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P4-SS
BOOK 109.0488 V.2 pt. 2 c. 1
DEUSSEN # ALLGEMEINE GESCHICHTE
DER PHUOSOPHIE
3 T1S3 000STÖ21 1
ALLGEMEINE
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE.
ZWEITER BAND, ZWEITE ABTEILUNG.
ALLGEMEINE
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE
MIT
BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER RELIGIONEN.
Von
De. PAUL DEUSSEN
PEOFESSOR AN DER UNIVEKSITAT KIEL.
ZWEITER BAND, ZWEITE ABTEILUNG:
DIE BIBLISCH-MITTELALTERLICHE PHILOSOPHIE.
ZWEITE AUFLAGE.
LEIPZIG:
F. A. BROCKHAÜS.
1919.
IO<^
Das Recht der Übersetzung ist vorbehalten.
Copyright 1915 by F. A. Brockhaus, Leipzig.
VORWORT ZUR PHILOSOPHIE DER BIBEL. '
Der als Kritiker ausgezeichnete, aber philosophisch weniger
gut beratene Verfasser des berühmten Lebens Jesu, David
Friedrich Straufs, wirft in der Schrift seines Alters „Der alte
und der neue Glaube" die Frage auf: „Sind wir noch Christen?"
und beantwortet sie mit einem klaren und entschiedenen Nein.
Wer aber imstande ist, den philosophischen Kern aus der
historischen und daher zufälligen Schale zu lösen, wer nicht
bei den blofsen Worten stehen bleibt und eine Sache auch
da wiederzuerkennen vermag, wo sie unter anderm Namen
und in neuer Einkleidung auftritt, der wird auch nach allen
Errungenschaften der Geschichtsforschung, Naturwissenschaft
und Philosophie die von Straufs aufgeworfene und verneinte
Frage: Sind wir noch Christen? mit einem ebenso klaren und
entschiedenen Ja beantworten. Denn das Wesen des Christen-
tums erstreckt sich viel weiter als sein Name und besteht in
einem Gedanken, welcher so ewig ist wie die Welt und nie
erlöschen wird: es ist der indisch-platonisch-christliche Ge-
danke, dafs unser Erdendasein nicht Selbstzweck ist, wie alle
eudämonistische Ethik annimmt, dafs vielmehr die höchste
Aufgabe des Lebens darin besteht, auf dem Wege der
Selbstverleugnung, welche das Wesen aller echten Tugend
ausmacht, uns von dem uns allen angeborenen Egoismus zu
läutern und dadurch unserer ewigen Bestimmung entgegen-
zm'eifen, welche uns im übrigen unbekannt bleibt und bleiben
VI Vorwort.
mufs, soll nicht die Reinheit des morahschen Handelns ge-
fährdet werden.
Wer diesen Gedanken, in welchem das eigenthche Wesen
des Christentums besteht, in seiner vollen Tiefe erfafst hat,
der wird nicht länger zaudern, der Wissenschaft zu geben,
was der Wissenschaft ist, sollte er dabei auch manche Vor-
stellungen, welche die Freude und den Trost unserer Väter
bildeten, zum Opfer bringen müssen, weil sie mit einer wissen-
schaftlichen Erkenntnis der Welt unvereinbar sind.
Seitdem wir für die Geschichte des Volkes Israel und des
aus seinem Schofse hervorgegangenen Christentums nicht mehr
auf Quellen wie Bibel und Herodot allein angewiesen sind, hat
durch die Entzifferung der Hieroglyphen und der babylonisch-
assyrischen Keilschriften, die Inschrift des Königs Mesa, die
Funde von Tell-el-Amarna und Elephantine, und die genauere
Kenntnis der iranischen Weltanschauung, auch auf biblischem
Gebiete vieles ein anderes Aussehen gewonnen. Seit die Denk-
mäler des alten Ägyptens nach tausendjährigem Verstummen
wieder zu uns reden, ist der alte Traum einer ägyptischen
Urweisheit (Apostelgesch. 7,22) und mit ihm die Möglichkeit
geschwunden, den hebi'äischen Theismus aus dem ganz anders
gearteten ägyptischen abzuleiten. Hingegen ist es gelungen,
in der Bibliothek des Assurbanipal die Vorbilder nachzuweisen,
aus denen sich unter den Händen der alten Hebräer in be-
deutsamer, ethischer, vom Geiste des Prophetismus getragener
Umwandlung die Mythen von der Weltschöpfung, dem Paradies,
den zehn Urvätern und vor allem der von der Sintflut ent-
wickelt haben, während andererseits die Briefe von Tell-el-
Amarna uns ein Reich der Mitani kennen lehren, dessen
Herrscher schon um 1400 a. C. iranische Namen tragen, wo-
durch sich die Möglichkeit eröffnet, den schon beim Jahvisten
(850 a. C.) auftretenden Sündenfallmythus auf iranischen Ur-
sprung zurückzuführen. Eben diese Amarna-Briefe geben uns
"Vorwort. VII
ein Bild von dem Zustande Palästinas vor der Zeit der In-
vasion der Hebräer, welchem die ethisch so wertvollen Er-
zählungen von Abraham, Isaak und Jakob in keiner Weise
sich einfügen laesen, so dafs wir bei den drei Erzvätern auf
jede historische Gewifsheit verzichten müssen. Aber noch
gröfsere Opfer liebgewordener Vorstellungen müssen gebracht
werden. Denn wenn es kaum mehr zu bezweifeln ist, dafs
das Deuteronomium das Gesetzbuch des Königs Josia (621 a. C),
und dafs der Leviticus nebst den angrenzenden Partien erst
das von Esra und Nehemia (444 a. C.) proklamierte Gesetz-
buch des zweiten Tempels ist, was bleibt dann von Mose
anderes übrig als die nebelhafte Gestalt eines mythischen
Heros, auf welchen die erste Organisation der als Beduinen
in der Wüste umherziehenden Hebräer und mit ihr die ersten
Kudimente des spätem Gesetzeskanons zurückgeführt werden
können. Zu dem gewaltigen und nicht selten gewaltsamen
Auftreten dieses Heros der Gesetzgebung will die furchtsame
Rolle nicht stimmen, welche die Sage ihn bei seiner Berufung
spielen läfst, wie denn überhaupt der ganze Aufenthalt des
Volkes Israel in Ägypten und die Katastrophe bei seinem Aus-
zuge sehr ins Wanken gerät, da die ägyptischen Denkmäler
von beiden nichts zu wissen scheinen. Festern Boden be-
treten wir erst nach erfolgter Eroberung des gelobten Landes
in der Zeit der Richter und ersten Könige. Dafs in dieser
Zeit neben Jahve als dem Schirmgotte Israels auch andere
Götter verehrt wurden, dafs die Forderung des Monotheismus
erst durch die altern und Jüngern Propheten aufgestellt und
schliefslich durchgesetzt wurde, dafür treten zahlreiche Stellen
des Alten Testaments ein, und eine unschätzbare Ergänzung
finden dieselben in der Inschrift des Moabiterkönigs Mesa,
welche zeigt, dafs Jahve für die Hebräer gerade wie Kamos
für die Moabiter der spezielle Stammgott war, dem man Ver-
ehrung und Treue schuldete, und neben dem die andern
VIII Vorwort.
Götter ebenso bestanden wie neben dem König des eigenen
Landes fremde Könige, denen man keinen Gehorsam schuldig
war, an deren realer Existenz aber niemand zweifelte. Erst
allmählich konnte man es wagen, in der krassen Weise, wie
es beim zweiten Jesaia geschieht, alle andern Götter für Stein
und Holz zu erklären und Jahve als den allein realen Gott zu
proklamieren, auf welchen die Schöpfung der Welt und mit
ihr ganz konsequent auch die Urheberschaft des Bösen zurück-
geführt wurde, und als dessen Geschöpf, ebenso konsequent,
der Mensch aus nichts geschaffen war und mit dem Tode
wieder in sein ursprüngliches Nichts versank. Diese An-
schauungen von Gott und Mensch waren sehr ungeeignet, die
Grundlagen einer Weltreligion zu werden; zu diesem Zwecke
bedurften die althebräischen Begriffe einer Umformung, wie
sie nicht aus dem Schofse des alten Hebraismus allein, sondern
nur durch das Eindringen eines fremden Elementes möglich
war; und so müfsten wir als Mittelglied zwischen dem Alten
und Neuen Testamente ein solches Element postulieren und
hypothetisch konstruieren, läge es uns nicht in der iranischen
Weltanschauung des Zarathustra offenkundig vor Augen. Ein
Bild dieser Religion des grofsen und mächtigen Perserreichs,
dem die Juden zwei Jahrhunderte hindurch als Untertanen
angehörten, war somit unserer Darstellung einzuflechten und
auf Grund desselben der Nachweis zu führen, wie es erst
durch iranischen Einflufs möglich wurde, Gott von der Ur-
heberschaft des Bösen zu entlasten und als Prinzip der
Moralität festzuhalten, während eben diesem Einflüsse auch
die Erkenntnis der ewigen Bestimmung des Menschen und
eine Vergeistigung der Messiashoffnungen verdankt wurde.
So war der Boden vorbereitet für das Auftreten Jesu, dessen
Leben nur auf Grund der drei synoptischen Evangelien mit
völliger Ausschliefsung des vierten dargestellt werden darf,
will man sich nicht der Möglichkeit berauben, über die einzig-
Vorwort. IX
artige Persönlichkeit Jesu, neben der selbst ein Buddha matt
und ein Sokrates kalt erscheinen mag, sowie über seine Lelire
eine historisch begründete und psychologisch zusammen-
stimmende Vorstellung zu gewinnen. Es kann ferner nicht
nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, dafs Paulus
sich auf seine eigenen Offenbarungen beruft, dafs somit der
paulinische Christus, auf welchem die Christusgestalt der
lürche beruht, schon von Haus aus nicht ein liistorischer,
sondern ein idealer Christus ist. Das Bedürfnis, diesen an
einem Leben Jesu exemplifiziert zu sehen, führte dann zur
Abfassung des vierten Evangeliums, welches, wie unsere Dar-
stellung nachweist, durchaus auf paulinischem Grunde beruht
und somit die späteste, aber auch gereifteste und universellste
Urkunde des Neuen Testaments bildet.
Ein letztes Kapitel unseres Buches unternimmt den Ver-
such, den unvergänglichen Kern des Christentums aus der
vergänglichen Schale zu lösen, wobei die tiefe innere Ver-
wandtschaft dieses Kernes mit den Grundanschauungen der
Kantisch- Schopenhauerschen Philosophie deutlich hervortritt.
Im Hinblick auf diesen Kern, welcher als einzige Quelle
der Offenbarung das moralische Bewufstsein mit seinen
Wunderphänomenen des kategorischen Imperativs, der Frei-
heit und Verantwortlichkeit, der unwillkürlichen Billiguns:
des Guten und Verwerfung des Bösen bei andern wie bei
uns selbst, gelten läfst, aber in diesen metaphysischen, aus der
Natur nicht erklärbaren Tatsachen das ganze und sichere
Evangelium eines ewigen, über diese Erscheinungswelt hinaus-
liegenden Reiches enthält, dürfen wir es wagen, auch nach
allen Unterminierungen des Bibelglaubens durch historische
und naturwissenschaftliche Kritik die zu Eingang aufgeworfene
Frage: „Sind wir noch Christen?" mit einem zuversichtlichen
Ja! zu beantworten.
X Vorwort.
Nachdem wir schon in Schulpforta angefangen hatten, die
an den Schriften der Alten geübte philologisch -historische
Methode auch auf die biblischen Bücher anzuwenden, ging
auf den Universitäten zu Bonn und Tübingen durch das
Studium der Theologie der letzte Rest des Kirchenglaubens
verloren. — — — — Wiedergegeben wurde mir die Religion
durch das Studium der Kantischen und Schopenhauerschen
Philosophie. Die „Kritik der reinen Vernunft" bewahrte mich
vor dem Materialismus, während die „Kritik der praktischen
Vernunft" und die „Welt als Wille und Vorstellung" mich an-
leiteten, mein Cliristentum auf den Christus in uns, auf die
Tutsachen des moralischen Bewufstseins zu gründen, welche
die einzige Quelle sind, aus der auch ein Jesus und Paulus
ihre Offenbarungen geschöpft haben. — Ein längeres Leben in
der Geisteswelt des alten Indiens schärfte dann noch weiter
den Blick für die analogen Bildungen auf biblischem Gebiete
und erleichterte deren objektive Auffassung. Und so empfinde
ich es als ein besonderes Glück, dafs die Ausarbeitung meiner
„Allgemeinen Geschichte der Philosophie" in der vorliegenden
ersten Hälfte der fünften Abteilung mir die Möglichlveit bot,
auch für andere zu sagen, was Kopf und Herz so viele Jahre
beschäftigt hatte. Ich habe dabei ein ähnliches Gefühl wie
der alte Kägyapa, nachdem er die lange gepflegte Qakuntalä
aus seiner Einsiedelei an den Königshof abgesandt hatte:
jäto mama ayam vigadah praJcämam
jaratyarjoüanyäsa' iva antarätmä,
erleichtert ist jetzt mein Gemüt, als hätt' ich
ein anvertrautes Gut zurückerstattet.
Kiel, im August 1913.
P. D.
VORWORT ZUR PHILOSOPHIE DES
MITTELALTERS.
Im Anschlüsse an die Philosophie der Bibel ist es die
Aufgabe der Philosophie des Mittelalters zu zeigen, wie der
durch die persönliche Erscheinung Jesu, durch das Wirken des
Apostels Paulus und endhch durch das vierte Evangelium aus-
gestaltete christliche Gedanke zunächst in der griechisch-römi-
schen Welt und im weiteren Verlaufe bei den Völkern des nörd-
lichen Europas in Patristik und Scholastik unter mannigfachen
Kämpfen mit widerstrebenden Elementen Eingang gefunden
imd schliefslich die Völker Europas sich unterworfen hat. Im
Gegensatz zur indischen, griechischen und biblischen Philo-
sophie, welche, eine jede in ihrer besonderen Art, völlig neue
Schöpfungen des menschlichen Geistes darbieten, ist die mittel-
alterliche Philosophie, abgesehen von tiefsinnigen Mystikern
wie Meister Eckhart und Jakob Böhme, nur ein mixtum com-
positum aus biblischen und griechischen Gedankenelementen
oder, genauer gesagt, eine Projektion des neutestamenthchen
Lehrinhalts auf die wohlvorbereitete Fläche der griechischen
Philosophie. Fehlt es sonach dieser Periode im geistigen
Leben der Menschheit an Ursprünglichkeit, können wir auch
nicht erwarten, aus ihr wesentliche Elemente für den Ausbau
unseres eigenen geistigen Lebens zu gewinnen, so ist doch die
mittelalterliche Philosophie von erheblichem kulturgeschicht-
lichen Interesse, und niemand wird in unserer kurzen Dar-
stellung derselben ohne Teilnahme die Bemühungen unserer
Väter verfolgen, den christlichen Gedanken zunächst auf Grund
des Neuplatonismus genetisch zu begreifen und, nachdem diese
XII Vorwort.
Versuche an dem Widerstände der immermehr erstarkten und
erstarrten Orthodoxie gescheitert waren, diesen Gedanken, die
sogenannten Mysterien des Christentums, mit einem breiten,
aus der aristotelischen Philosophie entnommenen Eahmen zu
verbrämen, woraus dann die in ihrer Art imposanten Lehr-
gebäude eines Albertus Magnus und Thomas von Aquino
hervorgingen. Dafs dieser komplizierte Prozefs, dieser Fort-
gang von der Herrschaft des Neuplatonismus zu der des
Aristotelismus kein zufälliger, sondern ein in der Natur der
Sache begründeter war, wird besonders daran deutlich, dafs
derselbe Entwicklungsgang, den wir in der christlichen Philo-
sophie des Mittelalters beobachten, sich in den beiden parallel
neben ihr hergehenden Kulturkreisen der islamischen und der
jüdischen Welt abspielt, daher wir nicht unterlassen durften,
auch diese Erscheinungen eingehend zu verfolgen. Und so
dürfen wir hoffen, dafs die Freunde unserer Allgemeinen Ge-
schichte der Philosophie auch diesem Teil unserer umfassenden
Aufgabe ihr Interesse nicht versagen werden, wenn sie be-
denken, dafs ohne Kenntnis der dem menschlichen Geiste im
Mittelalter angelegten Fesseln das grofsartige Schauspiel des
Befreiungskampfes aus diesen Fesseln, welcher den Grund-
charakter der neueren Philosophie von Descartes bis auf die
Gegenwart bildet, nicht völlig gewürdigt werden kann. Die
ungestört und glücklich fortschreitende Ausarbeitung der Ge-
schichte der neueren Philosophie läfst uns hoffen, auch diese
letzte, sechste Abteilung unseres alle Länder und Zeiten um-
spannenden Werkes in den nächsten Jahren der Öffentlich-
keit übergeben zu können.
Kiel, im April 1915.
P. D.
INHALTSÜBERSICHT.
Seite
Vorwort zur Philosophie der Bibel V
Vorwort zur Philosophie des Mittelalters XI
Vorbemerkungen und Übersicht 1
ERSTER HAUPTTEIL:
Die Entstehung des christlichen Gedankens von seinem ersten
Aufkeimen in Ägypten, Babylonien, Palästina und Persien bis
zu seiner Vollendung im Neuen Testament.
I. Das alte Ägypten 8—27
1. Land und Leute 8
2. Übersicht der Geschichte des alten Ägyptens .... 13
3. Die älteste Weltanschauung der Ägypter 18
4. Weitere Entwicklung der ägyptischen Weltanschauung 24
II. Die semitischen Volksstämme 28—37
1. Wohnsitze und ursprüngliche Heimat der Semiten . . 28
2. Charakter der Semiten 30
3. Ursprüngliche Religion der semitischen Stämme ... 35
IM. Die Babylonier und Assyrer 37—68
1. Äufsere Geschichte der babylonischen und assyrischen
Reiche 37
2. Quellen zur Geschichte der babylonisch-assyrischen Kultur
und Religion 42
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung 45
IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil 68—128
1. Palästina vor der Invasion der Hebräer 68
2. Sagenhafte Vorgeschichte der Hebräer 73
3. Geschichte der Hebräer von der Eroberung Palästinas bis
zum babylonischen Exil 84
4. Die historischen Schriften des Alten Testaments. . . 98
5. Die Genesis des alttestamentlichen Monotheismus . . 102
6. Vorzüge und Mängel des althebräischen Monotheismus 114
XIV Inhaltsübersicht,
Seite
V. Die Religion der Iranier 128—143
1. Äufsere Geschichte der iranischen Stämme 128
2. Sprache und Literatur der Iranier 131
3. Die Religion der Iranier 134
VI. Die Religion des alten Judentums 144—188
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonischen
Exil bis zu ihrer Zerstreuung unter die Völker . . . 144
2. Quellen zur Geschichte der Religion des älteren Judentums 169
3. Das böse Prinzip neben dem guten 173
4. Die Unsterblichkeit der Seele 179
5. Die Messiasidee 186
VII. Leben und Lehre Jesu 189—234
1. Quellen zur Geschichte Jesu. 189
2. Leben und Wii-ken Jesu 194
3. Jesu Bewufstsein von Gott und von der Welt .... 214
4. Das Schicksal Jesu 221
5. Philosophische Elemente der Lehre Jesu 228
VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus 234—270
1. Des Paulus Leben und Schriften. 234
2. Philosophische Elemente der Lehre des Apostels Paulus 262
' IX. Das vierte Evangelium 270—281
1. Paulus und das vierte Evangelium 270
2. Universeller Charakter des vierten Evangeliums . . . 271
3. Die paulinische Heilstheorie und der Pragmatismus des
vierten Evangeliums 274
4. Der Sohn Gottes, allwissend und allmächtig 276
5. Die Wiedergeburt und der Monergismus 278
X. Kern und Schale des Christentums 281—288
1. Der Kern des Christentums 281
2. Die Schale des Christentums 285
XI. Der christliche Gedanke und die antike Welt 289—298
1. Der christliche Gedanke 289
2. Die antike Welt . 291
3. Äufsere Ausbreitung des Christentums 292
ZWEITER HAUPTTEIL:
Die abendländische Philosophie unter der Herrschaft
des Christentums.
Die Patristik.
XII. Die erste Perlode der Patristik: Vom apostolischen Zeitalter
bis zum Konzil zu Nicaea (100—325 p. C.) ." 299—330
1. Vorbemerkungen 299
2. Die apostolischen Väter ■ . . . . 300
Inhaltsübersicht. XV
Seite
3. Die Apologeten 304
4. Die Gnosis und der Mauichäismus 307
5. Der Montanismus 315
♦i). Die alexandrinische Theologie 317
7. Die katholische Kirche 321
XIII. Die zweite Perlode der Patristik: Vom Konzil zu Nicaea bis
auf Karl den Grofsen (325—800 p. C.) 330—366
1. Geschichtlicher Überblick 330
2. Die monophysitischen und monotheletischen Streitig-
keiten. 335
3. Der Prädestinationsstreit: Augustinus 340
4. Eindringen neuplatonischer Gedanken in das Christen-
tum: Dionysius Areopagita 349
6. Ausgang der patristischen Periode (500 — 800 p. C.) . 362
Die Scholastik.
XIV. Die erste Periode der Scholastik (von 800—1200 p. C.) . . 367—392
1. Vorbemerkungen 367
2. Johannes Scotus Eri(u)gena 371
3. Realismus und Nominalismus 378
4. Anselm von Canterbury 382
5. Abaelard und seine Schule 388
XV. Die Philosophie der Araber 392—413
1. Geschichtlicher Überblick 392
2. Die Philosophie der Araber im Osten . 400
3. Die Philosophie der Araber im Westen 410
XVI. Die Philosophie der Juden 413—425
1. Das Schicksal der Juden im Mittelalter 413
2. Das Judentum unter dem Einflufs des Neuplatonismus 417
3. Das Judentum unter dem Einflufs des Aristotelismus 422
XVII. Die Hochblüte der Scholastik 425—441
1. Wachsende Autorität des Aristoteles 425
2. Leben und Werke des Albertus Magnus und Thomas
von Aquino 428
3. Das Lehr System des Albertus Magnus und Thomas
von Aquino 431
4. Die Scholastik in poetischer Verklärung 438
XVIII. Auflehnungen gegen das Prinzip der Scholastik 441—457
1. Vorbemerkungen 441
2. Die Willenslehre des Duns Scotus 444
3. Die Mystik des Meister Eckhart 447
4. Die Erneuerung des Nominalismus 453
XVI Inhaltsübersicht.
Seite
XIX. Der Zusammenbruch der Scholastik 457—466
1. Allgemeine Übersicht 457
2. Die Erneuerung des Piatonismus 460
3. Der Sturz des Aristoteles 463
XX. Der Tagesanbruch der neuern Philosophie 466—509
1. Ausblick 466
2. Nicolaus Cusanus 468
3. Das Naturwissen im Zeitalter der Renaissance . . . 470
4. Giordano Bruno 475
5. Jakob Böhme 481
6. Bacon von Verulam 499
7. Beschluls 508
Index 510
Verzeichnis der Bibelstellen 525
Vorbemerkungen und Übersicht.
Das geistige Leben der Gegenwart, dessen volleres Ver-
ständnis zu vermitteln zu den wichtigsten Aufgaben einer
Geschichte der Philosophie gehört, ist wesentlich bedingt
durch den Entwicklungsgang der neuern Philosophie, diese
selbst aber ist zum grolsen Teile ein Befreiungskampf des
menschlichen Geistes von den durch die Weltanschauung des
Mittelalters ihm angelegten Fesseln, ein Kampf, aus welchem
rmi langsam und spät in der Kantischen Philosophie eine
Neuschöpfung hervorging, auf deren Boden wir noch heute
stehen. Diese Entwicklung des geistigen Lebens in der neuern
Zeit von der Renaissance bis auf die Gegenwart hin kann
nicht völlig verstanden werden ohne die in ihm noch vielfach
nachwirkende Philosophie des Mittelalters, diese aber wiederum
ist ein mixtum compositum aus zwei von Haus aus ganz
heterogenen Elementen, der griechischen Philosophie, deren
Darstellung in unserm der Philosophie der Griechen gewid-
meten Bande unternommen wurde, und der durch das Christen-
tum ererbten Gedanken des Alten und Neuen Testaments,
deren ursprüngliche Entstehung und Fortwirkung in Patristik
und Scholastik zu verfolgen die hauptsächlichste Aufgabe des
vorliegenden Bandes bildet. Nochmals sei wiederholt, was
schon in der Vorrede des Gesamtwerkes S. VIII gesagt wurde,
dafs die neuere Philosophie bis auf die Gegenwart hin kaum
weniger unter dem Einflüsse der Gedankenkreise eines Jesus
und Paulus als der eines Piaton und Aristoteles steht. Eine
genetische Darstellung des biblischen Lehrinhalts, frei von
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, n. 1
2 , Vorbemerkungen und Übersicht.
jeder dogmatisclieii Befangenheit und doch nicht ohne Ver-
ständnis für die ewigen metapliysischen Wahrheiten, welche
hier in der Hülle des Mythus vorliegen, ist eine oft versuchte,
aber bis auf den heutigen Tag noch nicht zu völliger Be-
friedigung gelöste Aufgabe.
Schon die äufsere Geschichte der biblischen Weltan-
schauung, welche dem Laien als ein fertiges Ganzes vor-
schwebt, erscheint bei näherer Betrachtung als ein äufserst
kompliziertes Gebilde, zu dessen Entstehung die mannigfach-
sten Faktoren mitgewirkt haben. Hierin liegt der wesent-
lichste Unterschied in der Entwicklung der biblischen und
der ihnen allein ebenbürtig zur Seite stehenden indischen
Religionsanschauungen.
Indien bietet schon von aufsen betrachtet den Anblick
eines völlig abgeschlossenen, von allen benachbarten Ländern
durch hohe Gebirge und weite Meere getrennten Landes. - In
dieser Weise von der Aufsenwelt abgeschieden und von den
unterworfenen Ureinwohnern durch strenge soziale Bestim-
mungen sich absondernd, haben die Inder aus sich selbst
heraus und ungestört durch fremde Einflüsse ihre Welt-
anschauung aufgebaut, und als seit dem Alexanderzuge die
Stürme der griechischen, skythischen, arabischen und west-
europäischen Invasionen über Indien hereinbrachen, da war
das religiöse und philosophische Denken der Inder schon so
hinreichend erstarkt und zum Teil schon erstarrt, dafs der
Import fremder Gedankenelemente keine wesentliche Schädigung
mehr zu bringen vermochte.
Ganz anders stellt sich der Entwicklungsgang der bibli-
schen Weltanschauung dar. Palästina, der Schauplatz dieser
grofsen geistigen Schöpfung, ist ein nach Südwesten wie nach
Osten offenes Land; seine Bewohner waren wie in politischer,
so in geistiger Hinsicht den mannigfachsten Einwirkungen von
aufsen her preisgegeben, nicht nur von selten der nahe ver-
wandten Mitbewohner des eigenen Landes, sondern auch der
umwohnenden Völker, der Assyrer, Babylonier und Perser im
Osten, sowie möglicherweise der Ägypter im Südwesten; und
wie das Gelobte Land in der altern Zeit ein Gegenstand des
Streites und der Eifersucht zwischen den ägyptischen und
Vorbemerkungen und Übersicht. 3
assyrischen Königen gewesen war, so wurde es nach einem
zwei Jahrhunderte dauernden und verhältnismäfsig erträghchen
Zustande unter persischer Oberhoheit in den auf den Alexander-
zug folgenden Jahrhunderten wiederum ein Zankapfel zwischen
den ägyptischen Ptolemäern und den syrischen Seleuciden, bis
endlich auch Palästina dem grofsen römischen Weltreiche ein-
verleibt wurde.
Alle diese politischen Störungen und Wechselfälle spiegeln
sich auch im geistigen Leben der althebräischen Nation und
des seit dem assyrischen und babylonischen Exil aus ihm
hervorgegangenen jüdischen Vollies wider und haben ihren
Einflufs auf die Entstehung des Alten Testaments, der Apo-
kryphen und des Neuen Testaments, sowie auf die in ihnen
vorliegende Weltanschauung geltend gemacht.
Zunächst ist es eine offene und der Untersuchung be-
dürftige Frage, ob und inwieweit das alte Ägypten mit seiner
vielgerühmten Weisheit schon auf die Anschauungen des alten
Hebraismus irgendeinen nennenswerten Einflufs geübt hat;
vnvd doch in der Apostelgeschichte 7,22 in der Rede des
Stephanus behauptet, Moses sei in aller Weisheit der Ägypter
erzogen worden (szai.Ssu'irT) Moücrii; iraGV) cocpia At^uTCTiG»); und
wenn auch diesem Zeugnisse wenig Bedeutung beizumessen
ist, ja wenn auch überhaupt der Glaube an eine uralte Weis-
heit der Ägypter, seitdem die Inschriften und Papyrusrollen
dieses Wunderlandes wieder zu uns reden, sich als eine Illusion
herausgestellt hat, so mögen doch die nahen Beziehungen,
, welche von alters her zwischen Ägypten und Palästina be-
standen haben, es rechtfertigen, wenn wir in einem ersten
Abschnitte unseres Buches einen kurzen Überblick über das
alte Ägypten und seine Weltanschauung zu gewinnen suchen.
Von Ägypten wenden wir uns sodann zur Völkerfamilie
der Semiten, um zunächst aus dem Vergleiche der Religions-
anschauungen, wie wir sie bei den verschiedenen semitischen
Stämmen finden, ein wenn auch vielfach unsicheres Bild von
den rehgiösen Vorstellungen der Semiten zu gewinnen für die
Zeit, in welcher sie, von dem Weltleben noch unberührt,
in den Wüsten und Steppenländern Arabiens als Nomaden
hin und her zogen, in verschiedene Stämme gegliedert,
1*
4 Vorbemerkungen und Übersicht.
■ mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen religiösen An-
schauungen.
In die Weltgeschichte treten die Semiten erst ein, seitdem
einer dieser Beduinenstämme sich der fruchtbaren Kulturländer
von Babylonien und Assyrien bemächtigte, während andere
semitische Völkerschwärme Palästina eingenommen hatten,
bis der Stamm der Hebräer erobernd eindrang und sich im
Lande westlich vom Jordan sefshaft machte. Ein dritter Ab-
schnitt unseres Buches wird zu zeigen haben, wie die er-
obernden Babylonier und Assyrer die überlegene Kultur der
von ihnen überwundenen Völkerstämme annahmen, und wie
diese aus den Keilschriften zu entnehmende babylonisch-
assyrische Kultur einen erheblichen Einflufs auf die semiti-
schen Stämme in Palästina und mittelbar durch diese auch
auf die einwandernden Hebräer gewonnen hat.
Aus dem ursprünglichen, durch babylonische Einflüsse
modifizierten Polytheismus der Semiten erhebt sich die lichte
Gestalt des alttestamentlichen Monotheismus, welcher eine
unbefangene philosophische Würdigung um so mehr erfordert,
je tiefer der Jehovaglaube auf die Entwicklung des abend-
ländischen Geisteslebens eingewirkt hat und noch wirkt, so-
wohl in seinen Vorzügen wie in den unzweifelhaft ihm an-
haftenden Mängeln.
Diese Mängel, welche schon auf dem Boden des alten
Hebraismus von den tiefern Geistern schwer empfunden wurden,
führten zu einer Umformung der alttestamentlichen Gottes-
vorstellung, seit die Hebräer in und nach dem babylonischen
Exil die persische, an den Namen des Zarathustra sich knüp-
fende Religionsanschauung kennen lernten, von der, um ihrer
selbst wie um des Einflusses willen, den sie auf die biblische
Entwicklung geübt hat, ein Überblick unserer Darstellung
einzuflechten sein wird.
Aus dem durch iranische Einflüsse modifizierten alt-
hebräischen Glauben erwuchs die jüdische Weltanschauung,
wie sie zur Zeit Jesu und seiner Jünger in Palästina die
herrschende war. Nach einer Darstellung derselben wird die
Frage aufzuwerfen sein, worin das Wesentliche der Lehre
Jesu zu erkennen ist, welches unter dem Reichtum der von
Vorbemerkungen und Übersicht. 5
ihm ausgestreuten Samenkörner das Senfkorn ist, aus welchem
der Baum des Christentums erwuchs. Das Zurückgehen von
der Wiedergeburtlehre als dem eigentlich zentralen Dogma
des Christentums auf diejenigen Gedanken Jesu, deren Fort-
bildung zu diesem Dogma geführt hat, wird uns bei Unter-
suchung dieser Frage in methodisch sicherer Weise leiten.
Eine Fortbildung der Lehre Jesu ist die des Apostels
Paulus, und eine universelle Zusammenfassung beider und
Verschmelzung mit hebräischen, iranischen und griechischen
Gedanken liegt in dem vierten Evangelium vor, dieser gereif-
testen und vollendetsten, wenn auch als Geschichtsquelle in
keiner Weise verwendbaren Urkunde des biblischen Christen-
tums.
Das seltsame Schauspiel einer allmählichen Verschmelzung
zweier von Grund aus verschiedener Weltanschauungen, der
biblischen und der griechischen, vollzieht sich, nach einem
Vorspiele in der jüdisch-alexandrinischen Philosophie, während
der patristischen Zeit in zwei deutlich unterschiedenen Perio-
den, deren erste, bis zum Konzil von Nicäa 325 p. C. reichend,
nach vielen Kämpfen eine definitive Feststellung der Grund-
dogmen, und deren zweite bis 800 p. C. die Verwebung dieser
Grunddogmen zu einem Lehrsystem der Dogmatik als Er-
gebnis hat.
Auf die Patristik folgt die Scholastik, um 800 p. C. be-
ginnend und in ihren letzten Ausläufern bis zum definitiven
Sturze des Aristoteles um das Jahr 1600 reichend. Ihr Haupt-
bestreben war es, die christliche Dogmatik mit der griechischen
Philosophie in der Weise zu verknüpfen, dafs die Grundlehren
des Christentums auf die wohl vorbereitete Fläche der griechi-
schen Philosophie projiziert und dadurch zu einer Keligions-
philosophie fortgebildet wurden. Das Hauptstreben der mittel-
alterlichen Denker, Religion und Philosophie, Glauben und
Wissen endgültig zu versöhnen, gelang, soweit es überhaupt
gelingen konnte, erst nach vielen vergeblichen Bemühungen.
In der ersten Hälfte der scholastischen Zeit, von 800 bis 1200,
traten mancherlei Versuche auf, den christlichen Gedanken
mittels des neuplatonischen Emanationsschemas genetisch zu
begreifen, aber immer wieder scheitern, diese Versuche an dem
Q Vorbemerkungen und Übersicht.
Widerspruch der Kirche, bis man endhch nach 1200 p. C. in
den auf Umwegen zur Kenntnis der Scholastiker gelangten
Schriften des Aristoteles die geeignete Grundlage fand, nicht
etwa die Hauptlehren des Christentums, Trinität und Inkar-
nation, philosophisch zu deduzieren, wozu Aristoteles gar
keine Handhabe bot, als vielmehr diese Grunddogmen als die
Mysterien des Christentums unangetastet stehen zu lassen
und sie in einen aus der Metaphysik, Psychologie und Ethik
des Aristoteles entnommenen Rahmen einzuspannen. So ent-
standen die in ihrer Art imposanten Lehrsy^teme eines Albertus
Magnus und Thomas von Aquino und ihre poetische Ver-
klärung in der Divina Commedia des Dante Alighieri. Aber
kaum war erreicht, was so viele Jahrhunderte ersehnt und
angestrebt hatten, eine Versöhnung der Anforderungen des
religiösen Gemütes mit denen der Vernunft, als auch schon,
weil eben diese Versöhnung eine künstliche und nur schein-
bare war, unverkennbare Symptome des Verfalls nach ver-
schiedenen -Richtungen hin sich einstellten. Als solche sind
die Willenslehre des Duns Scotus, die Mystik des Meister
Eckhart und die Erneuerung des Nominalismu« durch William
von Occam zu bezeichnen, Erscheinungen, welche Hand in
Hand mit der Wiedergeburt des klassischen Altertums in der
.Zeit der Renaissance und der Reinigung des mittelalterlichen
Christentums durch die Reformation zum endgültigen Zu-
sammenbruch der Scholastik führten.
Hiernach wird unsere Darstellung folgende Perioden zu
durchlaufen haben:
I. Die Entstehung des christlichen Gedankens von seinem
ersten Aufkeimen in Ägypten, Babylonien, Palästina
und Persien bis zu seiner Vollendung im Neuen Testa-
ment.
1. Das alte Ägypten.
2. Die semitischen Völker.
3. Babylonien und Assyrien.
4. Der alte Hebraismus.
5. Der Parsismus.
6. Das Judentum.
7. Der historische Jesus.
Vorbemerkungen und Übersicht. 7
8. Der paulinische Christus.
9. Der Logos des vierten Evangeliums.
II. Die abendländische Philosophie unter der Herrschaft
des Christentums.
1. Erste Periode: Die Patristik.
A. Feststellung der Grunddogmen bis 325 p. C.
B. Ausbau der Dogmatik bis 800 p. C.
2. Zweite Periode: Die Scholastik.
A. Christentum und Neuplatonismus (800 —
1200).
B. Christentum und Aristoteles; Renaissance
und Reformation (1200—1600).
Erster Hauptteil:
Die Entstellung des christliclien Gredankens
von seinem ersten Aufkeimen in Ägypten, Babylonien,
Palästina und Persien l)is zu seiner Yollendung im
IJeuen Testament.
I. Das alte Ägypten.
1. Land und Lente.
Ein Blick auf die östliche Halbkugel unseres Planeten
zeigt, wie sich durch das nördliche Afrika und zentrale Asien
gerade da, wo die Sonne ununterbrochen ihre reichste Fülle
von Licht und Wärme auf die Erde ergiefst , ein breiter
Länderstrich hinzieht, welcher von der Natur dazu verurteilt
zu sein scheint, für immer eine unfruchtbare Wüste zu bleiben.
Anfangend von Senegambien im nordwestlichen Afrika, zieht
sich dieser mächtige Wüstengürtel durch die Sahara, durch
Ägypten hin, setzt sich durch Arabien, Persien und einer
Teil Indiens fort, um in China und der Mongolei in jenem
weitausgedehnten Steppen- und Wüstenlande seinen Abschlufs
zu finden, welches die Mongolen Ghobi, die Cliinesen Scha-mo,
d. h. „Sandmeer", nennen. Der Grund, warum so weitaus-
gedehnte Länderstrecken -der menschlichen Kultur und Nutz-
barkeit entzogen bleiben, liegt darin, dafs es in diesen Regionen
selten oder nie regnet. Es beruht dies, wie schon Alexander
von Humboldt in seinen „Ansichten der Natur" auseinander-
setzt, auf einer Art wechselseitiger Wirkung, sofern die
1. Land und Leute. 9
Pflanzenlosigkeit der Wüste vermöge des ununterbrochen von
ihr aufsteigenden heifsen Luftstromes die Bildung von Wolken
und Regen verhindert, und der Mangel an Regen wiederum
die Entstehung einer Pflanzenwelt unmöglich macht. Zu diesem
breiten Wüstengürtel zwischen dem Atlantischen und Stillen
Ozean würde auch Ägypten gehören, wäre nicht der Nil, und
Indien, wären nicht die Monsuns.
Auch in Indien regnet es zehn Monate des Jahres hin-
durch so gut wie gar nicht. Dann aber schlägt etwa in der
Mitte des Juli der bis dahin herrschende nordöstliche Monsun
um und der Südwest-Monsun treibt aus dem Indischen Ozean
eine solche Fülle von Wolken über das Land, dafs die von
Mitte Juli bis Mitte September andauernde Regenzeit genügt,
um den Boden für das ganze Jahr mit Feuchtigkeit zu ver-
sorgen.
Anders sind die Verhältnisse in Ägypten. Auch hier regnet
es, von der Seeküste des Delta abgesehen, so selten, dafs
Ägypten ebensogut wie die benachbarten Länderstrecken Afri-
kas und Asiens eine Wüste bleiben würde, gingen nicht all-
jährlich gleichfalls um die Mitte des Jahres in Zentralafrika
ungeheure Regenmassen nieder, welche durch die zufällige
Gestaltung des Bodens verhindert w'erden, ihr Wasser dem
naheliegenden Ozean zuzuführen, so dafs diese genötigt sind,
den weiten Weg nach Norden zum Mittelländischen Meere
einzuschlagen und mitten in jenem grofsen Wüstengürtel eine
fruchtbringende Flufsrinne zu schaffen. So ist denn das ganze
Ägypten ein Geschenk des Nils, ein Swpov toü tzotoljxo^, wie
es Herodot nennt. Alljährlich, vom 21. Juli an, gleichzeitig
mit dem Tage, wo der Sothis, unser Sirius, zum ersten Male
vor Sonnenaufgang am Morgenhimmel im Osten sichtbar wird,
fängt der Nil infolge jener tropischen Regengüsse allmählich an
zu steigen, erreicht seine gröfste Höhe (in Kairo 7 — 8 m über
dem niedrigsten Wasserstand) im Oktober, um dann, nach-
dem er das umgebende Land weit und breit überschwemmt
hat, ganz allmählich wieder zu fallen; daher der Ausspruch,
Ägypten sei vier Monate des Jahres hindurch ein Meer, vier
Monate ein Paradies und ^ier Monate eine Wüste. Heutzutage
trifft infolge rationeller Bewirtschaftung dieses Wort nicht
10 I- I^3^s alte Ägypten.
mehr zu, da das Nilwasser in zahlreichen Bassins und Kanälen
aufgefangen und das ganze Jahr hindurch mittels Schöpf-
rädern, Pumpen und andern Vorrichtungen den Feldern zu-
geführt wird, wodurch allerdings der Vorteil der Düngung
durch den vom Nil mitgeführten Schlamm zum Teil verloren
geht, aber eine gröfsere Ausdehnung des Kulturlandes und
eine Bewirtschaftung während des ganzen Jahres durch die
überaus fleifsigen, Fellah genannten, ägyptischen Bauern er-
möglicht wird. Soweit sie das Wasser bringen können, spriefst
und blüht es überall in üppiger Fülle, und eine einzige Acker-
furche trennt das herrlich grünende Kulturland von dem da-
neben sich ins Ungemessene ausbreitenden braunen, gelben
Wüstenboden. Leichter war die Bewirtschaftung des Landes
in der Vorzeit, wo man nur den Samen in den vom Nil zurück-
gelassenen Schlamm zu streuen brauchte, um eine reiche Ernte
zu erzielen.
Ein solches Land mufste schon sehr früh zur Besiedlung
einladen, und so finden wir hier im Niltale schon in den
ältesten Zeiten eine Bevölkerung ansässig, deren hohe Kultur
aus zahlreichen hinterlassenen Denkmälern noch heute zu uns
redet. Den ersten Untergrund dieser Bevölkerung scheint eine
afrikanische Rasse gebildet zu haben, welche schon in vor-
historischer Zeit von einem andern, vielleicht semitischen
Element durchsetzt wurde; wenigstens zeigt die altägyptische
Sprache, ohne semitisch zu sein, doch in ihren Bildungen
eine unverkennbare Analogie mit den semitischen Dialekten.
Eigentümlich war den alten Ägyptern der Brauch, ihre
Tempel und Paläste, ihre Grabkammern und Sarkophage von
aufsen und innen mit Bildwerken und Inschriften zu versehen,
welche letztere in Hieroglyphen abgefafst sind; eine Ver-
kürzung der hieroglyphischen Schrift ist die hieratische und
eine weitere Verkürzung dieser letztern die -demotische, wie
sie in der Regel auf den Papyrusrollen angewendet wurde,
die man den Toten in das Grab mitzugeben pflegte. Die
Kenntnis dieser ägyptischen Schriftarten war im spätem Alter-
tum allmählich verloren gegangen. Man bereiste das Wunder-
land Ägypten, staunte seine Bauten, Bildwerke und Inschriften
an, aber für das Studium des Landes war man wesentlich
1. Land und Leute. 11
auf Berichte der Griechen, für seine Philosophie besonders
auf die Mitteilungen der Neuplatoniker angewiesen, und so
entstand allmählich die Legende von einer uralten "Weisheit
der Ägypter, indem die Griechen schon von den Zeiten des
Herodot an sich geschmeichelt fühlten, ihre eigenen mytho-
logischen und philosophischen Gedanken auf ägyptischen Ur-
sprung zurückführen zu können, und in dieser Neigung durch
die ägyptischen Priester nur noch bestärkt wurden. Als
Typus dieses Vorganges kann der alte ägyptische Priester
gelten, welcher nach der Erzählung Piatons im Timaeus
p. 22 B zu Solon gesagt habe: 'ß 2ca«v, 2cawv, "EWrivzc, ad
r.ouM<; IcTs, „0 Solon, Solon, ihr Griechen seid ewig Kinder",
und weiter behauptet habe, p. 23 A : „Alles, was bei euch oder
hierzulande oder an andern Orten, soweit wir davon hören,
irgend an Schönem und Grofsem oder sonstwie Merkwürdigem
geschehen ist, das alles ist von alters her hier bei uns in den
Tempeln aufgezeichnet und erhalten worden."
Nachdem auf Grund der griechischen Traditionen im
Jahre 1750 das Wissen der damaligen Zeit über Ägypten von
Jablonsky in seinem dreibändigen „Pantheon Aegyptiorum"
zusammengefafst worden war, eröffnete sich eine urkundliche
Kenntnis der altägyptischen Kultur erst seitdem es gelungen
war, die Hieroglyphen zu entziffern. Den ersten Anstofs dazu
gab der bei Gelegenheit der französischen Expedition im Jahre
1799 aufgefundene, jetzt im Britischen Museum befindliche
Stein von Rosette (Raschid), welcher eine Ehrung des Königs
Ptolemäus Epiphanes durch die ägyptischen Priester am
27. März 195 a. C. betrifft und parallel unter einander in hiero-
glyphischer, demotischer und griechischer Sprache die Ver-
dienste dieses Königs um Ägypten und seine Priesterschaft
verherrlicht. Hier war es zunächst möglich, die von einem
Rahmen fcartoucliej umgebenen Namen des Ptolemäus und der
Kleopatra in den Hieroglyphen zu buchstabieren, und nach
mannigfachen, zum Teil vergeblichen Versuchen gelang es
endlich dem französischen Gelehrten Champollion, den rich-
tigen Schlüssel zur Hieroglyphenschrift zu finden. Auf sein
„Pantheon egyptien" (1823) folgten weiterhin die Werke von
Wilkinson und Bunsen sowie das merkwürdige Unternehmen
12 I- Das alte Ägypten.
von Roeth, welcher im "ersten Bande seiner „Geschichte unserer
abendländischen Philosophie" 1846 durch Kombination der
hieroglyphischen mit den griechischen Nachrichten ein statt-
liches System altägyptischer Weisheit gewinnen zu können
glaubte. An der Spitze der Götterwelt steht der " viereinige
Gott Ämim, „das unteilbare Eine, welches nur durch Schweigen
verehrt wird" (to ev dfxspsc 8 6t.ot ctYfji; [xovov 'ä^spaTususTat, wie
der dem Jamblichos entlehnte Ausdruck lautet). Aus ihm
geht eine Vierheit hervor, Kneph, der Urgeist, Ndth, die Ur-
materie, SeveJc, die Urzeit, und Pacht, derUrraum; aus ihnen
entspringen die acht TTpöxot ^sot und aus diesen wiederum die
zwölf SsuTspot. 'jsot, welche schon Herodot erwähnt. Weiter
ist die Rede von einem goldenen Zeitalter unter der Herr-
schaft des Nilgottes OJceamos, von einer Entmannung des Har
Scpli (Oupavct;) durch Seh (Kpovo?), von einem Kampfe der
von Seb geführten Giganten und abgefallenen Geister gegen
Okeamos und die Titanen, von einer Reinigung der befleckten
Erde durch die Sintflut und von einer Einschliefsung der
sündigen Geschöpfe in Menschenleiber und Seelenwanderung
bis zu ihrer endlichen Läuterung vom Bösen. Nur kurze Zeit
erregte diese vermeintliche Entdeckung, dafs viele Elemente
der griechischen Mythologie und Philosophie aus Ägypten
stammten, die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt; denn bald
erkannte man die Hinfälligkeit der hier vorliegenden kritik-
losen Kombinationen, und so zerrann wie ein Nebel dieser
letzte Traum von einer uralten ägyptischen Weisheit, um den
besonnenen Forschungen eines Lepsius, Brugsch, Ebers, Erman,
Eduard Meyer und vieler anderer Platz zu machen, durch
welche nach und nach ein urkundliches, aber auch sehr nüch-
ternes Bild der altägyptischen Kultur gewonnen worden ist.
Freilich stehen dem Lesen der Hieroglyphen auch heute noch
viele Schwierigkeiten entgegen, denn wenn wir fragen, was
denn diese Bilder von stehenden und sitzenden Männern, von
Tieren und Pflanzen, von Körperteilen, Geräten usw. bedeuten,
so ist die Antwort darauf nicht einfach zu geben. Viele
Zeichen haben einen phonetischen Wert und bedeuten teils
Buchstaben, teils Silben, andere sind von ideographischer
Art, indem sie teils als spezielle Determinative den Gegen-
1. Land und Leute. 13
stand selbst, von dem die Rede ist, nachbilden, teils als
generelle Determinative die Gattung andeuten, unter welche
der Gegenstand gehört. Das Schlimme aber ist, dafs diese
vier Arten von Zeichen vielfach gemischt neben einander ge-
braucht werden, indem z.B. den Silbenzeichen der entsprechende
Buchstabenwert ganz oder teilweise hinzugefügt wird, wobei
das Silbenzeichen den ihm entsprechenden Buchstaben vor-
hergeht oder nachfolgt oder mitten in sie hineingesetzt ist,
häufig gefolgt von dem nochmals dieselbe Sache ausdrückenden
speziellen und wohl auch noch von dem generellen Determina-
tiv, so dafs die Entzifferung einer solchen Zeichengruppe ein
vielfaches Probieren erfordert und eine gewisse Ähnlichkeit mit
dem bei unserer Jugend beliebten Rebusraten gewinnt. Mag
aber auch noch manches dunkel bleiben, soviel ist erreicht,
dafs uns jetzt aus den Monumenten und Inschriften ein klares
Bild des ägyptischen Lebens entgegentritt.
2. Übersicht dei* Geschichte des alten Ägyptens.
Als Quellen der ägyptischen Geschichte dienen aufser den
nur mit Vorsicht zu benutzenden Nachrichten der Griechen
bei Herodot, Diodor und andern die Inschriften auf Tempeln
und Gräbern, sowie die namentlich in den Gräbern gefundenen
Papyrusrollen ; von besonderer Wichtigkeit sind für die Königs-
geschichte der Turiner Königspapyrus, welcher eine Liste der
Könige bis in die Zeit der Hyksos enthält und in andern
Dokumenten seine Ergänzung findet, während für die Religions-
geschichte das sogenannte Totenbuch die ergiebigste Fund-
grube bildet. Aufser ihnen ist von besonderer Wichtigkeit
das in Fragmenten bei Josephus, Julius Africanus und Eusebius
erhaltene Werk des ägyptischen Priesters Manetho (Mavs^ö)
aus Sebennytos, welcher unter Ptolemäus Philadelphus (285 —
247) seine A^yu^TLaxa {)Tco[ji.vif][xaTa in drei Büchern verfafste,
die unter anderm eine Liste der Dynastien von König Mena
bis auf Alexander den Grofsen enthalten.
Vor den menschlichen Königen wurde Ägypten, wie Hero-
dot und Manetho berichten, von Göttern regiert; auf die acht
ersten Götter (Tcpöxot 'ä'sot) folgten die zwölf zweiten Götter
(SöijTspoi '^£o[); auf diese die dritten Götter (xpixo', 'ä'soi), deren
14 I- I^^s alte Ägypten,
Zahl Manetho auf dreifsig angibt. Diese fünfzig Götter regierten
nach Manetho 17520 Jahre, eine Zahl, welche auf alten Be-
rechnungen beruhen mufs, da sie 12 X 1460 Jahre, d. h.
12 Sothisperioden befafst. Mit dem heliakischen Aufgang des
Sothis, unsers Sirius (oben S. 9), am 21. Juli, welcher den
Anfang der Nilüberschwemmung anzeigte, begann das natür-
liche Jahr der Ägypter, während sie daneben für die bürger-
liche Zeitrechnung ein Sonnenjahr von 365 Tagen hatten.
Dieses eilte, weil es um 6 Stunden zu kurz war, dem natür-
lichen Jahr alle vier Jahre um einen Tag voraus und traf erst
nach 4 X 365 = 1460 Jahren wieder mit ihm zusammen. Ein
solcher Zeitraum, welchen die Ägypter eine Sothisperiode
nennen, war abgelaufen am 21. Juli 139 p. C, 1318 a. C,
2776 a. C. und 4236 a. C. Da aber die Sothisperiode, wie die
angeführten Zahlen zeigen (infolge der Präzession der Nacht-
gleichen und der Eigenbewegung des Sirius), innerhalb ge-
wisser Grenzen schwankt und nur für die Zeit zwischen 4236
und 2776 a. C. genau 1460 Jahre beträgt, so darf man ver-
muten, wenn anders die Zahl 1460 nicht auf künstlicher Be-
rechnung, sondern auf Beobachtung beruht, daf s diese Beobach-
tung nicht nach 2776 a. C. gemacht worden ist.
Auf die zwölf Sothisperioden der Götterregierung folgen
zehn mythische Könige und auf sie König Mena, der Begründer
des ägyptischen Einheitsstaates. Von ihm bis auf Alexander
den Grofsen verläuft die ägyptische Geschichte nach Manetho
in 31 Dynastien nach folgendem Schema:
I — III. Anfänge des Reichs.
IV — V. Das alte Reich von Memphis.
VI — X. Übergangszeit.
Xl-^Xn. Das alte Reich von Theben, gewöhnlich
als das mittlere Reich bezeichnet.
Xin— XVn. Die Periode der Hyksos.
XVIII— XXI. Das neue Reich von Theben.
XXII — XXV. Ägypten unter Fremdherrschaft.
XXVI. Restaurationszeit.
XXVII— XXXI. Die Dynastien der Perserzeit.
Das Alter des Königs Mena und mit ihm der Anfang des
Einheitsstaates wurde von Lepsius auf Grund der Angabe des
2. Übersicht der Geschichte des alten Ägyptens. 15
Sothisbuches, dafs von Mena bis auf Alexander (337 a. C.)
3555 Jahre verlaufen seien, auf 3892 a. C. angesetzt. Da aber
das Sothisbuch mit Unrecht dem Manetho beigelegt wird, so
verliert diese Berechnung ihren Wert, und man mufs sich nach
Eduard Meyer mit der unbestimmten Angabe begnügen, dafs
der Regierungsantritt von König Mena auf die Zeit zwischen
3400 und 3200 a. C. fällt. Für unsere Zwecke mufs es ge-
nügen und mag als nützlicher Anhaltspunkt für das Gedächtnis
dienen, wenn wir annehmen, dafs von den drei Höhepunkten
der ägyptischen Geschichte das alte Reich von Memphis un-
gefähr um 3000, das mittlere Reich um 2000 und das neue
Reich von Theben um 1500 a. C. geblüht haben mag. Als
festere Data gewinnen wir für die Restaurationszeit unter
Psammetich das Jahr 663 und für die Eroberung Ägyptens
durch Kambyses das Jahr 525 a. C.
Wie das obige Schema zeigt, weist die ägyptische Ge-
schichte drei Blüteperioden auf, welche durch die Dynastien
IV— V, XI— Xir und XVin— XXI vertreten werden und über
welche wir reichere Nachrichten haben; sie werden unter-
brochen durch Zeiten des Verfalls, von denen nur spärliche
Kunde auf uns gekommen ist.
Wenn die Überheferung an die Spitze der ägyptischen
Geschichte den König Mena stellt, so wird dies nur dahin zu
verstehen sein, dafs er der erste war, welcher die schon vor
ihm aus den einzelnen Gauen erstandenen Reiche von Ober-
und Unterägypten zu einer Gesamtmonarchie vereinigte; denn
wir finden schon in dieser Zeit, wo sich der Vorhang hebt,
das ägyptische Leben auf einer hohen Stufe der Kultur, welche
viele Jahrhunderte vorheriger Entwicklung voraussetzt und im
ganzen Verlaufe der ägyptischen Geschichte nicht wesentlich
überschritten worden ist. Dafs unsere Nachrichten erst mit
den Dynastien zu fliefsen beginnen, beruht auf dem zufälligen
Umstände, dafs um diese Zeit die Sitte aufkam, für den Toten
ein möglichst dauerhaftes, mit Bildwerken und Inschriften ver-
sehenes Grab zu bauen^ für die Könige Pyramiden, an denen
vom Regierungsantritt an gebaut wurde, und welche um so
höher waren, je länger der König lebte, für die Grofsen des
Reiches sog. Mastaba's, viereckige, nach oben verjüngte und
16 I. Das alte Ägypten.
oben abgestumpfte Steinbauten, für die übrigen, soweit ihre
Mittel es erlaubten, Felsengräber und Grabgewölbe.
Mit der vierten Dynastie erreicht Ägypten seine erste
Blütezeit; ihr gehören die Erbauer der drei gröfsten, zwei
Stunden oberhalb von Kairo stehenden Pyramiden an, von
Herodot als Xeo»]; (auf den Denkmälern Chufu), XscppTJv (Chafrä)
und Muxsptvoc (Menkaurä) bezeichnet, deren aus weit her-
geholten, meterhohen Quadern aufgetürmte Riesenpyramiden
noch heute von der furchtbaren Bedrückung des Volkes durch
diese Herrscher Zeugnis ablegen, wovon schon Herodot er-
zählt.
Von der VI. bis zur X. Dynastie folgt eine Periode des
Verfalls, veranlafst dadurch, dafs die einzelnen Stadtgemeinden
sich von der Zentralgewalt unabhängig machten, ein Umstand,
welcher, wie sich zeigen wird, für die Fortbildung des Reli-
gionswesens nicht ohne Bedeutung war.
Eine neue Blüte tritt in der XL und XH. Dynastie in dem
mittlem Reiche mit der Hauptstadt Theben in Oberägypten
ein, unter deren Herrschern, namentlich dem durch Kriegs-
taten gegen den Süden berühmten Usertesen HI. und seinem
Sohne Amenemhät HL, dem Erbauer des Moeris-Sees und des
Labyrinths (im Faijüm) die ägyptische Kunst ihren Höhepunkt
erreichte. Diese Kunst darf nicht an dem Mafsstabe der grie-
chischen gemessen werden; die ägyptische Bildhauerkunst
strebte nicht, wie die griechische, nach idealisierender Nach-
bildung der Natur, sondern nach Stilisierung derselben und
brachte es hierin, wie z. B. die Statue des Usertesen im Berliner
Museum beweist, zu einer in ihrer Art bewundernswerten Voll-
kommenheit. Von der XIH. bis XVH.- Dynastie trat ein neuer
Verfall des Reiches ein, veranlafst durch die Überschwemmung
des Landes mit Beduinenstämmen, unter denen namentlich die
Hyksos, wie sie Manetho nennt, d. h. Hirtenkönige, vom Delta
aus das Land bis nach Oberägypten hin mehrere Jahrhunderte
beherrschten. Von welcher Rasse, ob von einem semitischen
oder andern asiatischen Stamme, sie gewesen sind, bleibt
zweifelhaft. Jedenfalls trat mit dieser Fremdherrschaft ein
Niedergang der Kultur ein, welcher sich durch die Spärlich-
keit der erhaltenen Denkmäler und Nachrichten bekundet.
2. Übersicht der Geschichte des alten Ägyptens. 17
Einen abermaligen und letzten Aufschwung nahm Ägypten
im neuen Eeiche von Theben unter der XVIII. Dynastie und
ihren Königen Dhutmes I. und III. und Amenhotep III. und IV.,
von dessen religiösem Reformversuch noch zu reden sein wird.
Sein Mifslingen führte den Zusammenbruch der Dynastie und
die voUe Erstarrung Ägyptens unter der Priesterherrschaft
herbei, während von der XIX. Dynastie an unter Königen wie
Seti und Ramses IL das Reich seine weiteste Ausbreitung
und gröfste Machtentfaltung erlangte. Von der XXII. bis
XXV. Dynastie finden wir Ägypten wieder unter libyscher,
äthiopischer und assyrischer Fremdherrschaft, bis in der
XXVI. Dynastie Psammetich die nationale Unabhängigkeit des
Landes wiederherstellt, zugleich aber den Zuzug griechischer
Elemente begünstigt. Unter seinem Sohne Neko wurde die
Umschiffung Afrikas ausgeführt, von welcher Herodot (IV, 42)
berichtet mit dem Zusätze: ekeyov Ipioi [Jisv ou Tziaxd, aXXo 5s b-q
Tso, &(; xsp(,TcX(5ovT£(; t-Jjv Atßuirjv xov 'Jj'Xiov £ax.ov 1^ ta hz^id, „sie
berichteten aber, was ich nicht glauben kann, vielleicht glaubt
es ein anderer, dafs sie, als sie um Libyen herumschifften,
die Sonne zur Rechten gehabt hätten". Die von Herodot mit-
geteilte und von ihm selbst unglaublich befundene Behauptung,
dafs die Afrika umfahrenden Schiffer dabei die Sonne nicht
mehr links, sondern rechts, nicht mehr im Süden, sondern im
Norden gesehen hätten, ist für uns der beste Beweis, dafs die
Umscliiffung Afrikas unter König Neko wirklich ausgeführt
worden ist.
Mit der Eroberung Ägyptens durch Kambyses im Jahre
525 a. C. beginnt die XXVII. Dynastie, welche die Perser-
könige von Kambyses bis auf Darius 11. befafst. Die XXVIII.
bis XXX. Dynastie brachte Ägypten von 406 bis 341 a. C.
eine vorübergehende Befreiung von der Perserherrschaft unter
einer saitischen, mendesischen und sebennytischen Dynastie,
bis mit der XXXI. Dynastie dio persische Oberhoheit unter
Artaxerxes Ochus, Arses und Darius Kodomannus wiederher-
gestellt wurde. Unter diesem wurde mit dem Perserreiche
auch Ägypten der Weltmonarchie Alexanders des Grofsen
einverleibt.
DüUBSEN, GeBchichte dor Philosophie. II, ii. 2
J8 I. Das alte Ägypten.
3. Die älteste Weltanschauung der Igypter.
Schon in den ältesten Zeiten, bis zu denen unsere Kunde
reicht, schon in der Zeit zwischen 4000 und 3000 a. C, tritt
uns die Kultur und mit ihr auch die Weltanschauung der
Ägypter in einem sehr entwickelten Zustande entgegen. Wie
viele Jahrhunderte vorhergegangen sein mufsten, um ein solches
Gebilde hervorzubringen, läfst sich nicht bestimmen. Wohl
aber können wir aus der fertigen Form, in welcher die An-
schauungen der Ägypter in den ältesten Denkmälern uns ent-
gegentreten, mit ziemlicher Sicherheit Rückschlüsse auf die
erste Genesis dieser Anschauungen machen.
Die älteste Philosophie eines Volkes liegt in seiner Re-
ligion. Viele Völker haben diese Vorstufe der Philosophie
überhaupt nicht überschritten, wie sogleich die Ägypter, deren
geistiges Leben schon frühzeitig durch die Übermacht der
Priesterschaft in unzerreifsbare Fesseln geschlagen wurde.
Wie bei allen andern Völkern, sind auch bei den Ägyptern
die Götter nichts anderes als, Personifikationen von Natur-
kräften und Naturerscheinungen, aber wie überall, so ging
auch in Ägypten der Periode der eigentlichen Religion eine
Zeit vorher, deren Anschauung man als die des Animismus
bezeichnet hat, und in der der menschliche Geist noch nicht
die Kraft besafs, die ihn umgebenden Naturmächte zu Götter-
gestalten zu formen, sondern sie nur vorstellte als unheim-
liche Gewalten, welche im Guten und mehr noch im Bösen
auf den Menschen einwirken, und deren Wirkungen man nicht,
wie später die der Götter durch Opfer und Gebete, d. h. durch
Geschenke und Schmeicheleien, sondern durch Zauberkünste
dem Menschen dienstbar machen zu können glaubte. Dieser
Animismus heifst Spiritismus, wenn man die dämonischen
Kräfte frei in der Luft umherschwebend dachte, Fetischismus,
wenn man sie sich als gebunden an .einen bestimmten Ort
vorstellte, einen Stein, eine Pflanze, ein Gerät usw. Nament-
lich aber waren es die Tiere, welche vermöge der Ruhe und
Stetigkeit ihrer Erscheinung, vermöge ihres durch keine Re-
flexionen beirrten Handelns als sichtbare Vertreter jener dämo-
nischen Mächte erschienen. Der Animismus in dieser Form
des Fetischismus scheint, wie im übrigen Afrika, so auch in
3. Die älteste Weltanschauung der Ägypter. 19
Ägypten die älteste Religionsanschauung gewesen zu sein. Als
dann weiterhin die Führer des geistigen Lebens, also für jene Zeit
die Priester, dazu gelangten, die Wunderkräfte des Himmels
und der Erde als menschenähnliche Wesen, als die Götter zu
personifizieren, da vermochten sie nicht, jenen tief im Herzen
des Volkes wurzelnden Kultus der Tiere als Repräsentanten
der dämonischen Mächte zu verdrängen, und so nahmen sie
in ihre mehr geistigen Anschauungen von den Göttern die
Reste jenes ursprünglichen Dämonenkultus auf, indem sie
namentlich den überkommenen Tierkultus mit den in mensch-
licher Gestalt vorgestellten Göttern verschmolzen. Daher die
auffallende und sonst nicht wolil zu erklärende Erscheinung,
dafs nicht nur gewisse Tiere bestimmten Göttern heilig sind,
wie in Memphis der Stier Apis dem Ptah, in Mendes der
Widder dem Osiris, in Bubastis die Katze der Bast, sondern
auch viele ägyptische Götter in Menschengestalt, aber mit
Tierköpfen abgebildet werden, wie die Sonnengötter Ra und
Har mit dem Sperberkopf, Dhuti, der Gott des Mondes und
der Weisheit, mit dem Ibiskopf, Anubis, der Beschützer der
Grabstätte, mit dem Kopf eines Schakals, Sebek mit dem eines
Krokodils, Chnum mit Widderkopf, Isis mit Kuhkopf usw.,
wobei in der Regel eine Beziehung zwischen dem Charakter
des Gottes und den Funktionen des mit ihm verbundenen
Tieres bestand oder auch künsthch hergestellt wurde.
