  Schriften 
verfafst,  welche  in  der  Gesamtausgabe,  Lyon  1639,  nicht 
weniger  als  12  Foliobände  füllen,  von  denen  Band  1  Gram- 
matisches und  Logisches,  Band  2  Untersuchungen  zur  Physik 
und  Psychologie  des  Aristoteles,  Band  3  metaphysische  und 
andere  Abhandlungen,  Band  4  Expositionen  über  die  Meta- 
physik des  Aristoteles,  Band  5 — 10  den  grofsen  Kommentar 
zu  den  Sentenzen  des  Petrus  Lombardus,  Band  1 1  die  Repor- 
tata  Parisiensia,  Band  12  die  Quaestiones  quodlibetales  enthält. 
Duns  Scotus  nimmt  in  der  christlichen  Scholastik  .eine 
ähnliche  Stelle  ein  wie  Al-Ghazel  in  der  arabischen  Philosophie. 
,  Wie  dieser  verbindet  er  orthodoxe  Strenggläubigkeit  mit  einem 
weitgehenden  philosophischen  Skeptizismus,  wodurch  er  sich 
in  einen  durchgehenden  Gegensatz  gegen  Thomas  stellt.  Zwar 
in  der  Frage  der  Universalia  lehrt  auch  er,  dafs  sie  ante  res 
im  Geiste  Gottes,  in  rebvs  als  die  formae  snbstanfiales  oder 
quiddHates  und  post  res  als  Begriffe  bestehen,  bestreitet  aber, 
dafs  die  Materie  das  priticipinm  individuatiotns  sei,  und  ver- 
langt, damit  aus  der  quiddüas  das  Individuum  werde,  noch 
ein  besonderes  zu  ihr  hinzutretendes  formales  Prinzip,  von 
seinen  Nachfolgern  die  haeccciias  genannt,  wie  er  denn  über- 
haupt erst  im  Individuum  das  Vollkommene  und  das  Ziel  der 
Schöpfung  sieht,  wodurch  er  sich  schon  in  merklicher  W>ise 
einer  nominalistischen  Auffassung  annähert.  Dem  Aristoteles 
steht  er  freier  als  Thomas  gegenüber  und  hat  nicht  so  sehr 
wie  dieser  das  Interesse,  ihn  mit  der  Bibel  zusammenzubiegen, 
wodurch  er  in  vielen  Punkten  den  Aristoteles  richtiger  auf- 
fafst,  als  es  dem  Thomas  möglich  war.  Versteigt  er  sich 
doch  sogar  in  den  Reportata  Parisiensia  zu  der  Behauptung, 
dafs  ein  Satz  philosophisch  wahr  und  doch  theologisch  falsch 
sein  könne,  wodurch  er  dann  schon  in  bedenklicher  Weise  an 
die  spätere  Lehre  von  der  doppelten  Wahrheit  anstreift.  In 
der  Theologie  hält  er  streng  an  allem  fest,  nicht  nur  was  die 


446  XVUI.   Auflehnungen  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik. 

Bibel,  sondern  auch  was  die  Kirche  in  Konzihen  und  päpst- 
lichen Dekretahen  lehrt,  wie  er  denn  sogar  ein  eiiriger  Ver- 
fechter der  Absurdität  der  conceptio  immaculata  ist.  Während 
Albert  und  Thomas  den  Avicebron  bekämpfen,  schliefst  sich 
Duns  in  mehr  als  einem  Punkte  an  dessen  Föns  vitae  an: 
„cgo  autem  ad  positionem  Avicembronis  redco^'-.  Dafs  er  eif- 
riger Gegner  der  Juden  ist,  hindert  ihn  dabei  nicht,  da  er 
den  Avicebron  für  einen  arabischen  Philosophen  hält.  Wie 
dieser  mit  dem  Neuplatonismus,  so  nimmt  Duns  mit  ihrti  an, 
dafs  auch  schon  die  Ideen  eine  Art  Materie  haben  müssen, 
ohne  Zweifel  in  dem  richtigen  Gefühl,  dafs,  wie  schon  öfter 
hervorgehoben  wur^e,  die  Ideen  zwar  raumlos,  aber  doch 
schon  raumartige  Gebilde  sind,  eine  Zwitterstellung,  welche 
daraus  entspringt,  dafs  das  raumlose  Ding  an  sich,  der  Wille, 
um  in  Raum  und  Zeit  zu  erscheinen,  sich  ihnen  anpafst,  in- 
dem er  sich  zu  räumlichen  und  zeitlichen  Formen  gliedert, 
worin  eben  das  Wiesen  der  Ideen  besteht.  Der  Föns  vitae  ^ 
(Mekor  cJiajjimJ,  die  Quelle,  aus  der  alles  Leben  fliefst,  ist 
nach  Avicebron.  wie  oben  (S.  422)  gezeigt  wurde,  der  gött- 
liche Wille,  und  diese  Lehre  dürfte  wohl  die  Anregung 
dafür  gegeben  haben,  dafs  Duns  Scotus  schon  im  dunkeln 
Mittelalter  und  im  Gegensatz  zu  Thomas  die  grofse  Wahr- 
heit aussprach  und  psychologisch  wie  metaphysisch  durch- 
führte: vohwtas  est  superior  intelleciu.  Während  Thomas  dem 
Intellekt  den  Primat  über  den  Willen  zuerkennt,  der  sich  mit 
Notwendigkeit  unter  den  vom  Intellekt  dargebotenen  Vor- 
stellungen für  diejenige  entscheidet,  welche  der  Verstand  für 
die  beste  hält,  eine  Lehre,  deren  unvermeidliche  Folgen  De- 
terminismus und  Prädestination  sind,  so  ist  nach  Duns  der 
Wille  das  Primäre,  steht  den  Vorstellungen  des  Intellekts 
frei  gegenüber  und  entscheidet  sich  für  die  eine  oder  andere 
nach  eigener  Wahl.  Da  der  Mensch  die  imago  Bei  ist,  so 
kann  von  den  psychologischen  Verhältnissen  des  Menschen 
via  emincutiae  auf  das  Wesen  Gottes  geschlossen  werden, 
welcher  im  übrigen  nicht  mit  Anselm  a  priori,  sondern  nur 
a  posteriori  aus  den  Werken  der  Schöpfung,  und  auch  aus 
■ihnen  nur  annäherungsweise  erkannt  werden  kann.  Seine  All- 
macht sowie  die  Schöpfung  aus  Nichts  und  die  unsterblich- 


2.   Die  NVillonslehrc  de^  Duns  iScotus.  447 

keit  sind  philosophisch  nicht  erweisbar  und  müssen  geglaubt 
werden.  \\'ohl  aber  dürfen  wir  annehmen,  dafs  die  psychi- 
schen Eigenschaften.  Wille  und  Intellekt,  in  eminentem  Sinne 
auch  der  Gottheit  zukommen,  und  dafs  auch  bei  ihr  das  Pri- 
märe der  Wille  sei.  Gott  hat,  wie  Duns  sagt,  die  Welt  nicht 
gewollt,  weil  sie  die  beste  ist,  sondern  sie  ist  die  beste,  weil 
Gott  sie  gewollt  hat.  Daher  sind  die  Schöpfung  wie  auch  das 
ganze  Erlösungswerk  Christi  von  Gottes  Wille,  richtiger  ge- 
sagt, von  seiner  Willkür  abhängig,  und  Christi  Tod  hat  nicht 
durch  sich  selbst  die  Welt  erlöst,  sondern  nur,  weil  Gott  ihn 
als  Genugtuung  für  die  Sünden  der  Menschen  acceptiert  hat 
(Acceptilationstheorie).  Ebenso  steht  es  mit  dem  ethischen 
Werte  der  menschlichen  Handlungen.  Es  gibt  keine  perseitas 
honi,  das  Gute  ist  nicht  ^icr  se,  d.h.  an  sich  gut,  sondern 
nur  weil  Gott  es  gewollt  hat,  und  hätte  Gott  den  Mord  oder 
«in  anderes  Verbrechen  gewollt,  so  würde  damit  dieses  Ver- 
brechen eben  das  Gute  sein.  Die  höchste  Aufgabe  des  Men- 
schen ist  nicht  die  Erkenntnis,  sondern  die  Unterwerfung  des 
eigenen  Willens  unter  den  göttlichen,  welches  für  Duns  das- 
selbe bedeutet  wie  die  gehorsame  Unterwerfung  unter  die 
Autorität  der  Kirche. 

Eine  interessante  Parallele  läfst  sich  zwischen  Duns  Scotus 
und  Kant  ziehen.  Beide  halten  die  Vernunft  für  unzulänglich, 
das  Göttliche  zu  erkennen,  sind  im  Theoretischen  Skeptiker, 
und  beide  weisen  uns  auf  das  Praktische  als  dasjenige  Gebiet 
hin,  auf  welchem  wir  die  höchsten  Aufschlüsse  gewinnen 
können.  Hier  liegt  aber  auch  der  Unterschied.  Nach  Kant 
ist  das  positiv  Gegebene  die  Pflicht,  und  Religion  ist  An- 
erkennung unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote;  nach  Kant 
ist  eine  Sache  von  Gott  geboten,  weil  sie  Pfhcht  ist,  nach 
Duns  Scotus  ist  sie  Pflicht,  weil  sie  von  Gott  geboten  ist, 
Kant  gründet  das  Traditionelle  auf  das  real  Gegebene,  Scotus 
das  real  Gegebene  auf  das  Traditionelle. 

3.  Die  Mystik  des  Meister  Eckhart. 
Gleich  einer   Oase  in   der  Wüste  erscheint  inmitten   der 
zwar  nicht  uninteressanten,   aber  doch,  im  Grunde  unfrucht- 
baren  Scholastik    die   deutsche  Mystik  des   Meister  Eckhart 


448  XYIII.    Auflelumngen  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik. 

und  seiner  Nachfolger,  und  wenn  sich  auch  hier  die  Fäden 
nicht  verkennen  lassen,  welche  vom  Neuplatonismus,  von 
Dionysius  Areopagita  und  Scotus  Erigena  zu  Meister  Eckhart 
hinüberleiten,  so  beruhen  dessen  Gedanken  doch  im  wesent- 
lichen auf  echter,  ursprünglicher,  intuitiver  Erkenntnis,  nur 
dafs  diese  bei  ihm  oft  genug  durch  die  Einkleidung  in  die 
hergebrachten  Formen  verdunkelt  und  entstellt  wird, 

Meister  Eckhart,  wie  ihn  seine  Zeitgenossen,  Bruder 
Eckhart,  wie  er  sich  gelegentlich  in  seinen  Predigten  nennt, 
wurde  als  Johannes  Eckhart  um  1260  zu  Hochheim  bei  Gotha 
aus  ritterlichem  Stande  geboren,  studierte  in  Köln  und  später 
in  Paris,  trat  in  den  Dominikanerorden  ein,  war  um  loW 
Prior  zu  Erfurt,  wurde  1302  in  Rom  vom  Papste  Bonifacius  YIIT. 
zum  Doktor  der  Theologie,  1304  zum  Ordensprovinzial  für  Sach- 
sen ernannt  und  1307  als  Generalvikar  beauftragt,  die  Klöster 
seines  Ordens  in  Böhmen  zu  reformieren.  Im  Jahre  1311 
finden  wir  ihn  als  Magister  legens  in  Paris,  in  der  folgenden 
Zeit  soll  er  lehrend  und  predigend  an  verschiedenen  Orten 
Deutschlands,  namentlich  1316  als  General vikar  des  Ordens- 
meisters zu  Strafsburg,  später  als  Prior  zu  Frankfurt  am  Main 
gewirkt  haben,  bis  er  1325  seinen  dauernden  Aufenthalt  in 
Köln  nahm,  wo  er  eine  grofse  Anzahl  von  Schülern,  unter 
ihnen  Johannes  Tauler  und  Heinrich  Suso,  um  sich  ver- 
sammelte. Schon  vorher  wegen  Irrlehren  in  Frankfurt  ver- 
dächtigt und  in  Venedig  verurteilt,  wurde  er  1326  durch  den 
Erzbischof  von  Köln,  Heinrich  von  Virneburg,  vor  ein  geist- 
liches Gericht  gestellt  und  am  13.  Februar  1327  gezwungen, 
in  der  Dominikanerkirche  zu  Köln  einen  bedingten  Widerruf 
zu  leisten  mit  den  Worten:  „Ich,  Magister  Eckhart,  Doktor 
der  heiligen  Theologie,  beteuere  vor  allen,  indem  ich  Gott  als 
Zeugen  anrufe,  dafs  ich  jeden  Irrtum  im  Glauben  und  jede 
Unziemlichkeit  im  W^andel  allezeit,  soweit  es  mir  möglich 
war,  verabscheut  habe,  weil  Verirrungen  dieser  Art  mit  dem 
Stande  meiner  Doktorwürde  und  meines  Ordens  unvereinbar 
waren  und  sind.  Sollte  daher  sich  irgendein  Irrtum  in  dem 
gegen  mich  Vorgebrachten  finden,  was  ich  geschrieben,  ge- 
sagt oder  gepredigt  habe,  sei  es  offen  oder  insgeheim,  wo 
und  wann   es   gewesen   sein   mag,   direkt   oder  indirekt,    aus 


3.   Die  Mystik  des  [Meister  Eckliart.  449 

maiiffolhafter  oder  verwerflicher  Einsicht,  so  widerrufe  ich  es 
hier  ausdriickhch  und  öftenthch  vor  allen  und  jedem  von  euch, 
die  ihr  für  jetzt  eingesetzt  seid,  indem  ich  es  hinfüro  ange- 
sehen wissen  will  als  nicht  gesprochen  oder  geschrieben."  — 
Zugleich  appellierte  er  an  den  päpstlichen  Stuhl,  starb  aber 
noch  in  demselben  Jahre  und  ehe  die  Entscheidung  der  Kurie 
eintraf.  Zwei  Jahre  darauf  wurden  durch  die  päpstliche  Bulle  In 
coena  Domini  28  Sätze  Eckharts  teils  als  ketzerisch,  teils  als 
mifsverständlich  verurteilt.  —  Ungeachtet  dieser  Verdammung 
durch  die  römische  Kirche  erwies  sich  Meister  Eckharts  Lehre 
in  weiten  Kreisen  des  deutschen  Volkes  als  lebendig  fort- 
wirkend. In  erster  Linie  trugen  dazu  zwei  persönliche  Schüler 
des  Meisters  bei,  Johannes  Tauler  (1300 — 1361),  welcher 
als  berühmter  Prediger  in  Strafsburg  tätig  war,  und  Heinrich 
Suso  (1300  —  1365)  aus  Konstanz,  der  besonders  auch  als 
Dichter  für  die  Verbreitung  der  Gedanken  Eckharts  wirkte. 
Noch  mehr  trug  dazu  ein  anonymes  Büchlein  bei,  welches 
im  14.  Jahrhundert  im  Frankfurter  Hochstift  entstanden  ist, 
von  Luther  entdeckt,  sehr  hochgeschätzt  und  unter  dem  Titel 
,,Theologia  deutsch"  herausgegeben  wurde.  Von  Vertretern 
dieser  Richtung  im  Auslande  mag  es  genügen,  den  nach 
seinem  Heimatsdorfe  Ruisbroek  bei  Brüssel  Johann  Ruis- 
broeck  (1293 — 1381)  genannten  Prior  des  Klosters  Grünthal 
bei  Brüssel  zu  erwähnen.  Bei  allen  diesen  erscheinen  Eck- 
harts Lehren  unter  Abschwächung  ihrer  kühnsten  Wendungen 
in  einer  der  praktischen  Erbauung  dienenden,  aber  keine 
innere  Fortbildung  zeigenden  Form. 

Von  den  in  lateinischer  Sprache  verfafsten  Schriften  Eck- 
harts, welche  ein  mehr  scholastisches  Gepräge  tragen,  ist 
einiges,  namentlich  aus  dem  Opus  tripartitum,  wieder  auf- 
gefunden worden.  Viel  wichtiger  sind  seine  deutschen  Schrif- 
ten, von  denen  eine  Sammlung,  bestehend  aus  110  Predigten 
und  18  Traktaten  nebst  angehängten  Sprüchen  und  Positionen, 
von  Pfeiffer  (Leipzig  1857)  herausgegeben  ist,  nach  dessen 
Seiten  und  Zeilen  wir  zitieren.  Ist  auch  vieles  in  dieser 
Sammlung  von  zweifelhafter  Echtheit,  so  stammt  es  doch  aus 
Eckharts  Schule  und  kann  bei  Darstellung  seiner  Lehre  ohne 
Bedenken  verwendet  werden. 

Deussen,' Geschichte  der  Philosophie.     II.ii,  2.  29 


450  XVI]  1.   Auflehnunsen  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik. 

Meister  Eckhart  unterscheidet  die  Gottheit  oder  die  un- 
genaturte  Natur  von  Gott  als  der  genaturten  Natur.  Die 
erstere,  die  ungenaturte  Natur,  ist  schlechthin  einfach,  reines 
Sein,  ohne  Unterschiede,  ohne  jede  Bestimmung,  ohne  Persön- 
lichkeit, ohne  Wirken:  „f/m  gotheit  wirl'et  nihf,  si  enliut  niht 
20.  ivirJcenne,  in  ir  ist  kein  irerc^^  (S.  181,10).  Sie  ist  die  ein- 
zige Realität,  und  alles  in  der  Welt  ist  nur  real,  soweit  jenes 
reine  Sein  in  ihm  vorhanden  ist,  welches  das  Wesen  der 
Gottheit  ausmacht,  Sie  ist  unerkennbar,  denn  in  ihr  ist  weder 
Subjekt  noch  Objekt.  Um  sich  zu  offenbaren,  tritt  sie  in 
Subjekt  und  Objekt  aus  einander,  in  die  jipwTTj  stsjücttjc,  wie 
die  Neuplatoniker  sagen,  in  Vater  und  Sohn,  wie  Eckhart  im 
Anschlufs  an  die  christliche  Trinitätslehre  sich  ausdrückt. 
Hiermit  geht  die  Gottheit  über  in  Gott,  die  ungenaturte  Natur 
wird  zur  genaturten;  der  Vater  ist  das  Subjekt;  das  Objekt, 
in  welchem  er  sein  ganzes  Wesen  „ausspricht",  ist  das  gött- 
liche Wort,  ist  der  Sohn;  und  das  Band,  welches  beide  ver- 
bindet, die  Minne  zwischen  Vater  und  Sohn,  ist  der  Geist. 
In  dem  Sohn  hat  der  Vater  sein  ganzes  Wesen  ausgesprochen, 
er  ist  der  Inbegriff  aller  Realität,  und  alles,  was  an  den  Dingen 
real  ist,  das  ist  in  dem  Sohne  und  mit  dem  Sohne  von  Gott 
ausgesprochen  worden:  „Da^  ewige  tvort  ist  daz  wort  des  vater 
lind  ist  sin  einhorn  sun,  unser  Herre  Jesus  Kristus.  In  dem 
liät  er  ges2)roche)f  alle  crcatüren  äne  anevang  und  cwe  ende'"'' 
(76,26).  Die  ganze  Welt  ist  nur  Gott  und  aufser  ihm  nichts: 
„f/er  cd  die  tvelf  ncme  mit  gote,  der  enhete  niht  nie  denne  oh  er 
gof  allei)w  liete'-'-  (136,28).  Dieses  Aussprechen  Gottes  in  seinem 
Sohne  und  in  allen  Kreaturen  ist  eine  in  dem  Wesen  Gottes 
T3egründete  Notwendigkeit,  ist  daher  kein  zeitlicher  Akt,  son- 
dern ist  so  ewig  wie  Gott  selbst;  sein  Wesen,  und  mit  ihm 
das  Wiesen  aller  Dinge,  ist  ewige  Gegenwart:  ,^Das  nu,  da 
got  die  icelt  inne  machte,  daz  ist  alse  nähe  dirre  zit,  als  daz 
iii(,  da  ich  iezuo  inne  spriche'-'-  (268,18).  Wie  die  zeitliche  Aus- 
spannung, sind  auch  die  räumliche  Ausbreitung  und  die  durch 
sie  bedingten  individuellen  Wesen  aufser  Gott  ein  blofses 
Nichts :  ,J)er  got  siht,  der  ernennet,  das  alle  creatiire  niht  sirtt'"'- 
{222,oo).  In  allen  Dingen  wird  Gott  offenbar,  aber  in  einer 
Weise,  welche  mit  Nichtigkeit  behaftet  ist.     Gott  ist  Geist, 


3.   Die  Mystik  des  Meister  Eckhart.  451 

und  daher  sind  alle  nichtgeistigen  Wesen  nur  seine  Fufs- 
stapfen;  anders  die  Seele  des  Menschen,  welche  sein  Eben- 
bild, welche  er  selbst  ist.  Den  drei  göttlichen  Personen  ent- 
sprechen im  Menschen  drei  Seelenvermögen,  das  Erkennen, 
das  Zürnen  und  das  Wollen,  welchen,  ähnlich  wie  bei  Piaton, 
drei  Haupttugenden  entsprechen,  nur  dafs  Eckhart  dafür  die 
drei  christlichen  Tugenden,  Glaube,  Hoffnung  und  Minne,  ein- 
setzt. Aufser  und  über  diesen  Seelenkräften  steht  aber  noch 
ein  Anderes,  welches  den  eigentlichen  Kern  der  Seele  bildet 
und  in  welchem  das  göttliche  Ebenbild  enthalten  ist,  das 
Funkle  in  der  Seele,  welches  auch  der  Geist  oder  das  Gemüt 
der  Seele  heifst,  „und  ist  so  lauter,  vmd  so  hoch,  und  so  edel 
in  sich  selber,  dafs  darin  keine  Kreatur  sein  mag,  sondern 
nur  Gott  allein  wohnt  darin  mit  seiner  blofsen  göttlichen 
Natur".  Dieses  Fünklein  macht  das  eigentliche  Wesen  der 
Seele  oder,  wie  Eckhart  sagt,  das  Haupt  der  Seele  aus:  Daz 
fiivheJi,  daz  ist  diu  veriiiiftikeit,  daz  ist  daz  houbct  der  sele; 
daz  heizet  der  man  der  sele  und  ist  alse  mere  alse  ein  fünJcelin 
yötlicher  näture  und  ein  götlich  Hellt,  ein  sein  und  ein  mgetrucket 
bilde  götUeher  näture  (109,12).  Der  funke  der  sele  ist  ein  lieht 
götl'icher  glicheit ,  daz  sich  alle  zit  uf  got  neiget  (480,32).  Diu 
sele  heizit  iiuch  ein  Vaiihen  (Funken)  götUcher  oder  himlischer 
näture  und  daz  flieget  sich  icol  zuo  den  worteti,  daz  diu  sele 
von  näti(re  ze  dem  himele  geliocre  (246,14,  vgl,  405,24).  — 
Zu  den  drei  Seelenkräften  verhält  sich  dieses  Fünklein  wie 
zu  der  genaturten  Natur  die  ungenaturte,  wie  zu  Vater,  Sohn 
und  Geist  die  Gottheit:  daz  ist  der  funke,  der  ist  gote  als 
nähe,  daz  er  ist  ein  einig  ein  ungescheiden  unde  daz  bilde  in 
sich  treit  aller  crcaturen  sunder  bilde  und  über  bilde  (286,18). 
Sivenne  aber  cdliu  bilde  der  sele  abgescheiden  werdent  unde  si 
alleine  schouivet  daz  einig  ein,  so  rindet  daz  blöze  ivesen  der 
svlc  daz  blöze  formelose  wesen  gotlicher  einkeit,  daz  da  ist 
ein  überivcsende  ivesen,  lidende,  ligende  in  ime  selben  (318,12). 
Die  völlige  Einheit  und  Wesensidentität  dieses  innersten 
Grundes  der  Seele  mit  dem  eigentlichen  Wesen  der  Gott- 
heit ist  der  Grundgedanke,  wie  der  indischen  und  neuplato- 
nischen, so  auch  der  Eckhartschen  Metaphysik  und  findet 
in  ihr  seinen  schönsten  Ausdruck:    Du  solt  alzemäle  entsinken 

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452  XVIII.    Auflehnungen  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik. 

d/ner  dhiesheit  iinde  solt  zerfliczen  in  s'tne  smesheit  unde  sol  diu 
din  in  sineni  mm  ein  min  iverden  alsc  gmdich,  das  du  mit  ime 
verstandest  eioicliche  sine  umiewordenc  istiJceit  ande  sine  ungencndc 
nUäheit  (319,18).  Dieses  Bewurstsein  der  Identität  der  Seele 
mit  der  ungenaturten  Gottheit  bezeichnet  Eckhart  als  die  Ge- 
burt des  Sohnes  Gottes  in  uns:  dar  nach,  so  volget,  das  s/n 
wesen  unde  sin  suhstancie  tinde  sin  nätiire  nun  ist.  Und  tum 
denne-  sin  suhstancie,  sin  ivesen  und  sin  nätüre  min  ist,  so  hin 
ich  der  sun  gotes  (40,17).  Dieses  Bewufstsein,  der  Sohn  Gottes 
zu  sein,  hängt  von  mehreren  Bedingungen  ab;  die  erste  ist^ 
dafs  man  sich  von  aller  Sünde  lossage,  denn  sie  ist  es,  welche 
uns  von  Gott  trennt;  die  zweite  besteht  in  der  „Abgeschieden- 
heit", man  soll  sich  abscheiden  von  allen  irdischen  Dingen 
und  zuletzt  auch  von  sich  selbst.  Es  genügt  nicht,  dals  man 
seinen  Willen  dem  göttlichen  unterwerfe,  Gottes  Wille  mufs 
xielmehr  zu  unserm  eigenen  W^illen  werden.  Wenn  des  Men- 
schen W^ille  Gottes  Wille  wird,  so  ist  das  gut;  wenn  aber 
Gottes  Wille  des  Menschen  Wille  wird,  so  ist  das  besser: 
dort  fügt  sich  der  Mensch  nur,  hier  dagegen  wird  Gott  in  ihm 
geboren.  Eine  weitere  Bedingung  dieser  Vergottung  ist  die  voll- 
ständige Gelassenheit;  der  Alensch  mufs  sich  selbst  tot  werden, 
damit  nur  Gott  in  ihm  lebt;  dann  kann  er  mit  Schwester 
Katrei  von  Strafsburg,  der  geistigen  Tochter  Eckharts,  wie 
schon  oben  erwähnt  wurde,  sagen:  hcrre,  vreirct  iuch  mit  mir, 
ich  hin  got  worden!  (465,1).  Zu  diesem  Zustande  gelangt  die 
Seele  zwar  unter  Mithilfe  der  Gnade,  aber  doch  vermöge  der 
ihr  unverlorenen  Freiheit  des  Willens;  sie  ist  zwischen  Welt 
und  Gott,  zwischen  Zeit  und  Ewigkeit  gestellt  und  entscheidet 
sich  frei  für  das  Eine  oder  Andere.  Dennoch  warnt  Eckhart, 
namentlich  in  der  Predigt  IX  über  Martha  und  Maria,  vor  einem 
untätigen  Quietismus;  nicht  das  Handeln  sollen  wir  aufgeben, 
sondern  das  Handeln  aus  persönlichem  Interesse;  tugendhaft 
handeln  heifst  zwecklos  handeln,  wie  Eckhart  in  Überein- 
stimmung mit  der  Bhagavadgitä  sagt.  Hierdurch  wird  die 
Läuterung  der  Seele  von  allem  Irdischen  erreicht,  um  derent- 
willen sie  in  den  Leib  gekommen  ist  und  welche  erst  nach 
dem  Tode  vollständig  verwirklicht  werden  kann,  worauf  dann 
die  Seele   mit  dem  göttlichen  Urgründe  eins  sein  wird,   ohne 


3.   Die  Mystik  des  Meister  Eckhart.  453 

dabei  doch  ihre  Ichheit  zu  verlieren,  weil  diese  Ichheit  eben 
dasjenige  ist,  was  von  jeher  das  Göttliche  in  ihr  und  damit 
den  Kern  und  das  eigentlichste  Wesen  der  Seele  ausmachte. 

4.   Die  Erneuerung  des  Noniinalismus. 

Bibel  und  Aristoteles  waren  die  Quellen,  aus  denen  die 
Scholastik  ihre  Weisheit  schöpfte.  Sie  enthielten  in  allge- 
meinen Sätzen  die  metaphysischen  und  physischen  Grund- 
wahrheiten, aus  denen  alle  besondern  Wahrheiten  mittels  des 
oben  (S.  443  fg.)  dargelegten  syllogistischen  Verfahrens  gleich- 
sam herausgemolken  wurden.  Diese  ganze  Methode  wurzelte 
in  der  Überzeugung,  dafs  die  allgemeinen  Sätze  und  Begriffe 
der  schöpferische  und  tragende  Grund  für  alle  Einzelwahr- 
heiten seien,  dafs  das  Allgemeine  ursprünglicher,  „seiner 
Natur  nach  früher"  (izgÖTipo-}  c;t-jav.)  sei,  wie  Aristoteles  sagt, 
als  das  Einzelne,  mithin  im  Realismus.  Diese  ganze  Grund- 
anschauung und  mit  ihr  die  auf  ihr  errichteten  mittelalter- 
lichen Lehrgebäude  waren  gefährdet,  wenn  es  dem  Nominalis- 
mus gelang,  sich  durchzusetzen,  welcher  gerade  umgekehrt 
das  Einzelne  für  das  eigentlich  Wesentliche  und  Ursprüng- 
liche, alles  Allgemeine  aber  für  blofs  sekundär,  durch  Ab- 
straktion aus  dem  Einzelnen  gewonnen,  für  blofse  tcrinini, 
Signa,  praedicata,  nomina,  flatus  vocis  usw.  erklärte.  In  diesem 
Sinne  kann  man  die  Erneuerung  des  Nominalismus  als  das 
deutlichste  Anzeichen  für  den  bevorstehenden  Zusammenbruch 
der  Scholastik  und  den  Anbruch  einer  neuen  Periode  in  dem 
geistigen  Leben  der  Menschheit  bezeichnen,  einer  Periode, 
welche  allen  Autoritätsglauben  von  sich  warf,  nur  noch  auf 
die  Aussagen  der  äufsern  und  Innern  Natur  der  Dinge  lauschte 
und  nominalistisch  alle  Begriffe  für  sekundär,  für  ein  blofses 
Mittel  ansah  und  noch  heute  ansieht,  um  den  von  der  äufsern 
und  innern  Wirklichkeit  gebotenen  Inhalt  leichter  zu  über- 
sehen und  bequemer  zu  handhaben. 

Dieser  grofse  Fortschritt  erfolgte  nicht  auf  einmal,  sondern 
erst  nachdem  mancherlei  Vorzeichen  angekündigt  hatten,  dafs 
die  Zeit  für  ihn  reif  war.  Als  ein  solches  ist  das  Auftreten  des 
Engländers  Roger  Baconzu  betrachten,  welcher  allen  begriff- 
lichen Deduktionen  der  Scholastik  gegenüber  auf  die  Erfahrung 


454  XVIII.  Auflehnungen  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik. 

als  die  allein  echte  Quelle  des  Wissens  hinwies  und  schon  im 
tiefen  Mittelalter  den  grofsen  Satz  aussprach:  sine  experientia 
nihil  sufficienter  sclri  potest.  Er  wurde  geboren  1214  zu  llchester 
in  Somersetshire,  studierte  zu  Oxford  das  Trivium,  dann  zu 
Paris  das  Quadrivium,  sowie  Medizin,  Jura  und  Theologie, 
kehrte  als  Doktor  nach  Oxford  zurück  und  trat  in  den  Fran- 
ziskanerorden ein,  dem  er  durch  seine  naturwissenschaftlichen 
Neigungen  verdächtig  wurde  und  mancherlei  Anfeindungen 
erfahren  mufste.  So  ist  es  vielleicht  als  Strafe  aufzufassen, 
dafs  er  zehn  Jahre  (1257 — 12()7}  in  eine  Art  Exil  nach  Frank- 
reich geschickt  wurde,  wo  er  unter  vielen  Opfern  und  Ent- 
behrungen sein  opus  mujus,  minus  und  ttrtium  für  den  ihm 
gewogenen  Papst  Clemens  IV.  verfafste,  nach  dessen  Tode  er^ 
nach  Oxford  zurückgekehrt,  magischer  Künste  beschuldigt 
und,  wie  lange  ist  unbekannt,  in  Kerkerhaft  gehalten  wurde. 
Er  starb  1294,  ohne  bei  seinen  Zeitgenossen  die  gebührende 
Anerkennung  gefunden  zu  haben,  obgleich  er  neben  der  äufsern, 
auf  Beol)achtung  der  Natur  gerichteten  Erfahrung  eine  innere 
auf  Erleuchtung  und  Inspiration  beruhende  Erfahrung  unter- 
schied, welche  in  sieben  Stufen  (vergleichbar  den  Stufen  des 
indischen  Yoga)  auf  der  sechsten  zu  dem  Frieden  Gottes, 
welcher  höher  ist  als  alle  Vernunft,  und  auf  der  siebenten  zu 
einem  Zustande  der  Ekstase  emporführte. 

Nach  diesen  und  andern  Vorgängern,  welche  auf  die  äufsere 
und  innere  Anschauung  als  die  Quelle  aller  echten  Erkenntnis 
mehr  oder  weniger  deutlich  hingewiesen  hatten,  wagte  es,  wie 
der  ihm  beigelegte  Name  als  venerahilis  incvpior  beweist,  der 
Engländer  William,  nach  seinem  Heimatsdorfe  in  der  Graf- 
schaft Surrey  William  von  Occam  genannt,  den  Nominalis- 
mus zu  erneuern.  Sein  Geburtsjahr  ist  unbekannt;  er  studierte 
zu  Oxford  unter  Duns  Scotus,  trat  in  den  Franziskanerorden 
ein,  lehrte  später  in  Paris,  wurde  aber,  weil  er  die  weltliche 
Herrschaft  des  Papstes  heftig  bekämpfte,  von  dem  damals  in 
Avignon  residierenden  Papste  gefangen  genommen,  entkam 
1328  aus  Avignon  und  flüchtete  nach  München  zu  dem  gleich- 
falls mit  der  Kurie  zerfallenen  Kaiser  Ludwig  dem  Bayer 
(1314 — 1347),  zu  dem  er  gesagt  haben  soll:  in  me  defcndas 
gladio,   ego   te   defendam   calamo,   und   wo   er  auch   nach   der 


4.   Die  Erneuerunjj;  des  >«'ominalisnuis.  455' 

wahrscheinlichem  Annahme  im  selben  Jahre  wie  sein  kaiser- 
licher Beschützer  1347  gestorben  ist.  Seine  Bedeutung  für  die 
Geschichte  der  Philosophie  liegt  nicht  sowohl  in  seinen  zahl- 
reichen und  eingehenden  logischen  Untersuchungen,  als  viel- 
mehr in  seiner  Begründung  des  Nominalismus  durch  den  Satz^ 
dafs  nur  das  Einzelwesen,  nicht  aber  das  von  ihm  ausgesagte 
Allgemeine  Realität  habe,  da  man  nicht  vielerlei  annehmen 
dürfe,  wo  man  mit  einem  auskommen  könne:  entia  iion  sunt 
multiplicanda  praeter  necessitatem.  Er  zeigt,  wie  die  Annahme 
von  imivcrsalihus  ante  res  eine  ganze  Reihe  von  absurden 
Folgerungen  nach  sich  ziehe:  wären  die  Universalien  Sachen, 
so  könnten  sie  als  solche  doch  nicht  von  Sachen  prädiziert 
werden ,  das  Einzelding  könne  doch  nicht  ein  Aggregat  un- 
endlich vieler  Communia  sein,  jedes  Commune  würde  eines 
und  zugleich,  als  in  den  Dingen  vervielfältigt,  vieles  sein,  es 
gebe  nur  ein  uhi  und  quando,  keine  iibüas  und  quandeifds, 
nur  qiianta  und  qualia,  keine  quantitas  und  qnalitas;  die  aristo- 
telische Kategorienlehre  sei  eine  Einteilung  der  Worte,  nicht 
der  Sachen,  und  auch  im  Geiste  Gottes  seien  die  Universalia, 
ebenso  wie  im  Menschengeiste,  nur  sofern  sie  in  den  Dingen 
verwirklicht  seien  und  aus  diesen  abstrahiert  würden.  Ein 
Hauptargument,  wenigstens  ein  solches,  welches  auf  die  Zeit- 
genossen am  meisten  Eindruck  machen  mochte,  war  dabei, 
dafs  bei  der  Annahme  von  Universalien  Gott  die  Dinge  nach 
diesen  geschaffen  haben  müsse,  somit  die  Schöpfung  aus  Nichts, 
dieses  der  Kirche  so  teure  Dogma,  unhaltbar  sein  würde.  — 
üccam  ist  sich  wohl  bewufst,  dafs  sein  Nominalismus,  wie  es 
bei  Roscellin  eingetreten  war,  dem  Dogma  der  Trinität  ge- 
fährlich werden  könne,  aber  er  weifs  sich  hier  und  überall 
dadurch  aus  der  Sache  zu  ziehen,  dafs  er,  ebenso  wie  schon 
sein  Lehrer  Duns  Scotus  und  nur  noch  viel  schärfer  als  dieser, 
die  theologischen  AYahrheiten  von  den  philosophischen  unter- 
scheidet und  den  Satz  unverhohlen  ausspricht,  dafs  etwas 
theologisch  wahr  und  doch  philosophisch  falsch  sein  könne, 
womit  in  entschiedener  und  für  die  Folgezeit  verhängnisvoller 
Weise  das  Tischtuch  zwischen  Theologie  und  Philosophie 
durchschnitten  war.  Die  kirchlichen  Dogmen  sind  nach  ihm 
teils  unbeweisbar,  wie  Gottes  Existenz  und  seine  Eigenschaften, 


45(5  XYllI.    Auflelinuiigeii  gegen  das  Prinzip  der  Scholastik. 

teils  sogar  der  Vernunft  widersprechend,  wie  dies  bei  der 
Trinität,  Schöpfung,  Inkarnation  und  Transsubstantiation  der 
Fall  sei.  Aber  diese  Dogmen  seien  auch  gar  nicht  dazu  da, 
um  verstanden,  sondern  um  geglaubt  zu  werden.  Noch  ent- 
schiedener als  Duns  fordert  Occam  Unterwerfung  des  eigenen, 
auch  nach  seiner  Lehre  freien  Willens  unter  den  Willen  Gottes, 
d.  h.  der  Kirche,  lehrt  mit  ihm,  dafs  eine  Sache  nicht  gott- 
gewollt, weil  gut,  sondern  gut,  weil  gottgewollt  sei,  und  er- 
klärt sogar,  dafs  er  bereit  sei,  alles  zu  widerlegen,  was  er  be- 
hauptet habe,  sobald  die  Kirche  es  gebiete'.  Wenn  man  seinen 
Kampf  gegen  das  Papsttum  bedenkt,  so  ist  es  schwer,  an  die 
Aufrichtigkeit  dieser  Erklärung  zu  glauben. 

Es  ist  begreiflich,  dafs  1339  das  Lehren  nach  Occams 
Büchern  an  der  Pariser  Universität  verboten,  und  dafs  eben- 
daselbst im  Jahre  darauf  der  Nominalismus  als  eine  der  Kirchen- 
lehre widerstreitende  Doktrin  in  aller  Form  verworfen  wurde, 
es  ist  aber  ebenso  begreiflich,  dafs  nicht  nur  Franziskaner, 
sondern  auch  Dominikaner  und  Augustiner,  ungeachtet  des 
heftigen  Widerstandes  der  Thomisten  und  Scotisten,  in  grofser 
Anzahl  dem  die  folgenden  Jahrhunderte  beherrschenden  No- 
minalismus zufielen,  und  dafs  es  ein  vergebliches  Beginnen 
war,  wenn  1473  durch  ein  Edikt  Ludwigs  XL  alle  Lehrer  der 
Pariser  Universität  eidlich  auf  den  Realismus  verpflichtet 
wurden,  wie  denn  schon  1481  der  Nominalismus  wieder  frei- 
gegeben werden  mufste. 

Unter  den  zahlreichen  Schülern  des  Occam  nennen  wir 
nur  noch  den  vielbesprochenen  Johannes  Buridanus  (1327 
Rektor  der  Pariser  Universität),  dessen  logisches  Compendium 
supra  Summulas  scherzhaft  auch  pons  asinorwn  „Eselsbrücke" 
genannt  wurde,  während  sich  der  berühmte  Esel  des  Buridan 
in  seinen  Schriften  noch  nicht  hat  finden  lassen.  Nur  theo- 
logisch, so  soll  Buridan  gelehrt  haben,  ist  der  Wille  frei, 
philosophisch  hingegen  mufs  er  mit  Notwendigkeit  nach  dem- 
jenigen Motiv  handeln,  welches  für  ihn  das  stärkste  ist,  und 
gesetzt  den  Fall ,  dafs  ein  Esel  zwischen  einem  Bündel  Heu 
und  einem  Eimer  Wasser  stünde,  und  dafs  Hunger  und  Durst 
ihn  vollkommen  gleich  stark  nach  beiden  Seiten  zögen,  so 
müfste  der  Esel  eher  verhungern  und  verdursten,  als  dafs  er 


4.   Die  Erneuerung  des  Nominalismus.  457 

sich  dem  Heu  oder  Wasser  zuwendete.  Der  oft  gemachte 
Witz,  dafs  man  eben  ein  Esel  sein  müsse,  um  so  zu  handeln, 
weicht  der  sehr  ernsten  Frage  aus;  die  wahre  Lösung  besteht 
darin,  dafs  zwar  bei  voller  Gleichheit  der  Motive  eine  Ent- 
scheidung für  das  eine  oder  andere  unmöglich  sein  würde, 
dafs  aber  ein  solches  Gleichgewicht  wie  bei  einer  schweben- 
den Wage  nur  für  einen  Augenblick  möglich  ist,  indem  wäh- 
rend der  Wahlentscheidung  der  nie  stillstehende  Wechsel  der 
Innern  Zustände  sehr  bald  das  Übergewicht  des  einen  Motivs 
über  das  andere  herbeiführen  würde.  —  Das  Zusammenbestehen 
der  empirischen  Notwendigkeit  und  der  in  ihr  zum  Durchbruch 
gelangenden  metaphysischen  Freiheit,  welche  sich  dem 
Schema  des  empirischen  Handelns  so  weit  anpassen  mufs,  dafs 
auch  dieser  Durchbruch  als  ein  Akt  der  Notwendigkeit  er- 
scheint,  setzt  voraus  die  Kantische  Unterscheidung  des  Dinges 
an  sich  von  der  dem  Gesetz  der  Kausalität  unterworfenen  Er- 
scheinung und  war  daher  für  die  Zeit  des  Mittelalters  und 
noch  weit  über  dasselbe  hinaus  ein  unlösbares  Problem. 


XIX.   Der  Zusammenbruch  der  Scholastik. 

1.   Allsremeine  Übersicht. 

Die  Erkenntnis,  dafs  alles  begriffliche  Wissen  sekundär 
ist,  dafs  die  einzige  Quelle  aller  echten  Erkenntnis  die  un- 
ermefslich  um  uns  her  sich  ausbreitende  und  unergründlich 
in  unserm  Innern  sich  ankündigende  Natur  der  Dinge  ist,  und 
dafs  auf  diesen  beiden  Gebieten  der  äufsern  und  Innern  Wirk- 
^  lichkeit  die  grofsen«Probleme  liegen,  welche  dem  forschenden 
Menschengeist  aufgegeben  sind,  —  diese  grofse  Einsicht  war 
dem  im  Autoritätsglauben  befangenen  Mittelalter  ganz  ab- 
handen gekommen,  und  der  erste  Schritt  zu  ihr  war  die  Er- 
schütterung der  bis  dahin  herrschenden  Autoritäten,  wie  sie 
durch  die  Erneuerung  und  immer  weitere  Ausbreitung  des 
Nominalismus  vorbereitet  wurde.  Von  dieser  Erneuerung  des 
Nominalismus  als  dem  ersten  Anzeichen,  dafs  für  die  Menschheit 
ein  neues  Weltalter  im  Anzüge  war,  bis  zur  völligen  Befreiung 


458  XIX.   Der  Ziisammenbrucli  der  Scholastik. 

von  allem  Autoritätsglauben,  wie  sie  die  Bedingung  eines 
fruchtbaren  philosophischen  Fortschreitens  ist,  war  noch  ein 
langer,  durch  drei,  ja  im  gewissen  Sinne  durch  fünf  Jahr- 
hunderte sich  erstreckender  Weg,  dessen  Hauptwendepunkte 
wir  hier  kurz  verzeichnen  wollen. 

Der  erste  Schritt  zur  Befreiung  des  menschlichen  Geistes 
von  den  Fesseln,  welche  das  Mittelalter  ihm  angelegt  hatte, 
bestand  darin,  dafs  man  von  demjenigen  Aristoteles,  wie  er, 
gesehen  durch  das  Medium  arabischer  Kommentare  und  mit 
ihrer  Hilfe  erlangter  Übersetzungen,  erschien,  zurückging  auf 
den  echten  Aristoteles,  und  nicht  nur  auf  ihn,  sondern  auch 
auf  die  andern  Denkmäler  des  griechischen  Altertums,  vor 
allem  auf  den  Piaton  und  den  in  seinem  Fahrwasser  segelnden 
Neuplatonismus,  und  dieser  Rückgang  war  die  grofse  Tat  der 
Renaissance,  der  „Wiedergeburt"  des  klassischen  Altertums 
mit  dem  in  seinen  Gestalten  verwirklichten  Ideal  einer  edeln, 
freien,  nur  auf  sich  selbst  gegründeten  Menschlichkeit,  welche 
das  Vorbild  wurde  für  den  Humanismus,  der  als  Losungs- 
wort des  Tages  von  1400 — 1600  das  geistige  Leben  der  abend- 
ländischen Völker  durchdrang  und  beherrschte, 

Hand  in  Hand  mit  der  Renaissance  vollzog  sich  in  dieser 
Periode  auch  eine  LTmwandlung  auf  theologischem  Gebiete. 
Wie  die  Renaissance  auf  die  Schriften  des  klassischen  Alter- 
tums, so  ging  die  Reformation  auf  die  biblischen  Urkunden 
zurück,  schob  den  ganzen  Wust  mittelalterlicher  Traditionen 
und  Einrichtungen  beiseite  und  wollte  sich  in  Lehre  und  Leben 
nur  auf  das  reine  Gotteswort  gründen,  wie  n^ian  es  in  den 
Büchern  des  Alten  und  Neuen  Testaments  zu  besitzen  glaubte. 
Dem  Aristoteles  war  Luther  nicht  freundlich  gesinnt;  er  er- 
klärte ihn  für  „eine  gottlose  Wehr  der  Papisten".  Als  aber 
die  Reformatoren  daran  gingen,  in  protestantischem  Sinne 
Kirche  und  Schule  zu  reorganisieren,  und  Melanchthon  es  unter- 
nahm, die  erforderlichen  Lehrbücher  für  die  Schulen  herzu- 
stellen, da  wurde  er  inne,  dafs  ein  Schatz  von  Weisheit,  wie 
man  ihn  in  den  Schriften  der  Alten  besafs,  sich  nicht  ohne 
grofsen  Schaden  beiseite  schieben  lasse,  und  er  mufste  er- 
klären: „curcre  mouumcntis  Aristoidi'i  »on  posstonub",  worauf 
dann  mit  Luthers  Zustimmung;  ein  gemäfsigter  Aristotelismus 


1.  Allgemoiiie  Übersicht.  45** 

in  den  protestantischen  höhern  und  niedern  Schulen  herrschend 
Wieb,  während  in  kathohschen  Kreisen  der  Thomismus  nach 
wie  vor  als  Grundlage  festgehalten  wurde,  namentlich  in  Italien 
und  Spanien,  wo  der  Jesuit  Suarez  (geboren  zu  Granada  1548, 
gestorben  1GI7  zu  Lissabon]  in  seinen  5i  Disjuitationcs  meta- 
physicae  ein  vortreffliches  Kompendium  der  Scholastik  kurz 
vor  deren  Abtreten  vom  Schauplatze  der  philosophischen 
Forschung  lieferte. 

Die  weitere  Aufgabe  fiel  dann  der  Philosophie  zu;  sie  be- 
stand darin,  von  den  antiken  und  biblischen  Autoritäten  zurück- 
•  zugehen  auf  die  äufsere  und  innere  ^^'irklichkeit  selbst  als  die 
letzte  Quelle,  aus  welcher  ein  Piaton  und  Aristoteles  und 
ebensosehr  ein  Jesus  und  Paulus  ihre  Oßenbarungen  ge- 
schöpft hatten.  Jetzt  erst  war  der  Boden  gewonnen,  auf  dem 
ein  vorurteilsfreies  und  fruchtbares  Arbeiten  auf  physischem 
und  metaphysischem  Gebiete  möglich  war,  und  das  letzte  Er- 
gebnis dieser  Arbeit  bestand  einerseits  in  der  Erkenntnis,  dafs 
die  ganze  materielle  Welt  nur  Erscheinung,  nur  die  Aus- 
breitung eines  an  sich  raumlosen  und  zeitlosen  Inhalts  in  den 
uns  a  priori  innewohnenden  Anschauungsformen  des  Eaumes 
und  der  Zeit  ist,  und  andererseits  in  der  durch  keine  Versuche 
des  Empirismus,  so  oft  sie  angestellt  wurden  und  noch  weiter 
angestellt  werden  mögen,  zu  erschütternden  Gewifsheit,  dafs 
das  moralische  Phänomen,  der  kategorische  Imperativ  und  was 
mit  ihm  zusammenhängt,  aus  den  Gesetzen  der  Erscheinungs- 
welt schlechterdings  unerklärbar  ist  und  als  eine  „himmlische 
Stimme"  (wie  Kant  sagt]  Zeugnis  ablegt  von  einer  über  welt- 
lichen, dem  Intellekt  weislich  verschlossenen  und  nur  auf  dem 
Wege  des  moralischen  Handelns  annäherungsweise  erreich- 
baren göttlichen  Ordnung  der  Dinge. 

Bis  zu  diesem  letzten  Ziele  aller  philosophischen  Erkenntnis 
war  allerdings  von  dem  Punkte  aus,  zu  dem  wir  gelangt  sind, 
noch  ein  weiter  Weg,  und  ehe  wir  in  der  Geschichte  der 
neuern  Philosophie  den  Fortgang  der  Menschheit  in  ihrem 
gewaltigen  Ringen  um  die  ewige  Wahrheit  verfolgen  können, 
wird  es  unsere  nächste  Aufgabe  sein,  den  Zusammenbruch 
der  Scholastik  zu  betrachten,  wie  er  sich  zwischen  1400  und 
1500  durch  die  Erneuerung  des  Piatonismus,  sowie  zwischen 


460  XIX.    Der  Zusammenbnuii  der  Scholastik. 

1500  und  1600  durch  den  Sturz   des  Aristoteles  aus   der  von 
ihm  so  lange  eingenommenen  Höhe  vollendete. 

2.  Die  Erneiierung:  dos  Platonisimis. 

Die  Liebe  zu  den  Werken  des  klassischen  Altertums, 
welche  in  Italien  nie  ganz  erloschen  war,  flammte,  genährt 
durch  Dichter  wie  Dante  (1265  —  1321),  Petrarca  (1304—1374) 
und  Boccaccio  (1313 — 1375),  sowie  durch  den  wachsenden 
Wohlstand  der  Städte  aufs  neue  auf,  während  gleichzeitig  im 
Osten  das  Byzantinische  Kaiserreich  durch  die  Eroberung  der 
Türken  immer  enger  eingeschnürt  wurde  und  mit  der  Er-  * 
stürmung  von  Konstantinopel  1453  ganz  zugrunde  ging.  Schon 
vor  diesem  Ereignis,  und  noch  mehr  nach  ihm,  hatten  sich 
griechische  Gelehrte,  getrieben  durch  die  Not  der  Zeiten,  nach 
Italien  geflüchtet  und  hatten  dorthin  die  Kenntnis  der  griechi- 
schen Sprache  und  Literatur,  namentlich  auch  der  platonischen 
Schriften  gebracht,  welche,  vermöge  ihrer  metaphysischen 
Tiefe,  ihres  Kopf  und  Herz  ergreifenden  Inhalts  und  nicht  am 
wenigsten  vermöge  ihrer  künstlerischen  Form,  alsbald  an- 
fingen, den  Schriften  des  Aristoteles  in  der  Gunst  der  Zeit- 
genossen den  Rang  abzulaufen.  Es  entspann  sich  von  1400 
bis  1500  p.  0.  zunächst  in  Italien,  dann  aber  auch  nach  den 
nördlichen  Ländern  übergreifend,  ein  heftiger  Kampf  zwischen 
Piatonikern  wie  Plethon,  Bessarion,  Marsilius  Ficinus,  und 
Aristotelikern  wie  Gennadios,  Georg  von  Trapezunt  und  Theo- 
dorus  Gaza,  ein  Kampf,  welcher  mehr  und  mehr  zugunsten  des 
Piaton  ausschlug,  und  von  dem  wir  hier  nur  die  wichtigsten 
Momente  verzeichnen  wollen. 

Georgios  Gemistos  Plethon,  welcher  seinen  Beinamen 
r^a'-CTTo?,  etwa  „der  (mit  Gelehrsamkeit)  Vollgepfropfte'',  in  das 
ungefähr  gleichbedeutende,  an  ITAdcTwv  anklingende  Hatj^ov 
umwandelte,  war  geboren  1355  zu  Konstantinopel,  kam  als 
begeisterter  Apostel  Piatons  nach  Italien  und  fand  seit  1438 
Aufnahme  in  der  Republik  Florenz,  wo  das  ursprünglich  dem 
Kaufmannsstand  angehörige,  durch  seinen  Reichtum  und  sein 
Eintreten  für  die  Interessen  der  untern  Klassen  zu  höchstem 
Ansehen  gelangte  Geschlecht  der  Mediceer,  namentlich  unter 
Cosmo  de'  Medici  (1389  —  14^)4)  und  seinem  Enkel  Lorenzo 


2.   Die  KriiL'uenuig  des  Piatonismus.  4t'»l 

(1448 — 1492),  ohne  die  äursern  Formen  der  Republik  anzu- 
tasten, ähnlich  wie  vordem  Perikles  zu  Athen,  eine  Allein- 
herrschaft ausübte.  Durch  die  Vorträge  des  Plethon  für  den 
Platonismus  gewonnen,  stiftete  Cosmo  1440  zu  Florenz  die 
platonische  Akademie,  eine  freie  Vereinigung  zum  Studium 
des  Piaton,  später  unter  Marsilius  Ficinus  als  Vorsteher,  und 
gründete  1444  die  Bibliotheca  Laurentiana  mit  ihrer  un- 
schätzbaren Handschriftensammlung.  Plethon  schrieb  neben 
einer  durch  den  Patriarchen  Gennadios  verdammten  und  daher 
nur  teilweise  erhaltenen  Nctj-ov  c-j7Ypa9i]  eine  1440  verfafste 
Abhandlung:  llipl  a)v  "Apcc-oTSATjC  TTpc;  lIXaxova  hioLd^igzzoi.'.,  in 
welcher  er,  über  die  vom  Christentum  abweichenden  Lehren 
von  der  Präexistenz,  Weltseele  und  Gestirnseelen  wie  auch 
über  die  neuplatonische  Lehre  einer  zeitlosen  Weltschöpfung 
leichter  hinweggehend,  die  Einwendungen  des  Aristoteles  gegen 
die  platonische  Ideenlehre  verwarf  und  die  Ideenlehre  des 
Piaton  mit  Einschlufs  der  von  ihm  nicht  deutlich  davon  unter- 
schiedenen neuplatonischen  Fassung  als  seine  Überzeugung 
vertrat  und  mit  feuriger  Beredsamkeit  verteidigte. 

Gegen  Plethon  und  seine  dem  Heidentum  zuneigenden, 
auch  die  Entartung  der  Mönchsorden  bekämpfenden  Schriften 
erhob  sich  Georgios  Gennadios  (seit  1453  unter  Sultan 
Mohammed  Patriarch  in  Konstantinopel)  in  seiner  Schrift: 
xaTa  Töv  Hatj'Tovcc  axopLöv  iiz  'ApiCTo-SAS!,,  in  welcher  er  den 
aristotelischen  Standpunkt  verteidigte,  wie  er  denn  auch  andere 
Schriften  im  Sinne  des  Aristotelismus  teils  verfafste,  teils  aus 
dem  Lateinischen  ins  Griechische  übersetzte. 

Ein  anderer  Gegner  erstand  dem  Plethon  in  Georgios 
von  Trapezunt  (geboren  1396),  welcher  1464  in  seiner  Schrift 
Comparatio  Flatovis  et  Aristotclis  die  platonischen  und  noch 
mehr  neuplatonischen  Anschauungen  als  unchristlich  verwarf, 
den  Plethon  beschuldigte,  als  ein  zweiter  Mohammed  eine  neue 
Religion  stiften  zu  wollen,  und  dem  Aristoteles  unter  heftiger 
Polemik  gegen  den  Platonismus  den  Vorzug  gab. 

Ihm  antwortete  wiederum  Johannes  (oder  Basilius) 
Bessarion  (geboren  1403  zu  Trapezunt),  welcher  mit  dem  Kaiser 
Johannes  VII.  Palaeologus  nach  Italien  gekommen  war,  um 
1439  die  nur  kurzlebige  Glaubensunion   zu  Florenz  zu  stiften, 


462  XIX.    Der  Zusammenbruch  der  Scholastik. 

mit  seinem  Lehrer  Plethon  die  Verehrung  für  Piaton  teilte, 
später  zum  Kardinal  der  römischen  Kirche  erhohen  wurde  und 
von  einem  Kreise  anderer  Gelehrter  umgeben  zu  sein  pflegte. 
Er  lebte  zu  Bologna,  Rom,  Venedig,  dem  er  seine  Hand- 
schriftensammlung vermachte,  und  starb  1472  zu  Ravenna. 
Gegen  Georgios  von  Trapezunt  richtete  sich  die  14G9  er- 
schienene Schrift  des  Bessarion  Advcrsus  calunmiatoreni  PJa- 
ion/'s,  welche  sich  jedoch,  wie  überhaupt  das  Auftreten  dieses 
Mannes,  durch  mafsvolles  Verhalten  auszeichnete. 

Dieser  von  beiden  Seiten  mit  Leidenschaft  geführte  Streit 
hatte  zur  Folge  ein  eifriges  Studium  sowohl  der  platonischen 
als  der  aristotelischen  Schriften.  Unter  den  Aristotelikern 
verdient  besondere  Erwähnung  Theodorus  Gaza  (Sööhtygoc. 
6  l'a^'?;r),  geboren  um  1400  zu  Thessalonich,  welcher  nach  Er- 
oberung seiner  Vaterstadt  1430  nach  Italien  gekommen  war 
und  als  Professor  der  griechischen  Sprache  und  Literatur  zu 
Ferrara,  daneben  auch  zu  Rom,  Neapel  und  in  Kalabrien  wirkte. 
Er  war  ein  Gegner  des  Plethon,  doch  aber  mit  Bessarion  be- 
freundet und  hat  neben  eigenen  Arbeiten  über  den  Unterschied 
des  Piaton  und  Aristoteles  verschiedene  Schriften  des  Aristo- 
teles und  Theophrast,  namentlich  aus  dem  Gebiete  der  Natur- 
wissenschaften, ins  Lateinische  übersetzt. 

Alle  diese  Männer  übertraf,  wenn  auch  nicht  an  Bedeutung, 
so  doch  an  nachhaltiger  Wirksamkeit,  Marsilius  Ficinus, 
geboren  1433  zu  Florenz,  wo  sein  Yater  Leibarzt  des  Cosmo 
de'  Medici  war.  Er  studierte  zunächst  in  Bologna  Medizin, 
dann  in  Florenz  die  griechischen  Klassiker,  hing  mit  höchster 
Liebe  und  Verehrung  an  Piaton  wie  an  einem  Propheten  und 
wurde  von  Cosmo  zum  ersten  Vorsteher  der  platonischen  Aka- 
demie ernannt.  Er  hat  das  grofse  Verdienst,  die  Werke  des 
Piaton  wie  auch  die  des  nicht  weniger  von  ihm  verehrten 
Plotin  ins  Lateinische  übersetzt  und  dadurch  allgemein  zu- 
gänglich gemacht  zu  haben.  Daneben  verfafste  er  eine  TJuo- 
logia  Platopica,  in  welcher  er,  ähnlich  wie  die  Scholastiker 
den  Aristoteles,  vielmehr  den  Piaton  als  Befestigungsmittel 
des  christlichen  Glaubens  behandelt  und  besonders  die  indivi- 
duelle Unsterblichkeit  gegen  Averroisten  und  Alexandristen 
verteidiste. 


o.   Der  Sturz  des  Aristoteles.  463 

3.   Der  Sturz  des  Aristoteles. 

Die  Frage  nach  der  individuellen  Unsterblichkeit  war  es 
denn  auch,  welche  zwischen  1500  und  1600  den  Sturz  des 
Aristoteles  aus  der  Höhe,  welche  er  fast  vier  Jahrhunderte 
lang  eingenommen  hatte,  vollendete.  Aristoteles  lehrt,  wie 
"bekannt,  dafs  die  Seele  nur  die  Entelechie  des  Körpers,  und 
dafs  eine  Seele  ohne  Körper  so  viel  sei  wie  ein  Gehen  ohne 
Tüfse.  Unsterblich  am  Menschen  ist  nur  der  aktive  Intellekt 
(voOr  TCot,7]T!.x6c),  welcher  von  aufsen  (^ijpa^sv)  in  den  Menschen 
hereinkommt  und  im  Grunde  nichts  anderes  ist  als  die  Ge- 
samtheit des  begrifflichen  Wesens  der  Dinge.  Hieran  knüpfte 
sich  bei  den  Anhängern  des  Aristoteles  die  Frage,  ob  der 
Meister  eine  individuelle  Unsterblichkeit  lehre  oder  nicht,  und 
diese  Frage  brach  zu  einem  hitzigen  Streite  aus  zwischen  den 
Alexandristen,  welche  mit  dem  Kommentator  Alexander  von 
Aphrodisias  (200  p.  C.)  in  antiker  Naivität  erklärten,  dafs  eine 
individuelle  Unsterblichkeit  aus  dem  Aristoteles  nicht  ableitbar 
sei,  und  mit  den  Averroisten,  welche  mit  dem  arabischen 
Kommentator  Averroes  (oben  S.  412}  im  Grunde  dasselbe  be- 
haupteten, nur  dafs  die  Negation  der  Unsterblichkeit  des  In- 
dividuums durch  die  Behauptung,  dafs  der  allen  gemeinsame 
mtellectus  activus  unsterblich  sei,  theologisch  bemäntelt  wurde 
und  eine  Versöhnung  mit  dem  christlichen  Dogma  möglich  zu 
machen  schien.  Beide  Parteien  hatten,  namentlich  in  Italien, 
ihre  eifrigen  Vertreter,  und  Marsilius  Ficinus  behauptet  sogar 
in  seiner  Vorrede  zur  Übersetzung  des  Plotin,  dafs  die  ganze 
AVeit  von  diesem  Streite  widerhalle:  Totus  ferc  terrarum  orbis 
a  Peripatcticis  occupatus  iv  chias  pJnrimwu  scctas  divisus  est, 
Alexandrinam  et  Averroicam.  Uli  quidem  intellectum  nostrum 
esse  mortalem  existimant,  In  vero  itrricum  esse  conteudimt,  ntrique 
reUtjionem  omnem  funditus  aeqne  tollunt.  Diese  Behauptung, 
dafs  die  aristotelische  Seelenlehre  die  christliche  Religion  von 
Grund  aus  aufhebe,  war  es  denn  auch,  welche  im  Fortgange 
des  Streites  den  Glauben  an  Aristoteles  in  der  damaligen  Zeit 
vollständig  erschütterte. 

Wie  in  Florenz  der  neu  erstandene  Piatonismus,  so  herrschte 
an  der  Universität  zu  Padua  der  sogar  von  der  Kirche  geduldete 
Averroismus,  vertreten  durch  den  Theatiner  Nicoletto  Vernias, 


464  XIX.    Der  Zusammenbruch  der  Scholastik. 

als  ihm  der  14(32  zu  Mantua  geborene  Petras  Pomponatius, 
seit  1495  zu  Padua  lehrend,  als  ein  Vorfechter  des  Alexandrismus 
entgegentrat.  Später  wirkte  er  für  seine  Auffassung  in  Ferrara 
und  Bologna,  wo  er  1524  starb.  In  seinem  berühmten  tractntns  de 
imniortalitate  ainmae  (1516  zu  Bologna  und  trotz,  oder  vielmehr 
wegen  ihrer  Verbrennung  durch  den  Dogen  noch  oft  an  andern 
Orten  erschienen)  sowie  in  der  Schrift  de  fato^  lihero  arhürio  et 
praedestinatione  (Bologna  1520)  erklärte  er,  dafs  die  Unsterb- 
lichkeit der  Seele,  philosopliisch  betrachtet,  unhaltbar  und  das 
moralische  Handeln  nur  dann  rein  sei,  wenn  es  sich  nicht  auf 
Furcht  und  Hoffnung  einer  Vergeltung  nach  dem  Tode  gründe, 
dafs  aber  gleichwohl  die  Unsterblichkeit  auf  Autorität  der 
Kirche  geglaubt  werden  müsse.  Diese  Antinomie  erweiterte 
sich  bei  ihm  zu  der  offen  bekannten  Theorie  einer  doppelten 
Wahrheit:  philosophisch  sei  die  Seele  sterblich,  theologisch 
unsterblich,  philosophisch  sei  der  Wille  unfrei,  theologisch  frei, 
philosophisch  gebe  es  keine  Wunder,  theologisch  müfsten  sie 
anerkannt  werden.  Diese  Lehre  von  einer  doppelten  Wahr- 
heit wurde  nicht  nur  von  der  Kirche  verworfen,  sondern  wider- 
strebt auch  so  sehr  dem  menschlichen  Bewufstsein,  dafs  man 
sich  wundern  mufs,  wie  sie  überhaupt  so  viel  Anklang  finden 
konnte.  Und  doch  liegt  ihr  vielleicht  schon  ein  dunkles  Be- 
wufstsein zugrunde  von  dem  Gegensatze  empirischer  und  meta- 
physischer Wahrheit.  Empirisch  ist  der  Mensch  den  Gesetzen 
des  Raumes,  der  Zeit  und  der  Kausalität  unterworfen,  somit 
sterblich  und  unfrei,  metaphysisch  hingegen,  als  Ding  an  sich, 
ist  er  zeitlos  und  insofern  ohne  Anfang  und  Ende,  und  kausali- 
tätlos, folglich  frei,  und  das  Hervortreten  dieser  Freiheit  in 
dem  moralischen  Handeln  ist  als  eine  Durchbrechung  der  Natur- 
ordnung, somit  in  der  Sprachweise  der  Kirche  als  ein  Wunder 
zu  betrachten.  Über  die  Möglichkeit  aber  des  Zusammen- 
bestehens dieses  kontradiktorischen  Gegensatzes  wird  uns  erst 
die  Entwicklung  der  neuern  Philosophie  einen,  wie  wir  hoffen, 
vollbefriedigenden  Aufschlufs  gewähren. 

Während  der  Alexandrismus  des  Pomponatius  sogar  am 
päpstlichen  Hofe  bei  dem  dort  herrschenden  und  mit  Sitten- 
losigkeit  gepaarten  Unglauben  seine  Gönner  fand,  veranlafste 
doch  Papst  Leo  X.  eine  Widerlegung  der  Schrift  des  Fompo- 


o.   Der  Sturz  des  Aristoteles.  4(55 

i)afw.<;  de  inintortalitnfe  aiif'niac  durch  Augustinus  Niphus, 
welcher,  geboren  1473,  als  Vertreter  eines  gemäfsigten,  An- 
schlufs  an  die  Kirchenlehre  suchenden  Averroismus  zu  Pisa, 
Bologna,  Rom,  Salerno  und  Padua  bis  zu  seinem  1546  er- 
folgenden Tode  lehrte.  Aufser  seiner  Widerlegungsschrift 
gegen  Pomponatius,  welcher  ihm  in  seinem  Defensorium  contra 
yi2)h/tm  (Bologna  1519)  antwortete,  hat  er  sich  durch  Kom- 
mentare zum  Aristoteles  wie  auch  durch  die  Herausgabe  der 
Schriften  des  Averroes  verdient  gemacht.  Eine  Mittelstellung 
zwischen  Pomponatius  und  Niphus  nahm,  als  Schüler  beider 
Simon  Porta  (1496 — 1554)  ein,  sowie  dessen  Schüler  An- 
dreas Caesalpinus  (geboren  zu  Arezzo  1519,  gestorben  zu  Pisa 
1603),  welcher  als  Leibarzt  des  Papstes  Clemens  VIII.  in  seinen 
Quaestwnes  Pcripatdicoe  (1471)  und  seiner  Daemomim  investi- 
gatio  peripateiica  (1583)  eine  Annäherung  des  Averroismus  an 
das  Christentum  suchte,  jedoch  mit  seiner  Auffassung  Gottes 
als  der  unerkennbaren,  weder  endlichen  noch  unendlichen, 
weder  bewegten  noch  ruhenden  anima  universalis  zu  sehr  an 
das  Schreckgespenst  des  Pantheismus  streifte,  als  dafs  der 
Averroismus  auch  in  dieser  Form  für  die  Kirche  annehmbar 
gewesen  wäre. 

Noch  weniger  war  es  der  Alexandrismus,  dessen  Konse- 
quenzen deutlich  hervortraten  in  LucilioVanini,  welcher, 
geboren  zu  Neapel  1585,  in  seinen  Schriften:  Ampliitlicütrum 
aetcrnae  providcntiae  (Lugdunum  1615)  und  seinen  vier  Büchern: 
De  admirandis  naturae,  reyinac  deaeque  mortalium,  arcanis, 
.,über  die  wunderbaren  Geheimnisse  der  Natur,  der  Königin 
und  Göttin  der  Sterblichen"  (Paris  161G)  unter  der  Maske  der 
Unterwürfigkeit  unter  das  Kirchendogma  mit  feuriger  Bered- 
samkeit einen  reinen  Naturalismus  und  eine  Naturvergötterung 
vertrat,  gegen  welche  die  Kirche  ihr  kräftigstes  Argument, 
den  Scheiterhaufen,  anwendete.  Er  wurde,  obgleich  er  wider- 
rufen hatte,  1619  zu  Toulouse  verbrannt. 

So  hatte  sich  denn  um  1600  der  Aristotelismus  als  Stütze 
des  christlichen  Glaubens  in  seinen  beiden  Formen,  der  pan- 
theistischen  des  Averroes  und  der  naturalistischen  des  Alexan- 
der Aphrodisiensis,  für  die  Kirche  unannehmbar  gemacht,  und 
damit  war,  wenn  wir  von  dem  künstlich  neubelebten  Thomismus 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II.  ii,  2.  3() 


-466  XIX.    Der  Zusammenbruch  der  Scholastik. 

absehen,  die  Rolle  des  Aristoteles  als  eines  Trägers  der  philo- 
sophischen Wahrheit  ausgespielt,  während  er  als  eine  der 
gröfsten  Erscheinungen  in  der  Geschichte  der  Philosophie  seine 
Bedeutung  bis  zur  Gegenwart  behauptet  hat  und  auch  in  Zu- 
kunft behaupten  wird. 


XX.   Der  Tagesanbruch  der  neuern  Philosophie. 

1.  Ausblick. 

Hand  in  Hand  mit  dem  Verfall  der  mittelalterlichen  Scho- 
lastik gingen  die  ersten  Symptome  eines  Er^jt-achens  der  Mensch- 
heit aus  dem  Winterschlafe  des  Mittelalters,  Symptome,  in 
welchen  sich  der  Geist  einer  neuen  Epoche  ankündigt,  der 
Epoche  der  neuern  Philosophie,  deren  Aufgabe  keine  andere 
sein  kann  als  diese,  dafs  der  forschende  Menschengeist,  un- 
mittelbar und  frei  von  dem  Nebel  heiliger  und  profaner  Tra- 
ditionen, die  äufsere  und  innere  Natur  der  Dinge  ins  Auge 
fal'st  und  beide  Seiten  der  Betrachtung  bis  in  die  letzten  Tiefen, 
bis. zu  dem  Punkte  verfolgt,  wo  sich  beide  zusammenschliefsen 
zu  der  Einheit  der  ewigen  Wahrheit,  soweit  diese,  ungeachtet 
gewisser  natürlicher  Schranken,  welche  jedoch  als  solche  er- 
kannt und  in  Abrechnung  gebracht  werden  können,  erreich- 
bar ist. 

Von  diesem  hohen  Ziele  sind  die  ersten  Versuche  einer 
selbständigen  Gedankenbildung,  wie  sie  zwischen  1400  und 
1600  auftreten,  noch  weit  entfernt.  Einerseits  bleiben  diese 
Versuche  noch  stark  in  den  Traditionen  des  klassischen  Alter- 
tums und  der  Kirche  befangen,  wie  man  dies  sogleich  bei 
Nicolaus  Cusanus,  der  ersten  Erscheinung,  die  uns  hier  ent- 
gegentritt, beobachten  kann,  andererseits  strebt  der  Menschen- 
geist im  neu  erwachten  Bewufstsein  seiner  Kraft  weit  über 
alles  Erreichbare  hinaus  und  verliert  sich  neben  grofsen, 
schöpferischen,  die  Zukunft  antizipierenden  Gedanken  in  phan- 
tastische Gebilde,  welche  jene  Gedanken  verdunkeln  und  fürs 
erste  eine  fruchtbare  Fortentwicklung  derselben  verhindern, 
so  dafs  die  neuere  Philosophie  andere  Anknüpfungspunkte 
suchen   mufste  als   die  genialen  aber  unabgeklärten  und  sich 


1.    Ausblick.  .  4r,7 

Überstürzenden    Versuche,    die    uns    im    folgenden    begegnen 
werden. 