Zahlreich sind in Ägypten die Götter und Göttinnen,
welche den weiten Himmelsozean, die leuchtende, erwärmende
und sengende Kraft der Sonne, den die Zeiten messenden
Mond, die Fruchtbarkeit der Erde, ihre Überschwemmung durch
den Nil usw. personifizieren, und wenn eine und dieselbe Natur-
erscheinung durch verschiedene Gottheiten repräsentiert wird,
so erklärt sich dies daraus, dafs ursprünglich jede der am
Laufe des Nils angesiedelten Stadtgemeinden ihre besondern
Götter hatte, welche nach Herstellung des ägyptischen Ein-
heitsstaates miteinander teils identifiziert, teils verknüpft wurden
und in ihrer Verbindung wieder Anlafs zu neuen Bildungen boten.
Unter den Naturerscheinungen ist keine, welche das Nach-
denken der Ägypter so sehr beschäftigt und zu so vielen
Mythen Anlafs gegeben hat, wie der tägliche Lauf der Sonne,
20 I- Das alte Ägypten,
wie sie am Morgen aus den Dünsten des Ostens aufsteigend
an dem meist wolkenlosen Himmel in einsamer Majestät, er-
wärmend und versengend, ihren Siegeslauf vollendet, um am
Abend den Mächten der Finsternis zu erliegen und am nächsten
Morgen im Osten wieder neu zu erstehen. Dieser täglich sich
wiederholende Vorgang ist personifiziert in dem schon in den
ältesten Zeiten- allgemein verehrten Gott Ra, wie er nach Über-
windung der Wolkenschlange Apep auf einer Barke, einem
Schlitten, auf den Sprossen des Luftgottes Scim den Himmels-
ozean durchfährt oder über die eherne Himmelsfeste dahin-
schreitet. Mit ihm erscheint schon in den frühesten Zeiten
als völhg identisch Tum, der Sonnengott von Heliopolis. Wie
in Ea die ruhige Majestät der Sonne in ihren segnenden und
verderblichen Wirkungen, so erscheint in dem gleichfalls all-
gemein verehrten Har (^ßpo^) der Sonnengott als der ewig
kämpfende, siegreiche, welcher zwar allabendlich seinem feind-
lichen Bruder Set, dem Dämon der Finsternis, erliegt; aber
am nächsten Morgen wieder neu da ist als Harpechrod („Har
das Kind", '"ApTCoxpaTrj?), geboren von seiner Mutter HafJior
(„Haus des Horus") , in welcher er sich selbst erzeugt. Eine
Verknüpfung von Ra und Har ist Ra Harmachuti, zu dessen
Ehren die Obelisken als Sinnbilder der Sonnenstrahlen er-
richtet wurden, und dessen Symbol die liegenden Löwen mit
menschlichem, gewöhnlich männlichem Kopfe sind, welche bei
den Ägyptern Neh heifsen und von den Griechen, wegen der
Ähnlichkeit der äufsern Erscheinung, mit ihrer Sphinx identi-
fiziert wurden. — Ursprünglich von Abydos ausgehend, aber
bald über ganz Ägypten verbreitet ist der Kultus des be-
rühmtesten aller Sonnengötter, den die Ägypter Asar, die
Griechen ^'Oaigic, nennen. Auch ihm wird als feindlicher Bruder
der Set (Ttj9öv) gegenübergestellt, welcher nach der von Plu-
tarch (de Iside et Osiride) erzählten Sage seinen Bruder Osiris
durch Hinterlist in eine Kiste einschliefst, durch geschmolzenes
Blei tötet und die Kiste mit dem Leichnam in den Nil stürzt.
Klagend um ihren Gemahl durchzieht Isis die Länder, findet
in Byblos, wo die Kiste ans Land gespült war, den Leichnam
des Gatten, und nachdem derselbe nächtlicherweile von Typhon-
Set in 14 Teile zerstückelt und verstreut worden ist, sammelt
3. Die älteste Weltanschauung der Ägypter, 21
Isis die Teile und begräbt sie in Abydos, während Horus, der
Sohn der Isis und des Osiris, als Rächer des Vaters ersteht
und den Typhon überwindet; Osiris aber ist nicht tot, sondern
herrscht im fernen Westreiche als König der Unterwelt. Auch
dieser Mythus, der schon frühzeitig mit dem syrischen Adonis-
mythus verquickt wurde, bezieht sich ursprünglich auf den
täglichen Lauf der Sonne, wie sie von den Mächten der
Finsternis überwunden im fernen Westreiche verschwindet,
während sie am andern Morgen als Horus, 'der Sohn und
Rächer seines Vaters, neu ersteht.
An die Sonnengötter schliefsen sich die verschiedenen
Mondgötter, unter denen namentlich Dhuti (Thoth) allgemein
verehrt wird. Er ist der Gott des Mafses, der Zeiteinteilung,
der Weltordnung, gilt für den Erfinder der Sprache und der
Schrift, der Künste und Wissenschaften; die Griechen identi-
fizieren ihn mit ihrem 'Epix-^?. Als Hauptgötter wurden ver-
ehrt in Theben Amnion^ ursprünglich wahrscheinlich ein Gott
der Zeugung und Fruchtbarkeit, sowie in Memphis der als
ältester der Götter, als Bildner von Himmel und Erde gefeierte
Ptah, von den Griechen ihrem '"Ra^cLicxoc, gleichgesetzt. Natur-
göttinnen von unbestimmterer Bedeutung sind die in Sais ver-
ehrte Nc'ith, die griechische Athene, die löwenköpfige Pachte
die in Bubastis als Katze verehrte Bast und viele andere.
Die verwirrende Mannigfaltigkeit von Götternamen und die
Zurückführung derselben Naturwirkung auf verschiedene Götter
erklärt sich, wie gesagt, daraus, dafs ursprünglich jeder Gau
seine eigenen Götter hatte, welche nach Herstellung eines ein-
heitlichen Staates vielfach durch Austausch übernommen,
gleichgesetzt und verschmolzen wurden. Diese Aufgabe fiel
den schon in der Pyramidenzeit zahlreichen, mächtigen und
als Staatsbeamte in hohem Ansehen stehenden Priestern zu,
welche die ursprünglich aus einzelnen Naturanschauungen
hervorgegangenen Götter, wie z. B. Osiris, Isis und Horus, als
Vater, Mutter und Sohn mit einander verknüpften, Götterkreise
und Göttersysteme schufen und die Mythen, Attribute und
Kultusbräuche durch sogenannte Mysterien ([epol Xö^ot.) moti-
vierten, welche dem Volke vorenthalten wurden. Dafs z. B.
Isis einen Kuhkopf trägt, war für alle off'ensichtlich, aber der
22 I- I^^'S alte Ägypten.
Grund, warum sie ihn trägt, dafs sie sich nämhch einst in
den Kampf zwischen Horus und Set eingemischt habe, worauf
der erzürnte Horus ihr den Kopf abgeschlagen, und Dhuti ihr
zum Ersatz einen Kuhkopf aufgesetzt habe, dies war ein nur
den Priestern bekanntes, sogenanntes Mysterium.
Diese kurze, nur das Wesenthche berührende Skizze der
ägyptischen Götterwelt zeigt zur Genüge, dafs, wie überall,
so auch in Ägypten, die Götter durch Personifikation der um-
gebenden Naturerscheinungen, namentlich der Sonne in ihrem
täglichen Laufe, entstanden sind. Aber wie überall, so werden
auch in Ägypten diese Naturgötter zu sittHchen Potenzen, in-
dem man das in den letzten Tiefen der menschlichen Natur
wurzelnde Sittengesetz auf die Götter zurückführte, welche
vermöge ihrer Übermacht, der Stetigkeit ihres Wirkens und
ihrer Abgelöstheit von den individuellen Interessen, denen
das moralische Gesetz seine Gebote entgegenstellt, als die
ursprünglichen Gesetzgeber, als belohnende und bestrafende
Hüter des Sittengesetzes erscheinen. Auch diese moralische
Seite der Götter ist in Ägypten schon in alten Zeiten hoch
entwickelt. Die Götter, welche die Welt geschaffen haben,
welche den Menschen Leben, Gesundheit und Gedeihen in allen
seinen Verhältnissen verleihen, verlangen dafür Reinheit des
Leibes und der Seele, Beobachtung ihrer Gebote und Ent-
haltung vom Bösen, Das moralische Gesetz fordert als seine
Quelle eine Einheit; es kann nicht als in sich zwiespältig ge-
dacht werden, und hieraus erklärt es sich, dafs in Ägypten,
noch ehe man zum Monotheismus fortgeschritten war, die sitt-
lichen Gebote in der Regel nicht auf einen bestimmten Gott,
sondern auf den Gott als solchen zurückgeführt werden. Da-
neben erscheint die Wahrheit und Gerechtigkeit (vergleichbar
dem ritam der Inder, oben I,i, S. 92 fg.) in Ägypten personi-
fiziert als die Göttin Ildat, die Tochter des Ra und Gemalilin
des DhuH als Gottes der Weisheit. Schon in der Pyramiden-
zeit ist ihr Kultus sehr entwickelt, ihr Symbol, vielleicht als
Zeichen der Reinheit vom Bösen, ist die Straufsenfeder, Götter
und Könige gelten als Inhaber der Ma'at, und der Oberrichter
trägt ihr Bild um den Hals; bei dem Totengericht in der
Unterwelt ist sie zugegen.
3. Die älteste Weltanschauung der Ägypter. 23
Über die Vorstellung der Ägypter von dem Schicksal der
Seele nach dem Tode berichtet eine vielbesprochene Stelle des
Herodot, II, 123: tzqüxoi 5s xal t6v5s t6v Xo^ov ALYi)7i:T!.ot dai
Ol etTCÖvTsc, &C, ötv^p(57cou 4'^X'^ d'ä'dtvaTO«; iaxi, toü a6\Kaxoc, 8s
xaTa9'^LV0VT0i; ic, aXXo ^wov olIzI y'-'^ojjlevov iah'ösza.i ' sTreav 5s
TCspt.sX'^'r) TCavra xa -/ßgaaloi xal xa ^aXaacia xal T(5t TtsTstva,
aUTlC li? ÖtV^pWTTOU CÖ[J.a Y!,v6pi.SV0V Ec5lJV£t,V, TYJV TTspii^XuGw 5s
auxfi YcvsG'^a!, sv xpiaxt-Xioict. sxsat.. „Die Ägypter waren es auch,
welche zuerst die Theorie aufgebracht haben, dafs die Seele
des Menschen unsterblich sei, und dafs sie nach Zerstörung
des Körpers in ein jedesmal neu entstehendes Lebewesen ein-
gehe; nachdem sie aber alle möglichen Landtiere, "Wassertiere
und Lufttiere durchwandert habe, so gehe sie wiederum in
einen neu entstehenden Menschenleib ein,' und dieser Umlauf
vollziehe sich für sie in dreitausend Jahren." Dieses Zeugnis
des Herodot, dafs die Ägypter eine Seelen Wanderung gelehrt
hätten, findet in den Texten der Denkmäler keine Bestätigung.
In dem Totenbuch, dieser wichtigsten Quelle für unsere Kennt-
nis des ägyptischen Totenkultus, laufen drei verschiedene Vor-
stellungen neben einander her und durch einander. Es ist
dabei die Rede 1. von einem Ausruhen des Toten im
Grabe, 2. von seiner Fahrt nach dem fernen Westlande,
um dort mit Osiris zu herrschen, und 3. davon, dafs er zurück-
kehren könne, um „Gestalten anzunehmen, welche er
will". Diese letzte Wendung scheint- Herodot mifsverständ-
lich auf den ihm von Pythagoras und Empedoldes her be-
kannten Seelenwanderungsglauben bezogen zu haben; sie
spricht aber von keiner Seelenwanderung, sondern nur von
dem bei allen Völkern mehr oder weniger gangbaren Glauben
an die Revenants, nach welchem der Tote den Überlebenden
im Traume oder im Wachen, in menschlicher oder anderer
Gestalt zu erscheinen vermag. Aber auch die beiden ersten
Vorstellungen stehen mit einander im Widerspruch und scheinen
zwei verschiedenen Epochen anzugehören, nur dafs hier, wie
überall auf religiösem Gebiete, das Alte, weil auf heiliger Tra-
dition beruhend, nicht beseitigt werden darf, sondern sich
neben dem Neuen behauptet, so sehr es auch mit ihm in
Widerspruch stehen mag. Die schon in der Pyramidenzeit
24 I- I^as alte Ägypten.
aufkommende Sitte, den Leichnam zu balsamieren, deutet
darauf hin, dafs man, ohne darum die Seele gerade zu leugnen,
doch das Wesen des Menschen in seiner Leiblichkeit sah, etwa
wie in den Eingangsversen der Ilias, nach denen der Zorn
des Achilleus die Seelen der Helden in den Hades sendet, sie
selbst aber den Hunden und Vögeln zum Frafse macht. Auch
im ältesten Ägypten sah man, wie es dem primitiven Menschen
natürlich ist, das Selbst in dem Leibe, trug für dessen Er-
haltung Sorge, baute ihm ein Haus, sei es ein Felsengrah,
ein Grabgewölbe oder, wie bei Königen, eine Pyramide, und
schmückte die Wohnung des Toten mit Abbildungen seiner
Liebhngsbeschäftigung im Leben, Krieg, Ackerbau, Fischfang,
Jagd usw., an deren Betrachtung die Seele des Toten, sein
Xa, im Grabe seine Unterhaltung findet. Seine Wohnung
nimmt der Ka in einer in das Grab mitgegebenen Statuette
des Verstorbenen, wird auch wohl mit ihr als identisch be-
trachtet. Eine geistigere Auffassung unterschied deutlicher,
ohne jene ältere Auffassung fallen zu lassen, von dem Körper
des Toten seine Seele als den Ba^ ein vogelartiges Wesen,
welches, wie Osiris, den Flug nach dem Westreiche nimmt,
um dort mit dem Gott zu leben und zu herrschen. Diese Fort-
entwicklung scheint schon der Ausbildung der Osiris-Religion
anzugehören, von der sogleich weiter die Rede sein wird.
4. Weitere Entwicklung der ägyptischen Weltanschauung.
Osiris, ursprünglich wohl der lokale Sonnengott von Aby-
dos, fand schon in der Pyramidenzeit allgemeine Anerkennung
und Verehrung und wurde derjenige Gott, mit dessen Schick-
sal das der Seele nach dem Tode mehr und mehr verglichen
und gleichgesetzt wurde. Wie der Sonnengott Osiris nach
glorreicher Fahrt über das Himmelsgewölbe hin schliefslich
im Westen untergeht, so folgt auf jedes noch so glückliche
Leben schliefslich der Tod. Aber wie Osiris als König im
Westreiche herrscht, so hoffte der Fromme zu ihm einzugehen
und mit ihm zu herrschen. Es mag wohl, wie in Indien, so
auch in Ägypten das Bewufstsein gewesen sein, dafs das ewige
Prinzip aller Dinge in den letzten Tiefen unserer eigenen Natur
zu finden ist, welches dazu führte, in jedem Menschen den
4. Weitere Entwicklung der ägyptischen Weltanschauung. 25
Osiris zu sehen, seinem Namen das Wort Osiris vorzusetzen
und somit die Seele des Verstorbenen als den Osiris N. N. zu
bezeichnen und ihm unter diesem Namen Gebete und Be-
schwörungsformeln mit ins Grab zu geben, deren er sich beim
Eingang in das Westreich zu bedienen hat, um dort bestehen
zu können. Immer mehr wuchs die Zahl dieser Hymnen und
Formeln an, bis sie schliefslich zu einem auf Papyrusrollen
geschriebenen Buche wurden, dem Totenbuche, genannt das
Buch „Vom Hervortreten am Tage" fpert mheruj, welches dem
Toten mit ins Grab gegeben wurde und ihm die geheimnis-
vollen Namen, Beschwörungsformeln und Anrufungen an die
Hand gab, um den Eingang ins Westreich zu finden, die auf
ihn lauernden Dämonen abzuwehren und in dem Totengerichte
zu bestehen, welches Osiris mit zweiundvierzig Beisitzern, ent-
sprechend den zweiundvierzig Hauptsünden, über den Toten
abhält. Eine bekannte Abbildung zeigt den Osiris, wie er in
dem Saale der doppelten Gerechtigkeit auf dem Throne sitzt;
der Verstorbene wird von dem schakalsköpfigen Gotte Anubis
vorgeführt, sein Herz wird auf einer Wage gewogen, und
Dhuti, der Gott der Weisheit mit dem Ibiskopfe, ist beschäf-
tigt, das Resultat der Wägung auf einer Schreibtafel zu ver-
zeichnen.
Während diese Vorstellungen im Laufe der Jahrhunderte
von den Priestern immer weiter im einzelnen ausgebildet und
mit sogenannten Geheimlehren und möglichst unverständlichen
Geheimnamen verbrämt wurden, hatten die veränderten poli-
tischen Verhältnisse des Landes auch eine Fortentwicklung der
Götterlehre in ihrem Gefolge. Auf die Zeit des alten Reiches von
Memphis war von der VI. bis X. Dynastie eine Zeit des Verfalls
gefolgt, in welcher, wie es scheint, die einzelnen Gaue sich wieder
selbständig gemacht hatten und ihre obersten Lokalgottheiten
an die höchste Stelle setzten, indem sie dieselben mit den all-
gemein anerkannten höchsten Göttern, Ra, Tum, Har und Osiris
identifizierten. Diese immer weiter getriebene Gleichsetzung
fülirte schliefslich zu dem Ergebnisse, dafs es nur einen welt-
schaffenden und weltbeherrschenden Gott gebe, der unter allen
jenen verschiedenen Namen verstanden werden müsse, und
als mit der XL Dynastie eine neue Zentralgewalt im mittlem
26 I. Das alte Ägypten.
Keiche mit der Hauptstadt Theben sich erhob, da war es
Amun, der Hauptgott von Theben, welcher unter dem Namen
Amun-Ra als jener eine Gott proklamiert wurde. So gelangten
die Ägypter schon um 2000 a, C. zu einer Art Monotheismus,
welcher jedoch von dem der Inder wie von dem der Hebräer
wesentlich verschieden ist/ Der indische Monismus, der ge-
legentlich auch als Monotheismus auftritt, beruht auf der
philosophischen Erkenntnis, dafs in allen Göttern, Welten und
Erscheinungen eines und dasselbe ewige, göttliche Wesen,
das BraJiman oder der Atman verkörpert ist; die Hebräer ge-
langten, wie noch zu zeigen sein wird, zum Monotheismus
durch Kampf, indem den altsemitischen Göttern aufser Jalive
zunächst das Recht auf Verehrung und schliefslich auch die
Existenz abgesprochen wurde; der ägyptische Monotheismus
hingegen beruht, wie gezeigt, auf einer durch die politischen
Verhältnisse herbeigeführten, mechanischen Identifikation der
verschiedenen Götternamen.
Mechanisch, weil auf einem willkürlichen Eingreifen in
die natürliche Entwicklung beruhend, ist denn auch der reli-
giöse Reformversuch Amenhoteps IV. aus der XVIIL Dynastie,
mit welcher Ägypten seine Freiheit von der Fremdherrschaft
der Hyksos wiedergewonnen hatte. Nachdem das Land durch
Dhutmes III. seine Machtstellung nach aufsen neubefestigt,
nachdem Amenhotep III. sein Andenken durch zahlreiche
Baudenkmäler gesichert hatte, unternahm es sein Sohn Amen-
hotep IV. (etwa um 1400 a. C), die bestehende und durch eine
mächtige Priestergilde geschützte Religion gewaltsam zu refor-
mieren. Der durch Gleichsetzung der Götternamen erreichte
Monotheismus schien ihm nicht vollständig durchgeführt zu
sein, solange der eine Gott unter so vielen Bezeichnungen und
so vielen Kultusformen verehrt wurde. Unter Abstreifung aller
mythologischen Vorstellungen erklärte er Aten, „die Sonnen-
scheibe", für das einzige Objekt der Verehrung, liefs nur die
von alters her anerkannten Namen Ra, Tum und Har als
synonym mit Atm zu, verbot alle andern Götternamen und
suchte ihr Andenken, vor allem das des thebanischen Haupt-
gottes Amun, durch Auswetzen aller Götternamen auf den
Denkmälern, soweit man sie erreichen konnte, zu vernichten.
4. Weitere Entwicklung der ägyptischen Weltanschauung. 27
Seinen eigenen Namen, der in seiner Zusammensetzung an den
Gott Arnim erinnerte, wandelte er um in Chuen-Äten, „Abglanz
der Sonnenscheibe", und verlegte seine Residenz aus Theben,
wo alles an Amun erinnerte, in eine neugegründete Stadt in
Mittelägypten, welche er als die Sonnenstadt (Chiä-Aten) be-
zeichnete und durch einen herrlichen Sonnentempel in ihrer
Mitte auszuschmücken begonnen hatte, als er nach kaum
zwölfjähriger Regierung, man weifs nicht, ob durch Mörder-
hand oder eines natürlichen Todes, starb. Mit ihm ging sein
Werk zugrunde; die neue Stadt wurde zerstört, es lag ein
Fluch auf ihrer Trümmerstätte, und gerade diesem Umstände
ist es zu verdanken, dafs uns unter ihren Trümmern, dem
heutigen Tell-el-Amarna, aus der Zeit des dritten und vierten
.Anienhotep die wertvollsten Urkunden erhalten sind, nament-
lich eine Korrespondenz asiatischer Fürsten und Statthalter
mit diesen Königen, von der noch in einem andern Zusammen-
hange zu reden sein wird. Das Ansehen der Dynastie war
erschüttert, und nach einigen Jahrzehnten der Wirren ging die
Herrschaft an die XIX. Dynastie über, unter deren Königen,
einem Seti und Bamses II., Ägypten nach aufsen hin seine
gröfste politische Machtstellung erreichte, während das geistige
Leben schon damals unter den Händen einer keinem Wider-
stand mehr begegnenden Priesterschaft zu einer Mumie erstarrte.
Fragen wir zum Schlufs, inwieweit auch die Religion der
Hebräer einen Einflufs von Ägypten her erfahren hat, so
mögen manche Äufserlichkeiten, wie namentlich die Sitte der
Beschneidung (vgl. Herod. H, 104) und die Neigung zum
Kälberdienst auf Anregungen von Ägypten her beruhen. Auch
die Sage von der grofsen Flut, für deren Entstehung in Pa-
lästina die physikalischen Anlässe fehlen, ist jedenfalls vom
Auslande importiert, und man könnte sie an die ägyptische
Sage von der Vernichtung des sündigen Menschengeschlechts
durch Ba mittels einer grofsen Flut anknüpfen, läge es nicht
viel näher, sie aus Babylonien herzuleiten. Was endlich den
hebräischen Monotheismus betrifft, so ist seine Entstehung
aus dem altsemitischen Polytheismus vollkommen zu begreifen,
ohne dafs es darum der Annahme einer Entlehnung fremd-
ländischer Vorstellungen bedüi'fte.
28 n. Die semitischen Volksstämme.
II. Die semitischen Vollisstämme.
1. Wohnsitze nnd ursprüngliche Heimat der Semiten.
Von den zahlreichen rings um die Erde angesiedelten
Völkerfamilien, deren jede eine gemeinschaftliche Ursprache
hatte, sind es, wenn wir von den Ägyptern und Chinesen ab-
sehen, nur zwei, an welche sich die Entwicklung aller Kultur
und namentlich alles höhern Geisteslebens knüpft, die Semiten
und Indogermanen. Die geographische Lagerung dieser beiden
Völkerfamilien, vermöge deren die östlichen Glieder der indo-
germanischen Völkergruppe von der westlichen durch die
keilförmig sich zwischen beide einschiebenden semitischen
Völker getrennt wird, ist jener schon öfter von uns erwähnte
geographische Zufall, durch welchen das ganze geistige Leben
der Menschheit bedingt ist, und ohne welchen vieles, welches
heute noch seinen Einflufs übt, sich ganz anders würde ge-
staltet haben. Denn als die griechisch-römische Welt, nach-
dem sie sich durch Entfaltung der in ihr liegenden Kräfte
ausgelebt hatte, ohne volle Befriedigung zu finden, wie jener
mazedonische Mann (Apostelgesch. 16,9), der dem Apostel
Paulus im Traume erschien, ihre Hände hilfesuchend nach
dem Osten ausstreckte, da war es der erwähnte geographische
Zufall, vermöge dessen das klassische Altertum nicht auf die
ihm urverwandte Weisheit der Inder, sondern auf die semi-
tische Weltanschauung stiefs, welche in ihrem Schofse als
schönste Blüte das Alte Testament und als reifste Frucht
das Neue Testament hervorgebracht hatte. Das Christentum
aber hat, wie der Verlauf unserer Darstellung zeigen wird,
das geistige Leben des Mittelalters und der Neuzeit nicht
weniger tief und nachhaltig beeinflufst als die römische und
im letzten Grunde die griechische Kultur, bis in welche die
tiefsten Wurzeln unserer eigenen Weltanschauung reichen,
und ohne deren nähere Kenntnis die uns noch in der Gegen-
wart bewegenden geistigen Strömungen nicht verstanden wer-
den können.
Jene Durchkreuzung der indogermanischen Völkerkette
durch die semitischen Stämme, durch welche recht eigentlich
1. Wohnsitze und ursprüngliche Heimat der Semiten.
29
der Knoten der Weltgeschichte geschürzt wurde, kann ent-
weder darauf beruhen, dafs die Indogermanen bei ihrem Zuge
aus Zentralasien nach dem südlichen und nördlichen Europa
hin an den schon in Kleinasien sefshaften Semiten vorbei-
und über sie hinweggewandert sind, oder aber darauf, dafs
die schon östlich in Indien und Iran, westlich in Europa sefs-
haften Indogermanen hinterher durch die von Süden sich
zwischen sie einschiebenden Semiten getrennt wurden. Für
letztere Annahme spricht namentlich der Umstand, dafs bei
keinem der indogermanischen Stämme sich auch nur die
leiseste Erinnerung an die Einwanderung erhalten hat, wäh-
rend die Besitznahme von Babylonien und Assyrien durch die
Semiten an den Spuren erkennbar ist, welche eine von ihnen
unterjochte und aufgesogene Urbevölkerung hinterlassen hat.
Die semitische Völkerfamilie besteht aus sechs Haupt-
stämmen, deren Namen und gegenseitige Lage sich auf folgende
Weise dem Gedächtnis leicht einprägen läfst. Zeichnen wir
auf der Karte von Vorderasien ein Kreuz ein, dessen Kopf in
Aramäer
Phöniker
Assyrer
Hebräer
Babylonier
>
die Gebirge Armeniens, dessen unteres, längeres Ende in Ara-
bien und dessen rechter und linker Arm nach Babylonien und
Palästina sich erstrecken, und schreiben wir den Namen der
Aramäer an das Kopfende, den der Araber an das lang-
gestreckte Fufsende, ferner an den rechten Arm den der einen
einheitlichen Kulturkreis bildenden Assyrer und Babylonier,
30 II. Die semitischen Volksstämme.
und an den linken Arm den der nicht weniger nahe ver-
wandten Phöniker und Hebräer, so haben wir ungefähr die
Lagerung der sechs semitischen Hauptstämme, wie sie in
historischer Zeit bestanden hat, vor Augen. Die Sprachen
derselben sind Abkömmlinge einer gemeinsamen Ursprache
und nahe verwandt, viel näher als es die verschiedenen indo-
germanischen Sprachen sind, daher sich die vergleichende
Grammatik der semitischen Sprachen oder, wenn man will,
Dialekte ganz von selbst bildete und nicht so schwere Pro-
bleme enthält wie die der indogermanischen.
Eine schwierigere Frage ist die nach der ursprünglichen
Heimat der Semiten. Nach der biblischen Tradition, welche
die Arche Noahs auf dem Berge Ararat südlich vom Kaukasus
landen läfst, wären mit den übrigen Völkern auch die Semiten
von dort ausgezogen und hätten sich nach Süden bis in
Arabien hinein verbreitet. Aber das umvirtliche armenische
Hochland ist durchaus nicht geeignet, eine Völkerwiege zu
bilden, und seitdem Sprenger in seinem „Leben des Mohammed"
den Umstand geltend gemacht hat, dafs die Araber sowohl
nach ihrer äufsern Erscheinung wie nach ihrer Sprache den
reinsten Typus des Semitischen darstellen, ist die von ihm
gezogene Folgerung ziemlich allgemein zur Anerkennung ge-
langt, dafs die semitischen Stämme sich nicht von Norden
nach Süden, sondern umgekehrt von Süden nach Norden ver-
breitet haben, und dafs ihre eigentliche Urheimat in den
Wüstenländern und Steppen Arabiens zu suchen ist, von
wo aus einzelne Schwärme dieser Beduinen nordwärts vor-
gedrungen sind, um sich nordöstlich des Kulturlandes von
Babylonien und Assyrien und nordwestlich der fruchtbaren
Landschaften Palästinas zu bemächtigen.
2. Charakter der Semiten.
Während die indogermanischen Stämme nach vollzogener
Einwanderung zumeist in Ländern sefshaft wurden, welche
nicht nur durch Jagd und Fischfang, Viehzucht und Ackerbau
ein üppiges Leben ermöglichten, sondern auch durch den
Wechsel der Jahreszeiten, den Reichtum der atmosphärischen
Erscheinungen, die Gegensätze von Meer und Land, Wäldern,
2. Charakter der Semiten. 31
Gebirgen und Flüssen der Phantasie reichere Nahrung boten,
so waren die Semiten in der ersten Zeit ihres Bestehens auf
wesenthch einfachere Verhältnisse angewiesen. War doch
ihre ursprüngliche Heimat die grofse Halbinsel Arabien mit
ihren weiten Wüsten und Steppen, welche zumeist eine Be-
bauung nicht lohnten, sondern nur vorübergehend eine kärg-
liche Nahrung für Kamele, Schafe und Ziegen boten. War
eine Länderstrecke abgeweidet, so brach der Stamm seine
Zelte ab, um nach mühsamer und entbehrungsreicher Wan-
derung eine neue Gegend aufzusuchen und, wenn erforderlich,
im Kampfe zu erobern, ohne dafs auch hier eine dauernde
Ansiedlung möglich gewesen wäre. So sind denn die Semiten
von Haus aus Söhne der Wüste, heimatlos umherziehende
Beduinenschwärme, welche das Nomadenleben liebten, stolz
auf üire in fortwährenden Kämpfen errungene Freiheit waren
und mit Geringschätzung auf eine von Ackerbau lebende Be-
völkerung herabblicken mochten. Wie überall für den Natur-
menschen, so ist auch hier der Stammesgenosse der gute, der
Ausländer der böse Mensch, und es ist kein Zufall, dafs der
böse Kain als Ackerbauer, der fromme Abel als viehzüchtender
Nomade in der Vorstellung des Volkes lebt.
Das an Entbehrungen, Mühen und Gefahren reiche Wüsten-
leben stählte den Körper und gab dem semitischen Stamme
jene Zähigkeit und Widerstandsfähigkeit, welche wir noch
heute an ihnen beobachten können, jenen unmittelbar auf das
Praktische gerichteten Sinn, welcher sich in der Verfolgung
seines Zweckes nicht, wie der Indogermane, durch ideale Er-
wägungen beirren läfst und ihn daher oft sicherer erreicht
als dieser. Hingegen steht der mit nüchternem Blick auf die
umgebende Wirkhchkeit gerichtete Sinn des Semiten an Keich-
tum der Phantasie und geistiger Schöpferkraft hinter den
Indogermanen erheblich zurück, daher die höchsten Leistungen
in der bildenden Kunst wie in der Poesie ganz überwiegend
bei diesen zu finden sind, und nicht weniger charakteristisch
ist es, dafs die Ausbildung der Philosophie den Indogermanen,
die der Religion den Semiten als Aufgabe zugefallen ist.
Lassen sich die bisher erwähnten Eigenschaften der Zähig-
keit, Nüchternheit und der praktischen Sinnesart aus den
32 11. Die semitischen Volksstämme.
Lebensverhältnissen, wie sie durch die arabischen Wüsten-
länder geboten waren, ohne Schwierigkeit ableiten, so be-
stehen zwischen semitischer und indogermanischer Welt-
anschauung doch noch tiefere Gegensätze, welche nicht aus
Idimatischen Verhältnissen begriffen werden können, sondern
in der ursprünglichen Naturanlage beider Stämme ihre Wurzel
haben müssen. Wir wollen versuchen, diese Verschiedenheiten
aus den letzten Tiefen der verschiedenen Begabung beider
Rassen abzuleiten, auf die Gefahr hin, dafs das Gesetz, welches
wir nachweisen wollen, sehr viele Ausnahmen erleidet, ohne
dafs es doch darum aufhört, ein allgemeines Gesetz zu bleiben.
Wenn wir hier und im folgenden unter Realismus den
unerschütterten Glauben verstehen, dafs die in Raum und Zeit
uns umgebende Aufsenwelt die eigentliche und endgültige
Realität der Dinge ausmacht, hingegen unter Idealismus
das deutliche oder undeutliche oder auch nur dämmerhafte
Bewufstsein, dafS diese Erscheinungswelt nur in der Idee, nur
als Vorstellung so ist, wie wir sie wahrnehmen, und dafs das
wahre Wesen der Dinge ganz andern Gesetzen gehorcht und
durch die uns umgebende Natui' nicht sowohl offenbart als
verhüllt wird, so können wir in diesem Sinne sagen, dafs der
semitische Geist von Natur an vorwiegend realistisch,
der indogermanische hingegen vorwiegend idealistisch ge-
richtet ist. Es ist die Naturbestimmung des menschlichen wie
des tierischen Intellekts, ein Diener des Willens zu sein, ihm
die Motive seines Handelns zu liefern, für welches die Dinge
nur nach dem in Betracht kommen, als was sie uns erscheinen,
nicht nach dem, was sie an sich sein mögen. Dieser Natur-
bestimmung ist der semitische Intellekt um ein Merkliches
treuer geblieben als der indogermanische, und aus diesem Grund-
unterschied lassen sich die charakteristischen Abweichungen
der Semiten und Indogermanen in ihrer Vorstellung sowohl
über das Wesen der Gottheit wie über das des Menschen
verstehen.
Auf realistischem Standpunkt ist Gott in demselben Sinne
real, wie es alle Dinge der Aufsenwelt sind, und da verhält
sich sein Wesen zu dem des Menschen wie das grofse Welt-
ganze zu dem menschlichen Individuum, welches mit jenem
2. Charakter der' Semiten. 33
verglichen zu einer verschwindenden Kleinheit, zu einem Nichts
zusammenschrumpft. Gott ist alles, und ich bin ihm gegen-
über nichts, das ist die semitische Anschauung, wie sie im
ganzen Alten Testament und am schönsten vielleicht in den
Psalmen zum Ausdruck kommt. Auch ist diese Anschauung
nicht unberechtigt, sie ist ebenso berechtigt wie es die rea-
listische Grundanschauung vom Wesen der Welt ist, aber
auch ebenso einseitig wie diese.
Gegenüber dieser unerschütterlichen Überzeugung von der
Kealität der Aufsenwelt und ihrer Verhältnisse, von welcher
der semitische Geist sich nur schwer losmachen kann, finden
wir bei den Indogermanen schon in den ältesten Zeiten das
wenn auch nur dämmerhafte Bewufstsein, dafs es eine höhere
Realität gibt als die uns umgebende räumliche oder zeitliche
Ausbreitung, eine Realität, welche sich in den letzten Tiefen
des eigenen Innern kundgibt, als ein Etwas, das über all©
Welten und alle Götter erhaben ist, und dieses Bewufstsein
steigert sich von der Auffassung der Götter als dem Menschen
koordinierter Wesen, als seiner Brüder oder Väter, wie es
schon im ersten Hymnus des Rigveda heifst, bis zu der Er-
kenntnis, dafs der Atman, dafs dieses unser eigentUchstes
Selbst der Träger aller Götter und Welten ist, bis zu dem
stolzen Ausspruch der von diesem Bewufstsein beseelten Upa-
nishad's: aJiam hrahma asmi, „ich bin das Brahman", ein
Bewufstsein, welches auch in der griechischen Welt zum
Durchbruch kommt, wenn Plotin in die Worte ausbricht:
„Darum möge jede Seele bedenken, dafs sie es war, welche
alle lebenden Wesen erschaffen und ihnen das Leben eingehaucht
hat..., dafs sie es war, welche die Sonne und diesen grofsen
Himmel erschaffen hat" (vgl. den Wortlaut der Stelle in
meiner Philosophie der Griechen, oben n,i, S. 498). Man ver-
gleiche mit Aussprüchen wie diesen die Worte Abrahams:
„Ich habe mich unterwunden, mit dem Herrn zu reden, wie-
wohl ich Erde und Asche bin" (1. Mos. 18,27), oder Psalm-
stellen wie 8,5 : „Was ist der Mensch, dafs du seiner gedenkest,
und des Menschen Kind, dafs du dich seiner annimmst?",
und 144,4: „Ist doch der Mensch gleich wie nichts;, seine
Zeit fährt dahin wie ein Schatten." Die Psalmen sagen:
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, u. 3
34 n. Die semitischen Volksstämme.
„Gott ist alles, ich bin nichts", die Upanishad's lehren: „Ich
bin selbst Gott, trage das Prinzip aller Dinge in mir"; beide
Anschauungen sind in ihrer Weise berechtigt, die eine vom
Standpunkt des Realismus, die andere von dem des Idealismus
aus. Beide haben auch durch Goethe ihren dichterischen
Ausdruck gefunden, die eine in dem Gedichte „Grenzen der
Menschheit", die andere in seinem „Prometheus".
Wie in bezug auf das Gottesbewufstsein, so unterscheidet
sich der Realismus des Semiten von dem indogermanischen
Idealismus auch in der Auffassung der Natur des Menschen.
Auf empirischem Standpunkt wird der Mensch durch Zeugung
und Geburt aus dem Nichts zu einem Etwas, und durch den
Tod aus dem Etwas wieder zu nichts. Dementsprechend haben
die Semiten ursprünglich kein Bewufstsein von der Unsterblich-
keit der Seele. Im Alten Testament fehlt sie, bis zu der
Zeit, wo die Hebräer zu den Iraniern in Beziehung traten, und
ebenso in der assyrisch-babylonischen Anschauung, nach
welcher alles Lebende der Todesgöttin Allat verfällt und nur
die Istar, das Prinzip des Lebens, nicht von ihr festgehalten
werden kann; alles Lebende vergeht, nur das Leben selbst
stirbt nicht, das ist, wie wir sehen werden, der Grundgedanke
des Gedichts von der Höllenfahrt der Istar, und auch ihm
hat Goethe in dem ersten der beiden erwähnten Gedichte
Worte geliehen, wenn es zum Schlüsse heifst:
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.
Im Gegensatze zu dieser semitischen Auffassung, welche
übereinstimmt mit dem Zeugnis der Natur, dafs unser Dasein
mit dem Tode zunichte wird, setzt sich der Idealismus in
dem Bewufstsein, dafs ein Unvergängliches in uns lebt, über
die Aussage der Natur hinweg, und dementsprechend begegnen
wir schon in den ältesten Texten der indogermanischen Litera-
tur, bei Indern wie bei Iraniern, der Überzeugung von einem
Fortleben des Menschen nach dem Tode.
3. Ursprüngliche Religion der semitischen Stämme. 35
3. Ursprüngliche Keligion der seaiitischen Stämme.
Über die Religion der semitischen Stämme während der
Zeit, wo sie als eine Anzahl von Beduinenschwärmen in den
weiten Steppenländern Arabiens umherzogen, felilt es uns an
einer direkten Überlieferung; doch läfst sich mit Hilfe des
auch späterhin allen semitischen Stämmen in Arabien, Baby-
lonien und Kanaan Gemeinsamen und durch Aufsuchen ein-
zelner erhaltener Spuren ein wenn auch unsicheres und durch
Hypothesen zu ergänzendes Bild von jener ältesten Religion
der Semiten nach ihren allgemeinen Grundzügen gewinnen.
Zunächst weisen manche abergläubische Vorstellungen,
die sich im Bewufstsein des Volkes noch bis in späte Zeiten
erhielten, darauf hin, dafs auch bei den Semiten der Religion
als eine Vorstufe dasjenige vorhergegangen ist , was man
Animismus zu nennen pflegt, der Glaube an übernatür-
liche, dämonische, durch Zauberei dem Menschen dienstbar
zu machende Mächte, mögen dieselben nun als frei umher-
schweifend oder als an einen bestimmten Ort, einen Felsen,
einen Berg, eine Pflanze gebunden vorgestellt werden. Dahin
gehören die Feldteufel und Feldgeister, welche 3. Mos. 17,7
und Jes. 13,21. 34,14 erwähnt werden, vielleicht auch die
eherne Schlange, deren Kultus noch bis auf König Hiskia bei
den Hebräern nach 2. Kön. 18,4 bestand. NamentUch waren es
Berghöhen fbämähj, Steinkegel (maszebähj und heilige Bäume
oder Holzpfähle fascherähj, welche als Wohnsitz eines solchen
dämonischen Wesens galten, das dann als der „Herr" {hdalj
des betreff'enden Ortes bezeichnet zu werden pflegte. Auch
diese Vorstellungen wirkten noch später bei einer geistigern
Auffassung vom Wesen der Gottheit nach, indem man deren
Kultus mit Orten wie den genannten verknüpfte. Eine be-
sondere Art von Dämonen waren die im Besitz einzelner Fa-
mihen befindlichen, das Zelt oder Haus beschützenden Haus-
götter oder Penaten; sie waren geschnitzt, gegossen oder mit
Metall überzogen (Rieht. 18,14), wahrscheinlich von menschen-
ähnlicher Gestalt (1. Sam. 19,13), und wenn sie entwendet
wurden, zog der Segen mit ihnen fort (Rieht. 18,24); von
dieser Art waren aucl^ die theräpMm, welche Rahel ihrem Vater
3*
36 II. Die semitischen Volksstämme.
stahl und bei der Haussuchung unter dem Sattel des Kamels
verbarg (1. Mos. 31,19. 34 fg.).
Bei einer sefshaften Bevölkerung ist ihr Zusammenhang
schon gesichert durch das gemeinsame Land, welches sie be-
wohnt. Anders bei nomadisierenden Stämmen, welche mit
ihren Zelten, Kamelen und Schafen je nach Bedarf aus einer
Gegend in die andere zogen. Hier war es die Zugehörigkeit
zum Stamme, welche den Bruder, den Verwandten, den Freund
von dem Fremden unterschied; jeder Stamm fühlte sich als
eine gesclilossene Einheit, und diese Einheit, welche nur eine
ideelle war, fand ihren bestimmtesten Ausdruck darin,, dafs
jeder Stamm einen ihm allein eigenen Schutzgott besafs,
' welcher den Stamm auf seinen Wanderungen begleitete, sei
es in Gestalt eines mitgeführten Idols, sei es dafs er als eine
rein geistige Macht unter seinem Volke weilte, ihm voranzog,
sichtbar bei Tag als eine Wolkensäule, bei Nacht als eine
Feuersäule, und das Volk, mit dem er einen Bund fberith,
5(,a^7]XY], testamentumj geschlossen hatte, zum Siege gegen die
Feinde führte. Jeder Erfolg im Innern wie nach aufsen wurde
als eine Gnade des Stammgottes empfunden, jeder Mifserfolg
auf ein Zürnen des Gottes mit seinem Volke zurückgeführt.
Als diesen speziellen Schutzgott ihres Stammes verehrten die
Moabiter den Kamos, die Ammoniter den Milkom und der
Stamm der Hebräer seinen Jahve.
Aufser der Verehrung des Stammgottes, dessen Gunst
man durch Opfer, durch Darbringung der Erstlinge der Herden
und später der Feldfrucht, durch regelmäfsig im Laufe des
Jahres ihm zu Ehren gefeierte Feste zu sichern suchte, aufser
den dämonischen Mächten, welche das Leben umgaben und
durch Zaubergebräuche teils unschädlich gemapht, teils zur
Förderung der menschlichen Interessen gewonnen wurden,
blickte der Wüstenbewohner verehrend zu den Gestirnen
empor, welche am wolkenlosen arabischen Himmel ihren regel-
mäfsigen Kreislauf vollzogen, zur Sonne als Regentin des
Tages und zum Monde als Regenten der Nacht, sowie nament-
lich auch zu den Planeten, deren wechselnde Stellung am
Himmel eine Beziehung zu den Wechselfällen des mensch-
lichen Lebens zu haben schien, und de^n Gunst man durch
3. Ursprüngliche Religion der semitischen Stämme. 37
Opfer und Verehrung gewinnen zu können hoffte. Und wie
sich über der Erde und den Gestirnen der eine allen gemein-
same Himmel ausspannte, so tritt uns in der semitischen Welt
vielfach die Vorstellung eines in unnahbarer Ferne thronenden
„Herrn des Himmels" ßdal haschschämajimj entgegen, welcher
dem Bewufstsein des Menschen in dem Mafse fernstand, in
welchem er nicht, wie die W^andelsterne des Himmels, der
Schutzgott des eigenen Stammes und die auf der Erde hausen-
den Dämonen einen Einflufs auf das menschliche Leben zu
üben vermochte. Ob der Name El, babylonisch Ilu, wie man
früher annahm, diesen obersten Himmelsgott bezeichnete oder
ähnlich wie Ba^al (der Herr) ursprünglich keinem bestimmten
Gott eigen war, sondern den Gott im allgemeinen bedeutete,
mas: dahingestellt bleiben.
III. Die Babylonier und Assyrer.
1. Äufsere Geschichte der babylonischen und assyrischen Reiche.
Während in den Gebirgsländern östlich vom Tigris indo-
germanische Stämme, die !Meder im Norden, die Perser süd-
lich von ihnen, sefshaft geworden waren, welche erst später
in den Verlauf des geschichtlichen Lebens eingreifen sollten,
finden wir an den Flufsläufen des Euphrat und Tigris schon
vor 3000 a. C. eine eingewanderte semitische Bevölkerung.
Namentlich war Sinear, das fruchtbare Tiefland, welches der
Euphrat und Tigris, nachdem sie sich bis auf wenige Meilen
genähert haben und dann wieder von einander entfernen, bis
zu ihrer gemeinsamen Mündung im Persischen Meerbusen
umschliefsen, von jeher ein lockendes Ziel für umherschweifende
Nomadenhorden gewesen, und so finden wir hier schon in den
ältesten Zeiten, bis zu denen unsere Erinnerung reicht, im
Norden von Sinear das semitische Reich von Akkad, während
der Süden von einer alteingesessenen, weder semitischen noch
indogermanischen Bevölkerung, den Sumerern, zunächst noch
gegen die Eindringlinge behauptet wurde. Diese Sumerer,
soweit sie bis jetzt erforscht worden sind, erscheinen als ein
uraltes Kulturvolk mit einer eigentümlichen Sprache und
38 III- I^ie Babylonier und Assyrer.
Literatur, mit einer ausgebildeten Religion und Mythologie,
deren Denkmäler in der ihnen ursprünglich eigenen Keilschrift
zum Teil noch heute vorliegen. Von diesen Sumerern über-
nahmen die eindringenden Semiten nicht nur die für die semi-
tischen Sprachen wenig geeignete Keilschrift, sondern auch
einen grofsen Teil ihrer religiösen und mythologischen Vor-
stellungen, ihrer Göttersage und Heldensage, während anderer-
seits auch die Sumerer von den Semiten manche Elemente
der Religion und Kultur annahmen. Beide Reiche, vielleicht in
einzelne Stadtfürstentümer gegliedert, das sumerische im Süden,
das akkadisch- semitische im Norden von Sihear, bestanden
lange Zeit neben einander, bis sie, vielleicht zum ersten Male,
2500 a. C. von dem in Akkad regierenden semitischen König
Sargon I. zu einem Gesamtreiche vereinigt wurden. Auch
während der Regierung seines Sohnes Naramsin dauerte die
Oberherrschaft der Semiten über das ganze Sinear fort, ging
dann aber in den nächsten Jahrhunderten auf die sumerischen
Könige von Ur und von diesen auf eine von Osten ein-
gedrungene elamitische Dynastie über, bis diese von semiti-
schen Fürsten aus dem Stamme der Amoriter, Sinmuballit
und seinem grofsen Sohne Chammurdbi (1958 — 1916), verdrängt
und die Staaten der Halbinsel Sinear zum zweiten Male zu
einem Gesamtreiche vereinigt wurden. Weit über die Grenzea
Sinears hinaus, bis nach Assyrien und vielleicht Syrien hin,
erstreckte sich die Macht Chammurabis und rechtfertigt den
Titel eines „Herrn der vier Weltteile", welchen er sich nach
dem Vorgange Früherer beilegte. Er erhob Bab-el („die Pforte
Gottes", Ka-dhigira, wie sie schon bei den Sumerern hiefs)
zur Hauptstadt des Landes und sorgte für dessen Wohlfahrt
durch Anlage von Kanälen und eine geordnete Verwaltung.
Ob in dem 1. Mos. 14 erwähnten ÄmrapheJ, König von Sinear,
eine sagenhafte Erinnerung an Chammurabi fortlebt, ist zweifel-
haft, aber ein anderes Dokument hat uns diesen König aus
uralter Zeit in greifbare Nähe gerückt. Gegen Ende des
Jahres 1901 fand eine französische Expedition in Susa einen
dorthin aus Babylonien verschleppten Dioritblock in Form
einer Stele; sein oberer Teil stellt in einem Basrelief den
Chammurabi dar, wie er in aufmerksamer Stellung vor
1. Äufsere Geschichte der babylonischen und assyrischen Reiche. 39
dem sitzenden Sonnengott dasteht und von ihm die Gesetze
des Landes empfängt. Unter dem Bilde und auf der Rück-
seite des Steines ist in senkrecht laufenden Zeilen ein Gesetz-
buch verzeichnet, welches, eingeleitet durch ein Vorwort und
beschlossen durch ein Nachwort, in 282 Paragraphen eine
Reihe eingehender Verordnungen über den Verkehr zu Wasser
und zu Lande, über Eigentumsrecht, Familienrecht und Erb-
recht, über das Strafrecht sowie über Taxen bei Kauf, Miete
und Dienstleistungen aller Art enthält. Die angedrohten
Strafen der Tötung, Verstümmelung usw. nach dem jus ta-
lionis sind in der Regel sehr harte; im übrigen legt dieses
Gesetzbuch Zeugnis ab von der hohen Blüte der Kultur, welcher
sich ßabylonien schon vor 4000 Jahren erfreute und deren
Einflufs sich im Norden bis nach Assyrien, im Westen bis nach
Palästina und zum Mittelländischen Meer erstreckte. Dieser
Einflufs blieb auch in der Folgezeit bestehen, als Sinear seit
dem Jahre 1760 ein Jahrhundert und länger unter die Herr-
schaft des aus dem östlichen Gebirge eingedrungenen wilden
und kriegerischen Volkes der Kossäer geriet. Babylonische
Sprache und Schrift wurde, wie die Briefe von Tell-el-Amarna
beweisen, bis nach Palästina und Ägypten hin die Verkehrs-
sprache der Diplomatie und des Handels. Nach und nach
wurde sie durch die Sprache der Aramäer verdrängt, welche
als Nomaden schon im 9. Jahrhundert a. C. in Südbabylonien
eingedrungen und, wie es scheint, auf friedlichem Wege sefs-
haft geworden waren. Viel trugen auch die von Damaskus
bis Haran und Babylon umherziehenden aramäischen Kauf-
leute zm- allgemeinern Verbreitung des Aramäischen bei,
dessen Schrift sich als Buchstabenschrift durch eine bequemere
Schreibart mehr als die altbabylonische Silbenschrift für den
Verkehr empfahl. Zur Zeit des Hiskia und altern Jesaia wurde
das Aramäische auch in Jerusalem von den Gebildeten, noch
nicht aber von dem Volke verstanden, (2. Kön. 18,26). Nach
und nach verdrängte es alle andern nordsemitischen Dialekte,
und zu Jesu Zeit sprach man auch in Palästina aramäisch.
Schon frühzeitig war dem Babylonischen Reiche neben
den Elamitern ein zweiter Rivale erwachsen in dem Schwester-
volke der am obern Tigris mit den Hauptstädten Assur und
40 III. Die Babylonier und Assyrer.
Später Ninive angesiedelten Assyrer. Während sie zu Cham-
murabis Zeit noch unter babylonischer Oberhoheit standen,
erhoben sie sich seit dem Jahre 1500 zu einer selbständigen
Macht. Immer weiter breitete sich in den folgenden Jahr-
hunderten die assyrische Herrschaft aus; schon um llOÖ
drangen assyrische Könige bis an das Mittelländische Meer
vor und machten sich vorübergehend auch Babylonien tribut-
pflichtig. Nach zeitweiliger Schwächung des Reiches gelang
es dem Könige Tiglathpüesar IL, genannt PJud (745 — 727), die
assyrische Grofsmacht zu begründen, indem er, ungehindert
durch das damals ohnmächtige Ägypten, nicht nur die Staaten
Syriens, unter ihnen auch das Reich Israel, tributpflichtig
machte, sondern auch im Jahre 729 Babylonien zum ersten
Male dem Assyrischen Reiche einverleibte. Ihm folgte sein
Sohn Salmanassar IV. (727 — 722), welcher Hosea, den letzten
König von Israel, gefangen nahm und Samaria drei Jahre lang
belagerte. Auf ihn folgte Sargon (722 — 705), wie es scheint, ein
Usurpator, der sich als solcher den Namen SarrttJcinu, „der recht-
mäfsige Herrscher", beilegte, an Stelle des gestorbenen oder
vom Throne gestofsenen Salmanassar 722 a. C. die Belagerung
Samarias durch Eroberung der Stadt vollendete und dem Reiche
Israel ein Ende machte. Über 27 000 Einwohner wurden von
ihm in die assyrische Gefangenschaft weggeführt und jenseits
des Tigris in Assyrien und Medien angesiedelt. Unter Sargons
Nachfolgern, Sanherib (705 — 681), welcher Jerusalem undTyrus
vergebens belagerte und Babel zerstörte, Ässarhaddon (681 —
668), welcher es wieder aufbaute und Ägypten sich unterwarf,
und Assurbampal (668 — 626), der Ägypten aufgeben mufste,
dafür aber das Reich der Elamiter mit der Hauptstadt Susa
eroberte, erhielt sich das Assyrische Reich im ganzen auf
gleicher Höhe der Macht. Doch war Assurbanipal, der seine
Kriege lieber durch seine Feldherren führen liefs, vorwiegend
den Künsten des Friedens zugeneigt. Er restaurierte die schon
von Sanherib angelegte gewaltige Stadtmauer Ninives und
errichtete in . dem von Sanherib erbauten Südwestpalast eine
grofse Bibliothek, in welcher er alle Urkunden und literarischen
Erzeugnisse der Vorzeit zusammenzubringen bestrebt war.
Zahllose Täfelchen und Zylinder aus Ton mit Keilschrift be-
1. Äufsere Geschichte der babylonischen und assyrischen Reiche. 41
schrieben enthielten hier die Überheferung der altbabylonischen
und assyrischen Geschichte und haben sie bis auf unsere Tage
gebracht, da alle diese Schätze zwanzig Jahre nach Assur-
banipals Tod mit einem Schlage unter Schutt und Trümmern
begraben und so auf die Nachwelt gebracht werden sollten.
Schon unter Assurbanipal wurde das Reich durch Einfälle
skythischer und kimmerischer Horden geschwächt. Nach
seinem Tode empörte sich Nebiipalassar^ der assyrische Statt-
halter von Babylonien, und schlofs im Jahre 608 mit Kyaxares^
dem König der Meder, ein Bündnis gegen Assyrien. Der
Bund wurde dadurch besiegelt, dafs dej' Indogermane Kyaxares
seine Tochter Amyitis dem Semiten NehtiJcadnezar, dem Sohn
des Nebupalassar vermählte, ein Beispiel, welches weiterhin
nach der Eroberung Babyloniens durch die Perser so viel-
fache Nachahmung fand, dafs noch heute die in Indien leben-
den Reste der alten Perser, wiewohl sie der Sprache nach
unzweifelhaft Indogermanen sind, nach äufserer Erscheinung
und Charakter in auffallender Weise den Semiten ähneln.
Die Berichte über das grofse Ereignis des Jahres 606, den
Fall Ninives und die Vernichtung des Assyrischen Reiches,
sind sehr lückenhaft. Als das Heer des Nebupalassar, wahr-
scheinlich unterstützt von der andern Seite her durch die
Meder, heranrückte, soll sich SaraJiOs, der Nachfolger des
Assurbanipal, an seiner Rettung verzweifelnd, mitsamt seinem
Palaste verbrannt haben (o5 tyjv e9oSov -jTTO'/j'ä'stc 6 2apaxoc;
ea-jrov duv toi^ ^cnaCkeloi^ ivsTcpifjas, Berossos bei Syncell.
p. 210 B). Ninive wurde dem Boden gleich gemacht, seine
Denkmäler unter Schutt und Asche begraben. Das Andenken
der grofsen Stadt war in späterer Zeit verschollen, und als
Alexander der Grofse 331 seinen entscheidenden Öieg bei
Arbela und Gaugamela erfocht, war niemand da, der ihm
sagen konnte, dafs er auf der Trümmerstätte des alten Ninive
gekämpft hatte (E. Meyer I, 1, S, 577).
Das Neubabylonische Reich war nur von kurzer Dauer.
Ein Jahr nach dem Sturze Ninives starb Nebupalassar und
hinterliefs das Reich seinem Sohne Nchi(7Mdne£ar (605—562),
welcher Babylon befestigte und verschönerte, das Land im
Norden durch die medische Mauer schützte, im Jahre 586
42 in. Die Babylonier und Assyrer.
Jerusalem zerstörte und die Juden in die babylonische Ge-
fangenschaft führte, auch Tyros 573 unterwarf. Unter seinen
drei Nachfolgern, seinem Sohne Amümarduk (Evil-Merodach,.
561 — 560), dessen Schwager Nergalsarusur (559 — 556) und
seinem Sohne Läbasimarduh, der nur 9 Monate regierte, ver-
fiel das Reich ; von den Hof leuten wurde die Dynastie gestürzt
und der nicht dem Königsgeschlecht angehörige Nahunahid
(Nabonedos, 555 — 539) auf den Thron erhoben. Er tat manches
für die Wohlfahrt des Landes, zerfiel aber mit der Priester-
schaft, so dafs Marduk, der Stadtgott von Babel, ihm seine
Gnade entzog und die Herrschaft dem Kyros übertrug, wie
eine für diesen von den Priestern verfafste Inschrift meldet^
Mit ihm ging die Herrschaft über Vorderasien für zwei
Jahrhunderte an das einfach lebende und kräftigp Gebirgs-
vollc der Perser über. Ihr König, Kyros H. (558 — 529} aus
dem Stamme der Achämeniden, entthronte 550 Astyages, den
letzten König der Meder, machte 546 dem lydischen Reiche
unter Krösus ein Ende und vollendete die Errichtung der
persischen Weitmonarchie durch Eroberung von Babylon im
Jahre 538. Um sich im fernen Westen eine treu ergebene
Bevölkerung zu sichern, erlaubte er den Juden aus der baby-
lonischen Gefangenschaft in die Heimat zurückzukehren und
ihren durch Nebukadnezar zerstörten Tempel wieder auf-
zubauen. Auch in Babylonien blieben Sitte und Religion der
Bevölkerung unangetastet; manche Elemente der von den
Sumerern ererbten Kultur wurden von dem frischen Natur-
volke der Perser übernommen, so auch die Keilschrift, welche
in vereinfachter Form der altpersischen Sprache angepafst und
zu offiziellen Erlassen verwendet wurde. Über zweihundert
Jahre behauptete sich das persische Weltreich der Achä-
meniden unter Kyros und seinen Nachfolgern, Kambyses,
Darius, Xerxes, Artaxerxes usw., bis es 331 dem Anstürme
des mazedonischen Eroberers Alexander erlag.
2. Quellen zur Geschichte der babylonisch-assyrischen Kultur
und Religion.
Während die Berichte der Griechen über Babylonien und
das Perserreich seit ihrer Berührung mit diesem Verhältnis-
2. Quellen zur Geschichte der babylonisch-assyrischen Kultur. 43
mäfsig gute Nachrichten enthalten, war ihre Kunde über das
so plötzlich zusammengebrochene assyrische Weltreich nur
unsicher und lückenhaft, da Herodot seine versprochenen
'Aaaügioi Xc^ot, (vgl. Herod. I, 106. 184) nicht geschrieben hat,
und Ktesias, der Leibarzt des Artaxerxes IL (405 — 359), durch
seine Fabeleien und bewufsten Erdichtungen den Grund ge-
legt hat zu den phantastischen Vorstellungen, welche man im
spätem Altertum von dem verschollenen grofsen Assyrerreich
hatte. Man erzählte sich von der Gründung des Reiches durch
Ninus und seine Gattin, das Mannweib Semiramis, und von
dem Untergange des Reiches, bei welchem der letzte König,
der Weibmann Sardanapal, sich in seinem Palaste mit seinen
Weibern und Schätzen verbranni habe. In Wahrheit hat es
nie eine solche Semiramis noch einen Sardanapal gegeben.
Erstere ist mutmafslich eine von Tauben erzogene und bei
ihrem Tode in eine Taube verwandelte semitische Tauben-
gottheit, vielleicht eine Form der Ktar, während die Gestalt
des Sardanapal aus einer legendenhaften Erinnerung an Assur-
banipal, den Kunst und Wissenschaft liebenden vorletzten
König, und an das tragische Ende des letzten Königs Sarakos
zusammengeschweifst ist.
Viel wertvoller als alle übrigen Überlieferungen der Grie-
chen sind uns die Nachrichten, welche uns aus dem Geschichts-
werke des Berossos erhalten sind, der um 280 a. C. Baßu-
Xovt.axa in drei Büchern verfafste. Doch sind uns nur von
dem ersten Buche, welches die Urzeit bis zur Flut behandelte,
hingegen von dem zweiten und dritten Buche erst von den
Zeiten des Tiglathpilesar IL an, ausführlichere Mitteilungen bei
jüdischen und christlichen Schriftstellern erhalten, welche eine
willkommene Ergänzung der nur dürftigen biblischen Nach-
richten bieten, während von dem mittlem Teile wenig melir
als eine Liste der Könige vorliegt.
So war man in früherer Zeit über die Geschichte Assyriens
und Babyloniens nur sehr unvollkommen unterrichtet, und
doch lag ein überreiches Material für dieselbe vor in den In-
schriften der Achämenidenkönige und ihrer semitischen Vor-
gänger in Babylon, Persepolis, Susa und andern Städten, wie
namentlich in der grofsen Inschrift, welche Darius L zu
44 ni. Die Babylonier und Assyrer.
Bagistäna an der Heerstrafse von Susa nach Egbatana hoch an
einer Felswand in drei Sprachen hatte einmeifseln lassen, um
der Nachwelt seine Taten zu verkünden. Alles dies aber
wurde noch weit überboten, als man seit 1842 Ausgrabungen
auf der Stätte des alten Ninive veranstaltete und unter den
Trümmern die gewaltige Bibliothek des Königs Assurbanipal
vorfand, in welcher dieser kunstliebende Fürst die Über-
lieferungen der Vorzeit auf zahllosen Täfelchen und Zylindern
aus Ton zusammengebracht hatte. Aber diesem ganzen reichen
Material stand man zunächst verständnislos gegenüber, da es
in Keilschrift abgefafst war, dem von den Sumerern über-
kommenen und bis in die Zeiten der Perserherrschaft hinein
gebräuchlichen Mittel für literarische Aufzeichnungen. Das
Schreibmaterial bestand für jene Zeit und Gegend, abgesehen
von den grofsen, in Stein gemeifselten Inschriften, aus weichem
Ton, in welchen man mit einem dreieckigen Griffel die Striche
eingrub, welche dadurch die Gestalt von kleinen, gerade oder
schräg stehenden Keilen annahmen. Die aus solchen Strichen
zusammengesetzten Zeichen waren ursprünglich wohl, wie bei
den Ägyptern und Chinesen, verkürzte Bilder von Gegen-
ständen, welche sich schon früh zu einer Silbenschrift und in
den Inschriften der Achämenidenkönige zu einer Buchstaben-
schrift fortentwickelt hatten. Man durfte annehmen, dafs von
den drei Sprachen, in welchen diese ihre Taten verkündeten,
die eine das Altpersische, also eine dem Sanslo-it verwandte
und im wesentlichen aus dem Avesta bekannte Sprache war.
Es kam darauf an, diese in ihrer fremden Vermummung wieder-
zuerkennen.
Georg Grotefend, ein deutscher Gymnasiallehrer, bemerkte
1802, wie in den Inschriften von Persepolis eine bestimmte
Zeichengruppe öfter wiederkehrte und jedesmal von einer zwei-
mal, nur mit verschiedenen Endungen gesetzten Zeichengruppe
begleitet war. Er nahm an, dafs die erste Gruppe den Namen
des Königs, die zweite und dritte den üblichen Titel der
Perserkönige, im Griechischen ßaatXeuc ßaatXsov, enthielt, wel-
chem im Sanskrit etwa hshatriyah ksliatriyänäm entsprechen
mochte. So gelangte er dazu, die Lautzeichen für Darius,
Xerxes, Artaxerxes und einige andere zu ermitteln. Seine
2. Quellen zur Geschichte der babylonisch-assyrischen Kultur. 45
Arbeit, fortgesetzt und ergänzt durch Burnouf und Lassen,
hatte das Ergebnis, dafs man die erste der drei Sprachen auf
den Inschriften zu Persepohs und Bagistäna lesen und ver-
stehen konnte. Aber noch bedurfte es langjähriger An-
strengungen, ehe es gelang, die so gewonnenen Lautwerte
auch zur Entzifferung der beiden parallelen Texte fruchtbar zu
machen. Die zweite der drei Sprachen, das sogenannte Ela-
mitische oder Susische, harrt noch der Erklärung; in der dritten
hingegen, dem Assyrischen, erkannte man, dank den Be-
mühungen von Kawlinson, Oppert u. a., eine semitische, dem
Arabischen und Hebräischen aufs nächste verwandte Sprache,
nur dafs sie in der von den Sumerern überkommenen, für den
Lautbestand des Semitischen wenig geeigneten Silbenschrift
geschrieben war, welche nur Zeichen für Vokal, Vokal + Kon-
sonant und Konsonant + Vokal, nicht aber für blofse Kon-
sonanten hat, daher ein Wort wie jpat durch pa-at aus-
gedrückt werden mufste. Durch diese Entzifferungen wurde
nicht nur das Material im Babylonischen und Persischen Reiche,
sondern auch der ganze Schatz der in Ninive ausgegrabenen
Bibliothek des Assurbanipal dem Verständnis erschlossen, und
ein ganz neues Licht sowohl auf die politische Geschichte
der babylonischen und assyrischen Reiche, wie auch auf die
in ihnen herrschenden religiösen und mythologischen Vor-
stellungen geworfen.
3. Grundzüg-e der babylonisch-assyrischen Weltanschauung.
Babylonien und Assyrien sind nur politisch verschieden,
sofern der Schwerpunkt der Macht, wie wir gesehen haben,
ursprünglich in Babylonien, dann in Assyrien und dann wieder,
seit dem Falle Ninives, im Neubabylonischen Reiche lag; nach
Kultur und geistigem Leben sind beide Völker so eng ver-
wandt, dafs sie als eine Einheit betrachtet werden können.
Die Quellen unserer Kenntnis ihrer Kultur und so auch ihrer
Religion und Mythologie sind, abgesehen von dem Werke des
Berossos, wesentlich in Ninive zu finden, dessen Herrhchkeit
mit einem Schlage verschüttet und so bis auf unsere Zeit
aufbewahrt wurde, während Babylon noch bis in die Zeiten
des späten Altertums bestand, daher hier vieles verschleppt.
46 III- Die Babylonier und Assyrer.
wurde und verloren ging, und auch die neuerdings mit Eifer
betriebenen Ausgrabungen bis jetzt keine Resultate ergeben
^haben, welche sich auch nur entfernt mit den Schätzen des
alten Ninive vergleichen können. Wir werden uns daher für
unsere Darstellung damit begnügen dürfen, ein Bild von den
Vorstellungen zu entwerfen, wie sie im Assyrischen und Neu-
babylonischen Reiche bestanden, auf Grund des Materials,
welches die Keilschriften, ergänzt durch die Fragmente des
Berossos, an die Hand geben.
Bei den in Babylonien eingewanderten Semiten wurde auf
den ursprünglichen Stamm der altsemitischen Religion das
Pfropfreis der bei den Sumerern herrschenden Anschauungen
gepflanzt, und so hat sich ein stattlicher Baum von Götter-
mythen, Schöpfungsmythen, Flutsagen und Heldensagen ent-
wickelt, welcher ganz überwiegend ursumerisches Eigentum
zu sein scheint, so dafs die ursemitische Grundlage vielfach
nicht mehr zu erkennen ist. Der bei der Einwanderung mit-
gebrachte Kultus der Himmelserscheinungen, der auf der Erde
hausenden dämonischen Mächte und des jedem Stamm eigenen
Schutzgottes verflossen mit verwandten Vorstellungen der
sumerischen Bevölkerung. Auch sie besafs einen Kultus himm-
lischer Dämonen, der Igigi^ und solcher, die auf der Erde ihr
"Wesen treiben, der Äniimmki. Auch sie verehrte die Himmels-
erscheinungen, namentlich die sieben Wandelsterne, Sonne,
Mond und die fünf Planeten, welchen man vielleicht schon
sehr früh einen Einflufs auf die Schicksale der Menschen zu-
schrieb, woraus sich in späterer Zeit die in Babylonien eifrig
betriebene und auch auf das Abendland ihren Einflufs er-
streckende PseudoWissenschaft der Astrologie entwickelte,
während die Schirmgötter der einzelnen Nomadenhorden nach
Sefshaftwerden der Stämme vielfach zu Lokalgöttern der Stadt-
gemeinden wurden oder mit den schon bestehenden Schutz-
göttern der Städte verschmolzen. Die Verfolgung dieses Pro-
zesses im einzelnen, soweit sie überhaupt zurzeit schon möglich
sein mag, liegt nicht in unserer Aufgabe. Wir müssen uns
damit begnügen, das endliche Resultat dieser Entwicklung in
seinen Grundzügen zu verzeichnen. Frühe Beobachtungen der
sieben Nächte, welche jede der vier Mondphasen einnimmt,
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 47
und der zwölf Erneuerungen, welche der Mond im Laufe des
Jahres erfährt, führten zur Annahme von sieben Dämonen als
Feinden der göttlichen Weltordnung und zur Vereinigung der
diese Ordnung hütenden grofsen Götter in einer Zwölfzahl,
über welche hinaus dann noch, entsprechend einer früh in der
semitischen Welt hervortretenden Neigung zum Monismus, der
Hauptgott des Landes und seiner Hauptstadt, also in Baby-
lonien Marduk, in Assyrien Assur erhoben wurde. Wir wollen
versuchen, die zwölf Hauptgötter, wie sie nach dem spätem
assyrischen Schema dem Assur als obersten Gott des Landes
angeschlossen wurden, aufzuzählen und kurz zu charakterisieren.
An der Spitze des Systems stehen drei höchste Gott-
heiten, Anu für den Himmel, Bei für die Erde und Ea als
Beherrscher der Tiefe. An sie schliefsen sich drei Gottheiten
der himmlischen und atmosphärischen Erscheinungen, Sin, der
Mondgott, Samas, der Sonnengott, und Bamäti, ein Gott des
Gewitters. Es folgen als drei Gottheiten von kriegerischem
Charakter Ninih, Nergal und Marduk, in Babylonien der höchste,
in Assyrien dem Assur untergeordnet, und endlich drei Götter-
gestalten, m welchen sich besondere Seiten des menschhchen
Treibens widerspiegeln, Neho, der Gott der Weisheit, und als
zwei nahe verwandte Personifikationen des Geschlechtslebens
die Göttinnen Belit und Istar.
Anu ist der von den Sumerern übernommene Gott des
Himmels, der als König und Vater der Götter gefeiert wird,
übrigens aber im Kultus zurücktritt, wie er denn auch keine
eigene, ihm heilige Stadt besitzt. Seine Wohnung ist der
Himmel,, an dessen Nordseite sein Thron sich befindet. Dafs
Jahve gleichfalls im Himmel thront, braucht nicht aus dem
Babylonischen herübergenommen zu sein, da derartige Vor-
stellungen zu natürlich sind, um sich nicht überall von selbst
zu ergeben ; wohl aber kann man in dem Anammelech, welchem
nach 2. Kön. 17,31 gewisse aus Assyrien nach Samaria ver-
pflanzte Stämme Kindesopfer brachten, eine verdunkelte Er-
innerung an Anu, den König des Himmels, finden. Dem Anu
ist die Zahl 60, die höchste im Sexagesimalsystem, heilig.
Bei, eigentlich der „Herr" (sumerisch En-lil, „Herr des
Windes"), ist speziell der im Luftraum waltende Herr der
48 III- Die Babylonier und Assyrer.
Länder, der auf dem Himmelsberg thronende Herr der Erd-
oberfläche, welche er beherrscht, wie Anu den Himmel. In
Babylon wurde ■ er mit Marduk identifiziert und verdrängte
allmälilich dessen Namen. Er gilt als Schöpfer der Welt und
als Vernichter der Menschen durch die grofse Flut. Seine
heihge Zahl ist 50. Seine Gemahlin ist Beltt^ die „Herrin",
ein Name, welcher später auf die I§tar übertragen wurde.
Das Analogen des Bei und der Istar bei den kanaanäischen
Semiten sind Bdal und 'Ästhoreth , während Bei, wo dieser
Name in der Bibel vorkommt, den babylonischen Hauptgott
Bel-Marduk bezeichnet.
Ea ist der Gott der Wassertiefe; er beherrscht die Ge-
wässer auf und unter der Erdoberfläche, wie Anu den Himmel
und Bei die Erde, neben welchen er gleichfalls als oberster
Gott verehrt wird. Der Hauptort seines Kultus ist das in der
Mündungsgegend des Euphrat und Tigris gelegene Eridu. Er
gilt als ein Gott der Weisheit und Kunstfertigkeit; Berossos
nennt ihn ^OdvvY)(; und schildert ihn als ein fischartiges Wesen,
unter dessen Fischkopf sich ein zweiter Kopf befindet und
welcher menschliche Füfse und menschliche Stimme besitzt;
bei Nacht weilt er im Wasser, bei' Tage steigt er aus ihm
auf, um die Menschen in allen Wissenschaften und Künsten
zu unterrichten. Als Gemahlin wird dem Ea die DamJcina
beigegeben, und der Sohn beider ist Marduk. Seine heilige
Zahl ist 40.
Sin, der Mondgott, gilt im System als Sohn des Bei und
als Vater des Samaä und der Istar. Als erstem. Gliede der
zweiten Göttertrias (Sin, Samas, Ramän) ist ihm die Zahl 30
heilig. Er wird vorgestellt als bärtiger Mann oder als Stier
mit zwei Hörnern. In spezieller Verbindung stehen Sin und
Nergal als zunehmender und abnehmender Mond. Beide sind
auch Ursache des Fiebers, und wenn der Mondsüchtige im
Neuen Testament (Matth. 17,15, Marc. 9,22) in Feuer und
Wasser, d. h. in Fieberhitze und Schüttelfrost geworfen wird,
so mag darin eine Rückerinnerung an den Mondgott als Er-
reger des Fiebers liegen. Die ihm heilige Neumondfeier wurde
in Israel wie so vieles andere auf Jahve übertragen, während die
Vorstellung von der schädigenden Wirkung des Mondgottes
3. Griindztige der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 49
noch Psalm 121,6 nachklingt. Die nähern Beziehungen dieses
Gottes zu kanaanäischen Bräuchen und Vorstellungen erklären
sich daraus, dafs die Handelsstrafse von Babylonien nach dem
Westen über Haran führte, welches ebenso wie Ur in Chaldäa
eine dem Mondgott Sin geheiligte Stadt war.
i§amas, der Sonnengott, war wohl schon eine altsemitische
Gottheit, welche nach der Einwanderung in Sinear mit dem
sumerischen Uhi verschmolz und besonders in Larsa und
Sippar seine Kultusstätte hatte. Öama§ gilt für einen Sohn
des Sin, daher ihm die niedere Zahl 20 heilig ist. Wie das
physische so spendet er auch das geistige Licht und ist daher
der besondere Schutzgott der Wahrsager und Orakelpriester.
Ob es sich bei den von Josia (2. Kön. 23,11) aus dem Tempel
von Jerusalem entfernten Darstellungen von Wagen und Rossen
der Sonne um einen aus Babylonien eingeführten Kultus oder
um Reste des althebräischen Polytheismus handelt, mag dahin-
gestellt bleiben. Auf einen alten Sonnenkultus scheint der
im Stamme Juda, Naphthali und Issaschar vorkommende Stadt-
name Beth-Öemes, wie auch die Sage von Simson (= solaris)
als dem nach herrlichen Taten seinen Feinden erliegenden
Sonnenheros hinzuw-eisen.
Eamän, auch Hadad genannt, ist der Gott der atmo-
sphärischen Erscheinungen, des Wetters im allgemeinen sowie
besonders des Gewitters und des Regens. Seine Symbole sind
das Blitzbündel und die Axt. Als Gewittergott sowie als
Spender und Verweigerer des Regens wird er in seinen Wir-
kungen teils als wohltätig, teils als verderblich betrachtet.
In der Bibel erscheint er 2. Kön. 5,18 als der syrische Gott
Rimmön in Damaskus.
Von der kriegerischen Trias, die wir auf die himmlischen
und atmosphärischen Götter folgen lassen, nennen wir zu-
nächst Ninib (früher als Ädar gelesen), einen Sohn des Bei
von Nippur, der dementsprechend in Nippur seinen Lokalkult
hatte. Ursprünglich war auch er ein Sonnengott, und in
diesem Sinne könnte seine Gemahlin Gula auf die Morgenröte
gedeutet werden. Ein Ort Beth- Ninib bei Jerusalem kommt
in einem Tell-el-Amarna-Briefe vor. Diese solare Bedeutung
des Ninib verblafste in dem Mafse, in welchem er im Verlaufe
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii. 4
50 in. Die Babylonier und Assyrer.
als Gott des Planeten Mars oder des Saturn betrachtet wurde,
wie er denn auch mit dem Orion in nähere Beziehung gesetzt
wird. Hieraus würde, vorausgesetzt dafs die Vorstellung des
Orion als eines wilden Jägers zu den Griechen aus Babylonien
gekommen, wäre, sich die Tatsache erklären, dafs Ninib bei
den Babyloniern als gewaltiger Kämpfer, als^ Gott des Krieges
und der Jagd gilt, während seine Vorstellung als einer gütigen,
heilbringenden Gottheit sich aus seiner ursprünglichen Be-
deutung als Sonnengott entwickelt haben könnte.
Gleichfalls m'sprünglich ein Sonnengott ist Nergal, nur
dafs er noch ausschliefslicher die verderbUche Wirkung der
Sonnenglut personifiziert, daher auch als Ursache der Fieber-
glut, der Pest und anderer Seuchen angesehen wird und neben
dem persischen Angramainyu Züge zur Ausbildung der Vor-
stellung von dem Satan und dem Höllenfeuer beigetragen
haben mag. Auch er ist, wie Ninib, ein Gott der Jagd und
des Krieges, und Beherrscher des Totenreiches, wo ihm
EresMgal {= Allat) als Gemahlin beigegeben wird. Sein Planet
war ursprünglich Saturn, später, als dieser dem Ninib bei-
gelegt wurde, der Mars. Die Hauptstätte seines Kultus war
die Stadt Kutha von ungewisser Lage, und die von dort nach
Samaria verpflanzten Bewohner brachten ihn in die neue Heimat
mit, wie 2. Kön. 17,30 berichtet.
Marchik, der Lokalgott von Babylon, wird im babylonischen
Pantheon die Stelle über den zwölf Göttern eingenommen
haben, welche er bei dem assyrischen Schema, dem wir folgen,
an Assur abtreten, und statt derer er sich mit einer unter-
geordneten Stellung begnügen mufste, vergleichbar einem
depossedierten babylonischen König, dem noch eine Ehren-
stellung unter den Grofsen des Assyrischen Reiches belassen
wurde. Ursprünglich scheint er ein Gott der Morgensonne
und Frühjahrssonne gewesen zu sein, daher sein Hauptfest in
die Frühjahrszeit fällt. Er ist ein Sohn des Ea und der
Damkina, und der Vater des Nebo; als Gemahlin wurde ihm
später die Istar beigegeben. Ihn als Hauptgott der Haupt-
stadt des Reiches identifizierte man mit Bei als Bel-Marduk
und legte ihm die Bekämpfung der Tiämat sowie die Welt-
schöpfung bei. In Beschwörungstexten erscheint er als ein
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 5X
weiser und barmherziger, heilbringender Gott, welcher Tote
wieder lebendig macht. Ihm ist der Planet Jupiter und die
Zahl 11 zu eigen. Sein Tempel hiefs Esagil („hohes Haus"),
von dessen Turm Eiemenanld öfter der Ausdruck vorkommt,
dafs er „mit seiner Spitze bis zum Himmel reiche", und an
den mutmafslich die Sage vom Turmbau zu Babel 1. Mose 11
anknüpft. In der Bibel erscheint Marduk als Merodach, Jerem.
50,2, wo er irrtümlich von Bei getrennt wird, wenn nicht ein
paraUclisnms memhroriim vorliegt.
Neho (vgl. hebräisch näbf) gilt als Sohn des Marduk und
ist, wie dieser von Babylon, der Lokalgott der Schwesterstadt
Borsippa. Als seine Gemahlin wird Tasmct, zuweilen auch
Nana bezeichnet. Ihm ist der Planet Merkur heilig, daher die
Griechen ihn als Hermes, die Römer als Mercurius auffassen.
Er ist der Gott und Schutzpatron der Schreibkunst; er heilst
der „Schreiber des Alls", der „Träger der Schicksalstafeln
der Götter", der Tafeln, in welchen alles, was geschehen wird,
vorausbestimmt ist. Aber auch die Werke jedes Einzelnen
trägt er in die „Tafeln der guten Werke" oder auch in die
„Tafeln der Sünde" ein, deren Vernichtung in Gebeten öfter
erwähnt wird. In der Bibel erscheint er Jes. 46,1 und in
Eigennamen wie Nebukadnezar, babylonisch Nahü-hidurri-
usiir („Nebo meine Grenze möge schützen").
JBclü, „die Herrin", ursprünglich das weibliche Komple-
ment zu Bei, sumerisch En-lil („Herr des Windes"), daher
auch sie bei den Sumerern den Namen Nin-lil („Herrin des
Windes") führt. In der spätem Zeit verschmolz sie mit der
Istar, und ihr Name Belit, „Herrin", wurde auf diese über-
tragen, während die Benennung dieser assyrischen und baby-
lonischen Aphrodite als MiiXiTTa (Herod. I, 131. 199) nicht,
wie man früher annahm, aus Bellt zu erklären ist, sondern
die Istar als „Göttin der Geburtshilfe" (entsprechend dem
hebräischen mejalledeth) zu bedeuten scheint.
Istar, deren Name noch unerklärt, aber wahrscheinlich
semitischen Ursprungs ist, hatte als Hauptort ihres Kultus
Uruk und Akkad in Babylonien, Ninive und Arbela in Assyrien.
Sie gilt für eine Tochter des Himmelsgottes Anu und wurde
in späterer Zeit dem Hauptgotte, in Babylonien dem Marduk,
4*
52 It[- Die Babylonier und Assyrer.
in Assyrien dem Assur, als Gemahlin beigegeben. Ihr ist der
Planet Venus heilig. Sie ist einerseits Göttin des Geschlechts-
lebens und der Geburtshilfe, andererseits wird sie im Verlaufe,
namentlich in Assyrien, zur Kriegsgötti». Ihr Charakter als
Göttin der Zeugung tritt besonders in dem unten zu be-
sprechenden Mythus von der Höllenfahrt der Istar hervor,
sofern während ihrer Gefangenschaft in der Unterwelt alles
Geschlechtsleben auf der Erde aufhört. Als Göttin der sinn-
lichen Liebe wird sie ihrem Liebhaber oft verderblich, wie
dem schönen Jüngling Thammüs (vgl. Ezech. 8,14), der die
in der Gluthitze des Hochsommers hinwelkende Natur zu
personifizieren scheint und zu dem auch von den Griechen
übernommenen Mythus von Venus und Adonis Anlafs gegeben
hat. Daneben erscheint Istar als Kriegsgöttiii und wird als
solche mit Köcher, Bogen und Schwert bewaffnet dargestellt.
Endlich wird sie auch in den ihr geweihten Hymnen an-
gerufen als die barmherzige Helferin, welche von Krankheit
und Sündenschuld befreit. In Kanaan erscheint ihr Kult als
der der ^Asthoreth, wobei fraglich bleibt, ob derselbe ursprüng-
lich semitisch oder aus Babylonien in späterer Zeit entlehnt
ist. Sie ist unter der Jerem. 44,17 — 19 erwähnten „Königin
des Himmels" zu verstehen; ihr Name wie auch einzelne Züge
ihres Charakters liegen der jüdischen Legende von der Esther
zugrunde, wie es wohl auch kaum bezweifelt werden kann,
dafs der aus dem Griechischen nicht erklärbare Name !Ä.9poStT7j
der dialektisch veränderte und volkstümlich an dcpgÖQ, Schaum,
angelehnte Name 'ÄstJwreth ist. Ein Vergleich der wüsten
asiatischen Göttin, aus deren mit den Händen geprefsten
Brüsten Milch spritzt, mit der liebreizenden Gestalt der Aphro-
dite, von deren az'/pza. '^' IjjiepcsvTa xal 6'[JL[j.aTa [JLap[j.aipovTa
schon Homer berichtet, ist ein deutliches Beispiel für die Art,
wie die Griechen orientalische Vorstellungen in Gestalten von
idealer Schönheit umzuwandeln wufsten.
Wenn wir schon in den babylonisch- assyrischen Vor-
stellungen von den Göttern einzelnen Zügen begegneten, welche
in umgewandelter Form auf die palästinensischen Gottes-
vorstellungen von Einflufs gewesen sind, so ist dies in noch
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 53
viel höherem Grade der Fall bei den Mythen und Sagen von
der Weltentstehung und der Urzeit des Menschengeschlechts,
indem die biblischen Berichte von der Weltschöpfung, dem
Paradies, den Urvätern von Adam bis Noah, und namentlich
der von der Sintflut mehr oder weniger unter dem Einflüsse
der entsprechenden babylonischen Überlieferungen stehen.
Aber wie es bei den Griechen der ihnen mehr als irgend-
einem Volke eigene ästhetische Sinn war, welcher die
rohen asiatischen Vorstellungen zu Gebilden von höchster
menschlicher Schönheit umwafidelte, wie aus der asiatischen
Asthoreth ihre Aphrodite sich herausbildete, so war es hin-
wiederum bei den alten Hebräern das ihnen mehr als irgend-
einem Volke des Altertums innewohnende moralische Ge-
fühl für den Unterschied des Guten und Bösen, durch welchen
die aus Babylonien übernommenen Sagenstoffe auf biblischem
Gebiet eine unvergleichlich edlere Gestalt gewonnen haben.
Nicht als wenn das Volk der Hebräer moralisch höher ge-
standen hätte als irgendein anderes; auch das Alte Testa-
ment berichtet in reichem Mafse von Greueltaten, Lastern und
Schanden aus der Vorzeit des eigenen Volkes; aber eben jener
moralische Sinn liefs das Verwerfliche solcher Handlungen
deutlicher empfinden, wodurch sie sich von der ethischen
Höhe, in welcher die ganze Darstellung verläuft, nur um so
greller abheben.
Über die Wege, auf welchen die babylonischen Sagen-
stoffa zu den Hebräern gelangt sind, kann wohl kaum noch
ein Zweifel bestehen, nachdem der 1888 gemachte Fund von
Tell-el-Amarna, von dem noch weiter unten die Rede sein
wird, eine Anzahl Briefe zutage gefördert hat, welche etwa
um 1400 V. Chr., vor der Einwanderung der Hebräer, aus dem
damals unter ägyptischer Oberhoheit stehenden Palästina von
palästinensischen Statthaltern an die Könige Amenhotep III.
und Amenhotep IV. gerichtet sind. Diese Briefe nämlich sind
nicht etwa in ägyptischer oder in kanaanäischer, sondern in
babylonischer Sprache verfafst und in Keilschrift geschrieben,
und beweisen, was auch aus andern Gründen hervorgeht, dafs
schon damals die babylonische, in Keilschrift geschriebene
Sprache für das westliche Asien bis nach Ägypten hin
54 in. Die Babylonier und Assyrer.
mindestens für den diplomatischen Verkehr allgemein in Ge-
brauch war. In Palästina, welches schon damals vor der
Invasion der Hebräer von semitischen Stämmen bewohnt war,
mufste natürlich die babylonische Sprache und Schrift schul-
mäfsig erlernt werden, und hierzu bediente man sich ohne
Zweifel babylonischer Texte, durch welche jene Sagenstoffe
in Palästina sich einbürgerten und weiterliin durch die ein-
dringenden Hebräer von den umwohnenden, ihnen nahe ver-
wandten semitischen Stämmen übernommen wurden.
So zeigt schon der hebräische Schöpfungsmythus eine
unverkennbare Abhängigkeit von den entsprechenden baby-
lonischen Vorstellungen. Wie die ersten Verse der Bibel be-
richten, war nach Schöpfung des Himmels und der Erde die
letztere in einem chaotischen Zustande, welcher als die Tehom^
über welcher Finsternis lagert, als die Wasser, über welchen
der Geist Gottes brütet, geschildert wird. Diese Tehom, diese
Wasser, zerteilt Gott und weist der einen Hälfte jenseits, der
andern diesseits der Himmeisfeste ihre Stelle an. Nach andern
Bibelstellen (Psalm 89,11, Jes. 51,9—10, Hieb 2G,12— 13, Psalm
74,13 — 14) bekämpft Gott, wie es scheint, bei der Welt-
schöpfung ein Ungetüm, welches bald Rahab, Leviathan, die
Schlange, der Drache, das Meer, bald, wie in unserm Schöpfungs-
mythus, die Tehom heifst (Jes. 51,10), und so scheint auch
in 1. Mos. 1,2 die verdunkelte Erinnerung an einen Kampf
vorzuliegen, in welchem Gott die Tehom überwindet und zer-
teilt. Diesem hebräischen Schöpfungsmythus entspricht der
babylonische, nach welchem, wie Berossos erzählt, in dem
chaotischen Urzustände nur Finsternis und Wasser, erfüllt
von allerlei phantastischen Wesen, bestanden habe; über diese
alle habe ein Weib mit Namen Thamte geherrscht; dann sei
Bei gekommen, habe das Weib gespalten, und aus den beiden
Hälften Himmel und Erde gemacht; hierauf habe er einem der
andern Götter den Kopf abschlagen lassen, sein Blut mit Erde
gemischt und daraus den Menschen gebildet. Hiermit im
wesentlichen übereinstimmend erzählt ein fragmentarischer
Keilschrifttext, wie zu Anfang als Urmutter der Wesen die
Tihamat bestanden, sich gegen die aus ihr hervorgegangenen
höhern Götter empört habe und von Marduk (Bei) bekämpft
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 55
worden sei. Er tötete sie, spaltete ihren Leichnam und machte
aus der einen Hälfte den Himmel:
,,Er zerschlug sie ... in zwei Teile,
Stellte ihre Hälfte auf, machte sie zur Decke, dem Himmel,
Schob einen Riegel vor, stellte Wächter hin,
Und befahl ihnen, ihre Wasser nicht hinauszulassen."
Weiter schafft Marduk die himmlischen Gestirne, Sonne
Mond und Planeten, als Standörter für die grofsen Götter,
ähnlich wie am vierten Schöpfungstage des biblischen Be-
richts Sonne und Mond als Regenten des Tages und der Nacht
geschaffen werden, worin ihre ursprüngliche Bedeutung als selb-
ständig regierende Götterwesen noch dunkel durchschimmert.
Die Schöpfung des Menschen scheint der sehr lückenhafte
Keilschrifttext, wie aus einem später aufgefundenen Fragmente
sich ergibt, ganz ähnlich wie Berossos geschildert zu haben.
Ein Vergleich der babylonischen Vorstellung, nach welchem
einer der Götter enthauptet wird, um aus seinem mit Erde
gemischten Blute den Menschen zu bilden, mit der biblischen
Erzählung, wie Gott den Menschen aus Erde schafft und ihm
den göttlichen Lebensodem einhaucht, ist ein recht deutliches
Beispiel dafür, in welchem Grade die rohen babylonischen
Vorstellungen unter den Händen der Hebräer sich veredelt
haben.
Weniger ausgiebig ist der Vergleich der biblischen Er-
zählung vom Paradies mit dem babylonischen Mythus von
Adapa und dem Südwinde. Adapa, wie es scheint, der
erste Mensch, ein Sohn des Ea, fängt für seinen Vater auf
dem Meer Fische, wobei der Südwind sein Fahrzeug zum
Scheitern bringt. Erzürnt darüber zerbricht Adapa dem Süd-
wind die Flügel, so dafs dieser sieben Tage nicht wehen kann.
Für diese Freveltat wird von Anu, dem obersten der Götter,
Adapa in den Himmel beschieden, um sich zu verantworten.
Sein Vater Ea warnt ihn, von der Speise und dem Trank zu
geniefsen, die man ihm dort vorsetzen werde, da es Speise
und Trank des Todes seien (vgl. 1. Mos. 2,17. 3,3). Adapa
kommt vor Anu, dieser aber setzt ihm Speise und Trank der
Unsterblichkeit vor (vgl. 1. Mos. 3,22). Adapa weigert sich,
56 III- Diö Babylonier und Assyrer.
davon zu geniefsen, geht dadurch der Unsterbhchkeit ver-
lustig und wird von Anu auf die Erde zurückgeschickt. Hier
finden sich einige schwache Anklänge, aber wenn man, um
die Parallele zu verstärken, zu der Vermutung greift, das
biblische Paradies habe ursprünglich gar nicht auf der Erde,
sondern im Himmel gelegen, so ist dies ein Gedanke, welcher
nach dem ganzen Verlauf der Erzählung schon dem ersten
Erzähler durchaus ferngelegen haben mufs, Dafs man in
späterer Zeit den Aufenthalt der Seligen gelegentlich als das
Paradies bezeichnete (Ev. Luc. 23,43), kann hierbei nicht in
Betracht kommen. Auch ist es bisher nicht gelungen, für die
Erzählung vom Sündenfall eine babylonische Parallele bei-
zubringen. Zwar zeigt eine vielbesprochene Abbildung einen
Baum, auf der einen Seite einen Mann, auf der andern ein
Weib, und hinter dem Weib eine Schlange, die sich empor-
ringelt. Aber da das Bild ohne Inschrift ist, so ist die Be-
deutung sehr fraglich und kann möglicherweise eine ganz
andere sein. Liefse sich schon für die Zeit des Jahvisten die
Möglichkeit eines iranischen Einflusses nachweisen, so würde
die Erzählung, wie sie aus alter Tradition im Bundehesch
cap. 15 vorliegt, wo Mashia und Mashiana sich dadurch ver-
sündigen, dafs sie den Angra Mainyu als Schöpfer verehren,
Fleisch essen und sich begatten, eine frappante Parallele zum
biblischen Sündenfallmythus bieten. Denn dafs dieser eine
sehr dezent verhüllte Darstellung des ersten Erwachens des
Geschlechtstriebes ist (1. Mos. 2,25. 3,11), bedarf wohl keiner
weitern Ausführung.
Einleuchtender ist die Verwandtschaft der biblischen Er-
zählung von den zehn oder acht Urvätern von Adam bis
Noah mit den zehn Urkönigen, welche nach Berossos von
der Weltschöpfung bis zur Sintflut regieren. In der Bibel
1. Mos. 4 und 5 haben wir zwei Variationen desselben Mythus,
vielfach auch in den Namen übereinstimmend, nur dafs der
Jahvist acht, der Priesterkodex* zehn Urväter von Adam bis
Noah aufzählt nach folgendem Schema:
* Dafs die historiscben Bücher der Bibel der Hauptsache nach aus
vier Quellen, dem Jahvisten, Elohisten, Deuteronomiker und dem Priester-
kodex zusammengearbeitet sind, wird später zu besprechen sein.
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 57
Priesterkodex:
Jahvist
Adam
Adam
Seth
—
Enos
—
Kenan
Kain
Mahalalel
Henoch
Jared
Irad
Henoch
Mehujael
Methusalah
Methusael
Lamech
Lamech
Noah
Noah.
Diesen zehn Urvätern entsprechen in der von Berossos mit-
geteilten babylonischen Überlieferung zehn Urkönige, welche
einen noch viel längern Zeitraum als die langlebenden Ur-
väter der biblischen Legende, nämlich 432000 Jahre, aus-
füllen, und deren Namen mehrfach das babylonische Analogon
zu den biblischen Namen zeigen, wie denn auch dem von Gott
entrückten Henoch der in der babylonischen Tradition von
dem Sonnengott Öama§ über die himmlischen Geheimnisse
belehrte Evedoranchos (Enmeduratiki) entspricht.
Die Annahme, dafs die bisher herangezogenen biblischen
Mythen von der Schöpfung, dem Paradies und den zehn Ur-
vätern auf babylonischen Einflufs zurückgehen, findet eine
wesentliche Stütze durch eine vierte Parallele, die Sintflut -
sage, bei welcher die Abhängigkeit der biblischen Berichte
(1. Mos. 6 — 9) von einer babylonischen Tradition aufser allem
Zweifel steht. In Palästina mit seinen hochgelegenen Land-
strichen und der schmalen Wasserrinne des Jordan konnten
Überschwemmungen, welche in der vergröfsernden Sage als
die Vernichtung aller Menschen auf der Erde durch eine grofse
Flut fortlebten, unmöglich entstehen, sondern nur in Ländern,
welche, wie Ägypten und Babylonien, grofsen Überschwem-
mungen ausgesetzt sind. Dafs aber die hebräische Flutsage
nicht aus Ägypten, sondern aus Babylonien stammt, ergibt
sich daraus, dafs gerade die babylonische Flutsage bis in viele
Einzelheiten hinein mit der hebräischen übereinstimmt und
dabei weit älter ist als diese.
58 ni. Die Babylonier und Assyrer.
Schon vor der Entzifferung der Keilschriften kannte man
den Bericht des babylonischen Priesters Berossos (280 a. C.)
und war geneigt, ihn von der biblischen Erzählung abhängig
sein zu lassen. Nach Berossos beschliefsen die Götter, und
namentlich Bei, die sündigen Menschen durch eine Flut zu
vernichten. Da erscheint Kronos (d. i. Ea) dem frommen
Xisuthros (babylon. Chasis-Ätra), sagt ihm die Katastrophe
voraus und befiehlt ihm, ein grofses Schiff, 5 Stadien (= 925 m)
lang und 2 Stadien (=370m) breit, zu bauen, um in dem-
selben sich selbst, seine Familie und Freunde, allerlei vier-
füfsige und geflügelte Tiere, sowie Speise und Trank unter-
zubringen. Xisuthros gehorcht dem Befehl; die grofse Flut
bricht herein, hört bald darauf (su'ä-soc) auf, und Xisuthros
sendet dreimal hinter einander Vögel aus, um zu erkunden,
ob die Wasser sich verlaufen haben; das erstemal kommen
sie zurück, das zweitemal kommen sie zurück mit Schlamm
an den Füfsen, das drittemal kehren sie nicht wieder. Xisu-
thros verläfst mit Weib, Tochter und dem Steuermann die
auf einem Berge aufgelaufene Arche, verehrt die Erde, opfert
den Göttern und wird mit Gattin, Tochter und Steuermann
um seiner Frömmigkeit willen in den Himmel versetzt. Die
übrigen verlassen die Arche, finden den Xisuthros nicht mehr,
werden aber durch eine himmlische Stimme belehrt, dafs sie
sich in Armenien befinden, und ermahnt, nach Babylonien
zurückzukehren und fortan ein frommes Leben zu führen.
Dafs dieser Bericht des Berossos- auf altbabylonischen
und nicht auf biblischen Überlieferungen beruht, ergab sich,
als man in der Bibliothek des Assurbanipal das trümmerhafte
Gilgames-Epos auffand, auf dessen XL Tafel Chasis-atra
(Xisuthros), der hier den Namen JJtnapistim führt, seine Ket-
tung aus der grofsen Flut in naher Übereinstimmung mit
Berossos erzählt. Für das hohe Alter der Flutsage aber spricht
ein Keilscliriftfragment aus dem 21. Jahrhundert a. C, welches
sich auf dieselbe bezieht und schon den Namen Chasis-atra
enthält. Auch nach dem Bericht im Gilgame§-Epos beschliefst
Bei, die Menschen von der Erde zu vertilgen; aber Ea offen-
bart dem Utnapistim durch einen Traum das Bevorstehende
und ermahnt ihn, zu seiner Kettung ein Schiff zu bauen : „Du
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 59
Mensch aus Öürippak, zimmere ein Haus, baue ein Schiß*!
Lafs fahren Keichtum, suche das Leben! Hasse Besitz und
erhalte das Leben. Bring' hinauf Lebenssamen aller Art in
das Schiff hinein. Das Schiff, das du bauen sollst, seine Mafse
sollen gemessen sein." Utnapistim nimmt die Weisung ehr-
furchtsvoll entgegen, entwirft den Plan des Schiffes und läfst
ihn durch Arbeiter ausführen unter dem Vorgeben, damit zum
Weltmeere hinabfahren zu wollen. Wie in dem biblischen
Berichte baut er Zellen in das Schiff hinein und verklebt die
Fugen mit Erdpech {Jcu-up-ri, dasselbe Wort wie Jcopher
1. Mos. 6,14). „Im Monat des grofsen Samas war das Schiff
vollendet... Alles, was ich hatte, lud ich darauf... Alles,
was ich an Lebenssamen aller Art hatte, lud ich darauf. Ich
brachte hinauf zum Schiff meine Familie und meine Angehörigen
insgesamt. Vieh des Feldes, Getier des Feldes, die Hand-
werkersöhne insgesamt brachte ich hinauf." Vorzeichen ver-
künden das Herannahen des Unheils; Utnapistim geht in das
Schiff und verschliefst die Tür. „Sobald der Morgen auf-
leuchtete, stieg vom Fundament des Himmels eine schwarze
Wolke herauf. Hadad tost darin, und Nabu und Öarru gehen
voran; es gehen die Herolde über Berg und Land . . . Die
Anunnaki erhoben die Fackeln, machen das Land mit ihrem
Glänze erglühen. Hadad's Ungestüm kommt zum Himmel
hin , verwandelt, alles Helle in Finsternis . . . Nicht sieht ein
Bruder seinen Bruder, nicht werden erkannt die Menschen
vom Himmel her. Die Götter fürchteten die Sturmflut und
wichen zurück , stiegen empor zum Himmel des Anu
Sechs Tage und Nächte geht dahin der Wind, die Sturmflut,
der Orkan fegt das Land nieder. Wie der siebente Tag heran-
kommt, wird der Orkan, die Sturmflut, der Schlachtsturm
niedergeschlagen. Es ward ruhig das Meer und der Unheils-
sturm ward still, die Sturmflut hörte auf. Da ich den Tag
schaute . . . war die ganze Menschheit zu Schlammerde ge-
worden . . . Ich schaute hin auf die Räume im Bereiche des
Meeres; nach zwölf Doppelstunden stieg eine Insel auf. An
den Nissir war das Schiff hinangekommen; der Berg Nissir
fafste das Schiff und liefs es nicht schwanken . . . Als der
siebente Tag herankam, liefs ich eine Taube los. Es ging die
60 lil- Die Babylonier und Assyrer.
Taube fort und kam zurück; weil kein Standort da ist, kehrt
sie um. Dann liefs ich eine Schwalbe los ; es ging die Schwalbe
fort und kam zurück; weil kein Standort da ist, kehrt sie um.
Dann liefs ich einen Raben los; es ging der Rabe los und
sah das Schwinden des Wassers, afs, krächzte, aber kehrte
nicht um." Utnapistim tritt ins Freie und bringt auf dem
Gipfel des Berges ein Opfer dar. „Die Götter rochen den Duft,
die Götter rochen den angenehmen Duft, die Götter sammelten
sich wie Fliegen über dem Opferer . . . Aber Bei , sobald er
herankam, sah er das Schilf, und es ergrimmte Bei, ward mit
Zorn erfüllt über die Götter und sprach: Ist da irgendwer,
ein Lebewesen, entkommen? Kein Mensch soll im Strafgericht
leben bleiben." Ninib tritt vor und erklärt, dafs Ea der War-
ner gewesen sei. Dieser empfiehlt dem Bei, die Menschen
künftig nicht mehr durch eine Sturmflut zu vernichten, son-
dern sie auf andere Weise, durch Löwen, Hungersnot und
Pest für ihre Sünden zu strafen. Ea fügt zu seiner Recht-
fertigung hinzu : „Ich habe nicht ein Geheimnis der Götter er-
öff'net; den ^^ra-c/ms^'s (wörtlich : den „sehr Weisen"), Traum-
bilder liefs ich ihn schauen, und so vernahm er das Geheimnis
der Götter." — Der Erzähler fährt fort: „Da ging Bei in das
Schiff hinein, ergriff meine Hände und führte mich hinauf,
führte mein Weib hinauf und liefs sie niederknien an meiner
Seite, berührte unsere Schulter, trat zwischen uns hin und
segnete uns: Vormals war Utnapistim ein Mensch; nun sollen
Utnapistim und sein Weib sein wie die Götter, und wohnen
soll Utnapistim in der Ferne, an der Mündung der Ströme!
Da nahmen sie mich, und in der Ferne, an der Mündung der
Ströme liefsen sie mich wohnen."
Die Ursprünglichkeit des babylonischen gegenüber dem
biblischen Berichte wird nicht nur durch das höhere Alter
der Keilschriftversion, sondern auch durch einzelne Züge er-
wiesen, welche im babylonischen Mythus einfacher und natür-
licher erscheinen. So ist es im babylonischen Bei, welcher
den Menschen zürnt, und Ea, welcher den Chasis-atra rettet,
während es im biblischen derselbe Jahve sein mufs, der die
Menschen zu vernichten beschliefst und doch eine Familie
wegen ihrer Frömmigkeit ausnimmt, ohne dafs doch zwischen
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. 61
der Familie des Noah und der übrigen Menschheit ein abso-
luter Gegensatz bestehen konnte, der eine solche Ausnahme
rechtfertigte, wie ja auch das „radikale Böse", d. h. der Egois-
mus, als allgemeiner und ausnahmsloser Grundzug der Men-
schennatur 1. Mos. 6,5 und 8,21 anerkannt wird und sich an
den Geretteten selbst, dem trunkenen Noah und dem der
Scham ermangelnden Harn 1. Mos. 9,22 betätigt. Auch das
Riechen des lieblichen Opferduftes durch die Götter ist bei
der rohern babylonischen Vorstellung von ihnen eher zu er-
tragen als bei dem hebräischen Gottesbegriff, so wenig derselbe
auch noch von anthropomorphischen Vorstellungen gereinigt
sein mochte. Die Dauer der Flut ist im Babylonischen auf
7 + 7 Tage, im Biblischen beim Jahvisten auf 40 + 3 x 7,
beim Elohisten insgesamt auf 365 Tage bestimmt; alle drei
Berechnungen sind, wie die Zahlen zeigen, künstlich, aber die
babylonische ist weniger übertrieben als die biblischen. Die
Aussendung von Vögeln ist beiden Traditionen gemeinsam, bei
Berossos geschieht sie dreimal, ohne dafs die Vögel näher be-
zeichnet werden, im Keilschriftbericht sind es Taube, Schwalbe
und Rabe ; beim Jahvisten erfordern die dreimal sieben Tage,
während deren das Wasser sich verläuft, eine viermalige Aus-
sendung der Vögel; zuerst wird der Rabe ausgesandt und
kehrt nicht wieder, da er an den schwimmenden Leichen
seine Nalirung findet, eine Begründung, welche der Bericht
in der dezenten Weise verschweigt, die uns schon oben S. 56
begegnete. Dann folgt die Taube, welche zurückkehrt, und
nochmals eine Taube, welche ein Ölblatt, das Sinnbild des
Friedens (vgl. Virgil, Aen. VIII, 116), überbringt, während nach
Berossos die zu zweit ausgesandten Vögel mit Schlamm an
den Füfsen wiederkehren. Auch an diesem kleinen Zuge zeigt
sich, wie die biblische Tradition die vom Auslande über-
kommenen Sagen in veredelter Gestalt wiedergibt.
Das Gilgames-Epos (früher Izdubar-Epos genannt), dessen
XI. Tafel unser Sintflutbericht entnommen ist, bestand aus
zwölf Tafeln, deren jede 300 Zeilen in sechs Kolumnen enthielt.
Leider sind von den 3600 Zeilen des Epos viele ganz oder teil-
62 ni- I^ie Babylonier und Assyrer.
weise zertrümmert, so dafs vieles in ihm nicht klarzulegen ist.
Der allgemeine Gang der Erzählung ist folgender:
I. Tafel: In Erech (Uruk) wohnt der gewaltige Gilgame§;
zwei Drittel von ihm sind Gott, ein Drittel Mensch; er sehnt
sich nach einem Freunde, Träume kündigen ihm einen solchen
an. Auf den Bergen hat Eahani sein Wesen ; er ist ganz mit
Haaren bedeckt, nährt sich mit den Tieren von Gras, geht
mit ihnen zur Tränke, zerreifst die Netze des Jägers und läfst
das Wild aus ihnen entkommen. Der Jäger veranlafst eine
Buhlerin, sich ihm zu nähern. Sie erzählt ihm von Gilgame§,
dem gewaltigen Helden, und er eilt nach Erech, wie es
scheint, um seine Kraft an Gilgameä zu erproben.
n. Tafel: Die Begegnung beider Helden führt zu Freund-
schaft und Waffenbrüderschaft. Durch einen Traum gemahnt,
beschliefsen sie, gegen den furchtbaren Tyrannen Chumbaba,
der im Zedernwalde wohnt, zu kämpfen.
ni. Tafel: Die Mutter des Gilgameä klagt vor Gott Öamas
darüber, dafs er dem Gilgameä ein so mutiges Herz eingegeben
habe; er werde den weiten Weg nach dem Zedern walde ziehen
und sich grofsen Gefahren aussetzen.
IV. Tafel: Gilgameä und Eabani gelangen zu dem
Zedernwalde, als dessen Wächter Bei den Chumbaba ein-
gesetzt hat. Eabani will verzagen, wird aber von Gilgames
ermutigt.
V. Tafel: Eabani träumt, dafs sie auf dem Hörn eines
Berges gestanden hätten, als der Berg zusammenstürzte. Gil-
game§ deutet den Traum; der Berg sei Chumbaba: „Wir
werden Chumbaba packen, werden sein Haupt abschlagen
und seinen Leichnam auf das Gefilde werfen." Die letzten
Kolumnen der Tafel, welche fast ganz verloren sind, werden
die Tötung des Chumbaba geschildert haben.
VI. Tafel: Nach dem Kampfe wäscht Gilgameä sich selbst
und seine Waffen, zieht neue Kleider an und setzt sich die
Königsmütze auf. Da entbrennt die Göttin Istar in Liebe zu
ihm : „Wohlan, Gilgame§, mögest du mein Buhle sein, mögest
du mein Mann, möge ich dein Weib sein!" Sie verspricht
ihm einen Wagen von Gold und Edelsteinen, einen herrhchen
Palast und Thron, vor dem die Könige sich beugen, dazu
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. ß3
Fruchtbarkeit und Gedeihen der Herden. Aber Gilgameö will
von ihrer Liebe nichts wissen: „Wer ist der Buhle, den du
in alle Zukunft lieben wü'st? Wer ist der Hirtenknabe, der
dir immerdar angenehm sein wird ? . . . Thammüz, dem Buhlen
deiner Jugend, Jahr für Jahr bestimmtest du ihm Weinen.
Als du den bunten Hirtenknaben liebtest, schlugst du ihn
und zerbrachst seine Flügel." In dieser Weise hält er der
I§tar vor, wie sie alle ihre Liebhaber ins Unglück gestürzt
habe, und wendet sich von ihr ab. Istar will sich rächen;
sie steigt zum Himmel hinauf und bittet ihren Vater Anu,
einen Himmelsstier zu schaffen, der den Gilgame§ töten soll.
Anu spricht : „Wenn ich tue, was du von mir begehrst, werden
sieben magere Jahre kommen ; hast du auch für die Menschen
Korn gesammelt und für das Vieh Kräuter grofs gemacht?"
(vgl. 1. Mos. 41,36). I§tar bejaht es, der Himmelsstier wird
gegen die Freunde gesandt, aber von Gilgames und Eabani
erschlagen. Die Ausfülirung dieser Szene fehlt; vielleicht
kann man ein bekanntes Bildwerk darauf beziehen, wo ein
Stier aufrecht zwischen zwei Männern steht, deren einer ihm
das Schwert in den Leib stöfst. Istar steigt auf die Mauern
von Erech und spricht einen Fluch über die Stadt aus. Eabani
erwidert den Fluch. Gilgames bereitet den Männern der Stadt
in seinem Palast ein Freudenfest.
VII. Tafel: Ein Fragment, vielleicht ein Traumbild, wel-
ches dem Eabani seinen Tod ankündigt, enthält die Worte:
„Folge mir nach, komm zu mir herab zum Hause der Finsternis,
der Wohnung Irkallas, zu dem Hause, dessen Betreter nicht
wieder hinausgeht, zu dem Wege, dessen Begehen ohne Um-
kehr ist, zu dem Hause, dessen Bewohner des Lichts ent-
behren, wo Erdstaub ihre Nahrung, Lehmerde ihre Speise, sie
wie ein Vogel mit einem Flügeltuch bekleidet sind und Licht
nicht schauen und in Düsternis wohnen . . . Im Hause des
Erdstaubes, in das ich hineingegangen, wohnen der Priester-
herr und der Priesterdiener, wohnen der Gewaschene und der
Verzückte, wohnen die Weltmeergesalbten der grofsen Götter,
wohnt Itana, wohnt Gira, wohnt die Königin der Erde,
Ereskigal." Der Rest der Tafel zeigt uns Eabani auf seinem
Krankenlager : „Es hat mich verflucht [das weitere fehlt] . . .
64 in. Die Babylonier und Assyrer.
Wie einer, der inmitten des Kampfes erschlagen ward, werde
ich nicht sterben."
VIII. Tafel: Eabani ist gestorben. Gilgames klagt um
ihn: „Eabani, mein Freund, mein jüngerer Bruder, Panther
des Feldes, wir bestiegen Berge, packten und erschlugen den
Himmelsstier, schlugen Chumbaba, der im Zedernwalde wohnte.
Nun, was ist das für ein Schlaf, der dich gepackt hat? Du
bist düster und hörst mich nicht." Aber auch Gilgames ist
in elendem Zustande und klagt : „Sind meine Beine nicht ab-
gezehrt, ist mein Antlitz nicht gesenkt, ist mein Herz nicht
schlimm gemacht, sind meine Gesichtszüge nicht zunichte
gemacht, ist nicht Weh in meinem Leibe, gleicht mein Antlitz
nicht dem eines, der ferne Wege gegangen ist, haben Frost
und Glut nicht mein Antlitz verbrannt?"
IX. Tafel: „Gilgames über seinen Freund Eabani weint
qualvoll und jagt über das Feld hin: Werde nicht auch ich,
wie Eabani, sterben? Weh ist in meinen Leib hineingezogen,
ich habe Furcht vor dem Tode bekommen und jage über das
Feld hin. Zu den Füfsen Utnapistims nehme ich den Weg
und gehe eilends dahin . . . Nach Tod und Leben will ich
ihn fragen." Die letzten Worte spricht er zu dem Skorpions-
menschen, dem er begegnet, und der ihm den Weg zu Utna-
pistim erklärt. Zwölf Doppelstunden mufs er durch düsterste
Finsternis wandern. Dann wird es hell vor ihm. Bäume der
Götter mit Edelsteinen als Früchten, Rebengelände zeigen
sich seinem Blick.
X. Tafel: Er kommt an das Haus der Siduri; sie fürchtet
sich vor ihm und verriegelt die Tür; aber er klagt ihr sein
Leid und bittet sie, ihm den Weg zu Utnapistim zu zeigen.
Sie erklärt ihm, dafs seit der Vorzeit keiner aufser Öamas
diesen Weg über das Meer hin gefunden habe: „Schwierig
ist der Übergangsort, beschwerlich sein Weg, und tief sind
die Wasser des Todes, die ihm vorgelagert sind." Schliefslich
empfindet sie Mitleid und weist ihn an Urnimin, den Schiffer
des Utnapistim. Der Schiffer trägt ihm auf, im Walde Bäume
für Schiffsstangen zu fällen, und nachdem Gilgames der
Weisung gefolgt ist, tritt er mit ihm die Fahrt an : „Gilgames
und Urnimin stiegen ins Schiff, warfen das Schiff auf die
3. Grimdzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. G5
Welle und fuhren dahin, einen Weg von einem Monat und
fünfzehn Tagen." Sie überfahren glücklich die Wasser des
Todes, aus der Ferne sieht sie Utnapistim kommen und be-
merkt in dem Schiffe den Fremden, bei dessen Anblick er
zweifelt, ob er ein Mensch oder ein Gott ist. Gilgames naht
ihm und trägt ihm sein Anliegen vor; er will, wie es scheint,
erfahren, wie man dem Tod entgehen, unsterblich wie Utna-
pistim selbst werden könne. Utnapistim weist ihn auf die
Vergänglichkeit alles Irdischen hin: „Machen wir ein Haus
für immerdar?... Teilen Brüder für • immerdar ? Sieht der
Kulilu -Vogel das Antlitz der Sonne für immerdar? Von An-
beginn an gibt es keine Dauer!" Jedem Menschen, so sagt
er weiter, ist von den Göttern sein Schicksal bestimmt, aber
er erkennt es nicht: „Des Todes Tage werden nicht kund-
getan."
XI. Tafel: Gilgames erwidert: Als Mensch wie er selbst
erscheine ja auch Utnapistim; was habe denn er getan, um
die Unsterblichkeit zu erlangen? Als Antwort tut ihm Utna-
pistim das Geheimnis kund, erzählt ihm die Geschichte von
der grofsen Flut (oben S. 58 — 60) und wie Bei ihm ausnahms-
weise die Unsterblichkeit verliehen habe. Nach mancherlei
Zeremonien, deren Sinn aus der fragmentarischen Überheferung
nicht ersichtlich ist, weist er ihn an, wie er in der Tiefe des
Meeres das Unsterblichkeitskraut finden könne: „Sein Name
ist: Als Greis wird der Mensch wieder jung." Daraufhin
fährt Gilgames mit dem Schiffer auf das Meer hinaus, bindet
zwei Steine an seine Füfse, gelangt durch sie auf den Grund
des Meeres, findet das Kraut, schneidet die Steine los und
gelangt wieder nach oben in das Schiff. Auf der Rückfahrt
nach Erech halten sie am Lande Rast, Gilgames nimmt ein
Bad, eine Schlange riecht das Eüraut und entwendet es. Mit
der Klage des Gilgames darüber, dafs er sich und, wie es
scheint, auch seinen Freund nach Verlust des Krautes nicht
unsterbhch machen könne, und mit der endlichen Rückkehr
nach Erech schliefst die Tafel.
XII. Tafel: Hier hat Kolumne II die Worte: „dafs Eabani
aus der Erde emporsteige." Es scheint von einem Wunsche
des Gilgameg die Rede zu sein, zu dessen Erfüllung er sich
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii. 5
Qß III. Die Babylonier und Assyrer.
vergebens an Bei, sodann an Sin wendet; endlich zeigt sich
auch hier Ea als der Hilfreiche, indem er dem Nergal be-
fiehlt, den Utukku (den Geist) des Eabani heraufzubeschwören
(vgl. 1. Sam. 28,13): „Der Gewaltige, Nergal, öffnete alsbald
das Loch der Erde und liefs den Utukku Eabanis wie einen
Wind aus der Erde herausfahren." Gilgames — denn nur
dieser kann es sein — spricht: „Sage, mein Freund, sage,
mein Freund, das Gesetz der Erde, das du gesehen, sage!"
Aus der Antwort sind die Worte erhalten : „Werd' ich es dir
nicht sagen, mein Freund, werd' ich es dir nicht sagen ? Wenn
ich dir das Gesetz der Erde, das ich gesehen, sage ... setze
dich, weine." Die in der letzten Kolumne erhaltenen Worte
scheinen das Schicksal derer zu beklagen, deren Geist nicht
zur Ruhe kommen kann, weil ihr Leib nicht begraben wurde.
Das Gesetz der Erde aber, welches der Geist des Eabani dem
Gilgames enthüllt, dürfte darin bestanden haben, dafs die
Unterwelt den, welcher ihr verfallen ist, nicht wieder losläfst.
Der Gedanke, welchen wir unter dem in der XII. Tafel
des Gilgames -Epos erwähnten „Gesetz der Erde" nur ver-
mutungsweise annahmen, findet seine volle Bestätigung in
einem andern Keilschriftfragment, welches als die Höllen-
fahrt der I§tar schon lange bekannt war, und berichtet,
wie Istar, die Göttin der Zeugung und des Lebens, in di^
Unterwelt hinabsteigt, vielleicht, wie man vermutet hat, um
auch diese ihrer Herrschaft zu unterwerfen: „Auf das Land
ohne Rückkehr setzte Istar, die Tochter Sins, ihr Ohr , auf das
düstere Haus, die Wohnung Irkallas, auf das Haus, dessen Be-
treter nicht wieder hinausgeht, auf den Weg, dessen Begehen
ohne Umkehr ist, auf das Haus, dessen Betreter des Lichts
entbehren, wo Erdstaub ihre Nahrung, Lehm ihre Speise, sie
Licht nicht schauen, in Düsternis sitzen, beldeidet sind wie ein
Vogel mit einem Flügeltuch; auf Tür und Riegel lagert Erd-
staub. Wie Istar am Tor des Landes ohne Rückkehr anlangt,
spricht sie zum Pförtner die Worte : Pförtner ! Offne dein Tor,
dafs ich hineinkomme! Wenn du dein Tor nicht öffnest, zer-
schmeifs' ich die Tür, zerbrech' ich den Riegel, zerschmeifs'
ich die Schwelle und verrück' ich die Türen , bring' ich hinauf
3. Grundzüge der babylonisch-assyrischen Weltanschauung. (57
die Toten; essend, lebendig, sollen mehr als die Lebendigen
die Toten sein." Der Pförtner meldet die Ankunft der lötar
seiner Herrin Ere§kigal; sie befiehlt: „Geh liin, Pförtner, öffne
ihr dein Tor! Behandle sie nach den alten Gesetzen!" Der
Pförtner öffnet ihr nach einander die sieben Tore, der Unter-
welt. Am ersten Tore mufs sie ihre Krone ablegen, beim
zweiten ihr Ohrgehänge, beim dritten ihre Halskette, beim
vierten ihre Brustschilder, beim fünften ihren Gürtel, beim
sechsten die Spangen an Händen und Füfsen, beim siebenten
ihr Lendentuch. Jedesmal fragt sie, warum sie sich ihres
Schmuckes entkleiden müsse, und erhält immer wieder die-
selbe Antwort: „Komm herein, meine Herrin; der Herrin der
Erde, also sind ihre Gesetze." . . . „Sobald Istar in das Land
ohne Rückkehr hinuntergekommen war, sprach Ereskigal zu
ihrem Boten Namtäru die Worte: Geh hin, Namtäru, riegle
sie ein in meinem Palast, lafs auf sie heraus sechzig Krank-
heiten, Krankheit der Augen auf ihre Augen, Krankheit der
Seiten auf ihre Seiten, Krankheit der Füfse auf ihre Füfse,
Krankheit des Herzens auf ihr Herz . . ." Istar ist gefangen,
da gerät alles Zeugen und Gebären auf der Erde ins Stocken,
der Stier bleibt fern von der Kuh, der Esel von der Eselin,
der Jüngling von dem Mädchen. Die grofsen Götter Sin,
Öamas und Ea sind besorgt um das Schicksal der Lebewelt
und senden zur Göttin der Unterwelt einen Boten mit dem
Befehl, die Istar freizugeben. „Als Ereskigal dies vernahm,
schlug sie ihre Lende, bifs ihren Finger", verwünscht den
Boten mit der grofsen Verwünschung, befiehlt aber schhefs-
lich ihrem Diener Namtäru: „Besprenge Istar mit dem Wasser
des Lebens und nimm sie von mir weg!" Der Bote führt
den Befehl aus, gibt der Istar Lendentuch, Spangen, Gürtel,
Brustschilder, Halskette, Ohrringe und Krone zurück und läfst
sie durch die sieben Tore hinauf zur Oberwelt. Der Rest der
Tafel liegt nur in Bruchstücken vor, welche keinen verständ-
lichen Sinn geben. Um so klarer ist der Gedanke, welcher
der ganzen Dichtung zugrunde liegt: Alles, was die Todes-
göttin einmal gefafst hat, hält sie für immer gefangen, nur
nicht die Istar; alles Lebende stirbt, nicht aber stirbt das
Leben :
68 III. Die Babylonier und Assyrer.
„Ein kleiner Ring begrenzt unser Leben
Und viele Geschlechter reihen sich dauernd
An ihres Daseins unendliche Kette."
IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
1. Palästina vor der Invasion der Hebräer.
Wie Babylonien, so war auch Palästina, soweit wir zurück-
blicken können, bereits von semitischen Stämmen bewohnt,
welche in der Bibel bald als Kanaanäer (Jahvist), bald nach
einem besonders hervortretienden Stamme als Amoriter (Elohist)
bezeichnet werden. Auch die den Süden Palästinas umgebenden
und gegen das Kulturland andrängenden Stämme der Amale-
kiter und Edomiter, der Moabiter und Ammoniter, sowie die
weiter südlich wohnenden Stämme der Ismaeliter und Midia-
niter gehören zur semitischen Völkerfamilie. Ebenso im Norden
Palästinas die Phöniker, während es von den im Tale des
Orontes ansässigen und zeitweilig zu einem mächtigen Reiche
erstarkten Cheta (Hethiter) zweifelhaft bleibt, ob sie semiti-
schen Ursprungs waren oder ob wir in ihnen eine schon in
vorhistorischer Zeit von den eingewanderten Semiten nach
Norden zurückgedrängte Urbevölkerung zu sehen haben.
Die religiösen Anschauungen dieser Volksstämme sind
im wesentlichen noch dieselben, wie wir sie als allgemein-
semitisch oben S. 35 fg. kennen gelernt haben. Den Unter-
grund der Religion bildet ein weitverbreiteter Kultus von
Dämonen, welche man sich nach Sefshaftwerdung der Stämme
in der Regel an bestimmte Orte, wie namentlich an Berghöhen
fbämäh, plur. hämothj, gebunden dachte. Der Dämon wurde
gewöhnlich als der „Herr" {ha'al, nicht zu verwechseln mit
Sa'al, dem obersten Gott) des betreffenden Ortes bezeichnet.
Zur Verehrung dieses genius loci pflegte fnan aufser dem Altar
eine Steinsäule fmazsebähj oder einen Holzpfahl fascherähj zu
errichten, Kultusformen, welche im Verlaufe auf die höhern
Götter, wie namentlich auch auf Jahve, übertragen wurden.
Neben diesem Dämonenkultus bestand die Verehrung von
Hausgöttern [theräpMm, auch als Singular gebraucht), welche,
wie es scheint, gröfsere oder kleinere Puppen in Menschen-
1. Palästina vor der Invasion der Hebräer. 69
gestalt waren (1. Mos. 31,19; 1.. Sam, 19,13) und mit deren
Verlust der Segen aus dem Hause wich (Rieht. 18,14 — 24).