Angeregt  und  unterstützt  wurden  diese  Versuche  durch 
eine  Reihe  äufserer  Ereignisse,  welche  sich  gegen  Ende  des 
Mittelalters  zusammendrängten  und  den  geistigen  Horizont  ins 
Ungemessene  erweiterten.  Schon  die  Kreuzzüge  hatten  dem 
Abendlande  eine  neue  AVeit  erschlossen,  und  mehr  noch  als 
sie  trugen  verschiedene  Erfindungen  und  Entdeckungen  dazu 
bei,  die  Weltanschauung  des  Zeitalters  von  Grund  aus  um- 
zugestalten. Schon  die  Erfindung,  oder  vielleicht  richtiger  das 
Bekanntwerden  des  Schiefspulvers  um  1350  darf  hier  erwähnt 
werden,  da  sie  das  Ende  des  Rittertums  und  damit  eine  Um- 
gestaltung des  mittelalterlichen  Ständewesens  herbeiführte, 
welche  dann  zu  den  politischen  und  sozialen  Theorien  eines 
Machiavelli,  Hobbes,  Grotius  u.  a.  Anlafs  bot.  Wich- 
tiger sollte  noch  die  Erfindung  des  Kompasses  (etwa  um  1310) 
werden,  mit  dessen  Hilfe  die  Entdeckung  Amerikas  durch 
Columbus  (1492),  des  Seeweges  nach  Ostindien  durch  Vasco 
de  Gama  (1498)  und  die  erste  Umsegelung  der  Erde  unter 
Magalhäes  (1519 — 1522)  gelang,  während,  die  Erfindung  der 
Buchdruckerkunst  durch  Gutenberg  und  seine  Gehilfen  (1450) 
■es  ermöglichte,  die  neuen  Aufschlüsse  und  Gedanken  bis  in 
Kreise  zu  tragen,  welche  bis  dahin  von  dem  höhern  geistigen 
Leben  nur  wenig  berührt  worden  waren.  Mit  Eifer  bemäch- 
tigte sich  die  Naturwissenschaft  des  neuen,  von  allen  Seiten 
ihr  zufliefsenden  Stoffes,  und  aus  ihrem  Kreise  war  bei  weitem 
das  wichtigste  Ereignis  die  Erneuerung  der  schon  dem  Alter- 
tum bekannten,  aber  durch  die  Autorität  des  Aristoteles 
A'erdrängten  Lehre  von  der  täglichen  Bewegung  der  Erde 
um  ihre  Achse  und  ihrer  jährlichen  Umkreisung  der  Sonne 
durch  Nicolaus 'Kopernik US  und  die  Fortbildung  dieser  Lehre 
durch  Giordano  Bruno.  Neben  Bruno  waren  es  zwei  andere 
grofse  Männer,  Jacob  Böhme  und  Bacon  vo.n  Verulam, 
-welche  alle  drei  um  das  Jahr  1600  gleichsam  die  Wiege  der 
neuern  Philosophie  umstanden,  den  gärenden,  stürmisch  vor- 
wärts drängenden  Geist  der  neuen  Zeit  in  ganz  verschiedener 
A\'eise  -zum  Ausdruck  brachten,* ohne  dafs  einer  von  ihnen  auf 
«den  Ehrentitel  eines  Vaters  der  neuern  Philosophie  Anspruch 

30* 


468  ^^-    I^ci'  Tiigcsanbrucli  der  neuem  riiilosuphie. 

machen  könnte,  daher  wir  es  zweckmäfsiger  finden,  ihnen 
nicht  als  Urhebern  eines  neuen,  sondern  als  bedeutsamen  Ab- 
schlufs  eines  erst  mit  ihnen  definitiv  zu  Grabe  getragenen 
Zeitalters  ihre  Stellung  anzuweisen. 

2.  Xicolaiis  Ciisanus. 

Nicolas  Chrypffs  wurde  geboren  1401  als  Sohn  eines 
Bauern  und  Fischers,  dessen  Haus  noch  jetzt  einen  Krebs  als 
Wappen  zeigt,  zu  Cues,  einem  Städtchen  an  der  Mosel  (gegen- 
über Berncastel),  welches  noch  heute  die  Bibliothek  seines 
nach  ihm  sich  Nicolaus  Cusanus  nennenden  grofsen  Sohnes 
sowie  ein  von  ihm  gestiftetes  Hospital  besitzt.  Er  wurde  auf 
Kosten  eines  vornehmen  Gönners,  des  Grafen  Ulrich  von 
Manderscheid,  zu  Dementer  in  Holland  bei  den  Brüdern  des 
gemeinsamen  Lebens  (Fratres  communis  vitae,  aus  deren 
Schule  auch  Thomas  a  Kempis  und  Erasmus  Rotterdamus 
hervorgegangen  ist)  erzogen ,  studierte  zu  Padua  die  Rechte, 
wandte  sich  aber  später  der  Theologie  zu,  wirkte  eine  Zeit- 
lang als  Dekan  zu  Coblenz  und  Archidiakonus  zu  Lüttich  und 
wurde  1432  vom  päpstlichen  Legaten  zum  Konzil  zu  Basel 
eingeladen,  wo  er  zunächst  für  das  Konzil  als  höchste  kirch- 
liche Autorität  eintrat,  dann  aber,  als  dasselbe  mit  dem  Papst 
zerfiel,  sich  auf  Seite  des  Papstes  stellte.  Er  wurde  vom 
Papst  Eugen  IV.  zu  verschiedenen  Missionen  in  Konstantinopel, 
Frankreich  und  auf  den  deutschen  Reichstagen  benutzt,  wirkte 
besonders  1447  zum  Abschlufs  des  Frankfurter  Konkordats 
mit  und  wurde  1448,  obgleich  ein  Deutscher,  von  Nicolaus  V. 
zum  Kardinal  der  römischen  Kirche  erhoben.  Als  päpstlicher 
Legat  wurde  er  1452  mit  einer  Visitation  der  Klöster  in  Deutsch- 
land und  Holland  betraut.  Schon  zwei  Jahre  vorher  war  er 
zum  Bischof  von  Brixen'  ernannt  worden,  wurde  aber  dadurch 
in  einen  langwierigen  Streit  mit  der  österreichischen  Staats- 
gewalt verwickelt,  welcher  1460  sogar  zu  seiner  vorüber- 
gehenden Gefangennehmung  führte.  Um  den  Frieden  wieder- 
herzustellen, begab  sich  Cusanus  nach  Rom,  wurde  während 
der  Abwesenheit  des  Papstes  zum  yovcrnatore  von  Rom  er- 
nannt und  begleitete  später  Pius  II.  nach  Umbrien,  wo  er 
1464  zu  Todi  drei  Tage  vor  dem  Papste  selbst  starb.  —  Unter 


2.  Nicolaus  Cusaims.  409 

den  zahlreichen  Schriften  des  Cusanus,  welche  sich  auf  theo- 
logische und  philosophische  Fragen,  mathematische  Probleme, 
die  Verbesserung  des  Kalenders  und  anderes  beziehen,  sind 
für  die  Philosophie  am  wichtigsten  die  1440  erschienenen  drei 
Bücher  de  docta  ignorautia  und  die  ihnen  folgenden  zwei 
Bücher  de  conjecturis,  in  welchen  Cusanus  alles  menschliche 
Wissen  über  Gott  für  blofse  Vermutungen  erklärt  und  die 
höchste  Weisheit  in  der  Erkenntnis  unseres  Nichtwissens 
findet.  Es  gibt  nach  ihm  drei  Erkenntniskräfte,  den  sensus, 
welcher  uns  die  Sinnenwelt  vermittelt,  die  7'atio,  welche  das 
von  den  Sinnen  gelieferte  Material  urteilend,  bejahend  und 
verneinend,  verbindend  und  trennend  zu  Gegensätzen  aus- 
einanderlegt, und  den  intcllectus,  der  uns  in  ein  Gebiet  erhebt, 
in  welchem  alle  diese  Gegensätze  zur  Einheit  zusammenfallen. 
Wie  zwischen  einer  Sehne  von  konstanter  Länge  und  ihrem 
Kreisbogen  ein  Gegensatz  besteht,  welcher  sich  verringert  in 
dem  Mafse,  wie  der  Radius  des  Kreises  wächst,  und  völlig 
schwindet,  wenn  wir  den  Radius  als  unendlich  annehmen,  so 
findet  in  dem  unendlichen  göttlichen  Wesen  die  coincidcnfia 
contradictorlorum,  das  Zusammenfallen  aller  Gegensätze  zur  Ein- 
heit statt.  Im  Anschlufs  an  den  Areopagiten,  an  Erigena  und 
Meister  Eckhart  lehrt  der  Cusaner,  dafs  Gott  die  Einheit  aller 
Gegensätze  bildet;  er  ist  daher  weder  seiend  noch  nicht- 
seiend,  weder  unendlich  noch  endlich,  weder  ruhend  noch  be- 
wegt, und  ebensosehr  unendlich  grofs  wie  er  unendlich  klein 
und  in  allem  Kleinsten  enthalten  ist.  Gott  ist  somit  überall 
und  in  jedem  Teile  ganz  gegenwärtig,  und  der  Mensch  braucht 
nur  sich  selbst  zu  erkennen,  um  den  Grund  alles  Seins  zu 
erfassen.  Gott  ist  der  Inbegriff  aller  vier  aristotelischen 
Prinzipien,  er  ist  die  reine  Form,  der  Zweck,  die  bewegende 
Kraft  und  zugleich  der  Stoff  in  allem  Seienden,  er  ist  die 
complicatio,  deren  explicatio  diese  ganze  Welt  ist.  Mit  diesen 
pantheistischen  Anschauungen  weifs  Cusanus  die  kirchliche 
Trinitätslehre  in  der  Weise  zu  verbinden,  dafs  ihm,  ähnlich 
wie  bei  Meister  Eckhart,  der  Vater  das  intelUgens ,  der  Sohn 
das  intelligihiJe,  und  der  Geist  das  Band  zwischen  beiden,  das 
int  eiligere,  ist.  Hängen  in  diesen  Punkten  die  Anschauungen 
des  Cusaners  von  der  christlichen,  neuplatonischen,  auch  neu- 


470  XX.    Der  Tagesanbrucli  der  neuem  riiilosophie. 

pythagoreischen  Tradition  ab,  so  antizipiert  er  mit  einem  fast 
prophetischen  BHck  Ansichten,  deren  Begründung  und  wissen- 
schaftliche Verwertung  einer  weit  spätem  Zeit  vorbehahen 
bheb;  sofern  er  vor  Kopernikus  eine  Achsendrehung  der  Erde^ 
vor  Bruno  die  räumhche  und  zeithche  Unendhchkeit  des  Uni- 
versums annimmt,  vor  Leibniz  jedes  Einzelding  als  einen 
Spiegel  des  Universums  betrachtet  und  vor  Kant  die  Un- 
sterblichkeit auf  die  uns  obliegende  und  nur  in  unendlichem 
Fortschritt  erreichbare  Aufgabe  der  Selbstvervollkommnung 
gründet. 

3.  Das  Xatiirwissen  im  Zeitalter  der  Kenaissancc. 

Die  Kenntnis  der  Natur  führt  zur  Herrgchaft  über  die 
Natur;  beide  aber  haben,  wie  wir  wissen,  ihre  Schranken, 
und  diese  Schranken  zu  verkennen,  war  in  der  Zeit  der  neu 
aufkommenden  Naturforschung  ein  für  viele  Erscheinungen 
dieser  Zeit  bezeichnendes  Merkmal.  Man  glaubte,  alle  Ge- 
heimnisse der  Natur  zu  durchdringen,  alle  ihre  Kräfte  in  den 
Dienst  des  Menschen  zwingen  zu  können,  und  hieraus  ent- 
sprang ein  trübes  Gemisch  von  Wissenschaft  und  Aberglauben, 
von  echter  Naturerkenntnis  und  phantastischer  Erweiterung 
derselben  durch  theologische,  neuplatonische  und  kabbalistische 
Spekulationen.  Neben  der  Chemie,  welche  bestrebt  war,  die 
Stoffe  der  Natur  zu  erkennen  und  zu  analysieren,  stand  die 
A Ichemi e  mit  ihrem  Suchen  nach  dem  Stein  der  Weisen, 
durch  den  es  unter  anderm  möglich  sein  sollte,  jeden  Stoff 
und  so  namentlich  das  Gold  in  seine  vermeintlichen  Bestand- 
teile zu  zerlegen,  um  es  dann  aus  diesen  in  beliebigen  Mengen 
gewinnen  zu  können;  zu  der  Astronomie,  welche  die  Ge- 
stirne und   die  Gesetze  ihres  Umlaufes   zu   erforschen  suchte, 

* 
gesellte   sich  die  Astrologie,    welche    aus   dem   Stande  der 

Planeten  das  Schicksal  der  Menschen  herauslesen  zu  können 
wähnte,  und  die  zunehmende  Kenntnis  der  Naturkräfte  und 
ihrer  Verwertung  für  das  menschliche  Leben  verband  sich  mit 
der  Wahnvorstellung  von  Naturgeistern,  welche  man  durch 
magische  Künste  sich  dienstbar  machen  zu  können  glaubte. 
Als  Typus  dieser  weitverbreiteten  Mischung  von  Wissen- 
schaft und   Phantasterei  mag  der   philosophierende  Arzt   und 


3.  Das  Naturwissen  im  Zeitalter  der  Renaissance.  4  (  T 

Chemiker  Philippiis  Aureolus  Theophrastus  Bombastus 
von  Hohenheim  dienen,  welcher,  eine  hybride  Erscheinung 
wie  er  selbst  war,  seinen  Namen  in  das  hybride,  halb  grie- 
chische, halb  lateinische  Paracehtis  umwandelte.  Er  wurde 
geboren  1493  zu  Maria -Einsiedeln  im  Kanton  Schwyz;  die 
von  seinem  Vater  überkommenen  chemischen  und  medizini- 
schen Kenntnisse  erweiterte  er  auf  ausgedehnten  Reisen, 
machte  sich  durch  glückliche  Kuren  bekannt  und  erhielt  1526 
einen  Lehrstuhl  der  Medizin  in  Basel,  wo  er  eine  grofse  Zahl 
von  Anhängern  um  sich  sammelte  und  die  Schriften  des  von 
ihm  bekämpften  Galenus  und  Avicenna  öffentlich  verbrannte. 
Ein  Konflikt  mit  dem  Magistrat  der  Stadt  veranlafste  ihn  1528, 
Basel  zu  verlassen,  worauf  er  im  Elsafs,  in  der  Schweiz  und 
in  Süddeutschland  ein  abenteuerliches  Leben  führte,  bis  er 
schon  1541  zu  Salzburg,  wahrscheinlich  durch  Mörderhand, 
den  Tod  fand.  In  seinen  in  barbarischem  Latein  abgefafsten 
Schriften  unterscheidet  er  scharf  zwdschen  der  göttlichen  Offen- 
barung, welche  uns  durch  die  Theologie  übermittelt  wird,  und 
der  Selbstoffenbarung,  welche  die  Natur  uns  gewährt.  Der 
Makrokosmos  in  seinen  drei  Teilen,  der  irdischen,  siderischen 
und  himmlischen  Welt,  ist  ein  grofses,  lebenerfülltes  Ganzes; 
seine  höchste  Entwicklung  findet  er  im  Menschen  als  dem 
Mikrokosmos,  welcher  nach  seinen  drei  Teilen  als  corpus ^ 
Spiritus  und  anima  aus  den  drei  Jeilen  der  Welt  stammt,^ 
und  von  welchem  das  Verständnis  der  ganzen  Natur  auszu- 
gehen hat  und  sich  zu  Philosophie,  Astronomie  und  Theo- 
logie entwickelt.  Neben  dem.  irdischen  Körper  besitzt  der 
Mensch  einen  aus  den  Gestirnen  stammenden  Astralkörper 
fspiritusj  und  eine  ihm  von  Gott  eingeflöfste  Seele  fanimaj. 
Wie  der  Leib  von  den  irdischen  Elementen,  so  ernährt  sich 
der  astralische  Körper  mittels  der  imagi.natio  von  der  sideri- 
schen Welt;  er  überdauert  den  Leib,  kann  daher  nach  dem 
Tode  noch  erscheinen,  ist  aber  nicht  unsterblich  wie  die  Seele, 
sondern  geht  wieder  in  der  siderischen  Welt  auf.  Die  Ele- 
mente sind  nicht  einfach,  sondern  bestehen  aus  drei  Bestand- 
teilen, welche  Paracelsus  als  Mercurius,  Sal  und  Sulphur 
bezeichnet.  Die  Krankheiten  sind  nach  ihm  selbständige  or- 
ganische Wesen,  womit   er  die  moderne  Bakterientheorie  ge- 


472  XX.   Der  Tagesanbruch  der  neueru  Philosophie. 

wissermafsen  antizipiert.  Eifrig  ist  er  bemüht,  eine  Universal- 
medizin für  alle  Krankheiten  zu  finden,  und  ist  bei  seinen 
Analysen  zu  manchen  chemischen  Entdeckungen  gelangt. 
Auch  das  Prinzip  der  Homöopathie  schimmert  durch  in  seiner 
Lehre,  dafs  man  die  schädlichen  Wirkungen  nicht  durch  das 
Entgegengesetzte,  das  Kalte  nicht  durch  das  Warme,  das 
Trockne  nicht  durch  das  Feuchte,  sondern  durch  wohltätige 
Einwirkung  desselben  Prinzips  bekämpfen  müsse,  welches  die 
Krankheit  veranlafste. 

Ein  ähnliches  Gemisch  von  Forschergeist  und  Aberglauben 
begegnet  uns  bei  Hieronymus  Cardanus,  geboren  1501  in 
der  Lombardei,  welcher  als  Mathematiker,  Philosoph  und  Arzt 
in  Pavia  und  andern  Orten  wirkte  und  1576  in  Rom  starb. 
Seine  beiden  Hauptschriften  sind:  de  siibtüitate  in  21  und  de 
varietate  rerum  in  17  Büchern.  Wenn  sein  Gegner  Julius 
Caesar  Scaliger  von  ihm  sagt,  euni  in  quibusdam  interdum 
plus  Jiominc  saperc,  in  phiriuiis  minns  quovis  puero  intelliffere, 
so  bezieht  sich  letzteres  auf  die  Befangenheit  des  Cardanus 
in  neuplatonischen  und  neupythagoreischen,  mit  allerlei  kin- 
dischem Aberglauben  untermischten  Phantasien,  ersteres 
darauf,  dafs  Cardanus,  wie  vor  ihm  Cusanus  und  nach  ihm 
Bruno,  über  die  vier  aristotelischen  Prinzipien  hinwegging  zu 
einer  hylozoistischen  Anschauung,  vermöge  deren  eine  allver- 
breitete, mit  Wärme  und  Licht  identische  Weltseele  die  an 
sich  kalten  und  passiven  Elemente,  Erde,  Wasser  und  Luft, 
durchdringt  und  belebt.  Die  Menschen  teilte  Cardanus  in 
drei  Klassen,  solche  welche  dccipiunhir,  solche  welche  decipiimt 
und  solche  welche  neqiie  decipiurüur  neque  decipiunt;  die  letz- 
tern sind  die  Weisen,  welche  Cardanus  vom  Volke  streng 
gesondert  wissen  will.  Das  Volk  soll  man  nicht  durch  Wissen- 
schaft aufregen,  es  mufs  durch  strenge  Strafen  in  Unterwürfig- 
keit unter  den  Gesetzen  der  Kirche  und  des  Staates  erhalten 
werden.  Der  Ruhm  des  Cardanus  als  Mathematiker  wird  da- 
durch geschmälert,  dafs  er  in  der  Arithmetik  fremde  Er- 
findungen  sich  aneignete  und  als  die  seinigen  veröffentlichte. 

Um  die  Belebung  des  Interesses  für  Naturwissenschaften 
machte  sich  besonders  verdient  der  Philosoph,  Mathematiker 
und  Naturforscher  Beruh ardinus   Telesius,   geboren   1508 


3.  Das  Naturwissen  im  Zeitalter  der  Renaissance.  47)5 

zu  Cosenza  in  Süditalien,  naturwissenschaftlich  gebildet  zu 
Padua  und  Rom,  welcher  sich  als  Gegner  des  Aristoteles  er- 
klärte in  seiner  Schrift  De  naUira  verum  juxta  propria  prin- 
cipia,  nach  deren  Erscheinen  1566  er  als  Lehrer  nach  Neapel 
berufen  wurde.  Hier  begründete  er  eine  naturforschende  Ge- 
sellschaft, die  Academia  Tclesiana  oder  Consentina,  welche  das 
Vorbild  vieler  ähnlicher  Gesellschaften  wurde  und  im  Ver- 
gleich mit  der  platonischen  Akademie  zu  Florenz  deutliches 
Zeugnis  ablegt  für  den  Fortschritt  des  Zeitalters  in  dem  seit 
deren  Gründung  verflossenen  Jahrhundert.  Im  Prinzip  ver- 
langt Telesius  Erforschung  der  Natur  und,  will  das  begrifl- 
liche  Wissen  nur  gelten  lassen,  sofern  es  sich  an  ihr  bewährt, 
ist  aber  selbst  noch  keineswegs  frei  von  theoretischen  Kon- 
struktionen. Es  gibt  nach  ihm  zwei  Prinzipien,  die  Wärme, 
auf  welcher  Bewegung  und  Ausdehnung,  und  die  Kälte,  auf 
der  Ruhe  und  Zusammenziehung  der  Körper  beruhen;  sie  sind 
als  Himmel  und  Erde  auseinandergetreten  und  lieoren  in  be- 
ständigem  Kampfe  mit  einander.  Von  der  Wärme  stammt 
im  Menschen  der  spiritus,  welcher  als  ein  feiner  Stoff  den 
ganzen  Körper  durchdringt,  womit  bei  Telesius  die  Theorie 
von  einer  unsterblichen,  von  Gott  gegebenen  anima  nur  lose 
zusammenhängt.  Der  Grundtrieb  des  Menschen  ist  die  Selbst- 
erhaltung; was  sie  befördert,  bewirkt  Freude  und  Liebe,  was 
sie  hemmt,  Leiden  und  Hafs,  womit  Telesius  den  Grund- 
gedanken der  Aflektenlehre  des  Spinoza  antizipiert.  Unter 
fortwährender  Polemik  gegen  Aristoteles  sucht  er  aus  dem 
Selbsterhaltungstriebe  alle  Haupttugenden,  sapicufia,  soUerfia, 
fortittiäo  und  henign/fa.^:,  abzuleiten. 

Von  unvergleichlich  viel  gröfserm  Einflufs  als  alle  diese 
Versuche,  von  einem  Einflufs,  welcher  sich  nicht  nur  auf  die 
Naturwissenschaften  erstreckte,  sondern  eine  L'mgestaltung 
der  gesamten  philosophischen  Weltanschauung  zur  Folge  hatte, 
ist  das  Werk  geworden,  mit  welchem  nach  langem  Zögern 
erst  am  Ende  seines  Lebens  Nicolaus  Kopernikus,  dem 
Drängen  seiner  Freunde  nachgebend,  an  die  Öffentlichkeit 
trat.  Er  wurde  geboren  1473  als  Sohn  eines  Grofshändlers 
in  Thorn,  studierte  in  Krakau  Theologie,  sodann  seit  1497  zu 
Bologna  die  Rechte,  Mathematik  und  Astronomie,  während  er 


474  ^^-   ^^^'  Tagesanbruch  der  neuern  Philosophie. 

gleichzeitig  schon  zum  Kanonikus  zu  Frauenburg  in  Ostpreufsen. 
ernannt  worden  war.  Im  Jubiläumsjahr  1500  hielt  er  in  Rom 
Vorträge  über  Astronomie  und  Mathematik  und  erwarb  1505 
zu  Ferrara  die  Würde  eines  Doktors  des  kanonischen  Rechts. 
Von  1506  bis  1512  weilte  er  zu  Heilsberg  in  Ostpreufsen,  wo 
er  die  Grundzüge  seines  nachmaligen  Lebenswerkes  entwarf, 
und  lebte  weiterhin,  als  schon  berühmter  Mann  mit  verschie- 
denen Missionen  betraut,  zu  Frauenburg,  Allenstein,  Königs- 
berg und  an  andern  Orten.  Auf  das  Drängen  des  in  Witten- 
berg die  Mathematik  lehrenden  Professors  Rheticus,  welcher 
ihn  1539  zu  Frauenburg  besucht  hatte,  um  sein  astronomisches 
System  kennen  zu  lernen,  entschlofs  Kopernikus  sich  endlich, 
sein  Lebenswerk:  de  revohttionilms  orhium  coelestium  lihri  VI 
mit  einer  Widmung,  an  den  Papst  Paul  IIL  durch  Rheticus 
und  Oslander  1543  zu  Nürnberg  veröffenthchen  zu  lassen, 
nachdem  es,  wie  Kopernikus  in  dieser  Widmung  erklärt,  vier- 
mal neun  Jahre  bei  ihm  geruht  hatte.  Er  starb  nach  eben 
vollendetem  siebzigsten  Jahre  1543  gleichzeitig  mit  dem  Er- 
scheinen seines  W^erkes  und  liegt  in  der  Domkirche  zu  Frauen- 
burg begraben.  Während  die  katholische  Kirche  dem  Werke 
infolge  seiner  Widmung  an  den  Papst  noch  eine  Zeitlang  wohl- 
wollend gegenüberstand  (erst  1616  wurde  es  auf  den  Index 
librorum  prohibitorum  gesetzt),  erkannten  Luther  und  Melanch- 
thon  sogleich  seine  Gefährlichkeit  für  das  christliche  Dogma 
und  sprachen  sich  mit  Entschiedenheit  gegen  die  in  ihm  vor- 
getragene und  bewiesene  Theorie  aus.  Zwar  hatte  Kopernikus 
sich  darauf  beschränkt,  nur  die  tägliche  Rotation  der  Erde 
um  ihre  Achse  und  ihre  jährliche  Revolution  um  die  Sonne 
zu  beweisen,  während  man  den  Fixsternhimmel  nach  wie  vor 
als  eine  die  Sonne  vmd  ihre  Planeten  umschliefsende  Hohl- 
kugel betrachtete,  aber  es  war  eine  weitere  Konsequenz  der 
kopernikanischen  Anschauung,  auch  in  allen  Fixsternen  zahl- 
lose, frei  im  Raum  schwebende  Sonnen  zu  erkennen,  wodurch 
der  bis  dahin  geträumte  Himmel  weggenommen  und  an  seine 
Stelle  der  nach  allen  Richtungen  unendliche  Raum  gesetzt 
wurde.  Diese  Konsequenz  zu  ziehen,  war  einem  ungewöhn- 
lich kühnen,  sich  frei  über  die  Vorurteile  des  Zeitalters  hin- 
wegsetzenden Geiste  möglich,  welcher  denn  auch  diese  Kühn- 


3.  Das  Maturwisson  im  Zfitaltor  der  IJenaissance.  475 

heit    mit    dem   Tode    gebüfst    liat.  .  Mit    ihm    haben   wir   uns 
zunächst  zu  beschäftigen. 

4.  Giordano  Bruno. 

Die  Lehre  von  der  Unendhchkeit  des  Raumes,  welche 
schon  Xicolaus  Cusanus  als  eine  Vermutung  ausgesprochen 
hatte,  die  man  ihm  hingehen  liefs,  wurde,  in  Anknüpfung  an 
die  Entdeckung  des  Kopernikus,  als  feste  Überzeugung  mit 
stürmischer,  rücksichtsloser  Beredsamkeit  verkündigt  durch 
Giotdano  Bruno,  welcher  dadurch  den  definitiven  Abschlul's 
der  ganzen  aristotelisch-mittelalterlichen  Weltanschauung  her- 
beiführte. Er  war  geboren  1548  als  Sohn  eines  Soldaten  zu 
Nola  in  Campanien,  erhielt  seine  erste  Jugendbildung  in  dem 
benachbarten  Neapel  und  trat,  seinen  Taufnamen  Filippo  mit 
dem  Klosternamen  Giordano  vertauschend,  15  Jahre  alt,  in 
den  Dominikanerorden  ein,  welchem  er  13  Jahre  angehörte, 
während  deren  er  die  Lehren  seines  Landsmanns  Thomas 
von  Aquino,  aber  auch  die  freiem  Anschauungen  des  Cusanus, 
Telesius  und  Kopernikus  näher  kennen  lernte,  die  es  ihm  un- 
möglich machten,  länger  dem  Dominikanerorden  anzugehören. 
Er  entfloh  1576  aus  dem  Kloster,  vertauschte  die  Mönchs- 
kutte mit  Hut  und  Degen  und  suchte  seitdem  15  Jahre  hin- 
durch im  Auslande,  in  der  Schweiz,  Frankreich,  England  und 
Deutschland,  für  seine  Lehre  zu  wirken,  indem  seine  Vorträge 
sich  daneben  auf  rhetorische  und  allgemein  philosophische 
Themata,  namentlich  auch  auf  die  lullische  Kunst  erstreckten, 
die  von  Raimundus  Lullus  (1235  —  1315)  erfundene  Ars  magint, 
vermöge  deren  man  durch  Anordnung  der  philosophischen 
Begrifie  in  sieben  konzentrischen  Kreisen  und  mittels  einer 
durch  Drehung  der  Kreise  erlangten  Kombination  dieser  Be- 
griffe alle  möglichen  philosophischen  Fragen  lösen  zu  könijen 
wähnte.  Mit  diesem  Lehrprogramm  grofser  philosophischer 
Wahrheiten  und  phantastischer  Wahnvorstellungen  ausge- 
rüstet, begab  sich  Bruno  nach  seiner  Flucht  aus  dem  Kloster 
und  kurzem  Aufenthalt  in  Oberitalien  zunächst  1577  nach 
Genf,  wo  er  jedoch  bald  in  Streit  mit  dem  Genfer  Philosophen 
De  la  Faye  geriet  und  sich  im  Herbst  desselben  Jahres  nach 
Toulouse  begab.    Hier  erwarb  er  die  Doktorwürde  und  lehrte 


476  ^^-    Der  Ta£fOsanbriKh  der  neuem  Philosophie. 

zwei  Jahre  lang  als  Professor  der  Philosophie;  dann  begab 
er  sich  nach  Paris,  wo  ihm  ein  ordentlicher  Lehrstuhl  für 
Philosophie  zuteil  geworden  wäre,  wenn  er  sich  hätte  ent- 
schliefsen  können,  die  Messe  zu  besuchen.  liier  veröffentlichte 
er  sein,  die  Schwächen  des  Geizes,  Aberglaubens  und  der  Be- 
schränktheit der  Menschen  verspottendes  Lustspiel  II  Canüelajo, 
„der  Lichtzieher",  aus  welchem,  wie  manche  annehmen,  die 
Gedanken  über  die  Relativität  alles  Übels  und  die  L'nzerstör- 
barkeit  der  Materie  von  Shakespeare  in  seinem  Hamlet  her- 
übergenommen sein  sollen.  Gestützt  auf  die  Gunst  hoch- 
stehender Freunde,  begab  sich  Bruno  1583  nach  England,  wo 
er  nach  einem  vergeblichen  Versuche,  zu  Oxford  für  seine 
Lehren  zu  wirken,  zu  London  in  dem  Hause  des  französischen 
Gesandten  Michel  de  Castelnau  gastliche  Aufnahme  fand  und 
einige  seiner  Hauptschriften,  namentlich  La  ccna  de  Je  ceveri 
(das  Aschermittwochsmahl),  sowie  die  beiden  grundlegenden 
Werke  De  la  causa  principio  et  iino  und  De  Vivfiuiio  nnivcrso 
et  mondi  nebst  der  allegorischen  Spottdichtung  Spaccio  de  Ja 
hcstia  trionfante  („Vertreibung  der  triumphierenden  Bestie'", 
nämlich  des  Grofsen  Bären  aus  der  Gesellschaft  der  Fixsterne) 
und  der  Schrift  De  gfJ/eroici  furori  veröffentlichte.  Aus  unbe- 
kannten Gründen  kehrte  Bruno  1585  nach  Paris  zurück,  wo  er 
1586  bei  einer  dreitägigen,  gegen  die  Physik  des  Aristoteles 
gerichteten  Disputation  präsidierte.  Im  Juli  desselben  Jahres 
finden  wir  ihn  in  Marburg,  von  wo  er  sich,  da  ihm  die  Er- 
laubnis, Vorlesungen  zu  halten,  verweigert  worden  war,  nach 
dem  duldsamem  Wittenberg  begab,  ohne  auch  dort  während 
seines  anderthalbjährigen  Aufenthalts  dauernden  Anklang  zu 
finden.  Ebenso  erging  es  ihm  in  Prao-  und  Helmstedt,  worauf 
er  sich  nach  Frankfurt  begab  und  dort  wenigstens  einige 
seiner  Schriften,  namentlich  De  triplici  mintmo  et  nicnsara 
und  De  nitmero  et  ßgiira  sowie  einige  für  seine  Lehre  wich- 
tige Gedichte  1590  veröffentlichen  konnte.  Im  ganzen  empfing 
man  überall  den  kühnen  Abenteurer  mit  scheuem  Mifstrauen 
und  war  froh,  ihn  wieder  loszuwerden.  Nach  vorübergehendem 
Aufenthalt  in  Zürich  folgte  er  1501  der  Einladung  des  vene- 
tianischen  Edelmanns  Mocenigo  nach  Venedig,  der  von  ihm 
die   geheimen  Künste   der  Magie  zu   erlernen  •hofi'te  und,   als 


4.    Giordaiiü   Bruno.  477 

er  5?ich  in  dieser  Erwartung  getäuscht  sah,    so  niederträchtig 
war,   seinen  Gast    an   die  Inquisition   7ai  verraten.     Durch  die 
Gefangennahme  wurde  die  von  Ihuno  begonnene  Ausarbeitung 
einer   systematischen  Darstellung   seiner  Lehre   unterbrochen, 
und   es  war  vielleicht  nicht  am  wenigsten  das  bei  edlen  Na- 
turen   so    starke  Verlangen,    eigene,    neue    Gedanken    aufzu- 
zeichnen   und    der  Nachwelt    zu    erhalten,    welches    ihn    ver- 
anlafste,    vor    der    Inquisition    den    geforderten    Widerruf   zu 
leisten     und    dadurch    seine    Freiheit    wiederzuerlangen.      Er 
täuschte  sich,  Kom  forderte  seine  Auslieferung,  und  nach  Rom 
wurde  er  zu  Anfang  des  Jahres    1593  gebracht  und   dort  in 
siebenjähriger  Kerkerhaft  behalten.    Immer  wieder  hoffte  man, 
aufser  dem  Bekenntnis  seiner  christlichen  Gesinnuns;.  welches 
er    schon    in    Venedig   abgelegt    hatte,    auch   einen    Widerruf 
seiner  philosophischen  Überzeugungen  von  ihm  zu  erzwingen, 
und  hierzu  konnte  sich  Bruno  nicht  entschlief sen  und  zog  es 
vor,  als  Märtyrer  für  die  Wahrheit  zu  sterben.     Als  ihm  das 
Todesurteil  verkündigt  wurde,    sagte   er  zu   seinen  Richtern: 
,Jhr  möget  mit  gröfserer  Furcht  das  Urteil  fällen   als  ich  es 
empfange."     Hierauf  wurde  er  der  weltlichen  Gerichtsbarkeit 
übergeben  mit  der  üblichen  ^Mahnung,  ihn  schonend  und  citra 
.■sanguinis  effttsioneni  zu  behandeln,  und  am  17.  Februar  auf  der 
Piazza  Campofiore,  an  der  Stelle,  wo  jetzt  sein  Denkmal  steht, 
verbrannt.      Schopenhauer   sagt    bei  Erwähnung   von   Brunos 
Schrift  Della  causa:    „Das   zarte,  geistige,  denkende  Wesen, 
als   welches    er    uns    aus   dieser  seiner   Schrift   entgegentritt, 
denke   man   sich   unter   den   Händen  roher,   wütender   Pfaffen 
als   seiner  Richter   und  Henker,   und  danke   der  Zeit,  die  ein 
helleres  und   milderes  Jahrhundert  herbeiführte,   so   dafs   die 
Nachwelt,  deren  Fluch  jene  teuflischen  Fanatiker  treffen  sollte, 
jetzt  schon  die  Mitwelt  ist,"    Dieses  Urteil  ist  nicht  in  jedem 
Sinne  zutreffend.    Wohl  mag  es  unter  Brunos  Richtern  solche 
gegeben  haben,  bei  denen  weltliche  Herrschsucht  und  fana- 
tische Beschränktheit   das   treibende  Motiv  war,   gewdfs   aber 
auch  solche,   w^elche  durch  die  neue  Lehre  die  Religion  und 
Moralität,    diese    teuersten   Güter   der  Menschheit,    gefährdet 
glaubten   und   es   für   ihre   bittere  Pflicht   hielten,  kein   Opfer 
zu  scheuen,  um  »jene  höchsten  Güter  unangetastet  zu  erhalten. 


478  XX.    Der  Tagesanbruch  der  neuern  Pliilosophie. 

Die  Religion  schien  unrettbar  verloren,  wenn  Leliren  wie  di(^ 
von  Bruno  vertretenen  nicht  mit  allen  Mitteln  unterdrückt 
wurden,  und  der  Weg,  um  der  A\'issenschaft  freien  Lauf  zu 
lassen  und  dabei  dennoch  die  Religion  aufrechtzuhalten,  war 
für  das  Zeitalter  Brunos  noch  nicht  zu  linden,  und  Jahrhunderte 
sollten  noch  vergehen,  bis  er  endlich  gefunden  wurde. 

Eine  Darstellung  der  Hauptlehren  Brunos  knüpft  am  besten 
in  Kosmologie,  Metaphysik  und  Psychologie  an  seine  drei 
wichtigsten  Schriften  an,  deren  wohlgewählte  Titel  schon  die 
Grundgedanken  seiner  Weltanschauung  andeuten. 

1.  An  Wichtigkeit  für  die  Umgestaltung  der  mittelalter- 
lichen Weltanschauung  steht  allen  andern  Schriften  Brunos 
voran  diejenige,  in  welcher  er  die  Gedanken  des  Cusanus  und 
Kopernikus  aufnimmt  und  weiterbildet.  Sie  führt  den  Titel. 
Dr  Viufxnito,  n)HV(rso  et  »loiuli ,  „Über  das  Unendliche,  das 
Universum  und  die  Welten",  erschien  London  (angeblich  in 
Venedig)  1584  und  besteht  aus  fünf  Dialogen,  in  welchen 
Bruno  den  grofsen  Schritt  vollzieht,  das  bis  dahin  als  ein 
festes  Gewölbe,  an  welchem  die  Fixsterne  befestigt  sind,  an- 
o;esehene  Firmament  aufzulösen  und  an  die  Stelle  des  Himmels 
den  unendlichen  "Raum  zu  setzen,  in.  welchem  die  Fixsterne 
als  zahllose  Sonnen  frei  schweben  und  in  ihrer  Gesamtheit 
das  Universum  bilden.  Für  einen  Gott,  wie  ihn  die  christ- 
liche Religion  lehrt,  war  in  diesem  neuen  Weltbilde  kein  Platz 
mehr,  und  von  Bruno  bis  Kant  hatte  jeder,  der  sich  nicht 
mit  vagen  und  unklaren  Vorstellungen  begnügte,  nur  die  Wahl, 
entweder  die  Religion  seiner  wissenschaftlichen  L'berzeugung 
oder  seine  wissenschaftliche  Überzeugung  der  Religion  zum 
Opfer  zu  bringen.  Erst  der  von  Kant  begründete  Idealismus 
bewies,'  dafs  der  ganze  unendliche  und  daher  kein  Dasein 
aufser  ihm  zulassende  Raum  mit  allem  seinem  Inhalte  nur 
Erscheinung,  nur  ein  subjektives  Phänomen,  gleichsam  ein 
Traum  ist,  welcher  beim  Erwachen  schwindet  und  der  wahren 
Realität  Platz  macht. 

2.  Die  metaphysischen  Ansichten  Brunos  werden  nament- 
lich entwickelt  in  der  zweiten  Hauptschrift:  De  Ja  causa,  pri)!- 
cipio  ei  loio,  „Über  die  Ursache,  das  Prinzip  und  das  Eine" 
(gleichfalls  London  1584).    Im  Gegensatz  zu  dör  aristotelischen 


4.   GionUmo  15runo.  479 

Vielheit  von  Prinzipien  als  Materie,  Form,  Beweger  und  Zweck 
schliefst  sich  Bruno  näher  an  die  Auffassung  der  Stoiker  an ; 
wie  sie  lehrt  auch  er,  dafs  es  nur  ein  Prinzip  der  Welt  gebe, 
welches  zugleich -Materie  und  Form  des  Universums,  zugleich 
Potentialität  und  Aktualität  sei;  nur  logisch  unterscheiden 
wir  die  Möglichkeit  von  der  Wirklichkeit;  in  Gott,  wie  Bruno 
sein  Weltprinzip  nennt,  fallen  beide  zusammen,  er  ist,  wie 
unser  Philosoph  in  Übereinstimmung  mit  dem  Cusaner  sagt, 
■die  coiiicideniia  contradictorlornm:  er  ist  weder  grofs  noch 
klein,  ist  das  Gröfseste,  weil  allumfassend,  und  das  Kleinste, 
weil  in  allem  gegenwärtig,  nicht  zerteilt,  sondern  in  jedem 
Einzelnen  ganz,  wie  der  Ton,  der  einen  Raum  erfüllt,  in  jedem 
Teile  desselben  ganz  gehört  wird;  er  ist  infinito,  immobile, 
impartihile,  senza  differensa  di  tntio  d  xjcnie,  py-incipio  et  prin- 
cipiato;  potentiell  ist  er  der  unendliche,  allverbreitete  Äther, 
aktuell  die  diesen  Äther  beseelende,  alldurchdringende  und 
allbelebende  Weltseele,  beide  sind  überall  so  untrennbar  ver- 
bunden, wie  das  Vermögen  etwas  zu  machen  von  dem  Ver- 
mögen gemacht  zu  werden  sich  nicht  trennen  läfst;  alle  Formen 
sind  der  Möglichkeit  nach  schon  in  der  Materie  vorhanden. 
Durch  diese  Identifikation  des  Äthers  mit  der  Weltseele  sucht 
Bruno  auf  physischem  Wege  zu  gewinnen,  was  nur  meta- 
physisch erreichbar  ist,  die  Einheit  alles  Seienden,  zu  der  sich 
alle  Emzeldinge  verhalten  wie  zu  der  Substanz  ihre  Acciden- 
tien;  Gott  ist  ihm  die  implicatio ,  deren  explicutio  die  ganze 
A\  elt  ist,  alle  Einzeldinge  sind,  wie  er  sagt,  nur  seine  circon- 
stavzie.  „So  ist  denn  also  das.  Universum  ein  Einiges,  Un- 
endliches, Unbewegliches.  Ein  Einiges  ist  die  absolute  Mög- 
lichkeit, ein  Einiges  die  Wirklichkeit;  ein  Einiges  die  Form 
oder  Seele,  ein  Einiges  die  Materie  oder  der  Körper;  ein 
Einiges  die  Ursache ;  ein  Einiges  das  Wesen,  ein  Einiges  das 
Gröfste  und  Beste,  das  nicht  soll  begriffen  werden  können, 
und  deshalb  Unbegrenzbare  und  Unbeschränkbare  und  inso- 
fern Unbegrenzte  und  Unbeschränkte,  und  folglich  Unbeweg- 
liche. Dies  bewegt  sich  nicht  räumlich,  weil  es  nichts  aufser 
sich  hat,  wohin  es  sich  begeben  könnte,  in  Anbetracht  dessen, 
dafs  es  selber  alles  ist.  Es  wird  nicht  erzeugt,  denn  es  ist 
kein  anderes  Sein,  wonach  es  sich  sehnen  oder  es  erwarten 


480  ^^-   1^61"  Tagesanbruch  der  neuern  Philosophie. 

könnte;  hat  es  doch  selber  alles  Sein.  Es  vergeht  nicht; 
denn  es  gibt  nichts  anderes,  worin  es  sich  verwandeln  könnte,  — 
ist  es  doch  selber  alles.  Es  kann  nicht  ab-  noch  zunehmen,  — 
ist  es  doch  ein  Unendliches,  und  wie  nichts  zu  ihm  hinzu- 
kommen kann,  so  kann  auch  nichts  von  ihm  weggenommen 
werden."     (De  la  causa,  fünfter  Dialog,  Eingang.) 

.  3.  Über  die  psychologischen  Anschauungen  Brunos  giijt 
das  zu  Frankfurt  1590  erschienene  (in  lateinischen  Hexametern 
in  der  Weise  des  Lukrez  nebst  beigefügten  Anmerkungen  in 
Prosa  verfafste)  Lehrgedicht  De  triplici  minimo  Aufschlufs. 
Hatte  schon  Nicolaus  Cusanus  gelehrt,  dafs  die  Teilung  des 
Körpers  nicht  bis  ins  Unendliche  fortgehen  könne,  so  nimmt 
Bruno  positiv  an,  dafs  der  letzte  Grund  für  alles  Grofse  ein 
Minimum  sein  müsse,  wie  die  Eins  der  letzte  Grund  aller 
Zahlen  sei.  Es  gibt  aber,  wie  er  lehrt,  ein  dreifaches  Mini- 
mum, ein  Münmmn  mathcmaticum,  physicum  und  mctapliysicimi, 
aus  welchem  alles,  was  Gröfse  hat,  zu  begreifen  ist;  a)  das 
minimmn  mathcmaticum  ist  der  Punkt,  nicht  als  termiru(s\ 
sondern  als  prima  pars  gedacht,  welcher,  wenn  er  bewegt 
wird,  die  Linie  erzeugt,  und  ebenso  erzeugt  diese,  wenn  be- 
wegt, die  Fläche,  diese  das  Dreidimensionale,  so  dafs  alles 
Ausgedehnte  nur  Entfaltung  des  Punktes  ist;  b)  das  mininmm 
physicum  ist  das  Atom,  aus  welchem  im  Anschlufs  an  Demo- 
krit  und  Lukrez  Bruno  sich  denkt,  dafs  alles  Körperliche  be- 
stehe ;  aus  dieser  Annahme  sucht  er  eine  Reihe  physikalischer 
Erscheinungen,  wie  die  Berührung  der  Körper,  ihre  Zunahme 
und  die  Tatsache,  dafs  es  nicht  zwei  gleiche  Dinge  gebe,  ab- 
zuleiten, wie  er  denn  auch  die  Zunahme  der  W  arme  oder  des 
Lichtes  nur  aus  dem  stetigen  Zuwachse  eines  miriimum  caloris 
und  liiminis  erklären  zu  können  glaubt;  c)  das  minimmn  meta- 
physicum  ist  die  Seele  oder  Monade,  ein  Name,  welcher  im 
weitern  Sinne  allen  drei  Minimis,  in  speziellem  Sinne  der  Seele 
zukommt,  welche  als  Weltseele  einerseits  das  ganze  Universum 
durchdringt,  andererseits  auch  in  jeder  Pflanze,  jedem  Tiere 
wohnt,  nur  dafs  sie  in  ihnen  durch  die  physikalische  Natur 
der  Pflanzen  und  Tiere  eingeschränkt  wird,  ihrem  Wesen  nach 
aber  in  allen  dieselbe  bleibt,  wie  denn  auch  Bruno  von  einem 
Aufsteigen  der  Tierseelen  zu  Menschenseelen  redet,  was  eine 


4.  Giordano  Bruno.  481  ■ 

Art  Seelenwandenmg  voraussetzt.  Was  die  Weltseele  in  jedem 
Augenblicke  voll  und  ganz  ist,  das  vollzieht  sich  in  der  Einzel- 
seele in  zeitlicher  Entwicklung  durch  die  ganze ,  Reihe  von 
Zuständen,,  welche  sie  während  des  Lebens  durchläuft.  Die 
Unsterblichkeit  der  Seele  lasse  sich,  sagt  er,  weder  bei  der 
pythagoreischen  Auffassung  derselben  als  eine  Harmonie,  noch 
bei  der  aristotelischen  als  einer  Entelechie  aufrechthalten, 
wohl  aber,  wenn  man,  wie  Bruno  annimmt,  den  Tod  nur  als 
•Cofitr actio,  die  Geburt  als  Eocpavsio  des  unvergänglichen 
Seelenwesens  auffafst.  Diesen  tiefsinnigen  Intuitionen  fehlt 
nur  die  Kantische  Erkenntnis  von  der  Idealität  des  Raumes 
und  der  Zeit,  um  zu  der  Wahrheit  vorzudringen,  dafs  die  als 
Dins;  an  sich  raumlose  und  zeitlose  Seele  im  Räume  als  der 
Leib  mit  allen  seinen  Organen,  in  der  Zeit  als  das  Leben 
mit  allen  Zuständen,  welche  es  durchläuft,  zur  Erscheinung 
kommt.  —  Für  die  ethischen  Anschauungen  Brunos  kann  man 
an  seinen  Spaccio  de  la  hestia  irionfantc,  „die  Austreibung  der 
triumphierenden  Bestie",  erinnern,  einen  burlesken  Roman,  in 
welchem  Jupiter  im  Rate  der  Götter  beschliefst,  die  bisher 
bestehenden  und  auf  heidnische  Laster  hindeutenden  Namen 
der  einzelnen  Sternbilder  zu  beseitigen  und  an  ihre  Stelle  die 
Namen  von  Tugenden,  wie  Wahrheit,  Klugheit,  Gesetzlich- 
keit usw.,  zu  setzen,  damit  die  Menschen  durch  den  Anblick 
derselben  angeregt  werden,  ihnen  nachzueifern.  Im  ganzen 
kann  man  kein  hervorragendes  Interesse  für  einzelne  ethische 
Probleme  bei  einer  Natur  wie  der  Brunos  erwarten,  welcher, 
wie  dies  besonders  in  seiner  mit  Anmerkungen  begleiteten 
Gedichtsammlung  De  gV  eroici  furori,  „über  die  heroischen 
Affekte*^',  hervortritt,  alles  Irdische  in  seiner  Begeisterung 
für  das  Ewige  für  gering  und  nichtig  erachtete  und  sich  in 
ungestillter  Sehnsucht  nach  dem  Einen,  Ewigen,  Unendlichen 
verzehrte. 

5.  Jakob  Böhme. 

In  ganz  anderm  Sinne  als  durch  Giordano  Bruno  kündigte 
sich  der  Geist  der  neuen  Zeit  in  Jakob  Böhme  an,  einem 
Denker,  welcher  berufen  gewesen  wäre,  das  Werk  der  nach 
Luthers  Tode  stagnierenden  und  in  der  altlutherischen  Ortho- 
doxie  verknöchernden   Reformation  weiter-   und   zu  Ende  zu. 

Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.     II,  ii,  2.  31 


482  ^X-   ^^^'  Tagesanbruch  der  neuem  Philosophie. 

führen,  wäre  nicht  der  Flug  seines  Genius  von  aufsen  durch 
den  Widerstand  der  orthodoxen  Geisthchkeit  und  von  innen 
durch  die  ihm  mangelnde  wissenschaftliche  Vorbildung  allzusehr 
gehemmt  und  niedergehalten  worden.  Mehr  vielleicht  als  bei 
irgendeinem  andern  Philosophen  alter  und  neuer  Zeit  mufs 
man  daher  bei  Böhme  die  von  uns  in  der  allgemeinen  Ein- 
leitung besprochene  Unterscheidung  des  originellen  Elements 
von  dem  traditionellen,  des  Kerns  von  der  Schale,  beachten, 
eines  Kerns  intuitiv  erfalster  ewiger  Wahrheit,  welcher  bei' 
ihm  eingehüllt  ist  in  eine  dicke  Schale  halb  verstandener  und 
mifsverstandener,  aus  der  Bibel  und  allerlei  theosophischen 
Schriften  zusammengelesener  Traditionen.  Wir  haben  es  ver- 
sucht, in  einer  besondern  Abhandlung  (Jakob  Böhme,  über 
sein  Leben  und  seine  Philosophie,  2.  Aufl.,  Leipzig  1911)  diese 
Scheidung  durchzuführen,  und  nehmen  das  Wesentliche  von 
dort  im  folgenden  herüber. 

Jakob  Böhme  wurde  geboren  1575  im  Dorfe  Alt-Seiden- 
iDerg,  zwei  Stunden  südlich  von  Görlitz  an  der  böhmischen 
Grenze,  als  Sohn  einfacher,  doch  wohlgesessener  Bauersleute. 
Da  er  von  gesunder,  aber  schwächlicher  Konstitution  war, 
wurde  er  zum  Schusterhandwerk  bestimmt,  bestand  vom  14. 
bis  zum  17.  Jahre  in  dem  benachbarten  Städtchen  Seidenberg 
die  Lehrzeit  und  ging  vom  18.  bis  24.  Jahre  auf  Wander- 
schaft, welche  ihn,  man  weifs  nicht  wie  weit,  im  Lande 
herumführte,  bis  er  1599  zu  Görlitz  die  Meisterschaft  erwarb, 
sich  ebendaselbst  vermählte  und  weiterhin  als  Vater  von  vier 
Söhnen  und  einigen  Töchtern  sein  Handwxrk  nebst  einem 
Schuhladen,  seit  1610  in  einem  eigenen  Hause  jenseits  der 
Neifse,  betrieb  und,  seit  1613  als  Händler  mit  W^ollwaren  bis 
nach  Prag  hin  umherziehend,  bis  zu  seinem  am  17.  November 
1624  erfolgten  Tode  ein  frommes  und  friedfertiges,  aber  keines- 
Avegs  friedliches  Leben  führte. 

Schon  in  der  Jugend  stellten  sich  seiner  lebhaften  Phan- 
tasie innere  Erlebnisse  als  äufsere  Erscheinungen  dar.  So 
will  er,  als  Kind  auf  der  Landskrone  das  Vieh  hütend,  in 
altem  Gemäuer  einen  Schatz  gesehen  haben  und  mit  Abscheu 
vor  demselben  geflohen  sein ,  und  ein  Unbekannter  soll  ihn 
als  Lehrling  im  Schuhladen  aufgesucht,   ihn   bei  Namen  ge- 


5.  Jakob  Böhme.  483 

iiannt  und  ihm  seine  künftige  Gröfse,  aber  auch  die  ihn  er- 
Avartenden  Leiden  geweissagt  haben.  Einem  Freunde  vertraute 
er,  dafs  er  einmal  während  der  Wanderschaft  „mit  götthchem 
Lichte  umflossen  und  sieben  Tage  lang  in  höchster  göttlicher 
Beschaulichkeit  und  Freudenreich  gestanden  habe".  Während 
seiner  Wanderjahre  wird  er  neben  dem  stets  eifrig  betriebenen 
Studium  der  Bibel  durch  Lektüre  oder  mündliche  Mitteilung 
auch  Bekanntschaft  gemacht  haben  mit  den  Gedanken  eines 
Paracelsus  (oben  S.  471),  Caspar  Schwenkfeld  (1490 — 1561), 
Valentin  Weigel  (1533 — 1594)  und  anderer  theosophischer 
Mystiker.  Er  selbst  sagt  (Aurora  cap.  10,  Werke  2,96),  dafs 
er  „vieler  hoher  Meister  Schriften  gelesen",  jedoch  nur  „einen 
lialbtoten  Geist"  in  ihnen  gefunden  habe,  und  in  seiner  Schrift 
g;egen  Tilken  2,53  (Werke  7,98)  erklärt  er:  „Ich  habe  meine 
Wissenschaft  nicht  von  Wahn  oder  Meinungen  wie  ihr:  son- 
dern ich  habe  eine  lebendige  Wissenschaft  in  der  Beschaulich- 
keit und  Empfindlichkeit",  d.  h.  in  den  Wahrnehmungen  der 
Aufsenwelt  und  des  eigenen  Innern,  und  hierbei  beschäftigte 
ihn  vor  allem  die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Bösen,  wo- 
bei ihm,  wie  er  selbst  sagt,  der  Teufel  heidnische  (d.  h.  pan- 
theistische)  Gedanken  einflöfste,  und  er  in  schwere  innere 
Xämpfe  verfiel.  Auf  das  Jahr  1600  bezieht  sich,  was  er  in 
der  Aurora  cap.  19  erzählt:  „Als  ich  aber  in  meinem  angesetz- 
ten Eifer  so  hart  wider  Gott  und  alle  Höllenpforten  stürmte,  . . . 
.so  ist  alsbald  nach  etlichen  harten  Stürmen  mein  Geist  durch 
die  Höllenpforte  'bis  in  die  innerste  Geburt  der  Gottheit  durch- 
gedrungen und  allda  mit  Liebe  umfangen  worden  wie  ein 
Bräutigam  seine  liebe  Braut  umfängt."  In  demselben  Jahre 
(1600)  soll  Böhme  auch  (wie  sein  Freund  und  Biograph  Franken- 
berg berichtet)  durch  den  Anblick  eines  von  der  Sonne  be- 
schienenen Zinngefäfses  „zu  dem  innersten  Grunde  oder  Centro 
der  geheimen  Natur  eingeführet"  worden  sein.  Im  Hinblick 
auf  diese  Stellen  hat  man  den  Grundgedanken  der  Böhmeschen 
Philosophie  nicht  mit  Unrecht  als  einen  pantheistisch- dua- 
listischen bezeichnet,  pantheistisch,  sofern  nach  ihm  alles, 
mithin  auch  das  Böse,  in  Gott  liegen  mufs,  dualistisch, 
sofern,  wie  die  Sonne  als  Quelle  des  Lichts  nur  durch  das 
iin  sich  dunkle  Zinngefäfs  sichtbar  wird,  so  auch  das  Wesen 

31* 


484  ^^-    1^^^'  Tajnresanbruch  der  iieireni  Fliilosojjhie. 

Gottes  nur  durch  ein  in  Gott  selbst  liegendes  Widergöttlicjies 
zur  Offenbarung  gelangen  kann.  Gedanken  dieser  Art  waren 
es,  welche  Jakob  Böhme,  wie  er  selbst  sagt,  zwölf  Jahre,, 
nämlich  von  1600  bis  1612,  mit  sich  herumtrug.  Er  berichtet 
darüber  im  12.  Sendbriefe  (Werke  7,400):  „In  solchem  meinem 
gar  entsetzlichen  Suchen  und  Begehren  . . .  ist  mir  die  Pforte 
geöffnet  worden,  dafs  ich  in  einer  Viertelstunde  mehr  gesehen 
und  gewufst  habe,  als  wenn  ich  wäre  viel  Jahre  auf  hohen 
Schulen  gewesen  . . .  Und  fiel  mir  zuhand  also  stark  in  mein 
Gemüt,  mir  solches  für  ein  Memorial  aufzuschreiben;  wiewohl 
ich  es  in  meinem  äufsern  Menschen  gar  schwer  ergreifen  und 
in  die  Feder  bringen  konnte  . .  .  bis  es  mich  hernach  überfiel 
als  ein  Platzregen:  was  der  trifft,  das  trifi't  er.  Also  ging  es- 
mir  auch :  was  ich  konnte  ergreifen,  in  das  Aufsere  zu  bringen, 
das  schrieb  ich  auf."  So  entstand  1612  ein  Werk,  welches 
Böhme  „Morgenröte  im  Aufgang."  nannte  und  dem  seine 
Freunde  den  Titel  „Aurora^-  gaben.  Das  Buch  zirkulierte  in 
Abschriften,  und  so  kam  es  in  die  Hände  des  Oberpfarrer& 
Kichter,  eines  fanatischen  Lutheraners,  welcher  beschlofs,  an 
dem  ihm  schon  längst  mifsliebigen  Handwerker  ein  Exempel 
zu  statuieren.  War  doch  am  Schlüsse  der  Aurora  sogar  zu 
lesen:  „Es  habe  gleich  Petrus  oder  Paulus  anders  geschrieben,, 
so  sehet  doch  auf  den  Grund,  auf's  Herz.  Wenn  ihr  nur 
das  Herz  gehaschet,  so  habt  ihr  Grund  genug." 

Schon  am  Sonntag  den  2-1.  Juli  1613  (wie  der  jedenfalls, 
stark  ausgeschmückte  Bericht  des  Dr.  Wiesn>sr  erzählt)  mufs 
es  gewiesen  sein,  dafs  der  Oberpfarrer  Richter  von  der  Kanzel 
in  Gegenwart  des  Jakob  Böhme  diesen  namhaft  machte,  als 
gefährlichen  Ketzer  brandmarkte  und  seine  Ausw^eisung  aus 
der  Stadt  forderte,  darliit  nicht  die  Strafe  der  Rotte  Korah 
über  die  ganze  Stadt  komme.  Dafs  Böhme  damals  wirklich 
ausgewiesen  worden  sei,  wie  der  Bericht  behauptet,  ist  nicht 
anzunehmen.  Wohl  aber  wurde  am  Freitag  den  23.  Juli  Böhme 
aufs  Rathaus  beschieden,  um  sich  zu  verantworten.  Auch  der 
Hauptpastor  wurde  vorgeladen,  weigerte  sich  aber,  wie  Wiesner 
berichtet,  zu  kommen:  „Was  er  auf  ihrem  Gerichts-  oder  Rat- 
hause zu  tun  habe?  Was  er  zu  sagen  habe,  das  sage  er  an 
Gottes  Statt  von  der  Kanzel,  da  sei  sein  Ratstuhl;  w;as  er  da 


5.  .lakob   Höhme.  485 

gesagt  habe,  dorn  sollteti"'  sie  iiaclikomnien ,  .und.  deti^  leicfit-i 
fertigen,  losen,  verwegenen  Ketzer  der  Stadt  verweisen,  auf 
dafs  er  nicht  mehr  dem  heihgen  Predigtamt  widerstehe  und 
die  Strafe  Korahs  über  die  ganze  Stadt  bringe."  iTjer  die 
Verhandhmg  auf  dem  liathause  berichtet  das  noch  vorhandene 
Tagebuch  des  Bürgermeisters  Bartholomäus  Scultötüs :'  „dafs 
Anno  1G13,  Juli  26,  Freitags,  Jakob  Böhme,  ein  Schiister 
zwisclien  den  Thoren  hinter  dem  Spitalschmiede,  wäre  aufs  Rat- 
haus gefördert  und  um  seinen  enthusiastischen  Glaübeiti  ge- 
fragt, darüber  in  Haft  gesetzet,  und  alsobald  sein  geschrieben 
Buch  in  Quarto-Folio  durch  den  Stadtdiener  aus  seinem  Hause 
abgeholet,  darauf  aus  dem  Gefängnis  er  wieder  erlassen  und 
ermahnet  worden,  von.  solchen  Sachen  abzustehen.  —  Item; 
-dafs  den  30.  Juli,  Dienstags,  Jakob  Böhme,  ein  Schuster,  von 
denen  Prädikanten  in  des  Primarii  Wohnung  fürgefordert  und 
in  seiner  Konfession  mit  Ernst  examiniert  worden.  —  Item; 
dafs  zuvor,  als  den  28.  Juli,  Sonntags  (da  das  Evangelium 
von  falschen  Propheten),  der  Primarius,  Gregorius  Richter, 
•eine  scharfe  Predigt  wider  den  Schuster  J.  B.  getan." 

Über  den  Verlauf  des  im  Tagebuche  des  Scultetus  er- 
wähnten Examens  vor  der  versammelten  Geistlichkeit  (am 
30.  Juli  1613)  berichtet  Böhme  selbst  in  einem  elf  Jahre  später 
abgefafsten  Verantwortungsschreiben  an  den  Rat  vom  3.  April 
1624  (Werke  7,325):  „Als  ich  mich  aber  vorm  Ministerio 
gegen  ihn  [den  Primarius]  verantwortet  und  angezeiget  meiiieri 
■Grund,  so  ist  mir  vom  Herrn  Primario  auferlegt  worden,  nicht 
mehr  also  zu  schreiben;  welches  ich  ja  bewilligt,  den  Weg 
<jottes  aber,  was  er  mit  mir  thun  wollen,  habe  ich  dazumal 
noch  nicht  verstanden.  Hingegen  hat  mir  der  Herr  Primarius 
samt  den  andern  Prädikanten  zugesagt,  hinfüro  auf  der  Kanzel 
zu  schweigen,  welches  aber  nicht  geschehen  ist,  sondern  hat 
mich  die  ganze  Zeit  schmählich  gelästert  und  mir  öfters  Dinge 
zugemessen,  deren  ich  garnicht  schuldig  bin,  und  also  die 
ganze  Stadt  lästernd  und  irre  gemacht,  dafs  ich  samt  meinem 
Weibe  und  Kindern  habe  müssen  ein  Schauspiel,  Eule  und 
Narr  unter  ihnen  sein.  Ich  habe  ferner  all  mein  Schreiben 
und  Reden  von  solcher  Hoheit  und  Erkenntnis  göttlicher  Dinge, 
auf   sein   Verbot,    viel    Jahre    [nämlich    1613— 1618]    bleiben 


486  XX.   Der  Tagesanbruch  der  neuern  Thilosophie. 

lassen  und  gehoffet,  es  werde  des  Schmähens  einmal  ein  Ende 
sein,  welches  aber  nicht  geschehen,  sondern  immerdar  ärger 
worden  ist." 

Diese  fortgesetzten  Verfolgungen  hatten,  wie  zu  erwarten 
war,  die  Wirkung,  dafs  die  Aufmerksamkeit  weiterer  Kreise 
auf  den  philosophierenden  Handwerker  gelenkt  wurde.  Manche, 
die  von  der  herrschenden  starren  Orthodoxie  unbefriedigt  waren 
und  sich  Sektierern  wie  Schwenkfeld  oder  Weigel  zuneigtenr 
Naturforscher  und  Arzte  in  Görlitz  un4  benachbarten  Städten, 
Landedelleute  und  Zollbeamte  der  Umgegend  wurden  seine 
Freunde  und  machten  ihm  Vorstellungen  darüber,  dafs  er  das 
Pfund,  welches  er  empfangen  habe,  nicht  vergraben  dürfe,  dafs 
man  Gott  mehr  gehorchen  solle  als  den  Menschen  usw.  Hierzu 
kam  der  zunehmende  innere  Drang,  das  was  in  ihm  gärte»- 
klar  zu  gestalten,  und  so  griff  er,  nach  etwa  fünfjähriger 
Unterbrechung,  wieder  zur  Feder  und  verfafste  in  den  noch 
übrigen  sechs  Jahren  seines  Lebens  eine  ganze  Reihe  von 
teilweise  sehr  umfangreichen  Schriften,  wie  das  Buch  „von 
den  drei  Prinzipien"  (1619),  ,,vom  dreifachen  Leben 
des  Menschen"  (1620),  „Signatura  rerum"  (1622),  .das 
„Mysterium  magnum"  (1623)  und  viele  andere.  Solange 
diese  Schriften  nur  abschriftlich  unter  Freunden  von  Hand  zu 
Hand  gegeben  wurden,  mochten  die  Widersacher  wenig  davon 
erfahren,  als  aber  gegen  Ende  des  Jahres  1623  Böhmes  Freund,. 
Sigmund  von  Schweinitz,  drei  kleine  Erbauungsschriften 
Böhmes:  „von  wahrer  Bufse",  „von  wahrer  Gelassenheit"  und 
^,vom  übersinnlichen  Leben"  unter  dem  Titel  .,Weg  zu  Christo" 
drucken  liefs,  brach  der  Sturm  von  neuem  los.  Zu  den 
Schmähungen  von  der  Kanzel  gesellten  sich  diesmal  poetische 
Ergüsse  des  Hauptpastors  in  lateinischen  Versen,  deren  einige 
in  meinem  Jakob  Böhme  S.  21  fg.  mitgeteilt  worden  sind.  Auch 
die  Geistlichkeit  in  Liegnitzj^wurde  von  Gregorius  Richter  auf- 
gestachelt, mit  ihm  beim  Rat  in  Görlitz  über  den  Ketzer  Klage 
zu  führen,  und  so  wurde  Böhme  am  26.  März  1624  abermals 
vor  den  Rat  beschieden.  Das  denkwürdige  Protokoll  der 
Sitzung  ist  noch  erhalten.  Es  lautet:  „Jochen  Böhme,  der 
Schuster  und  verwirrte  Enthusiast  oder  Phantast  spricht,  er 
habe   das  Buch    -zum  ewigen  Leben»    angefertigt,  habe   aber 


ö.   Jakob  Böhme.  487 

solches  nicht  drucken  lassen,  sondern  es  habe  einer  vomt 
Adel,  Hans  Sigismund  von  Schweinhaus,  es  drucken  lassen.  — 
Ist  vom  Rat  verwarnet  worden,  seinen  Stab  ferner  zu  setzen 
oder,  in  Entstehung  der  Güte  [d.  h.  wenn  er  nicht  gutwillig 
folgt],  soll  solches  Ihrer  Kurfürstl,  Gnaden  berichtet  werden. 
—  Darauf  er  sich  erklärt,  er  wolle  ehesten  Tages  sich  weg- 
machen." Der  Hauptpastor  triumphierte,  aber  Böhme  dachte 
nicht  daran,  zu  weichen.  Wufste  er  doch,  dafs  er  in  Dresden,, 
der  damaligen  Hauptstadt  des  Landes,  einen  Rückhalt  hatte, 
wo  sein  Büchlein,  wie  er  selbst  mitteilt,  freundlich  aufge- 
nommen worden  war.  Zunächst  verfafste  er  eine  noch  er- 
haltene „schriftliche  Verantwortung  an  E.  Ehrbaren  Rat  zu 
Görlitz  wider  des  Primarii  Lästerung,  Lügen  und  Verfolgung 
über  das  gedruckte  Büchlein  von  der  Bufse",  —  welche  jedoch 
vom  Rate  nicht  angenommen  wurde,  weil  „der  Primarius  es 
verwehrte"  [Werke  7,538].  Übrigens  fuhr  er  fort,  gegen 
Böhmen  zu  poltern;  Böhme  schreibt  darüber,  2.  April  1624: 
„Ich  füge  dem  Junker,  dafs  gestern  der  pharisäische  Teufel 
ganz  los  worden  sei,  und  mich  samt  meinem  Büchlein  zuia 
ärgsten  verdammet,  und  das  Büchlein  zum  Feuer  geurteilet,, 
auch  mich  mit  schweren  Lastern  bezüchtiget,  als  einen  Ver- 
ächter der  Kirche  und  Sakramente,  auch  gesagt,  ich  saufe 
mich  alle  Tage  in  Branntw^ein  sow^ohl  Bier  und  andern  Wein 
voll  und  sei  ein  Hollunke,  welches  alles  nicht  wahr  ist  und 
er  selber  ein  trunken  Mann  ist."     (Werke  7,536.) 

Am  9.  Mai  folgte  Böhme  einer  Einladung  nach  Dresden, 
wo  er  zwei  Monate  als  Gast  im  Hause  des  kurfürstlichen  Hof- 
arztes Hinkelmann  weilte  und  in  Hof  kreisen  und  bei  der  höhern 
Geistlichkeit  freundliches  Entgegenkommen  fand,  während  in 
Görlitz  der  Streit  weiter  tobte:  „Mein  Weib  (schreibt  Böhme 
aus  Dresden  am  13.  Juni)  darf  keine  Fensterladen  deswegen 
machen  lassen;  wollen  sie  diese  einwerfen,  das  mögen  sie  thun; 
so  siehet  man  des  Hohepriesters  Früchte  .  .  .  Will  mir  der 
Hohepriester  das  Haus  stürmen,  das  lasse  man  ihn  nur  thun, 
auf  dafs  es  doch  in  allen  Landen  kundig  werde,  was  für  ein 
Aufrührer  er  ist;  es  wird  ihm  und  den  Seinigen  gar  zu  grofsen 
Ehren  kommen;  es  soll  auch  vor  des  Churfürsten  Räten  ge- 
rühmet w^erden,  dafs  er  mir  durch  seine  getreuen  Diener  hat 


■4g'8  XX-   I^ci"  Tagesanbruch  der  ueuern  Philosophie. 

das  Haus  angetastet  und  die  Fenster  eingeworfen."  (Werke 
7,5.63.) 

tjegen  Ende  des  Dresdener  Aufenthalts  ward  auf  Ver- 
anstalten  des  Kurfürsten  von  drei  Professoren  der  Theologie 
und  mehreren  andern  Gelehrten  mit  Böhme  ein  Colloquium  ab- 
gehalten. Das  vom  Kurfürsten  verlangte  Urteil  ging  daliin, 
„dafs  Kurfürstliche  Durchlaucht  Geduld  haben  wolle,  bis  der 
Geist  des  Mannes  sich  deutlicher  erldären  werde;  sie  könnten 
ihn  nicht  verstehen,  hofften  aber,  er  werde  sich  hinfüro  klärer 
vernehmen  lassen,  alsdann  wollten  und  könnten  sie  urteilen, 
jetzo  aber  noch  nicht.'" 

Nachdem  Böhme  zu  Dresden  „in  pace  dimittieret",  an- 
ö-eblich  auch  vom  Kurfürsten  selbst  in  allen  Gnaden  ab- 
gefertigt  worden,  kehrte  er  in  die  Heimat  zurück,  folgte  aber 
bald  darauf  einer  Einladung  des  Herrn  von  Schweinitz,  auf 
dessen  Landgut  er  die  Ausarbeitung  seiner  letzten  Schrift  (der 
„177  theosophischen  Fragen")  begann. 

Unterdessen  war  der  alte  Feind  unseres  Philosophen,  Gre- 
gorius  Richter,  am  14.  August  verstorben.  Aber  auch  Böhme 
sollte  ihn  nur  wenige  Monate  überleben.  Noch  bei  Herrn  von 
Schweinitz  überfiel  ihn  eine  tödliche  Unterleibskrankheit.  Schwer 
leidend  kehrte  er  am  7.  November  nach  Hause  zurück,  wo  ihm 
sein  Freund  und  Hausarzt  keine  Hoffnung  auf  Genesung  geben 
konnte.  Er  begehrte  das  ! Abendmahl  zu  nehmen;  [es  wurde 
ihm  erst  gereicht,  nachdem  er  eine  Reihe  von  Fragen  be- 
friedigend beantwortet  hatte. 

„In  der  Nacht  auf  Sonntag  den  17.  November  glaubte  er, 
eine  liebliche  Musik  zu  vernehmen  und  hiefs  die  Türe  öilhen, 
um  sie  deutlicher  zu  hören.  Gegen  sechs  Uhr  morgens  nahm 
«r  Abschied  von  Weib  und  Söhnen,  segnete  sie  und  sprach: 
Nun  fahr'  ich  hin  ins  Paradies!  Dann  hiefs  er  seinen  Sohn, 
ihn  umwenden,  erseufzte  tief  und  entschlief  also  sanft  und 
"Still  von  dieser  W^elt." 