Was der Theräplüm für die einzelne Familie, das war der
Stammesgott für den ganzen Stamm; als solchen verehrten die
Tyrier den 3Idqart, die Ammoniter den Milhom^ die Moabiter
den Kamos, die Hebräer den Jahve. Aufser dem Kultus dieser
dem Menschen nahestehenden Mächte wurden die Himmels-
erscheinungen, Sonne, Mond und das ganze himmlische Heer
(zebä haschschämajimj und zu oberst als „Herr" der Welt der
Ba'al (entsprechend dem babylonischen Bei) verehrt, neben
welchem oft 'Astlioreth (entsprechend der Istar) als seine Ge-
mahlin steht. Der Kulti*s dieser schon aus dem Leben in der
Wüste mitgebrachten Gottheiten nahm in dem Mafse, wie die
Semiten in Kanaan sefshaft wurden und zu Wohlleben ge-
langten, immer üppigere und zum Teil ausschweifende Formen
an. Was die biblische Sage von Sodom und Gomorrha er-
zählt, mag ein einzelner Fall unter manchen ähnlichen gewesen
sein. Das reiche Leben in dem damals gesegneten Lande ver-
führte zu Schwelgerei und Ausschweifungen aller Art, und
Hand in Hand damit ging die Auffassung der Götter als
finsterer, blutlechzender Mächte, welche oft nur durch Men-
schenopfer zu begütigen waren. Es ist ja natürhch, dafs man
die Erstlinge des Feldes, wohl auch die Erstlinge der Herde
den Göttern als Gabe darbrachte, aber eine greuliche Ver-
irrung war es, wenn die Kanaaniter bei besondern Gelegen-
heiten, namentlich in Fällen grofser Gefahr, dem Moloch, der
vermuthch eine besondere Form des Ba'al war, ihre erst-
geborenen Kinder opferten, wenn sie, wie die Bibel sich
euphemistisch ausdrückt, „ihre Söhne durchs Feuer gehen
liefsen", ein Brauch, der auch von den Hebräern übernommen
und noch von Manasse, einem der letzten Könige von Juda,
befolgt wurde (2. Kön. 21,6). Kaum weniger widerwärtig ist
€S, wenn zu Ehren der Gottheit von Männern die Kastration
geübt und von Jungfrauen das Keuschheitsopfer dargebracht
wurde, ein Brauch, der bei den Kanaanitern (5. Mos. 23,18)
wie bei den Babyloniern im Schwange war, von denen Herodot
(I, 199) berichtet: hsx iz'xaix^ yuvaixa iTzvfpQlti') t^o[j.svY]v Iq [pov
70 rV- Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
Über die politischen Verhältnisse Palästinas vor der In-
vasion der Hebräer hat eine vor wenigen Jahrzehnten ge-
machte Entdeckung überraschende Aufschlüsse gebracht. Wir
besprachen oben (S. 26 — 27) den religiösen Reformversuch,
welchen Amenhotep IV., Sohn Amenhoteps III. und seiner
Gemahlin Ti, etwa um das Jahr 1400 unternahm. Der Ver-
such scheiterte an der Übermacht der Priesterschaft; die in
Mittelägypten am rechten Ufer des Nils ungefähr gleich weit
von Memphis und Theben von Amenhotep IV. gegründete
Sonnenstadt Chut-aten wurde zerstört, es lag ein Fluch auf
ihr, ihre Stätte blieb wüste liegen. Auf ihrer Trümmerstätte,
welche heute nach den benachbarten Ortschaften El-Ämarna
oder Tell-el-Amarna heifst, fand man bei Ausgrabungen gegen
Ende des Jahres 1887, teils zerstreut, teils in einem Tongefäfs
(nach andern in einer Holzkiste) geborgen, gegen dreihundert
Tafeln, vielfach trümmerhaft, aus rotem und weifsem Ton,
welche einen Teil des von Amenhotep IV. aus Theben herüber-
gebrachten Staatsarchivs enthielten und aus Briefen bestanden,
die teils von Königen Mesopotamiens, teils von Statthaltern
in Palästina an die Könige Amenhotep III. und IV. gerichtet
waren; der gröfste Teil derselben, etwa 250 an Zahl, stammt
aus Palästina. Das Erstaunliche aber ist, dafs diese an ägyp-
tische Könige gerichteten Briefe nicht etwa in Hieroglyphen
und ägyptischer Sprache, auch nicht in den Landessprachen
Palästinas, sondern in Keilschrift und babylonischer Sprache
abgefafst waren. Wir entnehmen daraus zunächst die Tat-
sache, dafs um das Jahr 1400 a. C. die babylonische, in Keil-
schrift geschriebene Sprache für ganz Vorderasien das übliche
Mittel für den diplomatischen Verkehr bildete. Natürlich
mufsten Keilschrift und Sprache in Palästina schulmäfsig er-
lernt werden, und ohne Zweifel bediente man sich dazu keil-
schriftlicher, aus Babylonien bezogener Texte. Auf diesem
Wege konnten dann babylonische Sagenstoffe nach Palästina
herüberwandern und von seinen Bewohnern weiterhin zu den ein-
gewanderten Hebräern übergehen. Aber noch mehr. Zwischen
dem nördlichen Palästina und dem Euphrat lernen wir aus
den Briefen 16 — 24 (Winckler) ein Reich der Mitani kennen,
deren Könige mit den Pharaonen korrespondieren und deren
1. Palästina vor der Invasion der Hebräer. 71
Namen Artatama, Sutarna, Ärtasumara und Bnsratta allem
Anscheine nach iranisch sind, so dafs sich hier ein Weg er-
öffnet; auf welchem schon in so früher Zeit der in Babylonien
nicht nachweisbare Mythus vom Sündenfall von den Iraniern
nach Palästina und schliefslich zu den Hebräern gelangen
konnte. — Über die poHtischen Verhältnisse Palästinas ge-
winnen wir aus den Amarna- Briefen ein Bild, welchem die
biblischen Schilderungen von dem Vorleben Abrahams, Isaalcs
und Jakobs im Heiligen Lande sich in keiner Weise einpassen
lassen. Palästina ist nicht ein Land, von dem Abraham zu
Lot sagen konnte: „Steht dir nicht alles Land offen? Willst
du zur Linken, so will ich zur Rechten!", nicht ein Land, wo
man beliebig seine Zelte abbrechen konnte, um sie, wie Abra-
ham, von Sichem in die Gegend von Beth-El und weiterhin
in die Gegend von Hebron zu verpflanzen, nicht ein Land,
wo Lot sich behaglich in der reichen Jordanaue mit seinen
Schafen un^ Kamelen niederlassen konnte; sondern wir finden
nach den Amarna -Briefen um das Jahr 1400 Palästina als
ein unter ägyptischer Oberhoheit stehendes Land, dessen ein-
zelne Distrikte mit befestigten Städten von Statthaltern oder
Lehnsfürsten verwaltet werden. Manche derselben leben in
Frieden (Brief 106. 168), viele befehden einander, schildern in
den Briefen, wie ihr Land von' dem Nachbar bedrängt, wie
ihre befestigte Hauptstadt belagert wird und sich nicht mehr
lange halten kann, wenn der Pharao nicht schleunigst Truppen
oder Geld schickt. Hingegen verteidigen sich wieder die Be-
dränger in Briefen an den König, bitten um Sendung ägyp-
tischer Gesandten, um den Streitfall zu untersuchen; alle aber
ersterben in Unterwürfigkeit vor dem Pharao, werfen sich vor
ihm brieflich sieben- und siebenmal zur Erde, bezeichnen ihn
als ihren Herrn und König, ihren Gott, ihre Sonne, wobei,
wie es scheint, allerlei Floskeln aus Hymnen an den Sonnen-
gott auf den König übertragen werden. Daneben werden die
einzelnen Distrikte beunruhigt durch räuberische Nomaden-
horden, unter denen namentlich die Chabiri allerwärts, im
Norden bei Tyrus und Sidon wie im Süden bei Jerusalem,
ihr Unwesen treiben. Man hat in diesen Chabiri die Hebräer
(hebr. 'Ibri, plur. 'Ibrim) finden wollen, doch ist die Sache
72 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
sehr unwahrscheinlich, da die Zeit der Amarna-Briefe für die
Periode der Erzväter zu spät, für die Invasion unter Josuah
zu früh ist. Möghch ist, dafs Chahiri, entsprechend dem
hebräischen 'Ibri, allgemein die „Jenseitigen", die von jen-
seits der Grenze eindringenden Wüstenstämme bezeichnet,
und dafs der Name später auf dem vom Ostjordanland her
«indringenden Stamme der Hebräer haften blieb. Als Probe
dieser merkwürdigen Korrespondenz teilen wir auszugsweise
zwei Briefe (179/80 Winckler .^ 286/87 Knudtzon) mit, in
welchen Äbd-chiba, der Lehnsfürst von ürusalim (Jerusalem)
den Pharao seiner Treue versichert, sich gegen Verleumdungen
verteidigt, statt der ägyptischen Besatzung, die man zurück-
gezogen hat, um eine neue bittet, und nicht undeutlich zu
verstehen gibt, dafs die vom Pharao gesandten Beamten sich
von den Chabiri haben gewinnen lassen und das Land ihren
Verwüstungen preisgeben.
Aus Brief 179:
„An den König, meinen Herrn : Abd-chiba, dein Diener.
Zu Füfsen meines Herrn, des Königs, sieben- und sieben-
mal falle ich. Was habe ich getan wider den König, meinen
Herrn? Man verleumdet mich vor dem König, meinem
Herrn, indem man sagt: Abd-cliiba ist abgefallen von dem
König, seinem Herrn. Siehe, weder mein Vater noch meine
Mutter hat mich gesetzt an diesen Ort. Der mächtige Arm
des Königs hat mich eingeführt in mein väterliches Gebiet.
Warum sollte ich da begehen ein Verbrechen gegen den
König, meinen Herrn? So wahr der König lebt, weil ich
sagte dem Beamten des Königs, meines Herrn : Warum be-
vorzugt ihr die Chabiri und die ansässigen Lehnsfürsten
schädigt ihr ? deshalb verleumden sie mich beim König.
Weil ich sage: es wird zugrunde gerichtet das Gebiet des
Königs, meines Herrn, deshalb verleumden sie mich beim
König, meinem Herrn. Es wisse der König, mein Herr, dafs
der König, mein Herr, gestellt hatte Besatzung, aber es hat
sie genommen Janchamu; nicht ist da Besatzung. Es sorge
der König für sein Land und bekümmere sich um sein Land:
abgefallen sind die Ili-milku gehörigen Städte des Königs,
1. Palästina vor der Invasion der Hebräer. 73
meines Herrn, und es wird verloren gehen das ganze Gebiet
des Königs. Darum möge sorgen der König, mein Herr,
für sein Land. Ich denke: ich will zu Hofe ziehen zum
König, meinem Herrn, und sehen das Antlitz des Königs,
meines Herrn, aber die Feinde sind mächtig über mich, und
ich vermag nicht zu Hofe zu ziehen zum König, meinem
Herrn. Darum befinde der König, mein Herr, für gut, zu
schicken Besatzung, damit ich zu Hofe ziehen und sehen
kann das Antlitz des Königs, meines Herrn. . . . Darum
schicke Truppen der König, mein Herr; nicht besitzt noch
Gebiet der König, die Chabiri verwüsten alles Gebiet des
Königs. Wenn da sein werden Truppen in diesem, Jahre,
so wird verbleiben das Gebiet dem König, meinem Herrn,
wenn aber keine Truppen da sind, so ist das Gebiet des
Königs, meines Herrn, verloren. — An den Schreiber des
Königs, meines Herrn: Abd-chiba, dein Diener. Trage vor
die Worte deutlich dem König, meinem Herrn: Zugrunde
geht das ganze Gebiet des Königs, meines Herrn!"
Aus Brief 180:
„An den König, meinen Herrn : Abd-chiba, dein Diener.
Zu Füfsen meines Herrn siebenmal und siebenmal falle ich . . .
Es wisse der König, alle Staaten haben geschlossen gegen
mich Feindschaft, darum sorge der König für sein Land.
Siehe, das Gebiet von Gasri (Gezer), das von ÄsJcaluna
(Askalon) und die Stadt Lakis haben ihnen gegeben Speise,
Öl und allen Bedarf. Darum schicke der König Truppen
gegen die Fürsten, welche sich vergehen gegen den König,
meinen Herrn . . . Siehe, dieses Land Urusalim (Jerusalem),
weder mein Vater noch meine Mutter hat es mir gegeben,
der mächtige Arm des Königs hat es mir gegeben. Siehe,
diese Tat ist eine Tat Milkiels und eine Tat der Söhne Lapajas,
welche ausliefern das Land des Königs den Chabiri." —
2. Sagenhafte Vorgescliicbte der Hebräer.
Wie bei den Griechen und Römern, so geht auch bei den
Hebräern ihrer eigentlichen Geschichte eine Periode vorher,
welche in der Erinnerung des Volkes sich nur in sagenhaft
74 IV. Die Hebräer bis zum babyloniscben Exil.
ausgeschmückter und verherrlichter Form erhalten hat, so dafs
es schwer und stellenweise unmöglich ist, den historischen
Kern herauszuschälen, der in diesen Sagen vorhanden sein mag.
Als Stammvater ihres Volkes betrachten die Hebräer den
in der zehnten Generation nach der grofsen Flut lebenden -
Abram, später Abraham genannt, welcher mit seinem Weibe
Sarai, seinem Vater Tharah und seinen Brüdern Naher und
Haran ursprünglich zu Ur in Chaldäa wohnt, von dort mit
ihnen nach Haran am obern Laufe des Euphrat übersiedelt
und von Haran, wo er die übrige Familie zurückläfst, auf
Jahves Befehl mit seinem Weibe Sarai und seinem Neffen
Lot nach Palästina auswandert, um zunächst seine Zelte in
der Gegend von Sichern zwischen den Bergen Ebal und Gari-
zim aufzusclilagen. Von da zieht er in die Gegend südlich
vom Garizim zwischen Bethel und AI, weilt aus Anlafs einer
Teuerung in Ägypten, wo er aus Furcht für seine Sicherheit
sein Weib für seine Schwester ausgibt (ein Sagenmotiv,
welches noch zweimal wiederkehrt), und kehrt mit Lot in die
Gegend zwischen Bethel und Ai zurück. Da sie beide einen
ausgebreiteten Besitz an Zelten, Eindern und Schafen haben,
und zwischen ihren Hirten Streitigkeiten entstehen, so schlägt
Abraham eine friedliche Trennung vor und läfst, als wäre
Palästina damals ein fast herrenloses Land gewesen, in wel-
chem man, ungehindert durch die spärlichen Bewohner, seinen
Wohnsitz wechseln könnte, dem Lot die Wahl mit den Worten:
„Steht dir nicht das ganze Land offen? Lieber, scheide dich
von mir; willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder
willst du zur Rechten, so will ich zur Linken", worauf Lot
die wasserreiche Jordanaue wählt, während dem Abraham
von Jahve befohlen wird: „Mache dich auf und durchziehe
das Land nach seiner Länge und Breite", worauf Abraham
nach Süden weiterzieht und seine Zelte schhefslich in dem
Hain Mamre's unweit Hebron aufschlägt. Diese Schilderungen
passen eher auf das Vorleben, wie es die semitischen Stämme
in den weiten, von fruchtbaren Landstrichen durchsetzten
Steppen und Wüsten der Halbinsel Arabien geführt haben
mochten, als auf Palästina, von dem wir aus den Amarna-
Briefen wissen, dafs es ein Land mit sefshafter Bevölkerung
2. Sagenhafte Vorgeschichte der Hebräer. 75
und befestigten Städten war, welches von kleinen, auf ihr
Gebiet eifersüchtigen Fürsten unter ägyptischer Oberhoheit
verwaltet wurde. Da Sarai unfruchtbar ist, erzeugt Abraham
mit einem Nebenweibe, der Hagar, den Ismael, und auf Grund
einer Verheifsung, über die er bei seinem hohen Alter „lachte"
(jücJiäq, 1. Mos. 17,17), mit der Sara, wie sie nun hiefs, den
Isaak (hebr. Jizchäq) , so dafs Ismael und Isaak Halbbrüder,
hingegen die beiden Söhne Isaaks, Edom (Esau) und Jakob,
Brüder sind, worin sich das Bewufstsein der Hebräer aus-
spricht, in einer entferntem Verwandtschaft mit den Ismae-
litern (Nordarabern) und in einer nähern mit den Edomitern
zu stehen. Vorher schon hatte Abraham vorübergehend in
der Philisterstadt Gerar gewohnt, wo zum zweiten Male die
Legende vorkommt, dafs er aus Furcht sein Weib für seine
Schwester ausgibt, worauf der Philisterkönig Abimelech nach
ihr begehrt, aber noch rechtzeitig erfährt, dafs sie Abrahams
Weib ist. Nachdem Abraham mit Abimelech in dem südlich
von Gerar gelegenen Beerseba einen Vertrag geschlossen hat,
bleibt er zunächst in Beerseba wohnen. Von hier aus unter-
nimmt er die weite Eeise nach dem Berge Morija, dem spätem
Tempelplatze in Jerusalem, um dort auf Jahves Befehl seinen
Sohn Isaak und sodann an dessen Stelle einen Widder zu
opfern, eine Sage, welche aus dem Bestreben erwachsen zu
sein scheint, dem Tempelplatze die Weihe zu verleihen, schon
in grauer Vorzeit eine Opferstätte des Stammvaters Abraham
gewesen zu sein. Nachdem Abraham nach Beerseba zurück-
gekehrt ist, um dort zu wohnen, finden wir ihn weiterhin
wieder im Hain des Mamre bei Hebron, wo Sara stirbt. Hier
kauft Abraham für 400 Silbersekel (1000 Mark) von den
Hethitern ein Grundstück mit der Höhle Machpela zum Erb-
begräbnis, in welchem Sara und später er selbst bestattet
werden, ein Zug der Sage, welcher bestimmt zu sein scheint,
für die Nachkommen ein Eigentumsrecht auf diese Örtlich-
keit zu begründen. Nach Saras Tod sendet Abraham seinen
Hausmeister Elieser nach dem fernen Haran am Euphrat, um
aus seiner Verwandtschaft ein Weib für Isaak zu freien.
Elieser gelangt dort in das Haus des Bethuel, des Neffen Abra-
hams, freit um Rebekka, die Tochter Bethuels und Schwester
76 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
Labans, und bringt sie nach Hebron zurück, wo sie Isaaks
Gattin wird. Auch bei Isaak kehrt mit Variationen die Er-
zählung wieder, wie er aus Anlafs einer Teuerui\g nach Gerar
zieht, dort Rebekka für seine Schwester ausgibt und vom
Phihsterkönig Abimelech darüber zurechtgewiesen wird ; später
finden wir Isaak wieder in Beerseba. Inzwischen hatte ihm
Rebekka Zwilhnge geboren, den Esau und Jakob, aus dessen
Namen {ja'aqob, „er hat die Ferse gefafst", „er hat über-
listet") die Legende von der zweimaligen Überlistung des
Esau durch Jakob herausgesponnen zu sein scheint, wie er
seinem Bruder die Erstgeburt für ein Linsengericht abkauft
und weiterhin unter Rebekkas Mitwirkung den für Esau be-
stimmten Segen des Isaak entwendet. Aus Furcht vor der
Rache seines Bruders flieht Jakob nach Haran zu seinem Oheim
Laban, dient diesem sieben Jahre um Lea, weitere sieben um
Rahel und noch sechs Jahre um einen Anteil an dessen Her-
den, wobei der Oheim den Nefien betrügt und wieder von
ihm betrogen wird. Infolge der zwischen beiden eingetretenen
Verstimmung entflieht Jakob heimlich mit seinen Weibern,
Kindern und Herden; Laban setzt ihm nach, erreicht ihn auf
dem Gebirge Gilead, sucht vergebens nach dem von Rahel
ihm entwendeten Theräphim und schhefst mit Jakob Frieden.
Nach dem Abschied von Laban zieht Jakob über den Jordan,
versöhnt sich mit seinem Bruder Esau und läfst sich in Sichem,
dem ersten Wohnplatze seines GrofsvateivS Abraham, mit seinen
zwölf Söhnen nieder. Von ihnen hat Lea ihm Rüben, Simeon,
Levi und Juda geboren, sodann hat er von Raheis Leibmagd
Bilha den Dan und Naphthali, von Leas Leibmagd Silpa den
Gad und Asser, weiter von Lea selbst noch den Issaschar
und Sebulon, und endlich von Rahel den Joseph und viel
später erst, bei seiner Übersiedlung nach dem Süden, den
Benjamin. Hier betreten wir zuerst historischen Boden, sofern
sich das gesamte Israel nach seiner Besitznahme des Gelobten
Landes in zwölf Stämme gliederte, wobei Levi ausscheidet
und dafür Joseph durch seine beiden Söhne, Ephraim und
Manasse, vertreten ist. Diese zwölf Stämme des Volkes be-
nennen sich nach ihren wirklichen oder vermeintlichen Ahn-
herren, und die Zusammengehörigkeit des Volkes Israel gegen-
2. Sagenhafte Vorgeschichte der Hebräer. 77
über der vertriebenen kanaanäisclien Bevölkerung kommt da-
durch zum Ausdruck, dafs die Sage allen zwölf Stamm-
herren als gemeinsamen Ahnherrn den Jakob gab.
Von Jakob wird weiter erzählt, wie er von den Sichemiten
ein Grundstück für 100 Kesitha (mutmafslich 400 Sekel) er-
wirbt, dann aber infolge eines Racheaktes, welchen zwei seiner
Söhne an den Bewohnern von Sichern ausüben, ähnlich wie
Abraham, südwärts über Bethel und Bethlehem, wo Rahel bei
der Geburt des Benjamin stirbt, nach Hebron zieht. Dort
trifft er seinen Vater Isaak noch am Leben und bleibt auch
nach dessen erfolgtem Tode in der Gegend von Hebron mit
seinen zwölf Söhnen und ihren Familien wohnen. Weiter
hören wir, wie Jakob von Hebron aus seine zehn ältesten
Söhne nach Sichem schickt, um dort das Vieh zu hüten, un-
geachtet des von Simeon und Levi in Sichem angerichteten
Blutbades, wie auch der grofsen Entfernung zwischen Hebron
und Sichem (etwa 100 Kilometer). Unbekümmert um diese
materiellen und räumlichen Unwahrscheinlichkeiten erzählt die
Sage weiter, wie Jakob seinen siebzehnjährigen Sohn Joseph
zu den Brüdern schickt, welche er endlich in Dothan (unweit
Jesreel) findet. Da er sich durch hochmütige Träume und
durch seine Bevorzugung von selten des Vaters bei den Brüdern
mifsliebig gemacht hat, beschHefsen diese, ihn zu töten, werfen
ihn in eine Grube (angeblich die, welche noch heute nördlich
vom See Genezareth gezeigt wird) und verkaufen ihn schliefs-
lich für zwanzig Silbersekel an vorüberziehende ismaelitische
Kaufleute, die ihn nach Ägypten bringen. Hier erwirbt ihn
Potiphar, ein Hofbeamter und Oberster der Leibwache des
Pharao. Von Potiphars Weib verleumdet, wird er ins Ge-
fängnis geworfen, erwirbt die Gunst des Gefängnisaufsehers
und wird von ihm mit der Bedienung der übrigen Gefangenen
betraut. Zwei derselben, der Mundschenk und der Bäcker
Pharaos, haben Träume, welche Joseph deutet. Der Bäcker
wird hingerichtet, der Mundschenk wieder in sein Amt ein-
gesetzt. Zwei Jahre vergehen, ohne dafs er sich für den ge-
fangenen Joseph verwendet. Da hat Pharao seine beiden
Träume von den sieben fetten Kühen, die von den sieben
magern Kühen, und von den sieben fetten Ähren, die von den
78 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
sieben magern Ähren verschlungen werden. Niemand kann
die Träume deuten. Da gedenkt der Mundschenk des Joseph.
Er wird aus dem Gefängnis geholt und legt dem Pharao seine
Träume aus: Es werden sieben fette und nach ihnen sieben
magere Jahre kommen. Er rät dem Pharao, während der
fetten Jahre Getreide für die kommenden Zeiten der Not auf-
zuspeichern, und Pharao macht ihn zum Aufseher über das
ganze Land Ägypten und gibt ihm Asnath, die Tochter des
Oberpriesters von On (Heliopolis) zum Weibe, welche dem
Joseph noch vor den Jahren der Teuerung zwei Söhne, Ma-
nasse und Ephraim, gebiert. Auf die Jahre des Überflusses
folgen sieben Jahre der grofsen Not ; die Ägypter verbrauchen
all ihr Geld, um von Joseph Getreide zu kaufen, und ver-
pfänden nach und nach, um leben zu können, ihre Herden,
ihre Äcker und schliefslich sich selbst dem Pharao, der sie
als Leibeigene in ihrem Besitze beläfst mit der Bedingung,
dafs sie von allen Einnahmen den fünften Teil an Pharao ab-
geben müssen. Auch auf Kanaan lastet die Hungersnot, und
Jakob sendet seine zehn ältesten Söhne nach Ägypten, um
Speise zu kaufen. Joseph erkennt seine Brüder, ohne dafs sie
ihn erkennen. Er fährt sie hart an, erklärt sie für Kund-
schafter, fragt sie nach ihren Famihenverhältnissen, verlangt,
dafs sie den Benjamin nach Ägypten bringen, hält den Simeon
als Pfand zurück und entläfst die übrigen, nachdem er ihre
Esel mit Säcken voll Getreide und dem Geld oben in den
Säcken hat beladen lassen. Sie kommen nach Hebron zurück,
das Getreide wird aufgebraucht, die Hungersnot dauert fort.
Ungern läfst Jakob den Benjamin mitziehn, als die Söhne
zum zweiten Male nach Ägypten reisen. Joseph läfst sie be-
wirten, wobei dem Benjamin fünfmal so viel vorgelegt wird
wie den übrigen (L Mos. 43,34). Hierauf läfst er ihre Esel
mit Getreidesäcken beladen, das Geld oben in die Säcke legen,
in Benjamins Sack aber seinen silbernen Becher, „aus dem er
zu wahrsagen pflegte", verstecken. Kaum haben die Männer
die Stadt verlassen, so läfst er ihnen nachsetzen und sie
zurückholen. Der Becher wird in Benjamins Sack gefunden,
und Joseph will den Benjamin zurückbehalten. Nachdem die
Angst der Brüder aufs höchste gestiegen ist, kann sich Joseph
2. Sagenhafte Vorgeschichte der Hebräer. 79
nicht länger halten, und iij einer ergreifenden Szene gibt er
sich seinen Brüdern zu erkennen. Er veranlafst sie, nach
Kanaan zurückzuziehen und seinen Vater mit seiner ganzen
Familie und aller seiner Habe nach Ägypten zu holen. Sie
kehren zurück, Jakob willigt ein und siedelt mit seinen
Weibern, Nachkommen und Herden nach Ägypten über, wo
ihnen auf Josephs Verwenden von Pharao das Weideland
Gosen im Nordosten von Ägypten zur Wohnung angewiesen
wird. Die Gesamtzahl der Nachkommen Jakobs ohne die
Weiber beträgt Sechsundsechzig, mit Einschlufs Josephs, seiner
beiden Söhne und Jakob selbst siebenzig Seelen. Jakob stirbt
in Ägypten, sein Leichnam wird unter grofsen Feierlichkeiten
nach Hebron übergeführt und dort im Erbbegräbnis der Fa-
milie bestattet. Seine Nachkommen aber bleiben im Lande
Gosen wohnen.
Vierhundertunddreifsig Jahre verstreichen; die Familie
Jakobs ist zu einem Volke von 600000 wehrfäliigen Männern
geworden. Ein neuer Pharao herrscht über Ägypten, „der
wufste nichts von Joseph". Mit Besorgnis sieht der Pharao
(angeblich Ramses TL., 1297 — 1230 a. C.) das Anwachsen der
israelitischen Bevölkerung; er bedrückt sie durch Frondienste
beim Bau der Städte Pithom und Ramses (im nordöstlichen
Ägypten) und befiehlt schliefslich, dafs alle männlichen Kinder
nach der Geburt im Nil ertränkt werden sollen. Ein hebräisches
Knäblein wird von der Königstochter im Schilf des Nilwassers
gefunden; sie nennt ihn Mose, nimmt ihn an Kindes Statt an
und läfst ihn nach einer allerdings sehr spät auftretenden Be-
hauptung (Apostelgesch. 7,22) in aller Wöisheit der Ägypter
erziehen. Herangewachsen, ist er Zeuge der Mifshandlung
eines Hebräers durch einen Ägypter, tötet diesen und flieht
nachMidian, wo er die Schafe des Oberpriesters Jethro hütet
und dessen Tochter Zippora heiratet, die ihm den Gerson ge-
biert. Am Berge Horeb erscheint ihm Jahve in einem brennen-
den Dornbusch und befiehlt ihm, das Volk Israel aus Ägypten
auszuführen. Wie vorher bei seiner Fluclit, zeigt sich auch
hier Mose furchtsam und zaghaft, ein Charakterzug, der nicht
recht zu dem gewaltigen und oft gewalttätigen Manne passen
will, als welcher Mose später erscheint. Sein Bruder Aaron
80 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
wird ihm beigegeben, beide bekunden vor ihren Landesgenossen
durch Wunderzeichen ihre götthche Sendung und treten vor
Pharao (es müfste, da nach 2. Mos. 2,23 der vorige Pharao
gestorben war, dessen Sohn, also Merneptah L, seit 1230 a. C,
gewesen sein) und fordern die Freilassung der Hebräer. Da
Jahve Pharaos Herz verstockt hat, so zeigt er sich wider-
spenstig, und furchtbare Plagen kommen über Ägypten, bei
denen der ' sagenhafte Charakter sich ins Märchenhafte ver-
liert. Da soll alles Wasser des Nils sieben Tage lang in Blut
verwandelt worden sein, da sollen der Reihe nach Frösche,
Stechmücken, Hundsfliegen, Rinderpest, Blattern, Hagel und
Heuschrecken ganz Ägypten heimgesucht haben; sodann läfst
Jahve drei Tage lang eine Finsternis über Ägypten kommen,
so dicht, dafs man sie greifen konnte, während es in den
Wohnungen der Hebräer hell bleibt. Aber immer wieder
nimmt Pharao die schon gegebene Erlaubnis zum Auszuge
zurück. Endlich tötet Jahve in der Nacht des vierzehnten
Nisan alle. Erstgeburt in Ägypten, während die Hebräer in
ihren Häusern zu ungesäuerten Broten das Passahlamm essen
und mit seinem Blute ihre Türpfosten bestreichen, so dafs
Jahve ihre Wohnungen von denen der Ägypter unterscheiden
und verschonen kann. Jetzt endlich läfst Pharao die Israe-
liten ziehen ; in der Eile brechen sie auf und nehmen die von
den Ägyptern entliehenen goldenen und silbernen Gefäfse mit
sich, und so wenig geklärt ist noch die hebräische GotteS-
vorstellung, dafs sie diesen Diebstahl auf Jahves Geheifs
vollführen (2. Mos. 11,2 und 2. Mos. 12,35). Die Hebräer ge-
gelangen an das Rote Meer, Pharao setzt ihnen nach, die
Wasser des Meeres treten auf JaTives Geheifs aus einander,
die Hebräer ziehen zwischen den einen Damm bildenden Ge-
wässern trocknen Fufses hindurch, während der sie verfolgende
Pharao mit allen seinen Reitern und Streitwagen in dem zurück-
flutenden Wasser ertrinkt. Das Volk zieht weiter südwärts
in der Wüste Sin, erringt einen Sieg über die Amalekiter und
gelangt drei Monate nach dem Auszuge an den Berg Sinai
(Horeb). Mose steigt auf den Berg. Unter Donner, Blitz und
Erdbeben werden dem Volke die zehn Gebote durch Jahve
selbst (19,9. 20,22), die Rechtssatzungen und Kultusvorschriften
2. Sagenhafte Vorgeschichte der Hebräer. 81
durch Mose mitgeteilt. Während Mose vierzig Tage auf dem
Berge verweilt, verfertigt Aaron auf Drängen des Volkes aus
den goldenen Ringen der Weiber und Kinder ein goldenes
Kalb, dem zu Ehren ein Fest gefeiert wird. Mose kommt
zurück, zerschmettert im Zorn die von Jahve selbst ange-
fertigten und beschriebenen Tafeln (2. Mos. 32,16), läfst das
Volk den Goldstaub des zerstofsenen Kalbes in Wasser trinken
und durch die Söhne Levis 3000 Mann im Lager erschlagen.
Dann verfertigt er neue Tafeln, steigt auf den Berg, wo er
wiederum vierzig Tage ohne Speise und Trank verweilt, die
„zehn Gebote" auf die Tafeln schreibt (2. Mos. 34,28) und
weitere Kultusgebote mündlich von Jahve empfängt und dem
Volke überbringt. Im zweiten Jahre nach dem Auszuge zieht
das Volk vom Berge Sinai nordwärts, ernährt durch das täg-
lich gesammelte Manna und geleitet durch die Wolkensäule,
in welcher Jahve vor ihnen herzieht. Sie gelangen an die
Südgrenze Palästinas und senden Kundschafter aus, welche
von der Fruchtbarkeit des Landes, aber auch von der grofsen
Kraft seiner Bewohner berichten. Das Volk verzagt, und
Jahve bestimmt, dafs sie vierzig Jahre lang in der Wüste
verweilen sollen, bis eine neue Generation herangewachsen ist;
von allen Männern über zwanzig Jahre sollen nur Josua und
Kaleb in das verheifsene Land gelangen. Nachdem sodann
die Israeliten noch achtunddreifsig Jahre auf der Halbinsel
Sinai herumgezogen und während dieser ganzen Zeit durch das
täghch gesammelte Manna ernährt worden sind, wollen sie
durch das Land der Edomiter (zwischen dem Toten Meer und
dem Alanitischen Meerbusen) durchziehen. Diese verweigern
ihnen den Durchzug; sie wenden sich nach Süden, ziehen
am Alanitischen Meerbusen um das Edomiterland herum,
wenden sich dann nordwärts und gelangen zwischen Moabitern
und Ammonitern durch in das Gebiet der Amoriter östlich
vom Jordan. Sie schlagen diese, nehmen ihr Land ein und
gelangen, immer weiter nach Norden vordringend, bis zum
Reich Basan nordöstlich vom Gebirge Gilead. Sie besiegen
den König von Basan und ziehen wieder südwärts bis an den
Jordan gegenüber Jericho in die Nachbarschaft der Moa-
biter. Balak, König der Moabiter, fürchtet sie und läfst den
Dbussen, Geschichte der Philosophie. II, ii. 6
12>6'[S^
82 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
Propheten Bileam von Pehor am Euphrat holen, um das Volk
zu verfluchen, er aber mufs es auf Jahves Befehl segnen. Das
Land der Amoriter und Basan wird an die Stämme Ruhen,
Gad und Halb-Manasse verteilt, unter der Bedingung, dafs sie
helfen, das Land jenseits des Jordan zu erobern. Mose schärft
noch einmal dem Volke das ganze Gesetz ein (Deuteronomium)
und stirbt auf dem Berge Nebo, nachdem er seinen Diener
Josua zu seinem Nachfolger eingesetzt hat.
Diese Vorgeschichte des hebräischen Volkes, wie sie in
den fünf Büchern Mose in schlichter, epischer Form, stellen-
weise mit grofser poetischer Kraft und Anmut vorgetragen
wird, enthält ohne Zweifel in allen drei Perioden, dem Leben
der Erzväter in Palästina, dem vierhundertjährigen Aufenthalt
des Volkes in Ägypten und endlich seinem vierzigjährigen Zuge
durch die Wüste, alte, in den Familien fortgeerbte historische
Erinnerungen, wofür schon die zahlreichen Aufzählungen von
Namen und Familienstammbäumen Zeugnis ablegen. Aber
diese Erinnerungen sind durch poetische Ausschmückung und
Steigerung der Begebenheiten ins Wunderbare erhoben und
dermafsen verdunkelt worden, dafs es nicht möglich sein dürfte,
die Tatsachen zu ermitteln, welche ihnen zugrunde gelegen
haben. Am wenigsten Anspruch auf historischen Wert haben
die Erlebnisse der drei Erzväter im heiligen Lande. Schon
ihre Namen Abram (hoher Vater), später Abraham (gedeutet
als Vater der Menge), Isaak (er hat gelacht) und Jakob (er
hat überlistet) zeigen eine verdächtige Analogie mit den er-
zählten Begebenheiten; die Schilderung ihres Lebens und
Treibens will nicht zu dem Bilde von Palästina stimmen,
welches wir zweihundert Jahre später aus den Amarna-Briefen
erhalten, und wiederholt tritt die Tendenz hervor, eine Art
Anspruch auf den Besitz des Heiligen Landes, durch genaue
Darlegung des Grunderwerbs von Seiten Abrahams in Hebron
und Jakobs in Sichem, zu begründen. Somit bestellt die Mög-
lichkeit, dafs die Vorfahren des israelitischen Volkes vor seiner
Invasion unter Josua das Heilige Land überhaupt nie betreten
haben. ■ — Gröfsere Wahrscheinlichkeit hat ein längeres Wohnen
des hebräischen Stammes in einem Grenzdistrikt des nord-
2. Sagenhafte Vorgeschichte, der Hebräer. 83
östlichen Ägyptens; denn es ist öfter vorgekommen, dafs die
Ägypter einem aus der Wüste gegen das reiche Land an-
dräno-enden Nomadenstamme Wohnsitze an der Grenze ein-
räumten, teils um Ruhe vor ihnen zu haben, teils um in ihnen
einen Schutzwall gegen weitere Eindringlinge zu besitzen.
Auffallenderweise aber haben die Denkmäler Ägyptens nach
dem Urteil unbefangener Ägyptologen keine Erinnerung an
das Wohnen der Hebräer in ihrem Lande, an ihren gewalt-
samen Aufbruch und an den Untergang eines Pharao bei ihrer
Verfolgung erhalten. Es könnte sich also dabei nur um kleine
Vorkommnisse handeln, welche von der dichtenden Sage ins
Fabelhafte gesteigert worden sind. — Möglich und sogar wahr-
scheinlich ist es endlich, dafs das Nomadenvolk der Hebräer
vor der Invasion Palästinas längere Zeit in den Steppengebieten
der Halbinsel Sinai mit seinen Zelten und Herden umher-
gezogen ist und an dem alten Götterberge Horeb durch einen
hervorragenden Heerführer die Grundgesetze seiner theokrati-
schen Verfassung erhalten hat, bis es endlich, gestärkt durch
das entbehrungsreiche Wüstenleben, die Kraft in sich fand,
zuerst vergeblich von Süden her, dann mit besserm Erfolge
von Nordosten und Osten aus in das ihnen so oft verheifsene,
mit andern Worten, in das so lange und heifs von ihnen be-
gehrte Kulturland Palästinas einzubrechen und seine bis-
herigen Bewohner unter harten und grausamen Kämpfen aus-
zurotten. Viele, welche Abraham, Isaak und Jakob preis-
geben, möchten doch an der Geschichtlichkeit des Mose als
Begründer des hebräischen Monotheismus festhalten. Aber
wenn, wie wir später sehen werden, das Deuteronomium das
Gesetzbuch des Königs Josia um 622 a. C, und der Leviticus,
nach einer sehr einleuchtenden Hypothese, erst das Gesetz-
buch des zweiten Tempels unter Esra (458 a. C.) und Nehemia
ist — was bleibt dann von Mose noch übrig? Die von der
Sage ausgeschmückte Gestalt eines uralten Heros der Gesetz-
gebung, auf dessen Namen man alle die in der Folgezeit nach
und nach entstandenen theokratischen Gesetze des Volkes
Israel zurückführte, um ihnen dadurch eine höhere Sanktion
zu verleihen.
84 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
3, Geschichte der Hebräer von der Eroberung Palästinas bis zum
babylonischen Exil.
In der Geschichte der Hebräer gewinnen wir zum ersten-
mal festern Boden in der Tatsache, dafs um die Zeit, wo das
Reich der Cheta im Norden zerfallen und der Einflufs Ägyptens
im Süden Palästinas gebrochen war, also etwa um das Jahr
1150 a. C, das nomadisierende Volk der Hebräer aus der
Wüste vom Ostjordanlande her in Palästina eindrang, um es
unter harten Kämpfen und einer oft grausamen Ausrottung der
Bewohner in Besitz zu nehmen. Dafs dabei die Kinder Israel
nicht von der Halbinsel Sinai her, wo sie nach ihrer Tradition
zuletzt geweilt hatten, sondern vom Waldgebirge Gilead im
Ostjordanlande zu beiden Seiten des Jabok aus eindrangen,
ist nicht weiter auffallend, wenn man bedenkt, dafs im Süden
Palästinas die Midianiter, Amalekiter und Edomiter den Durch-
bruch schwer oder unmöglich machten, wälirend im Osten ein
Durchzug zwischen Moab und Ammon und eine Überwältigung
der das Gebirgsland besitzenden Amoriter leichter ausführbar
war. Hier im Ostjordanland setzten sich die Stämme Rüben,
Gad und Halb-Manasse fest, während die übrigen, von diesen
unterstützt, den Jordan überschritten, um sich jenseits des-
selben Wohnsitze zu erkämpfen. Die Art, wie dieses aus-
geführt wurde, ist im einzelnen nicht mit Sicherheit klar-
zulegen. Der natürliche Verlauf der Dinge ist, wie in der
frühern Periode durch die Sage, so in der gegenwärtigen
durch den künstlichen, von den spätem Berichterstattern her-
gestellten theokratischen Pragmatismus verdunkelt worden.
Wie Mose der Heros der Gesetzgebung, so ist für sie Josua
der Held, unter dessen Führung die Eroberung Kanaans
in sieben Jahren vollbracht worden sein soll. In Wahrheit
wird man einen viel längern Zeitraum anzunehmen haben,
ehe die Okkupation des Landes auch nur teilweise gelang.
Wie es scheint, haben dabei die einzelnen Stämme auf eigene
Hand verfahren, indem sie versuchten, hier und da, wo es
am leichtesten ausführbar war, sich Wohnsitze zu erstreiten.
Am wenigsten gelang dies in den fruchtbaren Ebenen am
Meere, welche südlich von den Philistern, nördlich von
den Phönikern besetzt waren und nie völlig erobert worden
3. Geschichte der Hebräer seit der Eroberung Palästinas. 85
sind. Aber auch im Gebirge konnten viele Städte, wie Jebus,
Gibeon, Megiddo u. a., nicht eingenommen werden. Manche
Städte erkauften ihre Freiheit durch Zahlung eines Tributs
an die Hebräer, in andern verschmolzen diese mit der ein-
heimischen Bevölkerung, wie dies namentlich in Sichem der
Fall gewesen zu sein scheint, während in Jebus (Jerusalem)
auch nach der Eroberung durch David neben der hebräischen
die jebusitische Bevölkerung sich behauptete „bis auf diesen
Tag", d. h. bis auf die Zeit des Jahvisten (850 a. C.) und erst
nach und nach mit ihr verschmolz, wodurch hier und an vielen
andern Orten der den Hebräern ursprünglich wie allen semi-
tischen Stämmen eigene Polytheismus eine weitere Stärkung
erfahren mufste. Endlich gelang es den verschiedenen Stämmen,
feste Wohnsitze zu erobern; östlich vom Jordan hatten sich,
wie schon bemerkt, Rüben, Gad und Halb-Manasse angesiedelt,
im Westjordanlande finden wir südlich die Eeste des, wie
es scheint, aufgeriebenen und bald aus der Geschichte ver-
schwindenden Stammes Simeon und den erst spät zur Kon-
solidation gelangten Stamm Juda nebst dem kleinen Benjamin;
im Norden breitete sich der mächtige Stamm aus, welcher
den Joseph als seinen Stammvater verehrte und sich in Ma-
nasse und Ephraim teilte, welche von der Sage dem Joseph
als Söhne beigegeben wurden, während Ephraim ursprünglich
nur der Name der von den Hebräern okkupierten Gebirgs-
landschaft war. Weiter im Norden finden wir südlich vom
See Genezareth den Stamm Issaschar, an diesem selbst die
Stämme Sebulon und Naphthali, und im äufsersten Nordwesten
an das Meer angelehnt den Stamm Asser. Am spätesten ge-
lang es dem Stamme Dan zur Ruhe zu kommen. Nach der
Sage von Simson, einem Helden aus diesem Stamme, scheint
er versucht zu haben, sich in der Nähe des Philisterlandes
festzusetzen, bis er beschlofs, ganz im Norden Palästinas sich
eine dauernde Heimat zu erobern. Auf dem Durchzuge durqh
das Gebirge Ephraim raubte er die dort von Micha verehrten
Kultusobjekte, zwei Götterbilder, sowie einen Ephod und einen
Theräphim, nebst dem zugehörigen Priester und eroberte die
südlich vom Libanon an den Jordanquellen gelegene Stadt
Lais, welche seitdem den Namen Dan führte.
86 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
So hatten sich denn die Israehten überall, wo sich eine
günstige Gelegenheit bot, mitten unter den Kanaanäern an-
gesiedelt, und nicht einmal die einzelnen Stämme besafsen ein
kontinuierlich zusammenhängendes Terrain, so dafs es den
um sie herum und oft mitten zwischen ihnen wohnenden
Kanaanäern, zumal sie in der Anfertigung von Waffen und
in der Kunst der Kriegführung überlegen waren, leicht ge-
wesen wäre, die eindringenden Hebräer in die Wüste zurück-
zuwerfen, hätte es nicht den einen wie den andern an einem
Zusammenschlüsse zu gemeinsamem Handeln gefehlt. „So
wohnten die Israeliten inmitten der Kanaaniter, Hethiter,
Amoriter, Pheresiter, Heviter und Jebusiter, nahmen ihre
Töchter zu Frauen und verheirateten ihre eigenen Töchter
an die Söhne jener und dienten ihren Göttern" (Rieht. 3,5 — 6)
Die Folge dieser Zustände war eine Periode fortwährender
Beunruhigung von beiden Seiten; die Hebräer suchten ihre
Eroberungen zu erweitern, die Kanaanäer waren bestrebt, das
Verlorene zurückzugewinnen, Raubzüge, um sich gegenseitig
die Herden wegzutreiben oder zur Erntezeit die Feldfrüchte
der feindlichen Nachbarn sich anzueignen, erfolgten von beiden
Seiten, und nicht selten mufsten die Hebräer ihre eroberten
Positionen aufgeben und sich in die Klüfte und Höhlen der
Gebirge flüchten; „und da der Midianiter Hand zu stark ward
über Israel, machten die Kinder Israel für sich Klüfte in den
Gebirgen und Höhlen und Festungen; und wenn Israel etwas
säete, so kamen die Midianiter und Amalekiter und die aus
dem Morgenlande herauf über sie und lagerten sich wider sie
und verderbten das Gewächs auf dem Lande bis hinan gen
Gaza; und liefsen nichts übrig von Nahrung in Israel, weder
Schaf noch Ochsen noch Esel" (Rieht. 6,2 — 4). In solchen
Zeiten der Not pflegte es zu geschehen, dafs im Volke Israel
kräftige Männer aufstanden, sich an die Spitze eines kleinern
oder gröfsern Haufens stellten, um gegen den Feind vorüber-
gehende oder auch dauernde Erfolge zu erringen. Man nannte
sie Richter fscliophet), vielleicht nicht so sehr darum, weil sie,
wie gewöhnlich erklärt wird, dem Volke Recht schafften gegen
seine Feinde, denn hier war nicht von Recht, sondern nur von
Gewalt die Rede, sondern weil Kriegshelden dieser Art durch
3. Geschichte der Hebräer seit der Eroberung Palästinas. 87
ihre Erfolge gegen den Feind ein Ansehen unter ihren Stammes-
brüdern erlangten, auf Grund dessen man ihnen auch die Ent-
scheidung in Rechtsstreitigkeiten übertrug, wie ja auch später
die Könige zugleich das oberste Richteramt ausübten. Eine
gröfsere Anzahl solcher Richter werden genannt; am ge-
feiertsten und am lebendigsten in der Erinnerung des Volkes
fortlebend waren Gideon aus Ophra im Stamm Manasse, wel-
cher einen grofsen Sieg über die Midianiter errang, aber die
ihm angetragene Königswürde ablehnte, während AbimelecJi,
sein Sohn von einem Nebenweibe, sich zum König wählen
liefs, seine siebzig Brüder ermordete, aber schon nach drei
Jahren bei einer Belagerung seinen Tod fand; sodann JepJita
aus dem Gebirge Gilead jenseits des Jordan, welcher, nach
einer dunkeln Vergangenheit von seinen Stammesgenossen an
die Spitze gestellt, einen glänzenden Sieg über die Ammoniter
erfocht und, da er gelobt hatte, das erste Wesen, welches
ihm bei der Heimkehr begegnen würde, dem Jahve zum
Opfer zu bringen, an seiner einzigen, ihm entgegentretenden
Tochter das Gelübde erfüllte; endlich Simson aus dem Stamme
Dan, der hebräische Herakles, und, wie dieser, vielleicht von
Haus aus eine mythische Gestalt (oben S. 49), in dessen Bild
die dichtende Sage brutale Kraft und geistige Beschränktheit
nicht ohne Beimischung humoristischer Züge verwoben hat,
und dessen abenteuerliche, gegen die Philister als Erbfeinde
der Nation ausgeführten Streiche ihn zu einer Lieblingsfigur
der hebräischen Volkssage machten.
Immer gröfser wurde in dieser Zeit der Wirren die Be-
drängnis durch die Philister; in einer Schlacht bei Eben-Ezer
erbeuteten sie sogar vorübergehend die aus Silo herbeigeholte
Bundeslade, der ganze Süden Palästinas kam in ihre Gewalt;
sie verboten den Israeliten den Gebrauch eiserner Waffen und
errichteten bis nach Gibeä im Stamme Benjamin hin Sieges-
säulen als Wahrzeichen ihrer Herrschaft. Da erhob sich Smd,
der Sohn des Kis, aus dem Stamme Benjamin, befreite zu-
sammen mit seinem Sohne Jonathan durch einen Sieg das
Land von der Philisterherrschaft und liefs sich, wie es scheint
unter Widerstreben der Priesterschaft, von den Stämmen des
südlichen Palästinas zum König wählen. Seine Herkunft aus
88 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
dem kleinen, zum Teil aufgeriebenen Stamme Benjamin er-
leichterte, bei der Eifersucht der Stämme auf einander, seine
Anerkennung, erschwerte aber den dauernden Bestand seiner
Herrschaft, da er sich nicht auf einen gröfsern Anhang des
eigenen Stammes stützen konnte. Zunächst breitete sich seine
Herrschaft in immer weiterm Kreise aus: „Als nun Saul das
Königtum über Israel gewonnen hatte, führte er Kriege ringsum
gegen alle seine Feinde: gegen Moab, gegen die Ammoniter,
gegen Edom, gegen den König von Zoba und gegen die
Philister, und wohin er sich auch wandte, da war er sieg-
reich" (1. Sam. 14,47). Durch Entsetzung der von den Am-
monitern hart bedrängten Stadt Jabes in Gilead breitete er
seine Macht auch jenseits des Jordan aus und erfocht einen
grofsen Sieg über die Amalekiter, bei welchem deren König
Agag in seine Hände fiel. Vergebens versuchte er den ge-
fangenen Fürsten vor dem Fanatismus der mächtigen Priester-
schaft zu retten. Sie nahm Partei gegen ihn und veranlafste
den David ^ einen Waffenträger und Günstling des Saul, der
mit dessen Sohn Jonathan einen engen Freundschaftsbund
geschlossen hatte, von Saul abzufallen; David mufste fliehen,
wurde von Saul verfolgt und fand schliefslich eine Zuflucht
bei dem Philisterkönig zu Gath, der ihm Ziklag zur Wohnung
anwies. Inzwischen rüsteten sich die Philister zu einem Haupt-
schlage gegen das neuerstandene Königreich; zu Gilboa, un-
weit der Ebene Jesreel, kam es zur Schlacht, in welcher Saul
und sein Sohn Jonathan fielen. David begab sich nach Hebron
und wurde von Juda als König anerkannt, während Abner,
der Feldhauptmann Sauls, dessen Sohn Esbaal in Gilead zum
König über die ' Nordstämme erhob. In der Folge überwarf
er sich mit ihm, ging zur Partei des David über, wurde aber
von Joab, dem Feldhauptmanne Davids, erstochen. Esbaal,
durch den Abfall Abners der Stütze beraubt, wurde von zweien
seiner Kriegsleute ermordet, und David, von der mächtigen
Priesterpartei begünstigt, wurde vom ganzen Israel als König
anerkannt.
Was Saul 'begonnen hatte, das vollendete David mit Hilfe
seines gewalttätigen, aber ihm treu ergebenen Feldhauptmanns
Joab. Er besiegte die Philister, so dafs Israel weiterhin vor
3. Geschichte dei* Hebräer seit der Eroberung Palästinas. 89
ihnen Ruhe hatte, unterwarf die Stämme der Araalekiter und
Edomiter, wodurch er seine Herrschaft bis nach Eziongeber am
Älanitischen Meerbusen ausdehnte, beschränkte das Gebiet der
Moabiter und Ammoniter, und führte glückliche Kämpfe gegen
die Aramäer im Norden, so dafs sich sein Reich von den Ab-
hängen des Libanon bis zur südlichen Wüste, von Dan bis
nach Beerseba erstreckte. Im Innern eroberte er die bis dahin
noch unabhängig gebliebenen Städte, aufser dem schon von
Saul genommenen Gibeon auch Megiddo und andere feste
Plätze, namentlich aber eroberte er Jebus, dem er seinen alten,
als Urusalim schon in den Amarna- Briefen vorkommenden
Namen Jerusalem wiedergab, und machte es zur Hauptstadt
seines Reiches. Hier baute er sich einen Palast, hierher ver-
pflanzte er auch das Nationalheiligtum, die Bundeslade Jahves.
Im Innern sorgte er für geordnete Rechtspflege und die Heeres-
organisation, während er sich selbst mit einer ausländischen
Leibwache von sechshundert Mann, den Krethi und Plethi,
umgab. Dafs er, im Gegensatze zu Saul, mit der Priester-
schaft gute Beziehungen unterhielt und ein treuer Verehrer
des Nationalgottes Jahve war, ohne sich dadurch in tyranni-
schen Gelüsten, wie im Falle der Bathseba, zügeln zu lassen,
ist gewifs; inwieweit er dabei der fromme Liedersänger ge-
wesen ist, als w^elcher er in der spätem Legende fortlebte,
mag dahingestellt bleiben. In seiner zahlreichen Familie er-
lebte er, namenthch in seinen spätem Jahren, wo die alte
Kraft ihn verlassen hatte, vielen Kummer. Sein ältester Sohn
Amnon wurde aus Rache für den an der Thamar begangenen
Frevel von seinem Bruder Absalom erschlagen, welcher da-
durch zum Thronerben wurde und sich weiterhin gegen seinen
Vater empörte. David mufste über den Jordan fliehen, Absalom
wurde besiegt und auf der Flucht von Joab getötet. In seinen
letzten Tagen liefs sich der altersschwache König durch eine
vom Propheten Nathan geleitete Hofintrige bestimmen, mit
Übergebung des nächstberechtigten Adonija seinen Sohn von
der Bathseba, den Salomo, zum Thronfolger zu ernennen.
Was Saul und David gesät hatten, erntete Salomo. Er
übernahm ein durch die Kriegstaten seines Vaters gefestigtes
Reich, ohne dafs er zu dessen Mehrung beigetragen oder es
90 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
auch nur in seinem vollen Bestände aufrecht erhalten hätte.
Mit Moab und Ammon lebte er in Frieden, aber die Edomiter
rissen sich los, und im Norden erstand in Damaskus als ge-
fährlicher Rivale ein neues Reich, ohne dafs Salomo das eine
wie das andere verhindert hätte. Hingegen war er befreundet
mit dem ägyptischen Pharao, von dem er eine Tochter für
seinen Harem und als Mitgift derselben die Philisterstadt
Gaser erhielt. Andererseits trat er im Norden eine Anzahl
von Grenzdörfern dem Könige Hiram von Tyros ab als Dank
für die Hilfe, welche dieser ihm durch Überlassung von Bau-
meistern und Handwerkern zum Bau des Salomonischen Tem-
pels und Palastes geleistet hatte. Der prunkhaften Ausführung
dieser Bauwerke war das Hauptinteresse seiner Regierung ge-
widmet. Daneben sorgte er für eine glänzende Hofhaltung
und soll in seinem Harem nicht weniger als siebenhundert
Weiber und dreihundert Nebenweiber gehalten haben. Durch
alles dieses wurden die Mittel des noch so jungen Staates
erschöpft und seine Bewohner durch Steuern und Frondienste
auf das härteste bedrückt. Ein Aufstand im nördlichen Reiche
wurde niedergeworfen, und sein Anführer Jerobeam mufste
nach Ägypten fliehen ; aber die Unzufriedenheit blieb bestehen.
Hiernach mufs es zweifelhaft bleiben, wie viel an der von der
spätem Legende so hoch gerühmten Weisheit des Salomo für
historisch zu halten ist. Als sicher kann man ansehen, dafs
er mehr für den Glanz seiner Hofhaltung als für das Wohl
seiner Untertanen besorgt gewesen ist, und der wichtigsten
Pflicht eines Regenten, die Thronfolge sicherzustellen, hat er
so wenig genügt, dafs nach seinem Tode die Spaltung des
Reiches und mit ihr das ganze Elend der folgenden Jahr-
hunderte über das Volk Israel hereinbrach.
Das unselige Jahr, in welchem Rehabeam, Salomos Thron-
erbe, die Forderung der Nordstämme, ihr Joch zu erleichtern,
schnöde abwies, und infolge davon der verbannt gewesene
und aus Ägypten herbeigeeilte Jerobeam zum König über die
zehn Nordstämme erhoben wurde, wird von altern Chronologen
als das Jahr 975 a. C, nach neuern Berechnungen als 933
oder 925 angesetzt. Vergebens versuchte Rehabeam das Nord-
reich zurückzugewinnen; ein mehrere Generationen dauernder
3. Geschichte der Hebräer seit der Eroberung Palästinas. 91
Bürgerkrieg zwischen Juda und Israel brach aus. Diese Ge-
legenheit benutzte der ägyptische König Sisak {^esonq L,
XXn. Dynastie, mutmafslich 943—922), um in Palästina ein-
zubrechen, den Tempel von Jerusalem zu plündern und nach
den ägyptischen Berichten seinen Kaubzug auch über die
Städte des Nordreichs auszudehnen. Im weitern Verlaufe des
Bruderkrieges wurde Asa, der zweite Nachfolger des Rehabeam,
so hart von Baesa, der Jerobeams Sohn ermordet und sich
zum König über Israel gemacht hatte, bedrängt, dafs er „alles
Silber und Gold, das in den Schatzkammern des Tempels
Jahves noch vorhanden war und die Schätze des königlichen
Palastes" zusammenraffte (1. Kön. 15,18), um damit die Bundes-
genossenschaft Ben-Hadads I. von Damaskus gegen die Bruder-
stämme zu erkaufen. Juda atmete auf, während ein lang-
wieriger, mit Unterbrechungen bis gegen das Ende des Nord-
reiches dauernder Krieg zwischen Israel und dem Syrischen
Reiche des Ben-Hadad und seiner Nachfolger sich entspann.
Während in Juda bis Ende des Reiches eine im ganzen ge-
regelte Thronfolge der davidischen Dynastie fortbestand, ver-
drängte im Nordreiche eine Usurpatorfamilie die andere. Jero-
beams Sohn wurde von Baesa, Baesas Sohn, nach Über-
windung zweier Gegenkönige, von Omri verdrängt. Etwas
länger hielt sich das Haus Omri auf dem Throne. Omris
Sohn Ahab, der seiner tyrischen Gemahlin Isebel zuliebe neben
dem als Nationalgott von ihm verehrten Jahve dem Kultus
des tyrischen Ba'al Eingang gewährte, erregte dadurch den
heftigsten Zorn der Jahvefanatiker, als deren Typus zu seiner
Zeit die mächtige, von der Sage ins Wunderbare erhobene
Gestalt des Elias dasteht. Unsere Quellen schildern den Ahab
mit den schwärzesten Farben; sein Verbrechen an Naboth
wurde ihm nicht so leicht verziehen wie dem frommen David
seine kaum weniger schändliche Untat an Uria, und seine
edelmütige Behandlung des gefangenen Königs Ben-Hadad
gereichte den Jahvisten zum schweren Ärgernis. Ahab fiel
in dem bald darauf neu entbrannten Kampfe mit Syrien, und
von seinen drei Kindern, deren Namen für Ahabs Verehrung
des Nationalgottes Zeugnis ablegen, folgte ihm Ahasja, und
nach dessen baldigem Tode ^Toram, während er seine Tochter
92 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
Athalja mit dem Sohne Josaphats, des in Frieden mit Israel
lebenden Königs von Juda, vermählte. Aus der Ehe der
Athalja, Schwester des Joram, Königs von Israel, mit dem
gleichzeitig lebenden Joram, König von Juda, entsprofs ein
ebenso wie sein Oheim in Israel Ahasja benannter Sohn, wel-
cher nur ein Jahr lang regierte, während dessen er mit Joram
von Israel Friede und Freundschaft unterhielt, bis beide an
demselben Tage durch Mörderhand fielen. Joram war im
Kampfe gegen Hasael von Syrien verwundet worden und nach
Jesreel gegangen, um seine Wunden zu heilen, wo ihn Ahasja
von Juda besuchte. Inzwischen liefs sich, angestiftet leider
durch Elisa, Jorams Feldhauptmann, der furchtbare Bluthund
Jehu zum Treubruch an seinem Herrn verleiten, eilte nach
Jesreel, ermordete beide Könige, die Königinmutter Isebel und
siebzig Nachkommen des Hauses Ahab und machte sich zum
König über Israel. In Juda rifs Athalja, nach dem Tode ihres
Sohnes Ahasja, die Herrschaft an sich, liefs ihre Enkel er-
morden und herrschte fünf Jahre über Juda. Ein Söhnchen
des Ahasja, namens Jehoas, war ihren Nachstellungen ent-
gangen, wurde vom Priester Jojada heimlich im Tempel er-
zogen und, als der Knabe sieben Jahre alt geworden war,
zum König ausgerufen; Athalja wurde getötet und die Dy-
nastie Davids in Juda wiederhergestellt. Er und seine Nach-
folger, Amazja, Asarja (= Usia), Jotham und Alias regierten
ohne bemerkenswerte "Wechselfälle in Juda, bis unter des
letztgenannten Nachfolger Hiskia die Assyrernot auch über'
das in friedlicher Abgeschiedenheit dahinlebende Juda herein-
brach. Stürmischere Zeiten waren dem mächtigern, aber auch
gefährlichem Gegnern ausgesetzten Reiche Israel beschieden.
Unter Jehus Sohne Joahas wurde das Eeich hart von den
Syrern bedrängt. Bessern Erfolg hatten die Kämpfe, welche
dessen Sohn Joas mit den Syrern führte, und unter der vierzig-
jährigen Eegierung seines Sohnes Jerobeams IL erhob sich
Israel zu einer Macht und Blüte, welche an die Zeiten des
Königs David erinnerte. Dann aber brach die Anarchie her-
ein; Jerobeams Sohn Sacharja wurde ermordet und in rascher
Folge geriet das Reich in die Hände der Usurpatoren Sallum,
Menahem, dem sein Sohn Pekahjah folgte, und Pekah. Immer
3. Geschichte der Hebräer seit der Eroberung Palästinas. 93
drohender zeigte sich die assyrische Gefahr. Tiglath-Pilesar
machte Israel tributpflichtig und setzte an Stelle des Pekah
den Hosea als seinen Vasallenkönig ein. Zehn Jahre hielt
sich dieser ruhig, dann wagte er den Abfall von Assyrien. Er
wurde von Salmanassar gefangen genommen und seine Haupt-
stadt Samaria belagert. Sie fiel erst, als auf Salmanassar
Sargon gefolgt war, nach dreijähriger Belagerung im Jahre
722. Die Elite des Volkes Israel, 27000 Mann, wurden von
Sargon weggefülirt und jenseits des Tigris angesiedelt, wo
sie von der dort lebenden Bevölkerung aufgesogen wurden
und spurlos aus der Geschichte verschwanden.
Was die Propheten Amos und Hosea in dunkeln Bildern
vorausgesagt hatten, das war eingetroffen; das Eeich Israel
war vernichtet, und seine Bewohner verloren sich unter fremden
Völkern, Juda aber war zu einem tributären Vasallenstaate
Assyriens geworden. Wohl fehlte es nicht an solchen, welche
dazu rieten, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln, aber
Jesaia warnte davor und riet, die assyrische Herrschaft als
eine von Jahve verhängte Strafe geduldig zu tragen. So hatte
das Land unter Alias und noch zehn Jahre unter Hiskia
Frieden. Als aber 705 Sargon durch Mörderhand fiel und es
überall zu gären anfing, da knüpfte Hiskia, gedrängt von Volk
und Priestern, ohne Vorwissen des Jesaia Unterhandlungen
mit Ägypten an und trat an die Spitze einer Koalition kleiner
Staaten, um die Fremdherrschaft abzuschütteln. Sanherib,
Sargons Nachfolger, rückte heran, Hiskia mufste sich unter-
werfen und durfte gegen ein hohes Lösegeld Stadt und Land
behalten. Sanherib wandte sich gegen Ägypten, fand es aber
dann doch bedenldich, im Kücken eine feste Stadt wie Jeru-
salem in den Händen eines so unsichern Vasallen zurück-
zulassen, und sandte seine obersten Beamten, um die Übergabe
der Stadt zu fordern. König und Volk verzagten, aber Jesaia
sprach ihnen Mut ein und riet, die Forderung abzulehnen. Er
spielte ein gewagtes Spiel, aber er gewann es. Ehe der König
von Libna, welches er belagerte, sich gegen Jerusalem wenden
konnte, wurde er durch eine nicht aufgeklärte Katastrophe —
in einer Nacht geschah es, dafs der Engel des Herrn im
Lager der Assyrer 185000 Mann schlug, wie die Bibel erzählt
94 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
(2. Kön. 19,35; Jes. 37,36), dafs Feldmäuse alles Lederzeug im
Lager zernagten, wie Herodot (2,141) berichtet — , vielleicht
durch den Ausbruch einer Pest im Heere genötigt, nach As-
syrien zurückzukehren. Juda blieb tributär, genofs aber Ruhe,
und man konnte sich auf Anregung des Jesaia und seiner
Partei den innern Reformen zuwenden. Blieben auch die
Kultusstätten auf den Höhen und die von Salomo fremden
Göttern südlich vom Ölberg errichteten Altäre bestehen, so
wurden doch die Ephod (hölzerne, mit Metall überzogene
Götterbilder Jahves) beseitigt und die eherne Schlange nebst
der Aschera aus dem Tempel entfernt. Aber das Volk liefs
sich die Götter seiner Väter nicht so leicht nehmen. Unter
der mehr als fünfzigjährigen Regierung Manasses, des Sohnes
Hiskias, gewann die Volkspartei auf den schwachen König
entscheidenden Einflufs, die auf Reinigung des Kultus drängen-
den Propheten wurden verfolgt, die aitheiligen Symbole der
Götter, vermehrt durch fremdländische Idole, fanden wieder
Eingang im Tempel des Jahve, und der abergläubische Brauch,
die erstgeborenen Kinder nicht' mehr durch die Erstgeburt
eines Tieres abzulösen, sondern auf dem Altar im Tale Hinnom
zu opfern, fand auch bei den Kindern Israel unter Manasse
und der nur kurzen Regierung seines Sohnes Amon Nach-
ahmung. Ihm folgte 638 a. C. sein achtjähriger Sohn Josia^
in welchem die jahvistische Partei der Propheten und Priester
ein geeignetes Werkzeug fand, ihre Zwecke durchzuführen.
Im Tempel zu Jerusalem kam plötzlich (621 a. C.) ein an-
geblich altes, noch von Moses Zeiten herrührendes Gesetzbuch
zutage, jetzt den Kern des Deuteronomium bildend, auf welches
König und Volk in feierlicher Sitzung sich verpflichteten und
dessen Hauptforderungen, Abschaffung aller Götterbilder und
Monopolisierung des Kultus im Tempel zu Jerusalem, in ge-
waltsamer Weise durchgeführt wurden. Inzwischen war durch
die Invasion der Skythen die assyrische Grofsmacht so sehr
geschwächt worden, dafs der babylonische Statthalter Nebu-
palassar im Bunde mit dem modischen König Kyaxares es
unternehmen konnte, Assyrien zu unterwerfen. Auch Necho
von Ägypten hielt die Gelegenheit für gekommen, Palästina
wieder an sich zu reifsen. Josia wagte es, sich ihm entgegen-
3. Geschichte der Hebräer seit der Eroberung Palästinas. 95
zustellen, wurde 608 bei Megiddo geschlagen und fiel in der
Schlacht. Necho setzte Jojaqim, Josias Sohn, zum Könige
über Juda ein, der ihm ein treuer Vasall blieb. Zwei Jahre
darauf machte Nebupalassar der assyrischen Grofsmacht ein
Ende. Auf die Nachricht von der Zerstörung Ninives 606 a. C.
ging ein Frohlocken durch die Völker Vorderasiens; nur
Jeremia sah düster in die Zukunft und behielt Recht. Necho
wurde 604 bei Karchemisch am Euphrat geschlagen; aber die
Folge für Juda war nur, dafs die ägyptische Oberherrschaft
mit der babylonischen vertauscht wurde. Die religiöse Eeform
unter Josia war nach der Niederlage von Megiddo in Mifs-
kredit und halbe Vergessenheit geraten, Jojaqim „tat was dem
Herrn übel gefiel, wie seine Väter getan hatten"; drei Jahre
noch zahlte er an Babylon seinen Tribut, dann wagte er den
Abfall. Nebukadnezar zog 597 gegen Jerusalem heran, nahm
den drei Monate vorher seinem Vater Jojaqim auf dem Throne
gefolgten Jojachin gefangen und führte ihn mit zehntausend
der vornehmsten Bürger Jerusalems, unter ihnen den Propheten
Ezechiel, nach Babylon weg. Über die Zurückgebliebenen,
meist aus der geringern Bevölkerung Bestehenden, wurde Ze-
dekia, ein Sohn des Josia und Oheim des Jojachin, zum König
gesetzt. Auch Jeremia gehörte zu den Zurückgebliebenen.
Vergebens suchte er in Jerusalem und Ezechiel in Babylonien
die immer noch bestehenden Aufruhrgelüste zu dämpfen; als
man 588 neue Hoffnungen auf den Pharao Hophra setzen zu
können glaubte, Hefs sich Zedekia von der jahvistischen Strö-
mung fortreifsen und fiel von Babylonien ab. Nebukadnezar
erschien 586 mit einem Heere vor Jerusalem, eroberte die
Stadt, zerstörte ihre Mauern, verbrannte den Tempel und
führte wieder einen grofsen Teil der Bevölkerung, namentlich
auch des flachen Landes, nach Babylon ab. Über die Zurück-
bleibenden, zu denen auch Jeremia gehörte, setzte er Gedalja
ein, um welchen sich der Rest des Volkes zu Mizpa nördlich
von Jerusalem scharte. Da er nicht aus dem Hause Davids
war, wurde er von einem rabiaten Davididen erschlagen, und
die Kolonie zu Mizpa aus Angst vor der Rache der Babylonier
flüchtete nach Ägypten, unter ihnen gezwungenerweise auch
Jeremia. In Ägypten mufste er von seinen Landsleuten hören,
96 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
was er selbst (44,17) erzählt: „Wir wollen der Himmelskönigin
räuchern und derselben Trankopfer opfern, wie wir und unsere
Väter, die Könige und Fürsten getan haben in den Städten
Judas und auf den Gassen zu Jerusalem. Da hatten wir auch
Brot genug, und ging uns wohl, und hatten kein Unglück.
Seit der Zeit aber wir haben abgelassen, der Königin des
Himmels zu räuchern und Trankopfer zu opfern, haben wir
allen Mangel gelitten, und sind durchs Schwert und Hunger
umgekommen." — So fest haftete der Polytheismus auch da-
mals noch im Herzen des Volkes.
Inzwischen scheint die Lage der nach Babylonien Depor-
tierten eine ganz erträgliche gewesen zu sein. Sie besafsen
Häuser und Gärten, und viele von ihnen kamen in dem ge-
segneten Lande bald zu gröfserm Wohlstand, als er in der
Heimat möglich gewesen wäre. Durch die Sitte der Be-
schneidung unterschieden sie sich von den umwohnenden
„Heiden" und hielten eng zusammen. Der Opferkultus freilich
war suspendiert, da er nach dem Gesetzbuche des Josia ja
nur im Tempel zu Jerus^ilem legitim betrieben werden konnte.
Um so eifriger beobachtete man das Gebot der Heiligung des
Sabbat. Man versammelte sich an diesem Tage, und die
heiligen Schriften, soweit sie damals schon vorhanden waren,
wurden in feierlicher Sitzung verlesen und erklärt. Es war
der Anfang des für das spätere Judentum charakteristischen
Synagogenwesens und sonach mittelbar unserer christlichen
Sonntagsfeier. Übrigens lebten die Exilierten des Jahres 597
der festen Hoffnung, sehr bald nach Jerusalem zurückkehren
zu können, und Propheten wie Ezechiel hatten Mühe genug,
den überschäumenden Eifer der Patrioten niederzuhalten. Als
die Warnungen des Propheten mifsdeutet wurden, hielt er es
für geraten, zu schweigen; der Herr verschlofs seinen Mund.
Da traf im Jahre 586 die erschütternde Nachricht ein, dafs
durch Nebukadnezar Jerusalem zerstört und der Tempel ver-
brannt worden sei. Jetzt wurde der Mund Ezechiels wieder
aufgetan (Ezech. 33,22) ; der Warner wurde zum Tröster, er ver-
kündete den Verzweifelnden eine glückliche Zukunft, indem er
nicht, wie die frühern Propheten, aus den Anzeichen der gegen-
wärtigen Lage das Kommende voraussagte, sondern auf Grund
3. Geschichte der Hebräer seit der Eroberung Palästinas. 97
theologischer Voraussetzungen eine ideale Zukunft postulierte.
So wurde er der Begründer der spätem jüdischen Apokalyptik,
und seine Weissagungen sind für nachmalige Reorganisation
der jüdischen Gemeinde von entscheidender Bedeutung ge-
worden. Mittlerweile hatten sich die politischen Verhältnisse
Babyloniens geändert; die Dynastie Nebukadnezars war mit
dem dritten seiner schwächlichen Nachfolger gestürzt worden,
und ein Emporkömmling, Nahunähid, hatte als letzter König der
Babylonier den Thron bestiegen (oben S. 42). Während seiner
Regierung eroberte Kyros II., König der Perser, in rascher
Folge Medien (550), Lydien (546) und machte 538 dem Neu-
babylonischen Reiche ein Ende. In diese bewegte Zeit fallen
die Weissagungen des zweiten Jesaia (Jes. 40 — 66). Er sieht
in Kyros einen Messias (meshmch JaJiveh, Jes. 45,1), der von
Gott berufen ist, sein Volk freizulassen, dafs sie in ihre Hei-
mat zurückziehen und ein herrliches Reich der Zukunft gründen
mögen. Die Ereignisse gaben ihm recht. Kyros liefs durch
seinen Feldherrn Babylon erobern und erlaubte zwei Jahre
darauf (536) den Juden, nach Palästina zurückzukehren. Auch
die von Nebukadnezar geraubten Tempelschätze soll er zurück-
erstattet und die Heimkehrenden auf manche Weise unter-
stützt haben. Vielleicht dachte er, durch diese Mafsregel im
fernen Westen eine ihm treuergebene Bevölkerung zu ge-
winnen, welche ihm, namentlich im Hinblick auf eine mög-
liche Eroberung Ägyptens, wertvolle Dienste leisten konnte.
Nicht alle Juden machten von der Erlaubnis zurückzukehren
Gebrauch, und viele der (nach biblischer Angabe 42360) in
die verwüstete Heimat Zurückwandernden fühlten sich ent-
täuscht. Auch dem Wiederaufbau des Tempels stellten sich
manche Hindernisse entgegen; erst unter der Regierung des
Darius wurde er auf Betreiben der Propheten Haggai und
Sacharja unter Leitung des Davididen Serubabel und des Josua,
welcher als erster die Würde eines Hohenpriesters bekleidete,
im Jahre 516 vollendet. Ein neuer Zuzug von 1500 Juden
aus Babylonien erfolgte unter Führung des Priesters Esra 458;
seine Bestrebungen, die Gemeinde zu reorganisieren, fanden
eine kräftige Stütze, als 444 Nehemia, ein Mundschenk und
Günstling des Artaxerxes L- Longimanus, als von diesem er-
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii. 7
98 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
nannter Statthalter in Jerusalem eintraf und die Mauern der
Stadt wiederherstellte. Esra und Nehemia proklamierten in
feierlicher Sitzung vor allem Volke das Gesetzbuch, welches
nach wahrscheinlicher Annahme im Leviticus (dem 3. Buche
Mose) noch heute vorliegt und mit dem eine neue Ära in der
Geschichte des jüdischen Volkes anhebt.
4. Die historischen Schriften des Alten Testaments.
Der .althebräische Monotheismus ist durch seinen Über-
gang in das Christentum auf die ganze europäische Kultur
und nicht am wenigsten auf die philosophische Entwicklung
in Mittelalter und Neuzeit bis auf die Gegenwart hin von so
tiefgehendem Einflufs geworden, dafs es zum bessern Ver-
ständnis dieses Einflusses im Guten wie im Schlimmen geboten
erscheint, sich von der ersten Genesis dieses Dogmas sowie
über Wert und Unwert desselben an der Hand der Urkunden,
soweit dies möglich ist, Rechenschaft abzulegen. Z)i diesem
Zwecke müssen wir einen Überblick über die Entstehungs-
geschichte der historischen Bücher des Alten Testaments vor-
ausschicken, wie sie sich nach den Forschungen der letzten
Jahrzehnte als wahrscheinlichstes Resultat ergeben hat. Den
Kern der historischen Bücher bildet die zweimalige Kodifikation
des mosaischen Gesetzes im Leviticus und im Deuteronomium.
Dem entspricht es, dafs zweimal ein theokratisches Gesetz feier-
hch proklamiert und das ganze Volk auf dasselbe verpflichtet
worden ist, das eine Mal unter König Josia, 621, das andere Mal
unter Esra und Nehemia im Jahre 444. Dafs das Gesetzbuch
des Josia mit dem Hauptinhalt des uns heute vorliegenden
Deuteronomium, welches die Beseitigung der Bilder und die
Zentralisation des Kultus fordert, identisch ist, dürfte heute
wohl in den Kreisen unbefangener Forscher kaum noch einem
Widerspruch begegnen. Anders steht es mit dem Leviticus ; er
schreibt in minutiöser Ausführung die Einzelheiten des Opfer-
kultus, die Funktionen der Priester, die ihnen zustehenden Spor-
tein usw. vor und setzt dabei, im Gegensatz zum Deuteronomium
und seinem Königsgesetz (17,14 — 20) das Bestehen eines natio-
nalen Königtums nicht voraus, daher man früher seine Ent-
stehung in' das Vorleben des Volkes in der Wüste verlegte.
4. Die historischen Schriften des Alten Testaments. 99
Bedenkt man jedoch, dafs zu einem solchen Vorleben die vom
Leviticus bis ins kleine und kleinste aufgeführten Vorschriften
über den Kultus, die Funktionen der Priester und ihre Einkünfte
ebensowenig passen, wie sie bei Proklamation des Gesetzes
des zweiten Tempels durch Esra durchaus der damaligen
Situation entsprachen, dafs ferner das in feierlicher Weise
von Esra eingeführte Gesetzbuch ebenso wie das frühere des
Josia als die beiden wichtigsten Urkunden der hebräischen
Geschichte doch, wenn irgend etwas, hterarisch aufbewahrt
zu werden verdienten und somit im Corpus des althebräischen
Schrifttums ihre Aufnahme finden mufsten, so kommt man
zu dem höchstwahrscheinlichen Schlüsse, dafs der Leviticus
nebst den angrenzenden Kapiteln von Exodus und Numeri im
Vergleich mit dem Deuteronomium nicht ein früheres Gesetz-
buch, sondern vielmehr das spätere, durch Esra proklamierte
ist, und dafs dieses Gesetzbuch das Königtum und den natio-
nalen Staat nicht darum nicht kennt, weil sie noch nicht,
sondern vielmehr, weil sie nach der Rückkehr aus dem Exil
nicht mehr bestanden. Wird dieses zugestanden, so haben
wir uns die Entstehung der historischen Bücher des Alten
Testaments gemäfs dem Resultat vielfacher Bemühungen ver-
dienter Kritiker etwa wie folgt vorzustellen.
I. Die ältesten Stücke im alttestamentlichen Schriftkanon
sind gewisse alte Lieder, wie das der Debora (Rieht. 5), ferner
fragmentarische Erzählungen, wie die von Gideon und Abi-
melech, Saul und David, sowie annalistische Aufzeichnungen
im Reiche Israel und Juda, wozu noch manche volkstümliche
Erzählungen, Parabeln, Legenden und Sagen kommen.
IL Daneben bestand ein kurzes Gesetzbuch, das so-
genannte „Buch des Bundes", welches jedoch nicht mehr als
2. Mos. 20,23—23,30, nach andern nur Kap. 34 befafste.
ni. Etwa um 850 a. C. bearbeitete ein aus dem Reiche
Juda stammender Schriftsteller, der sogenannte Jahvist, die
Sagengeschichte seines Volkes von 1. Mos. 2,4 an bis mög-
licherweise in die Königszeit hinein in naiver volkstümhcher
Weise.
IV. Hundert Jahre später wurde der gleiche Stoff von
einem dem Nordreiche angehörigen Verfasser in Anlehnung
XOO IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
an die Darstellung des Jahvisten, aber mehr von priesterlichem
Gesichtspunkte aus behandelt. Es ist derjenige, welcher früher
als der jüngere E lohist bezeichnet wurde, während er in
Wahrheit der ältere der beiden Schriftsteller ist, deren Dar-
stellung durch den Gebrauch des Gottesnamens Elohim sich
vom Jahvisten unterscheidet'.
V. Unter König Josia wird 621 a. C. das Bundesbuch
proklamiert, welches in unserm Deuteronomium Kap. 12 — 26
vorliegt. Dasselbe setzt Kap. 17,14 — 20 das Bestehen des König-
tums voraus.
VI. Inzwischen waren noch vor dem Exil oder in dem-
selben die Werke des Jahvisten (III) und Elohisten (IV) zu
einem Ganzen mit mancherlei neuen Zutaten von einem Ver-
fasser verarbeitet worden, den man im Gegensatz zu seinen
Vorlagen als den Jehovisten zu bezeichnen pflegt.
. VII. Das deuteronomische Geschichtswerk. Alle
von I — VI genannten Vorlagen wurden während der zweiten
Hälfte des Exils und nach demselben zu einem umfassenden
Geschichtswerke verschmolzen, welches die Ereignisse von der
Weltschöpfung bis zum Ende der Königszeit mit dem Gesetz-
buch des Josia zu einem Ganzen verwob, die Chronologie
nach einem künstlichen Schema gestaltete, im allgemeinen
die alten Quellen wörtlich herübernahm, aber dabei den Ge-
danken der Propheten, dafs alle Unglücksfälle des Volkes
eine Folge seiner Untreue gegen Jahve seien, selbständig
überall hervorhob und an den Ereignissen exemplifizierte.
VIII. Der Priesterkodex. Unter Esra und Nehemia
wird im Jahre 444 das Gesetzbuch des zweiten Tempels prokla-
miert, welches uns (von den Einschiebungen abgesehen) von
Exodus 25 an bis Numeri 10 hin vorliegt, und dessen Kern,
der Leviticus, nicht mehr ein Bestehen des Königtums, son-
dern nur eine organisierte Priesterherrschaft kennt.
IX. Das priesterliche Geschichtswerk (früher als
der ältere Elohist bezeichnet) umfafste eine wesentlich zur
Erläuterung des Priesterkodex verfafste Geschichtsdarstellung,
welche von Gen. 1 bis zum Schlüsse des Buches Josua reichte
und, was den Inhalt der Erzählungen betrifft, völlig vom deu-
teronomischen Geschichtswerk abhängig war.
4. Die historischen Schriften des Alten Testaments.
101
X. Als eine Fortsetzung dieses Werkes und im g-leichen
priesterlich-theokratischen Sinne sind die Bücher der Chronika
nach 300 a. C. verfafst worden, welche die Geschichte von
Davids Regierung bis zum Ausgang des Exils in völliger Ab-
hängigkeit vom deuteronomischen Geschichtswerk (VIT) be-
handeln und in den Büchern Esra und Nehemia eine in gleichem
Sinne gehaltene Fortsetzung erfuhren.
XL Während alle von I — IX genannten Werke als solche
nicht mehr vorhanden sind, besitzen wir in unsern Büchern
Mose, Josua, Richter, Samuelis und der Könige eine umfassende
Ineinanderarbeitung des priesterlichen Geschichtswerkes (IX)
mit dem deuteronomischen Geschichtswerk (VII) in der Art,
dafs das erste Werk den Rahmen darbietet, in welchen die
ausführlichen und mehr volkstümlich gehaltenen Erzählungen
des letztern eingebaut und eingewoben sind.
Folgende Übersicht mag dienen, die von den namhaftesten
Forschern vertretene Ansicht, der auch wir uns angeschlossen
haben, über die Entstehung der historischen Bücher des Alten
Testaments dem Leser gegenwärtig zu halten.
I.'Lieder, Sagen, Erzählungen und
annalistische Aufzeichnungen
IL Ein kurzes Gesetzbuch (Exod. 20,23
bis 23,30)
III. Der Jahvist (um 850 a. C.) ■> VI. Der
IV. Der jüngere Elohist (um 750 a. C.)J Jehovisf
V. Das Bundesbuch (unter Josia 621
a. C.)
VIII. Der Priesterkodex (Gesetzbuch des
zweiten Tempels 444 a. C.)
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1Q2 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
5. Die Genesis des alttestamentlichen Monotheismus.
Erwägt man einerseits die enge Verwandtschaft der Hebräer
mit den übrigen semitischen Stämmen in Sprache, Kultur und
religiösen Anschauungen, und bedenkt man andererseits das
zähe Festhalten des israelitischen Volkes an polytheistischen
Vorstellungen, welche, ungeachtet des Eiferns der Propheten
und der zu ihnen haltenden Könige, bis in die Zeit des Exils
hinein nicht nur in Igrael, sondern auch in Juda sich lebendig
erhielten, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dafs die oben
charakterisierte polytheistische Eeligionsanschauung der Se-
miten ursprünglich auch von den Hebräern geteilt wurde und
erst nach schweren Kämpfen durch den von Priestern und Pro-
pheten vertretenen Monotheismus zurückgedrängt und schliefs-
lich ganz verdrängt wurde. Wie alle andern Semiten huldigten
ursprünglich auch die Hebräer dem Kultus dämonischer Mächte,
welche teils schädigend, teils fördernd in das Leben des Ein-
zelnen wie des ganzen Stammes eingriffen, blickten verehrend
zu Sonne, Mond und Sternen empor und hatten eine un-
bestimmte Vorstellung von einem Herrn (Ba^al) des Himmels
und der Welt. Wie jeder der in der Wüste nomadisierenden
Beduinenstämme liatten auch die Hebräer neben den allgemein
verehrten Mächten einen besondern Schutzgott ihres Stammes,
der sie in Kämpfen anführte, in Gefahren schützte, und dem
sie sich gleichsam als einem unsichtbaren Stammkönige zu
Treue und Gehorsam verpflichtet fühlten. Als diesen speziellen
Gott ihres Stammes verehrten die Ammoniter ihren Milkom,
die Moabiter den Kamos, die Hebräer den Jalive. Der Gott
des eigenen Stammes verhielt sich zu den Schutzgöttern an-
derer Stämme wie der König des eigenen Landes zu fremden
Königen, deren Existenz und Macht zu wirken man nicht be-
zweifelte, namentlich wo sie in feindlichen Gegensatz zum
eigenen Stammgott traten, die jedoch auf Verehrung keinen
Anspruch hatten. Dieses Verhältnis des Stammes zu seinem
eigenen Schutzgott und zu dem anderer Stämme hat eine
überraschende Hlustration erfahren durch ein in seiner Art
einzig dastehendes Denkmal, die Inschrift, durch welche kurz
nach 900 a. C. Mesa, der Konig der Moabiter, seine Taten
der Nachwelt verkündete.
5. Die Genesis des alttestamentlichen Monotheismus. 103
Die erste Kunde von dieser jetzt im Louvre zu Paris be-
findlichen Stele des Mesa gelangte an das französische Kon-
sulat in Jerusalem im Jahre 1869. Man meldete, dafs in der
alten Moabiterstadt Bihon (jetzt Dhibän) östlich vom Toten
Meere und nördlich vom Arnon ein Stein mit Inschriften sich
befinde. Man erlangte davon zunächst einen infolge des
Widerstandes der Bewohner nicht ganz gelungenen und zer-
knitterten Papierabdruck und erkannte alsbald, dafs hier ein
durch sein Alter bei der Seltenheit altpalästinensischer In-
schriften unschätzbares Monument vorliege, und suchte den
Stein zu erlangen. Die Beduinen aber, sei es aus aber-
gläubischen Vorstellungen von der Zauberkraft dieses Steines,
sei es, weil sie Gold in demselben vermuteten, zertrümmerten
den Denkstein, indem sie ihn erhitzten und dann mit kaltem
Wasser begossen, und teilten unter sich die Trümmer, Nur
mit Mühe gelang es, die Hauptstücke wiederzugewinnen und
mit Hilfe des vorher genommenen Papierabdrucks die Inschrift
im wesentlichen vollständig wiederherzustellen.
Auf dieser Inschrift erzählt König Mesa in Schriftzügen,
welche den altphönildschen aufs nächste verwandt sind, und
in einer Sprache, welche mit der des Alten Testaments fast
identisch ist^ von seinen Kriegen mit Israel, von seinen Bauten
und Strafsenanlagen , und erklärt alle seine Erfolge aus der
Gnade, alle Mifserfolge aus einem Zürnen des Stammgottes
der Moabiter, Kamos oder, wie er in Verbindung mit einem
zweiten Idol auch heilst, 'Astar-Kamos, gegen sein Volk. Einige
Proben nach der französischen Übersetzung von Ganneau,
revidiert von Renan und verbessert durch Smend und Socin,
mögen dies erläutern.
„Ich bin Mesa, Sohn des Kamos, König von Moab, aus
Dibon . . . Und ich habe diesen Altar für Kamos errichtet,
weil er mich von allen meinen Feinden errettet und mir
vergönnt hat, alle meine Gegner zu verachten, Omri war
König in Israel* und bedrückte Moab lange Zeit, denn
Kamos zürnte seinem Lande. Ihm folgte sein Sohn** und
sagte: Auch ich werde Moab bedrücken, es unterjochen
^ * Vgl. oben S. 91.
** Aliab.
104 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
und es mitsamt seinem Königshause demütigen. Aber Israel
wurde zugrunde gerichtet auf immer. Omri hatte sich des
Landes Medeba bemächtigt und besafs es, er und sein
Sohn . . . aber Kamos hat ihn in meiner Zeit zugrunde ge-
richtet . . . Der König von Israel hatte für den Stamm Gad
die Stadt Ataroth* erbaut. Ich griff sie an, eroberte sie
und tötete alle Einwohner zur Augenweide für Kamos und
Moab**, und entführte von dort die Altaraufsätze seines
Lieblingsgottes {dödöj und schleifte sie im Staube vor dem
Angesichte des Kamos zu Querioth***. . . Und Kamos sprach
zu mir: Geh und entreifse Nebahf dem Volke Israel. Ich
zog aus in der Nacht und bestürmte die Stadt von der
Morgenröte bis zum Mittag; ich nahm sie ein und tötete
alle, siebentausend, Männer und Knaben, Weiber, Mädchen
und Sklavinnen, denn 'Astar und Kamos waren sie zur Ver-
nichtung geweiht. Auch die dem Jahve geweihten Altar-
aufsätze entführte ich von dort und schleifte sie vor dem
Angesichte des Kamos. Auch die Stadt Jahaz^ff hatte der
König von Israel gebaut und lag darin, als er wider mich
stritt. Aber Kamos vertrieb ihn vor mir. Ich erwählte aus
Moab zweihundert Mann, führte sie hinauf gen Jahaz, er-
oberte die Stadt und fügte sie zu Dibon . . ." (I^'olgen seine
Bauten) . . . „Und Kamos befahl mir : Ziehe hinab und
.kämpfe gegen Horonaim'f'ft • • • Kamos, in meinen Tagen
brachte es zurück ..." (Der Rest der Inschrift ist ver-
stümmelt.)
Ein Vergleich dieser moabitischen Inschrift mit den ent-
sprechenden Stellen des Alten Testaments zeigt zwischen
beiden eine weitgehende Analogie. Hier wie dort handelt es
sich um den speziellen Stammgott eines semitischen Volks-
stammes, welcher bei den Moabitern Kamos, bei den Hebräern
* Nordwestlich von Dibon.
** Vgl. 1. Sam. 15,33: ,,Also zerhieb Samuel den Agag zu Stücken vor
Jahve in Gilgal."
*** Südlich von Ataroth. Vgl. die Parallele 2. Kön. 23,13.
t An der Nordgrenze von Moab.
tt Unweit Hesbon.
ttt Wahrscheinlich im Süden von Moab an der Grenze vonEdom gelegen.
5. Die Genesis des alttestamentlichen Monotheismus. 105
Jahve heilst. Hier wie dort pflegen kriegerische Expeditionen
auf Befehl des Stammgottes unternommen zu werden, jeder
Mifserfolg wird aus einem Zürnep desselben gegen sein Volk,
jeder Sieg aus seiner gnädigen Stimmung erklärt. Neben dem
Stammgott stehen in zweiter Linie noch andere Gottheiten,
welche Verehrung beanspruchen ; so in der Inschrift des Mesa
neben dem Kamos der oder die 'Astar, wahrscheinlich mit ihm
dasselbe Heiligtum teilend, und ebenso hat Jahve noch zu
Zeiten des Königs Josia den Tempel zu Jerusalem mit Ba'al,
Asera (hier = ''Asthoreth) und dem ganzen Heer des Himmels
gemeinsam. Aus diesem allen semitischen Stämmen ursprüng-
lich eigenen Polytheismus hat sich bei den Hebräern erst
nach und nach unter schweren Kämpfen der Monotheismus
entwickelt, welcher für die abendländische Welt so folgenreich
geworden ist. Diese Entwicldung werden wir uns so vorzu-
stellen haben, dafs aus dem Polytheismus zunächst her-
vorging eine Phase, welche man füglich als Protolatrismus
bezeichnen kann: in dem Mafse, wie dasjenige, was andere
Stämme vergebens erstrebten, den Hebräern gelungen war,
dafs sie das Heilige Land unter Führung des Jahve eroberten,
mufste das Ansehen dieses Stammgottes das der übrigen
Götter übersteigen, ohne dafs man an deren Existenz und
Macht zu wirken gezweifelt hätte. Denn wenn Salomo seinen
ausländischen Weibern zuliebe der 'Asthoreth, dem Milkom
und dem Kamos südöstlich von Jerusalem Altäre errichtete,
wenn Ahab neben dem (wie die Namen seiner Kinder Ahasja,
Joram, Athalja beweisen) von ihm verehrten Jahve auch den
Ba'alskultus begünstigte, wenn noch bis in die letzten Zeiten
des Königtums hinein neben Jahve eine ganze Reihe anderer
Gottheiten unter den Hebräern ihre Verehrer fanden, so ist
nicht zu bezweifeln, dafs diese Verehrer und somit mindestens
ein Teil des hebräischen Volkes alle diese Götter für ebenso
real, wenn auch nicht für ebenso mächtig hielten wie den
Nationalgott Jahve. Ihnen gegenüber stand eine andere
Partei, welche allen jenen andern Gottheiten, ohne noch ihre
Existenz zu bezweifeln, das Recht bestritt, von den Hebräern
verehrt zu werden; der Protolatrismus wurde zum Mono-
latrismus; Jahve verlangte: „Du sollst keine andern Götter
106 IV- Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
haben neben mir". Ein weiterer und letzter. Schritt führte
dann vom Monolatrismus zum Monotheismus, welcher darin
bestand, dafs man allen Göttern aufser Jahve, nachdem man
ihnen das Recht auf Verehrung abgesprochen hatte, endlich
sogar die Existenz absprach und sie für blofse Gebilde aus
Stein, Metall oder Holz erklärte, wie dies in krasser Weise
namentlich Jes. 44,13 fg. bei Schilderung des Götterbild-
schnitzers ausgeführt wird: „Er zimmert Holz, und misset es
mit der Schnur, und zeichnet es mit Rötelstein, und behauet
es, und zirkelt es ab, und macht es wie ein Mannsbild, wie
einen schönen Menschen, der im Hause wohne. Er gehet
frisch daran unter den Bäumen im Walde, dafs er Zedern
abhaue und nehme Buchen und Eichen; ja, eine Zeder, die
gepflanzet, und die vom Regen erwachsen ist, und die den
Leuten Feuerung gibt; davon man nimmt, dafs man sich dabei
wärme, und die man anzündet und Brot dabei backet. Daselbst
macht er einen Gott von, und betet es an; er macht einen
Götzen daraus, und knieet davor nieder. Einen Teil verbrennt
er im Feuer, und über einem andern isset er Fleisch, er bratet
einen Braten und sättigt sich, wärmt sich auch und spricht:
Hoja! ich bin warm geworden, ich sehe meine Lust am Feuer.
Aber das Übrige macht er zum Gott, dafs es sein Götze sei,
davor er knieet, und niederfället, und. betet, und spricht:
Errette mich; denn du bist mein Gott!"
Wer zu der Überzeugung gelangt war, dafs Jahve, der
Stammgott Israels, der einzige und allein reale Gott war, für
den war es eine einfache Konsequenz, dafs Gott von Anfang
an unter allen Völkern Israel erwählt, dafs er sich diesem
Volke und schon dessen Stammvater als den allein wahren
Gott offenbart habe, dafs mithin der monotheistische Gottes-
glaube auf Abraham, wenn nicht gar bis auf Adam zurück-
zuführen sei.
Hingegen sprechen folgende Gründe, um sie hier noch-
mals zusammenzufassen, dafür, dafs auch bei den Hebräern
der Monotheismus sich erst im Laufe der Zeit aus einem ur-
sprünglichen Polytheismus entwickelt habe.
1. Bei allen Völkern, die wir kennen, ist die ursprüngliche
Religionsanschauung der Polytheismus. Er entspringt daraus.
5. Die Genesis des alltestamentliclien Monotheismus. 107
dafs der Mensch die ihn umgebenden Naturkräfte und Natur-
erscheinungen personifizierte, indem er, von sich selbst auf
die Aufsenwelt schhefsend,, dem Feuer, Wind, Gewitter, der
Sonne, dem Monde und dem Sternenhimmel einen Willen
und schliefslich, teils aus poetischen, teils aus praktischen
Motiven, eine Persönlichkeit beilegte, zu der man reden
konnte, die man durch Geschenke und Schmeicheleien günstig
zu stimmen hoffte. Indem man aber das tief in der mensch-
lichen Natur liegende Gesetz, das Gute zu tun, das Böse zu
meiden, als ein Gebot jener erdichteten übermenschlichen
Wesen ansah, drängte namentlich diese moralische Erwägung zu
einer monistischen Auffassung, sei es dafs man, wie in Indien,
durch die bunte Vielheit der Götterwesen die ihnen zugrunde
liegende Einheit ergriff, oder, wie in Ägypten, die Lokalgötter
der verscliiedenen Gaue in mechanischer Weise identifizierte,
oder, wie in Griechenland, den Zeus über alle Götter hinaus-
hob und schliefslich als den einzigen Gott festhielt. Mögen
hierbei neben den moralischen auch metaphysische Motive
mitgewirkt haben, überall ist der Monotheismus nicht das
Ursprüngliche, sondern das Produkt einer gereiften Reflexion.
2. Auch bei den semitischen Stämmen, den Arabern im
Süden, den Babyloniern und Assyrern im Osten, den Syrern
und Kanaanäern im Westen, finden wir, wie früher gezeigt
wurde, als ursprüngliche Religionsform, sov/eit eine, solche
sich ermitteln läfst, den Polytheismus, und die vollkomm.ene
Analogie der Hebräer mit allen andern Semiten in Sprache,
Sitte und Kultur legt den Schlufs nahe, dafs auch ihre reli-
giösen Anschauungen ursprünglich dieselben gewesen sind
wie die ihrer semitischen Bruderstämme.
3. Obgleich die alttestamentlichen Schriften sämtlich vom
monotheistischen Standpunkte aus geschrieben oder über-
arbeitet worden sind, so lassen sich doch in ihnen zahlreiche
Spuren eines ursprünglichen, erst nach und nach durch eine
höhere Religionsanschauung verdrängten Polytheismus erkennen,
welcher in den historischen und poetischen Schriften des Alten
Bundes für sündhafte Abtrü»nigkeit von dem einen, wahren
Gott erklärt wird. Es ist aber nach allen Gesetzen historischer
Entwicklung unvergleichlich wahrscheinlicher, die Beharrlich-
108 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
keit des hebräischen Volkes in der Verehrung anderer Götter
neben Jahve bis in die letzten Zeiten des Königtums hinein
als ein zähes Festhalten am Ursprünglichen und nicht
als einen immer wieder erneuten Abfall vom Ursprüng-
lichen zu erklären, und es ist psychologisch nicht wohl zu
begreifen, warum die Hebräer von ihrem Stammgott, welcher
sie geführt und, im Vergleich mit dem Schicksal anderer
Semitenstämme, gut geführt hatte, immer wieder und wieder
zum Kulte fremdländischer Götter abgeirrt sein sollten.
Schwieriger ist die Beantwortung der Frage, zu welcher
Zeit des nationalen Lebens und auf Grund welcher Einwirkungen
bei den Hebräern der ursprüngliche Polytheismus durch die
Zwischenstufen des Protolatrismus und Monolatrismus sich
zum Monotheismus fortentwickelt hat. Die Annahme, dafs
schon Abraham, der durchaus mythische Stammvater des
hebräischen Volkes, oder Mose, der kaum weniger mythische
Heros der Gesetzgebung, den Monotheismus begründet hätten,
wird sich angesichts des späten Ursprungs von Deuterono-
mium und Leviticus nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Sie
beruht auf einer Projektion späterer Vorstellungen in die
Sagengeschichte des Volkes, wie eine solche sich nicht selten
auch bei andern Völkern findet.
Wir werden aber wohl nicht irre gehen, wenn wir als
die wichtigsten Beförderer und Träger des monotheistischen
Gedankens die Propheten bezeichnen, welche, seitdem Sa-
muel die Prophetenschulen als Gegengewicht gegen das ihm
unerwünschte Königtum gegründet hatte, ein einflufsreicher
Faktor im israelitischen Volksleben geworden sind. Erkenn-
bar durch ihre Tracht, am langen Mantel und ledernen Gürtel,
lebten diese Propheten vielfach an Orten wie Ramah, Bethel,
Jericho zusammen, durchzogen einzeln oder in Scharen das
Land, begleiteten ihre Vorträge auf Märkten und Strafsen mit
Musik und seltsamen, oft närrischen Gebärden und waren ge-
übt in der allen Menschen gemeinsamen Gabe, aus den in
der Gegenwart liegenden Anzeichen die nächste Zukunft zu
verkünden, daher sie vom Volke für V^ahrsager gehalten
wurden, bei denen man sich Auskunft über den Verbleib ver-
lorener Eselinnen und dergleichen einholen zu können glaubte.
5. Die Genesis dos alttestamentliclien Monotheismus. 109
Im Gegensatz zu den durch ihr Zeremoniell gebundenen
Priestern und den durch ihr Amt beengten Staatsbeamten
nahmen sie dem öffentlichen Leben gegenüber eine freiere
Stellung ein, traten ohne Scheu vor" Gefahren den Königen
wie dem Volke entgegen, um beiden die Wahrheit zu sagen,
das Gewissen zu schärfen und die Folgen ihrer Handlungen
vorzuhalten, und gerade diese innere Freiheit machte es mög-
lich, dafs in ihrer Mitte die edelsten religiösen Gedanken auf-
keimten und durch ihre Predigt Verbreitung fanden. Das
Institut der Propheten war nicht auf die Jahvereligion be-
schränkt; wir hören auch von Propheten des Ba'al, der
Asthoreth, von Lügenpropheten; aber ihnen gegenüber waren
es die Propheten des Jahve, welche die polytheistischen
Neigungen der Könige wie des Volkes bekämpften und auf
die alleinige Verehrung des Nationalgottes Jahve drangen,
dessen Existenz als des allein wahren Gottes sie, wie die
Volkssage von Elias und Elisa berichtete, durch Wunderwerke
zu erweisen wufsten. Die Wundertaten des Elias, die sich
dann bei seinem Schüler Elisa wiederholen, und sein Kampf
gegen die Ba'alspriester sind uns nur in der Form überliefert,
welche sie in der dichtenden Volkssage angenommen haben.
Bestimmter wissen wir von Elisa, dafs er den mörderischen
Jehu anstiftete, von seinem Könige treulos abzufallen, und
dieser Jehu war es, welcher nach Ermordung der beiden
Könige von Israel und Juda den Ba'alskult in Israel aus-
rottete, indem er sämtliche Baalspriester, unter dem heuch-
lerischen Vorwand, ihnen ein Fest zu geben, zusammenlud
und niedermachen liefs. Einige Jahre darauf wurde auch in
Juda unter dem kindhchen, vom Oberpriester Jojada geleiteten
Könige Joas der Tempel des Ba'al in Jerusalem zerstört und
der ihm vorstehende Priester getötet. So war etwa um das
Jahr 850 a. C. dem Kultus des Ba'al, als des gefährlichsteh
Rivalen Jahves, in beiden Reichen ein gewaltsames Ende be-
reitet. Aber trotz dieser Verfolgung durch die Priesterpartei
und trotz dem Eifern der Propheten hielt das Volk nach wie
vor bis in die letzten Zeiten des Königtums an den ererbten
polytheistischen Neigungen fest, und je nachdem die Könige,
wie Hiskia und Josia, zur Jahvepartei hielten oder, wie
1X0 ^^- I^iß Hebräer bis zum babylonischen Exil.
Manasse und andere, es geratener fanden, sich auf die Volks-
partei und ihren Kultus anderer Götter zu stützen, wurden
von der einen wie von der andern Seite die Gegner verfolgt,
und so finden wir noch unter Josia, dreifsig Jahre vor dem
Untergang des Reiches, Ba'al, 'Asthoreth und andere Götter
im Besitze von Altären neben dem des Jahve im Tempel von
Jerusalem (vgl. namentlich 2. Kön. 23,4 — 20 und Zephanja
1,4-6).
Inzwischen hatte sich das für die alleinige Verehrung des
Nationalgottes Jahve eintretende Prophetentum mächtig ent-
wickelt und war seit 800 a. C. in Amos, Hosea und Jesaia
dazu fortgeschritten, die Strafpredigten gegen König und Volk
schriftlich aufzuzeichnen, so dafs die Gedanken dieser spätem
schriftstellernden Propheten von Amos an bis zu Maleachi hin
uns noch heute erhalten sind und ■ ein urkundliches Zeugnis
über ihre Religionsanschauung gewähren. Während das Volk
und die meisten Könige an dem Kultus der Idole festhielten
und darin durch die Berührung mit den Nachbarstämmen
immer wieder gestärkt wurden, war es für die Propheten,
von den ältesten an, eine ausgemachte Sache, dafs Jahve der
allein wahre Gott sei, dafs er den Himmel und die Erde er-
schaffen habe, dafs er unter allen Völkern Israel zum Eigen-
tum erwählt und von Anfang an ihm sich offenbart habe, und
dafs alles Buhlen um die Gunst anderer Götter nur ein Treu-
bruch an Jahve sei und durch das Unglück geahndet würde,
welches er über sein Volk verhängte. Dies ist die feststehende
Überzeugung bei allen Propheten, und im Sinne dieser An-
schauungen ist auch in den historischen Büchern die Sagen-
geschichte des Volkes bearbeitet worden.
So lange die Hebräer noch andere Götter neben Jahve
verehrten, so lange dieser für sie nur. tmus inter pares oder
primus inter pares war, mochte es angehen, wie die übrigen
Götter auch Jahve durch ein sichtbares Sinnbild sich zu ver-
gegenwärtigen, sei es dafs man die von den Kanaanäern über-
nommenen Kultusstätten auf den Höhen (hämäh) mit ihren
Steinsäulen fmazsebähj und heiligen Bäumen oder Pfosten
fascherähj auf Jahve übertrug, sei es dafs man nach der
Trennung Israels von Juda im Nordreiche die, zum Ersätze für
5. Die Genesis des alttestamentlicheii Monotlieisnius. m
den Tempel, von Jerobeam in Bethel und Dan errichteten
Stierbilder als Sj'mbole Jalives verehrte, oder geradezu, wie
Gideon (Rieht. 8,27) und Micha (Rieht. 17,5), einen Ephod,
d. h. ein hölzernes oder tönernes, mit Gold oder Silber über-
zogenes Götterbild Jahves verfertigte und zur öffentlichen oder
häuslichen Verehrung aufstellte. Alle Versuche dieser Art,
sich die unmittelbare Gegenwart der Gottheit durch ein ihr
geweihtes Bildnis zu veranschaulichen, wurden, so sehr auch
das Volk daran hängen mochte, von der Prophetenpartei durch-
aus verworfen und bekämpft. Der Gott, welcher Himmel und
Erde gemacht hatte, durfte nicht durclv ein sichtbares Sinn-
bild in die gemeine Wirklichkeit herabgezogen und mit den
Göttern der umwohnenden Völker in eine Reihe gestellt werden,
zumal das Volk immer in Gefahr ist, den symbolischen Cha-
rakter derartiger Ivultobjekte zu verkennen und das Sinnbild
für die Sache selbst zu nehmen. Daher trat in unserm, etwa
aus der Zeit des Josia stammenden und durchaus auf pro-
phetischen Einflüssen beruhenden Dekalog neben die erste
Forderung: „Du sollst keine andern Götter neben mir
haben", sogleich die zweite: „Du sollst dir kein Bildnis
noch irgend ein Gleichnis machen!"
Wie die Propheten vermöge ihrer freiem Stellung inner-
halb des israelitischen Gemeinwesens bei Volk und Königen
gegen Vielgötterei und Bilderdienst eiferten, so standen sie
auch der Priesterkaste, mit welcher sie diese Interessen ge-
meinsam hatten, in anderer Hinsicht reformierend gegenüber,
indem sie, durch keine Tradition gebunden und nur der Stimme
des Gottes, den sie in ihrem Innern zu vernehmen glaubten,
gehorchend, mit scharfer Predigt gegen die im toten Zeremoniell
erstarrende Veräufserlichung des Kultus eiferten und an seiner
Stelle auf moralische Reinheit, auf Gerechtigkeit und Menschen-
liebe drangen.
Schon bei Amos, dem ältesten der uns erhaltenen Pro-
pheten (um 760 a. C.), werden diese Forderungen mit aller
Strenge geltend gemacht. Er stammte aus Thekoa (zwei
Stunden südlich von Bethlehem), war, wie er selbst erzählt,
ein Rinderhirt und züchtete Maulbeerfeigen, aber „Jahve holte
ihn hinter der Herde weg", der Gott in ihm trieb ihn an, nach
112 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
Bethel zu gehen und dort in kräftigen, mannhaften Worten
den Bewohnern des Nordreiches ihre Sünden vorzuhalten und
die drohende Strafe zu verkünden, bis er auf Jerobeams Be-
fehl vom Oberpriester Amazja bedeutet wurde, nach Juda
zurückzul<:ehren , dort als Prophet aufzutreten und sich sein
Brot zu erwerben, aber Israel nicht weiter durch seine
Drohungen zu beunruhigen. Mit unverhohlener Verachtung redet
dieser Prophet über den veräuf serlichten Opferkultus und for-
dert statt dessen einen rechtschaffenen Wandel; Kap. 5,21 — 24:
„Ich hasse, ich verachte eure Feste und kann nicht erriechen
eure Festversammlungen. Wenn ihr mir Brandopfer und eure
Gaben darbringt, so nehme ich es nicht gnädig auf, und wenn
ihr mir ein Heilsopfer von euren Mastkälbern herrichtet, so
sehe ich nicht hin. Hinweg von mir mit dem Geplärre deiner
Lieder; das Rauschen deiner Harfen mag ich nicht hören!
Möge vielmehr Recht sprudeln wie Wasser, und Gerechtigkeit
wie ein nimmer versiegender Bach!" Kap. 8,4 — 6: „Höret dies,
die ihr den Armen unterdrücket, und die Elenden im Lande
verderbet, und sprechet: Wann will denn der Neumond ein
Ende haben, dafs wir Getreide verkaufen, und der Sabbat, dafs
wir Korn feil haben mögen und das Epha verkleinern, und
das Gewicht, [mit dem das gezahlte Geld gewogen wird] ver-
gröfsern und die Wage fälschen; auf dafs wir die Armen um
Geld und die Dürftigen um ein Paar Schuh unter uns bringen
und Spreu für Korn verkaufen?"
Weniger hoch stehen die Weissagungen des zweiten Pro-
pheten, dessen Schriften uns erhalten sind, des Hosea (740a. C.),
bei welchem wir nicht mehr der herben, markigen Strenge
des Amos, sondern mehr einer weichen, elegischen Stimmung
begegnen, die, wie^es scheint, durch schmerzliche Erfahrungen
in dem Familienleben des Propheten veranlafst war. An diese
anknüpfend schildert Hosea den Bund Gottes mit Israel unter
dem nicht sehr geschmackvollen Bilde einer Ehe, in welcher
das Weib (Israel) seinem Gatten (Jahve) untreu wird und sich
zu ihren Buhlen (den kanaanitischen Göttern) hält, welche
ihm „Brot und Wasser, Wolle und Flachs, Ol und Getränke
spenden". Doch ist es Hosea, bei welchem wir Kap. 6,6 das
grofse, auch von Jesu wiederholt zitierte Wort finden: „An
5. Die Geuesis des alttestamentlichen Monotheismus. 113
Liebe habe ich Wohlgefallen, nicht an Schlacht-
opfern" (sXsov ^£Aw, ou "i^uGcav, Matth. 9,13. 12,7).
Dem Arnos an Kraft der Sprache und Originalität der
Gedanken gleichkommend, aber an politischer Stellung und
Wirksamkeit ihn und alle andern Propheten übertreffend, lebte
als jüngerer Zeitgenosse der beiden vorher erwähnten Pro-
pheten zu Jerusalem Jesaia, dessen Tätigkeit etwa 740 — 701
unter den Königen Usia, Jotham, Ahas und Hiskia, nament-
lich unter dem letztgenannten, von grofsem Einflüsse auf das
Schicksal des kleinen, von der assyrischen Macht hart-
bedrängten Juda war. Nachdem Samaria 722 gefallen war,
ermahnte er, wie schon oben erwähnt wurde, den König und
das Volk, die assyrische Oberhoheit willig als eine von Jahve
verhängte Strafe zu ertragen, und als nach Sargons Tode
(705) Hiskia sich verleiten liefs, von Sanherib abzufallen, und
beim. Herannahen der Assyrer Hiskia und seine Ratgeber alles
verloren gaben, da ermahnte Jesaia, tapfer im Widerstände
auszuharren, sagte voraus, dafs Sanherib, ohne Jerusalem zu
erobern, in sein Land zurückkehren werde, und eine un-
erwartet im Heer der Assyrer eintretende Katastrophe liefs
ihn recht behalten (vgl. oben S. 93 — 94). Aber auch gegen die
Sünden des eigenen Volkes, gegen die Schlemmerei der Reichen,
die Bedrückung der Armen, die Putzsucht der Weiber eiferte
der Prophet und verlangte statt des äufserlichen Kultus Rein-
heit des Herzens und Aufrichtigkeit der Gesinnung. „Höret
des Herrn Wort, ihr Fürsten von Sodom," ruft er 1,10 fg. den
Grofsen der Hauptstadt zu, „nimm zu Ohren unsers Gottes
Gesetz, du Volk von Gomorrha! Was soll mir die Menge
eurer Opfer, spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer
von Widdern und des Fettes von den Gemästeten, und habe
keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke.
Wenn ihr hereinkommt zu erscheinen vor mir, wer fordert
solches von euren Händen, dafs ihr auf meinen Vorhof tretet?
Bringet nicht mehr Speisopfer so vergeblich. Das Räucher-
werk ist mir ein Greuel; Neumond und Sabbat, Ausrufen
von Festversammlung — ich mag nicht Gottlosigkeit mit Fest-
gedränge. Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahres-
festen; ich bin derselben überdrüssig, ich bin es müde zu
Deussbn, Geschicbte der Philosophie. II. ii. S
114 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
leiden. Und wenn ihr schon eure Hände ausbreitet, verberge
ich doch meine Augen von euch ; und ob ihr schon viel betet,
höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Bluts.
Waschet euch, reiniget euch, schaffet eure bösen Werke mir
aus den Augen, lasset ab vom Bösen. Lernet Gutes tun,
trachtet nach Recht, helfet dem unterdrückten, schaffet dem
Waisen Recht, und helfet der Witwen Sache."
In demselben Sinne ruft der Prophet Micha, ein jüngerer
Zeitgenosse des Jesaia, aus (6,6 — 8} : „Womit soll ich Jahve
entgegen kommen, mich beugen vor dem Gott der Höhe?
Soll ich mit Brandopfern vor ihm erscheinen, mit jährigen
Kälbern? Hat Jahve Gefallen an Tausenden von Widdern, an
unzähligen Bächen Öls? Soll ich meinen Erstgeborenen für
meine Sünde geben, meines Leibes Frucht als Sühne meiner
Seele? Es ist dir gesagt, o Mensch, was frommt, und
was Jahve, dein Gott, von dir fordert, Recht tun und
Liebe üben und demütig wandeln vor deinem Gott."
6. Vorzüge und Mäng^el des althebräischen Monotheismus.
Der ist nur ein grofses Kind, sagt Schopenhauer, wer
glauben kann, dafs jemals Wesen höherer Art zu den Menschen
herabgestiegen seien, um ihnen ihre Offenbarungen mitzuteilen.
Alle Offenbarungen, wo sie auch immer aufgetreten sein mögen,
sind Projektionen innerer Vorgänge nach aufsen hin. Damit
wird ihr Wert und ihre metaphysische Dignität nicht im
mindesten verkleinert. Denn unser eigenes Innere mit seinen
wundersamen Phänomenen, mit dem Bewufstsein der Freiheit,
der Verantwortlichkeit für unser Tun, der Stimme des Ge-
wissens, der Verurteilung schlechter Handlungen bei uns selbst
wie bei andern, dieses Innere mit seinem kategorischen Im-
perativ, der allen unsern individuellen Neigungen als ein
anderes, ein Höheres, gegenübertritt, ist der einzige Punkt in
der Natur, wo uns das Ding an sich und damit der Inbegriff
alles Göttlichen zum Bewufstsein kommt. Aus dieser Quelle
schöpften die Urheber der Upanishads, schöpfte Piaton, aus
dieser Quelle entspringen alle Offenbarungen, welche wir den
Propheten des Alten Testaments, welche wir einem Jesus und
Paulus verdanken. Das moralische Phänomen in uns ist das
6. Vorzüge und Mängel des althebräischen Monotheismus. 115
allein Reale an allen religiösen Vorstellungen, alle Religion ist
nur Auslegung des moralischen Bewufstseins. Aber
dieses moralische Phänomen wurzelt tiefer als die ganze Er-
scheinungswelt, weist über sie hinaus und fordert von uns,
durch Entselbstigung, durch Verleugnung unseres empirischen
Selbstes, unserer wahren, ewigen, göttlichen Wesenheit ent-
gegenzureifen. Der kategorische Imperativ, diese „himmlische
Stimme", wie Kant sagt, tritt so oft allen unsern individuellen
Neigungen entgegen, dafs wir in ihm die Stimme einer höhern
Macht zu vernehmen glauben. Es ist uns Menschen natür-
hch, unserm egoistischen, empirischen Ich unser eigenes meta-
physisches Ich als ein anderes gegenüberzustellen, den Gott
in uns als einen Gott aufs er uns zu betrachten. Hierdurch
tritt erst der Gegensatz des egoistischen, empirischen Ich und
des den Egoismus verleugnenden, metaphysischen Ich in voller
Schärfe aus einander, und das Gebot des Sittengesetzes ist
wirksamer, wenn wir uns dasselbe als den Ausflufs einer
uns objektiv gegenüberstehenden Macht vorstellen. Hierauf
beruht der unschätzbare Wert des Gottesbegriffes für das
praktische, sittliche Leben. Auch den polytheistischen Reli-
gionssystemen ist dieser Wert nicht abzusprechen. Aber wo
viele Götter sind, treten ihre Interessen leicht in Gegensatz
gegen einander: Qiva bekämpft den Vishnu, Zeus den Kronos,
Jahve den Ba'al. Das Sittengesetz aber kann, wegen seines
kategorischen Charakters, nicht als zwiespältig, sondern nur
als eines und mit sich einstimmig betrachtet werden. Daher
zeigt sich überall in dem Mafse, wie die Götter als Urheber
.und Hüter des Moralischen gefafst werden, ein Streben zum
Monismus, der nicht gerade Monotheismus zu sein braucht.
Wir sahen schon öfter, wie dieser Monismus in Indien durch
philosophisches Ergreifen der aller Vielheit zugrunde liegenden
Einheit, in Ägypten durch mechanische Identifikation, in
Griechenland durch Verblassen aller Göttergestalten neben der
des Zeus, in Palästina durch Kampf erreicht wurde, indem
allen andern Göttern zunächst das Recht auf Verehrung und
schliefslich die Existenz abgesprochen wurde, so dafs Jahve
in der vollen konkreten Lebendigkeit, die er in der Vorstellung
des Volkes hatte, als der einzige übrig blieb. Wir werden
1\ß IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
weiter unten zu zeigen haben, wie der israelitische Gottes-
begriff erst allmähhch von den Schlacken, die ihm anhafteten,
gereinigt wurde, aber in dem Mafse, wie dies geschah, wurde
er zur Personifikation der Moralität, wurde er zu dem absolut
Heiligen, welcher dieselbe Heiligkeit, deren Vorbild er war,
auch bei seinen Verehrern forderte: „Ihr sollt mir heilig
sein, denn ich, Jahve, bin heilig" (3. Mos. 20,26) und
„ich bin heilig, Jahve, der Euch heiligt" (3. Mos. .21,8),
wie es in dem sogenannten Heiligkeitsgesetze (3. Mos. 17 — 26)
heifst, dessen Abfassungszeit von der Kritik in die Periode
zwischen Ezechiel (Kap. 40—48) und dem Priesterkodex ver-
legt wird. Diese, auch von Jesu (Matth. 5,48) hervorgehobene
Auffassung Gottes als des Ideals aller Heiligkeit und Voll-
kommenheit, nicht in begrifflicher Abstraktion, sondern in der
lebensvollen Gestalt eines volkstümlichen Gottes, tritt in den
prophetischen und geschichtlichen Schriften des Alten Testa-
ments, je später um so mehr, hervor, ist der Erklärungsgrund
für den hohen, weihevollen Ernst, von welchem diese ganze
Literatur getragen wird, und auch heute und in aller fernem
Zukunft dürfen wir nicht hoffen, eine Form zu finden, in wel-
cher die moralische Pflicht, diese höchste Obliegenheit des
Menschen, uns tiefer ergriffe und kräftiger auf uns wirkte,
als indem wir sie uns als ein konkretes, lebendiges Wesen^
als einen persönlichen Gott gegenüberstellen. Mag der Philo-
soph daran Genüge finden, mit dem Sittengesetze, welches als
der Gott in seinem Busen lebt, seine eigene Unvollkommen-
heit in stiller Meditation zu messen, das Volk bedarf einer
ihm fafslichern Objektivation des Sittengesetzes in einem
persönlichen Gott, zu dem es reden, den es um Hilfe in seiner
sittlichen Schwachheit anrufen, mit dem nach dem Tode ver-
einigt zu werden es hoffen kann, und diese Stütze des sitt-
lichen Wandels, dieser Trost im Leben und Sterben, darf und
soll ihm nicht geraubt werden.
Um so schmerzlicher ist es für jeden Wohlgesinnten,
sehen zu müssen, wie historische und naturwissenschaftliche
Kritik daran arbeiten, den ererbten Gottesglauben zu erschüttern.
Allerdings ist aus dem unseligen Zwiespalte zwischen den
6. Yorzüge und Mängel des althebräischen Monotheismus. 117
Forderungen der Wissenschaft und den Bedürfnissen des reli-
giösen Gemütes eine Rettung möglich: sie liegt in dem von
Kant begründeten und von Schopenhauer vollendeten philo-
sophischen Idealismus, welcher das, was die Religionen unter
Gott verstehen, in einer andern Form mit eisernen Klammern
festhält und daher auf seinem Gipfel zur Religion wird; dem
Volke soll man ihn erst geben, wenn und soweit es fähig
ist, ihn in sich aufzunehmen, und so lange dies nicht der Fall
ist, soll man ihm, nach dem Worte des Apostels (2. Kor. 4,7),
den Schatz in den irdenen Gefäfsen lassen, welche ihn ein-
schliefsen. Anders diejenigen, welche durch einen gewissen
Grad von Bildung und Nachdenken unfähig geworden sind,
den ererbten Glauben festzuhalten, und daher in Gefahr sind,
das Ednd mit dem Bade auszuschütten, den Schatz mitsamt
den irdenen Gefäfsen wegzuwerfen. Für sie, an welche allein
unsere Darstellung sich wendet, ist es an der Zeit, die irdenen
Gefäfse zu zerbrechen, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers,
und Gott, was Gottes ist, mit andern Worten, rücksichtslos
der historischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen
Kritik freien Lauf zu lassen, im festen Vertrauen, dafs die
Religion dabei nicht verloren gehen kann, sondern um so
fester stehen wird, je mehr sie sich ausschlief slich auf die in
uns'erm Innern sprudelnde Quelle aller Ofienbarung, auf die
ewigen Tatsachen des menschlichen Herzens und seiner Wunder-
phänomene gründet.
In diesem Sinne wollen wir zunächst die aus dem Alten
Testament ererbte Religionsanschauung einer lo-itischen Be-
leuchtung unterwerfen. Dieselbe erscheint bei unbefangener
Prüfung als ein konsequent in sich zusammenhängendes System,
als eine Art Syllogismus, dessen richtig gezogene Konklusion
zu Widersprüchen mit der Erfahrung führt, woraus folgt, dafs
ihre Prämissen fälsch sein müssen.
1. Der , Grundpfeiler der ganzen alttestamentlichen Theo-
logie ist der Theismus, d. h. der Glaube, dafs diese ganze,
in Raum und Zeit sich ausbreitende Welt erschaffen worden
ist, erhalten und regiert wird von einem allweisen und all-
mächtigen, im übrigen aber menschenähnlichen Wesen. Denn
wenn es 1. Mos. 1,27 heifst: „Gott schuf den Menschen ihm
118 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn", so bedeutet dieses,
in die Sprache der Wissenschaft übersetzt: Die Menschen
stellen sich Gott nach dem Bilde eines Menschen vor. Dem-
entsprechend legen die Hebräer ihrem Jahve mancherlei in-
tellektuelle und moralische Eigenschaften bei, wie sie der
Menschennatur eigen sind. In erster Hinsicht wird ihm ein
Denken, Beschliefsen , Sicherinnern, Sehen und Hören, in
letzter Hinsicht Liebe und Hals, Zorn, Eifer und Erbarmen,
Freude (Jes. 62,5), Betrübnis und Reue (1. Mos. 6,6) zuge-
schrieben. Mit zunehmender poetischer Personifizierung werden
Jahve ein Schlafen und Erwachen (Psalm 44,24. 78,65), ein
Sprechen und Schreien (Jes. 42,13), ein Hauchen, Riechen und
sogar ein Pfeifen (schäraq, wie es der Bienenvater anwendet,
um die Bienen herbeizulocken, Jes. 5,26. 7,18) beigelegt, wäh-
rend in poetischen Stellen sogar von Augen und Ohren, Händen,
Füfsen usw. Gottes die Rede ist. Mag man hiervon auch noch
so viel auf Rechnung der dichterischen Einldeidung setzen, so
steht doch so viel fest, dafs von den Hebräern die Schöpfung
und Erhaltung der Welt auf ein menschenähnliches, mit
menschlichen Eigenschaften und Funktionen ausgestattetes
Wesen zurückgeführt wurde, eine Hypothese, welche unter
allen philosophischen Theorien, die je über Wesen und Ent-
stehung des Weltalls aufgestellt worden sind, die verwegenste
und unmöglichste ist, und über deren Kühnheit wir nur darum
nicht erstaunen, weil wir sie von Jugend auf zu hören ge-
wohnt sind. Dafs die Schöpfung der Welt in sechs Tagen,
wie sie der Priesterkodex 1. Mos. 1 berichtet, verschiedene
Verstöfse gegen die einfachsten naturwissenschaftlichen An-
schauungen enthält (Pflanzen ehe die Sonne, Licht ehe ein
lichtgebender Körper da ist, das Wasser jenseits des Himmels-
gewölbes, also jenseits von Sonne, Mond und Sternen als
Quelle des Regens, vgl. 1. Mos. 7,11), mag nebenbei bemerkt
werden.
2. Eine notwendige Konsequenz der Weltschöpfung durch
ein allweises und allgütiges Wesen ist der im Alten Testament
trotz aller herben Schickungen herrschende Optimismus.
Bei der Schöpfung heilst es am Schlüsse jedes Tagewerks
(mit Ausnahme des zweiten, daher die Rabbiner glauben, dafs
6. Vorzüge und Mängel des altliebräischen Monotheismus. Hg
an ihm der Teufel geschaffen sei): „Und Gott sah, dafs es
gut war", und am Schlüsse des Ganzen heifst es, 1. Mos. 1,31:
„Und Gott sähe an alles, was er gemacht hatte, und
siehe da: es war sehr gut!" Wir wollen hier nicht mit
abgegriffenen Schlagworten wie Optimismus und Pessimismus
operieren ; ob man optimistisch das Dasein dem Nichtsein oder
pessimistisch das Nichtsein dem Dasein vorzieht, ist im Grunde
eine Sache des Gefühls, des Temperaments und der persön-
lichen Lebenserfahrungen, die bei jedem verschieden sind,
daher wir die Frage nach dem Wert oder Unwert des Lebens
überhaupt nicht für diskutierbar halten. Hier genügt es, daran
zu erinnern, dafs alle die drei grofsen Weltrehgionen, der
Brahmanismus, der Buddhismus und das Christentum, überein-
stimmend als höchstes Ziel, welches uns gesteckt ist, eine
Erlösung lehren. Diese Lehre setzt voraus, dafs unser Dasein
von der Art ist, dafs wir eine Erlösung aus demselben be-
dürfen, und ein solches Dasein kann unmöglich als die Schöpfung
eines allweisen und allgütigen Wesens betrachtet werden,
auch nicht, wenn man das Böse und Übel aus'dem Sündenfall
erklärt, wie weiter unten zu zeigen sein wird.
3. Als eine weitere Konsequenz des Theismus ergibt sich
das, was wir hier mit einem Worte als Nihilismus be-
zeichnen wollen, und worunter wir die Meinung verstehen,
dafs der Mensch durch Zeugung und Geburt aus Nichts zu
einem Etwas und durch den Tod aus diesem Etwas wieder
zu dem Nichts werde, welches er vor seiner Entstehung war.
Wie bei allen semitischen Völkern vermöge ihrer Neigung
zum Realismus (oben S. 32), so ist auch im Alten Testament
diese Anschauung durchaus die herrschende und kann auch
bei der Voraussetzung des Theismus keine andere sein. Wie
alles in der Welt, ist auch der Mensch von Gott geschaffen
worden, und „alles was entsteht, ist wert dafs es zugrunde
geht". Unsterblich kann nur sein, was nie enstanden ist.
Entweder eine Sache ist in der Zeit aus Nichts geworden,
dann mufs sie in der Zeit auch wieder zu Nichts werden, sie
gehört dem Reiche des y:,yvc[;.£vov xal dTCoXXij[j.svov an, wie
Piaton sagt, und wenn er die Seele entstanden und dabei un-
sterblich sein läfst, so macht er sich einer schweren Inkonsequenz
120 I^- Diß Hebräer bis zum babylonischen Exil.
schuldig (vgl, oben II, i S. 281). „Was nichtig ist, bricht
auch in Nichts zusammen", xö fi.7]5£v elc, oüSsv psTcst, wie Euri-
pides sagt. Nur das kann unvergänglich sein, was unent-
standen ist, eine Postexistenz der Seele fordert ihre Präexistenz,
wie auch Origenes sah und dadurch in eine Ketzerei verfiel,
welche ihm die Kirche noch heute nicht verziehen hat. Es
ist also ganz konsequent, wenn das Alte Testament den
Menschen von Gott geschaffen und beim Tode wieder zu
Nichts werden läfst: „Staub bist du und zu Staub sollst du
wieder werden", sagt Jahve schon 1. Mos. 3,19 zum Menschen,
und diese Anschauung ist die herrschende im ganzen Alten
Testament, mit Aisnahme sehr später Stellen, welche schon
unter iranischem Einflüsse stehen, wie unten zu zeigen sein
wird. Mit dem Tode gehen die Menschen als blut- und leb-
lose Schatten (rephäim) in das Schattenreich des Scheol und
werden dadurch für immer dem Verkehr mit der Oberwelt,
aber auch dem Einflüsse Jahves entrückt, der dann nur noch
an Kindern und Nachkommen Vergeltung üben kann. So
reich auch das Gesetz und die Propheten an Drohungen für die
Übeltäter, an Verheifsungen für die Frommen sind, nirgendwo
findet sich bei ihnen ein Hinweis auf die Vergeltung in einem
jenseitigen Leben.