Die  Geistlichen  verweigerten  ihm  ein  kirchliches  Begräb- 
nis, bis  auf  Befehl  des  gerade  anwesenden  Landvogtes  der 
Lausitz  der  zweite  Geistliche  sich  bequemen  mufste,  die  Be- 
erdigung zu  vollziehen.  Er  begann  seine  Predigt  mit  der  Er- 
klärung,  er  wolle  lieber  zwanzig  Meilen   gegangen  sein,  als 


5.  Jakob  Bülime.  439 

diesem  Manne  die  Leichenpredigt  halten.  Den  erbetenen  Text 
verwarf  er  und  predigte  über  die  Worte:  „Es  ist  den  Men- 
schen gesetzt,  einmal  zu  sterben,  darnach  aber  das  Gericht.'" 
■  Das  Kreuz  auf  seinem  Grabe  wurde  von  Pöbelhand  zer- 
stört. Jetzt  bezeichnet  ein  Porphyrblock  die  Stätte,  wo  dei" 
Philosophus  Teutonicus  ruht. 

Schon  oben  unterschieden  wir  in  Jakob  Böhmes  Lehre 
-einen  unvergänglichen  Kern  echter  intuitiver  Weisheit  und 
eine  aus  allerlei  biblischen,  neuplatonisch-mystischen  und  theo- 
sophischen  Elementen  zusammengewobene  Schale,  welche  diesen 
Kern  einhüllt.  Wir  wollen  versuchen,  beide  nach  Mögliclikeit 
auseinanderzulegen. 

1.    Tkis  origineUe  EJcment  in  Böhmes  Lclirc. 

Die  Grundanschauung  unseres  Philosophen  ist,  wie  schon 
bemerkt,  eine  pantheistische,  so  jedoch,  dafs  zur  Erklärung 
des  Bösen,  welche  ihn  vor  allem  beschäftigt,  diesem  Pan- 
theismus ein  Dualismus  eingewoben  ist. 

„Es  dürfte  wohl  mancher  sagen,  was  wäre  das  für  ein 
Gott,  dessen  Leib,  Wesen  und  Kraft  im  Feuer,  Luft,  Wasser 
und  Erde  bestände?  Siehe,  du  unbegreiflicher  Mensch,  ich 
will  dir  den  rechten  Grund  der  Gottheit  zeigen.  Wo  dieses 
ganze  Wesen  nicht  Gott  ist,  so  bist  du  nicht  Gottes  Bild; 
wo  irgend  ein  fremder  Gott  ist,  so  hast  du  kein  Teil  an  ihm. 
Denn  du  bist  aus  diesem  Gott  geschaffen  und  lebst  in  dem- 
selben, und  derselbe  gibt  dir  stets  aus  "ihm  Kraft,  Segen, 
Speise  und  Trank;  auch  stehet  alle  deine  Wissenschaft  in 
diesem  Gotte,  und  wenn  du  stirbest,  so  wirst  du  in  diesem 
Gott  begraben.  .  .  .  Siehe,  das  ist  der  rechte  einige  Gott,  aus 
dem  du  geschaffen  bist,  und  in  dem  du  lebst.  Wenn  du  die 
Tiefe  und  die  Sterne  und  die  Erde  ansiehest,  so  siebest  du 
deinen  Gott,  und  in  demselben  lebest  und  bist  du  auch,  und 
derselbe  Gott  regiert  dich  auch,  und  aus  demselben  Gott  hast 
du  auch  deine  Sinne  und  bist  eine  Kreatur  aus  ihm  und  in 
ihm,  sonst  wärest  du  nichts.  —  Nun  wirst  du  sagen,  ich 
schreibe  heidnisch.  Höre  und  siehe  und  merke  den  Unter- 
schied, wie  dieses  alles  sei,  denn  ich  schreibe  nicht  heidnisch, 
sondern  philosophisch;   ich  bin  auch  kein  Heide,  sondern  ich 


490  ^^-   Der  Tagesanbruch  der  neuem  Philosophie. 

habe  die  Tiefe  und  wahre  Erkenntnis  des  einigen  grofsen 
Gottes,  der  alles  ist"  (Aurora  cap.  23,  Werke  2,268  fg.).  „Also 
können  wir  mit  nichten  sagen,  dals  Gottes  Wesen  etwas 
Fernes  sei,  das  eine  sonderliche  Stelle  oder  Ort  besitze  oder 
habe;  denn  der  Abgrund  der  Natur  und  Kreatur  ist  Gott 
selber"  (Beschaulichkeit  3,13,  Werke  6,470). 

Aber,  wenn  alles  in  der  Welt  Gott  ist,  woher  dann  da& 
Böse,  von  dessen  Realität  Böhme  zu  tief  ergriffen  ist,  als  dafs 
er  es  mit  dem  Pantheismus  zu  leugnen  oder  wegzuerklären 
vermöchte.  Hier  entschliefst  er  sich  zu  dem  kühnen  Schritte, 
das  Böse  in  Gott  selbst  zu  verlegen  und  dasselbe  als  durch 
die  Selbstofienbarung  Gottes  in  der  Welt  notwendig  be- 
dingt zu  begreifen.  „Der  Leser  soll  wissen"  (heifst  es  Theo- 
sophische  Fragen  3,2,  Werke  6,597),  „dafs  im  Ja  und  Nein 
alle  Dinge  bestehen,  es  sei  göttlich,  teuflisch,  irdisch,  oder 
was  genannt  werden  mag.  Das  Eine,  als  das  Ja,  ist  eitel 
Kraft  und  Leben  und  ist  die  Wahrheit  Gottes  oder  Gott  selber. 
Dieser  wäre  in  sich  selber  unerkenntlich  und  wäre  darinnen 
keine  Freude  oder  Erheblichkeit  noch  Empfindlichkeit  ohne  das. 
Nein.  Das  Nein  ist  ein  Gegenwurf  des  Ja  oder  der  Wahr- 
heit, auf  dafs  die  Wahrheit  offenbar  und  etwas  sei,  darinnen 
ein  Contrarium  sei." 

Wie  das  Licht  der  Sonne  nur  sichtbar  wird  durch  das 
dunkle  Zinngefäfs,  so  kann  sich  Gott  nur  dadurch  offenbaren, 
dafs  ein  Gegensatz,  ein  Göttliches  und  ein  Gegengöttliches  in 
Gott  selbst  vorhanden  ist.  Diesen  Gegensatz  konstruiert  Böhme, 
indem  er  ausgeht  von  Zorn  und  Liebe  als  den  beiden,  in  der 
heiligen  Schrift  offenbarten  Grundeigenschaften  des  göttlichen 
Wesens;  so  gelangt  Böhme  zu  der  Annahme  eines  Reiches  des 
Grimmes  und  der  Finsternis  und  eines  triumphierenden  Freuden- 
reiches Gottes,-  mit  andern  Worten,  einer  Hölle  und  eines 
Himmels,  welche  beide  in  Gott  liegen. 

Dieser  Schritt  zieht  einen  weitern  mit  Notwendigkeit  nach 
sich.  Unmöglich  kann  Gott  Urheber  des  Bösen  sein,  und  so 
sieht  sich  Böhme  genötigt,  den  Schwerpunkt  von  Gott  weg 
und  in  die  in  voller  Ursprünglichkeit  freie  Seele  zu  verlegen, 
so  dafs  Gott  ihm  unter  den  Händen  zu  der  blofsen  aus- 
gespannten Möglichkeit  des  Bösen  und  Guten  wird,  welche 


5.   Jakob  Böhme.  491 

beide  zur  Wirklichkeit  erst  werden  durch  die  ureigene  freie 
Entschliefsung  der  Seele.  So  verlegt  Böhme  Gutes  und  Böses, 
Gott  und  Teufel,  Himmel  und  Hölle  in  die  Seele  hinein 
als  entgegengesetzte  Möglichkeiten,  zu  welchen  sie  sich  mit 
völliger  Freiheit  entscheidet,  weder  durch  äufsere  Einwirkungen 
noch  durch  irgendeine  ihr  anerschaffene  Beschaffenheit  irgend- 
wie bestimmt  oder  beeinflufst,  —  denn  das  eben  ist  der  tiefe 
Sinn  des  Wortes  Freiheit! 

Diese  Lösung  unerhörter  Schwierigkeiten  wird  zwar  auch 
von  Jakob  Böhme  nicht  in  voller  Klarheit  dargeboten,  aber  er 
kommt  ihr,  in  seinen  besten. Augenblicken,  näher  als  irgendein 
Philosoph  vor  ihm,  und  spricht  sie  gelegentlich  so  deutlich  aus, 
wie  es,  unter  dem  Einflüsse  der  biblischen,  theistischen  Tradi- 
tion nur  möglich  war.  Man  vergleiche  Stellen  wie  die  folgenden. 

,.Denn  ein  jeder  Mensch  ist  frei  und  ist  wie  ein  eigener 
Gott,  er  mag  sich  in  diesem  Leben  in  Zorn  oder  in  Licht 
verwandeln"  (Aurora  cap.  18,  AVerke  2,201). 

„So  der  Mensch  freien  Willen  hat,  so  ist  Gott  über  ihn 
nicht  allmächtig,  dafs  er  mit  ihm  thue  was  er  wolle.  Der  freie 
Wille  ist  aus  keinem  Anfange,  auch  aus  keinem  Grunde,  in 
nichts  gefasset  oder  durch  etwas  geformt.  Er  ist  sein  selber- 
eigener  Urständ  aus  dem  Worte  göttlicher  Kraft,  aus 
Gottes  Liebe  und  Zorn.  Er  formet  ihm  in  seinem  eigenen 
Willen  selber  ein  Centrum  zu  seinem  Sitze,  er  gebäret  sich 
im  ersten  Principio  zum  Feuer  und  Lichte.  Sein  rechter  Ur- 
ständ ist  ein  Nichts,  da  sich  das  Nichts  ...  in  eine  Lust  zur 
Beschaulichkeit  einführet,  und  die  Lust  führet  sich  in  einen 
Willen,  und  der  Wille  in  eine  Begierde,  und  die  Begierde  in 
ein  Wesen"  (Mysterium  magnum  26,53.  Werke  5,164). 

„Nun  lebet  er  in  zweien,  welche  ihn  beide  ziehen  und 
haben  wollen,  als  1)  im  Grimmen-Quall,  welches  Urkund  ist 
die  Finsternis  des  Abgrundes  und  dann  2)  in  der  göttlichen 
Kraft,  welches  Quall  ist  das  Licht  und  göttliche  Wonne  in 
den  zersprengten  Thoren  der  Himmel  .  . .  Also  wird  der  Mensch 
von  beiden  gezogen  und  gehalten,  aber  in  ihm  steht  das 
Centrum,  und  hat  die  Wage  zwischen  den  zwei  Willen" 
(Drei  Prinzipien  21,22,  Werke  3,280). 

„So   mögen   wir    nun    zusehen    und   was   Gutes    aus    uns 


492  ^^-    1*61'  Ttigcsanbruch  der  neueni  l'liilosopliie. 

gebären !,  Denn  wiiMhaben  das  Centrum  der  ■  Nätür' Tri 
uns!  Machen  wir  einen  Engel  aus  uns,  so  sind  wir  das; 
machen  wir  einen  Teufel  aus  uns,  so  sind  wir  das  auch" 
(Menschwerdung  2,9,2,  Werke  6,289;). 

„Darum  sehe  ein  jeder  zu,  was  er  thut!  Es  ist  ein  jeder 
Mensch  sein  eigener  Gott  und  auch  sein  eigener  Teufel;  zu 
welcher  Quall  er  sich  neiget  und  einergiebt,  die  treibet  und 
führet  ihn,  derselben  Werkmeister  wird  er"  (Menschwerdung 
1,5,26,  Werke  6,185).  '   "    "    -   ' 

Ziehen  wir  die  Summe  aus  diesen  Ausführungen,  so  ge- 
winnen wir  als  die  philosophische  Grundanschauung  Böhmes, 
wie  sie,  der  mythischen  Hülle  nach  Möglichkeit  entkleidet,  er- 
scheint, die  folgenden  Sätze. 

.  Das  Prinzip  der  Dinge,  die  Gottheit,  ist  zu  denken  als  ein 
.Wiesen,  welches  die  Gegensätze  des  Guten  und  Bösen  bereits 
in  sich  enthält,  jedoch  noch  nicht  als  Gutes  und  Böses,  sondern 
als  eine  Spannung  entgegengesetzter,  aber  harmonisch  zu- 
sammenwirkender Kräfte.  Sie  sind  schon  das  Gute  und  Böse, 
aber  nur  der  Möglichkeit,  noch  nicht  der  Wirklichkeit  nach, 
noch  nicht  „entzündet",  wie  Böhme  sagt,  noch  nicht  aktuell, 
wie  wir  dies  ausdrücken  können.  •  Dieses  mögliche  Gute 
und  Böse,  welches  in  Gott  liegt,  wird  zum  wirklichen 
Guten  und  Bösen  erst  dadurch,  dafs  die  Seele,  aus  eigener 
Freiheit  und  Ursprünglichkeit  heraus,  sich  für  dasselbe  ent- 
scheidet. Die  Seele  ist  nicht  ein  von  Gott  verschiedenes 
Wesen,  sondern  im  Grunde  das  göttliche  Wesen  selbst,  sofern 
es  jenen  möglichen  Gegensatz  zwischen  Gut  und  Böse  zu 
einem  wirklichen  macht. 

Mit  Böhmes  eigenen  Worten:  „Der  innere  Grund  der  Seele 
ist  die  göttliche  Natur  .  .  .  und  ist  weder  böse  noch  gut; 
aber  ...  im  angezündeten  Leben  der  Seele,  da  scheidet  sich 
derselbe  Wille  ...  sie  ist  selber  ihr  Grund  zum  Bösen  oder 
Guten,  denn  sie  ist  das  Centrum  Gottes,  da  Gottes  Liebe 
und  Zorn  in  einem  Grunde  unausgewickelt  liegt"  (Gnadenwalil 
8,100,  W^erke  4.56o};—  „Darum  ist  die  Seele  Gottes  eigen 
Wesen"  (Drei  Prinzipien  4,19,  Werke  3,27). 

Darum  ist  auch  die  Wiedergeburt  und  Erlösung,  welche 
durch  den  Christus,  der  in  uns  lebt,  gewirkt  wird,  nur  eine 


5.   .lukol.  IJoliuit'.  493. 

Rückkehr  zu  unserm  ureigenen  göttlichen  \\'esen.  Böhme  sagt: 
„Kein  Ding  kann  in  ihm  selber  ruhen,  es  gehe  denn 'wieder 
in  das  ein,  daraus  es  gangen  ist.  Das  Gemüt  hat  sich  von 
der  Einheit  gewandt  in  eine  Begierde  zur  Empfindlichkeit,  zu 
probieren  die. Schiedlichkeit  der  Eigenschaften:  dadurch  ist  in 
ihm  die  Schiedlichkeit  und  Widerwillen  [der  Gegenwille,  das 
Böse]  entstanden,  welche  nun  das  Gemüt  beherrschen:  Und 
davon  mag  es  nicht  entlediget  werden,  es  verlasse  denn 
dich  selber  in  der«  Begierde  der  Eigenschaften  und 
schwinge  sich  wieder  in  die  allerlauterste  Stille,  und  be- 
gehre seines  Wollens  zu  schweigen,  also  dafs  der  Wille 
sich  über  alle  Sinnlichkeit  und  Bildlichkeit  in  den  ewigen 
Willen  des  Urgrundes  vertiefe,  aus  dem  er  ist  anfänglich 
ejitstanden,  dafs  er  in  sich  nichts  mehr  wolle,  ohne  was  Gott 
dm'ch  ihn  will,  —  so  ist  er  in  dem  tiefsten  Grunde  der  Ein- 
heit" (Mysterium  magnum,  Anhang  7,  Werke  5,703). 

2.    Das  iraditiouellv  Element  in  Böhmes  Lehre. 

Wir  haben  im  Vorhergehenden  versucht,  den  Kern  ursprüng- 
licher, aus  der  Natur  geschöpfter  und  daher  auch  unwider- 
•legbarer  Wahrheit,  der  in  Böhmes  Lehre  liegt,  herauszuheben, 
und  wollen  nun  nocli  kurz  die  mythische  Schale  betrachten, 
welche  denselben  umschliefst.  Böhme  selbst  ist  sich  des 
mythischen  Charakters  seiner  Darstellung  insofern  bewufst, 
als  er  unaufhörlich  einschärft,  dafs  er,  um  der  menschlichen 
Schwachheit  willen,  als  einen  zeitlichen  Hergang  beschreibe, 
was  zeitlos  sei,  und  nebeneinander  stelle,  was  nur  in  einander 
als  eine  vollkommene  Einheit  bestehe. 

Mit  diesem  Vorbehalt  schildert  er,  wie  ursprünglich -nur 
Gott  gewesen  sei,  der  „Ungrund",  aus  dem  aller  Grund  ent- 
standen, der  Urständ  aller  Wesen  und  daher  selbst  ohne 
Wesen,  Natur  und  Eigenschaften,  die  ewige  Stille,  alles  und 
doch  gleichwie  nichts,  weder  Finsternis  noch  Licht,  niemanden 
offenbar,  nicht  einmal  sich  selbst.  Bei  Schilderung  dieses 
ewig  Einen  verknüpft  Böhme  die  christliche  Tradition  von  der 
Trinität  mit  der  neuplatonischen  von  dem  Auseinandertreten 
des  Einen  in  Subjekt  und  Objekt  (Ideen)  dadurch,  dafs  er 
Sohn  und   Geist  zwischen   den  Vater  (das   Subjekt)   und  die 


494  XX.   Der  Tagesanbruch  der  neuem  Philosophie. 

„Weisheit",  in  der  sich  sein  Wesen  wie  im  Spiegel  erbHckt 
(d.  h.  die  Ideenwelt),  zwischeneinschiebt.  „Der  erste  un- 
anfängliche, einige  W^ille  gebieret  in  sich  einen  fafs- 
lichen  Willen,  welcher  des  ungründlichen  Willens  Sohn 
ist,  da  sich  das  Nichts  in  sich  selber  zu  Etw^as  findet,  .  .  . 
darinnen  sich  der  Ungrund  in  Grund  fasset;  und  der  Aus- 
gang des  ungründlichen  Willens  durch  den  gefafsten  Sohn 
heifset  Geist;  und  das  Ausgegangene  ist  die  Lust,  da  sich 
der  Vater,  Sohn  und  Geist  immer  siebet  und  findet,  und  heifset 
Gottes  Weisheit  oder  Beschaulichkeit"  (Gnadenwahl  1,5, 
Werke  4,468),  „darinnen  alles  lieget  als  eine  göttliche  Imagi- 
nation, darinnen  die  Ideen  der  Engel  und  Seelen  sind  von 
Ewigkeit  in  göttlicher  Ebenbildnis  gesehen  worden,  nicht  als 
Kreaturen,  sondern  in  einem  Gegenwurf,  wie  sich  ein  Mensch 
in  einem  Spiegel  besiehet"  (Schlüssel  5,19,  W^erke  6,G65). 

Diese  der  christlichen  Tradition  von  der  Trinität  und  der 
neuplatonischen  vom  Subjekt- Objekt  zuliebe  unternommene 
Konstruktion,  welche  Böhmen  den  Vorwurf  der  „Viereinig- 
keit" zuzog  (quartitatem  statt  quantitatem  ist  jedenfalls  auch 
in  Richters  Schmähgedicht,  Werke  7,288,  Zeile  5  zu  lesen), 
dient  als  Unterbau  der  Lehre  von  den  sieben  Quellgeistern 
oder  Qualitäten,  zu  welchen  sich  (im  Anschlufs  an  die 
sieben  Geister  vor  Gottes  Stuhl,  Apokal.  1,4.  4,5)  das  Wesen 
der  Gottheit  gliedert,  und  von  denen  die  drei  ersten  Gottes 
Zorn,  die  drei  letzten  Gottes  Liebe  repräsentieren,  während 
die  mittlere,  vierte,  als  das  „Scheideziel"  beiden  Reichen,  dem 
des  Zornes  oder  der  Finsternis  und  dem  der  Liebe  oder  des 
Lichtes  gemeinsam  ist.  Zur  Übersicht  mag  folgendes  Schema 
dienen : 

Vater  Solni  —  Weisheit 

Geist 

i.  Härte     2.  Fliehen    H.  Anjjst     4.  Feuer     ry.  Licht    «;.  ISchall    7.  Leiblichkeit 

Reich  des  Grimmes  und  der  Finsternis  Das  triumphierende  Freudenreich  Gottes 

erstes  Prinzip:  Vater  (ZoniJ  zweites  Prinzip:  Sohn  (Liebe) 

drittes  Prinzip:  Geist  (die  Welt). 

Diese  sieben  Qualitäten,  auf  welche  Böhme  als  auf  seine 
■Grundanschauung  unaufhörlich  zurückkommt,   um  sie  immer 


5.   Jakob  Böhme.  495 

-wieder  und  wieder  zu  beschreiben,  sind  zwar  noch  nicht  die 
Orundkräfte  der  wirkhchen  Natur,  sondern  machen  das  aus, 
was  unser  Philosoph  „die  ewige  Natur  in  Gott"  nennt,  aber 
natürlich  mufste  er  die  Farben,  mit  denen  er  diese  ewige  Natur 
ausmalt,  der  Erfahrungswelt  entnehmen,  und  die  Schwierig- 
keit, ihn  zu  verstehen,  entspringt  nur  daraus,  dafs  er  immer 
neue  Versuche  anstellt,  um  die  einzelnen  Qualitäten  und  ihr 
Zusammenwirken  zu  schildern,  wodurch  das  Bild  derselben  ein 
so  buntes  wird,  dafs  es  mitunter  kaum  möglich  ist,  die  be- 
stimmte Anschauung  aufzufinden,  welche  den  Philosophen 
leitete,  ja  mitunter  fraglich  wird,  ob  überhaupt  eine  solche 
bei  allen  Variationen  als  feste  Einheit  zugrunde  liegt.  So 
schildert  er,  um  nur  einiges  hervorzuheben,  die  erste  Qualität 
als  die  Herbigkeit,  Härte,  Kälte,  Anziehung,  Begierlichkeit,  die 
zweite  als  Beweglichkeit,  Empfindlichkeit,  Süfse,  Stachel, 
Fliehen,  die  dritte  entspringt  aus  den  beiden  ersten  und  heifst 
die  Angst,  das  Wallen,  das  Rad  des  Lebens  usw.  „In  diesen 
drei  ersten  Eigenschaften  stehet  das  Fundament  des  Zorns 
und  der  Hölle  und  alles  dessen,  was  grimmig  ist."  Die  vierte 
Qualität  ist  das  Feuer,  der  Ursprung  des  Lebens,  die  Begierde, 
und  ist  ein  Zornbrennen  in  bezug  auf  die  vorhergehenden,  ein 
Liebebrennen  in  bezug  auf  die  folgenden  Qualitäten;  diese, 
welche  ,,das  ewige  Freudenreich  Gottes"  bilden,  sind  fünftens 
das  Licht,  die  Liebe,  sechstens  der  Schall,  das  verständige 
Leben,  und  siebentens  die  (ideale)  Leiblichkeit,  nicht  körper- 
lich zu  denken,  aber  doch  wesentlich  und  sichtbar,  die  ewige, 
w^esentliche  Weisheit  Gottes,  der  Inbegriff  aller  Formen,  Farben 
und  Schönheit. 

Die  erste  bis  vierte  Qualität  heifsen  das  erste  Prin- 
zipium  und  entsprechen  dem  Vater,  die  vierte  bis  siebente, 
das  zweite  Prinzipium  genannt,  entsprechen  dem  Sohne; 
unter  dem  dritten  Prinzipium  versteht  Böhme  bald  das 
Ineinander  der  beiden  ersten  als  den  Heiligen  Geist,  bald  auch 
die  aus  den  sieben  Qualitäten  ausgeflossene  körperliche  Natur- 

Die  Motive  zu  dieser  ganzen  Qualitätenlehre  lassen  sich, 
bei  der  Buntheit  der  Farben,  in  der  dieselbe  schillert,  nicht 
leicht  angeben.  Nur  als  Vermutung  möchten  wir  hinstellen, 
dafs    der   Philosoph   dabei    geleitet    wurde    durch    die  Wahr- 


4:96  XX.   Der  Tagesanbrucli  der  neueru  Philosophie. 

nehmung,  dals  in  allen  Dingen  Gutes  und  Böses  liege,  und 
dafs  er  das  Gute  in  der  Sichtbarkeit,  Hörbarkeit,  Gestaltung,, 
mit  einem  Worte,  in  der  intellektuellen  Seite  der  Natur  fand, 
woraus  er  dann  Licht,  Schall  und  Leiblichkeit  als  die  drei 
letzten  Qualitäten  gewann,  während  der  Eindruck  der  „wüten- 
den Unsinnigkeit",  mü  der  die  elementaren  Kräfte  in  der  leb- 
losen, unorganischen  Natur  gegen  einander  wirken,  den  Stoff 
zu  den  drei  ersten  Qualitäten  bot ;  ja ,  wenn  er  (Mysterium 
magnum  3,15,  Werke  5,14)  die  Entstehung  der  Angstqual  (der 
dritten  Qualität)  aus  den  beiden  ersten  mit  den  Worten  be- 
schreibt: „Die  Härte  (die  erste  Qualität)  ist  haltend,  und  das 
Ziehen  (die  zweite)  ist  fliehend;  eines  will  in  sich  und  das 
andere  will  aus  sich;  da  es  aber  nicht  von  einander  weichen 
oder  sich  trennen  kann,  so  wirds  in  einander  gleich  einem 
drehenden  Eade,  .  .  .  und  hieraus  ergibt  sich  dann  (als  dritte 
Qualität)  eine  erschreckliche  Angst,"  —  so  wird  hierbei  wohl 
jeder  an  die  Attraktion  und  Repulsion  erinnert,  deren  Ringen 
gegen  einander  den  räumlich  begrenzten  Körper,  die  Ein- 
engung oder,  mit  Böhme  zu  reden,  die  Angst  gebiert;  —  nur 
dafs  hier  wie  überall  an  diese  ursprüngliche  Naturanschauung 
sich  andere  Elemente  angesetzt  und  dieselbe  schliefslich  bis 
zur  Unkenntlichkeit  entstellt  hätten.  Als  Grundanschauung 
aber  bricht  überall  durch,  dafs  die  eigentliche  Essenz  der  drei 
ersten,  und  durch  sie  auch  der  übrigen  Qualitäten  ein  Hunger, 
eine  Begierde,  ein  Wille  ist,  welcher  in  der  vierten  Qualität, 
im  Feuer,  zum  Ursprung  des  Lebens  wird,  und  in  dem  auch 
d,ie  Qualitäten  des  Licht-  und  Liebereiches  gegründet  sind: 
„Der  Grimm  ist  die  Wurzel  aller  Dinge."  —  „Und  so  der 
Wille  also  in  Finsternis  ist,  so  ist  er  in  der  Angst,  denn  er 
begehret  aus  der  Finsternis,  .  .  .  und  erreget  also  die  Feuers- 
wurzel, .  .  .  und  wohnet  in  der  zersprengten  Finsternis  im 
Lichte,  in  einer  lieblichen  Wonne  in  sich  selber"  usw.  (Drei 
Prinzipien  21,18,  Werke  3,279). 

Die  vierte  Qualität,  das  Feuer,  ist  das  centrurn  naturae, 
ist  zwischen  den  Reichen  der  Finsternis  und  des  Lichts,  des 
Zornes  und  der  Liebe,  des  Bösen  und  des  Guten,  das  „Scheide- 
ziel", „die  Angel,  da  mag  sich  der  Wille  schwingen  wohin  er 
mll",   sei  es  rückwärts  in  die  finstere  Welt,    sei  es  vorwärts 


5.  Jakob  Böhme.  497 

in  die  Welt  des  Lichts  und  der  göttlichen  Liebe.  „Er  ist 
frei,  und  so  steht  dieses  beides  in  seiner  Wahl." 

Diese  Freiheit  des  Willens  führt,  wie  dann  weiter  Böhme 
im  Anschlufs  an  die  biblische  Tradition  und  unter  geistvoller 
Umdeutung  derselben  entwickelt,  zum  Sündenfall,  welcher  in 
einer  „Abbrechung"  des  eigenen  Willens  vom  göttlichen  be- 
steht. Dem  Falle  Adams  geht  der  des  Lucifer  vorher.  Der- 
selbe war  erschaffen  als  der  schönste  Engel  des  Himmels; 
aber  anstatt  „seine  Imagination  in  das  Licht  Gottes  zu  setzen" 
und  „in  Gott  zu  wallen",  vermafs  er  sich  vermöge  der  Frei- 
heit seines  Willens,  „über  die  göttliche  Geburt  zu  triumphieren, 
über  Gottes  Herz  sich  hinauszuschwingen",  und  hierdurch 
„zog  er  sich  selber  aus  der  Liebe  in  Gottes  Zorn",  neigte 
sich  in  „die  finstere  Welt  mit  dem  Keiche  der  Phantasie", 
trat  aus  dem  Lichte  heraus,  wurde  beschränkt  auf  die  vier 
ersten  Qualitäten,  welche  ohne  das  ewige  Licht  „der  Abgrund, 
der  Zorn  Gottes  und  die  Hölle"  sind.  „Das  Fundament  der 
Hölle  ist  von  Ewigkeit  gewesen,  aber  es  war  nicht  offenbar, 
bis  es  erweckt  war."  Die  Scheidung  zwischen  Himmel  und 
Hölle  ist  nicht  als  eine  räumliche  zu  denken.  „Der  Himmel 
ist  in  der  Hölle  und  die  Hölle  im  Himmel,  und  ist  doch  keines 
dem  andern  offenbar"  (Mysterium  magnum  8,28,  Werke  5,o8). 

An  die  Stelle  des  verstofsenen  Lucifer  schafft  Gott,  wie 
Böhme  in  der  Auslegung  der  mosaischen  Schöpfungsgeschichte 
berichtet,  den  Menschen  als  „ein  volles  Gleichnis  Gottes,  voll- 
kommener als  die  Engel,  bestimmt  über  alle  Dinge  zu  herr- 
schen", wie  er  denn  als  Mikrokosmus  ein  Inbegriff  aller  Dinge 
ist.  „Es  ist  Himmel,  Erde,  Sterne  und  Elemente  alles  im 
Menschen,  dazu  die  Dreizahl  der  Gottheit,  und  kann  nichts 
genannt  werden,  das  nicht  im  Menschen  wäre."  —  „Adams 
Seele  war  aus  dem  ewigen  Willen,  aus  dem  centro  naturae, 
da  sich  Licht  und  Finsternis  scheidet.  Verstehe!  Es  war 
nicht  ein  zerteilter  Funke,  als  ein  Stück  vom  Ganzen,  denn 
es  ist  kein  Stück,  sondern  alles  ganz;  wie  denn  in  einem 
jeden  Punkt  ein  Ganzes  ist"  (Dreifaches  Leben  6,49 — 50, 
Werke  4,92). 

Zwischen  die  Reiche  des  Lichts  und  der  Finsternis  war 
der  Mensch  gestellt,  sich  frei  zu  entscheiden.    „Der  Wille  dor 

Deus^sen,  Geschichte  der  Philosojjliie.     II,  ii,  2.  3'2 


498  XX.   Der  Tagesanbruch  der  neuem  Philosophie. 

Seele  ist  frei,  entweder  in  sich  zu  ersinken  und  sich  nichts 
zu  achten,  sondern  als  ein  Zweig  aus  dem  Baume  (zu)  grünen 
und  von  Gottes  Liebe  (zu)  essen  —  oder  in  ihrem  Willen  im 
Teuer  auiYzu)steigen  und  ein  eigner  Baum  zu  sein"  (Vierzig 
Fragen  2,2,  Werke  6,51).  Aber  „der  Wille  des  Lebens  brach 
sich  von  dem  göttlichen  Grunde  ab  und  ging  in  die  Empfind- 
lichkeit, aus  der  Einheit  in  die  Vielheit,  und  widerstrebte  der 
Einheit,  als  der  ewigen  einigen  Ruhe,  dem  einigen  Guten" 
(Beschaulichkeit  2,6,  Werke  6,462) ;  „die  seelische  Scienz  ver- 
gaffte sich  an  der  Kreation  des  geformten  Wortes  in  seiner 
Schiedlichkeit  .  . .  und  erhub  sich  in  Lust  zur  Schiedlichkeit" 
(Gnadenwahl  6,33,  Werke  4,5LS).  „Als  die  Lust  vom  Geiste 
-dieser  Welt  in  Adam  gesiegt  hatte,  so  sank  er  nieder  in 
Schlaf";  „der  Schlaf  deutet  den  Tod  an  und  eine  Über- 
"windung" ;  „mit  dem  Schlafe  aber  ward  im  Menschen  die  Zeit 
■offenbar;  er  entschlief  damit  der  englischen  Welt  und  wachte 
auf  der  äufsern  Welt"'.  Die  Jungfrau,  die  göttliche  Weisheit, 
die  bis  dahin  in  ihm  gewohnt  hatte,  entwich  aus  ihm,  und 
an  Stelle  derselben  wurde  ihm  das  irdische  Weib  gegeben, 
mit  der  sich  dann  der  Sündenfall  vollendete  und  über  die 
ganze  Menschheit  erstreckte,  denn  „die  Seelen  der  Menschen 
sind  allesamt  als  wären  sie  eine  Seele"  (Dreifaches  Leben  16,9, 
Werke  4,236).  Aber  auch  das  Heil  blieb  keimartig  in  der 
Menschheit  erhalten  (wie  Böhme  durch  das  Alte  Testament 
hindurch  in  tiefsinnigen  Allegorien  durchführt),  bis  es  in 
Maria,  in  welche  sich  die  ewige  Jungfrau,  die  göttliche  Weis- 
heit eingelassen,  als  der  Heiland  geboren  wurde. 

Aber  „der  historische  Glaube  an  Christus  ist  ein  blofses 
Eünklein  [des  Feuers],  das  erst  mufs  angezündet  werden".  — 
^,Keiner  ist  ein  Christ,  Christus  lebe  und  wirke  denn  in  ihm." 
—  „Wenn  Christus  aufsteht,  so  stirbt  Adam  mit  seinem 
Schlangenwesen,  wenn  die  Sonne  aufgeht,  so  wird  die  Nacht 
im  Tage  verschlungen,  und  ist  keine  Nacht  mehr."  —  „Wer 
Christum  in  sich  hat,  der  ist  ein  Christ  und  mit  Christo  ge- 
kreuzigt und  gestorben  und  lebt  in  seiner  Auferstehung."  — 
„Nicht  von  aufsen  wird  Zion  zum  ersten  geboren,  sondern 
von  innen;  wir  müssen  uns  selber  in  uns  suchen  und  finden. 
Niemand   darf  einer  andern  Stätte  nachlaufen,  . , .  sondern  in 


5.   Jakob  Bölimp.  499 

ihm  selber  ist  die  Pforte  der  heiligen  Gottheit  . .  .  Wo  will 
sicli  die  Seele  lange  hiiischwingen?  Ist  sie  doch  selber  der 
Quell  der  Ewigkeit!" 

Wenn  ein  neuerer  Theologe  (Harlefs,  J.  Böhme  und  die 
Alchymisten,  S.  101)  auf  Grund  derartiger  Aufserungen  Böhmes 
behauptet,  derselbe  habe  den  Christus  für  uns  gestrichen 
und  nur  den  Christus  in  uns  stehen  lassen,  so  möchten 
wir  nur  hinzufügen,  dafs  man  von  dem  ,, Christus  in  uns"  eine 
sehr  unzureichende  Vorstellung  hat,  wenn  man  an  dem,  der 
ihn  besitzt,  noch  irgend  etwas  vermifst. 

Auf  die  Frage,  wohin  die  Seele  nach  dem  Tode  fahre, 
antwortet  Böhme  im  Büchlein  „vom  übersinnlichen  Leben": 
„Sie  bedarf  keines  Ausfahrens;  sie  hat  Himmel  und  Hölle  in 
sich;  das  Reich  Gottes  ist  inwendig  in  euch.  —  Himmel  und 
Hölle  sind  in  einander,  und  ist  je  eines  dem  andern  wie  ein 
nichts." 

„Wo  du  nach  deiner  Selbheit  und  eigenem  Willen  nicht 
wohnest,  da  wohnen  die  Engel  bei  dir  und  überall;  und  wo 
du  nach  deiner  Selbheit  und  eigenem  Willen  wohnest,  da 
wohnen  die  Teufel  bei  dir  und  überall"  (Werke  1,143). 

Wie  in  diesen  Stellen  die  Nichtigkeit  des  Raumes,  so 
spricht  sich  die  Nichtigkeit  der  zeitlichen  Weltordnung  in 
-den  Worten  aus,  welche  Jakob  Böhme  seinen  Freunden  ins 
Stammbuch  zu  schreiben  pflegte  (Frankenberg,  Leben  26)  : 

„Werne  Zeit  ist  wie  Ewigkeit 
Und  Ewigkeit  wie  die  Zeit, 

Der  ist  befreit 

Von   allem  Streit." 

6.  Bacoii  von  Yerulam. 

Gleichzeitig  mit  Giordano  Bruno  und  Jakob  Böhme  lebte 
in  England  ein  Denker,  welcher  weder  dem  Italiener  an  zartem 
Naturgefühl  noch  dem  Deutschen  an  mystischem  Tiefsinn 
gleichkommt,  dafür  aber  von  der  hohen  sozialen  und  politi- 
schen Stellung  aus,  welche  er  einnahm,  einen  weiten,  welt- 
umspannenden Blick  besafs,  welcher  nichts  Geringeres  als 
/eine  vollständige  Neuorganisation  des  gesamten  menschlichen 
Wissens  plante,  und  so  würde  Bacon  von  Verulam,  auf  der 

32* 


500  X^-   D*^i'  Tagesanbrucli  der  neuem  Philosopliie. 

Grenze  zweier  Zeitalter  stehend,  nicht  an  den  Schlufs  der 
mittelalterhchen,  sondern  an  den  Anfang  der  neuern  Philo- 
sophie zu  stellen  sein,  wäre  es  ihm  beschieden  gewesen,  seine 
Instcmratio  magna,  „die  grofse  Wiederherstellung"  der  Wissen- 
schaften, welche  er  beabsichtigte,  so  auszuführen  und  die  treff- 
lichen methodischen  Regeln,  welche  er  aufstellte,  selbst  in 
einer  solchen  Weise  zu  handhaben,  dafs  beides  für  die  Ent- 
wicklung der  neuern  Philosophie  zum  Anknüpfungspunkt  hätte 
dienen  können. 

Francis  Bacon  würde  geboren  am  22.  Januar  1561  in 
dem  Städtchen  St.  Albans,  nordwestlich  von  London,  als 
jüngerer  Sohn  von  Nicholas  Bacon,  dem  Grofssiegelbewahrer 
flieeper  of  tlie  gnat  sealj  unter  Königin  Elisabeth  von  Eng- 
land. Er  studierte  1573 — 1575  zu  Cambridge,  von  wo  er,  von 
Widerwillen  gegen  die  Scholastik  erfüllt,  sich  nach  London 
wandte,  um  in  Gray's  Inn  juristischen  Studien  obzuliegen. 
Er  begleitete  1576  den  englischen  Gesandten  nach  Paris, 
mufste  aber  zwei  Jahre  darauf,  veranlafst  durch  den  Tod 
seines  Vaters,  der  die  materielle  Sicherstellung  des  Jüngern 
Sohnes  versäumt  hatte,  nach  London  zurückkehren,  wo  er 
auf  Gray's  Inn  seine  juristischen  Studien  bis  1582  vollendete 
und  sich  sodann  als  unbesoldeter  Eechtsanwalt  niederliefs. 
Bei  geringen  Einnahmen  und  hohen  Ansprüchen,  welche  durch 
seine  vornehmen  Verbindungen  wie  auch  durch  seine  Vorliebe 
für  ein  glänzendes  Leben  veranlafst  wurden,  hatte  er  lange 
Jahre  mit  materiellen  Sorgen  zu  kämpfen,  während  er  als 
Mitglied  der  Parlamente  von  1584,  1586  und  1588  wie  auch 
durch  seine  1597  herausgegebenen  Essays,  Moral,  Ecotwmical 
and  Tolitical  fSermonvs  fiddesj  sich  berühmt  machte.  Die 
Königin  war  ihm  nicht  günstig,  und  vergebens  hatte  Graf  Essex 
Fürsprache  für  ihn  eingelegt,  bei  dessen  späterer  Verurteilung, 
und  Rechtfertigung  der  Königin  wegen  seiner  Hinrichtung, 
Bacon  als  bestellter  Kronanwalt  mitzuwirken  sich  gezwungen 
sah.  Nachdem  1603  Jakob  L  zur  Regierung  gekommen  war, 
welchen  die  gemeinsame  Hochschätzung  für  Wissenschaft  und 
Gelehrsamkeit  mit  Bacon  verband,  besserten  sich  dessen  Ver- 
hältnisse; Titel,  Würden  und  besoldete  Amter  wurden  ihm 
reichlich  zuteil,  1617  wurde  er  zum  Grofssiegelbewahrer,  1618 


6.   Bacon  von  Vonilam.  501 

zum  Grolskanzlor  und  Baron  von  Verulam  (nach  dem  bei 
St.  Albans  liegenden  römischen  Kastell  Vernlamium)  und  1621 
zum  Viscount  von  St.  Albans  ernannt,  aber  in  demselben  Jahre 
noch  brach  das  Verhängnis  über  ihn  herein.  Er  wurde  vor 
dem  Parlament  angeklagt,  als  Oberrichter  von  den  Parteien 
und  als  Lordkanzler  bei  Verleihung  von  Patenten  und  Lizenzen 
bestochen  worden  zu  sein,  in  28  Fällen  für  schuldig  befunden, 
aller  seiner  Amter  und  seines  Sitzes  im"  Parlament  für  ver- 
lustig erklärt,  zur  Einkerkerung  im  Tower,  Solange  es  dem 
König  gefalle,  und  zu  einer  Geldstrajj  von  40000  Pfd.  St.  ver- 
urteilt. Nach  wenigen  Tagen  wurde  er  aus  der  Haft  entlassen 
und  von  der  Geldstrafe  befreit.  In  seiner  Rechtfertigungs- 
schrift bekannte  er  sich  in  allen  ihm  zur  Last  gelegten  Fällen 
für  schuldig,  jedoch  nur  in  dem  Sinne,  dafs  er  nicht  litc,pcndente, 
sondern  erst  nach  Entscheidung  der  Streitfragen  diese  Ge- 
schenke angenommen  habe,  und  dafs  seine  Entscheidungen 
durch  die  Aussicht  auf  dieselben  nicht  beeinflufst  worden 
seien;  seit  fünfzig  Jahren,  erklärte  er,  habe  es  keinen  gerech- 
tern Kanzler  gegeben  als  ihn.  Zu  seiner  Entschuldigung  mag 
angeführt  werden,  dafs  er  im  Annehmen  von  Geschenken  nur 
einem  allgemeinen  Brauche  folgte,  sowie  dafs  er  sich  selbst 
opferte,  um  den  König  zu  schonen.  Weniger  zu  ertragen  ist 
die  kleinliche  Art.  mit  welcher  er  nach  allen  Seiten  um  Barm- 
herzigkeit und  V^'iederherstellung  flehte;  sie  wurde  ihm  zuteil, 
der  König  A'erlieh  ihm  eine  Pension  von  1200  Pfd.  St.  und  gab 
ihm  den  Sitz  im  Oberhause  zurück,  ohne  dafs  Bacon  dort 
wieder  erschienen  wäre.  Er  lebte  in  den  folgenden  Jahren, 
mit  wissenschaftlichen  Arbeiten  beschäftigt,  meistens  auf 
seinem  Landsitze  Gorhambury  bei  St,  Albans,  bis  er  am  9.  April 
1626  starb,  wie  er  selbst  in  einem  letzten  Briefe  erklärte,  ähn- 
lich wie  der  ältere  Plinius  als  ein  Opfer  der  Wissenschaft.. 
Allerdings  handelte  es  sich  in  Bacons  Fall  nicht  um  den  Aus- 
bruch eines  Vulkans,  sondern  um  ein  Huhn,  welches  Bacon 
in  einem  Bauernhause  zu  Highgate  bei  London  mit  Schnee 
ausgestopft  hatte,  um  die  Verzögerung  der  Verwesung  durch 
den  Einflufs  der  Kälte  zu  beobachten,  wobei  er  sich  eine  Er- 
kältung zuzog,  die  seinen  Tod  zur  Folge  hatte.  , 

Der  auf  das  Praktische  gerichtete,  dem  reinen,   willens- 


502  XX.   Der  Tagesanbrucli  der  neuem  riiilosophie. 

freien  Erkennen  weniger  geneigte  Sinn  des  Engländers  be- 
kundet sich  bei  Bacon  darin,  dafs  er  den  Hauptwert  aller 
Wissenschaft  in  den  Erfindungen  sieht,  zu  welchen  sie  leitet. 
Einer  seiner  bekanntesten  Aussprüche  lautet :  tardum  possuinus 
quantum  scimiis.  Freilich  liegt  in  diesem  Satze,  dafs  mit 
unserer  Erkenntnis  der  Natur  auch  unsere  Macht  über  die 
Natur  wächst,  keine  grofse  Weisheit,  und  man  könnte  ver- 
sucht sein,  den  allgemeinen  Standpunkt  Bacons  treffender 
zum  Avisdruck  "^zu  bringen  durch  den  umgekehrten  Satz :  tan- 
tum  scinius  (ßtaniuni  ijossumns,  nur  das  ist  ein  echtes  Wissen, 
welches  sich  als  jDraktisch  brauchbar  erweist,  ein  Gedanke, 
welcher  nicht  nur  mit  Bacons  Ausspruch:  quod  in  operando 
läilissimum ,  kl  in  scientia  verissimum  (Novum  Organum  2,4), 
sondern  auch  mit  dem  Goetheschen  Verse: 

„Was  fruchtbar  ist,   allein  ist  wahr" 

zusammentrifft  und  doch  trotz  Bacon  und  Goethe  und  dem 
heute  in  Mode  stehenden  Pragmatismus  falsch  ist,  denn  es 
gibt  viele  Erkenntnisse,  welche  nicht  den  mindesten  prakti- 
schen Wert  haben  oder  je  haben  werden,  und  trotz  ihrer  Un- 
fruchtbarkeit von  dem  nach  Licht,  Klarheit  und  Wahrheit 
dürstenden  Menschengeiste  nur  um  ihrer  selbst  willen  ge- 
schätzt und  mit  aller  Kraft  der  Seele  erstrebt  werden. 

Sehr  verschieden  von  einer  solchen  Unfruchtbarkeit  war 
die  Unfruchtbarkeit  der  Scholastik,  welche  dem  Bacon  schon 
bei  seinen  Studien  in  Cambridge  in  ihrer  ganzen  Dürre  und 
Öde  entgegengetreten  war  und  in  ihm  weiterhin  den  Plan 
entstehen  liefs,  eine  Instauratio  magna,  „eine  grofse  Wieder- 
herstellung" der  Wissenschaften  in  Gang  zu  bringen.  Dieses 
von  ihm  geplante,  aber  nur  teilweise  ausgeführte  Lebenswerk, 
die  Instauratio  magna,  sollte  im  ersten  Teile  eine  Übersicht 
sämtlicher  Wissenschaften,  im  zweiten  die  rechte  Methode, 
im  dritten  das  Naturwissen  als  vcrac  inductionis  supellex.  im. 
vierten  die  Interpretation  der  so  gesammelten  Materialien,  im 
fünften  die  Vorgänger  auf  dem  Wege  der  Forschung  und 
Erfindung  und  im  sechsten  Anleitung  und  Winke  zu  neuen 
Erfindungen  ,  behandeln.  Es  war  dem  Philosophen  nicht  ver- 
gönnt, dieses  Riesenwerk   zu  Ende  zu  führen;   nur  der  erste 


G.  Biicon  von  Venihim.  503 

und  zweite  Teil  liegen  in*  verschiedenen  Bearbeitungen  vor 
nebst  einer  Sammlung  von  Vorarbeiten  zum  dritten  Teil,  näm- 
lich: 1,  die  aus  der  1(505  erschienenen  Vorarbeit  on  tlic  pro- 
ficifiwc  and  aclvaiiccinciit  of  Icaniing  hervorgegangene  erste 
Hauptschrift,  De  dignitute  et  augmentis  scientiarum  (London 
1623),  und  2.  das  durch  Umarbeitung  der  1612  erschienenen 
Cogltata  et  visa  entstandene  und  schon  1620  zu  London  ver- 
öftentlichte  Xovuni  Orgtüion  scientiarum.  Die  Vorarbeiten  zum 
dritten  Teil  sind  enthalten  in  der  Sijlva  sglvanün,  „der  Samm- 
lung der  Sammlungen",  welche  eine  erst  nach  Bacons  Tode 
1627  herausgegebene  Sammlung  mannigfaltiger  Materialien, 
Tatsachen  und  Versuche  zur  Naturwissenschaft  in  zehn  Cen- 
turien  befafst. 

1.  De  digiiitate  et  aiignientis  scientiarum,  „L  ber  den  \\  ert 
und  die  Bereicherungen  der  Wissenschaften".  In  dieser  Schrift 
unterwirft  Bacon  die  Gesamtheit  des  menschlichen  Wissens,^ 
den  ganzen  glohus  intellcctualis,  einer  Durchmusterung,  wobei 
er  überall  die  nach  seiner  Meinung  vorhandenen  Lücken,  w^enn 
auch  nicht  ausfüllt,  so  doch  nachweist  und  zu  ihrer  Ergänzung 
auffordert.  Sein  Einteilungsprinzip  der  Wissenschaften  ist  da- 
bei ein  psychologisches;  den  drei  Seelenkräften  des  Gedächt- 
nisses, der  Phantasie  und  des  Verstandes  entsprechen  die  drei 
Wissensgebiete  der  Geschichte,  der  Poesie  und  der  Philo- 
sophie. Die  Geschichte  teilt  er  ein  in  die  Jiistoria  cicilis 
und  historiu  naturcdis:  als  Desiderata  bezeichnet  er  eine  Be- 
arbeitung der  Literaturgeschichte  und  der  Geschichte  der 
Philosophie.  In  der  Poesie  will  er  mit  Übergebung  der 
Lyrik  nur  die  epische,  dramatische  und  die  parabolische  Poesie 
gelten  lassen,  wobei  er  zur  Erläuterung  der  letztern  eine  alle- 
gorische Deutung  der  Mythen  von  Pan,  Perseus  und  Dionysos 
versucht.  Der  Gegenstand  der  Philosophie  ist  ein  drei- 
facher: Gott,  die  Natur  und  der  Mensch,  entsprechend  dem 
dreifachen  Wege,  auf  dem  wir  zur  Erkenntnis  gelangen :  per- 
cutit  aiitcm  Natura  intellectum  nostrwn  raßio  directo,  Dens  aiiteni 
propter  medium  inaequale  radio  tantum  refracto.,  ipse  vero  Homo 
sibimef  ipsi  monstratur  et  exhihetur  radio  reflexo.  Nach  diesem 
optischen  Bilde  soll  die  Natur  uns  unmittelbar,  radio  directö, 
gegeben  sein,  wobei  übersehen  wird,  dafs  alle  Erkenntnis  der 


504  ^^'   I^ß'"  Tagesanbruch  der  neuern  Philosophie. 

Natur  nur  durch  das  Medium  unseres  Bewufstseins  zugänglich, 
somit  stets  nur  mittelbar  ist,  im  Gegensatze  zu  dem  uns  allein 
unmittelbar  gegebenen  Inhalt  des  Bewufstseins.  Treffender 
wird  die  Erkenntnis  Gottes  als  radio  refracto  bezeichnet,  so- 
fern die  Natur  von  Gott  verschieden  ist  und  doch  vermöge 
ihrer  Beschaffenheit  auf  ihn  hinweist.  Wenn  endlich  das 
Wesen  des  Menschen  dem  Intellekt  nur  radio  reflexo  sich 
zeigt,  so  ist  dies  wohl  so  zu  verstehen,  dafs  das  Wesen  des 
Geistes  sich  in  seinen  Betätigungen  widerspiegelt  und  an 
ihnen  sich  dem  Geiste  offenbart.  Was  zunächst  die  Theo- 
logie betrifft,  so  will  Bacon  dieselbe  von  der  Philosophie 
streng  gesondert  wissen.  Zwar  lautet  einer  seiner  bekanntesten 
Aussprüche:  leves  glistus  in  pJiilosophia  movere  fortasse  ad 
atheismufn,  sed  pleniores  haustus  ad  religiösem  reducere.  Dieses 
W^ort,  soweit  es  bei  Bacon  ernst  gemeint  ist,  kann  wohl  nur 
so  verstanden  werden,  dafs  die  Natur,  obgleich  sie  bei  ober- 
flächlichem Anblick  das  Dasein  Gottes  auszuschliefsen  scheint, 
doch  dasselbe  bei  genauerer  Betrachtung,  wenn  auch  nur  radio 
refracto,  offenbart.  Im  übrigen  will  er  Vernunft  und  Glauben 
streng  von  einander  getrennt  halten ;  Philosophie  in  der  Theo- 
logie führe  zu  Häresien,  Theologie  in  der  Philosophie  zu  Phan- 
tasterei; wer  sich  an  einem  Spiel  beteilige,  müsse  sich  auch 
den  Spielregeln  unterwerfen,  wer  einmal  glaube,  dürfe  auch 
an  den  Paradoxa  christiana  keinen  Anstofs  nehmen.  Der 
Naturphilosophie  (natural  pMlosophyJ  geht  voraus  die  philo- 
sophia  prima,  welche  bei  Bacon  nicht  die  Metaphysik,  sondern 
nur  denjenigen  Teil  derselben  bezeichnet,  den  man  sonst  Onto- 
logie  und  Prinzipienlehre  nennt.  Die  Naturphilosophie  hat  es 
als  Physik  mit  den  caiisac  efficientes,  als  Metaphysik  mit  den 
caiisae  finales  zu  tun;  beide  haben  neben  dem  spekulativen 
einen  operativen  Teil,  der  in  der  Physik  durch  Mechanik,  in 
der  Metaphysik  durch  die  natürliche  Magie  gebildet  wird.  Die 
Psychologie  hat  es  nicht  mit  dem  von  Gott  dem  Menschen 
eingehauchten  Geiste ^  dem  spiracnlum.  zu  tun,  sondern  nur 
m^t  der  animalischen  Seele,  welche  Bacon  in  der  W^eise  des 
Telesius  für  einen  dünnen  und  warmen  Körper  hält,  in  bezug 
auf  welchen  er  namentlich  eine  nähere  Untersuchung  des  Ver- 
hältnisses  zwischen   Perception,   Empfindung  und   Bewegung 


6.   Bacon  von  Vcnilam.  '  500 

vermifst.  Hieran  schliefsen  sich  die  Logik,  welche  Klarheit 
der  Erkenntnis,  und  die  Ethik,  welche  die  Leitung  des  freien 
Willens  zum  Guten,  d.  h,  zum  individuell  und  zum  allgemein 
Nützlichen,  bezweckt.  Die  Politik  als  die  Wissenschaft  von 
der  allgemeinen  Wohlfalirt  sollte  nicht,  wie  bisher,  von  Juristen 
oder  Philosophen,  sondern  von  Staatsmännern  behandelt  wer- 
den. —  Indem  Bacon  am  Schlüsse  seiner  Schrift  alle  Desiderata 
zusammenstellt,  findet  er  den  Grund  für  die  mangelhafte  Be- 
arbeitung der  Wissenschaften  in  der  zu  grol'sen  Abhängigkeit 
von  den  Alten;  die  Ehrfurcht,  welche  man  vor  ihnen  hat, 
sollte  man  unserm  Zeitalter,  welches  alles  was  jene  und  noch 
so  viel  mehr  als  sie  hinter  sich  hat,  in  noch  viel  höherm 
Mafse  erweisen. 

2.  Das  Novum  Organon  bezweckt,  für  die  neue  Organi- 
sation der  Wissenschaften  eine  gesunde  methodische  Grund- 
lage zu  schaffen.  Hierzu  müssen  vor  allem  die  dem  mensch- 
lichen Geiste  anhaftenden  Vorurteile  oder,  wie  Bacon  sagt,  die 
Idole  beseitigt  werden.  Er  unterscheidet  vier  Arten  der- 
selben, die  idola  trihus,  specus.  for»  und  tlieatri.  a)  Die  idola 
Mhiis  sind  diejenigen,  welche  dem  ganzen  Menschengeschlechte, 
•der  ganzen  Tribus  als  solcher  anhaften.  Zu  ihnen  rechnet 
Bacon  vor  allem  die  Neigung,  die  Naturerscheinungen  teleo- 
logisch zu  erklären,  wodurch  schon  er  sich  als  mit  einem 
Grundgebrechen  der  ganzen  neuern  Philosophie,  nämlich  dem 
auf  Mifsverständnis  beruhenden  Kampf  gegen  die  Teleologie, 
behaftet  zeigt.  So  gewifs,  wie  sich  später  zeigen  ^vird,  alle 
Kräfte  der  Natur  im  Grunde  dasselbe  sind,  w^as  w^ir  in  uns 
als  Wille  finden ,  so  gewifs  ist  es ,  dafs  dieser  Wille  überall 
etw^as  will,  und  dieses  Etwas  ist  der  Zweck,  nach  welchem 
er  strebt,  mag  derselbe  nun,  wie  in  der  unorganischen  Natur, 
in  einer  Betätigung  physikalischer  und  chemischer  Kräfte  zur 
Verwirklichung  des  ihnen  innewohnenden  Strebens  bestehen, 
oder  mag  in  der  organischen  Natur  dieses  Streben  sich  zu 
einer  Vielheit  von  Organen  im  Räume  und  zu  einer  Reihe 
von  Zuständen  in  der  Zeit  auseinanderlegen,  welche  sämtlich 
zu  dem  gemeinsamen  Zwecke  der  Erhaltung  des  Lebens  un- 
bewufst  oder  bewufst  zusammenwirken;  b)  die  idoJa  specus 
sind  die  dem  Individuum,  welches  als  solches  in  der  dunkeln 


506  ^^-   I^er  Tagesanbruch  der  neuem  IMiilosopliie. 

Hohle  des  Piaton  sitzt,  anhaftenden;  sie  sind  überaus  zahlreich, 
und  Bacon  geht  nicht  auf  eine  nähere  Erörterung  derselben 
ein;  c)  die  idola  fori  sind  die  aus  der  Sprache,  der  Erziehung, 
dem  geselligen  Verkehr  eingesogenen  Vorurteile,  und  d)  die 
idola  theatri  sind  diejenigen  Vorurteile,  welche  wir  als  Erb- 
teil aus  den  Wissenschaften  der  Alten,  namentlich  aus  der 
aristotelischen  Philosophie  mit  uns  herumtragen.  —  Nachdem 
in  dieser  Weise  die  Tenne  des  Geistes  durch  Ausfegung;  der 
Vorurteile  gereinigt  ist,  erfolgt  der  neue  Aufbau,  welcher  sich 
lediglich  auf  die  Erfahrung  zu  gründen  hat;  nur  so  gewinnt 
man  die  vera  phüosophia,  qnac  mimdi  ipsins  voces  quam  fide- 
lissime  reddit  et  veluti  didantc  mundo  conscripta  est,  ncc  quid- 
quam  de  proprio  addit,  scd  tantum  iterat  et  resoiiat.  Hierzu 
aber  mufs  das  durch  die  Erfahrung  gelieferte  Material  bearbeitet 
werden.  Wir  sollen  nicht  blofs  sammeln  wie  die  Ameisen, 
noch  viel  weniger  etwas  aus  uns  selbst  herausspinnen  wie 
die  Spinnen,  sondern  wie  die  Bienen  sammeln  und  aus  dem 
Gesammelten  den  Honig  bereiten.  Dies  geschieht  nicht  durch 
den  von  Aristoteles  und  dem  Mittelalter  so  hochgeschätzten 
Syllogismus,  welcher  nur  den  Wert  hat,  aus  den  bereits  ge- 
wonnenen Wahrheiten  die  in  ihnen  liegenden  zu  entwickeln 
und  dadurch  zu  neuen  Erfmdungen  zu  gelangen,  sondern  durch 
die  Induktion,  in  welcher  Bacon  das  grofse  Instrument  der 
modernen  Forschung  richtig  erkannt  hat  und  deren  durch 
Aristoteles  aufgestellte  Theorie  ihm  nicht  genügt,  daher  er 
dem  Organon  des  Aristoteles  sein  Novtiui  Organon  entgegen- 
stellt. Es  genügt  nicht,  die  Beobachtungen  ^vcr  C'»iny<<;'>vt//o;/e»* 
simplicem  aneinanderzureihen,  um  dann  sofort  allgemeine  Sätze 
aus  ihnen  zu  gewinnen;  wie  ein  gerechter  Richter  soll  man 
neben  den  mstaiitiae,  den  Zeugenaussagen  der  Natur,  auch  die 
negativen,  ihnen  entgegenstehenden  Instanzen  berücksichtigen, 
und  so  z.  B.  bei  Licht  und  Wärme  über  dem,  was  sie  gemein- 
sam haben,  nicht  die  Fälle  übersehen,  in  welchen  sie  ver- 
schieden sind;  man  soll  dabei  auch  die  Unterschiede  des 
Grades  beachten,  wenn  z.  B.  bei  grad weiser  Steigerung  Licht 
und  Wärme  nicht  gleichen  Schritt  mit  einander  halten;  be- 
sonders aber  mufs  man  in  der  Menge  der  vorliegenden  Fälle 
die    Zufälligkeiten,    durch    welche    die    Natur    uns    gleichsam 


'■).   Kacoii  von  Verulam.  507 

einen  Possien  spielt,  von  den  instant iae  prucro<jativaf  unter- 
scheiden, welche  wie  ein  Wegweiser  ffinijcrpostj  zu  neuen 
Entdeckungen  und  Erfindungen  hinleiten;  endlich  soll  man 
von  dem  Einzelnen  aus  nicht  sofort  zu  allgemeinen  Sätzen 
hineilen,  sondern  bei  den  mittlem  Sätzen  verweilen,  welche 
in  dem  Mafse,  in  welchem  sie  der  Xatur  näherstehen,  auch 
an  Fruchtbarkeit  jene  allgemeinen  Wahrheiten  übertreflen. 
=*  Das  Verdienst  dieser  von  Bacon  aufgestellten  Regeln 
bleibt  auch  durch  die  bekannte  Tatsache  ungeschmälert,  dafs 
er  selbst  seine  Grundsätze  richtig  anzuwenden  noch  nicht  ver- 
mochte und  auch  dann  nicht  vermocht  haben  würde,  wxnn  es 
ihm  vergönnt  gewesen  wäre,  sein  grofses  sechsteiliges  Werk 
zu  vollenden. 

Von  den  zahlreichen  übrigen  Schriften  des  Bacon  mag 
es  genügen,  an  die  Sova  Atlantis  zu  erinnern,  einen  Roman, 
in  welchem  Bacon,  anknüpfend  an  Piatons  Erwähnung  der 
versunkenen  Insel  Atlantis,  sein  Zukunftsideal  der  durch 
Wissenschaft  und  Technik  zu  erringenden  Glückseligkeit  ent- 
wickelt. Er  schildert,  wie  ein  Schiff  auf  der  Reise  von  Peru 
nach  China  vom  Sturm  verschlagen  zu  der  Insel  Ben  Salem 
gelangt.  Dort  befindet  sich  in  der  Bornas  Salonionis  eine 
gelehrte  Gesellschaft,  das  Collegium  operum  sex  dar  am,  über 
deren  Zwecke,  Mittel,  Organisation  und  Kultus  der  Erzähler 
von  einem  Mitgliede  derselben  unterrichtet  wird.  Der  Zweck 
der  Gesellschaft  ist  Erkenntnis  der  Natur  und  dadurch  zu 
erreichende  Macht  des  Menschen  über  dieselbe  fcoynitio  caa- 
sanim  et  motmim  interioruni  in  natura,  atque  tcrniinornm  iui- 
perii  liumani  prolatio  ad  oninc  possihilej.  Zu  diesem  Zwecke 
besitzt  die  Gesellschaft  eine  Reihe  von  Mitteln  und  Instru- 
menten, bei  deren  Beschreibung  viel  Phantastisches,  wie  künst- 
liche Erzeugung  von  Pflanzen  und  Tieren,  von  heilkräftigen 
Lüften  und  Wassern,  Konstruktion  eines  Perpetuum  mobile  usw., 
sich  einmischt,  teils  aber  auch  Erfindungen  erwähnt  werden, 
welche  erst  in  einer  viel  späteren  Zukunft  gemacht  worden 
sind;  von  dieser  Art  sind  das  Teleskop  fartificia,  per  quae 
objecta  valde  reniota  in  oculos  incurrant,  veluti  in  coelo  et  aliis 
locis  remotisj,  das  Mikroskop  fartificia  et  perspicilla,  quibiis 
Corpora  mimiia   et  pusllla   distincte  et  pe.rfecte   cerninmsj,  die 


508  ^^-   Der  Tagesanbruch  der  neuem  Pliilosophie. 

Flugmaschine  fcommoäitatcs  vecüirae  per  aereni  '  instar  'ani- 
molmm  alatorumj  und  Unterseeboote  fnavcs  et  scapliae,  qitac 
siibter  aquas  navigare  possitit  et  pelagi  furores  melius  perferrej. 
Mit  einer  Mitteilung  über  die  Aufgaben,  welche  an  die  Mit- 
glieder der  Gesellschaft  in  der  Weise  verteilt  sind,  dafs  die 
einen  Entdeckungsreisen  in  ferne  Länder  machen  und  die 
andern  die  von  ihnen  gemachten  Entdeckungen  wissenschaft- 
lich verarbeiten,  sowie  mit  einer  Schilderung  der  gemeinsamen 
Gebete  und  Zeremonien,  zu  welchen  die  Mitglieder  der  Ge- 
sellschaft verpflichtet  sind,  schliefst  die  unvollendet  gebliebene 
Nova  Atlantis  des  Bacon. 

7.  Boschlufs. 

Zum  Beschlufs  unserer  Philosophie  des  Mittelalters  haben 
wir  um  das  Jahr  1600  in  Bruno,  Böhme  und  Bacon  drei 
Männer  kennen  gelernt,  von  denen  jeder  in  seiner  besondern 
Weise  den  Geist  des  neuen  Zeitalters  ankündigte,  aber  in 
genialer  Überstürzung  dem  Jahrhundert  vorauseilte  und  Ge- 
danken ausstreute,  welche  erst  in  viel  späterer  Zeit  zur  Keife 
und  Entwicklung  gekommen  sind.  Eben  darum  hat  die  neuere 
Philosophie  von  keinem  dieser  drei  Männer  ihren  Ausgang 
genommen,  sondern  von  dem  schlichten  und  nüchternen  Des- 
cartes,  wiewohl  er  weder  Brunos  Begeisterung  und  Verständ- 
nis für  die  Natur,  noch  Böhmes  Eindringen  in  die  tiefsten 
ethischen  Probleme,  noch  auch  Bacons  umfassende  Übersicht 
über  das  gesamte  menschliche  Wissen  besafs.  Dies  scheint 
zu  beweisen,  dafs  auch  im  geistigen  Leben  das  Gesetz  gilt: 
vatnra  rwn  facit  snltiis:  denn  während  jene  drei,  und  viele 
andere  mit  ihnen,  grofse  Gedanken  der  Zukunft  antizipierten, 
aber  der  Gegenwart  nicht  zu  bieten  wufsten,  was  sie  bedurfte. 
so  nahm  Descartes  den  Faden  der  Entwicklung  da  auf,  wo 
er  wirklich  lag,  indem  er  die  noch  tief  im  Bewufstsein  der 
Zeit  wurzelnden  Lehren  von  einem  aufserweltlichen  Gott  und 
einer  immateriellen  Seele  aus  dem  feierlichen  Halbdunkel  der 
mittelalterlichen  Systeme  in  das  helle  Sonnenlicht  einer  logi- 
schen Zergliederung  rückte  und  sie  dadurch  einer  Beleuchtung 
aussetzte,  welche  diese  Hauptdogmen  des  Mittelalters  nicht 
vertragen   konnten,  ,und  welche  unaufhaltsam  zu  einer  Fort- 


7.   Beschlufs.  509 

entwicklung  drängte.  Wie  auf  diesem  Wege  der  Theismus 
des  Mittelalters  zum  Pantheismus  und  sein  Dualismus  von 
Leib  und  Seele  zum  Idealrealismus  wurde  und  beide  schliefs- 
lich  im  Materialismus  verschlammten,  bis  endlich  Kant  dem 
von  jeher  in  Indien  wie  in  Griechenland  die  Philosophie  be- 
seelenden Idealismus  eine  feste  wissenschaftliche  Grundlage 
gab,  welche  im  geistigen  Leben  der  Menschheit  ein  neues,  zu 
den  höchsten  Hoffnungen  berechtigendes  Weltalter  herauf- 
führte, dieses  alles  im  einzelnen  nachzuweisen  ist  die  Haupt- 
aufgabe der  Geschichte  der  neuern  Philosophie. 


Deussen,  Geschichte  der  Philosophie.    II,n,2.  38 


INDEX. 

Die  Zahlen  verweisen  auf  die  Seiten  des  "VTerkes. 


A. 

Abaelardus  388. 

Abbasiden  399. 

Abgeschiedenheit  452. 

Abimelech,  Philisterkönig  75.  76. 

Abimelech,  Sohn  des  Gideon  87. 

Abner  88. 

Abraham  74  fg. 

dßpa^a;,  Geheimname  309. 

Absalom  89. 

Absorption  der  Juden  417. 

Abu  Bacer  411. 

Abu  Bekr  393.  398. 

Academia  Consentina  473. 

Academia  Platonica  461. 

Acceptiktionstheorie  447. 

Achämeniden  129. 

dy^7.ij.ü)i  310. 

Acta  Archelai  313. 

Adam  263. 

Adam  Kadmon  419  fg. 

Adapa  und  der  Südwind  55. 

Adramyttium  256. 

Aelia  Gapitolina  166. 

Aeonen  der  Gnostiker  309. 

Aeshma  Daeva  139. 

Agabus,  Prophet  251. 

Agag,  König  der  Amalekiter  88. 

Agrippa  II.  162. 

Agrippa  und  Berenike  253. 

Ägypten,  Ureinwohner  10. 

Ägyptischer  Einflufs  auf  die  Hebräer 

27. 
Ahab  91;  sein  Polytheismus  105. 
Almramazda  132.  136. 
'Aischa  394. 
Akkad  37. 

Akkommodation  der  Offenbarung  358 
Alarich  332. 

Albertus  Magnus  6.  429  fg. 
Alcuinus  365. 
Alexander  der  Grofse  171.  187. 


Alexander  von  Haies  428. 
Alexander  Jannaeus  (103 — 76)  151  fg. 
Alexandrinische  Theologie  317 — 321. 
Alexandrinische    und    antiochenische 

Schule  337  fg. 
Alexandristen  und  Averroisten  463. 
Al-Fajjumi  415. 
Al-Färäbi  404. 
Al-Ghazel  408  fg. 
alhaJ^l',  die  Realität,  satyam  403. 
Ali  395.  398. 
Al-Kindi  402. 
Allah  396. 

AUat,  Todesgöttin  34. 
Allmacht  Jesu  275. 
Allwissenheit  Jesu  276. 

Al-Ma'mün  401. 

Almosengeben  (zakät)  397. 

Altlutherische  Orthodoxie  481. 

Alt-Seidenberg  482. 

Amalricaner  426. 

Ambrosius  298.  343. 

Amesha-cpenta  137. 

Amnon  und  Thamar  89. 

Amos  111  fg. 

Amraphel  38. 

Amyitis  41. 

dvaxECptxXaicoai?  322.  372.  377. 

Anammelech  47. 

Ananias  240. 

Anaximandros  289. 

Andreas  Caesalpinus  465. 

Angeborene  Ideen  436. 

Angramainyu  136.  176. 

anima  naturaliter  Christiana  326. 

Animismus  35;  in  Ägypten  18. 

Anselm  von  Canterbury  382 — 388. 

Anselm  von  Laon  388. 

Anthropomorphismus  118.  285. 

Antichrist  246.  323. 

Antinomismus  327. 
i  Antiochien  250. 


Index. 


511 


Antioclnis  Epiphanes  147.   171.   187. 
Autipatcr  der  Idiimäer  153. 
Antonius  155.  330. 
Ana  47. 

Apokalyptik  97. 
drzoy.oi-i^j-y.'jiZ  320  fg.  378. 
Apokryphen  172  fg. 
Apollinaris  von  Laodicea  336. 
Apollos  246. 
Apologeten  304—307. 
Apostelgescliichte,  historisclier  Wert 

235  fg. 
Apostelsynode  243. 
Apostolische  Väter  300—304. 
Aquila  und  Priscilla  245.  246. 
Araber,  Charakter  392  fg. 
Aramäer  39. 
Aramäisch  39. 

Archelaus,  Sohn  des  Herodes  160. 
Aretas  241. 

Argumenta  ad  hominem  184. 
Aristobulos  (104—103)  151. 
Aristobulos  II.  152  fg. 
Aristoteles     im    Mittelalter     425  fg. 

465  fg.;   seine  Unterscheidung  des 

TzpoTipov    9'jcj£t    und    upoTepov    izgoz 

f|[j.a^  380. 
Arius  328  fg. 
Aschariten  401. 
Ascheräh  35.  68.  110. 
Aseität  124. 
Askese,  christliche  315. 
Asmodaeus  (Aeshma-Daeva)  176. 
Assarhaddon  (681—668)  40. 
Assurbanipal  (668—626)  40. 
Assyrer  40. 