4. Eine vierte und letzte Konsequenz des althebräischen
Theismus ist das, was wir in Ermangelung eines bessern
Wortes Eudämonismus nennen wollen. Jahve ist allmächtig
und gerecht, und hieraus folgt notwendig, dafs alles Gute
seinen Lohn, alles Böse seine Strafe finden mufs. Das ganze
Alte Testament bewegt sich in dieser Grundanschauung; Sünde
und Unglück, Frömmigkeit und Glück hängen als Ursache und
Wirkung untrennbar zusammen, und es ist durchaus alt-
testamentliche Anschauung, nicht nur dafs auf jedes Unrecht
ein Leiden, auf jedes Wohlverhalten ein Zustand des Glückes
folgt, sondern auch umgekehrt, dafs da, wo ein Leiden ist,
eine Versündigung vorhergegangen sein mufs, eine Auffassung,
welche auch noch im Neuen Testament nachklingt, bei Jesu,
wenn er zu dem Leidenden spricht: „Deine Sünden sind dir
vergeben", und bei den Jüngern, wenn der vierte EvangeHst
(9,2) sie die Frage aufwerfen läfst: „Welcher hat gesündigt,
6. Vorzüge und Mängel des althebräischen Monotheismus. 121
dieser oder seine Eltern, dafs er blind geboren ist?" — eine
seltsame Alternative, auf die wir noch weiter unten in einem
andern Zusammenhange zurückkommen werden. Das Alte
Testament, mit welchem wir es hier jz\i tun haben, kennt, wie
gezeigt, kein Fortleben nach dem Tode, und somit verlangt
die göttliche Gerechtigkeit, dafs alles Gute und Böse schon
in diesem Leben vergolten werde, denn ein anderes gibt es
nicht. Wenn man die Schlufskapitel der beiden Gesetz-
gebungen, Deuteronomium 28 und Leviticus 26, durchgeht,
nach welchen eine Fülle von Segen denen verheifsen wird,
welche die Gebote halten, und ein Hagel von Flüchen über
die kommen soll, welche sie übertreten, so wird man sich
überzeugen, dafs alle diese Verheifsungen und alle Drohungen
sich nur auf dieses Leben beziehen und keine Ahnung von
einer jenseitigen Vergeltung auch nur aufdämmert. Durch
diese letzte Konsequenz der theistischen Weltanschauung setzt
sie sich in schreienden Widerspruch gegen die sicherste Er-
fahrung, welche heute noch beweist und zu allen Zeiten be-
wiesen hat, dafs es dem guten Menschen oft schlecht geht bis
an sein Ende, und dafs der Böse oft ungestraft bleibt bis an
sein Ende. Auch der Veda in seinem Werkteile {harma-MndaJ
gibt Gebote und Verbote und stellt dafür Lohn und Strafe in
Aussicht, aber er läfst diese Vergeltung nur teilweise im gegen-
wärtigen Leben, hingegen zum gröfsern Teil in einem zu-
künftigen Dasein erfolgen und entgeht dadurch dem Wider-
spruche mit der Erfahrung, in welchem das Alte Testament
befangen bleibt.
Wir werden nun zu zeigen haben, wie schon auf dem
Boden des Alten Testaments die edlern und tiefer denkenden
Geister schwer an den Widersprüchen trage;i, welche ihr
Religionssystem ihnen aufbürdet, und welche Mittel und Wege
sie eingeschlagen haben, um sich mit diesen Widersprüchen
abzufinden oder doch bei ihnen zu beruhigen.
Die erste Konsequenz des althebräischen Theismus war,
wie wir sahen, der Optimismus: da alles in der Welt von
Gott geschaffen ist, so mufs auch alles gut sein. Aber woher
dann das Böse und das Übel, dessen die Welt voll ist ? Beides
122 l^V- Diö Hebräer bis zum babylonischen Exil.
wird im Alten Testament ganz konsequent auf Gott zurück-
geführt. Jahve ist es, welcher das Herz des Pharao immer
wieder aufs neue verstockt, so dafs er die Kinder Israel nicht
ziehen läfst (2. Mos. 9,12. 10,20. 14,8), und als Saul in der
Wüste Siph den David verfolgt, ruft ihm dieser aus der Ferne
zu: „Hat etwa Jahve dich gegen mich aufgereizt, so mag er
Opfer zu riechen bekommen" (um ihn zu besänftigen), 1. Sam.
26,19. Als dann weiter Trübsinn den Saul überfällt, heifst es
1. Sam. 16,14: „Nachdiem nun der Geist Jahves frii^ch jahvehj
von Saul sich zurüokgezogen hatte, quälte ihn ein von Jahve
ausgesandter böser Geist" (rü"'cli rää meeth jahvehj, der ihn
rasend machte (18,10) und durch Davids Zitherspiel vertrieben
werden soll (16,16). Sehr charakteristisch ist auch die Er-
zählung, wie David die Sünde begeht, das Volk zu zählen
(eine unbeliebte Mafsregel, vermutlich weil sie mit einem An-*
ziehen der Steuerschraube zusammenhing), und als Strafe die
Pest über Israel kommt; hierbei heifst es 2. Sam. 24,1: „Und
der Zorn des Herrn ergrimmte abermal wider Israel und reizte
David unter ihnen, dafs er sprach, gehe hin, zähle Israel und
Juda", eine Stelle, der wir weiter unten nochmals in einer
andern Wendung begegnen werden. Bei dem unglücklichen
Feldzuge des Ahab gegen die Syrer legt Jahve einen Lügen-
geist in den Mund von vierhundert Propheten, so dafs sie
dem Könige Gelingen weissagen müssen, 1. Kön. 22,20 — 22:
„Und Jahve sprach: Wer will Ahab betören, dafs er zu Felde
ziehe und zu Kamoth in Gilead falle? Und der eine sagte dies,
der andere sagte das. Da trat ein Geist hervor, stellte sich
vor Jahve und sprach: Ich will ihn betören. Jahve aber
fragte ihn: Womit? Da antwortete er: Ich will ausgehen und
zum Lügengeiste werden in aller seiner Propheten Munde ! Er
aber sprach: Ja, du wirst die Betörung vollbringen! Gehe
aus und tue also!" Wie hier das Böse, so geht auch alles
Übel in der Welt von Jahve aus, und Amos ruft (3,6) aus:
„Geschieht in einer Stadt ein Unglück, ohne dafs Jahve es
verursacht hat?" — Besonders merkwürdig ist eine im Exil
beim Herannahen der Perser geschriebene Stelle im zweiten
Jesaia Kap. 45,6 — 7: „Ich bin Jahve, und keiner sonst, der
das Licht bildet und Finsternis schafft, der Heil wirkt
6. Vorzüge und Mängel des altliebräiscben Monotheismus. 123
und Unheil schafft, — ich, Jahve, bin es, der alles dies
bewirkt." Diese Worte sehen ganz aus wie ein Protest des
Propheten gegen die mit dem Herannahen der Perser herein-
brechende Weltansicht, die einen guten Gott als Beherrscher
des Lichtreiches und einen bösen als Beherrscher des Reiches
der Finsternis unterscheidet. Wir werden weiter unten sehen,
wie dieser Protest gegen die persische Religionsanschauung
erfolglos blieb.
Ganz isoliert gegen alle diese Zeugnisse, die folgerichtig
alles Böse und Übel auf den Weltschöpfer zurückführen, steht
der Mythus vom Sündenfall, infolgedessen das Böse mitsamt
dem Übel durch einen Akt des Ungehorsams des ersten
Menschen gegen Gott in die Welt gekommen ist und sich
über alle J^Ienschen verbreitet hat. Dieser JSIythus widerspricht
so sehr der ganzen Grundanschauung des Alten Testaments,
dafs es nahe liegt, schon in ihm einen Einflufs der iranischen
W^eltanschauung anzunehmen, nach der, wie weiter unten zu
zeigen sein wird, in ganz ähnlicher Weise die Versündigung
der ersten Menschen erfolgt ist. Dieser Annahme steht aller-
dings die Schwierigkeit entgegen, dafs der Sündenfallmythus
schon beim Jahvisten (850 a. C.) sich findet. Aber wenn wir
bedenken, dafs das in den Briefen von Tell-el-Amarna (1400 a.C.)
öfter erwähnte Reich der Mitani von Königen beherrscht wird,
deren Namen ein unverkennbares arisches Gepräge tragen
(oben S. 71), so wird hierdurch eine Möglichkeit eröffnet, wie
schon in sehr früher Zeit iranische Anschauungen nach Pa-
lästina gelangt und von den Hebräern übernommen sein
könnten. Wie dem auch sein mag, wir haben in dem Mythus
vom Sündenfall einen sehr achtbaren Versuch vor uns, von
hebräischem Boden aus die Entstehung des Bösen und Übels
trotz der Weltschöpfung durch einen allweisen und allmäch-
tigen Gott zu begreifen, dafs aber mit ihm das Problem ge-
löst sei, läfst sich nicht behaupten. Schon in der Annahme,
dafs Gott den Menschen erschaffen und ihm die Freiheit ge-
geben habe, das Gute wie das Böse zu ergreifen, liegt ein
Widerspruch. Geschaffen-sein und Frei-sein sind unvereinbare
Gegensätze. Alles Geschaffene ist auch irgendwie beschaffen,
ist als ein Etwas mit bestimmten Eigenschaften geschaffen
124 1^- Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
worden und mufs nach dem Kausalitätsgesetze den ihm an-
erschaffenen Eigenschaften gemäfs handeln. Frei kann nur
dasjenige heifsen, was die Eigenschaften, nach denen es handelt,
aus sich selbst heraus gebiert, mithin durch keinen andern
da ist, sondern völlige Aseität besitzt. — Aber auch abgesehen
von dieser Schwierigkeit, fällt das Böse immer wieder auf
Gott als Urheber zurück; denn warum verlieh er dem Menschen
die so verhängnisvolle Gabe des freien Willens, da er doch
vermöge seiner Allwissenheit voraussehen mufste, wie die
Dinge ablaufen würden, und vermöge seiner Allmacht imstande
sein mufste, eine andere Einrichtung zu treffen?
Schwerer noch als die Frage nach dem Ursprung des
Bösen lastete auf Geist und Herz der hebräischen Denker
das Problem der göttlichen Gerechtigkeit. Jahve war
ein gerechter Gott; folglich mufste von ihm alles Gute und
alles Böse an dem Täter vergolten werden, und zwar in diesem
Leben, denn ein anderes gab es nicht. Wie kam es, dafs
dieser Erwartung auf Schritt und Tritt die Erfahrung wider-
sprach? Brennend wurde diese Frage erst, nachdem sich im
Fortgang der Zeit mit dem Verfall des nationalen Lebens das
Verhältnis Jahves zur Gesamtheit des israelitischen Volkes
in ein Verhältnis des Gottes zu den einzelnen Individuen um-
gewandelt hatte. War es vorher nicht allzuschwer gewesen,
die Leiden des Volkes aus der unausrottbaren Abgötterei zu
begreifen, welcher die Mehrheit der Bevölkerung nachhing, so
trat in dem Mafse, wie nicht mehr die Zugehörigkeit zum
Ganzen des Volkes das Wesentliche war, sondern das Indi-
viduum sich seiner Selbständigkeit, seiner Pflichten und An-
sprüche bewufst wurde, an den frommen Verehrer die Frage
heran, warum es dem Gottlosen in dieser Welt so gut und
dem Frommen of4 so schlecht geht. Eine Lösung dieser Frage
war, so lange man noch kein Fortleben nach dem Tode kannte,
überhaupt unmöglich, und so werden wir uns nicht wundern,
wenn die aufkommenden Zweifel an der göttlichen Gerechtig-
keit durch unsichere Hoffnungen auf ein strafendes und lohnen-
des Eingreifen Jahves beschwichtigt zu werden pflegen.
Dies tritt schon bei Jeremia hervor, wenn er sich 12,1
an Jahve mit der kecken Frage wendet: „Du bleibst im
6. Vorzüge und Mängel des althebräischen Monotheismus. 125
Rechte, Jahve, wenn ich mit dir hadern wollte! Doch zur
Rede möchte ich dich stellen, warum das Treiben der Frevler
Gelingen hat, warum alle, die treulos handeln, unangefochten
bleiben? Du pflanzest sie ein, sie schlagen auch Wurzel,
sie gedeihen, bringen auch Frucht, nahe bist du ihnen ihren
Reden nach, aber fern von ihrem Innern! Du aber, Jahve,
kennst mich, durchschaust mich und hast meine Gesinnung
gegen dich erprobt ! — Reif se sie fort wie Schafe zum Schlach-
ten und weihe sie dem Tage des Würgens!"
Ähnlichen Zweifeln und Hoffnungen begegnen wir in
Psalm 37 und 73, aus denen wir nur die bezeichnendsten
Stellen herausheben wollen. Psalm 37, Vers 1 : „Erhitze dich
nicht über die Bösewichter, ereifere dich nicht über die,
welche Frevel verüben." Vers 7: „Sei still vor Jahve und
harre auf ihn; erhitze dich nicht über den, der seine Unter-
nehmungen glücklich hinausführt, über einen, der Ränke übt." —
Psalm 73, Vers 2 — 5 : „Meine Füfse hätten beinahe gestrauchelt;
nichts fehlte, so wären meine Tritte ausgeglitten, denn ich
ereiferte mich wegen der Übermütigen, wenn ich sah, dafs
es den Gottlosen sowohl ging; denn sie leiden keine Schmerzen,
kräftig und wohlgenährt ist ihr Leib, sie geraten nicht in
Unglück wie andere Leute, und werden nicht wie andere
Menschen geplagt." — Vers 12 — 14 : „Ja, so sind die Gottlosen,
und in steter Ruhe häufen sie Reichtum an. War es denn
ganz umsonst, dafs ich mein Herz rein erhielt und in Un-
schuld meine Hände wusch — und ward doch immerfort ge-
plagt, und alle Morgen war meine Züchtigung da!"
Ein in seiner Art grandioser, wenn auch nicht weniger
vergeblicher Versuch, das Problem zu lösen, liegt im Buche
Hiob vor, und wenn es nach allem Gesagten noch eines Be-
weises bedürfte, dafs die Frage der göttlichen Gerechtigkeit
auf dem Boden des auf das diesseitige Leben beschränkten
Hebraismus eine unlösbare ist, so würde gerade das Buch
Hiob, welches eigens der Diskussion des Problems gewidmet
ist, diesen Beweis liefern. Hiob, der Held dieser Dichtung,
ist, wie uns wiederholt und auch aus Jahves eigenem Munde
versichert wird, „unsträflich und rechtschaffen, gottesfürchtig
und dem Bösen feind". Nichtsdestoweniger wird er unter
226 IV- Die Hebräer bis zum babylonischen Exil.
Jahves Zustimmung von dem hier noch ebenso wie Sacharja 3
als Diener Gottes auftretenden Satan mit schweren Leiden
heimgesucht. Er verhert rasch nach einander seinen Reich-
tum, seine Kinder, und wird von einer schmerzHchen und
ekelhaften Krankheit befallen. Drei Freunde, Eliphas, Bildad
und Zophar, kommen, ihn zu trösten. Sieben Tage und Nächte
sitzen sie schweigend um ihn, da öffnet Hiob seinen Mund,
verflucht den Tag seiner Geburt und preist die glücklich,
welche unter der Erde schlafen. Es folgen nun hinter ein-
ander drei Redegänge (Kap. 4—14, 15—21 und 22—31); in
den beiden ersten kommen alle drei Freunde, in dem letzten
zwei derselben zu Wort und geben, während sie Hiob trösten,
mit einer im Verlaufe der Gespräche steigenden Deutlichkeit
zu verstehen, dafs er sein schweres Leiden durch eine nicht
weniger schwere Versündigung verschuldet habe. Jeder der
acht Reden setzt Hiob die Beteuerung seiner Unschuld ent-
gegen, wobei der Dichter nur unvollkommen der allerdings
sehr schwierigen Aufgabe genügt hat, in den acht dasselbe
Thema behandelnden Wechselreden durch Beibringung neuer
Gedanken und Bilder das Interesse rege zu halten. Nachdem
Hiob nochmals in seiner letzten Rede (Kap. 29 — 31) einen
Blick auf sein früheres Leben geworfen und in ergreifenden
Worten die Rechtschaffenheit seines Wandels dargelegt hat,
folgt Kap. 32 — 37 eine unerwartete Einschaltung, indem ein
bis dahin mit keinem Worte erwähnter vierter Redner namens
Elihu auftritt, um nur heftiger und unverblümter als die bis-
her genannten Freunde dem Hiob seine Sündhaftigkeit vor-
zuhalten, wobei man vielleicht 36,15 den spätem christlichen
Gedanken, dafs denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten
dienen müssen, leise angedeutet finden kann. Dafs diese den
Zusammenhang unterbrechenden Reden des Elihu eine Inter-
polation von späterer Hand sind, geht schon daraus zur Genüge
hervor, dafs Kap. 42,7 nur Eliphas, Bildad und Zophar ein
Sülmopfer für die ungerechten Beschuldigungen Hiobs bringen
müssen, während des Elihu, dessen Anschuldigungen noch
viel härter waren, mit keinem Worte mehr gedacht wird.
Unmittelbar und mit gänzlicher Ignorierung der Elihu- Reden
an die letzte Rede Hiobs (Kap. 29 — 31) anknüpfend, nimmt
6. Vorzüge und Mängel des althebräisclien Monotheismus. 127
Jahve selbst von Kap. 38—41 das Wort, um zu Hiob aus dem
Wetter zu reden, aber seine in hoher poetischer Form gehal-
tenen und von glänzenden Schilderungen des Naturlebens
durchwobenen Ausführungen heben nur die göttliche Allmacht
und die menschliche Ohnmacht ihr gegenüber hervor und
verlangen vom Menschen demütige Ergebung in die unerforsch-
lichen Ratschlüsse Gottes, wodurch das Problem, welches zu
behandeln die Dichtung sich vorsetzt, ganz und gar nicht
gelöst, sondern nur in vollständiges Dunkel gehüllt wird.
Die menschliche Kultur in ihrer Entwicklung führt schliefs-
lich zu einem Punkte, wo dem Menschen die Eitelkeit und
Nichtigkeit aller irdischen Bestrebungen zum deutlichen Be-
wufstsein kommt. Von hier aus eröffnen sich dem denkenden
Menschengeiste zwei Wege; entweder er begreift, dafs allen
irdischen Gütern diese Eitelkeit angeheftet ist, um uns von
ihnen ab auf ein Höheres hinzuweisen, welches nur auf dem
Wege der in reiner Gerechtigkeit, Liebe und Entsagung sich
betätigenden Verleugnung des eigenen Selbstes erreicht werden
kann, — oder der Mensch verkennt diese höchste Bestimmung
des Menschenlebens, und es bleibt ihm nichts übrig, als seinen
Erdentag zu geniefsen, solange es geht. Dieser letztere Stand-
punkt findet in der griechisch-römischen Welt seinen Ausdruck
in Horaz und entsprechend in der hebräischen Kultur im Kohe-
leth, dem sogenannten Prediger Salomo. Auch diesem bleibt
als höchstes Ziel nichts anderes übrig, als in mafsvoller Weise
das Leben zu geniefseb, nachdem er sich von der Zwecklosig-
keit alles höhern Strebens und von der durch kein göttliches
Eingreifen ausgeglichenen Ungerechtigkeit, wie sie in der Welt
herrscht, überzeugt zu haben glaubt. In diesem Sinne sagt
der Koheleth 8,14 fg. : „Es ist etwas Eitles, das auf Erden
geschieht, dafs es Fromme gibt, denen es ergeht nach dem
Tun der Gottlosen, und dafs es Gottlose gibt, denen es ergeht
nach dem Tun der Frommen. Ich sprach: auch das ist eitel!
Und so pries ich die Freude; denn es gibt nichts Besseres
für den Menschen unter der Sonne als zu essen und zu trinken
und fröhhch zu sein"; und 9,2 fg.: „Alles kann allen be-
gegnen: einerlei Geschick widerfährt dem Frommen und dem
Gottlosen, dem Guten und Reinen und dem Unreinen, dem
128 IV. Die Hebräer bis zum babylonischen -Exil.
Opfernden und dem, der nicht opfert; wie der Gute, so der
Sünder, der Schwörende, wie wer den Schwur scheut. Das
ist ein Übel bei allem, was unter der Sonne geschieht, dafs
allen einerlei Geschick widerfährt."
Wir haben hier den völligen Zusammenbruch der alt-
hebräischen Weltanschauung vor Augen. Aber schon war
von anderer Seite dem vielgeprüften Volke ein neues Licht
aufgegangen, welches bestimmt war, den alten Hebraismus
von Grund aus umzugestalten und zum Träger einer neuen,
höhern Weltanschauung geeignet zu machen. Mit ihm haben
wir uns zunächst zu beschäftigen.
V. Die Religion der Iranier.
1. Äufsere Geschichte der iranischen Stämme.
Die weite, vielfach unwirtliche, nur teilweise von frucht-
baren Gebirgstälern und oasenartigen Flächen durchzogene
Hochebene, welche sich vom Tigris bis zum Indus erstreckt
und die semitische Welt von der indischen trennt, war schon
zu Zeiten, bis zu welchen keine historische Tradition zurück-
reicht, von indogermanischen Stämmen bewohnt, welche, wie
Sprache und Religion gleicherweise bezeugen, in nächster
Verwandtschaft zu den Indern stehen, sich wie diese als die
Treuen (Sanskrit: ärya^ Zend: airya, Altpersisch: ariya),
d. h. die zum eigenen Volk Gehörigen , * bezeichnen und ohne
Zweifel noch nach der Trennung von den übrigen indogermani-
schen Stämmen jahrhundertelang mit den Indern ein gemein-
sames Volk gebildet haben. Dann trennten sich beide, die
Inder gelangten aller Wahrscheinlichkeit nach durch das
Kabultal in das Pendschab und entwickelten, abgeschnitten
von allen indogermanischen Bruderstämmen, ihre so eigen-
tümliche Kultur, während die Iranier, von ihnen getrennt,
mehr und mehr nach Westen hin gravitierten und mit den dort
vorgelagerten semitischen Stämmen im Laufe der Zeiten zu einem
einheitlichen, seltsam gemischten Kulturganzen verschmolzen.
Drei iranische Stämme treten besonders hervor, die Bak-
trer im fernen Osten, die Meder und Perser am Westsaum des
1. Äufsere Geschichte der iranischen Stämme. 129
iranischen Hochlandes. Von den Baktrern und dem mächtigen
Reiche, welches sie schon um 1500 a. C. gebildet haben sollen,
hört man bis auf dessen Eroberung durch Kyros nur wenig.
Ungestört von politischen Umwälzungen vermöge ihrer gün-
stigen Lage, konnten sie sich Innern Aufgaben widmen, und
aus ihrem Schofse ist allem Anschein nach das grofse und
für die Weltentwicklung bedeutsame Religionssystem hervor-
gegangen, welches sich an den Namen des Zarathustra knüpft,
und das wir unten näher kennen lernen werden. Anders ge-
stalteten sich die Verhältnisse im Westen. Unter den Königen
der den Norden bewohnenden Meder tritt als erster, von dem
wir Näheres wissen, Kyaxares hervor, welcher im Bunde mit
dem babylonischen Statthalter Nebupalassar im Jahre 606
Ninive zerstörte (oben S. 41) und mit den Lydern nach wieder-
holten Kämpfen ein Bündnis schlofs, zu dessen Besiegelung
er seinen Sohn Astyages mit Aryenis, Tochter des lydischen
Königs Alyattes und Schwester des Krösus, vermählte. Als
dann der weiter südlich wohnende iranische Stamm der Perser
unter seinem König Kyros IL den letzten Mederkönig Astyages
um 550 a. C. entthront hatte, zog Krösus, um für seinen
Schwager Rache zu nehmen, ohne den Zuzug seiner Bundes-
genossen abzuwarten, gegen Kyros und verlor an diesen sein
Reich durch die Eroberung von Sardes im Jahre 546. Acht
Jahre darauf machte Kyros auch dem Neubabylonischen Reiche
ein Ende und wurde so der Begründer des grofsen persischen
W'eltreiches, welchem sein Sohn Kambyses 525 auch noch
Ägypten angliederte. Aus den Wirren, welche der Priester
Gaumäta angestiftet hatte, indem er sich für den von Kam-
byses ermordeten Smerdis (Bardiya), einen Jüngern Sohn des
Kyros, ausgab, ging 521 als König der Perser Darius (JDäraya-
vahuslij hervor, ein naher Verwandter des Königshauses,
welcher wie Kyros sein Geschlecht auf den vielleicht nur
mythischen Stammvater Achämenes zurückführte. Auf Darius
(521 — 485) folgen die aus der Geschichte der Griechen be-
kannten Achämeniden Xerxes {KsJimjärsJia , 485 — 465, der
Ahasverus der Bibel), Artaxerxes L Longimanus (465 — 424)^
Darius IL Nothos (424 — 405), Artaxerxes IL Mnemon (405 —
359), Artaxerxes III. Ochos (359—338) und Darius IIL Kodo-
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ir. 9
130 V« Die Religion der Iranier.
mannos, unter welchem Alexander der Grofse das Reich der
Achämeniden zertrümmerte, nachdem schon längst die strengen,
einfachen Sitten der Vorfahren beim Fürsten wie beim Volke
durch Reichtum und Schlemmerei untergraben worden waren.
Nach Alexanders Tode (323) und den Kämpfen der Diadochen
ging die Erbschaft des Ostens zunächst an die Seleuciden
über, von denen sich 256 unter Diodotus ein griechisch-bak-
trisches Reich von kurzer Dauer abgezweigt hatte. Inzwischen
hatte sich unter den Arsaciden das mächtige Reich der
Parther (248 a. C. bis 226 p. C.) erhoben, welches weiterhin
das ganze Gebiet von Iran bis zum Indus liin umspannte und
einen östlichen Grenz wall bildete gegen das Vordringen des
Hellenismus und weiterhin gegen das Weltreich der Römer,
denen Arsaciden-Könige , wie Tiridates, Mithridates u. a., viel
zu schaffen machten. Obgleich ursprünglich turanischer Ab-
stammung, führten die Arsaciden ihr Geschlecht auf die alten
Achämeniden-Könige zurück und nahmen die altpersische Kul-
tur und Religion an, welche sich während des vierhundert-
jährigen Bestehens ihres Reiches, wenn auch zurückgedrängt
durch die Volkskulte, doch in ununterbrochener Kontinuität
erhielt.
Einen neuen Aufschwung nahm der Parsismus, seitdem
der letzte Arsacide Artaban 226 p. C. von Ardaschir (Arta-
xerxes) Bäbeghän gestürzt und von diesem die nach seinem
Vater Sassan benannte Dynastie der Sassaniden (226 —
636 p. C.) begründet worden war. Die in den letzten Jahr-
hunderten durch die Volkskulte des Mithra u. a. in den Hinter-
grund getretene Religion des Zarathustra wurde neu befestigt,
das Ävesta, die heiligen Schriften der Parsen befassend, aus
dem Gedächtnis aufgezeichnet und durch Kommentare (Zend,
daher der mifsbräuchliche Name Zend-Avesta) und Schriften,
wie den Bundehesh und das Minokheret, erläutert. Unter
mannigfachen Kämpfen gegen das Römische Reich erhielt sich
die Sassanidenherrschaft während der Regierung der ver-
schiedenen Sapor und Varanes auf gleicher Höhe, erlebte
unter der kräftigen und weisen Regierung des Chosroes Nu-
schirvän (531 — 578) eine letzte Blütezeit, verfiel dann aber
infolge der Schwäche seiner Nachfolger und der durch sie
1. Äufsere Geschichte der iranischen Stämme. 131
verschuldeten Wirren und wurde im Jahre 636 p. C, leichter
Hand von dem Kalifen Omar erobert, der mit Feuer und
Schwert die Religion der Mazdayasnier (Verehrer des Ahura-
mazda) ausrottete und an ihrer Stelle den Islam zur herrschen-
den Religion machte.
Heute finden sich Anhänger des Zarathustra in Iran nur
an einzelnen entlegenen Orten der Provinzen Yezd und Ker-
man, wo sie, etwa 9000 an der Zahl, gegen Entrichtung eines
Tributs an die Mohammedaner geduldet werden. Viele waren
auch bei Einführung des Islam ausgewandert und fanden in
dem toleranten Indien eine neue Heimat, wo sie an der West-
küste, namentlich in Bombay, noch heute wohnen und dort,
etwa 90000 an Zahl, vielfach als reiche und angesehene Kauf-
leute noch jetzt den Vorschriften ihrer Religion nachleben.
Von ihren heiligen Büchern retteten sie das Rituelle als das
für sie Wichtigste, daher das Avesta, dessen Erhaltung wir
ihnen verdanken, nur eine einseitige Vorstellung von ihrem
Glauben zu geben vermag und durch spätere, auf ihm be-
ruhende Schriften ergänzt werden mufs.
2. Sprache und Literatur der Iranier.
Wie in Deutschland aus dem Althochdeutschen das Mittel-
hochdeutsche und aus diesem das Neuhochdeutsche entstanden
ist, so hat sich in Iran aus dem Altpersischen das Mittel-
persische und aus ihm das Neupersische entwickelt; wie aber
bei uns dem Althochdeutschen als ein selbständiger und älterer
Zweig das in der Bibelübersetzung des Ulfilas erhaltene Go-
tische, so steht dem Altpersischen das dialektisch verschiedene
und nur in den Büchern des Avesta vorliegende Altbaktrische
gegenüber, wie folgendes Schema zeigt:
Althochdeutsch | Gotisch
Mittelhochdeutsch
Neuhochdeutsch
Altpersisch | Altbaktrisch
Mittelpersisch
Neupersisch.
Die altpersische Sprache ist erhalten in 40 Inschriften
der Achämeniden -Könige, von denen eine ganz kurze dem
Kyros, 28 dem Darius (darunter die grofse Inschrift von
132 ^- I^iß Religion der Iranier.
Behistän), 8 dem Xerxes und je eine dem Artaxerxes Longi-
manus, Mnemon und Ochus angehören. Sie sind sämtlich in
Keilschrift geschrieben, und da man von der richtigen An-
nahme ausging, dafs sie in der altpersischen, der Avestasprache
wie auch dem Sanskrit aufs nächste verwandten Sprache ab-
gefafst sein müfsten, so gelang es, wie schon oben (S. 44 fg.)
gezeigt wurde, den Bemühungen von Grotefend, Lassen- und
Burnouf, sie zu entziffern und mit Hilfe der so gewonnenen
Keilschriftzeichen schliefslich auch die assyrischen Keilschrif-
ten zu lesen. In den Inschriften des Darius und Xerxes er-
klären sich diese Könige für treue Verehrer des grofsen Gottes
Ahuramazda; ihm versichern sie alle ihre Erfolge im. Kriege
wie im Frieden zu verdanken, und wiederholt kommt die
Wendung vor: „Ein grofser Gott ist Ahuramazda, welcher
diese Erde schuf, welcher jenen Himmel schuf, welcher den
Menschen schuf, und welcher Wohlbehagen schuf für den
Menschen," Dämonen werden nirgendwo erwähnt, wohl nur,
weil kein Anlafs war, in diesen Inschriften ihrer zu gedenken.
Das Mittelpersische oder Pehlevi ist die Sprache der
Sassanidenzeit. Es hat sich aus dem Altpersischen unter Ab-
schleifung der Endungen und dem Eindringen zahlreicher
semitischer, speziell aramäischer Wörter entwickelt. Wenn die
Sprache in dieser Mischform geschrieben wurde, so hiefs sie
auch Huzvaresh; wenn man beim Vorlesen (später auch beim
Schreiben) der Texte die semitischen Wörter durch persische
ersetzte, so nannte man diese gesprochene (später auch ge-
schriebene) Sprache Palend. Erhalten sind uns in Pehlevi
fast nur theologische Texte, namentlich eine Übersetzung des
Avesta nebst Auslegung desselben, welche Zc7id genannt wird.
Von der übrigen Pehleviliteratur ist für uns von besonderer
Wichtigkeit der Bnndehesli, ein die Zarathustralehre behan-
delndes enzyklopädisches Werk in 35 Kapiteln, welches einen
wertvollen Ersatz für die uns verlorenen Avestatexte bietet.
Denn obgleich der Bundehesh erst gegen Ende der Sassaniden-
zeit verfafst worden ist, so beruft er sich doch überall auf die
alten heiligen Schriften, und dafs darunter die einheimischen
Schriften des damals noch vollständigem Avesta und nicht
etwa jüdische oder christliche Werke zu verstehen sind, ist
2. Sprache und Literatur der Irauier. 133
wohl selbstverständlich, wenn man bedenkt, dafs die grofse
und auf ihre Vergangenheit stolze Nation der Perser wohl
wenig geneigt sein mochte, religiöse Gedanken aus den Kreisen
des kleinen, wenig geachteten Judenvolkes oder des aufs hef-
tigste verfolgten Christentums zu entlehnen. Dementsprechend
erklärt auch Ferdinand Justi in der Vorrede zu seiner grofsen
Ausgabe des Bundehesh, „dafs der Inhalt des Bundehesh,
soweit unsere Kontrolle reicht, vortrefflich mit dem der alten
Bücher übereinstimmt, so dafs wir annehmen dürfen, er werde
in den Dingen, deren Quellen wir in den vorhandenen Frag-
menten des Avesta nicht nachzuweisen vermögen, gleich zu-
verlässig sein und uns als wichtige Quelle für die Kenntnis
der zarathustrischen Religion dienen dürfen".
Aus dem mittelpersischen Pehlevi entwickelte sich in den
Jahrhunderten nach dem Sturze der Sassaniden das Neu-
persische, die Sprache des Firdusi (um 1000 p. C), welche,
ähnlich wie das Englische, den gänzlichen Verfall der gram-
matischen Endungen durch Reichtum und Feinheit der syn-
taktischen Wendungen zu ersetzen wufste.
Dem Altpersischen, dessen Denkmäler aus dem West-
lande stammen, steht im fernen Osten als ältere Schwester
das Altbaktrische gegenüber, welches uns in den viel-
leicht auf ein Viertel des ursprünglichen Umfanges redu-
zierten Büchern des Avesta vorliegt. Ihr überwiegend ritueller
Inhalt gliedert sich in folgende vier Abteilungen.
1. Der Yasna^ eine Sammlung von Gebetsformeln, welche
beim Haomaopfer hergesagt wurden, in 73 Kapiteln (170 Seiten
in Spiegels Übersetzung). Sie enthält von Kap. 28 bis 53
(60 Seiten) die Gätha's, d. h. Lieder in metrischer Form und
einem andern, altern Dialekt, in welchem schon alle Grund-
gedanken der Lehre des Zarathustra sich nachweisen lassen.
2. Das Vendidäd (vidaevodätem, „das gegen die Dämonen
gegebene" Gesetz), 22 Kapitel (208 Seiten), enthält neben
mythologischen Partien die Bufsen und Sühnungen für ver-
schiedene Vergehen sowie die Reinigungsvorschriften.
3. Die Vispered [vispe ratavo, „alle guten Geister"), 24 Ka-
pitel (32 Seiten), Anrufungen in der Art des Yasna enthaltend.
4. Das Khorda- Avesta („kleines Avesta"), 66 Stücke
134 V. Die Religion der Iranier.
(254 Seiten), eine Sammlung von Anrufungen, welche auch
für Laien bestimmt war. In ihm sind die Yasht enthalten,
Lieder und Gebete, zum Teil aus alter Zeit, von denen manche
den alten Volksgöttern (wie Mithra, Anähita, welche auch
in der Inschrift des Artaxerxes Mnemon vorkommen) ge-
widmet sind.
Das Avesta wurde erst zur Zeit der Sassaniden aus dem
Gedächtnis aufgezeichnet oder doch gesammelt, daher von
manchen seine Echtheit bezweifelt wird. Entscheidend für
dieselbe ist wohl der Umstand, dafs die Aufzeichner viele
Worte und Formen schriftlich fixiert haben, die sie nicht mehr
verstanden, während sie sich durch Vergleich der ältesten
Vedasprache als richtig und in ein hohes Alter zurückgehend
erweisen.
3. Die Relig-ion der Iranier.
Wie die Sprache, so ist auch die Keligion der Iranier der
altvedischen auf das nächste verwandt; viele Götternamen, wie
Äliura (Sanskrit Äsura), Mithra (Sanskrit Mitra), sind beiden
Völkern gemeinsam, und das iranische Haomaopfer entspricht
dem indischen Somaopfer. Aber seltsam und höchst auffallend
ist es, dafs nicht nur manche indische Götternamen in Iran zur
Bezeichnung von Dämonen dienen, sondern dafs auch das fast
allen andern indogermanischen Völkern gemeinsame Wort für
Gott, deva (lat. deus, altir. dia, altnord. tivar, lit. devas), in der
iranischen Form daeva nicht einen Gott, sondern einen bösen
Dämon bedeutet. Diese Tatsache, so befremdlich sie auf den
ersten Blick zu sein scheint, ist doch nicht ohne Parallelen.
Als die christlichen Missionare im 8. Jahrhundert p. C. die
heidnischen Deutschen bekehrten, da wurzelte der Glaube an
die alten germanischen Götter zu tief im Herzen des Volkes,
als dafs man sie für nicht existierend hätte erklären können.
Man beliefs ihnen die Existenz, erklärte sie aber für böse
Dämonen und verlangte vom Neophyten, sie abzuschwören;
so mufste er in der altsächsischen Abschwörungsformel dem
Priester die Worte nachsprechen: ec forsaclio allum dioboles
uuercum and uuordum, Thunaer ende üuoden ende Saxnote
ende allum them UnJioldum, the Jdra genotas sint. Wie hier in
Deutschland, so w,erden wir auch in Iran die Umwandlung
3. Die Religion der Tränier. |35
der Götter in Dämonen, der deva's in daevcis, der gewaltsam
durchgeführten Keformation zuzuschreihen haben, welche die
Tradition auf Zarathustra als Begründer der Ahuramazdareligion
zurückführt. Hierzu stimmt, dafs wir unter den Göttergestalten
dieser Religion eine ganze Reihe von Personifikationen abstrakter
Begriffe finden, wie solche unmöglich aus dem Bewufstsein des
Volkes entsprungen sein können, sondern die Produkte der
Reflexion eines denkenden Kopfes sein müssen.
Dafs Zarathustra (ZwpodcöTpY]^, Zoroaster) eine historische
Persönlichkeit gewesen sei, ist wohl nicht zu bezweifeln, aber
die Nachrichten über sein Leben sind durchaus sagenhaft.
Die Angaben über sein Zeitalter schwanken zwischen 6000 a. C.
und 600 a. C. Er soll geboren sein zu Ragha in der Nähe
des heutigen Teheran, aber als Schauplatz seiner Wirksam-
keit wird Baktrien angegeben. Dort soll er unter dem Könige
Vishtaspa die ihm von Ahuramazda selbst offenbarte Lehre
verkündigt haben. Von seinem Kampfe gegen die Dämonen
und seinen Wundertaten wufste die spätere Sage viel zu er-
zählen. Er soll im Alter von 77 Jahren, nach einigen im
Kampfe bei der Eroberung von Balkh gefallen, nach andern
durch ein übernatürliches Feuer in den Himmel des Ahura-
mazda versetzt worden sein.
Über das Alter und die Unverändertheit der Religion des
Zarathustra während der Zeit ihres Bestehens äufsert sich ein
Kenner wie Spiegel wie folgt (Eranische Altertumskunde, H,
S. 1): „Es fällt ohne Frage die Stiftung der eranischen Re-
ligion, in der Gestalt, in welcher wir sie schon in unsern
ältesten Urkunden finden, noch vor den Beginn unserer be-
glaubigten Geschichte, und sie ist sich von diesem Zeitpunkt
an bis zur Auflösung des eranischen Reiches durch die Araber
im wesentlichen gleich geblieben." Diese Religion hat bei
allem Mythischen, ja Phantastischen, welches ihr anhaftet,
' einen Vorzug, dessen sich in diesem Grade keine andere Lehre
des Altertums rühmen kann ; sie ist in der Lage, das Böse und
Übel in der Welt, an dessen Erklärung so manches System
gescheitert ist, dadurch zu begreifen, dafs sie dasselbe auf
ein von Uranfang bestehendes, dem Guten entgegengesetztes
böses Prinzip zurückführt. In der grenzenlosen Zeit (srvan
136 y« Die Religion der Iranier.
aJcaranaJ bestehen im unendlichen Räume fthwäsliaj durch eine
weite Entfernung von einander getrennt von jeher zwei Reiche,
das des anfanglosen Lichtes fanaghra raocäoj, dessen Be-
herrscher Almra Mazda ^ „der weise Herr", oder auch Qpenta
MaiuDii, „der heilige Geist", heifst, und das Reich der an-
fanglosen Finsternis fanaghra temäoj , welches von Aiujra
Malnyu, „dem schlagenden Geist", beherrscht wird. Leben,
Licht und Wahrheit sind die Attribute des Ahuramazda, Tod,
Dankel und Lüge die des Angramainyu. Wenn es daher im
Neuen Testament heifst: „In ihm war das Leben und das
Leben war das Licht der Menschen", — „Ich bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben", — „Das Licht scheinet in
der Finsternis" — , und wenn der Teufel der Vater der Lüge
genannt wird, so scheint auch in diesen Ausdrücken ein
iranischer Einflufs vorzuliegen. Alles Gute in der Welt ist
eine Schöpfung des Ahuramazda, so die fruchtbringende
Erde, das Wasser und die Flüsse, die Bäume und Metalle,
während hingegen Winter, Dürre und Krankheit, Raubtiere,
Reptilien und Ungeziefer von Angramainyu in die Schöpfung
des guten Gottes hineingebracht sind. Die ganze Geschichte
der Welt besteht in einem Kampfe dieser beiden Prinzipien,
welcher von der ersten Schöpfung an bis zum Weltende sich
durch einen Zeitraum von 15030 Jahren erstreckt, vergleich-
bar einem Drama, welches aus fünf Akten von je 3000 Jahren
besteht, denen noch ein Vorspiel vorangeht.
Das Vorspiel. Angramainyu, der Beherrscher des
Dunkels, bemerkt aus der Ferne das Licht und stürzt wütend
auf dasselbe los, um es zu vernichten. Da tritt ihm Ahura-
mazda in seiner Majestät entgegen und gebietet ihm Still-
stand. Beide Gegner sehen ein, dafs es sich hier nur um
einen Kampf auf Leben und Tod handeln kann, aber beide
sind zu diesem Kampfe noch nicht hinreichend gerüstet. So
schliefsen sie einen Waffenstillstand, welcher 9000 Jahre, die
drei ersten Akte des Weltdramas hindurch, dauern soll. Ahura-
mazda sieht in seiner Weisheit voraus, dafs er nach dieser
Frist von 9000 Jahren mit Sicherheit imstande sein wird, den
Angramainyu zu überwinden. Auch dieser erkennt, dafs er
einen ihm verderblichen Vertrag geschlossen hat, aber er
3. Die Religion der Iranier. 137
■erkennt es zu spät. Er hat die Eigenschaft des „Nachwissens",
er handelt und überlegt erst hinterher die Folgen seiner Hand-
lung, der Teufel ist schon hier, wo er uns zum ersten Male
in der Weltgeschichte entgegentritt, der dumme Teufel; zu
spät sieht er ein, dafs Ahuramazda ihn überlistet hat, und
gerät darüber in eine Bestürzung, die seine Kräfte lähmt und
ihn in Untätigkeit verharren läfst.
Erster Akt (3000 Jahre). Ahuramazda benutzt diese
Zeit, um sich mit einer Heerschar göttlicher Geister zu um-
geben. Sie zerfallen in drei Klassen: die 6 Amesha-<?penta,
die 24 Yazata und die Fravashi's.
a) Die sechs AmesJia-rpenta, „die unsterblichen Heiligen",
sind nur Verkörperungen abstrakter Begriffe, und ihre Stellung
über den aus der ' Volksreligion beibehaltenen Göttern zeigt
deutlich, dafs wir es mit einem künstlichen, aus der Reflexion
entsprungenen System zu tun haben. Ihre Namen sind : 1. Vohu-
mano, „die gute Gesinnung"; 2. Äslia vahisJda, ,,die beste Rein-
heit"; 3. Kshatra vcärya, „die wünschenswerte Herrschaft";
4. Haurvatät, „die Vollkommenheit" ; 5. Ameretät, „die Unsterb-
lichkeit"; 6. (^penta Armaüi, „die heilige Weisheit".
b) Die 24 Yasata, d.h. „Verehrungswürdigen"; unter diesem
Namen werden, wie es scheint, teilweise die von der Reforma-
tion des Zarathustra zurückgedrängten Volksgötter befafst,
daher auch ihre Zahl sehr verschieden angegeben wird. Die
wichtigsten sind: 1. 3Iithra, der auf der Hnra herezaiti thro-
nende „Gott mit den weiten Triften", der „Herr der Länder",
ursprünglich wohl, wie der Mitra des Veda, das dem Menschen
befreundete Sonnenlicht; 2. Qraosha (von gru, hören) scheint
nach seiner Schilderung in den Gäthä's (Yasna 56) ein Genius
des Gebets und der Gebetserhörung zu sein, „dessen Leib der
Manthra (Spruch) ist"; vgl. Sanskrit maniramürti, „das Gebet
als Leib habend", als Beiwort des Qiva; 3. Rashnu, ein Genius
der Gerechtigkeit, daher er der Geradeste fraliishtaj heifst
und ein Schrecken der Räuber und Diebe ist. Diesen dreien
werden wir weiter unten als Totenrichtern auf der Brücke
Cinvat begegnen. — Von den übrigen erwähnen wir nur
Tishtrija, einen Sternengott, vielleicht, da er als Hüter der
östlichen Himmelsgegend bezeichnet wird, der Morgenstern;
138 ^- I^iß Religion der Iranier.
zugleich ist er eine regenspendende Gottheit und daher der
besondere Gegner des Dämons der Dürre. Von besonderm
Interesse ist noch VercthragJma, ein Gott des Sieges, ent-
sprechend dem indischen Vritrahan, „Vritratöter", als Bei-
wort des Indra^ der im Avesta als Andra zu den Dämonen
gezählt wird, während sein Epitheton als Bekämpfer des Dä-
mons Vritra, der die Wolkenkühe verschlossen hält, ihm in
Iran eine Stelle unter den guten Geistern verschafft hat.
c) Eine dritte und letzte Klasse der guten Geister sind
die FravasMs, die individuellen Urbilder und schützenden
Genien der einzelnen Menschen. Jeder Mensch hat seine Fra-
vasM, welche von jeher unsterblich im Himmel vorhanden
war, bei der Geburt in ihn herabgestiegen ist, um seine Schritte
zu leiten und ihn vor Bösem zu bewahren, und welche nach
dem Tode wieder in den Himmel zurückkehrt. Aber auch
während der Mensch lebt, weilt seine Fravashi oben im Himmel,
um über ihn zu wachen; im Minokheret heifst es: „Alle die
unzähligen Sterne, welche sichtbar sind, werden die Fravashi' s
der Irdischen genannt, denn für die ganze Schöpfung, welche
Ahuramazda geschaffen hat, für das Geborene und Nicht-
geborene, ist eine Fravashi mit gleichem Wesen vorhanden."
Nahe verwandt mit diesem iranischen Glauben und vielleicht
durch ihn beeinflufst ist die Vorstellung der Griechen von
dem §ai[ji,ov, der Römer von dem genius, welcher im Menschen
wohnt und ihn beschützt, sowie die christliche Vorstellung
von den Schutzengeln, und wenn Jesus Matth. 18,10 von den
Kindern sagt: „Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das
Angesicht meines Vaters im Himmel", so dürfte diese dem
jüdischen Gedankenkreis fernliegende Vorstellung zu den An-
schauungen gehören, welche vom Judentuni aus der iranischen
Religion übernommen worden sind.
Zweiter Akt (3000 Jahre). Nachdem Ahuramazda die
Schöpfung der Geister vollendet hat, schafft er zu Anfang
dieses Aktes in 365 Tagen eine Idealwelt im Himmel; er
schafft in 45 Tagen den Himmel, in 60 Tagen das Wasser,
in 75 die Erde, in 30 die Bäume, in 80 das Vieh, in 75 den
Menschen. 3000 Jahre besteht diese Schöpfung frei von allen
Plagen im Himmel. Inzwischen hat sich Angramainyu von
3. Die Religion der Iraiiier. 139
seiner Bestürzung erholt und schafft in diesen 3000 Jahren
eine Oppositionsschöpfung böser Geister, welche gleichfalls in
drei Klassen sich gliedern, die Daeva's, die JDnifs und die
Pairikd's nebst den YättCs.
a) Die Daevci's. Entsprechend den Amesha-Qpenta's wer-
den sechs oberste Daeva's von Angramainyu geschaffen :
1. Akoniano, „die böse Gesinnung"; 2. Indra, auch in der
Form Andra vorkommend, der indische Gewittergott, der in
Iran zu einem Feuerdämon geworden ist; 3. ^cmru, Dämon
der Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit, von unsicherm Ur-
sprung; man will ihn mit dem indischen ^arn zusammen-
bringen, welches bei Grammatikern als ein Beiname des Vishnu,
im Mahäbhäratam als Name eines himmlischen Gandharva vor-
kommt; 4. NäongJiaithya, Dämon des Hochmuts und der Un-
duldsamkeit, entspricht dem indischen Näsatya, welches im
Dual als Beiwort der Ägvin's, der indischen Dioskuren, vor-
kommt; 5. Tauru als Gegner des Haurvatät und 6. Zairica als
Gegner des Ameretät sind die Erreger widrigen Geschmackes
der Speisen und Erzeuger der Gifte. — Aufser diesen sechs
obersten Dämonen gibt es noch eine Reihe anderer, von denen
wir nur den Äeslima nennen, welcher oft den genannten als
siebenter beigezählt wird; er ist ein Dämon des Zornes und
der Rachsucht und hat, wie wir später sehen werden, auch
seinen Weg in die Bibel gefunden.
b) Die Dny's, vier weibliche Dämonen, nämlich: Bi(sh-
yangta, der Schlaf, Nagii, die Verwesung, Ägha-doithra, der
böse Blick (das malocchio) und JaJii, die Unzucht.
. c) Die Pairika's, weibliche Dämonen, welche auf der
Erde umherwandeln und durch ihre Schönheit die Männer ver-
führen. Als männliches Gegenstück werden oft mit ihnen
zusammen die Yäüi's genannt, entsprechend den indischen
Yätu's, welche schon im Rigveda als eine Art Gespenster vor-
kommen.
Dritter Akt (3000 Jahre). Die im vorigen Akte von
Ahuramazda im Himmel hervorgebrachte Idealschöpfung wird
nunmehr in den Raum herabgelassen, den sie gegenwärtig
einnimmt, und welcher zum künftigen Kampfplatze bestimmt
ist. Hier besteht sie während der noch übrigen 3000 Jahre
140 ^- Die Religion der Iranier.
des Waffenstillstandes unangefochten von den Dämonen unter
der Herrschaft zweier "mythischer Wesen als Prototypen der
Menschenwelt und Tierwelt, des Urmenschen und des Ur-
stier s. Der erstere heilst Gayo maretan, „sterbliches Leben",
und drückt durch seinen Namen schon das allgemeine Schick-
sal der Menschheit aus; der letztere wird Geus urvan, „die
Seele des Stiers", genannt, ein Name, welcher, wie es scheint,
ihn als die Seele, d. h. das Wesen der Tierheit als solcher
und im allgemeinen, bezeichnen soll. Da Angramainyu sich
während dieser Zeit noch des Angriffs auf die Geschöpfe des
Ahuramazda enthalten mufs, so sucht er wenigstens dessen
Schöpfung zu schädigen, indem er auf der Erde unfruchtbare,
das gute Ackerland unterbrechende Strecken hervorbringt,
den heilsamen Pflanzen giftige, den nützlichen Tieren schäd-
liche entgegenstellt.
Vierter Akt (3000 Jahre). Mit Anbruch dieses Aktes
ist der neuntausendjährige Waffenstillstand abgelaufen, und
Angramainyu mit seiner Heerschar höllischer Dämonen dringt
in die Schöpfung ein. Die erste Untat der Dämonen besteht
darin, dafs sie den Gayo maretan und den Geus urvan töten.
Klagend schwingt sich die Seele des Urstiers zum Ahuramazda
auf und ist fortan im Himmel ein Schutzgeist der Tiere. Aus
dem Leibe des Urstiers entstehen 55 Arten von Getreide und
12 Arten heilsamer Pflanzen, aus seinem Samen entstehen
zwei Rinder, ein männliches und ein weibliches, und von ihnen
werden 272 Arten guter Tiere erzeugt. Was aus den Pflanzen
und Tieren wird, welche Ahuramazda im Himmel geschaffen
und mit der Schöpfung auf die Erde herabgelassen hatte, er-
fahren wir nicht. Am nächsten liegt es, anzunehmen, dafs
sie das Schicksal des Urstiers teilen und von den Dämonen
getötet werden. Auch Gayo maretan, „das sterbliche Leben",
wird von ihnön hingemordet, aber sein Same wird in der Erde
40 Jahre lang aufbewahrt; dann erwächst aus ihm eine Raivas-
staude (eine Rhabarberart, Rheum ribes), welche sich zu zwei
Stengeln entfaltet, aus denen Mashija und Mashyäna, Mann
und Weib, als die ersten Menschen sich entwickeln. Zu ihnen
spricht Ahuramazda (Bundehesh cap. 15) : „ Seid Menschen,
seid die Eltern der Welt; ihr seid von mir vollkommenen
3. Die Religion der Iranier. 141
Sinnes als die besten Wesen geschaffen; gesetzliche Werke
verrichtet vollkommenen Sinnes, denket gute Gedanken, sprecht
gute Reden, tut gute Handlungen, verehret nicht die Daeva's."
Aber Mashya und Mashyäna befolgen diese Ermahnung nicht.
Nachdem sie in Blätter gekleidet und von Milch und Früchten
sich nährend, eine Zeitla"ng umhergewandert sind, fangen sie
an, Fleisch zu essen, den Dämonen zu opfern und sich zu
begatten. Sie und ihre Nachkommen stehen 3000 Jahre lang
unter dem Einflüsse der guten wie der bösen Geister, Die
letztern wandeln während dieser Periode noch in körperlicher
Gestalt auf der Erde, um die Menschen zu verführen. Un-
gleich ist das Schicksal der Menschen nach dem Tode, je
nachdem sie sich zu den guten oder bösen Geistern gehalten
haben. Im Norden von Iran erhebt sich der Götterberg, die
Hara heresaiti (Pehlevi : Alburz, heute Eiburs, mit dem Dema-
vend als höchstem Gipfel) ; von ihm aus spannt sich über einen
Abgrund die Brücke Cinvat („die Versammelnde"), welche in
das Garo-nmäna (Pehlevi: Garötmän, das Paradies des Ahura-
mazda, wörtlich die „Wohnstätte der Lobgesänge") führt.
Nach dem Tode weilt die Seele noch drei Tage in der Nähe
des Leichnams; dann gelangt sie hinauf zur Hara berezaiti
und zur Brücke Cinvat, an welcher die drei Totenrichter
Mithra, (^raosha und Rashnu sitzen; von ihnen werden die
Taten der Seele auf einer grofsen Wage gewogen ; überwiegen
die guten Taten, so kehrt die Seele zum Garo-nmäna in ihre
Fravashi zurück, wo sie bis zum Weltende verbleibt. Über-
wiegen ihre bösen Werke, so wird sie von der Brücke Cinvat
in die Hölle DaosJutngha (Pehlevi: döshäJch) hinabgestürzt, wo
sie die Zeit bis zum Weltende in Qualen verbringt. Sind gute
und böse Werke gleichwiegend, so verbleibt die Seele in einer
Mittelwelt, ohne Lust imd ohne Leid, gleichfalls bis zum Welt-
ende. ' Überzählige gute Werke können als opera supereroga-
tionis Freunden und Verwandten angerechnet werden. So tobt
der Kampf zwischen Gutem und Bösem mit ungleichem Er-
folge 3000 Jalije lang.
Fünfter Akt (3000 Jahre). Um den Menschen den
Kampf gegen die Dämonenwelt zu erleichtern, sendet Ahura-
mazda zu Anfang dieser letzten Weltperiode seinen Propheten
142 V- Die Religion der Iranier.
Zarathustra. Er gibt als wirksamste Waffe gegen die bösen
Geister den Menschen das Avesta. Von nun an können die
Daeva's wenigstens nicht mehr in leibHcher Gestalt auf der
Erde wandeln. Ein goldenes Zeitalter beginnt, welchem unter
Ardaschir Bäbeghän (oben S. 130 fg.) ein silbernes, unter Chosur
Nushirvän ein stählernes und in der mohammedanischen Zeit
ein ehernes Zeitalter folgt. Die Welt wird um so schlechter,
je weiter das Auftreten des Propheten zurückliegt. Aber ein
grofser Aufschwung ist zu erwarten. Zwar Zarathustra ist
gestorben, aber sein Same wird in den Wassern des Sees
Kangii aufbewahrt und gegen die Angriffe der Dämonen von
99999 Fravashi's behütet. In diesem See badet alle tausend
Jahre eine reine Jungfrau und gebiert aus dem Samen des
Zarathustra einen neuen Propheten. Der erste derselben wird
TJlxhsliyat-ereta („wachsen machend das Erhabene", Pehlevi:
Oshedar hämi) genannt, und zu seiner Beglaubigung wird die
Sonne zehn Tage und Nächte am Himmel stehen bleiben. Er
wird dem Avesta eine neue Abteilung zufügen; aber auch in
seinem Jahrtausend werden die Daeva's mächtig sein; ein
furchtbarer Wolf wird die Menschen quälen, mit dessen end-
licher Erlegung die reifsenden Tiere von der Erde schwinden
werden, und ein Dämon Malkosh wird Schnee und Regen über
die Erde bringen, durch welche sie verödet. Abermals nach
Ablauf von tausend Jahren wird in derselben Weise ein zweiter
Prophet ühhshyat-nemo („wachsen machend die Verehrung",
Pehlevi: Oshedar mäh) geboren werden, zu dessen Beglaubi-
gung die Sonne zwanzig Tage am Himmel stehen bleibt. In
seinem Jahrtausend werden die Menschen einen grofsen Drachen
zu bekämpfen haben, nach dessen Überwindung alle Schlangen
von der Erde verschwinden werden. Endlich wird nach aber-
mals tausend Jahren aus dem Samen Zarathustras von einer
reinen Jungfrau der Prophet geboren werden, zu dessen Be-
glaubigung die Sonne dreifsig Tage am Himmel stehen bleiben
wird, und welcher bestimmt ist, das Weltende herbeizuführen.
Er heifst ^aoshyang („der da retten wird", , der „Heiland",
Pehlevi: Soshios). Auf Befehl des Ahuramazda wird QaoshyanQ
die Auferstehung aller Toten bewirken; „in jener Zeit wird
man vom Geiste der Erde die Gebeine, von dem des Wassers
3. Die Religion der Iraiiier. 143
das Blut, von dem der Pflanzen die Haare, von dem des Feuers
die Lebenskraft, welche von ihnen von Anfang an aufgenommen
sind, zurückfordern"; alle Menschen werden in der Gestalt
wieder auferstehen, die sie bei Lebzeiten hatten, die Altern
vierzigjährig, die Jüngern im Alter von fünfzehn Jahren; an
allen werden ihre guten und bösen Taten sichtbar werden
Dann wird QaoshyanQ die grofse Weltversammlung Qatvagtran
anberaumen, in welcher alle Menschen von Gayo maretan an
bis auf die Gegenwart hin erscheinen müssen, und über ihnen
wird QaoshyanQ, unterstützt von 15 männlichen und 15 weib-
lichen Gehilfen, Gericht halten. Ein Stern, der im Bundehesh
Gurzsliehr heifst, wird auf die Erde stürzen, welche erzittern
wird wie ein Lamm, wenn der Wolf es ergriffen hat; die Me-
talle werden von der Hitze zerschmelzen, die Bösen erleiden
dadurch schreckliche Qualen, die Guten werden durch das ge-
schmolzene Metall hindurchgehen, als wäre es laue Milch.
Dann wird (^aoshyang die guten und die bösen Menschen
scheiden, wie man weifse und schwarze Schafe von einander
scheidet. Die Guten gehen in den Himmel des Ahuramazda
ein, die Bösen werden zu ihrer Läuterung der Hölle über-
liefert. Nur drei Tage und drei Nächte dauert ihre Qual,
aber sie ist schärfer als alles, was die Menschen seit den
6000 Jahren ihres Bestehens erlitten haben. Allen wird ein
Zeichen angeheftet, welches ihre Schmach offenkundig macht,
so dafs sie vor Scham und Keue vergehen möchten. Nach
drei Tagen ist ihre Sünde gesühnt, und alle, ohne Ausnahme,
gehen in den Himmel des Ahuramazda ein. Den Schlufs des
Weltdramas büdet die endliche Überwindung der bösen Geister
durch die guten; Vohumano bekämpft und vernichtet den
Akomano, Asha vahista den Indra, Kshathra vairya den Qauru,
Qraosha den Aeshma, usw. Zuletzt bleibt nur noch Angra-
mainyu übrig; er wird von Ahuramazda selbst überwunden
und in seine eigene Hölle hinabgestürzt, wo er mit dieser
selbst und allen in ihr aufgehäuften Unreinigkeiten verbrennt
und für immer zunichte wird.
144 ^I- ^ie Eeligion des alten Judentums.
VI. Die Religion des alten Judentums.
1. Lbcrsicht der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil bis zu
ihrer Zerstreuung unter die Yölkei:.
Die Hebräer oder, wie sie jetzt, wo wenig mehr als der
Stamm Juda übrig war, nach diesem mittels dcnommatio
a potiori genannt wurden, die Juden waren nach ihrer Rück-
kehr aus der babylonischen Gefangenschaft über zweihundert
Jahre, von 536 bis 332, Untertanen des grofsen, wohlorgani-
sierten und nach liberalen Grundsätzen regierten Perserreiches,
und in dieser Zeit des Innern Friedens befand sich 'das arme,
gequälte Volk vielleicht besser als lange vorher und als je
nachher. Allerdings war der Druck der zweifachen Besteuerung
von Seiten- des Persischen Reiches und der einheimischen
Priesterschaft kein geringer, aber die Perser legten der freien
Ausübung der Bräuche und dem weitern Ausbau der Satzungen
der jüdischen Religion kein Hindernis in den Weg; auch
waren die Perserkönige von einem zur Tradition gewordenen
AVohlwollen gegen die Juden geleitet: Kyros hatte ihnen die
Heimkehr gestattet und wurde dafür vom zweiten Jesäia als
ein Messias gefeiert (oben S. 97); Darius (521 — 485) gab den
Juden die Erlaubnis zum Bau des zweiten Tempels, welche
widerrufen worden war, zurück (Esra 6,7), so dafs im sechsten
Jahre seiner Regierung der Tempelbau vollendet werden
konnte; Xerxes war als Ahasverus (entstellt aus KsJiayärsha
= Esp^Tjc) aus der Estherlegende den Juden in angenehmer
Erinnerung; und sein Nachfolger Artaxerxes I. Longimanus
(465 — 424) hatte nicht nur dem Esra Erlaubnis gegeben, eine
weitere Kolonie nach Jerusalem zu führen (458), sondern auch
seinen Günstling und Mundschenken, den Nehemia, mit aus-
gedehnten Vollmachten nach Palästina entsandt (444). Beide
wirkten zusammen zur Organisation der jungen Gemeinde,
indem sie die Mischehen aufzulösen suchten, die Mauern
Jerusalems wieder herstellten und vor allem das Gesetzbuch
des zweiten Tempels proklamierten und in feierlicher Sitzung
das ganze Volk darauf verpflichteten. Dank der starken Ver-
mehrung der Bevölkerung, sowie einer liberalen Bestimmung
1. Übersicht -der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 145
des Deuteronomium (23,8), welche erlaubte, Edomiter und sogar
Ägypter in der dritten Generation in die Gemeinde Jahves
aufzunehmen, breitete sich das jüdische Volk bald weit über
die ihm ursprünglich von den Persern angewiesene Landschaft
Judäas aus; es entstanden zahlreiche jüdische Stadtgemeinden,
nach Westen zu in Philistäa sowie später, in der griechi-
schen Zeit, nördlich von Samaria in Galiläa und östlich vom
Jordan in Peräa. Auch unter den folgenden Perserkönigen,
Darius IL Nothus (424—405), Artaxerxes IL Mnemon (405 —
359), Artaxerxes in. Ochus (359—338), Arses (338— 33G) und
Darius III. Codomannus (336 — 331), ist wenig von den Juden
die Kede, und wenn das glücklichste Volk dasjenige ist, von
welchem die Geschichte am wenigsten spricht, so dürfte auf
die Geschichte der Juden unter persischer Oberhoheit dieses
Wort seine Anwendung finden. Nur einmal treten sie hervor,
sofern sie sicli an dem Aufstande der Syrer gegen Arta-
xerxes III. Ochus beteiligten, der von dessen Minister, dem
ägyptischen Eunuchen Bagoas, gedämpft wurde, worauf eine
Anzahl von ihnen nach Hyrkanien, an das südliche Ufer des
Kaspischen Meeres, deportiert wurde. Eine dunkle Erinnerung
an diese Episode scheint dem durchaus romanhaften, aller
historischen Zusammenhänge spottenden Buche Judith zu-
grunde zu liegen, in welchem Kap. 12 Bagoas als Kämmling
und Diener des Holophernes erscheint.