Assyrische  Gefangenschaft  40.  93, 
'Abtoreth  ('AcppoSi-f])  52. 
Astralkörper  471. 
Astrologie  36.  46.  406. 
Astronomie  und  Astrologie  470. 
Astyages  129. 
Athalja  92. 
Athanasianer,  Pneumatomachen,  Semi- 

arianer,  Homoier,  Anomoier  329. 
Athanasius  328  fg. 
Atheismus  504. 
Athenagoras  306. 
Atman  und  Mäyä  348. 


Attraktion  und  Kepulsion  496. 
Auferstehung    der    Toten    142 ;     des 

Fleisches  182;  und  Unsterblichkeit 

183. 
Auferstehungslehre  des  Paulus  185. 
Augenzeuge  in  der  Apostelgeschichte 

235.  244.  250. 
Augustinus  342  fg. 
Augustinus  Niphus  465. 
Augusti  und  Caesares  332. 
Augustus  158  fg.  161. 
Aurora,  Morgenröte  im  Aufgang  484. 
Ausbreitung  des  Christentums  292  fg. 
Ausrottung  des  Baalkultus   in  Israel 

und  Juda  109. 
Ausweisungen  der  Juden  417. 
Aiit  Kantianismiis  aut  Materialismus 

442. 
Avempace  410. 
Averroes  465. 
Avesta  131.  133  fg. 
Avicenna  407. 
Avignon  454. 

B. 

Baalspriester  109. 

Bab-el  38. 

Babylonische  Gefangenschaft  42.  95  fg. 

Bacon  von  Verulam  499. 

Bad  der  Wiedergeburt  268.  278  fg. 

Bagistäna  44. 

Bagoas  145. 

Baktrer  129. 

Bdmäh  35.  110. 

Bardesanes,  Gnostiker  311  fg. 

Bar-Kochba  166. 

Barlaam  und  Josaphat  305. 

Barnabas  240.  241. 

Barnabas,  Brief  des  303. 

Bartholomäus  292. 

Basilides,  Gnostiker  308  fg. 

Bathseba  89. 

Baum  und  Früchte  232.  282. 

ßSeX'JYjjLa  tt]^  £pY]!J.a)C7£Co;  (vgl.  „Greuel 

der  Verwüstung")  148. 
Beatrice  438  fg. 
Beda  Venerabilis  365. 
Bekenntnis  des  Petrus  222. 
Bei  47  fg. 

33* 


512 


Index. 


Belisar  334. 

Bellt  51. 

Belsazar  (Nabunähid)  170.  171. 

Benedict  von  Nursia  330. 

Berber  erobern  Cordova  410. 

Bernhard  von  Clairvaux  389. 

Berossos  43. 

Berufung  auf  den  Kaiser  253. 

Besessenheit  177. 

Bessarion,  Kardinal  461. 

Beste  aller  möglichen  Welten  434. 

Bethlehem  195. 

Bibliotheca  Laurentiana  461. 

Bibliothek  des  Assurbanipal  40.  44. 

Bilderverbot  111. 

Bileam  82. 

Bischofsliste,  römische  322. 

Blinde  Blindenleiter  225. 

Blindgeborener  275. 

Boccaccio  460. 

Boethius  364.  380. 

Bogomilen  315. 

Böhme  208.  481  fg. 

Böses  in  Gott  490. 

Böses  nur  negativ  376. 

Böses  Prinzip  neben  dem  guten  135. 

Böses  und  Übel  durch  Gott  gewirkt 

122. 
Bralima-nirvänam  1 86. 
Brand  von  Rom  259. 
Briefe  des  Paulus  234. 
Brüder  des  gemeinsamen  Lebens  408. 
Bruno,  Böhme,  Bacon  467. 
Brutus  218. 
Buch  des  Bundes  99. 
Buddha  als  christlicher  Heiliger  305. 
Buddhismus  im  Süfitum  403. 
Bulle:  In  coena  Domini  449. 
Bundehesh  130.  132  fg. 
Bundeslade  87.  89. 
Buridanus,  Johannes  456, 
ßuio?  310. 

C. 

Caelestius  345. 

Daligula  159.  160.  161  fg. 

Qaiikara  344. 

(JaoshymK:,  Heiland  142.  188. 

Card an US  472. 

Cäsar  als  Wohltäter  der  Juden  154. 


Cäsarea  Philippi  214. 

Cassianus  347. 

Cassiodorus  364. 

Cassius  155. 

Cato  von  Utica  440. 

Qatvaqtran,  Weltversammlung  143. 

causae  frimordiales  375. 

Celsus  307.  319. 

Chahiri  71  fg. 

Chadidscha  393. 

Chalifen  398. 

Chammurabi  (1958—1916)  38. 

Champollion,  Pantheon  egj'ptien  11. 

Charakter  der  Semiten  30  fg. 

Chemie  und  Alchemie  470. 

Cheops,  Chephren,  Mykerinos  16. 

Chiliasmus  323. 

Chosroes  Nuschirvän  130. 

Christentum,  Grundgedanke  289  fg. 

Christus  der  Kirche  281 ;  in  uns  und 

für  uns  262;  idealer  bei  Paulus  268. 
Christus  in  uns  498  fg. 
Christuserscheinung  des  Paulus  238. 
Christusgestalt  des  Paulus  240. 
Chronika,  Esra,  Nehemia  101. 
Chuen-Aten  27. 
Chumbaba  62. 
Chut-Aten  27. 
Cid  (Don  Rodrigo)  400. 
Cinvat,  Brücke  141. 
circonstanzie  479. 
civitas  Dei  345. 

Claudius,  Kaiser  (41— 54)162.189.250. 
Claudius  Lysias  253. 
Clemens  Alexandrinus  318. 
Clemens  Romanus,   erster  Brief  302; 

zweiter  Brief  303. 
coinddentia    contradictoriorum    469. 

479. 
Columbus  467. 

comiüicatio  und  explicatio  469. 
conceptiü  immaculata  446. 
Confessiones  344. 
Consolatio  philosophiae  364. 
Constantin  I.  296  fg. 
Constantin  IL,  Constans,  Constantius 

297  fg. 
Contradictio  in  adjecto  186.  286.  300. 
Craosha  137. 


Index. 


511 


Crassiis  plündert  den  Tempel  154. 

credo  qitia  absurdum  325. 

credo  ut  intclli<fam  38Sfg.  432  fg.  442. 

Qndi  und  Smriti  395. 

Cur  Dcus  homo?  387. 

Cyprian  326  fg. 

Cyrill.  Patriarch  von  Alexandria  337  fg. 

351. 

D. 
i:)acva,  Dämon  134.  139. 
öaiijLwv,  Genius  138. 
Sa'..u6viov  des  Sokrates  244. 
Damascenus,  Johannes  365. 
Daniel,  Buch  169  fg.  200. 
Dante  Alighieri  6.  218.  438  fg.  460. 
jDaozhanqha,  Hölle  141. 
Darius  (521—485)  129.  144.  171. 
David  88  fg. 
Deboralied  99. 
De  causis  403.  427. 
Decianische  Verfolgung  295. 
De  conjecturis  469. 
De  difimtatc  et  augmentis  scicntiarum 

503'fg. 
De  divisione  naturae  373  fg. 
De  doda  ignorantia  469. 
De  qV  lieroici  furori  476.  481. 
De   la   causa  principio  et  uno    4^76. 

478  fg. 
De  V infinito  universo  et  mondiAlö.  478. 
Demetrius,  Goldschmied  247. 
De  revolutiombus    orbium  coelestium 

474. 
Der  Grimm  ist  die  Wurzel  aller  Dinge 

496. 
Derwischorden  402.  404. 
Descartes  344.  507. 
Destructio  dcstructionis  412. 
Destructio  pliüosoxjliorum  409. 
Determinismus  231.  281.  341. 
Determinismus  des  Paulus  266. 
Determinismus  des  Thomas  438. 
De  triplici  minimo  476.  480  fg. 
Dens  ex  machina  271. 
Dens  ipse  nescit  quid  Dens  sit  375. 
Deutero-Jesaia  97. 

DeuteronomischesGeschichtswerklOO. 
Deuteronomium  98. 
Diadochen  130. 


Stdy.ovo!.  302. 

Dialektik  des  Gewissens  268. 

SiSa^Y)  Tw'j  8u)8txa  dTioaxdXuv  303. 

Diognet,  Brief  an  306. 

Diokletianische  Verfolgung  296. 

Dionysius  Areopagita  245.  355 — 362. 

Doctor  angelicus  430. 

Doclor  perpJexorum  424. 

Doctor  subtiJis  445. 

Doctor  ■universalis  429. 

Doketismus  318.  338. 

Donnersohn  274. 

Doppelte  Materie  422.  446. 

Doppelte  Wahrheit  412.  455.  464. 

Dreifacher  Sinn  der  Bibelworte   320. 

Druj  139. 

Drusilla  253. 

Duns  Scotus  6.  442.  444  fg. 

Duns  Scotus  und  Kant  447. 

Dynastie  der  ägyptischen  Geschichte 
14. 

E. 

Ea  48. 

Eabani  62  fg. 

Ebionitismus  327. 

Eckhart,  Meister  6. 

Edikt  des  Antiochus  IV.  147. 

Egoismus    als   moralische    Triebfeder 
397. 

Egoismus  und  Religion  179  fg. 

Ehebrecherin  208. 

Einflufs  der  griechischen  Philosophie 
auf  Paulus  nicht  anzunehmen  262. 

Ekstase  260.  483. 

Elamitisch  45. 

clecti  und  auditores  314. 

Elephantine,  Papyrusfunde  169  fg. 

Elias  91;  Himmelfahrt  222;  und  Elisa 
109. 

Elihu  92. 

Elisa  92. 

Elohim,  Ilu  37. 

Elohist,  der  jüngere  100. 

Emanationslehre  405.  406.  420. 

Emanzipation  der  Juden  417. 

Empirische  und  metaphysische  Wahr- 
heit 464. 

Empirismus  459. 

Engel  174.  435. 


514 


Index. 


En  Soph  419. 

ens  perfectissimmn  434. 

entia  non  sunt  multijilieanda  praeter 

necessitatem  455. 
Entwicklung  der  paulinisclien  Christo- 

logie  277. 
Epheserbrief  254. 
EpJiod  85.  94.  111. 
l-irttJxo-Koi  302. 
Erbsünde  326.  346. 
Ereskigal  (Allat)  50.  63.  67. 
Erkenntnis  als  Grund  der  Erlösung  284. 
Erlösung  119. 

Erlösungslebre  des  Cbristentums  396. 
Ermüdung  des  antiken  Geistes  291  fg. 
Esagü  51. 

Esel  des  Buridan  456. 
Esra  97;  und  Nebemia  144.  169. 
Essener  201. 
Etemenanlci  51. 
Eudämonismus,  transscendenter  184; 

als  Konsequenz  des  Theismus  120. 
eubeco?  230. 

Evangelium  Jobannis  191.  270  fg. 
Evil-Merodacb  (561—560)  42. 
Exarcbat  334  fg. 
expansio  und  contr actio  481. 
extra  ecclesiam  nulla  Salus  327. 
Ewige  Scböpfung  320. 
Ewigkeit  der  Welt  407.  413. 
Ezecbiel  96. 

F. 
Fälscbung,  Begriff  derselben  256. 
FancV  (nirvänam)  404. 
Fasten  (sijäm)  397. 
Fatima  393. 
Faustus  314. 

Feldteufel  und  Feldgeister  35. 
Felix,  Prokurator  163. 
Fellah  10. 

Festus,  Prokurator  163.  253. 
Fiktionen,  keine  Fälschungen  356. 
Firdusi  133. 
Flagellanten  416. 
Fleisch  und  Geist  279. 
Fliehen  bei  der  Gefangennahme  219. 
Flutsage  der  Ägypter  27. 
Föns  vitae  422.  446. 
Forum  Appittm  258. 


Frankenreich  333. 

Fravashi  238.  177.  263. 

Freiheit  des  Willens  123  fg.  282.  284. 

286.  320.  323.  326.  341.  377.  486  fg. 

446.  452.  456  fg.  490  fg.  498. 
Fronto,  Redner  307. 
Fulbert,  Kanonikus  388. 
Fünf  Pfeiler  des  Islam  396. 
Fünklein  der  Seele  451. 
Fürst  dieser  Welt  178. 

G. 

Gainas  351. 

Galaterbrief  248. 

Galerius  296. 

Gallio,  Prokonsul  245. 

Gamaliel  209.  236. 

Garo-nmäna  141. 

Gäthä  133. 

Gaumata  129. 

Gaunilo,  liher  pro  insipiente  387. 

Gayo  maretan,  Urmensch  140. 

Gehet  (salät)  397. 

Gemara  415. 

Gemistos  Plethon  460. 

Gennadios,  Patriarch  461. 

Georgios  von  Trapezunt  461. 

Germanische  Eroberung  331 

Germanische  Mythologie  290. 

Gesetz,  seine  Bedeutung  nach  Paulus 
264;  nicht  gegeben,  um  gehalten 
zu  werden  267. 

Gesetz  der  Epigonie  301. 

Gesetzbuch  des  Ghammurabi  39;  Deu- 
teronomium  94;  Leviticus  98;  zwei- 
ten Tempels  144. 

Gesinnung,  nicht  Werke  391. 

Gessius  Florus  (64—66)  163. 

Gethsemane  195. 

Geus  urvan,  Urstier  140. 

Gewissen  264. 

Gideon  87. 

Gilgames-Epos  61  fg. 

Giordano  Bruno  475  fg. 

Gischala  164. 

Glapbyra  160. 

Glaube  287;  nach  Paulus  264;  und 
Liebe  265. 

Gleichnisse  Jesu  208. 


Index. 


515 


Gnaaeiigaben  248.  280.  . 

Gnosis  307—312.  317.  322  fg. 

Goethe  34. 

Goldenes  Kalb  81. 

Gordiamis  295. 

Görlitz  482  fg. 

Gott  als  cns  realissiiimm  384. 

Gott  und  Teufel  492. 

Götter  der  Ägypter  19  fg. 

Götterdj'Uastien  13  fg. 

Göttermythen,  babylonisclie  4G  fg. 

Gottesbegriff,  relativ  berechtigt  216; 

sein  tieferer  Sinn  284. 
Gottesidee,  berechtigt  173. 
Gottheit  und  Gott  450. 
Gottschalk  372. 

Gott-Schöpfer  und  Gott-Erlöser  307  fg. 
Grabeskirche  195. 
gratia  operans  und  cooperans  346. 
Greuel  der  Verwüstung  171. 
Griechische  Berichte  über  Ägypten  11. 
Griechische  Philosophie  aus  dem  Alten 

Testament  entlehnt  304. 
Grotefend  44.  132. 
Grotius  467. 

Grund  und  Folge  233.  282. 
Gursshehr,  Stern  143. 
Gutenberg  467. 
Gütergemeinschaft  der  ersten  Christen 

237. 

H. 

Imccceitas  445. 

Hadith  395. 

Hadrian  166. 

Tläl'is  404. 

Hagar  und  der  Berg  Sinai  237. 

Hamlet  438.  476. 

Jlara  herezaiti  137.  141. 

Iiarün  al-Raschid  399.  401. 

Ilasmonäer  148. 

Hauptmann  von  Kapernaum  213. 

Hausgötter  35. 

Hebräer,     sagenhafte    Vorgeschichte 

73—83. 
Hedschra  394. 
Heidenchristen  299  fg. 
Ileiligkeitsgesetz  116. 
Helena  296. 
Heliozentrisches  System  3.63, 


Hellenismus  der  Juden  146. 

Ileloise  388. 

Heraklit  207. 

Hermias,  StaaupiJi.6?  306. 

Herodes  Agrippa  I.  160.  161. 

Herodes  Antipas  159  fg. 

Herodes  der  Grofse  (40 — 4)  155.  156; 
Charakter  157. 

Herodes'  Erben  159  fg. 

Herodes  (in  der  Bibel  Philippus),  Ge- 
mahl der  Herodias  159. 

Herodias  159. 

Hethiter  68. 

Hexapla  319. 

Hierarchie,  kirchliche  323. 

Hieroglyphen,  phonetische,  ideogra- 
phische 12  fg. 

Hieroglyphische,  hieratische  und  de- 
motische Schrift  10. 

Himmelreich  186.  188.  202. 

Hieb  und  das  Problem  der  göttlichen 
Gerechtigkeit  125  fg. 

Hirt  des  Hermas  303. 

Hiskia  92  fg. 

Historische  Bücher  des  Alten  Testa- 
ments 99  fg. 

Hobbes  467. 

Iioc  sifjno  vincas  297. 

Hochzeit  zu  Kana  277. 

Hölle  378.  421.  490.  497. 

Hölle  als  uup  xaiJtxpaiov  320. 

Hölle  und  Paradies  des  Islam  397. 

Höllenfahrt  der  Istar  34.  66. 

Homer,Dante,Shakespeare,  Goethe438. 

Homöopathie  472. 

Horaz  290. 

Horeb  (Sinai)  79.  80.  83. 

Hosea  112  fg. 

Humanismus  458. 

Humboldt,  Alexander  von  8. 

Huzvaresh  132. 

Hyksos  16. 

Hypatia  351. 

Hyrkanien  145. 

Hyrkanus  IL  152  fg. 

I. 

Iblis  (SLdtßoXo?)  396. 
Ichheit  unverlierbar  452  fg. 


516 


Index. 


Idealschöpfung  im  Himmel  138  fg. 

Ideenlehre  widerspricht  dem  Theis- 
mus 384. 

Identität  der  Seele  mit  Gott  451  fg. 

Idola  tribus,  specns,  fori,  theatri 
505  fg. 

Idole  36. 

Idumäer  156. 

Ignatius  von  Antiochien  302. 

II  Candelajo,  der  Licht^ieher  476. 

Imäm  314. 

implicatio  und  explicatio  479. 

Indien  und  Iran  134. 

Indische  Religion  als  Ergänzung  der 
christlichen  270. 

Indische  und  biblische  Religions- 
geschichte 2. 

Individualität,  ihr  Fortbestehen  377  fg. 

Inquisition  416.  425.  477  fg. 

Inschrift  des  Königs  Mesa  103  fg. 

Inschriften  der  Achämenidenkönige 
131  fg. 

insijnens,  der  Tor,  Psalm  14,1  386. 

Inspiration,  ihr  richtiger  Begriff  300 fg. 

Instantiae  praerogativae  507. 

Instanzen,  negative  506. 

Instauratio  magna  500.  502. 

intelligens,  intelUgihile,  intelligere  405. 
469. 

intelligo  ut  credam  390. 

Iran  128. 

Iranische  Religion  134;  Sprachen  131; 
Stämme  128 ;  Weltanschauung  136  fg. 

Irenaeus  322  fg. 

Isaak  75  fg. 

Isebel  91. 

Isidorus  Hispalensis  365. 

Islam  396. 

Istar  51. 

Istar  und  Gilgames  62. 


Jablonsky,  Pantheon  Aegyptiorum  11. 

Jacobus  gibt  einen  unklugen  Rat  251. 

Jahn  169. 

Jahve  36.  69.  173  fg. 

Jahvist  99. 

Jakob  76  fg. 

Janitscharen  399. 


Jathrib  (Medina)  393. 

Jebus  (Jerusalem)  85.  89. 

Jehovist  100. 

Jehu  92.  109. 

Jcphta  87. 

Jeremia  95. 

Jerobeam  9  fg. 

Jerusalem  zerstört  165. 

Jesaia  93.  113  fg. 

Jesus,  Geschichtlichkeit  189;  trümmer- 
hafte Überlieferung  194;  Geburtsort 
196;  Kindheitsberichte  196;  Stamm- 
bäume bei  Matthäus  und  Lucas  196; 
übernatürliche  Zeugung  197;  pessi- 
mistische Anschauungen  1 98 ;  zwölf- 
jährig im  Tempel  198;  Familie 
199;  Jugendbildung  199;  geistiger 
Horizont  199 ;  Besuch  in  Nazareth 
199;  Verhältnis  zur  Familie  200; 
Einflufs  des  Buches  Daniel  201; 
Taufe  durch  Johannes  202;  Wirken 
in  Galiläa  204;  ökonomische  Lage 
204;  Umgang  mit  Zöllnern  und 
Sündern  205;  Lebensfreude  205. 
206;  Scherzworte  205;  Dürftigkeit 
206;  Lehren  in  Gleichnissen  208; 
Jugendlichkeit  209 ;  Exzentrizität 
209;  exorbitante  Aussprüche  und 
Forderungen  210.  216.  217 ;  Grund- 
charakter 211;  Liebe  zu  den  Kin- 
dern 211;  Wundergeschichteu  211 ; 
aufserordentliche  Kräfte  212;  Fort- 
entwicklung vom  Partikularismus 
zum  Universalismus  212 fg.;  Messia- 
nität  214;  Bewufstsein  von  Gott 
und  von  der  Welt  214;  Bekenntnis 
beim  Verhör  215 ;  Versuchungsfabeln 
215;  Weltverachtung  216;  Welt- 
fremdheit 217;  Urteil  über  Petrus 
219;  Welttrotz  220;  Stellung  zum 
Ritual  221;  Tempelreinigung  221; 
Schicksal  221  fg. ;  vorsichtiges  Auf- 
treten 221;  letztes  Abendmahl  223; 
Schweigen  vor  dem  hohen  Rate 
224;  Worte  am  Kreuz  224;  Justiz- 
mord 225;  Glaube  an  die  Auf- 
erstehung 226  fg.;  Christuserschei- 
nungen 227;  philosophische  Ele- 
mente seiner  Lehre  228;  iranische 


Index. 


517 


Einflüsse  230;  Determinismus  231; 
kategorischer  Imperativ  232;  bei 
den  Gnostikern  dreifach  310.   311. 

Jesus  iinjnUibilis  und  patihilis  313. 

Jesus  und  Kant  234. 

Jesus  und  Pauhis,  verschiedene  Cha- 
raktere 2(30—261. 

Jezirah  417.  418  fg. 

Joab  88  fg. 

Johauneisches  Evangelium,  Abhängig- 
keit von  Paulus  271  fg.;  universeller 
Charakter  271;  fünf  konstruktive 
Elemente  272;  Verfasser  273;  künst- 
licher Pragmatismus  274  fg. 

Johannes  Chrysostomus  337. 

Johannes  der  Täufer  201 ;  sein  Schick- 
sal 203. 

Johannes,  Donnersohn  219. 

Johannes  Hyrkanus  (135 — 104)   151. 

Johannes  Marcus  241.  244. 

Johannes  von  Gischala  164. 

Jonathan  der  Makkabäer  149. 

Joseph  77. 

Joseph  von  Arimathia  227. 

Josephus,  Geschichtschreiber  164. 173. 

Josia  (638—608)  94. 

Josua  84. 

Jubiläum  des  Römischen  Reiches  295. 

Judas  218;  bei  Johannes  278;  im 
vierten  Evangelium  275. 

Judas  und  Brutus  440. 

Judas  Makkabi  148. 

Juden,  ihre  Geschichte  144;  unter 
persischer  Herrschaft  144 fg.;  unter 
mazedonischer  Herrschaft  145  fg.; 
unter  ägyptischer  Herrschaft  (301 — 
198)  146;  unter  syrischer  Herrschaft 
146  fg. ;  unter  römischer  Oberhoheit 
153  fg.;  ihre  Privilegien  293;  ihr 
Schicksal  im  Mittelalter  413—417. 

Judenchristen  299  fg. 

Jüdisch-alexandrinische  Philosophie  5. 

Jüdischer  Aufstand  (66  p.  C.)  163. 

Judith,  Buch  145. 

Julianus  297  fg.  349.  414. 

Jünger,  ihr  Unverstand  218. 

Justi  133. 

Justin  der  Märtyrer  305  fg. 

Justiniau  I.  334. 


K. 

Ka'ba  393.  394. 

Kabbäla  417  fg. 

xaiMt]  xTiat?  (Wiedergeburt)  268.  278. 

Icaldm,  Diskussion  401. 

xaXoi  XiiJi.£V£?  257. 

Kambyses  120.  169. 

Kamel  und  Nadelöhr  209. 

Kamos  36.  69. 

Kamos  und  Jahve  104  fg. 

Kananäisches  Weib  213. 

Kangii,  See  142. 

Kanon  der  neutestamentlichen  Schrif- 
ten 321. 

Kant  198.  234.  282.  478. 

Kapernaum  199.  204.  205. 

Karl  der  Grofse  335. 

Katastrophe  des  assyrischen  Heeres 
unter  Sanherib  93  fg.  113. 

Kategorischer  Imperativ  232.  282;  bei 
Paulus  267. 

Katharer  315. 

Katholische  Kirche  300.  321—330. 

Katrei  von  Strafsburg  452. 

Keilschrift  38.  44;  persische  42. 

Kern  und  Schale  bei  Jakob  Böhme 
482. 

Kern  und  Schale  des  Christentums 
181  fg. 

Kindermord,  bethlehemitischer  196. 

Kindesopfer  69.  94. 

Kirche  und  Staat  im  Islam  398. 

Klauda  257. 

Kleanthes  236. 

Knechtschaft  und  Kindschaft  280. 

Knoten  der  Weltgeschichte  29. 

Koheleth,  Standpunkt  des  127. 

Kolosserbrlef  254. 

Kompafs  467. 

Königgesetz   des  Deuteronomium   98. 

Konstantinopel,  erobert  400.  460. 

Konzilien,  ökumenische  331.  350. 

Konzil  zu  Chalkedon  338;  Konstanti- 
nopel 329.  336;  Nicaea  329. 

Kopernikus  467.  473  fg. 

Koran  394  fg. 

Korintherbrief,  erster  248 ;  zweiter  249, 

Körperlichkeit  Gottes  325. 

Kosmologischer  Beweis  405.  433  fg. 


518 


Index. 


Kossäer  39. 

Krethi  und  Pletlii  89. 

Kreuzigung  des  Fleisehes  265.  283. 

Kreuzzüge  467. 

Krösus  42.  129. 

Ktesias  43. 

Kulturkreise  des  Mittelalters  368.  369. 

Kunst,  ägyptische  16. 

Kusari  des  Jehuda  ha-Levi  423. 

Kyaxares  41.  129. 

Kyros  II.  (558—529)  42.  97.  129.  144. 

La  eena  de  le  ceneri  476. 

La  Divina  Commedia  439  fg. 

Lamm  Gottes  275. 

Lanfranc  383. 

Langobardenreich  334  fg. 

Lanzenstich  282. 

Latein  als  gemeinsame  Kultursprache 

368  fg. 
Lautere  Brüder  405. 
Lazarus,  Krankheit  und  Tod  275. 
Lebender,  Sohn  des  Wachenden  411. 
Lebensstadien  406  fg. 
Legalität  und  Moralität  268. 
Leitung  des  Einsamen  410. 
lihellatici  295. 
Licinius  297. 
Liebe  als  Gebot  280. 
Logos  271. 

Logos  der  Stoiker  318. 
Logos,  subordiniert  323. 
Aoyo?  TCpoTpjTtTiy.o?  318. 
Xoyo?  a-n:£p[iaTt/.6?,  umgedeutet  306. 
Lucas-Evangelium  193.  194. 
Lucian  307. 
Lucilio  Vanini  465. 
Ludwig  der  Bayer  454. 
Lügenprophet  122. 
Lügenpropheten  109. 
Luther  über  Aristoteles  458. 
XÜTpov,  Lösegeld  320.  387. 
Lydia  244. 

M. 
Ma'at,  Göttin  der  Wahrheit  22. 
Machärüs  160.  165.  203. 
Machiavelli  467. 
Macht,  Weisheit,  Güte  391. 


Magalhäes  467. 

Magische  Wirkung  278. 

Mahdi  395. 

Maketen  352, 

Makrokosmos  und  Mikrokosmos  471. 

Malta,  Schiffbruch  bei  258. 

Manasse,  König  94. 

Manetho  13. 

Man!  (Manes,  Manichaeus)  312  fg. 

Manichäismus  312 — 315. 

Manna  81. 

Maquäsid  al-faläsifa  409. 

Marcianus  Capeila  363  fg.  380. 

Marcus-Evangelium  191.  193. 

Marduk  50. 

Maria  198. 

Mariamme  156. 

Mark  Aurel  294. 

Marsilius  Ficinus  462. 

Martianus  Aristides  305. 

Märtyrertum  220. 

martyres  295. 

Masada  165. 

Mashya  und  Mashyäna  140. 

Massensuggestion  228. 

Materialismus,  christlicher  365. 

Materialismus  des  Tertullian  324  fg. 

Matthathias  148. 

Matthäus  (Levi)  205.  207 ;  Evangelium 

191.  193. 
Maximus  Confessor  356. 
viäya  379. 

Mazedonischer  Mann  28.  244. 
Mazzehäh  35.  68.  110. 
Mediceer,  Cosmo  und  Lorenzo  460. 
Medina  394. 

Meister  Eckhart  442  fg.  447  fg. 
Mekka  393.  398. 
Melqart  69. 
Mena,   erster  ägyptischer  König  14; 

Zeit  15. 
Mensch,  alter  und  neuer  269. 
Menschen-Sohn  188.  217. 
Mercurius,  Sal,  Sulphur  471. 
Merneptah,  seit  1230  80. 
Mesa,  König  der  Moabiter  103  fg. 
Messias,  himmlischer  188;  leidender 

222.  223.      • 
Methode  der  indischen  Philosophie  443. 


Index. 


519 


Methode  des  Mittelalters  382. 391. 443. 

Mikrokosmus  497. 

Milct,  Abschiedsiede  in  251. 

Milkom  36.  69. 

Mischna  415. 

Missionierende  Religionen  396. 

Mitani,  Reich  70.  123. 

Mithra  134.  137;  -Kultus  130  fg. 

Mocenigo  476. 

Moghtasilah  (vgl.  Mu'tazila)  312. 

Mohammed  393. 

Moloch  69. 

Monade  480. 

Monarchianismus,    dj'namischer    und 

modalistischer  328. 
Mönchtum  330. 
Monergismus  278.  279.  284. 
Monergismus  und  Synergismus  269. 
Mouolatrismus  105. 
Monophysitische  Streitigkeiten  335  fg. 
Monotheismus   106;    der  Ägypter  26. 
Monotheletischer  Streit  340. 
Monsuns  in  Indien  9. 
Montanismus  315—317.  324. 
Montanus  316. 
Monte  Cassino  330.  430. 
Moralisches  Gefühl  bei  den  Hebräern 

53. 
Moralisches  Phänomen  459. 
Morija  75. 

Mose  79fg.;  seine  Geschichtlichkeit  83. 
Moses  Maimonides  423  fg. 
Moses  und  die  Inder  275. 
Mu'awija  398.  410. 
Mutakallimün  401. 
Mu'tazila  401. 
Mylitta  51. 

Mysterien,  ägyptische  21. 
Mysterien  des  Christentums  383.  433. 

Nabonedos  (Nabunähid)  (555—539)  42, 

97. 
Nachwissen  des  Angra  Mainyu  137. 
Naramsin  38. 
Narses  334. 
Nasiräatsgelülde  251. 
Nasiräer  201. 
Nathan,  Prophet  89 


Natura  non  faeit  saltus  220.  507. 
Naturblindheit  des  Mittelalters  443. 
Naturwissen   der  Renaissance  470  fg. 
Naturwissenschaft  und  Magie  470. 
Nazareth  196.  197. 
Nebo,  Berg  51.  82. 
Nebukadnezar  41.  95.  170. 
Nebupalassar  41, 
Nehemia  97. 
Nergal  50. 
Nero  164. 
Neronische    Christenverfolgung    259. 

294. 
Nestorius  337  fg. 
Neuere  Philosophie  1.  466. 
Neupersisch  133. 
Neuplatonismus  349. 
Nichtigkeit  von  Raum  und  Zeit  499. 
Nihilismus   179;   als  Konsequenz  des 

Theismus  119. 
Nikolaus  Cusanus  468  fg. 
Nilüberschwemmung  9. 
Ninib  (Adar)  49. 
Ninive  41;  zerstört  41.  95.  129. 
Nirvänam  186. 
Nominalismus  453. 
Nordische  Barbaren  298. 
voü;  zzoir^-ziv-öz  463. 
Nova  Atlantis  507. 
Novmn  Organon  503.  505  fg. 

O. 

Obelisken  20. 

Occam,  William  von  6 

Octavian  157. 

Odoaker  333. 

Offenbarung  114. 

Offenbarung  Johannis  219.  274. 

Ölberg  195. 

Omaijaden  399. 

Omar,  Kalif  131.  334.  398. 

Omnis  natura  vult  esse   conservatrix 

sui  225. 
c[ji.ooua'.o;  320. 

S[xto;  viv'l/.r/.a;,  w  Yalilcdt  298. 
Omri  91. 
Oncsimos  254. 

Ontologischer  Beweis  384  fg.  433. 
OiKra  supcrerogationis  141. 


520 


Index. 


Opfertod  287;  Jesu  263. 

Oppositionsschöpfung  des  Angra  Mai- 
nyu  139. 

Optimismus  als  Konsequenz  des  Theis- 
mus 118. 

Organisation  der  Kirche  322. 

Organisation  des  Römischen  Reiches, 
mangelhaft  331  fg. 

Origenes  319  fg. 

Originelles  und  traditionelles  Element 
482.  489  fg. 

Osiris  und  Typhon  20. 

Osmanen  399. 

Ostgotenreich  333. 

Othman  398. 

P. 

j^agani  298. 

llatSaytoYo?  zlz,  Xp'.srov  318.  323. 

Pairika  139. 

Palästina,  ein  offenes  Land  2  fg. ;  vor 
der  Invasion  der  Hebräer  68;  Er- 
oberung durch  die  Hebräer  84  fg. 

Pantaenus  318. 

Pantheismus  465.  483.  489. 

Pantheon  der  Ägypter  18  fg. 

Panther,  Löwe  und  Wölfin  439. 

Papias,  Zeugnisse  191. 

Papsttum,  Ursprung  334. 

Parabeln  von  Königen  217. 

Paracelsus  471  fg.  483. 

Paradies  241;  -Mythus  55  fg. 

Paradoxa  christiana  504. 

Parsen  in  Indien  131. 

Parther  in  Jerusalem  156. 

Partherreich  der  Arsaciden  130. 

Pastoralbriefe  256. 

2xitres  ecclesiue  300. 

Patriarchen  331. 

Patrimonium  Peti'i  334.     ' 

Patripassianismus  328. 

Patristik  5.  299—366. 

Patristik  und  Scholastik  367. 

Paulicianer  315. 

Paulus,  Abstammung  und  Geburt  236; 
Bildungsgang  236;  ob  er  Jesum  ge- 
kannt 237;  Christen  Verfolgung  238; 
Bekehrung  vor  Damaskus  238;  seine 
Beharrlichkeit  239;  Aufenthalt  in 
Arabien   239;    eigene   Offenbarung 


240;  Flucht  aus  Damaskus  241;  Ek- 
stase 241;  erste  Missionsreise  242  fg.; 
Predigtart  242;  sieht  von  der  Be- 
schueidung  ab  243;  Stellung  zu  den 
andern  Aposteln  244;  zweite  Mis- 
sionsreise 244;  Predigt  zu  Athen 
245;  dritte  Missionsreise  246;  Tier- 
kampf in  Ephesus  247;  Pfahl  im 
Fleisch  249;  Verhafstheit  bei  den 
Juden  251 ;  Festigkeit  und  Gefügig- 
keit 251;  letzte  Reise  256;  Ver- 
halten in  Rom  258 ;  angebliche 
zweite  Gefangenschaft  260;  Cha- 
rakterzüge 260;  und  die  übrigen 
Apostel  292. 

Paulus,  Dämonologie  178;  und  das 
vierte  Evangelium  270. 

Päzend  132. 

llTjY-f)  y'iüiatix)^  366. 

Pehlevi  132. 

Pelagius  345. 

Pepuza  316. 

Peregrinus  Proteus  307. 

perseitas  boni  447. 

Petrarca  460. 

Petrus  205;  Bekenntnis  214;  wankel- 
mütiger Charakter  220;  nach  Rom 
292. 

Petrus  Lombardus  392. 

Pharisäer  und  Saddueäer  172.  176  fg. 
184. 

Philemon  254. 

Philipperbrief  256. 

Philippi  241. 

Philippus,  Sohn  des  Herodes  159; 
Tetrarch  222. 

Philo  Judaeus  173.  183. 

pliilosophia  ancilla  theologiae  370. 

phüosoplda  prima  504. 

Philosophie  des  Mittelalters  1. 

Philosophie,  Pauli  Stellung  zu  der- 
selben 262. 

Philosophische  Elemente  in  der  Lehre 
des  Apostels  Paulus  262. 

Pliilosophus  aidodidactus  411. 

Philoxophus  Teutoniciis  489. 

Phul  40. 

Physiko-theologischer  Beweis  434. 

Pia  frans  227. 


Index, 


521 


Pilgerfahrt  nacli  Mekka  (haädsch)  397. 

lliaTi;  2o9Ca  311. 

Pithom  und  Ramses  79. 

Platonische  Ideen  379  fg. 

Piatons  Urteil  vom  Philosophen  218. 

Piatons  weltflüchtige  Ethik  289  fg. 

T:AT)pw[j.a  309.  310. 

Plinius,  Bericht  über  die  Christen  292. 

Plotin  33. 

Polykarj)  von  Smyrna  302. 

Polytheismus   der  Hebräer  102.   107. 