Dem während der Perserperiode im religiösen Zeremoniell
mehr und mehr erstarrenden Judentum erwuchs eine neue
und grofse Gefährdung dessen, was ihnen vor allem teuer
war, als Alexander der Grofse in drei wuchtigen Schlägen das
morsche Perserreich in Trümmer legte, und die überlegene
hellenische Kultur anfing, sich über den ganzen Orient zu ver-
breiten. Unter dem Alexanderzuge selbst hatten, wie es scheint,
die Juden nicht erheblich zu leiden ; sie waren es schon längst
gewohnt, aus der Hand des einen Machthabers in die des
andern überzugehen, und da sie, als Alexander 332 Syrien
und Ägypten eroberte, nicht wie Tyros und Gaza Widerstand
leisteten, so zog das Unwetter vorüber, ohne sie wesentlich
zu schädigen. Auch als die blutigen Kampfspiele ausbrachen,
von denen Alexander vorausgesagt hatte, dafs sie über seiner
Detjssen, Geschichte der Philosophie. II, n. 10
\4:G "V"!. Die Religion des alten Judentums.
Leiche gefeiert werden würden, als von o2;> bis 301 die Feld-
herren Alexanders das Erbe des grofsen Eroberers, statt es
friedlich zu teilen , sich gegenseitig strittig machten , indem
jeder nach der Alleinherrschaft strebte, und die andern sich
gegen ihn verbündeten, — auch in dieser stürmischen Zeit
blieben die Juden verhältnismäfsig in Ruhe. Nachdem der
schlimmste Störenfried, Antigenes, durch die Schlacht bei
Ipsus 301 beseitigt worden war, und aus den Eroberungen
Alexanders drei grofse Reiche, das mazedonische, syrische
und ägyptische erstanden waren, gingen die Juden zunächst
in den Besitz Ägyptens über und führten noch für ein Jahr-
hundert (301 — 198), namentlich unter der weisen und mafs-
vollen Regierung der drei ersten Ptolemäer, Lagi, Philadelphus
und Euergetes, ein erträgliches Dasein. Mögen auch die Be-
richte über die Entstehung der Septuaginta im Kreise der
zur raschen Blüte gelangten jüdischen Kolonie in Alexandria
unter besonderer Mitwirkung des Ptolemäus Philadelphus, von
denen oben (II, i, S. 462 fg.) die Rede war, weit übertrieben
sein, so legen sie doch für die guten Beziehungen der ersten
Ptolemäer zu den von ihnen beherrschten Juden hinreichend
Zeugnis ab. Unruhigere Zeiten für die Juden begannen, seit
der schwache Ptolemäus IV., mit dem Beinamen Philopator,
im Volksmunde Tryphon (der Schlemmer) genannt, 221 den
Thron der Pharaonen bestiegen hatte, und der kurz vorher
auf den syrischen Thron gelangte Antiochus III. die Zeit für
gekommen hielt, Palästina wieder an sich zu reifsen. Zwar
gelang ihm dies nur vorübergehend, als aber 205 Ptolemäus V.
Epiphanes als vierjähriges Kind in Ägypten König geworden
war und die Herrscher von Mazedonien und Syrien überein-
kamen, Ägypten unter sich zu teilen, gelang es dem Antiochus,
den gröfsten Teil Cölesyriens an sich zu reifsen, und mit der
Niederlage des ägyptischen Feldherrn Skopas an den Jordan-
quellen im Jahre 198 ging Palästina definitiv in den Besitz
der syrischen Könige über.
Inzwischen hatte der Hellenismus in den bessern Kreisen
der jüdischen Bevölkerung, trotz allem Eifer für das Gesetz
oder vielleicht gerade als Reaktion gegen denselben, tiefe
Wurzeln geschlagen; griechische Literatur und Kunst übten
1. übersiebt der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 147
auch in Jerusalem eine mächtige Anziehungskraft aus; man
fing an, den epischen, lyrischen und dramatischen Dichtungen
der Griechen vor Genesis, Psalmen und Hiob den Vorzug zu
geben, und manche mochten in der Philosophie eines Piaton
gröfsere Befriedigung finden als in der Religion der Väter.
Auch in Aufserlichkeiten suchte man hellenisches Wesen
nachzuahmen, hebräische Namen wurden gräzisiert, Matthathia
wurde zu Matthaeus, Jonathan zu Jannaeus, Josuah zu Jason,
Eljakim zu Alcimus, Sacharja zu Zachaeus, und die vornehme
hebräische Jugend suchte es in sportlichen Übungen den
Griechen gleichzutun. Diese hellenistischen Neigungen schienen
dem zweiten Nachfolger des Antiochus III., dem 175 — 164
regierenden Antiochus IV. Epiphanes („der Erlauchte", im
Volksmunde 'Era[j.av>]t;, „der Verrückte", genannt), den Boden
hinreichend vorbereitet zu haben, um einen Lieblingswunsch
durchzusetzen, indem er kurzerhand beschlofs, die durch ihre
hochmütige Exklusivität unter den Völkern Vorderasiens schon
lange mifsliebige jüdische Religion aufzuheben und den Kultus
Jahves durch den der olympischen Götter zu ersetzen. Ein
im Jahre 170 in Jerusalem ausgebrochener Streit zwischen
zwei verwandten Familien um die nicht nur angesehene und
mächtige, sondern auch lukrative Stelle des Hohenpriesters
(welcher in der Regel das Vorrecht hatte, die an den Gesamt-
staat abzuführenden Steuern zu pachten und durch Unter-
pächter eintreiben zu lassen) bot dem König Antiochus eine
willkommene Gelegenheit, sich in die internen Angelegenheiten
der jüdischen Gemeinde zu mischen. Er erklärte sich gegen
beide um das Amt streitende Brüder, Onias und Jason, und
für den Menelaus (d. i. Menahem), den Angehörigen einer
Seitenlinie, und unterstützte denselben in seinen Ansprüchen^
indem er 1G8 Jerusalem durch ein Heer besetzen und die Akra
südlich vom Tempelberg zu einer starken Festung ausbauen
liefs. Nachdem er sich so zum Herrn der Stadt gemacht hatte,
erfolgte im Dezember 168 sein berüchtigtes Edikt, welches die
Beschneidung sowie das Feiern des Sabbats und der übrigen
jüdischen Feste verbot, die Besitzer des mosaischen Gesetz-
buches mit Todesstrafe bedrohte und in der Provinz wie in
Jerusalem den Kultus der hellenischen Götter einrichten und
10*
148 VI- I^iß Religion des alten Judentums.
dessen Ausführung durch besondere Aufseher überwachen Hefs.
Im Tempel zu Jerusalem wurde ein Altar und eine Statue
des olympischen Zeus (das ßSeXuyfjia xf^c, eprip.wceoc;, der „Greuel
der Verwüstung", Daniel 9,27. 11,31. 12,11; 1. Makkab. 1,57.
6,7 — von Jesus Matth. 24,15, vgl. 2. Thessal. 2,4, auf die
künftige Zeit bezogen) aufgerichtet. Diese radikale Mafsregel
verfehlte nicht nur ihren Zweck, sondern bewirkte das Gegen-
teil des Beabsichtigten, indem dadurch der Eifer für das Gesetz
der Väter neu entflammte, und in allen Teilen der jüdischen
Provinzen die Vorboten eines allgemeinen Aufstandes sich
ankündigten. Zum Ausbruch kam derselbe in Modin unweit
Lydda in der Nähe des Meeres, wo der Priester Matthathias,
ein Urenkel des Chasmonai^ daher sein Geschlecht als das der
Hasmonäer bezeichnet wird, sich gegen den Befehl des könig-
lichen Abgesandten auflehnte, denselben erschlug und mit
einer Schar Treugesinnter ins Gebirge flüchtete, wo sich bald
ein Heer um ihn sammelte. Mit Hilfe desselben stellte er in
den einzelnen Ortschaften die jüdische Religion wieder her,
die heidnischen Altäre wurden zerstört, die Kinder beschnitten
und die Heiden, wie auch die ihre Gesinnung teilenden Juden,
ohne Schonung verfolgt. Als Matthathias 166 starb, überliefs
er die Fortsetzung des Werkes seinen fünf Söhnen, Johannes,
Simon, Judas, Eleazar und Jonathan, unter denen Simon
durch Weisheit, Judas durch Tapferkeit, Jonathan durch
staatsmännische Klugheit sich auszeichneten.. Den Oberbefehl
übernahm zunächst Judas mit dem Beinamen 3Iaqqdb% „der
Hämmerer" (von maqqabäh, der Hammer), nach welchem das
ganze Geschlecht als das der Makhabäer bezeichnet wird.
Viermal gelang es ihm in den folgenden Jahren, die gegen ihn
gesandten syrischen Heerhaufen zurückzuwerfen, er besetzte
Jerusalem bis auf die in den Händen der Syrer bleibende
Akra und stellte Ende 165 den drei Jahre lang unterbrochen
gewesenen Opferdienst im Tempel wieder her. Sodann wandten
sich die Brüder, Simon nach Galiläa und Judas nach dem
Ostjordanlande, um den von der umwohnenden Bevölkerung
angefeindeten Juden Hilfe zu bringen und sie sämtlich mit
ihren Familien nach Jerusalem überzuführen. Weniger glück-
lich war Judas, als, nach dem im fernen Osten 164 erfolgten
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 149
Tode des Antiochus IV., der Keichsverweser Lysias mit dem
neunjährigen Antiochus V. heranrückte; Judas wurde ge-
schlagen, die auf dem Tempelberg belagerten Juden mufsten
sich ergeben, und .die Befestigungen des Tempelberges wurden
geschleift. Lysias zog ab, nachdem er den Juden freie Aus-
übung ihrer Religion bewilligt hatte, ohne dafs es ihm gelang,
den Menelaus wieder in das Hohepriesteramt einzusetzen. Bald
darauf wurden Lysias und sein Mündel Antiochus durch den
Seleuciden Demetrius gestürzt, welcher vergebens versuchte,
den Alcimus, einen legitimen Abkömmling der alten Hohen-
priesterfamilie, gegenüber den Ansprüchen der Makkabäer auf
das Hohepriestertum in dieses Amt einzusetzen. Noch einmal
errang Judas gegen den von Demetrius entsandten Nikanor
161 bei Adasa einen glänzenden Sieg; als aber im folgenden
Jahre Bacchides mit einem grofsen Heere erschien und das
entmutigte Heer des Judas ihn bis auf 800 Getreue verliefs,
warf er sich mit diesen dem weit überlegenen Heere des Feindes
entgegen und starb im Kampfe bei Elasa den Heldentod (160).
Sein Leib wurde zu Modin im Erbbegräbnis der Familie be-
stattet; er hatte erreicht, dafs die Freiheit der Juden in Aus-
übung ihrer Religion von den syrischen Nachbarn nicht mehr
angetastet wurde.
Während nunmehr in Jerusalem Alcimus infolge des von
Bacchides über Judas erfochtenen Sieges wieder als Hoher-
priester eingesetzt wurde, sammelten sich in der Wüste Thekoa
(südlich von Bethlehem) die Anhänger des Judas um seinen
Bruder Jonathan, welcher seinem gefallenen Bruder nicht
an religiöser Begeisterung, vielleicht auch nicht an löwen-
mäfsiger Tapferkeit gleichkam, dafür aber mit diplomatischer
Klugheit die fortwährenden Wirren und Thronstreitigkeiten
im Seleucidenreiche zu benutzen wufste, um die Herrschaft
seiner Familie zu befestigen. Als der legitime Hohepriester
Alcimus 159 gestorben war und sein Amt mehrere Jahre
vakant blieb, war es für Jonathan das nächste Ziel seines Ehr-
geizes, Hoherpriester zu werden. Von Demetrius L, der
ihm erlaubt hatte, ein Heer zu werben, in Jerusalem einzu-
ziehen und den Tempelberg zu befestigen (während die Akra
nach wie vor von den Syrern besetzt gehalten wurde), wandte
150 VI- Die Religion des alten Judentums.
sich Jonathan dem Prätendenten Balas Alexander zu, der
ihn 153 zum Hohenpriester und, nachdem Demetrius im Kampfe
gefallen war, 150 auch zum Meridarchen ernannte. In den
folgenden Jahren kämpfte er für Balas gegen den als Eächer
seines Vaters auftretenden Demetrius II. und setzte diesen
Kampf auch noch fort, nachdem Balas von Ägypten im Stich
gelassen und in Arabien ermordet worden war. Jonathan
begann, lauch die Akra, den letzten Hort der für das legitime
Königtum eintretenden Partei, zu belagern, wurde von De-
metrius IL aufgefordert, sich darüber zu rechtfertigen, und
wagte es, im Vertrauen auf seine Unentbehrlichkeit, sich dem
Könige zu stellen. Auf das Versprechen hin, die Akra nicht
weiter zu belagern und den jährlichen Tribut von 300 Talenten
zu zahlen, wurde er von Demetrius als Freund angenommen,
in seinem Amte als Hoherpriester und Meridarch bestätigt
und erlangte von ihm einen Zuwachs seines Gebietes in
Samaria. Nachdem aber Tryphon, ein ehemaliger Offizier
des Balas, für dessen Sohn, Antiochus VI., eingetreten war,
einen grofsen Teil des Heeres für sich gewonnen und sogar
die Hauptstadt Antiochien eingenommen hatte, fand es Jona-
than opportun, den Demetrius zu verlassen und sich dem
neuen Machthaber anzuschliefsen. Im Verein mit seinem
Bruder Simon säuberte er Palästina von den Anhängern des
Demetrius, schnitt die diesem getreue Besatzung der Akra
durch Errichtung einer Mauer ab, befestigte mehrere Städte
und erregte dadurch das Mifstrauen des Tryphon. Dieser
rückte mit einem Heer in Palästina ein und nahm durch List
den Jonathan gefangen. Vergebens sandte Simon das Löse-
geld für seinen Bruder zugleich mit dessen Söhnen als Geiseln,
Jonathan wurde von Tryphon in Haft behalten und im Jahre
143 hingerichtet.
Jetzt übernahm sein älterer Bruder Simon den Ober-
befehl; er setzte das Werk seines Bruders fort, indem er
Jerusalem wie auch mehrere Städte in der Provinz befestigte
und 141 auch die Akra, das letzte Bollwerk der Seleuciden,
zu Fall brachte. Von dem sich in Seleucia behauptenden,
übrigens aber ziemlich machtlosen Demetrius H. liefs er sich
in seinen Rechten als Hoherpriester und Meridarch bestätigen
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 151
und regierte in Frieden noch bis 135, wo er von seinem eigenen,
in Jericho residierenden Schwiegersohn Ptolemäus ermordet
w urde.
Sein Sohn und Nachfolger Johannes Hyrkanus (135 —
104) fand eine schwierige Situation vor. In Syrien hatte nach
Gefangennahme des Demetrius II. durch die Parther dessen
Bruder Antioc hus VII. Sidetes die Regierung an sich
gerissen und versuchte, seine Hoheitsrechte über die Juden
wieder geltend zu machen. Als er Widerstand fand, eroberte er
Jerusalem und zwang den Hyrkanus, die Befestigungen der Stadt
zu schleifen, die Wafien auszuliefern und die neuerworbenen
Städte dem Syrer zinspflichtig zu machen. Nachdem aber
Antiochus Sidetes in einem Feldzüg gegen die Parther 129
umgekommen war, gewann Hyrkanus wieder freie Hand und
benutzte die während der folgenden Jahre im syrischen Reiche
herrschende Anarchie, um sich wieder unabhängig zu machen,
Jerusalem neu zu befestigen und mit Hilfe eines Söldnerheeres
das Reich Davids in vollem Umfange wiederherzustellen. Es
gelang ihm, Idumäa zu erobern und seine Bewohner zur An-
nahme der jüdischen Religion zu zwingen. Gröfseren Schwierig-
keiten begegnete er bei der Belagerung Samarias durch das
Eingreifen eines neunten Antiochus, bis dieser auf Geheifs der
Römer, mit welchen schon Simon ein Bündnis geschlossen
hatte, davon abstehen mufste, die Juden zu bedrängen, worauf
Hyrkanus Samaria eroberte und zu einem Steinhaufen machte,
wie es vordem von Micha (1,6) geweissagt worden war. Diese
Erfolge erklären die Glorie, mit welcher spätere Zeiten die
Regierung des Johannes Hyrkanus umgeben haben.
Nach der nur einjährigen Regierung seines ältesten Sohnes
Aristobulos (104—103), welcher als erster den Königstitel
annahm, das Gebiet nach Norden zu erweiterte, das Griechen-
tum begünstigte und gegen seine Familie gewütet haben soll,
folgte dessen Bruder Alexander Jannäus (103 — 76), welcher
die Witwe seines Bruders Salöme (Salma) heiratete und nach
einem unglücklichen Kriege gegen Ptolemäus von Ägypten,
dessen schlimmste Folgen nur durch das Eingreifen von dessen
Mutter Kleopatra abgewandt wurden, mit besserem Erfolge im
Ostjordanland und in Philistäa erobernd vordrang. Seine
152 VI. Die Religion des alten Judentums.
kriegerischen Neigungen brachten ihn in Konflikt mit der Partei
der Pharisäer, denen sein Gebaren nicht hohepriesterhch
genug erschien, und als er nach einem unglücklichen Kriege
gegen Arabien ohne Heer zurückkehrte, erhob sich gegen ihn
ein Aufstand, zu dessen vergeblicher Dämpfung er so viele
Grausamkeiten verübte, dafs die Gegenpartei- den Demetrius III.
herbeirief und mit seiner Hilfe den Jannäus vertrieb. Der An-
hänglichkeit des Volkes an die Familie der Hasmonäer und
dem Hafs gegen die Syrer hatte er es zu verdanken, da-fs
sich wieder ein Heer um ihn sammelte, mit Hilfe dessen er
gegen die Gegner wütete und den Aufstand niederwarf. Un-
glückliche Kriege gegen Antiochus XII. und den Araberfürsten
Aretas beschäftigten ihn in den folgenden Jahren; glücklicher
waren seine Eroberungen im Ostjordanlande, die ihm die Gunst
des Volkes wieder zuwandten. Infolge seines ungeregelten
Lebens erkrankte er , unternahm dessenungeachtet nochmals
einen Kriegszug in das Ostjordanland und starb während der
Belagerung von Ragaba im Jahre 76 a. C.
Ihm folgte in der Regierung seine Gemahlin Salome
Alexandra (76 — 67), welche ihren ältesten Sohn Hyrkanus IL
zum Hohenpriester machte und während ihrer mit Umsicht
geführten und ohn« wesentliche Konflikte nach aufsen ver-
laufenden Regierung sich ganz und gar auf die Partei der
Pharisäer stützte. Diese benutzten ihren Einflufs dazu, nicht
nur in der Gerusia ihrer Partei das Übergewicht zu verschaffen
und die Sadducäer in ihr zurückzudrängen, sondern auch die
Gegenpartei grausam zu verfolgen. An die Spitze der letztern
stellte sich Aristobulos, der zweite Sohn der Königin, und
war im Begriffe, einen Aufstand zu erregen, als Salome im
Alter von 73 Jahren starb.
Nach dem Tode der Mutter erfolgte der Zusammenstof's
zwischen beiden Brüdern; der schwache und träge Hyrkanus
wurde von seinem Jüngern, tatkräftigen Bruder Aristobulos
bei Jericho besiegt, in Jerusalem belagert, mufste sich er-
geben und dem Bruder Hohepriestertum und Königswürde ab-
treten, während er seine Einkünfte ungeschmälert behielt.
Hiermit wäre die Angelegenheit des Hyrkanus erledigt -ge-
wesen, hätte ihn nicht sein Freund und Ratgeber, der ehr-
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 153
geizige Iduinäer Antipater ('IvTiTraTTpo^, 'AvT^Tua;) zum Wider-
stände aufgereizt; beide flohen zu Aretas, welcher den Aristobul
besiegte und auf dem Tempelberg belagerte.
Inzwischen war Cn. Pompejus nach seinem glücklichen
Zuo- o-eo-en die Seeräuber 66 mit dem Oberbefehl über Asien
O O O
betraut worden, hatte den Mithridates besiegt, dessen Schwieger-
sohn Tigranes unterworfen, durch Absetzung des letzten Seleu-
ciden, Antiochus XIII. Asiaticus, Syrien definitiv zur römischen
Provinz gemacht (65) und, während er selbst noch im Norden
beschäftigt war, den Scaurus nach Palästina vorausgeschickt.
Beide hasmonäische Brüder warben durch gleiche Geldangebote
um die Gunst des Scaurus, welcher dem Aristobul, weil er
ihn für den zahlungsfähigem hielt, den Vorzug gab und den
Aretas zwang, die Belagerung des Tempelbergs aufzuheben
und, von Aristobul verfolgt, in sein Land zurückzukehren. Im
Frühjahr 63 erschien Pompejus. selbst in Damaskus; von beiden
Königssöhnen wurde er, der römische Bürger, um Entscheidung
über ilir Herrscherrecht angegangen, während eine dritte Partei
den Pompejus um Beseitigung beider und Wiederherstellung
der alten Theokratie bat. Pompejus verschob seine Ent-
scheidung, um gegen Aretas den Nabatäer zu ziehen, zog es
aber dann vor, zunächst den Aristobul, der sich in Unfrieden
von ihm getrennt hatte, zum Gehorsam zu zwingen. Zögernd
unterwarf sich Aristobulos und begab sich, als Pompejus gegen
Jerusalem heranrückte, in dessen Lager mit dem Anerbieten,
die Stadt nebst einem Tribut zu übergeben. Beides wurde
von den Bewohnern Jerusalems verweigert. Pompejus behielt
den Aristobulos in Haft und forderte Jerusalem zur Übergabe
auf. Die Anhänger des Hyrkanus öffneten ihm die Tore, aber
die des Aristobulos verschanzten sich auf dem stark befestigten
Tempelberg. Nach dreimonatiger Belagerung nahm Pom-
pejus denselben ein, betrat zum Entsetzen der Frommen sogar
das Allerheiligste, ohne jedoch die Schätze des Tempels an-
zutasten, bestätigte den Hyrkanus als Hohenpriester, entzog
ihm aber die Königswürde und grof^e Teile seines Gebietes,
namentlich an der Küste, im Norden und jenseits des Jordan,
welche der römischen Provinz Syrien einverleibt wurden. Als
Legat derselben liefs Pompejus den Scaurus zurück, nahm
154 VI. Die Religion des alten Judentums.
den Aristobulos und seine Familie, darunter seine beiden
Söhne Alexander und Antigonos, gefangen mit nach Rom, und
leierte dort 61 einen glänzenden Triumphzug, bei welchem
der König der Juden und Nachkomme der glorreichen Makka-
bäer als Gefangener vor dem Triumphwagen einherschreiten
niufste.
Nach dem Eingreifen des Pompejus stand das jüdische
Land unter römischen Statthaltern; einige durch Alexander
und seinen Vater Aristobul nach ihrer Flucht aus Rom er-
regte Aufstände wurden durch Gabinius 57 — 55 mit leichter
Mühe unterdrückt und hatten nur zur Folge, dafs Hyrkanus
noch strenger als bisher auf das Hohepriesteramt beschränkt
wurde und jeden Einflufs auf die Politik verlor, während
Aristobulos zum zweiten Male in Gefangenschaft nach Rom
abgeführt wurde. Die Bedrückungen des Gabinius wurden
noch überboten durch seinen Nachfolger Crassus, welcher
im Jahre 54 die von Pompejus verschonten Tempelschätze
plünderte, aber im folgenden Jahre bei einem Feldzug gegen
die Parther ums Leben kam. Als 49 der Bürgerkrieg zwischen
Cäsar und Pompejus ausbrach, wurde Aristobulos, den Cäsar
freilief s, um ihn gegen die Pompejaner zu verwenden, in Rom
vergiftet, während sein Sohn Alexander auf Anordnung des
Pompejus in Antiochien enthauptet wurde. Von den Has-
monäern waren nur noch Antigonos, der zweite Sohn des
Aristobulos, und der alte Hyrkanus übrig, welcher ganz und
gar unter dem Einflüsse seines Ratgebers Antipater stand.
Dieser trat nach der Schlacht von Pharsalus sofort für Cäsar
ein und leistete ihm bei der Eroberung Ägyptens wichtige
Hilfe, während Hyrkan seinen geistlichen Einflufs verwendete,
um die ägyptischen Juden günstig für Cäsar zu stimmen.
Zum Danke dafür bestätigte Cäsar, 47 aus Ägypten zurück-
kehrend, den Hyrkan nicht nur in seinem Amte als Hoher-
priester, sondern gab ihm auch die weltliche Herrschaft als
Ethnarch zurück; zugleich erlaubte er den Wiederaufbau der
Mauern Jerusalems und stellte die Herrschaft des Hyrkan über
das als Seehafen wichtige Joppe und andere Städte wieder
her. Antipater wurde zum Prokurator von Judäa ernannt und
benutzte seinen Einflufs, um seine beiden Söhne zu Statt-
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonisclien Exil usw. 155
haltern (axpaTTjot), den Phasael über Jerusalem, den Herodes
über Galiläa, zu setzen. Seine Energie betätigte Herodes, indem
er den Räuber Ezechias und seine Gesellen hinrichtete. Vom
Synedrium dafür zur Verantwortung gezogen, erschien er mit
einem Heere vor Jerusalem, fand es aber doch geraten, sich
seiner Verurteilung durch Rückkehr nach Galiläa zu entziehen.
Kein Ereignis seit dem Tode Alexanders des Grofsen hatte
so erschütternd auf die ganze Weltlage gewirkt, wie die am
15. März 44 verübte Ermordung Cäsars, des edelmütigen Be-
schützers der Juden. In den nächsten Jahren hatten sie keine
andere Wahl, als sich mit schnellem Wechsel der Partei-
stellung dem jedesmaligen Machthaber anzuschliefsen, zunächst
dem Cassius und sodann dem Antonius, wie später wieder
dem Octavianus. Cassius war 43 nach Syrien gekommen
und brachte die Kosten für den Unterhalt seines grofsen Heeres
durch eine schwere Besteuerung der syrischen Bevölkerung,
wie denn auch der Juden, auf, wobei ihm Antipater und Herodes
wertvolle und nicht unvergoltene Dienste leisteten. Noch im
selben Jahre starb Antipater durch das Gift des ehrgeizigen
Malichus, und dieser durch die von Herodes, um den Tod seines
Vaters zu rächen, gedungenen Meuchelmörder. Völlige Anarchie
herrschte in Syrien, als Cassius die Provinz verlassen hatte,
um sich mit Brutus zu vereinigen und dem Heere des Antonius
und Octavianus entgegenzustellen. Nachdem Cassius bei
Philippi 42 seinen Tod gefunden hatte, rückte Antonius in
Syrien ein. Sein schwelgerisches Leben legte der Provinz
abermals schwere Lasten auf, aber gegen die Brüder Phasael
und Herodes erwies er sich, eingedenk der Gastfreundschaft mit
ihrem Vater, freundlich und ernannte sie, ohne auf die An-
schuldigungen der Juden gegen sie zu achten, zu Tetrarchen
des jüdischen Gebietes. Eine Wendung ihrer Lage brachte
das Jahr 40, in welchem, während Antonius bei Kleopatra
weilte, die Parther in die Provinz Syrien einbrachen, für
Antigonos, der als allein noch übriger Sohn des Aristobulos
das Königtum beanspruchte, Partei nahmen, und die Häupter
der Gegenpartei, Phasael und Herodes mit dem alten Hyr-
kanus, zur Sclilichtung des Streites in ihr Lager luden. Hier
wurden durch Antigonos demHyrkanus die Ohren abgeschnitten,
156 VI- Die Religion des alten Judentums.
um ihn zum Hohenpriesteramt unfähig zu machen, Phasael
verzweifelte und starb durch Selbstmord, Hyrkanus aber wurde
gefangen nach Babylonien geführt und Antigenes zum König
der Juden von Gnaden der Parther erklärt, während Herodes
dem Handel mifstraut und sich selbst nebst seiner Familie
durch die Flucht in Sicherheit gebracht hatte. Er selbst be-
gab sich nach Rom und wurde dort 40 a. C. auf Betreiben
des Antonius und unter Zustimmung des Octavian in feier-
licher Senatssitzung zum Könige der Juden ernannt. Mit ihm
begann die Dynastie der Idumäer, während, als letzter
Hasmonäer, Antigonos mit Hilfe der Parther noch als Hoher-
priester und König in Jerusalem herrschte. Gegen ihn mufste
Herodes in den ersten drei Jahren seiner Regierung kämpfen
und sein ihm von den Römern verliehenes Reich mit deren
Hilfe erst erobern. Er kehrte nach Palästina zurück, machte
dem Räuberwesen in Galiläa mit kräftiger Hand ein Ende und
ging dazu über, nach Vertreibung der Parther durch die Römer,
mit Hilfe der letztern den Antigonos in Jerusalem zu belagern.
Nach vieler Mühe gelang 37 die Einnahme der Stadt, Anti-
gonos wurde von den Römern nach Antiochien abgeführt und
dort als der letzte König aus dem berühmten Geschlechte der
Hasmonäer auf Betreiben des Herodes von den Römern ent-
hauptet. Schon während der Belagerung hatte sich Herodes
in Samaria mit Mariamme vermählt; sie war eine Tochter
der Alexandra und Enkelin der beiden Könige, welche so lange
um die Herrschaft gestritten hatten, des 49 in Rom vergifteten
Aristobulos und des noch immer in Babylon von den Parthern
gefangen gehaltenen Hyrkanus H. Im Jahre 36 bewirkte
Herodes dessen Freilassung und ehrte ihn wie einen Vater.
Sechs Jahre später aber schöpfte er Verdacht gegen ihn und
liefs den achtzigjährigen Greis, angeblich auf Grund eines
Richterspruchs des Synedriums, hinrichten. Die Hohepriester-
, würde hatte er im Jahre 35 seinem Schwager Aristobul über-
tragen, als sich diesem aber die Gunst des Volkes zuwandte,
wurde er bald darauf auf Veranlassung des Herodes bei einem
Feste in Jericho ertränkt. Herodes wurde von Antonius zur
Verantwortung gefordert, aber in Gnaden entlassen und mufste
sich nur eine Verkürzung seines Gebietes zugunsten der Kleo-
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 157
patra gefallen lassen. Als bald darauf der Konflikt zwischen
Antonius und Octavian ausbrach, blieb es dem Herodes erspart,
sich offen für einen von beiden zu erklären, da er während
dieser Zeit mit einem Kriege in Arabien beschäftigt war.
Nach der Schlacht von Actium und dem Tode des An-
tonius wurde Herodes von Octavian nach Rhodus vorgeladen
und stellte sich ein, nachdem er seine Gattin Mariamme und
deren Mutter Alexandra nach Alexandreion in Obhut gegeben
hatte mit der Weisung, falls er nidit lebend zurückkehren
werde, beide zu töten. Wider Erwarten wurde er von Octavian-
Augustus gnädig empfangen und sogar noch mit Jericho be-
schenkt. Nach seiner Rückkehr liefs er, durch Verleumdungen
aufgereizt und von Eifersucht gequält, Mariamme hinrichten,
verfiel aber bald darauf aus Reue über diese Tat in eine
schwere Krankheit, und als Mariammes Mutter, Alexandra,
diese Gelegenheit benutzen wollte, um sich in Besitz von
Jerusalem zu setzen, liefs er auch diese töten (28 a. C). Seine
beiden Söhne von der Mariamme hatte er in Rom erziehen
lassen; als sie ihm aber nach ihrer Rückkehr, teils durch ihr
Auftreten, teils durch die Intrigen des Antipater, eines
Sohnes des Herodes aus einer frühern Ehe, verdächtig wurden,
liefs er sie gefangen nehmen und 7 a. C. erdrosseln. Anti-
pater wurde zum Thronerben ernannt und nach Rom geschickt,
um das Testament des Vaters durch Augustus bestätigen zu
lassen. Inzwischen wurde es dem Herodes hinterbracht, dafs
Antipater ilim durch Gift nach dem Leben trachtete. Herodes
liefs ihn nach seiner Rückkehr gefangen nehmen, verfiel in
eine schwere Krankheit und verfügte, durch weitere Hinter-
bringungen veranlafst, seine Hinrichtung. Fünf Tage darauf
starb Herodes selbst (4 a. C). Infolge der erwähnten Tat-
sachen lebte sein Bild im Volke fort als das eines argwöhnischen
und grausamen Tyrannen, und so wird es begreiflich, wie im
Kreise der ersten Christen die völlig grundlose Sage vom
Bethlehemitischen Kindermorde sich bilden konnte. Übrigens
fehlt es im Charakterbilde des Herodes auch nicht an sym-
pathischen Zügen, welche seine Untaten, wenn auch nicht
ausgleichen, so doch in milderm Lichte erscheinen lassen. Er
war, wie so häufig die Semiten, von einem starken Familiensinn
158 ^I- Die Religion des alten Judentums.
beseelt, trug nicht nur für Weib und Kind, sondern auch für
Geschwister und entferntere Verwandte Fürsorge, und wies
ihnen allen in seinem prächtigen, im Norden der Oberstadt
erbauten Palaste Wohnungen an; aber gerade dieses enge
Zusammenw ohnen veranlafste zahlreiche Intrigen und Ver-
leumdungen, denen Herodes ein nur allzu williges Ohr lieh,
wodurch er sich zu Taten fortreifsen liefs, die er bald darauf
bitter bereute. Als Emporkömmling und Ausländer war er
eifrig bemüht, die Gunst seines Volkes zu gewinnen und es
mit der neuen Ordnung der Dinge auszusöhnen, traf bei der
in den Jahren 25 — 23 herrschenden Hungersnot umfassende
und zweckmäfsige Mafsregeln, um das Elend zu lindern, und
zeigte sich innerhalb seines Landes und weit über dessen
Grenzen hinaus als freigebiger, zu Wohltaten geneigter
Herrscher. Insbesondere war er bestrebt, Jerusalem durch
prächtige Bauten zu verschönern, und versuchte vergebens den
Unwillen des an der Erbauung eines Theaters, Zirkus und
Hippodroms Anstofs nehmenden Volkes dadurch zu versöhnen,
dafs er den alten Tempel des Serubabel, der unter den um-
gebenden Prachtbauten zurücktrat, einem Umbau unterwarf,
der wohl eher ein Neubau genannt werden kann, und von
dem ein Sprichwort sagte: „W^er nicht den Tempel des
Herodes gesehen, hat nie etwas Schönes gesehen." Wenn
man schliefslich dem Herodes seine unwürdige Schmeichelei
gegenüber den römischen Grofsen, einem Antonius, Augustus,
Agrippa, zum Vorwurf macht, so ist doch zu bedenken, dafs
diese Unterwürfigkeit eines der Mittel war, durch welche es
dem Herodes gelang, in einer äufserst schwierigen Zeit seinem
Volke, von unerheblichen Störungen abgesehen, während seiner
langen Regierung die Segnungen des Friedens zu erhalten.
Kaum war Herodes verschieden, als es überall im Lande
zu gären anfing, während die drei Söhne des Herodes, Archelaus,
Herodes Antipas und Philippus, in Rom vor Augustus ihre
Ansprüche geltend machten, und eine Deputation der Juden
den Kaiser ersuchte, keinen Herodianer zum Herrscher zu
machen und den Juden zu erlauben, unter römischer Ober-
hoheit nach eigenen Gesetzen zu leben. Nach längerm Be-
denken bestimmte Augustus, dafs Archelaus, nicht als König
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 159
sondern als Ethnarcli, Idumäa, Judäa und Samaria, Antipas
als Tetrarch Galiläa und Peräa (den Landstrich östlich vom
Jordan und dem Toten Meere) und Philippus, gleichfalls als
Tetrarch, die nördlich davon gelegenen Landstriche Batanäa,
Trachonitis und Auranitis erhalten sollten. Die Einkünfte des
Archelaus aus seinem Lande betrugen 600, die des Antipas
'200, die des Philippus 100 Talente.
Im Gegensatze zu seinen Brüdern führte Philippus
(4 a. C. bis 33 p. C.) in seinem kleinen Lande eine milde und
gerechte Regierung, Er war ein Freund der Römer und nannte
zwei neugegründete Städte ihnen zu Ehren Cäsarea Philippi
(an den Jordanquellen) und Julias (nördlich vom SeeGenezareth).
Er starb nach einer friedlichen Regierung 33 p. C; -sein Ge-
biet wurde zur Provinz Syrien geschlagen, bis es Caligula vier
Jahre später dem Agrippa schenkte.
Sehr, verschieden von seinem Bruder Philippus und viel-
mehr an tyrannischen Gelüsten seinem Vater ähnlich war der
andere Tetrarch, Herode s Antipas (4 a. C. bis 39 p. C).
Ihm war das fruchtbare und schöne Galiläa nebst dem durch
die syrische Dekapolis davon getrennt liegenden Peräa zu-
gefallen. Teils zu seiner Sicherheit, teils aus Herodianischer
Prachtliebe erneuerte und befestigte er mehrere Städte, wie
namentlich das von Varus zerstörte Sepphoris in Galiläa und
die, zur Ehre der Kaiserin, Livias, später Julias, genannte
Stadt Betharamphtha in Peräa unweit der Mündung des Jordan
in das Tote Meer. Dem Kaiser Tiberius zu Ehren wurde von
ihm Tiberias an der Westküste des Sees Genezareth gegründet,
grofsenteils mit nicht-jüdischen Bewohnern bevölkert und zur
Landeshauptstadt erhoben. Bei einem Besuche, den er seinem
(in der Bibel Philippus genannten) Stiefbruder Herodes, welcher
keinen Teil an der Herrschaft erhalten hatte, abstattete,
lernte er dessen Gemahlin Herodias, Tochter des 7 a. C. hin-
gerichteten Aristobul und Schwester des spätem Königs
Agrippa, kennen, trennte sich von seiner bisherigen Gemahlin,
einer Tochter des arabischen Fürsten Aretas, und heiratete die
Herodias, welche ihre unerwachsene Tochter Salome, spätere
Gemahlin des Tetrarchen Philippus, mit sich brachte. Die
Gefangennahme und Hinrichtung Johannes des Täufers (nach
160 ^I- I^ie Religion des alten Judentums.
dem Bericht des Josephus in Machärüs, einer Festung östlich
vom Toten Meere) wird von den Evangehen aus einem Kacheakt
der Herodias, von Josephus aus der Furcht des Herodes er-
klärt, der neue Prophet könnte durch seinen Anhang einen
dem Staate gefährlichen Aufstand erregen. Ob Herodes, wie
die Evangelien erzählen, schon in Galiläa auch auf Jesum,
dessen Landesherr er war, aufmerksam geworden sei und ihn
später nach seiner Gefangennahme in Jerusalem persönlich
kennen gelernt habe, mag dahingestellt bleiben. Im Jahre 36
kam es zwischen Herodes und dem Araberfürsten Aretas,
dessen Tochter Herodes lun der Herodias willen verstofsen
hatte, aus diesem Grunde und wegen Grenzstreitigkeiten zum
Kriege. Herodes wurde besiegt und verklagte den Aretas
beim Kaiser Tiberius. Dieser gab dem syrischen Legaten
Vitellius Befehl, den Aretas lebendig oder tot in seine Hand
zu bringen. Vitellius war im Begriffe, diesen unwillkommenen
Befehl auszuführen, da traf die Nachricht vom Tode des
Tiberius ein, und der Rachezug gegen Aretas unterblieb.
Nachdem Caligula seinen Freund Agrippa aus dem Kerker, in
welchen Tiberius ihn geworfen hatte, erhoben und kurzerhand
zum König über das vordem dem Philippus gehörende Gebiet
gemacht hatte, trieb Herodias ihren Gatten an, auch für sich
den Königstitel zu erbitten. Beide begaben sich nach Baiä zu
Caligula, wo jedoch auch ein Gesandter Agrippas eintraf und
den Antipas verräterischer Machinationen beschuldigte. Die
Folge war, dafs Caligula den Antipas nach Lugdunum in
Gallien, wohin ihm auch Herodias freiwillig folgte, verbannte
und dessen Gebiet gleichfalls dem Agrippa zusprach.
Ein ähnliches Schicksal hatte schon lange vorher der
zum Ethnarchen von Idumäa, Judäa und Samaria ernannte
Archelaus (4 a. C. bis 6 p. C.) erfahren. Ihm war die
schwierige Aufgabe zugefallen, die unruhige jüdische Be-
völkerung im Zaume zu halten, und er zeigte sich dieser Auf-
gabe in keiner Weise gewachsen. Seine Ehe mit der Glaphyra
war ungesetzlich und erregte grofsen Anstofs. Wie schon von
seinem Vater Herodes, wurden auch von ihm Hohepriester
willkürlich ernannt und abgesetzt, und so verbalst hatte er
sich bei der Bevölkerung gemacht, dafs neun Jahre nach
1. Übersicht der Gesebicbte der Juden vom babylonischen Exil usw. 161
seinem Regierungsantritt eine jüdische Gesandtschaft vor
Augustus erschien mit der Bitte, den Archelaus seiner Herr-
schaft zu entheben. Der Kaiser fand die Beschwerden be-
gründet und verbannte den Archelaus nach Vienna in Gallien.
Sein Gebiet wurde weiterhin durch römische Prokuratoren
aus dem Ritterstande verwaltet, welche in schwierigen Fällen
auf die Unterstützung des Legaten der Provinz Syrien an-
gewiesen waren, im übrigen aber ihm gegenüber eine selb-
ständige Stellung einnahmen. Ihre Residenz war für gewöhn-
lich Cäsarea, von wo sie zu den Festen nach Jerusalem zu
kommen und im Palast des Herodes Wohnung zu nehmen
pflegten. Sieben dieser proairatores {rijeiKcvsc, iTziTgorcoi, sirapxcO
regierten 6 — 41 p. C. über Judäa. Der bekannteste ist der
unter Tiberius von 26 bis 36 in Judäa und Samaria regierende
Pontius Pilatus, welchem in einem Briefe Agrippas bei
Philo (Legatio ad Cajum § 38) unbeugsame Härte, Bestech-
lichkeit und Grausamkeit nachgesagt werden. Ganz zutreffend,
wird diese Charakteristik nicht sein, denn wiederholte Ver-
suche des Pilatus, die Kaiserbilder und Schilder mit des
Kaisers Namen gegen das Gesetz in Jerusalem einzuführen,
stiefsen auf einen so heftigen Widerstand, dafs Pilatus von
seinem Unterfangen abstand und. nur bei der wohltätigen,
allerdings aus dem Tempelschatz zu bestreitenden Einrichtung
einer 'Wasserleitung sich durch keinen Einspruch der Juden
umstimmen liefs. Sein gewaltsames Auftreten bei einer harm-
losen Prozession in Samaria veranlafste das Eingreifen des
Syrien verwaltenden Legaten Vitellius, welcher den Pilatus zu
seiner Verantwortung nach Rom schickte und durch einen
andern Prokurator ersetzte. Drei Jahre später Wurden Judäa
und Samaria dem Reiche des Agrippa zugefügt.
Dieser Agrippa L, geboren 10 a. C. als Sohn des von
seinem Vater hingerichteten Aristobulos und Bruder der er-
wähnten Herodias, hatte, verschwenderisch und verschuldet
wie er war, schon ein abenteuerliches Leben hinter sich, als
er wegen einer unvorsichtigen Aufserung von Tiberius zu Rom
ins Gefängnis geworfen wurde, woraus ihn sechs Monate später,
sogleich nach dem Tode des Tiberius, Caligula, sein Freund
und der Kumpan seiner Freuden, befreite, die eiserne Kette mit
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii H
162 VI. Die Religion des alten Judentums.
einer gleich schweren goldenen vertauschte und ihn kurzerhand
zum König über das durch den Tod des Philippus erledigte
Gebiet ernannte (37 p. C). Als seine Schwester Herodias,
wie schon erwähnt, ihren Gatten Antipas veranlafst hatte, nach
Rom zu reisen, um auch für sich den Königstitel zu erbitten,
liefs Agrippa beim Kaiser seinen Schwager anschwärzen, so
dafs dieser nach Lugdunum verbannt und sein Gebiet dem
Agrippa geschenkt wurde (39 p. C). Als dann nach Caligulas
Ermordung Claudius auf Zureden des Agrippa den Thron be-
stieg, fügte er zum Dank für die geleisteten Dienste dem Ge-
biete des Agrippa die bis dahin von Prokuratoren verwalteten
Gebiete Judäa und Samaria zu (41 p. C), so dafs dieser noch-
mals das ganze Gebiet seines Grofsvaters Herodes unter seinem
Scepter vereinigte. Er wufste die Neigungen des Volkes da-
durch zu gewinnen, dafs er, im Gegensatze gegen sein früheres
Leben, eine streng jüdische Frömmigkeit ostentativ zur Schau
trug, die von Caligula geschenkte goldene Kette im Tempel
aufhing und mit der das Volk beherrschenden Partei der
Pharisäer Freundschaft unterhielt. Durch sein gutmütiges und
versöhnliches Wesen wufste er die Herzen zu gewinnen, mehr
noch durch Verfolgung der neuaufkoramenden Sekte der
Christen, so dafs er bei einer Versammlung zu Cäsarea, wie
Josephus und die Apostelgeschichte übereinstimmend melden,
eben vom Volke als Gott begriifst wurde, als er von heftigen
Leibschmerzen befallen wurde, die wenige Tage darauf seinen
Tod herbeiführten (44 p. C).
Da sein erst siebzehnjähriger Sohn, Agrippa H., den
Ratgebern des Claudius als zu jung erschien, um ihm die
Aufsicht über den Tempel und Tempelschatz sowie die An-
stellung der Hohenpriester zu übertragen, so wurde damit
Herodes, König von Chalkis, ein Oheim des Agrippa, betraut,
nach dessen Tode Agrippa H. im Jahre 50 dessen geistliche
Vorrechte mit dem Königstitel und der Herrschaft über Chalkis
erhielt, gegen welche er bald darauf das ehemalige Gebiet
des Tetrarchen Philippus- nebst den angrenzenden Landstrichen
eintauschte. In der Weise seines Vaters zeigte er für den
jüdischen Kultus ein äufserliches Interesse, stand aber im
übrigen auf Seite der Römer, denen er während des jüdischen
1. Übersicht der Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 163
Krieges wesentliche Dienste leistete. Er wurde dafür von
Vespasian mit Gebietserweiterungen beschenkt. Aus seinem
spätem Leben ist nur bekannt, dafs er mit Josephus über
dessen Geschichte des jüdischen Krieges korrespondierte und
ihre Zuverlässigkeit lobte. Er starb als der letzte Idumäer
und überhaupt letzte König der Juden, wie es scheint kinder-
los und unverheiratet, im Jahre 100 p. C, worauf Trajan sein
Königreich einzog und mit der Provinz Syrien vereinigte.
Inzwischen war seit dem Tode Agrippas I. sein Reich
von römischen Prokuratoren verwaltet worden. Schon die
beiden ersten, Fadus und Tiberius Alexander (bis 48),
ein Neffe des Philo Judäus, hatten mit einzelnen Aufständen
der Juden zu kämpfen, welche sich in die neue Ordnung der
Dinge nicht schicken wollten. Ihneii folgte Cumanus (48 — 52),
der sich den fortwährenden Streitigkeiten gegenüber nicht
gewachsen zeigte, nach einem Zwiste zwischen Judäern und
Samaritern vom Legaten Quadratus nach Rom geschickt und
dort abgesetzt wurde. Ihm folgte Felix (52 — 60), ein Frei-
gelassener des Claudius, welchem Tacitus das Zeugnis gibt,
dafs er per omnem saevüiam ac libidinem jus regium servili
ingenio exercuit. Indessen mehrte sich durch Zeloten, Sicarier
und andere Fanatiker die Unordnung im Lande, Räuberwesen
und Anarchie nahmen überhand. Vergebens suchte der recht-
lich gesinnte Fes tu s (60 — 62) dem Unwesen zu steuern. Nach
seinem Tode folgte Albinus (62 — 64), dessen Untätigkeit
und Bestechlichkeit nur noch überboten wurden durch das
Treiben des letzten Prokurators Gessius Florus (64 — 66),
der ganze Städte und Gemeinden ausplünderte und durch
tyrannische Bedrückung der Bevölkerung den unmittelbaren
Anlafs zu dem Aufstande des Jahres 66 und dem darauf-
folgenden Vernichtungskriege gab.
Im Mai 66 hatte Florus 17 Talente aus dem Tempelschatz
geraubt, und liefs, als die Juden ihm offen ihre Verachtung
bezeigten, Jerusalem plündern und viele Juden kreuzigen.
Der Übermut der römischen Soldaten trug noch dazu bei, die
Erbitterung zu steigern ; vergebens suchte Agrippa die Gemüter
zu beruhigen; das aufgeregte Volk beschlofs, die täglichen
Opfer für den Kaiser einzustellen; eine zur Mäfsigung
11*
104 VI- Die Religion des alten Judentums.
ermahnende Partei zog sich auf die Oberstadt zurück, wo sie
von der zum Kriege drängenden Partei, die den Tempelberg
besetzt hielt, angegriffen wurde. Die Eiferer gewannen die
Überhand, verbrannten den Palast des Herodes bis auf die
Türme, ermordeten den Hohenpriester und gingen in ihrer
Wut so weit, die römische Besatzung, nachdem ihr freier
Abzug bewilligt war, niederzumachen. Der syrische Legat
Gallus rückte mit einem Heer heran, fand es aber geraten,
wieder abzuziehen, und verlor auf dem Rückzuge seinen Trofs
mit dem Kriegsmaterial, welches den Juden weiterhin gute
Dienste leistete. Jetzt wurde der Aufstand organisiert und
jedem Anführer seine besondere Aufgabe zuerteilt. Josephus,
der Geschichtschreiber, wurde nach Galiläa geschickt, wo er
ein Heer zusammenzog und die Städte befestigte. Gegen ihn
erhob sich der fanatische Zelot Johannes von Gischala
und gewann das Volk für sich; mit Mühe gelang es dem
Josephus, sich in Galiläa zu behaupten, während man in
Jerusalem die Vorbereitungen zum Kriege eifrig fortsetzte.
Angesichts der drohenden Lage beauftragte Nero den als Feld-
herrn bewährten Vespasian damit, den Aufstand zu unter-
drücken. Er drang mit drei Legionen und vielen Auxiliar-
truppen, im ganzen 60000 Mann, vor, nahm mit leichter Mühe
Sepphoris ein und belagerte den Josephus in Jotapata; die
Stadt wurde im Juli 67 erstürmt, und Josephus gefangen
genommen; auch die Stadt Gischala, welche Johannes besetzt
hielt, mufste sich ergeben; Johannes entkam nach Jerusalem;
ganz Galiläa war in den Händen der Römer.
Während Vespasian Peräa, Idumäa und Samaria in seine
Gewalt brachte, stellte sich in Jerusalem Johannes von Gischala
an die Spitze der Zeloten, rief die Idumäer zu Hilfe und wütete
mit ihnen gegen alle, welche zur Mäfsigung rieten und daher
von ihm beschuldigt wurden, es mit den Römern zu halten.
Während Vespasian auf die Nachricht vom Tode des Nero
(Sommer 68) zunächst eine abwartende Stellung einnahm,
durchzog ein anderer Zelot, Simon Bar-Giora, verwüstend
den Süden, drang in Jerusalem ein und errichtete mit seinem
Anhange eine zweite Schreckensherrschaft gegenüber der des
Joliannes von Gischala. Simon hielt die Oberstadt, Johannes
1. Übersicht der Gescliichte der Juden vom babylonischen Exil usw. 1 65
den Tempelberg besetzt, beide kämpften gegen einander, von
beiden wurden die Besitzenden als römerfreundlich verfolgt
und gebrandschatzt.
Als Vespasian gegen Vitellius in Syrien und Ägypten
zum Gegenkaiser ausgerufen wurde, übertrug er die Beendigung
des Feldzuges seinem Sohne Titus und begab sich nach Er-
mordung des Vitellius im Sommer 70 nach Rom. Vorher schon
war Titus im April des Jahres 70' mit vier Legionen und
zahlreichen Hilfstruppen vor Jerusalem gerückt und begann
von Norden her die Belagerung. Im Mai 70 erlagen die erste
und zweite Umfassungsmauer den Sturmböcken der Römer,
während die Oberstadt von Simon, die Antonia und der Tempel-
herg von Johannes verteidigt wurde. Vergebens liefs Titus
sie durch Josephus auffordern, sich zu ergeben. Nach ver-
zweifelter Gegenwehr fiel zunächst die Burg Antonia und dann
auch der Tempelplatz in die Hände der Römer. Titus wollte
den Tempel schonen, aber ein Soldat warf eine Brandfackel
in eine der Kammern, die Aufforderung zum Löschen wurde
im wilden Kampfgewühle nicht beachtet, und das ganze herr-
liche Gebäude wurde, nachdem Titus noch das Innere besichtigt
hatte, ein Raub der Flammen. Was von der durch Hunger
und Entbehrung erschöpften Bevölkerung noch übrig w^ar,
wurde ohne Unterschied des Alters und Geschlechts nieder-
gemacht. Johannes war mit seiner Schar in die Oberstadt
entkommen; einen Monat später (September 70} konnte auch
diese sich nicht mehr halten ; die Einwohner, soweit sie nicht
dem Schwert der Soldaten erlagen, wurden teils zu Tierkämpfen
und Gladiatorenspielen verwendet, teils in die Bergwerke ge-
schickt; die stattlichsten Erscheinungen, unter ihnen auch
Johannes und Simon, wurden für den Triumphzug aufgespart,
den im folgenden Jahre Titus gemeinsam mit seinem Vater
feierte. Als letzte Zuflucht der Aufständischen wurden in den
beiden folgenden Jahren die Festungen Machärüs im Osten
und Masada im Westen des Toten- Meeres eingenommen,
letztere erst, nachdem die Belagerten auf Verabredung ihre
Angehörigen und dann sich selbst gegenseitig getötet hatten.
Das eroberte Land nahm Vespasian in Privatbesitz und liefs
es verpachten. Jerusalem bestand nur noch als ein römisches
166 VI. Die Religion des alten Judentums.
Heerlager. Die Tempelsteuer vor zwei Drachmen, welche
Jeder Jude im Römischen Reiche zu zahlen hatte, wurde nicht
aufgehoben, sondern nach Rom, eine Zeitlang sogar an den
Tempel des Jupiter Capitolinus, entrichtet.
Ein Nachspiel der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70,
und vielleicht nur wegen der Dürftigkeit der Nachrichten
geringer als diese erscheinend, erfolgte, als Hadrian auf seinem
Besuche Palästinas 130 p.*C. verfügte, auf der Stätte des alten
Jerusalem eine Stadt mit dem Namen Ädia Capitolhia und
auf der Stelle des alten Tempels einen Tempel des Jupiter
Capitolinus zu errichten. Ein Aufstand unter Bar-Kocliha, den
Babhi ÄJciba für den erwarteten Messias erklärte, verbreitete
sich über ganz Palästina und war um so schwerer zu dämpfen,
weil die Juden eine offene Feldschlacht vermieden und aus
Burgen, Höhlen und Schlupfwinkeln im Guerillakriege gegen
die Prokuratoren Rufus und nach ihm Severus kämpften.
Schliefslich wurde Bar-Kochba in Beth-ther (unweit Bethlehem)
belagert und fand bei der Einnahme der Stadt 135 den Tod.
Jerusalem wurde als Aelia Capitolina mit einer heidnischen
Bevölkerung besiedelt, den Juden aber war es jahrhunderte-
lang bei Todesstrafe verboten, den Bezirk der heiligen Stadt
zu betreten. Fortan war es nur das von Pharisäern und
Rabbinen eifrig gepflegte und im Talmud ausgebaute Gesetz,
welches als ein geistiges Band die Juden aller Länder zu-
sammenhielt, zu immer schroff'erer Absonderung gegen die
NichtJuden und zu entsprechenden Anfeindungen von Seiten
der letzt ern der Hauptanlafs wurde.
536—332
458
444
332—301
301
301— 19S
198
198—65
175—164
168
Tabelle zur Geschichte des Judentums.
Die Juden unter der Perserherrschaft.
Esra.
Nehemia.
Alexander und die Diadochen.
Schlacht bei Ipsus.
Die Juden unter ägyptischer Oberhoheit.
Skopas an den Jordanquellen besiegt.
Die Syrerzeit und die Hasmonäer.
Antiochus IV. Epiphanes.
(Dezember) Edikt des Antiochus Epiphanes.
1. Übersicht dei* Geschichte der Juden vom babylonischen Exil usw. \(j'J
167—166
166—160
165
160—143
153
150
143-
143—135
141
135—104
104—103
103—76
76—67
67—65
65
Goa.C.bis
70 p. C.
63
54
49
48
47
44
43
42
40
40
Aufstand des Matthathias.
Judas Makkabäus.
Wiederherstellung des Opferdienstes. Das Buch Daniel.
Jonathan tibernimmt den Oberbefehl,
wird zum Hohenpriester und
zum Meridarcheu ernannt.
Jonathan von Tryphon hingerichtet.
Simon,
erobert die Akra.
Johannes Hyrkanns stellt das Reich Davids in vollem Umfange
wieder her.
Aristobulos I. nimmt den Königstitel an.
Alexander Jannäus.
Salome Alexandra.
Hyrkanus IL, von seinem Bruder Aristobulos IL bei Jericho be-
siegt, mufs ihm Hohepriestertum und Königswürde abtreten,
wird aber von seinem Freund und Ratgeber, dem Idumäer
Antipatros, zum Widerstand ermutigt. Aristobul mit Hilfe
des Aretas besiegt und auf dem Tempelberg belagert.
Pompejus macht Syrien zur römischen Provinz.
Die Juden unter römischer Oberhoheit.
Pompejus erobert den Tempelberg, bestätigt Hyrkanus IL als
Hohenpriester, entzieht ihm aber die Königswürde. Aristobulos
mit seinen Söhnen Alexander und Antigonos gefangen nach
Rom geführt.
Crassus plündert die Tempelschätze (stirbt 53).
Bürgerkrieg zwischen Pompejus und Cäsar, Aristobul in Rom
vergiftet, sein Sohn Alexander in Antiochien enthauptet.
Schlacht bei Pharsalus. Hyrkanus und sein Ratgeber Antipatros
erklären sich für Cäsar und leisten ihm in Palästina und
Ägypten wertvolle Dienste.
Cäsar bestätigt den Hyrkanus als Hohenpriester und Ethnarchen.
Antipatros wird zum Prokurator von Judäa, seine Söhne
Phasael und Herodes zu Statthaltern ernannt.
Cäsar ermordet.
Cassius brandschatzt Syrien und Judäa. Antipatros ermordet.
Schlacht bei Philippi. Antonius bedrückt die Juden, ernennt
Phasael und Herodes zu Tetrarchen.
Einbruch der Parther; Antigonus von ihnen zum König der
Juden ernannt, Hyrkanus gefangen nach Babylon geführt.
Phasael stirbt.
Herodes in Rom auf Betreiben des Antonius vom Senat zum
König der Juden ernannt.
168
VI. Die Religion des alten Judentums.
40—4
37
31
4 a.
C.
bis
6
P-
C.
4 a.
C.
bis
33
P-
C.
4 a.
C.
bis
39
P-
C.
41—44
50—100
52—60
60—62
62-04
64—66
66—70
135
Herodes der Grofse, König der Juden.
Herodes erobert mit Hilfe der Römer Jerusalem, Antigonos in
Antiochien enthauptet. Hyrkanus von Herodes aus der Ge-
fangenschaft befreit, aber sechs Jahre spä'^er (30 a. C.) hin-
gerichtet.
Schlacht bei Actium. Herodes, von Augustus begnadigt, läfst
aus Argwohn seine Gemahlin Mariamme und deren Mutter
hinrichten (28 a. G.), ebenso seine Söhne von ihr, Alexander
und Aristobulos (7 a. C.), und noch kurz vor seinem Tode
den Antipatros, seinen Sohn aus seiner frühern Ehe. Drei
andere Söhne erhalten von Augustus nach seinem Tode,
Archelaus Judäa, Samaria und Idumäa, Herodes Antipas
Galiläa und Peräa, Philippus das Land nordöstlich vom
Jordan.
Archelaus, Ethnarch von Judäa, 6 p. G. abgesetzt, sein Land
weiterhin von römischen Prokuratoren verwaltet; Pontius
Pilatus 26—36 p. C.
Philippus Tetrarch im Ostjordanlande, welches 33 unter römische
Verwaltung gestellt und von Caligula 37 nebst dem Königs-
titel seinem Freunde Agrippa L, Sohn des 7 a. C. hingerichteten
Aristobulos und Bruder der Herodias, verliehen wird.
Herodes Antipas Tetrarch von Galiläa, 39 von Caligula ab-
gesetzt; sein Land wird dem Agrippa geschenkt, welchem
41 p. C. von Claudius auch Judäa verliehen wird, so dafs er
noch einmal das ganze Reich Davids unter seinem Scepter
vereinigt.
Agrippa L, König der Juden; sein noch minderjähriger Sohn er-
hält nach sechsjähriger Vormundschaft unter seinem Oheim als
Agrippa H. den Königstitel, das Gebiet des Philippus, die Auf-
sicht über den Tempelschatz und das Recht, die Hohenpriester
zu ernennen, während Judäa und Galiläa von römischen Pro-
kuratoren verwaltet werden.
Felix Prokurator, unter dem 58—60 Paulus in Cäsarea gefangen
gehalten wird.
Festus Prokurator, welcher Paulus nach Rom schickt.
Albinus Prokurator.
Gessius Florus Prokurator.
Der jüdische Krieg, Zerstörung Jerusalems, Zerstreuung der
Juden unter die Völker.
Letzter jüdischer Aufstand unter Bar-Kochba.
2. Quellen zur Geschichte der Religion des altern Judentums. Iß9
2. Quellen zur Geschichte der Kelig-ion des altern Jadcutums.
Eine unerwartete und auch für die Religionsgeschichte
wertvolle Bereicherung haben die Quellen zur Geschichte des
alten Judentums durch die während des letzten Jahrzehntes
gemachten und publizierten Papyrusfunde aus dem südlichen
Ägypten erfahren. Dort liegt unterhalb des ersten Katarakts
und gegenüber der Stadt Syene (Assuan) die drei Kilometer
breite Nilinsel Elephantine, auf welcher schon seit den Zeiten
der XXVI. Dynastie zum Schutze der Südgrenze des Reiches
eine vorwiegend aus jüdischen Söldnern bestehende Militär-
kolonie angesiedelt war. Wir erfahren aus den hier gefundenen,
in aramäischer Sprache verfafsten Papyrusresten, bestehend
aus Kaufkontrakten, Heiratsverträgen, Briefen und andern
Dokumenten, dafs die jüdische Kolonie in Elephantine entweder
schon vor der Proklamation des den Jahvekultus auf Jerusalem
beschränkenden Deuteronomium (621 a. C.) oder ohne Rück-
sicht auf diese Neuerung ihrem Gotte Jalm (verkürzte Form
für Jahve) einen Temj>el errichtet hatte und ihn durch Speis-,
Rauch- und Brandopfer verehrte. Von dem gegen die ägyp-
tische Religion wütenden Kambyses war dieser jüdische Tempel
verschont worden, wurde aber, während der Abwesenheit des
die Juden in ihren Rechten schützenden persischen Satrapen
Arsames, auf Betreiben der ägyptischen Priester des Chnubi,
im [Jahre 410 a. C. zerstört und trotz der Bemühungen der
Juden von Elephantine nicht wieder aufgebaut. Das wichtigste
Ergebnis dieser Funde für unsere Zwecke ist der vollkommene
Einklang nach Form und Inhalt, in welchem diese aramäischen
Papyri mit den in den Büchern Esra und Nehemia enthaltenen
Urkunden und Memoiren stehen, deren historische Glaub-
würdigkeit (wie Eduard Meyer gezeigt hat) von der modernen
Kritik mit Unrecht in Zweifel gezogen worden war.
Unter den übrigen Schriften aus nachexilischer Zeit, welche
noch Aufnahme in den alttestamentlichen Kanon gefunden
haben, verdient aufser dem oben (S. 125 — 128) besprochenen
Hieb und Koheleth noch besondere Erwähnung das Buch
Daniel, weil, wie unten zu "zeigen sein wird, Jesus seine
messianischen und eschatologischen Anschauungen mit Vor-
170 VI- Die Eeligion des alten Judentums.
liebe an Aussprüche dieses Werkes angelehnt hat. In der
Form, wie es vorliegt, ist das Buch Daniel eine an die Juden
gerichtete Trostschrift, welche in der Zeit der äufsersten Be-
drängnis durch die Reformen des Antiochus IV. Epiphanes
die Nähe des Heils verkündigt und zum Ausharren in den
Zeiten der Trübsal ermahnt. Als Abfassungszeit des Buches
ergibt sich, abgesehen von altern Legenden, die in demselben
verarbeitet sein mögen, die Zeit zwischen, der Wiederherstellung
des Opferkultus nach dreijähriger Unterbrechung im Dezember
165, welche 8,14 erwähnt wird, und dem im Juni 164 erfolgten
Tode des Antiochus Epiphanes, der dem Verfasser noch nicht
bekannt ist. Der Held des Werkes, dessen Erlebnisse Kap. 1 — 6
erzählt werden, während er in den folgenden Kapiteln redend
eingeführt wird, ist der Ezechiel 14,14 neben Noah und Iliob
als ein Gerechter der Vorzeit genannte Daniel, welcher, wie
im Buche Daniel behauptet wird, als jüdischer Knabe am
Hofe des Nebukadnezar (605 — 562) erzogen worden sein und
noch bis in die Zeiten des Belsazar (d. i. Nabunähid, 555 — 539),
ja sogar bis in die Zeiten des Darius (521 — 485) gelebt haben
soll, und dem in Gesichten das Schicksal der vier Weltreiche,
des babylonischen, medischen und persischen, die als zwei
gezählt werden, des griechischen, mitsamt den Kämpfen der
Diadochen, sowie der Bedrückung der Juden durch Antiochus
Epiphanes als vaiiciiiia post eventmn offenbart werden. Der
Hauptinhalt der zwölf Kapitel des Werkes ist folgender.