Polytheistische    Neigungen    zur   Zeit 

des  Jeremia  96. 
Pompejus  153  fg. 
Pomponatius  464. 
Pontius  Pilatus  190.  225. 
Porphyrius,  Isagoge  380  fg. 
Postexistenz  bedingt  Präexistenz  120. 
Praecursor     Christi     in     naturalibus 

427. 
Prädestination  209.  269.  282. 
Prädestination  im  Islam  396. 
Prädestinationslehre  woher?  266. 
Prädestinationsstreit  345 — 349.  372. 
Prädeterminismus  348. 
Prädikamente,  die  fünf  380. 
Präexistenz  320.  323.  421.  436. 
Praefectus  praetorio  258. 
Pragmatismus  274.  502. 
Praescienz  347.  372.  409.  425. 
Praxeas  317. 
Priester,  ägyptische  21. 
Priesterkodex  100. 
Priesterliches  Geschichtswerk  100. 
■princi'piuin  individnationis  445. 
Privilegien  der  Juden  414. 
Prokuratoren  161.  163. 
Prolog  des  vierten  Evangeliums  272. 
Propheten  108—109;  als  Träger  des 

monotheistischen  Gedankens  108. 
Propheten  des  Islam  397. 
Prophetenschulen  108. 
-pwTY^  iTipoTf];  450. 

■ÄpOTCpOV   9'JC7£'.   453. 

Protolatrismus  105. 

Psammetich  17. 

Pyramiden,  Mastaba's,  Felsengräber 

und  Grabgewölbe  in  Ägypten  15. 
Psychologie  des  Thomas  435  fg. 


Q. 

Quadratus  305. 
Qualitäten  bei  Böhme  494  fg. 
quidditates  433.  445. 
Quietismus  452. 

K. 

Rabbaniten  und  Karaiten  415. 

Rabbi  Akiba  166. 

radio  directo,  refrado,  reflexo  503  fg. 

Raimundus  Lullus,  Ars  magna  475. 

Raivasstaude  140. 

Ramän  (Hadad)  49. 

Bashnii  137. 

Räubersynode  zu  Ephesus  338. 

Realismus  der  Semiten  180  fg. 

Realismus  und  Idealismus  32.  378  fg. 

Realismus  und  Nominalismus  378—382. 

Realität  der  Aufsenwelt  344. 

Rebusraten  13. 

Rechtfertigung  nach  Paulus  264. 

Reformation  458. 

Reformation  des  Zarathusti-a  135. 

Reformversuch  des  Amenhotep  IV.  26. 

regula  fidei  317.  321.  324. 

Rehabeam  90  fg. 

Reisejournal  eines  Augenzeugen  250. 

Relatives  setzt  ein  Absolutes  voraus  384. 

Peligio  illidta  259.  293.  304. 

Renaissance  458. 

Renaissance  und  Reformation  6. 

Richter  in  Israel  86  fg. 

Richter,  Oberpfarrer  zu  Görlitz  484  fg. 

Ricimer,  Suevenführer  333. 

Rimmon  49. 

Roger  Bacon  453  fg. 

Römerbrief  250. 

Römischer  Stuhl  333. 

Roscellin  381. 

Rosette,  Stein  von  11. 

Roeth  12. 

Rutinus,  De  prind^nis,  319. 

Ruisbroeck,  Johann  449. 

S. 
Sabellianer  391. 
Sabier  396. 

Salaman  und  Asal  411. 
Salmanassar  IV.  (727—722)  40. 
Salome  Alexandra  (76—67)  151.  152. 


522 


Index. 


Salome,  Tochter  der  Herodias  159. 

Salomo  89  fg. 

Salomon  ben  Gebirol  421  fg. 

Salomos  Polytheismus  105. 

Samäel  421. 

Samas  49. 

Sanherib  (705—681)  40.  93. 

Säiikhya-Philosophie  373. 

Sarakos  41. 

Sardanapal  43. 

Sardes,  Eroberung  von  129. 

Sargon  I.  38. 

Sargon,  Eroberer  Samarias  (722 — 705) 
40.  93. 

Sassaniden  (226—636)  130. 

Satan  als  Diener  Gottes  174  fg.;   als 
Prinzip  des  Bösen  176  fg. 

Satz  des  Widerspruchs  336. 

Saul  87  fg. 

Saulus-Paulus  236. 

Schätzung  des  Quirinius  196. 

Scheinbarer  Egoismus  des  mpralischen 
Handelns  349. 

Scheinleib  313. 

Scheiterhaufen    378.    389,    391.    405. 
408.  416.  427.  465.  471.  477. 

Scheol  120.  181. 

Scherzworte  207. 

Schia  395. 

Schiefspulver  467. 

Schiiten  395. 

Schola  Palatina  371. 

Scholastik  5  fg. 

Schopenhauer  283. 

Schöpfungsmythus ,     babylonisch- 
hebräischer 54. 

Schutzengel  138.  177. 

Schwarzer  Tod  416. 

Schwenkfeld  483.  486. 

Scotus  Erigena  371  fg. 

Seelenwanderung  320.  323.  350.  481. 

Seelenwanderung,  angebliche  in  Ägyp- 
ten 23. 

Sein,  Erkennen,  Leben  344. 

Sein,  Weisheit,  Leben  374. 

Selbsterhaltungstrieb  der  Kirche  321. 

Selbstverleugnung  233.  283.  315. 

Seldschuken  (Türken)  399. 

Seleuciden  130. 


Semipelagianer  347. 

Semiramis  43. 

Semiten,  Hauptstämme  29 ;  und  Indo- 
germanen  31  fg. ;  ursprüngliche  Hei- 
mat 30;  ursprüngliche  Religion  35. 

Senfkorn  5. 

sensiis,  ratio,  intellectus  469. 

Sephiroth  420. 

Sepphoris  159.  164. 

Septuaginta  146.  182. 

Sergius  Paulus  242. 

Sermones  fideles'  500. 

Shakespeare  207. 

Sic  et  Non  389.  391. 

Silas  (Silvanus)  244. 

Simon  Bar-Giora  164. 

Simon  der  Makkabäer  150  fg. 

Simon  von  Kyrene  309. 

Simson  49.  85.  87. 

Sin  48. 

Sinear  37. 

Sine  expericntia  niliil  sufficienter  sciri 
potest  454. 

Sinmuballit  38. 

Sintflutsage ,    babylonisch  -  biblische 
57  fg. 

Sisak  (943—923)  91. 

Smerdis  129. 

Sohar  417.  419  fg. 

Sohn  Gottes  215. 

Soissons,  Synode  381.  383. 

Sokrates  198;  S.  und  Jesus  205. 

sol,  radii,  apices  325  fg. 

Sothis  (Sirius)  9. 

Sothisperioden  14. 

Sozialistische  Tendenzen  185. 

Spaccio  dela  bestia  trionfante  476.  481. 

aizzp\j.o\6yoz  236. 

Sphärengeister  405.  412. 

Sphinx,  ägyptischer  (Neb)  20. 

Spiegel,Eranische  Altertumskunde  135. 

Spinoza  473. 

Stammgötter  36. 

Stammgott  und  andere  Götter  36. 

Stater  im  Munde  des  Fisches  206. 

Stellvertretung  287. 

Stephanus,  Diakon  238;  Rede  des  3. 

Sterndienst  36. 

Stoische  Anwandlungen  262. 


Index. 


523 


Stratford  on  Avon  197. 

2Tpw,u.aT£r?  318 

ISuarez  459. 

Subordinatianismus  328. 

Sueton  über  die  Christen  293. 

Snetonius  Tranquillus  189. 

Sufismus  402  fg. 

Sühn  Opfer  263. 

Sultan  395. 

Sumerer  37  fg. 

Summisten  391  fg. 

Sündenfall  140.  286.  497. 

Sündenfall-Mythus  56.  70.  123  fg. 

Sündlosigkeit  286. 

Suuna  395. 

Sunniten  395. 

Suso,  Heinrich  448.  449. 

Syllogismus  und  Induktion  506. 

Sylva  sylvarum  503. 

Symbolum  Apostolicum  321. 

Synagogenwesen  96. 

Synesios  351  fg. 

Synoptikon  192.  212  fg. 

a'j-JT-fipY]ac?  436, 

2upTi?  257. 

T. 
Tacitus  189.  190. 
Tacitus  über  die  Christen  293. 
Talmud  166.  415. 
TDc  i}.b>  olV.oi  cp'.XoaocpMV,  ta  8'e'^w  91X0- 

|i.jjwv  353. 
Tantum  possumus  quantum  scimus  502. 
Tarsus  in  Cilicien  236. 
Tat  und  Gesinnung  233. 
Tatian,  Apologet  306. 
Taufe  der  Proselyten  201. 
Taufordnung  321. 
Tauler,  Johannes  448.  449. 
Teleologie  und  Mechanik  505. 
Telesius  472. 

Tell-el-Amarna  27;  Briefe  53.  70—73. 
Tempel  des  Salomo  90;  des  Serubabel 

97.  144;  des  Herodes  158.  165. 
Tempelsteuer  166.  206.  294. 
terra  lucida  und  pestifera  313. 
Tertullian  324  fg. 
Tertullianisten  317. 
TSTpaxTÜ;  310. 
Teufel,  erstes  Vorkommen  137. 


Teufelaustreibungen  177.  212. 

Thammüz  52.  63. 

Theismus,    philosophisch    beurteilt 
117  fg.;  relative  Berechtigung  115  fg. 

Theodorich  364  fg. 

Theodorus  Gaza  462. 

Theodosius  298. 

Theologia,  deutsch  449. 

Theologie,  bejahende  und  verneinende 
356  fg.  374. 

Theologie  des  Aristoteles  403. 404. 427. 

Theophilus,  Patriarch  von  Alexandrien 
337.  352. 

Theophilus  von  Antiochien  306. 

ilwcj!.?.  Vergottung  360. 

isoToxo^,  deipara  338. 

Therdphhn  35.  68.  85. 

Thessalonich  244.  245. 

Thessalonicherbrief  246. 

Thomas  292. 

Thomas  von  Aquino  6.  430  fg. 

tJmrificati  295. 

Tiberias  159.  160.  199.  217. 

Tierkultus  in  Äoypten  19. 

Tiglathpilesar  IL  (745—727)  40.  93. 

Timotheus  244. 

Titus  165. 

Tod  als  Sold  der  Sünde  264. 

Toleranzedikt  296. 

Torquemada,  Grofsinquisitor  416. 

Totenbuch,  ägyptisches  (pert  mJterii) 
13.  25. 

Totengericht,   ägyjptisches  25;   durch 
Qaoshyan^  143. 

Totila  und  Teja  334. 

Traditionelles    und     originelles    Ele- 
ment 228.  263.  265. 

Trajan  163. 

Trajan  und  das  Christentum  292  fg.  294. 

Tres  Tahernae  258. 

ipißwv,  Philosophenmantel  305. 

Trinitätslehre  354. 359.374. 450. 494  fg. 

Tritheismus  381. 

Trivium  und  Quadrivium  363.  365*  454. 

Tryphon,  der  Jude  306. 

Tugendlehre  des  Thomas  437. 

Turiner  Königspapyrus  13. 

Turmbau  zu  Babel  51. 

Tyrannei  des  Begriffs  296.  477  fg. 


524 


Index. 


U. 

Ukshyat-ereta,  Prophet  142. 

Ukshyat-uemo,  Prophet  142. 

Ulfilas  333. 

Umschiffnng  Afrikas  unter  Neko  17. 

universalia  ante  res  375.  379.  444.  455. 

nnwersaUa,  dreifach  408.  433. 

universalia  in  rebus  379.  390.  404. 

universalia  2^ost  res  379. 

Unsterblichkeit  435. 

Unsterblichkeit  und  Moralität  179. 

Unsterblichkeitskraut  65. 

Urmarcus  192.  212. 

Urmatthäus  192. 

Urmensch  (Gayo  Meretan)  313. 

Urusalim  (Jerusalem)  72.  73. 

Urväter,  babylonisch -biblische  56  fg. 

Utnapistim  58. 

V. 

Valentinianer  309  fg. 

Valentinus,  Gnostiker  809. 

Vandalenreich  332. 

Vasco  de  Gama  467. 

vaticinia  post  eventum  170. 

Vedänta  403. 

venerahilis  inceptor  454. 

Venus  und  Adonis  52. 

Verehrungsbedürfnis  stärker  als  histo- 
rische Treue  194. 

Verfall  der  antiken  Religion  292. 

Verfolgungen-  der  Christen  293  fg. 

Vergeltungslehre  des  Alten  Testaments 
124  fg.  187. 

Vergottung  403.  452. 

Verulamium  501. 

Vespasian  164.  165. 

Via  Appia,  258. 

Viereinigkeit,  quartitas  494. 

Virgil  439. 

Vishtaspa,  König  135. 

Vita  nuova  439. 

Völkerwanderung  332. 

Volkshumor  178. 

Volkszählung  durch  David  176. 

Voluntarismus  409.  422. 

voluntas  est  superior  intellectu  442. 446. 

Vulgata  182. 


W. 

Wadi  Bekka,  Schlacht  am  334.  399. 
AVaffenstillstandzwischenAlturamazda 

und  Angra  Mainyu  136  fg. 
Weg  zu  Christo  486. 
Weigel  483.  486. 
AVeissagungen  bei  Matthäus  193. 
Weltbrand  314. 
Weltende     nahe    bevorstehend    188. 

211  fg.  229.  248. 
Welterlösung    und    Weltschöptung 

285. 
Weltperioden  und  Dichter  438. 
Weltschöpfung  285  fg. 
Weltüberwindung  216. 
Westgotenreich  332. 
"Widerruf  des  Meister  Eckhart  449  fg. 
Wiedergeburt  269.  278.  28Bfg.;  W.  als 

Zentraldogma  231. 
Wilhelm  von  Champeaux  388. 
William  von  Occam  444.  454. 
Worte  am  Kreuz  193. 
Wunder  211  fg.  235. 
Wunder  im  vierten  Evangelium  277. 
Wüstengürtel     in     Nordafrika     und 

Asien  8. 

X. 

Xerxes,  Kshayärsha,  Ahasverus  (485 — 
465)  129.  144. 

Xisuthros  (Chasis-Atra)  58. 

Y. 

Yazata  137. 
Yisö  — -  Jesus  313. 
Yoga-Stufen  454. 

Z. 

Zarathustra  135.  142. 
Zehn  Gebote,  die  80.  81. 
Zeitalter,  vier  142. 
Zeitlose  Schöpfung  375. 
Zeitlosigkeit  Gottes  450. 
Zend  132. 
Zend-Avesta  130. 
Zinngefäfs  483.  490. 
Zuchtmeister  auf  Christum  264. 


Verzeichnis  der  Bibelstellen, 

welche  im  vorliegenden  Bande  erwähnt  oder  besprochen 

werden. 


Seite 

1.  Mose  1 118 

»  1,2  54 

»  1,27 117.  285 

^)  1,31 119 

»  2,4  99 

»  2,17 55 

«  2,25 56 

»  3,3  55 

»  3,11 56 

»  3,19 120 

))  3,22 55 

»  4—5 56 

»  6—9 59 

»  6,5  61 

»  6,6  118 

»  6,14 59 

«  7,11 118 

»  8,21 61 

»  9,22 61 

»  11  51 

»  14  38 

»  17,17 75 

»  18,27 33 

»  31,19 36.  69 

»  31,34 36 

»  41,36 63 

»  43,34  .........  78 

2.  Mose  2,23 80 

»  3,6  184 


Seite 

2.  Mose  9,12 122 

»       10,20 122 

»       11,2  80 

»       12,35 80 

»       14,8  122 

»       19,9  80 

»       20,5  275 

»       20,10 206 

»       20,22 80 

»      20,23—23,30 99 

»       32,16 81 

»       34 99 

»       34,28 81 

3.  Mose  181 

»       17,7  35 

»       19,2  174 

»       20,10 208 

»       20,26 116 

»       21,8  116 

»       26  121 

4.  Mose  12  8  280 

5.  Mose   2  121 

»       17,14-20 98 

»       28  181 

»       23,8  145 

»       23,18 69 

»       23,25 206 

»       34,10 280 

Richter  3,5—6 86 


526 


Verzeichnis  der  Bibelstellen. 


Seite 

Richter  5 99 

»        6,2—4 86 

8,27 111 

»      17,5       111 

»      18,14 35 

»•     18,14—24 69 

»      18,24 35 

1.  Samuelis  14,47 88 

»           15,33 104 

»           16,14 122 

»           16,16 122 

»           18,10 122 

»  19,13 35.  69 

»           26,19 122 

»           28,13 66 

2.  Samuelis     7,13 186 

»           24,1      ....    122.  176 

»           24,16 174 

1.  Könige  15,18   .......  91 

»         22,20—22 122 

2.  Könige     5,18 49 

»         17,30 50 

»         17,31 47 

»         18,4 .  35 

»         18,26 39 

»         19,35 94 

»         21,6 69 

»         23,4—20 110 

»         23,11 49 

»         23,13 104 

1.  Chron.   21,1 176 

Esra  6,7 .  144 

Hieb    1—2 175 

))     19,25—26 182 

»     26,12—13 54 

))     36,15 126 

»     38—41      126 

»     42,7  . 126 

Psalm   6,6 181 

»        8,5 •    •  33 

»      16,10 181 

»      17,15 181 

»22        222 


Seite 

Psalm  22,2 224 

).       37       125 

>)       44,24 118 

»       49,16 182 

»       73      125 

»       73,26 182 

»       74,13—14 54 

V)       78,65 118 

»       89,11 54 

»       90,2 285 

»     104,4 174 

•  »     121,6 49 

»     144,4 33 

Prediger  8,14  fg 127 

»         9,2  fg 127 

Jesaia  1,10 113 

»       5,26 118 

.)       6,8—10 209 

»        7,18 118 

»      11,6-8 187 

»      13,21 35 

..      26,19 182 

»      34,14 35 

»      37,36 94.  174 

,,      40—66 97 

»      40,3     .........  202 

»      42,13 118 

»      44,13 106 

).      45,6—7 122:  174 

»      46,1 51 

»      51,9—10 54 

»53        222  fg. 

))      53,7 277 

»      65,5 118 

Jeremia  10,23 266 

»        12,1 122 

»        44,17 96 

»         44,17—19 52 

»         50,2 51 

Ezechiel   8,14 '  .    .  52 

»        14,14 170 

»       33,v!2  . 96 

»       37        181 


Verzeichnis  der  Bibelstellen. 


527 


Seite  i 

Daniel  7,13—14  171. 187. 202. 213. 215 

»      8,14 170 

))      9,27 148.  246 

»    11,31    . 148.  171 

»    12,2 .  183 

»    12,11 171 

»    12,13 183 

Hosea   6,6 112.  229 

»      13,14 181 

Arnos  3,6      122 

»       5,21—24    .    .  • 112 

»       8,4-6 112 

Micha  1,6      151 

»       5,1      187.  196 

»       6,6—8 114 

Zephanja  1,4—6 110 

Sacharja  3 126.  175 

Weisheit  3,1 183 

»         8,19 183 

»         9,15 183 

1.  Makkabäer  1,57 148 

6,7 148 

2.  Makkabcäer  7   183 

Ev.  Matthäi  4,12 202 

»  4,17 213 

5,8   184 

»  5,15 209 

»  5,27—30  ....  210 

»  5,39 210 

»  5,40 210 

»  5,48  .  .  116.  174.  232 

»  6,3   209 

»  6,34 210 

»  7,3   .....  .  210 

»  7,6   209 

»  7,16—18  ....  232 

»  8 213 

»  8,11 206 

»  8,11—12  ....  213 

»  8,20  ....  20G.  206 

»  8,22 207 

»  9,13  ....  113.  229 

»  9,15-17  ....  205 


Seite 

Ev.  Matthäi  10,5   213 

»    10,7   213 

»    10,8   177 

»    10,8—14 204 

»  10,25 204 

»  11,3   ......  214 

»    11,7—13 202 

»    11,12 221 

»  11,16-19  .•  .  .  .  205 

»  12 232 

»    12,7 113.  229 

»  12,33—35  ....  232 

»  12,43—45  ....  178 

»  13,13—14  ....  206 

»    14,2   202 

»    14,13 222 

»    15    213 

»    15,11 221 

»    15,13 234 

»    15,24 213 

»    16,7   218 

»  16,13—17  ....  214 

»    16,18 219 

')    16,23 177 

»  16,24  ....  233.  283 

»  16,27—28  ....  217 

»    17,15 48 

»  .  17,24—27  ....  206 

»  18,6   ......  210 

»  18,10  .  .  137.  176.  263 

»    19,12 210 

»  19,21  ......  210 

»    19,24 209 

»    19,26 234 

»    19,28 230 

»    21,21 210 

»    22,2—14 208 

»    22,21 207 

»    -22,30 184 

»  22,31—32  ....  184 

.  »  23    ...  209.  221fg. 

»    23,24 209 

»  24,15  ....  148.  276 


528 


Verzeiclinis  der  Bibelstellen. 


Ev.  Matthäi  24,29 230 

24,34 217 

25,32 230 

25,41 147 

26,23 278 

26,29 206 

26,53 210 

26,56 219 

26,63—65  ....  215 

27,25 225 

27,46—50  ....  224 

27,64  ......  227 

Ev.  Marci  1,1   198 

1,14 202 

»    2,27 206 

))   -  3,15 177 

»    3,17  .  .  .  ~  .  219.  274 

»    3,20—35 200 

»    4,11—12 208 

»    4,13 218 

»          6,1—5 199 

»    6,3   198 

»    6,8—11 204 

»    6,14 202 

»    6,20  ....'...  202 

»    6,21 202 

»    8,38—9,1 217 

»    9,22  .......  48 

»    10,14 211 

»    13,24 230 

»    13,30  .......  217 

»    14,20 278 

»    14,50 219 

»    14,61—64 215 

»    16,9   177 

Ev.  Lucae  6,20 185 

.  .  .  210 

...  202 

•.  .  .  177 

...  206 

...  204 

9,26—27 217 

9,54 219.  274 


6,29 

7,24- 

8,2 

8,3 

9,3- 


-28 


Seite 

Ev.  Lucae  10,4—11 204 

»    10,18 177 

»    11,24—26 178 

»    13,16 177 

»    13,31 222 

»    14,16-24 208 

»    16,19 184 

»    17,10 233 

»    19,40 210 

»    21,24  fg 230 

»    21,32 217 

»    22,31 177 

»    22,35 206.  206 

»    22,68—71 215 

»    23,43 56 

»    24,21 188 

Ev.  Johannis  1,3 277 

»     1,5 179 

»     1,13 279 

»     1,14 272 

»  1,17—18  ....  279 

;o     1,29 277 

>^  1,32-33  ....  277 

»  1,48  ......  276 

»     2   277 

»     2,4 274 

»     2,19 277 

»  2,19—21  ....  276 

»  2,24—25  ....  276 

»     3,3 279 

»     3,6 279 

»     3,10 280 

»     4,18 276 

»     4,21 280 

»     4,34 277 

»     4,52 277 

»     5,4 277 

»     5,24 179 

»     5,28 277 

»  5,28—29  ....  186 

»     5,39 280 

»     6,29 279 

»     6,37 279 


Yerzeichnis  der  Bibelstellen. 


529 


Seite 

Seite 

Ev.  Johanuis  6,44 279 

Apostelgeschichte  1,21—22  .    .     198 

»            6,49 

.     280 

» 

7,22   ...     3.    79 

»            6,64 

.     275 

» 

9,3—9  ...     238 

»            6,65 

.     279 

)) 

9,25  ....     241 

»            6,70 

.     275 

» 

10,37  ....     198 

»            7,6 

.     274 

» 

11,25-26    240.  261 

»            7,30 

.     274 

» 

11,30  ....     241 

•      »            8 

.     277 

» 

12        ....     240 

))            8,3—] 

1 

.     207 

» 

13        ....     240 

»            8,6 

184.  280 

» 

13,9     ....     236 

»            8,20 

.     274 

» 

15,1     ....     243 

»            8,44 

.     179 

» 

16,9     .    .    .28.  244 

»            8,36 

.     280 

» 

16,10—17    235.  244 

»            8,58 

276.  280 

)) 

17,15  ....     246 

»            9 

275.  277 

» 

17,21   ....     242 

9,2 

120.  275 

» 

17,28  ....     262 

»           10,8 

.    .     280 

» 

18,27   ....     246 

»          10,30 

216 

» 

20,5-21,18  235.250 

»          11 

277 

» 

22,6-11     .    .     238 

»   '      11,4 

275 

» 

23,8     ....     176 

»          11,11- 

-1^ 

t 

277 

» 

24,27  ....     253 

»          11,24 

186 

» 

26,12—18  .    .     238 

»          11,42 

275 

» 

27,1—28,31    .     235 

»          11,51 

277 

» 

28,22  ....     259 

»           12,31 

178 

» 

28,30  ....     259 

»          13,26- 

-2' 

1 

278 

Römer  1,3 

197 

»          13,34 

280 

»       2,15 

264.  268 

»          14,6 

279 
178 
280 
279 
280 
178 
216 

»       2,29 
»       3,12 
«       3,20 
■>       3,25 
»       3,28 
»       5,12 
»       6,4 

....•,...     268 

»          14,30 

264 

»          15 

264 

»          15,5 

263 

»          15,15 

264 

»          16,11 

264 

»          16,33 

265.  269 

»          17,2 

277 
278 

»        6,6 
»       6,23 
»       7,18 

269 

. »          18,6 

264 

»          19,35 

273 

269.  283 

»          20,19 

277 

278 

»       7,23 
»       7,22- 

266 

»          20,22 

-25 268 

»          20,26 

277 

»       8,3 

........     267 

»          21 

273 

277 
188 

»       9,16 
»       9,21 
»      11,36 

267 

»          21,17 

267 

Apostelgeschichte  1,6 

. -262 

530 


Verzeichnis  der  Bibelstellen. 


Seite 

Römer  12,2 278 

»       15,31 251 

1.  Korinther  1,16 242 

»            1,20 262 

»            2,10    ......  262 

»            2,14 262 

»            3,19 262 

»            8,6      276 

»            9,20    ......  260 

>^          11,23—26    ....  223 

»           11,24 263 

«           12,12 280 

»          13         280 

»           15         185 

»          15,3—8 227 

»          15,8      238 

»           15,10    .■ 219 

»          15,32 247 

»          15,42—47    ....  185 

2.  Korinther  3,6      208 

4,4      178 

4,7      ...    .    117.  281 

»            5,2      263 

»            5,16    ....    237.  268 

»            5,17 278 

»          11,5      219 

))          11,6      236 

»          11,13 249 

»          11,23 219 

«          11,32—33    ....  241 

»          12,1—5 241 

«          12,7—9 249 

12,11 219 

Galater  1,11—12 240 

»        1,14 220.  237 

»        1,15 266 

»       1,15—19 239 

»        1,16 238 

»       1,17 241 

»       1,21—24 240 

»       1,22 241 


Seite 

Galater  2      220 

■  »        2,1  fg 243 

»        2,2 219 

»        2,9 219.  273 

»        2,14 220 

»        2,20 269 

»        3,21 267 

»       3,24 264 

»       3,27 269 

»       4,14 .  249 

»        4,19 269 

4,25 237 

»        5,6       265 

»        5,24 269.  283 

»        6,14 269 

»        6,15 268.  278 

»        6,17 249 

Epheser  1,1      254 

»         3,9      ^.    .  276 

»         6,11—12    ....*..  178 

Philipper  1,23 259 

»    1,25 259 

»    2,12 267 

»    2,12—13 255 

»    2,17 259 

»    2,23 259 

»    2,24 259 

»    3,10 259 

Kolosser  1,15 276 

»        2,8 262 

»        3,9 269 

1.  Thessalonicher  3,2      ....  245 

2.  Thessalonicher  2,4     .    .    148.  246 

Titus  3,5 268.  278 

1.  Johannes  3,8 175 

3,14 179 

»           4,16 179 

»            5,19 179 

Hebräer  11,1    ......    265.  285 

»        11,3 285 


Druck  von  F.  A.  Brockbaus  in  Leipzig. 


Werke  von  Paul  Deussen: 

Commentatio    de  Piatonis  Sophistae  compositione  ac 
doctrina.    (Bonn,  Marcus,  1869.)    Leipzig,  F.  A.  Brockhaus.  • 
Geh.   1  M.   20  Pf. 

Die  Elemente  der  Metaphysik.  Als  Leitfaden  zum  Gebrauche 
bei  Vorlesungen,  sowie  zum  Selbststudium  zusammengestellt. 
Nebst  einer  Yorbetrachtung  über  das  Wesen  des  Idealis- 
mus. Leipzig,  F.  A.  Brockhaus.  Sechste  Auflage.  1919.  8. 
Geh.   8  M. 

Elements  of  Metaphysies:  a  Guide  for  Lectures,  translated  by  C.  M.  Dufif. 
Eondon.  Macmillan  &  Co.,  1894.    6  s. 

Les  elements  de  la  metaphysique.  Traduktion  du  Dr.  Ern.  Nyssens,  revue 
et  approuvee  par  l'auteur.    Paris,  Ferrin  et  Cie.,  1899.    4  fr. 

Uli  Elemeuti  della  Metatisiea,   con  introduzione  di  Luigi  Suali.  Pavia  1912. 

Elements  of  Metaphysies,  translated  into  Sanscrit  Verses  by  A.  Govinda 
Pillai.   Trivandrum  (S.  India)  1912. 

Das  System,  des  Vedänta  nach  den  Brahma-Sütra's  des  Bäda- 
räyana  und  dem  Kommentare  des  Qankara  über  dieselben,  als 
ein  Kompendium  der  Dogmatik  des  Brahmanismus  vom  Stand- 
punkte des  (^aiikara  aus.  Leipzig,  F.  A.  Brockhaus,  1883. 
Zweite  Auflage  1906.     8.     Geh.  12  M. 

The  System  of  the  Vedänta,  transl.  hy  Charles  Johnston,  Chicago  1912. 

Outline  of  the  Vedanta  System  of  Philosophy  according  to  Shankara.  Trans- 
lated by  J.  H.  Woods  and  C.  B.  Eunkle.  New  York,  The  Grafton  Press.  1903.  f  1  net. 

Die  Sütra's  des  Vedänta  oder  die  Qäriraka-Mimärisa  des  Bäda- 
rayana  nebst  dem  vollständigen  Kommentare  des  Qahkara.  Aus 
dem  Sanskrit  übersetzt.  Leipzig,  F.  A.  Brockhaus.  1887.  Geh. 
18  M. 

Der  kategorische  Imperativ.  Rede.  Zweite  Auflage.  Kiel, 
Lipsius  &  Tischer,   1903.     Geh.  50  Pf. 

On  the  Philosophy  of  the  Vedänta  in  its  Relations  to  Occi- 
dental Metaphysies,  an  address  delivered  before  the  Bombay  Branch 
of  the  Royal  Asiatic  Society,  Saturday,  the  25**^  February,  1893. 
(Bombay  1893.   One  Ana.)   Leipzig,  F.  A.  Brockhaus.    Geh.  10  Pf. 

Zur  Erinnerung  an  Gustav  Glogau.  Gedächtnisrede,  ge- 
halten an  der  Christian- Albrechts-Universität  am  11.  Mai  1895. 
Kiel,  Lipsius  &  Tischer,   1895.     Geh.  50  Pf. 

Über  die  Notwendigkeit,  beim  mathematisch-naturwissenschaft- 
lichen Doktorexamen  die  obligatorische  Prüfung  in  der  Philo- 
sophie beizubehalten.    Kiel,  Lipsius  &  Tischer,  1897.    Geh.  50  Pf. 

Jacob  Böhme.  Über  sein  Leben  und  seine  Philosophie.  Zweite 
Auflage.  Mit  einer  Abbildung  des  Jacob  Böhme-Denkmals.  Leipzig, 
F.  A.  Brockhaus,   1911.     Geb.  1  M.   50  Pf. 

Vedänta  und  Piatonismus  im  Lichte  der  Kantischen  Philo- 
sophie.   Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung,  1904.     Geh.  1  M. 

Sechzig  TJpanishad's  des  Veda,  aus  dem  Sanskrit  übersetzt 
und  mit  Einleitungen  und  Anmerkungen  versehen.  Leipzig,  F.  A, 
Brockhaus,   1897.     Zweite  Auflage   1905.     [Vergriffen.] 

Erinnerungen  an  Friedrich  Nietzsche.  Mit  einem  Porträt 
und  drei  Briefen  in  Faksimile.  Leipzig,  F.  A.  Brockhaus,  1901. 
Geh.  2  M.  50  Pf. 

Discours  de  la  Methode  pour  bien  etudier  l'histoire 
de  la  Philosophie  et  chercher  la  verite  dans  les 
systemes.    Paris,  Armand  Colin,   1902. 


Erinnerungen  an  Indien.  Mit  einer  Karte  und  sechzehn  Ab- 
bildungen. Kiel  und  Leipzig,  Lipsius  &  Tischer,  1904.  Geh. 
5  M.    Geb.  6  M. 

My  Indian  Reminiseences,  transl.  by  A.  King,  Madras  1911. 

Vier  philosophische  Texte  des  Mahäbhäratam.  Sanatsu- 
jäta-Parvan  —  Bhagavadgita  —  Mokshadharma  —  Anugitä.  In 
Gemeinschaft  mit  Dr.  Otto  Strauss  aus  dem  Sanskrit  übersetzt. 
Leipzig,  F.  A.  Brockhaus,   1906.     Geh.  22  M. 

Outlines  of  Indian  Philosophy,  with  an  Appendix  on  the 
Philosophy  of  the  Vedänta  in  its  Relations  to  Occidental  Meta- 
physics.     Berlin,  Karl  Curtius,   1907.     Geh.  2  M. 

Die  Geheimlehre  des  Veda.  Ausgewählte  Texte  der  Upani- 
shad's.  Aus  dem  Sanskrit  übersetzt.  Leipzig,  F.  A.  Brockhaus. 
Fünfte  Auflage,   1919.     Geh.   7  M. 

Der  Gesang  des  Heiligen.  Eine  philosophische  Episode  des 
Mahäbhäratam.  Aus  dem  Sanskrit  übersetzt.  Leipzig,  F.  A. 
Brockhaus,   1911.     Geh.  3  M. 

Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Religionen.  2  Bände  in  6  Abteilungen. 
Leipzig,  F.  A.  Brockhaus.     Geh.   77  M. 

Erster  Band,  erste  Abteilung:  Allgemeine  Einleitung  und  Philo- 
sophie des  Veda  bis  auf  die  Upanishad's.  1894.  Dritte 
Auflage,  1915.     Geh.  7  M. 

Erster  Band,  zweite  Abteilung:  Die  Philosophie  der  Upanishad's. 
1899.     Dritte  Auflage,  1919.     Geh.  16  M. 

The  Philosophy  of  the  Upanishad's.    Authorised  English  translation  by  Rev. 
A.  S.  Geden.    Edinhurgh,  T.  &  T.  Clark,  1906.    10s.  6d. 

Erster  Band,  dritte  Abteilung:  Die  nachvedische  Philosophie 
der  Inder.  Nebst  einem  Anhang  über  die  Philosophie  der  Chinesen 
und  Japaner.     1908.     Zweite  Auflage,  1914.     Geh.  16  M. 

Zweiter  Band,  erste  Abteilung:  Die  Philosophie  der  Griechen. 
1911.     Zweite  Auflage,  1919.    Geh.  13  M. 

Zweiter  Band,  zweite  Abteilung:  Die  biblisch-mittelalterliche 
Philosophie.    1915—1919.     Geh.  11  M. 

1.  Hälfte:   Die  Philosophie  der  Bibel.     1913.     Zweite  Auflage, 
1919.     Geh.  7  M. 

Bibelns    Filosofi ,     bemyndigad     översättning    av    August     Carr.      Stockholm, 
Hugo  Gebers  Förlag,  1916. 

2.  Hälfte:  Die  Philosophie  des  Mittelalters.    1915.   Geh.  4  M. 
Zweiter  Band,  dritte  Abteilung:   Die  Neuere  Philosophie  von  Des- 

cartes  bis  Schopenhauer.     1917.     Geh.  14  M. 

Einzelausgaben  des  zweiten  Bandes: 

Erste  Abteilung  unter  dem  Titel:  Die  Philosophie  der  Griechen.    Geh.  13  M. 

Zweite  Abteilung,  erste  Hälfte,  unter  dem  Titel:  Die  Philosophie  der  Bibel. 
Geb.  7  M. 

Zweite  Abteilung,  zweite  Hälfte,  unter  dem  Titel:  Die  Philosophie  des  Mittel- 
alters.    Geh.  4  M. 

Dritte  Abteilung  unter  dem  Titel:  Die  Neuere  Philosophie  von  Descartes  bis 
Schopenhauer.     Geh.  14  M. 

Vedänta,  Piaton,  Kant,   nebst  einem  Anhang  über  Kultur  und 

Weisheit   der   alten  Inder.      Wien,  Verlag    der  Wiener  Urania, 

1917.     Geh.   1  M.  (1  K  .30  h). 
Faustbüchlein,    ein  Leitfaden   zum  Verständnis  des  Goetheschen 

Faust.     Wien,  Verlag   der  Wiener  Urania,    1918.     Geb.   1  M. 

(1  K  30  h).     In  Vorbereitung. 


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