Kap. I. Daniel" angeblich schon im dritten Jahre des
Jojaqim (605) nach Babylon gebracht, wird mit drei andern
jüdischen Knaben am Hofe des Nebukadnezar erzogen.
Kap. II. Nebukadnezars Traum von dem Standbilde mit gol-
denem Kopf, silberner Brust, ehernem Bauch, eisernen Schenkeln
und Füfsen aus Eisen und Ton, und dem Stein, welcher herab-
stürzt und das Standbild zermalmt, wird von Daniel auf vier W^elt-
reiche und ein am Schlüsse erstehendes Gottesreich gedeutet.
Kap. III. Errettung der drei Gefährten Daniels, Sadrach,
Mesach und Abed-Nego, im feurigen Ofen.
Kap. IV. Legende von dem siebenjährigen Wahnsinn
Nebukadnezars, seiner Verstofsung unter die Tiere des Feldes
und Wiedereinsetzung in sein Königreich.
2. Quellen zur Geschichte der Religion des altern Judentums. 171
Kap. V. Belsazar, angeblich der Sohn Nebukadnezars,
wird, nachdem er die Tempelgefäfse bei einem Gelage pro-
faniert hat und nachdem ihm durch eine an der Wand er-
scheinende, von Daniel gedeutete Inschrift sein nahes Endo
verkündigt worden, von dem König der Meder, angeblich
Darius, seines Thrones entsetzt und getötet.
Kap. VI. Daniel wird, weil er gegen das Gebot des Königs
zu Jahve betet, von Darius in die Löwengrube geworfen und
durch einen Engel vor Schaden behütet.
Kap. VII. Traumgesicht Daniels von den vier Tieren,
Löwe, Bär, Panther und dem Tier mit den zehn Hörnern,
welche (entsprechend dem Gold, Silber,' Erz und Eisen in
Kap. II) nach der wahrscheinlichem Deutung das babylonische,
medische und persische (welche unliistorisch als zwei gezählt
werden) und die Reiche Alexanders und der Diadochen be-
zeichnen. Das elfte Hörn ist Antiochus Epiphanes, nach dessen
Vernichtung (VII, 13 — 14) das ewige Messianische Reich des
Menschensohnes beginnt.
Kap. VIII. Gesicht Daniels von dem Widder mit zwei
Hörnern (dem modischen und persischen Reiche) und dem
ihn zertretenden Ziegenbock mit einem grofsen Hörn (Alexander)
und vier andern an seine Stelle tretenden Hörnern (dem maze-
donischen, pergamenischen, ägyptischen und syrischen Reiche)
sowie dem kleinen Hörn (Antiochus Epiphanes).
Kap. IX. Die von Jeremia 25,11 geweissagten 70 Jahre
der babylonischen Knechtschaft (606—536) werden als 70 Jahr-
wochen gedeutet, so dafs sie, die Sabbate abgerechnet, die Zeit
bis auf Antiochus Epiphanes umfassen. Der im letzten Verse
wie auch 11,31 und 12,11 erwähnte „Greuel der Verwüstung"
scheint sich auf Altar und Statue des olympischen Zeus zu
beziehen, welchen Antiochus im Tempel von Jerusalem auf-
stellen liefs (oben S. 147 fg.).
Kap. X — XII. Gesicht Daniels über die Kämpfe der Ptole-
mäer und Seleuciden, über die Greuel des Antiochus Epiphanes
und über die ihnen folgende Aufrichtung des Messianischen
Reiches.
Während das Buch Daniel in seinen Vorstellungen über
Dämonologie, Auferstehungslehre und das erwartete Messias-
172
VI. Die Religion des alten Judentums.
reich eine starke Abhängigkeit von den entsprechenden irani-
schen Anschauungen erkennen läfst, so ist dies bei den teils
schon ursprünghch griechisch geschriebenen, teils aus dem
Hebräischen oder Aramäischen übersetzten Apokryphen des
Alten Testaments nur teilweise der Fall, und man sieht
an diesen Büchern deutlich, wie der auf der Kenntnis der
persischen Weltanschauung beruhende Umschwung des alten
Hebraismus sich nur allmählich vollzog, wie denn noch zu
Jesu Zeiten die ursprünglich iranische Dämonologie und Auf-
erstehungslehre von den Pharisäern angenommen, hingegen
von den dem alten Mosaismus treuen Sadducäern verworfen
wurden. Unter den Apokryphen kann man in diesem Sinne
drei Gruppen unterscheiden, je nachdem diese (als Anhang
zur Septuaginta uns überkommenen) Bücher teils babylonisch-
persischen, teils ägyptisch -griechischen Einflufs erkennen
lassen, während eine dritte Gruppe weder von iranischen noch
von griechischen Einwirkungen nennenswerte Spuren aufweist.
Die Verteilung der apokryphischen Bücher unter diese drei
Gruppen ist im wesentlichen folgende.
Apokryphen:
111. Alexandrinisclie
Weisheit Salomonis
Stücke in Esther
Makkabäer III u. IV
II. Palästinensische
Judith
Jesus Sirach
Makkabäer I
I. Palästinensisch-
Babylonisclie
Tobias
Baruch
Makkabäer II
Susanna
Bei zu Babel
Drache zu Babel
Gebet Asariä
Gesang der drei
Männer.
Von diesen drei Gruppen zeigt die palästinensisch-
babylonische ein starkes Hervortreten der Vorstellungen
von guten und bösen Engeln und der Unsterblichkeitslehre
in der iranischen Form einer materiellen Auferstehung von
2. Quellen zur Geschichte der Keligion des altern Judentums. 173
den Toton, während sich in der alexandrinischen Grui)pe
der Einflufs der griechischen Philosophie in den Andeutungen
einer Präexistenz der Seele, des Leibes als ihres Kerkers und
der Unsterblichkeit als einer Befreiung aus dem Gefängnisse
der körperlichen Existenz nicht verkennen läfst, und endlich
die rein palästinensische Gruppe, die von ausländischen
Einflüssen des Parsismus und der griechischen Philosophie
kaum merklich berührt ist und in dem überkommenen Gleise
des theokratischen Partikularismus verharrt.
Als eine weitere Quelle für die Fortentwicklung des alten
Judentums werden , aufser den Werken des Philo und
Joseph US, besonders auch die Schriften des neutestament-
lichen Kanons heranzuziehen sein, sofern in den Reden Jesu
und den Briefen des Apostels Paulus neben dem spezifisch
Christlichen, welches einer spätem Betrachtung vorzubehalten
ist, viele Gedankenelemente sich finden, bei welchen diese
Begründer einer neuen Weltanschauung sich noch in den
ererbten Vorstellungen des durch iranische Einflüsse modi-
fizierten Judentums befangen zeigen.
3. Das böse Prinzip neben dem gnten.
Die Gottesidee ist, wie schon mehrfach gezeigt wurde,
als exoterische Vorstellung, d. h. als ein Versuch, das
Unerkennbare in den Formen unserer Erkenntnis aufzufassen,
nicht nur praktisch von hohem Werte, sondern auch wissen-
schaftlich durchaus zulässig, beides jedoch nur, wenn und
soweit Gott aufgefafst wird als die Verkörperung des keim-
artig in uns allen liegenden Moralischen, als Urquell und
Hüter des Sittengesetzes, sowie als höchstes Ziel, dem wir
durch Verwirklichung dieses Gesetzes in Gerechtigkeit, Liebe
und Entsagung zustreben.
Von dieser Idee Gottes als des um der menschlichen
Schwachheit willen personifizierten Inbegrifi's der Moralität
war der alte Hebraismus noch weit entfernt. Ihm war sein
Jahve der alleinige Schöpfer der Welt mit allem, was sie
enthält. Gutem wie Bösem, und es ist ganz konsequent, wenn
das Alte Testament nicht nur das physische Übel, sondern
174 ^I- Diß Religion des alten Judentums.
auch das moralische Böse von Gott gewirkt werden läfst.
Daher ist es Jahve, welcher, wie schon oben S. 122 ausgeführt
wurde, das Herz des Pharao verstockt, einen bösen Geist in
Saul fahren läfst, den David zu der Sünde verlockt, das Volk
zu zählen, einen Lüs-eno-eist in den Mund von vierhundert
Propheten legt, um den Ahab zu verderben, und der beim
zweiten Jesaia Kap. 45 ausruft: „Ich bin Jahve, und keiner
sonst, der das Licht bildet und Finsternis schafft, der Heil
wirkt und Unheil schafft, — ich, Jahve, bin es, der alles
dies bewirkt."
Dieser althebräische Gottesbegriff bedurfte gar sehr der
Läuterung, wenn Gott zu dem werden sollte, was allein seiner
würdig ist, zum Prinzip der Moralität, zum Ideal sittlicher
Vollkommenheit, wie ihn schon die auf prophetischem Einflüsse
beruhende Stelle 3. Mos. 19,2 auffafst: „Ihr sollt heilig sein,
denn ich bin heilig, der Herr euer Gott", und wie ihn schärfer
und schöner noch Jesus am Schlüsse des ersten Kapitels der
Bergpredigt in dem alle vorhergehenden Sittenlehren krönenden.
Ausspruche bestimmt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleich
wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Matth. 5,48).
Um den althebräischen Gottesbegriff zu diesem Ideal der
Sittlichkeit zu gestalten, bedurfte er gar sehr der Umformung ;
vor. allem mufste er von der im Alten Testament ihm zu-
geschriebenen Urheberschaft des Bösen entlastet und dieses
auf eine andere Quelle zurückgeführt werden. Hierzu bot eine
geeignete Anknüpfung die Figur des Satan, welche schon
der althebräischen Mythologie eigen ist, in dieser aber eine
wesentlich andere Rolle spielt als die, welche ihm im weitern
Verlaufe zugeteilt wurde.
Wie die ganze Natur, so sind auch alle in ihr wirkenden
Kräfte von Jahve geschaffen und von ihm abhängig. In halb
poetischer, leicht durchsichtiger Personifikation erscheinen sie
als seine Diener oder Boten (ü"'Dn!:73, ayysXo!,, Engel); vgl.
Psalm 104,4: „Du machest deine Engel zu Winden, und deine
Diener zu Feuerflammen." Als blofse Organe des göttlichen
Willens wirken sie nicht nur das Gute, sondern auch das
Schlimme sowohl unter den Feinden Israels (Jesaia 37,36),
als auch unter dem Volke Gottes selbst, 2. Sam. 24,16:
3. Das böse Prinzip neben dem guten. 175
,,Und da der Engel seine Hand ausstreckte über Jerusalem,
dafs er sie verderbete; reuete es den Herrn über dem Übel,
und sprach zu dem Engel, zu dem Verderber im Volk: Es
ist genug, lafs nun deine Hand ab." Zu diesen Engeln oder
„Kindern Gottes" (hoie clohlmj, wie sie Hieb 1 und anderweit
heifsen und den Thron Gottes umgeben oder vor ihm in Audienz
erscheinen, gehört auch der Satan (1:2b, d. i. „Widersacher"),
welcher die Aufgabe hat, die Sünden der Menschen zu erspähen
und vor Gottes Angesicht zu bringen. In dieser Rolle erscheint
er Sacharja 3, wo er vor Jahve tritt, um den Hohenpriester
Josua zu verklagen, aber zum Schweigen gebracht wird, und
Hieb Kap. 1 — 2, wo er die Rechtschaffenheit Hiobs vor Gott
anzweifelt, und von diesem die Erlaubnis erhält, den Hiob
den härtesten Prüfungen zu unterwerfen. Von dem Satan
dieser alttestamentlichen Stellen, welcher ein Diener Gottes
ist und die allerdings wenig beneidenswerte Aufgabe hat, als
göttlicher Staatsanwalt die Menschen vor Gott zu verklagen,
ist ein grofser Schritt bis zu dem Satan, wie er im Neuen
Testament dasteht, als Prinzip und Urheber alles Bösen in
der Welt, 1. Joh. 3,8: „Wer Sünde tut, der ist vom Teufel,
denn der Teufel sündiget von Anfang." Ein solcher Um-
schwung in der Auffassung des Satan ist aus einer Fort-
entwicklung der althebräischen Weltanschauung nicht zu be-
greifen, und so würden wir, um ihn zu erklären, das Eingreifen
eines fremden Elements postulieren müssen, böte nicht dieses
fremde Element sich ganz ungesucht in der Weltanschauung
^QV Perser dar, denen die Juden die Rückkehr aus dem baby-
lonischen Exil zu danken hatten, und mit welchen in den
folgenden Jahrhunderten eine traditionelle Freundschaft und
ein reger, durch den Zusammenhang der palästinensischen mit
den in Babylonien zurückgebliebenen Juden unterhaltener Ver-
kehr bestand. Vergebens protestierte der zweite Jesaia (oben
S. 122) gegen die ihn umgebende Weltanschauung von Ahura-
mazda und Angramainyu als den Beherrschern der Reiche
des anfanglosen Lichts und der anfanglosen Finsternis; diese
Lehre bot zu sehr gerade das, was dem alten Hebraismus
fehlte, um nicht von dem geistig lebendigem Teile der Juden
als eine auf die materielle Befreiung durch Kyros folgende
176
VI. Die Religion des alten Judentums.
geistige Befreiung begrüfst' zu werden, und so ist es ohne
Zweifel die Lehre von Angramainyu, durch deren Einflufs der
Satan aus einem Engel und Diener Gottes zu dem wider-
göttlichen Urprinzip alles Bösen wurde. Besonders deutlich
und fast mit Händen zu greifen ist dieser Einflufs bei dem
Berichte von der als Sünde angerechneten Volkszählung durch
David, welche in zwei parallelen Texten, einem altern 2. Sam. 24
und einem Jüngern 1. Chron. 21, mit denselben Worten erzählt
wird bis auf den Anfangsvers, welcher eine sehr charak-
teristische Abänderung erfahren hat: '
2. Sam. 24,1 :
Und der Zorn des Herrn er-
grimmte abermal wider Israel,
und reizte David unter ihnen,
dafs er sprach : Gehe hin, zähle
Israel und Juda.
1. Chron. 21,1:
Und der Satan stand wider
Israel, und gab David ein, dafs
er Israel zählen liefs.
Bedürfte es noch eines Beweises, dafs diese Übertragung
des Bösen von Jahve auf den Satan durch iranischen Einflufs
bedingt ist, so würde dieser Beweis schon in der Tatsache
liegen, dafs diejenigen biblischen Bücher, welche, wie Daniel,
Tobias. Baruch u. a,, ihrem ganzen Inhalte nach auf Baby-
lonien hinweisen, ganz in der Weise der Avestalehre den Jahve
von einem Hofstaate guter Engel, hingegen den Satan von
emer entsprechenden Heerschar böser Dämonen — von denen
der im Buche Tobias die Freier der Sara tötende Asmodäus
(gleich Acslima Daeva, S. 139) sogar einen persischen Namen
trägt — umgeben denken, während diejenigen Apokryphen,
welche, wie Judith und Sirach, einen palästinensischen oder,
wie die Weisheit Salomonis, einen alexandrinischen Charakter
an sich tragen, wenig oder gar nichts von Dämonologie ent-
halten.
Auch im Zeitalter Jesu huldigt nur der fortschrittliche
Teil des Volkes, an seiner Spitze die Pharisäer, dem Glauben
an Engel und Teufel, während der durch die Sadducäer ver-
tretene, konservativ am alten Mosaismus festhaltende Teil der
Nation die Dämonologie wie auch die Unsterblichkeitslehre
verwarf; Apostelgesch. 23,8: „Denn die Sadducäer sagen, es
3. Das böse rrinzip neben dem guten. 177
sei keine Aulerstehimg, noch Engel, noch Geist; die Pharisäer
aber bekennen beides." Während die Sadducäer mit ihrer
alle Neuerungen ablehnenden Haltung besonders unter den
Vornehmen ihre Anhänger hatten, zeigte sich zu Jesu Zeit die
Masse des Volkes schon von jenen, auf iranischem Einflüsse
beruhenden Vorstellungen durchdrungen, wie sie namentlich
von den Pharisäern vertreten und auch von Jesu selbst ge-
teilt wurden. Schon oben bei Besprechung der iranischen
FravasMs oder individuellen Schutzgeister wurde erwähnt,
dafs der Ausspruch Jesu in betreff der Kinder, Matth. 18,10:
„Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines
Vaters im Himmel", in den althebräischen Vorstellungen keine
Stütze findet und somit allem Anscheine nach auf iranischem
Einflüsse beruht; wie sehr aber andererseits das Bewufstsein
Jesu von dem Glauben an die Existenz „des Teufels und seiner
Engel" (Matth. 25,41} beherrscht wird, davon legt fast jede
Seite der Evangelien Zeugnis ab, er sieht den Satanas vom
Himmel fallen als einen Blitz (Luc. 10,18), warnt die Jünger vor
dem Satan, der sie sichten möchte wie den Weizen (Luc. 22,31)
und bezeichnet die Mahnung des Petrus, der Meister möge
sich nicht in Gefahr begeben, kurzweg als eine Eingebung des
Teufels (Matth. 16,23). Wie das Böse in der Welt, so führt
Jesus auch das Übel auf den Satan zurück (Luc. 13,16); er
teilt durchaus die volkstümliche Ansicht, dafs gewisse Krank-
heiten, wie namentlich Wahnsinn und andere neurasthenische
Leiden, die man sich physisch nicht zu erklären wufste, auf
einer Besessenheit des Kranken von einem bösen Dämon be-
ruhten, treibt durch sein Wort die Teufel aus, aus Maria
Magdalena sogar deren sieben (Luc. 8,2, Marc. 16,9), und ver-
leiht dieselbe Gabe auch seinen Jüngern (Matth. 10,8, Marc.
3,15 u. a.). Es ist durchaus glaublich und auch in der Gegen-
wart nicht ohne Beispiel, dafs durch ein mächtiges, mit Glauben
aufgenommenes Wort : „Ich will es, sei gesund ! " in derartigen
Krankheiten eine vorübergehende, vielleicht auch eine dauernde
Heilung erreicht werden kann. Dafs solche Heilwirkungen,
von Mund zu Mund weitererzählt, immer mehr den Charakter
des Wunderbaren annahmen, ist ganz dem Gesetz der Sagen-
bildung in allen Ländern und Zeiten entsprechend, und ebenso
Detjssen, Geschichte der Philosophie. II, ii. 12
178 VI. Die Religion des alten -Judentums.
begreiflich ist es, dafs schliefslich der Volkshumor sich der-
artiger Vorkommnisse bemächtigte, und so davon zu erzählen
wufste, wie der Herr den aus zwei Besessenen ausgetriebenen
Teufeln erlaubt habe, in eine Herde Säue zu fahren, welche
sich sodann mit einem Sturm ins (galiläische) Meer gestürzt
habe und ertrunken sei, zur grofsen Befriedigung aller ortho-
doxen, das Schweinefleisch verabscheuenden Juden.*
Als charakteristisch für Jesu Anschauung von den Dä-
monen mag besonders sein Ausspruch Matth. 12,43 — 45 (= Luc.
11,24 — 26) erwähnt werden: „Wenn der unsaubere Geist von
dem Menschen ausgefahren ist, so durchwandelt er dürre
Stätten, suchet Ruhe und findet sie nicht. Da spricht er
dann: Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich
gegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er es müfsig,
gekehret und geschmückt. So gehet er hin und nimmt zu
sich sieben andere Geister, die ärger sind denn er selbst; und
wenn sie hineinkommen, wohnen sie allda, und wird mit dem-
selben Menschen hernach ärger, denn es vorhin war."
Noch mehr an die oben S. 140 fg. mitgeteilten iranischen
Vorstellungen erinnert es, wenn der Apostel Paulus das sitt-
liche Ringen des Menschen als einen Kampf gegen die in der
Welt herrschenden bösen Geister schildert; Ephes. 6,11 — 12:
„Ziehet an den Harnisch Gottes, dafs ihr bestehen könnet
gegen die listigen Anläufe des Teufels. Denn wir haben nicht
mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und
Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der
Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter
dem Himmel." Wie in dieser Stelle wird auch 2. Kor. 4,4 der
Teufel als der Gott dieser Welt bezeichnet.
Mit diesen paulinischen Anschauungen stimmt das vierte
Evangelium überein, in welchem wiederholt (12,31. 14,30. 16,11)
der Teufel als „der Fürst dieser Welt" (6 apx«v tou xocfjiou
TouTou) bezeichnet wird. Schon oben S. 136 wurde darauf
hingewiesen, wie sehr die im johanneischen Evangelium
* Einen andern Eindruck machte diese Erzählung auf ein kleines
Mädchen in England, welches, als seine mir bekannte Erzieherin ihm diese
Geschichte erzählte, in die für die Denkungsart und Lebensgewohnheiten
der Nation charakteristischen Worte ausbrach : „ What a waste of bacon.^'
3. Das böse Prinzip neben dem guten. 179
herrschenden Gegensätze von Licht und Finsternis (1,5), Wahr-
heit und Lüge (8,44), Leben und Tod (5,24, vgl. 1. Joh. 3,14)
an die entsprechenden iranischen Vorstellungen erinnern.
Wir stehen am Endpunkte einer langen Entwicklung; sie
reicht von der althebräischen Anschauung, welche das Böse
wie das Gute auf Gott zurückführte, bis zu der Zeit, wo aUes
Böse und schliefslich die ganze empirische Weltordnung auf
ein gegengöttliches Prinzip zurückgeführt, und dadurch erst
ein reiner Gottesbegriff gewonnen wurde, welcher dieser ganzen,
im Argen liegenden Welt (1. Joh.'5,19) Gott als das Prinzip
der Moralität, d. h. der auf Selbstverleugnung beruhenden
Liebe (dYocTCT]), gegenüberstellt, wie es zum Ausdruck kommt
in dem herrlichen Worte 1. Joh. 4,16: „Gott ist die Liebe,
und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und
Gott in ihm."
4. Die Unsterblichkeit der Seele.
Das zweite Grund gebrechen des alten Hebraismus neben
der Belastung Gottes mit der Urheberschaft des Bösen war
das oben S. 119 als Nihilismus bezeichnete, gänzliche Fehlen
eines Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele, ohne welchen
eine tiefere religiöse Auffassung des Daseins nicht möglich
ist. Denn obgleich das moralische Handeln keineswegs auf
dem Unsterblichkeitsglauben beruht, ja sogar Gefahr läuft,
verfälscht zu werden, sobald Furcht und Hoffnung jenseitiger
Vergeltung das Handeln bestimmen, obgleich somit die Morali-
tät den Unsterblichkeitsglauben nicht als eine Voraussetzung
bedarf, so bedarf sie ihn doch zu ihrer Interpretation, da
das selbstverleugnende Handeln ohne ein Bewufstsein unserer
ewigen, ansichseienden Wesenheit völlig unverständlich bleiben
würde, mithin zu seiner Erklärung ein solches Bewufstsein
verlangt und auf dasselbe hinstrebt.
Die Hauptaufgabe jeder Eehgion, die ihren Namen ver-
dient, ist die Zähmung und schliefslich völlige Überwindung
des Egoismus ; dieser aber ist mit unserm empirischen Dasein
so gänzlich verwachsen, dafs man ihn geradezu als dessen
Wurzel bezeichnen kann. Denn als empirische Wesen, als
Erscheinungen in Raum, Zeit und Kausalität sind wir vermöge
12*
180 VI. Die Religion des alten Judentums.
der Kausalität unfrei, in allen unsern Handlungen necessitiert,
vermöge der Zeit vergänglich, haben, wie alles in der Zeit,
Anfang und Ende, und vermöge des Eaumes egoistisch, denn
auf der räumlichen Abgrenzung der Individuen gegen einander
beruht der Unterschied von Ich und Nicht -Ich, und das
Bewufstsein dieses Unterschiedes ist eben der Egoismus; er
ist somit die Wurzel unseres empirischen Daseins, aus welcher
alle unsere Handlungen, soweit sie empirisch sind, nach dem
Kausalitätsgesetze mit Notwendigkeit entspringen. Solange
nun der Blick auf das empirische Dasein eingeschränkt ist,
bleibt die religiöse, in reiner Gerechtigkeit, Nächstenliebe und
Entsagungen aller Art sich betätigende Gesinnung, so sehr
sie auch schon vorhanden sein und in Taten zum Ausdrucke
kommen mag, doch völlig unverständlich; ein Verständnis und
ihre Interpretation findet sie erst in dem Mafse, in welchem
wir das ganze empirische, im Egoismus wurzelnde Dasein
nicht mehr als unser eigentliches Wesen, sondern als blofse
Schale erkennen, welche unsere wahre, ansichseiende Wesen-
heit verhüllt, und durch welche der metaphysische Kern unserer
Natur in Taten der Moralität zum Durchbruche kommt, bis
er schliefslich die ganze Schale sprengt und dadurch uns
einem Zustande entgegenführt, den wir nicht kennen, nicht
verstehen, und von dem wir blofs wissen, dafs er raumlos,
also sündlos, kausalitätlos, mithin frei, und zeitlos, somit ohne
Anfang und Ende und in diesem Sinne unsterblich ist.
Nicht also aus egoistischen Gründen, sondern nur um
zum Verständnis seiner selbst zu gelangen, strebt das religiöse
Bewufstsein zum Unsterblichkeitsglauben hin, und diesem
Streben standen auf hebräischem Boden vermöge des semi-
tischen, fest in der Erscheinungswelt und ihren Gesetzen be-
fangenen Realismus (oben S. 33 fg.) so grofse Hindernisse ent-
gegen, dafs dieselben nur durch das Eingreifen einer fremden,
von Haus aus idealistisch gerichteten Weltanschauung über-
wunden werden konnten.
In denjenigen alttestamentlichen Schriften, welche vor
der nähern Bekanntschaft der Israeliten mit der persischen
Religion entstanden sind, ist von Unsterblichkeit nirgendwo
die Rede. Nach dem Tode, nachdem die Menschen, wie der
4, Die Unsterblichkeit der Seele. 181
charakteristische Ausdruck lautet, „zu ihren Vätern versammelt
sind", führen die Abgeschiedenen im Hades fscheolj als
Schatten frcphälmj ohne Blut und Lebenskraft fnepheschj ein
dumpfes, freudeloses Dasein, in welchem sie der Oberwelt wie
dem Einflüsse Jahves, der sich dann zur Vergeltung nur noch
an die Nachkommen halten kann, für immer entrückt sind;
Psalm 6,6: „Denn im Tode gedenket man deiner nicht; wer
will dir in der Hölle danken!" Dementsprechend werden
die beiden Gesetzgebungen in den Schlufskapiteln, Deutero-
nomium 28 und Leviticus 26, gekrönt durch eine lange Reihe
von Verheifsungen und Drohungen, welche sich ohne Aus-
nahme nur auf das irdische Leben und seine Verhältnisse be-
ziehen. Ebenso findet sich bei sämtlichen Propheten von Amos
bis zu Maleachi, so oft dieselben auch Gelegenheit nehmen,
den Frommen Glück, den Übertretern Unglück in Aussicht zu
stellen, keine Hindeutung auf ein Fortleben nach dem Tode.
Denn wenn Jahve Hosea 13,14 von dem sündigen Ephraim
ausruft: „Sollte ich sie aus der Gewalt der Unterwelt befreien,
sollte ich sie vom Tode erlösen? Wo sind deine Seuchen,
o Tod? Wo sind deine Qualen, o Unterwelt? Meine Augen
kennen kein Mitleid mehr!" — so steht hier der angedrohten
Verbannung in den oben erwähnten scheol ein Fortleben auf
Erden, nicht aber ein solches im Jenseits gegenüber; und
ebensowenig kann Ezechiel Kap. 37 das Feld mit den toten
Gebeinen, welche wieder Leben gewinnen, von etwas anderm
verstanden werden, als von einer Neubelebung der im Exil
verdorrten Nation, wie es ja Vers 11 ausdrücklich besagt.
Auch einige Stellen der Psalmen, in denen man ein Auf-
dämmern des Unsterblichkeitsgedankens finden könnte, sind
zum Teil von unsicherer Deutung, dazu auch undatierbar und
daher möglicherweise schon unter iranischem Einflufs. Solche
Stellen sind:
Psalm 16,10: „Denn du überlassest mein Leben nicht der
Unterwelt, gibst nicht zu, dafs dein Frommer die Grube
schaue."
Psalm 17,15: „Ich aber werde um meiner Gerechtigkeit
willen dein Angesicht schauen, werde mich, wenn ich er-
wache, an deiner Gestalt ersättigen!"
182 VI. Die Religion des alten Judentums.
Psalm 49,16: „Aber Gott wird meine Seele aus der Ge-
walt der Unterwelt erlösen."
Psalm 73,26: „Wäre gleich mein Fleisch und mein Herz
dahingeschwunden — Gott ist immerdar meines Herzens Fels
und mein Teil."
Anders als mit diesen durchaus zweifelhaften Zeugnissen
würde es, wenn sie vor der Kritik bestehen könnte, mit der
bekannten Stelle Hieb 19,25 — 26 sich verhalten, welche in
Luthers Übersetzung lautet: „Aber ich weifs, dafs mein Er-
löser lebt; und er wird mich hernach aus der Erde auferwecken;
und werde darnach mit dieser meiner Haut umgeben werden
und werde in meinem Fleisch Gott schauen."
Diese Stelle, welche schon Tausenden zum Tröste ge-
reicht, auch zu einem bekannten Kirchenliede Anlafs gegeben
hat, würde nicht nur für das Fortleben nach dem Tode, sondern
sogar für das Dogma von der Auferstehung des Fleisches
Zeugnis ablegen, wenn sie nicht auf einem kolossalen, man
möchte sagen, unverschämten Übersetzungsfehler beruhte und
nur besagte, dafs Hiob zuversichtlich erwartet, Gott werde ihn
in seiner Not nicht im Stiche lassen, vor ihm erscheinen, auf
der Erde vor ihm dastehen (ü^p; nsy-b?), so dafs er selbst
nach Zerstörung seiner Haut in dem von ihr entblöfsten Fleische
noch Gott zu schauen hoffe. Die Septuaginta hat den Über-
setzungsfehler noch nicht (oI§a yocp oti. devva6(; sötw 6 IxXusiv
[jis [JisX);ov iizl yri<; dvaaTTjcai tö SspiJ.a p.o\> t6 dvavxXouv Taüra),
erst in der Vulgata tritt er auf (Scio enim quod redeniptor
mens vivit, et in novissimo die de terra surrecturiis sum, et
rursiim circumddbor pelle mea et in carne mea videbo Deum
meumj^ von welcher ihn dann Luther übernommen haben mag.
Wörtlich übersetzt, wobei allerdings einiges zweifelhaft ist,
lautet die Stelle: „Aber ich weifs, mein Retter lebt und wird
zuletzt hier auf dem Boden dastehn, und nachdem meine Haut
in dieser Weise zerstört sein wird, selbst aus meinem blofsen
Fleische heraus werde ich Gott schauen."
Sicherer als alle die erwähnten Stellen spricht von einer
Auferstehung der Toten das durch Umkehr der Ziiffern von
Hiob 19,26 dem Gedächtnis sich leicht einprägende Zitat
Jesaia 26,19: „Aufleben werden deine Toten, meine Leichname
4. Die Unsterblichkeit der Seele. 133
auferstehn! Wacht auf und jubelt, ihr Bewohner des Staubes!
Denn ein Tau der Pflanzen ist dein Tau, und die Erde ge-
biert die Schatten wieder." Aber diese Jesaia- Stelle gehört
anerkanntermafsen zu einer sehr späten Einschiebung apoka-
lyptischer Art und steht allem Anscheine nach schon unter
iranischem Einflüsse. Unzweifelhaft ist dieser Einflufs auf
Daniel 12, wo die Unsterblichkeitslehre, und zwar in der bei
den Iraniern üblichen realistischen Form einer Auferstehung
von den Toten, mit voller Deutlichkeit vorgetragen wird;
Vers 2 : „Und Viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden
aufwachen, Etliche zum ewigen Leben, Etliche zur ewigen
Schmach und Schande"; und Vers 13: „Du aber, Daniel, gehe
hin, bis das Ende komme, und ruhe, dafs du aufstehest in
deinem Teil am Ende der Tage!" — Dieselbe Lehre findet
sich in dem zur palästinensisch -babylonischen Gruppe der
Apokryphen gehörigen zweiten Buche der Makkabäer, wo in
Kap. 7 die von Antiochus gemarterten Brüder in dem Glauben
an ihre Auferstehung Trost finden.
Sehr wohl zu unterscheiden von dieser realistischen Form
einer Auferstehung von den Toten ist die unter den alexan-
drinischen Juden aufkommende und auf dem Einflufs der
griechischen Philosophie beruhende Lehre von der Unsterblich-
keit der Seele, wie sie von Philo Judaeus (oben II, i, S. 478) und
auch im Buche der Weisheit (besonders 3,1 fg.) vorgetragen
wird, welches Kap. 8,19 die Präexistenz der Seele voraussetzt
und auch die platonische Anschauung vom Körper als einer
die Seele niederdrückenden Last teilt. Kap. 9,15: „Denn der
sterbliche Körper beschwert die Seele, und die irdische Hülle
belastet den vieldenkenden Geist."
Wenig oder gar nicht berührt von diesen iranischen und
alexandrinischen Einflüssen sind diejenigen Apokryphen, welche,
wie Judith und Sirach, durch ihren Inhalt auf rein palästinen-
sischen Ursprung hinweisen und, wie von der entwickelten
Dämonologie, so auch von dem Unsterblichkeitsglauben keine
sichern Spuren enthalten, vielmehr in beiden Punkten bei
der althebräischen Anschauung verharren. Auch hier zeigt
sich wieder, dafs der Geist der neuen Zeit erst allmählich das
Judentum durchdrang. Wie in der Dämonologie, so huldigen
184 VI> Die Religion des alten Judentums.
auch in der Auferstehungsfrage die Pharisäer, und was ihnen
nacheiferte, zu Jesu Zeit, der auf . persischer Einwirkung be-
ruhenden fortgeschrittenen Anschauung, wälirend die Sadducäer
dem alten Mosaismus getreu bheben und weder von Engeln
und Dämonen, noch von einem Fortleben nach dem Tode
etwas wissen wollten. Ihre verfängliche Frage, wenn ein
Weib sieben Männer gehabt habe, wessen Weib sie in der
Auferstehung sein werde, beantwortet Jesus Matth. 22,30 ganz
entsprechend seinen Vorstellungen von den idealen Zuständen
des von ihm verkündigten Himmelreiches, sucht aber sodann
das Vorkommen der Auferstehungslehre schon im mosaischen
Gesetze mit einem nicht stichhaltigen Argumente zu erweisen ;
Matth. 22,31 — 32: „Habt ihr aber nicht gelesen von der Toten
Auferstehung, dafs euch gesagt ist von Gott, da er spricht:
Ich bin der Gott Abrahams, und der Gott Isaaks, und der
Gott Jakobs (2. Mos. 3,6)? Gott aber ist nicht ein Gott der
Toten, sondern der Lebendigen." Folglich, so müssen wir
sohliefsen, sind Abraham, Isaak und Jakob noch jetzt lebendig.
Da dieser Schlufs ein Kleben an dem Buchstaben des Schrift-
wortes voraussetzt, wie es sonst Jesu Art nicht war (vergleiche
besonders den schönen Zug in der synoptischen, dem vierten
Evangelium eingelegten, Erzählung von der Ehebrecherin,
Joh. 8,6, wogegen rhetorische Hyperbeln wie Matth. 5,18 nichts
bedeuten), wohl aber den Sadducäern eigen sein mochte, so
könnte man hier ein blofses argumentum ad liominem vermuten,
ein Ausweg, der jedoch wenig für sich hat. Sicher steht aber,
dafs Jesus, in diesem Punkte mit den Pharisäern überein-
stimmend, durchaus an der Unsterblichkeit in der iranischen
Form einer Auferstehung der Toten festhielt, zugleich aber an
der althebräischen Vergeltungslehre, nur dafs er die Ver-
geltung des Guten und Bösen in das Jenseits verlegte, wo-
durch er dem Widerspruch mit der Erfahrung (oben S. 124)
entging, und zunächst an Stelle des althebräischen immanenten
ein transscendenter Eudämonismus trat, wie dies die
häufigen Wendungen in den Reden Jesu: „Es wird euch
im Himmel wohl belohnet werden" und: „Sie haben ihren
Lohn dahin" deutlich beweisen. Ob wir freilich in der Er-
zählung Luc. 16,19 fg. von dem reichen Mann, dessen Schuld
4. Die Unsterblichkeit der Seele, 185
nur in seinem Reichtum, und dem armen Lazarus, dessen Ver-
dienst nur in seinem Elend zu liegen scheint, ein Stück echter
Überlieferung oder nicht vielmehr eine Legende aus der Zeit
der ersten Christenheit vor uns haben, das hängt von der
schwer zu beantwortenden Frage ab, inwieweit schon Jesus
solche sozialistische Tendenzen, wie sie ihm das dritte Evan-
gelium zuschreibt, vertreten habe. Nach Luc. 6,20 fg. hätte
Jesus die Armen, Hungernden, Weinenden selig gepriesen und
über die Reichen, Satten, Lachenden sein Wehe ausgesprochen,
aber ein Vergleich mit den Seligpreisungen der Bergpredigt
und andern Stellen der altern Evangelien, wie auch der ganze
Charakter Jesu läfst vermuten, dafs er zu sehr in dem Ewigen
wurzelte, zu gering über die Erden weit und ihre Interessen
dachte, als dafs wir ihm solche volksbeglückende und anti-
plutokratische Tendenzen zuschreiben möchten, welche von
«iner gewissen Richtung seiner Nachfolger, allerdings in
Anknüpfung an gelegentliche Aufserungen Jesu, entwickelt
worden sind.
Das Dogma von der Auferstehung der Toten hatte ge-
bildeten Griechen gegenüber einen schweren Stand. Vor ihnen
sucht der Apostel Paulus 1. Kor. 15 diese anstöfsige Lehre
zu sublimieren, indem er, anknüpfend an das Bild vom Samen-
korn, welches durch göttliche Kraft zur Pflanze wird, den
irdischen Leib (cöjxa 4'^X''^o^) unterscheidet von dem geist-
lichen Leibe der Auferstehung (awfxa TCvsujjLaTixov) und diesen
Gegensatz in tiefsinniger, aber nicht sehr durchsichtiger Weise
kombiniert mit seiner Grundanschauung von dem natürhchen
Menschen (av^pwTuo? ^\>yi>i6Q) und dem durch die Wiedergeburt
erstehenden geistlichen Menschen (av'ä^pwTco? 7rv£\j[jiaTcx6c), von
dem wir später zu handeln haben werden, 1. Kor. 15,42 — 47:
„Es wird gesäet werweslich, und wird auferstehen unverweslich.
Es wird gesäet in Unehre, und wird auferstehen in Herrlich-
keit. Es wird gesäet in Schwachheit, und wird auferstehen
in Kraft. Es wird gesäet ein natürlicher Leib, und wird auf-
erstehen ein geistlicher Leib. Es gibt einen natürlichen Körper,
und es gibt einen geistlichen Körper. Wie es geschrieben
stehet: Der erste Mensch, Adam, ist gemacht in das natür-
liche Leben; und der letzte Adam in das geistliche Leben.
IQQ VI. Die Religion des alten Judentums.
Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natür-
hche, darnach der geisthche. Der erste Mensch ist von der
Erde, und irdisch; der andere Mensch ist der Herr im Himmeh"
Im vierten Evangelium erscheint der Auferstehungs-
glaube schon als volkstümliche Ansicht (11,24); für die eigene
Anschauung des Evangelisten genügt es, an die Worte 5,28 — 29
zu erinnern: „Verwundert euch defs nicht. Denn es kommt
die Stunde, in welcher Alle, die in den Gräbern sind, werden
seine Stimme hören; und werden hervorgehen, die da Gutes
getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übels
getan haben, zur Auferstehung des Gerichts."
5. Die Messiasidee.
Der Begriff des Himmelreichs (ßaai>^s[a töv oupavwv)
ist uns von Kindheit an so geläufig, dafs wir seine kolossale
Paradoxie und die in ihm liegende contradiotio in acljedo nicht
leicht bemerken. Aber welche Vorstellung man sich auch von
den Zuständen im Jenseits machen oder nicht machen mag,
jedenfalls haben sie nicht die mindeste Ähnlichkeit mit den
Reichen dieser Welt, wie sie auf den Egoismus sich gründen
und nur im Kampfe gegen feindliche Elemente nach innen
und aufsen sich erhalten können. Wenn dasjenige , w^as in
der brahmanischen Religion als Erlöschen in Brahman {brahma-
nirvänamj\ in der buddhistischen, mit Verstümmelung dieses
Wortes, als ein Erlöschen fnirvanamj, und vom allgemeinen
religiösen Bewufstsein als ewige Seligkeit bezeichnet wird, im
Neuen Testament nach Analogie der ihm völlig heterogenen
Weltreiche als Himmelreich benannt zu werden pflegt, so
hat dieser seltsame Name seinen Grund in den besondern
Schickungen des israelitischen Volkes, auf welche wir hier
kurz zurückblicken müssen.
Schon dem David war 2. Sam. 7,13 verheifsen worden,
dafs sein Reich von ewiger Dauer sein solle, und diese Hoff-
nung wurde von den Israeliten mit der ihnen eigenen Zähig-
keit auch in den trübsten Zeiten festgehalten. Diese trüben
Zeiten begannen schon mit der Spaltung des Reiches nach
Salomos Tode, steigerten sich in den Zeiten der assyrischen,
5. Die Messiasidee. 187
babylonischen, persischen, ptolemäischen und selcucidischen
Fremdherrschaft und setzten sich, nach kurzen Unterbrechungen
durch die Makkabäerzeit, in der Bedrückung des Volkes durch
die Römer bis zur völligen Auflösung des jüdischen Volks-
tums fort. Eine Erklärung dieses Elends suchte man in den
nie fehleaden Versündigungen des Volkes, da nach der alt-
hebräischen Vergeltungslehre nicht nur jede Frömmigkeit zum
Glück, jede Übertretung der Gebote zum Unglück führt, sondern
auch umgekehrt jeder glückliche Zustand auf ein vorher-
gehendes Wohlverhalten , jedes Hereinbrechen von Unglück
auf eine begangene Versündigung mit Sicherheit zu schliefsen
erlaubte. Schon die alten Propheten waren unermüdlich be-
flissen, alles Mifsgeschick ihres Volkes als Strafe für seinen
Abfall von Gott zu erklären, und eben dieselben stellten für
eine Bekehrung zu Jahve als Lohn ein goldenes Zeitalter in
Aussicht. Dann wird ein Herrscher aus dem Stamme Davids,
aus Bethlehem Ephrata (Micha 5,1), das Volk frei und grofs
und glücklich machen, alle Völker der Erde werden ihm ihre
Huldigung darbringen, ja auch die ganze Ordnung der Natur
wird eine umgekehrte werden; Jesaia 11,6 — 8: „Die Wölfe
werden bei den Lämmern wohnen, und die Pardel bei den
Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge
Löwen und Mastvieh mit einander treiben. Kühe und Bären
werden an der Weide gehen, dafs ihre Jungen bei einander
liegen; und Löw^en werden Stroh essen wie die Ochsen. Und
ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und
ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des
Basilisken,"
Aber die verheifsenen glücklichen Zeiten blieben aus, auch
dann noch, als die Gemeinde der Juden seit ihrer Eückkehr
aus dem Exil sich einem Gesetzeskultus, strenger als er je
vorher gewesen, ergab. Vielmehr wurden die Zustände immer
unerträglicher; auf den Löwen (Babylonien) folgten Bär und
Parder (das modisch -persische Reich), auf sie das Tier mit
den zehn Hörnern (Alexander und die Diadochen) und dem
elften Hörn (Antiochus Epiphanes); aber ihnen war Zeit und
Stunde gesetzt, ihre Macht wurde gebrochen, und was dann
folgt, schildert Daniel 7,lß — 14: „Und siehe, es kam einer in
188 VI. Die Religion des alten Judentums.
des Himmels Wolken, wie eines Menschen Sohn, bis zu dem
Alten, und ward vor denselbigen gebracht. Der gab ihm Ge-
walt, Ehre und Reich, dafs ihm alle Völker, Leute und Zungen
dienen sollten. Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergehet,
und sein Königreich hat kein Ende."
Hier ist ein höchst merkwürdiger Umschwung zu erkennen.
Der Verfasser, durch so viele Schicksalsschläge belehrt, ver-
zweifelt an einer Besserung der politischen Zustände. Er setzt
seine Hoffnung auf das nahe bevorstehende Weltende. Der
so oft vergebens erwartete irdische König oder Messias ist
zu einem menschenähnlichen, aber in den Wolken des Himmels
erscheinenden himmlischen Messias, das erhoffte irdische Welt-
reich ist zu einem Himmelreich (ßaaiXsia rwv oüpavöv) geworden.
Dafs dieser Umschwung, die Umwandlung des irdischen
Messias in einen himmlischen, des erwarteten Erdreiches in
ein Himmelreich, wesentlich durch iranischen Einflufs mit-
bedingt ist, dürfte sich daraus unzweifelhaft ergeben, dafs
1. das auch in seiner Dämonologie und Auferstehungslehre
iranischen Einflufs bekundende Buch Daniel, und nur dieses,
unter den Schriften des Judentums diese Vergeistigung der
Messiasidee enthält, 2. das Erscheinen dieses himmlischen
Messias, ganz wie in Iran, mit der Auferstehung der Toten
und dem Ende aller Dinge verbunden erscheint, wie denn
auch viele einzelne Züge an das oben S. 142 fg. geschilderte
Auftreten des QaosJiyang erinnern, und endlich 3. ganz wie
bei der oben besprochenen Dämonologie und Auferstehungs-
frage, so auch in der Auffassung des Messias als eines himm-
lischen Königs das palästinensische Judentum noch auf dem
alten Standpunkte verharrte und nach wie vor auf einen irdi-
schen Messias hoffte, der das Volk vom Druck der Römer-
herrschaft befreien sollte. Dafs auch ein Teil der Jünger Jesu
diesen materiellen Hoffnungen huldigte, scheint aus Luc.
24,21, Apostelgesch. 1,6 hervorzugehen. Wie Jesus selbst
über das Messianische Reich dachte, wird später zu unter-
suchen sein.
1. Quellen zur Geschichte Jesu. 189
VII. Leben und Lehre Jesu.
1. Quellen zur Geschichte Jesu.
,An der Geschichtlichkeit der Person Jesu kann nur ein
Narr zweifeln. Der Tatbestand des neutestamentlichen Schrift-
tums ebenso wie die erste Genesis des Christentums bleiben
völlig unerklärlich, wenn man nicht als Urheber der ganzen
Bewegung einen historischen Jesus, von welcher Art er auch
immer gewesen sein mag, voraussetzt. Wer aufserdem noch
greifbare Beweise für die geschichtliche Existenz der Person
Jesu verlangt, der wäre zu verweisen auf die bekannten Zeug-
nisse des Sueton und des Tacitus.
C. Suetonius Tranquillus berichtet im „Leben des
Kaisers Claudius" von diesem cap. 25: ludaeos impulsore
Chresto assidue tumtdtuantis Borna expnlit: „Er verbannte die
Juden aus Rom, weil sie auf Anstiften eines gewissen Chrestus
fortwährend Unruhen erregten."
Der Verfasser, von welchem Sueton diese Notiz über-
nommen hat, war offenbar sehr wenig orientiert. Die Streitig-
keiten zwischen den in Rom lebenden Juden mit der eben-
daselbst neuentstandenen Christengemeinde hält er für eine
Zänkerei der Juden unter einander, als deren Anstifter er
einen gewissen Chrestus bezeichnet, den sich der Verfasser
allem Anscheine nach als zur Zeit des Claudius in Rom lebend
dachte. Der Verfasser war also über das, was er erzählt,
sehr mangelhaft unterrichtet. Aber gerade diese Unkenntnis
der nähern Verhältnisse bürgt uns dafür, dafs hier keine
Fälschung vorliegt, dafs zwischen den Juden und der aus
ihnen hervorgegangenen Partei der Christen Streitigkeiten
bestanden, und dafs dabei ein gewisser Christus, dessen Namen
der Verfasser in das ihm geläufigere Chrestus verwandelte,
die Hauptrolle spielte, dessen Autorität die eine Partei an-
erkannte, während die andere sie verwarf. Wir haben also
hier das Zeugnis eines unparteiischen, der Sache sehr gleich-
gültig gegenüberstehenden Römers dafür, dafs schon unter
Claudius (41 — 54 p. C.) in Rom eine von den übrigen Juden
190 "^II- Leben und Lehre Jesu.
sich absondernde Gemeinde bestand, welche Christus als ihr
Haupt betrachtete.
Cornelius Tacitus erzählt Annalen 15,44, wie Nero
nach dem Brande Roms, um den Verdacht von sich abzu-
wälzen, diejenigen beschuldigt und mit den ausgesuchtesten
Strafen belegt habe, welche beim Volke wegen ihrer Schand-
taten verhafst (per flagitia invisosj waren und den Namen
Christen (ChristianiJ führten. Er fährt fort: Auetor nommis
eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium
Pilatum supplicio affectus erat; repressaque in praesens exi-
tiabilis superstitio rursum erumpehat, non modo per ludceam,
originem eius mali, sed per urhem etiam, quo cuncta undique
atrocia aut pudenda conßuunt celehranturque , „der Urheber
dieses Namens, Christus, wurde während der Regierung des
Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus mit dem Tode
bestraft; aber der für den Augenblick unterdrückte, verderb-
liche Aberglaube brach wieder aus, nicht nur in Judäa, wo
dieses Übel entsprungen war, sondern auch in Rom, wo von
überallher alles Scheufsliche und Schamlose zusammenströmt
und verherrlicht wird". Für die Echtheit dieser Stelle bürgt
nicht nur ihr in jedem Worte unverkennbares und fast un-
nachahmliches taciteisches Gepräge, sondern auch die ein-
fache Überlegung, dafs sie nicht, wie die bekannte Stelle des
Josephus Antiq. 18,3,3, von Christen eingefälscht sein kann,
da sie ja in hohem Grade christenfeindlich ist; wollte aber
jemand sich zu der Behauptung versteigen, sie sei von den
Gegnern des Christentums interpoliert worden, so würde
die Stelle bei dieser übrigens sehr unwahrscheinlichen An-
nahme dieselbe Beweiskraft für die historische Existenz Jesu
behalten.
Im übrigen sind wir für die Geschichte Jesu als Quelle
fast ausschliefslich auf die vier Evangelien des Matthäus,
Marcus, Lucas und Johannes beschränkt, deren Bezeichnung
als xaxa MaT'^aiov, Mdpxov, Aouxav, loavvTjv, da diese Männer
nicht Urheber der „frohen Botschaft" sind, sondern über die-
selbe nur berichten wollen, durchaus nicht gegen die Autor-
schaft der vier Schriften durch die Apostel Matthäus und
Johannes und die Apostelschüler Marcus und Lucas zeugen
1. Quellen zur Geschichte Jesu. 191
würde, stünden nicht dieser Autorschaft aus andern Gründen
die schwersten Bedenken entgegen.
Was zunächst das vierte Evangehum betrifft, so werden
wir ihm weiter unten eine besondere Betrachtung widmen.
Wir werden in ihm eine in ihrer Art wundervolle Exemplifika-
tion der durch Jesus und Paulus geschaffenen Christusgestalt
der Kirche an einem mit freier, genialer Konzeption entworfenen
Leben Jesu erkennen, und begnügen uns hier mit der Be-
merkung, dafs jeder, welcher den Erzählungen und Reden
dieses Evangeliums irgendwelchen historischen Wert einräumt,
sich dadurch die Möglichkeit verschliefst, über die vielleicht
einzig in der ganzen Weltgeschichte dastehende Persönlich-
keit Jesu ein authentisches Bild zu gewinnen, wozu uns die
drei ersten Evangelien weit mehr urkundliches Material dar-
bieten, als es vielen scheinen mag.
Allerdings ist nicht daran zu denken, Matthäus, Marcus
und Lucas, wie sie uns vorliegen, ohne weiteres als glaub-
würdige Zeugen zu betrachten, aber die beiden erstgenannten
sind doch Fortbildungen zweier Urschriften, über welche uns
nur das unsichere Zeugnis des Papias erhalten ist.
Papias, Bischof von Hierapolis in Phrygien, gestorben
163 p. C. und angeblich noch ein Schüler des Apostels Johannes,
berichtet in dem bei Eusebius (Hist. eccl. III, 40) erhaltenen
Fragment einer verloren gegangenen Schrift folgendes*:
Ma.x'ZGdQC, [}.h ouv eßpatSt, ^iocasxtw xa \cyic(. auvsypd^iaTO*
'^pfj.'iqvsyas 5s auxa 6c ^v Suvaxo? 'i'/.r/.axoQ. „Matthäus also hat
in hebräischer (d. h. aramäischer) Sprache die Reden (des
Herrn) verfafst; es erklärte sie aber ein jeder, so gut er konnte."
Mapxo? epjJLTjvsux'ir)? IIsxpou yevc'xsvoc, 3aa s[Ji,vrjpt,6v£U(j£v, dxpt-
ßö^ eypa^'sv, oh {j-svxot, xd^et, xd 6x0 xcü Xpiaxoö t] Xsx'^svxa t]
Tcpax^svxa* oöxs ydp TJxouas xoü xupcou, oüxs 7i:aprjXoXoi)'3"r]asv
aux«, uaxepov 5s IIsxp«, o^ irpöi^ xd^ X.9^'^'^^ iizoizlzo tolc, 5t.5aaxa-
\lac;, ou)r «aTcsp öuvxalw xöv x\jpt.axwv 7üo!,oi)[j.£vo(;, Xoyiov' ogxs
oüSsv vj'xapxs Mdpxo^, ouxcoc; svia ypd'j'ac, ^Q dTC£[j.v'r][x6v£i)C£v.
''Ev6(; ydp £7roiT]aaxo Tüp6vo(.av, xoö (JLifjSsv öv -»^xouas TrapaXtxstv,
T] vjjsuaac'^ai xi, sv auxotc- „Marcus war ein Dolmetscher des
Petrus und hat genau aufgezeichnet alles, woran er sich
erinnerte, jedoch nicht in der Reihenfolge, wie es von Christus
X92 VII- lieben und Lehre Jesu.
sei es gesagt oder getan worden war; denn er hatte ja den
Herrn weder gehört, noch war er ihm nachgefolgt, sondern
nur späterhin dem Petrus, welcher die Lehrvorträge je nach
dem Bedürfnis einrichtete, nicht aber in der Absicht, eine
chronologische Darstellung der Denkwürdigkeiten des Herrn
zu veranstalten, so dafs den Marcus kein Vorwurf trifft, wenn
er einiges in der Reihe aufschrieb, wie er sich daran erinnerte.
Denn nur auf Eines war er bedacht, dafs er nichts weglief s,
was er gehört hatte, und nichts hinzuerfand."
Zunächst ist klar, dafs die beiden von Papias erwähnten
Urschriften, welche wir Urmatthäus und Urmarcus nennen
wollen, nicht identisch mit unserm Matthäus und Marcus sein
können, da unser Matthäus nicht aus dem Aramäischen über-
setzt, sondern ursprünglich schon griechisch geschrieben worden
ist, wie er ja auch weit mehr enthält als die Reden des Herrn,
vielleicht begleitet von ihrem Anlafs, von dem Papias be-
richtet; ebensowenig deckt sich der Urmarcus, bei dem nach
dem Zeugnisse des Papias die chronologische Anordnung
mangelte, mit unserm Marcus, welcher von der Taufe durch
Johannes anfangend den Aufenthalt in Galiläa, die Flucht vor
Herodes in die Tetrarchie des Phihppus und die Reise nach
Jerusalem nebst Leiden, Sterben und Auferstehung geschicht-
lich zusammenhängend und im wesentlichen übereinstimmend
mit Matthäus und Lucas erzählt. Bei dieser Lage der Sache
läfst sich dem sehr unbequemen Dilemma nicht entgehen, dafs
Papias entweder unsern Matthäus und Marcus noch gar nicht
gekannt hat, oder, falls er sie kannte, in ihnen nicht den echten
Matthäus und Marcus, von denen er berichtet, anerkennen
konnte. Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir in Urmatthäus
und Urmarcus die ersten Keime zu unserm Matthäus und
Marcus zu sehen, nur dafs zwischen den Evangelien des
Papias und den unserigen vieles liegen mufs, was uns leider
verloren ist, nicht nur an mündlichen Traditionen, sondern
auch an Schriftwerken. Die Berichte bei Matthäus, Marcus
und Lucas stimmen vielfach bis aufs Wort dermafsen überein,
dafs wir eine allen dreien gemeinsame, direkt oder indirekt
von ihnen benutzte, in griechischer Sprache geschriebene
Quelle, wir wollen sie das Synoptik on nennen, annehmen
1. Quellen zur Geschichte -Jesu. X93
müssen, welche verloren gegangen ist, aber sich einigermafsen
aus Matthäus, Marcus und Lucas herausschälen läfst und nur
das allen dreien Gemeinsame enthielt, nicht aber das, was
bei einem von den dreien fehlt; denn es ist nicht anzunehmen,
dafs spätere Bearbeiter irgend etwas von dem, was dieses von
ihnen als Autorität anerkannte und benutzte Synoptikon ent-
hielt, fallen liefsen, es sei denn aus dogmatischen Gründen,
wie denn der so anstöfsige Ausruf Jesu am Kreuze: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen", in welchem
man eine Verzweiflung an seiner ganzen Lebensaufgabe finden
konnte, sicher echt und bei Matthäus und Marcus aufbewahrt
ist, während Lucas ihn wegliefs, weil er zu den von ihm aus
andern Quellen berichteten Worten am Kreuze nicht pafste.
Unser Synoptikon ist weder mit dem Urmarcus, von dem es
sich schon in der Anordnung unterschieden haben mul's,
noch mit unserm Marcus identisch, welcher viele, meist aus-
schmückende Zusätze enthält, die bei Matthäus und Lucas
fehlen. Neben diesem Synoptikon mufs es noch eine reiche
mündliche Tradition, wahrscheinlich auch noch andere schrift-
liche Aufzeichnungen gegeben haben, aus deren Zusammen-
fassung und Verschmelzung mit ihm nach und nach unsere
drei synoptischen Evangelien entstanden sind. Der Prozefs
im einzelnen wird sich schwerlich in einer allgemein be-
friedigenden Weise hypothetisch rekonstruieren lassen, und
nur soviel läfst sich von unsern drei Evangelien mit einiger
Sicherheit behaupten, dafs Matthäus aus einer Verschmelzung
des Synoptikon mit der von Papias erwähnten Eedenquelle
hervorgegangen ist und dabei im allgemeinen nach unserm
Gefühl das Synoptikon treuer wiedergibt als Marcus, da die
diesem eigenen anschaulichen Züge weit eher aus späterer
Ausschmückung als aus Ursprünglichkeit sich erklären, treuer
auch als Lucas, welcher gleichfalls Redenquelle und Synoptikon
benutzt haben mufs, aber die bei Matthäus noch in grofsen
Komplexen erhaltene Redenquelle zerstückelte und sie den
Begebenheiten, nicht immer mit Geschick, einflocht. Eigen-
tümlich sind dem Matthäus die geflissentlichen Nachweisungen
der Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen, wie schon
daraus ersichtlich, dafs sie die Schriftstellen aus dem hebräischen
Deussen. Geschichte der Philosophie. II, ii. j^3
194 ^11. Leben und Lehre Jesu.
Grundtext übersetzen, während das Synoptiken und so auch
Matthäus, soweit er ihm folgt, nach der Septuaginta zitiert.
Ein besonderer Vorzug des Lucas sind die ihm allein eigenen
schönen Parabeln Vom barmherzigen Samariter, verlorenen
Sohn u. a., welche bei allem ethischen Werte doch einen andern
Charakter als die echten Gleichnisse Jesu tragen, so dafs sie
wohl eher der im Sinne des Meisters dichtenden ersten Christen-
gemeinde zuzuschreiben sein dürften.
2. Leben und Wirken Jesu.
Eine Marmorstatue, ein herrliches Götterbild, von bar-
barischen Händen zertrümmert, viele wesentliche Teile ver-
schleppt und unwiederbringlich verloren, das Übrige ohne
Zusammenhang, mit fremden Bruchstücken untermischt und
ungeschickt verbunden, dazu das Ganze durch erdartige
Schichten verdeckt und überglast, — das etwa ist der Ein-
druck, mit welchem wir den Überlieferungen vom Leben und
Wirken Jesu gegenüberstehen. Einem solchen Material gegen-
über genügt es nicht, mit philologischer Akribie die Texte zu
vergleichen und ihren Wert gegen einander abzuwägen, viel-
mehr müssen wir auf einen Künstler hoffen, welcher imstande
wäre, mit kongenialem Blick das Verlorene zu ergänzen und
aus den Trümmern das Götterbild, aus dem noch Vorhandenen
das ursprüngliche Ganze wiederherzustellen.
Der schlimmste Feind der historischen Überlieferung war
dabei das bald nach Jesu Hinscheiden sich einstellende Be-
dürfnis, den zum Himmel entrückten Sohn Gottes und Messias
gläubig zu verehren und alles, was die Propheten des Alten
Bundes von ihm geweissagt hatten oder gevveissagt zu haben
schienen, als in Erfüllung gegangen durch Jesum Christum
zu betrachten.
Wie sehr ein solches Herzensbedürfnis, so berechtigt es
in seiner Art sein mag, dem nicht weniger berechtigten
Wunsche, das Geschehene mit historischer Treue zu bewahren,
zerstörend entgegensteht, kann man am besten in Palästina
beobachten, wo fast jede historische Kunde, soweit sie über-
haupt noch vorhanden sein mochte, verdunkelt und erstickt
2. Leben und Wirken Jesu. 195
worden ist durch das Streben der Gläubigen, die heiligen
Orte, oder was man dafür hielt, in Stätten der Verehrung um-
zuwandeln. In Jerusalem zeigt man uns noch heute alles,
was wir wünschen können, das Fenster der Burg, aus welchem
König David die Bathseba erblickte, die via dolorosa mit dem
^cce-/jo;no- Bogen vmd allen übrigen Einzelheiten, die Stelle,
von wo der Hahn krähte, als Petrus seinen Herrn verleugnete,
ja wohl gar noch den Baum, an welchem Judas sich erhängt
haben soll. Das alles ist ja spätere Erfindung, und wo wir
an einem Orte stehen, der Anspruch darauf hat, der echte zu
sein, da ist er durch jenes Bedürfnis der Verehrung entstellt
und seines ursprünglichen Charakters beraubt worden. Wo
wir im Kidrontale Gethsemane erwarten, da finden wir einen
von den Franziskanern umhegten und sorgsam gepflegten
Blumengarten, während tiefer unten im w^asserlosen Kidron-
tale noch die uralten Ölbäume stehen, welche uns eine Vor-
stellung ermöglichen von der letzten Nacht, die der Herr mit
seinem Jüngern verbrachte; der Olberg, von dem er auf
Jerusalem herniederblickte, ist durch einen Aussichtsturm und
prunkvolle Kirchenbauten entstellt; und suchen wir die Grabes-
kirche auf, welche in ihrem riesigen Umfang, sehr fraglich
ob mit Recht, die Stätte der Kreuzigung, der Salbung des
Leichnams und als Mittelpunkt das heilige Grab selbst um-
schliefst, da finden wir statt des letztern ein Tempelchen mit
Bank und Fufsboden aus Marmor, welche die Möglichkeit
geben, zu knien, zu beten, den Boden zu küssen, aber an eine
in die Felsen gehauene Grabkammer mit einer kleinen seitlichen
Öffnung, welche durch Vorwälzung eines mühlsteinartigen
Blockes verschlossen werden konnte — wie deren noch manche
in der Umgegend von Jerusalem vorhanden sind — , nicht
entfernt mehr erinnern. Und kommt man nach Bethlehem,
steigt in die Krypta der grofsen Marienkirche herab und liest
in der Geburtskapelle auf dem Marmorboden um den silbernen
Stern herum die grofse, welthistorische Inschrift: Hlc devirgine
Maria Icsiis Christus natus est, so Avird man auch dann von
dem Eindruck mächtig ergrifi'en werden, wenn man nicht in
der Lage ist, Bethlehem als Geburtsort Jesu anerkennen zu
können.
13*
196 VII. Leben und Lehre Jesu.
Jesus stammte notorisch aus Nazareth, einem kleinen Land-
städtchen in Gahläa, 20 Kilometer westlich vom Südende des
Sees Genezareth, und ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch
dort geboren. Aber als der Messias mufste er nach Micha 5,1
aus Bethlehem Ephrata stammen, und die Legende schlägt
zu diesem Ende in den beiden Kindheitsberichten bei Matthäus
und Lucas verschiedene Wege ein. Nach Lucas wohnen die
Eltern ursprünglich in Nazareth und sollen bei Gelegenheit
des nach Verbannung des Archelaus vom syrischen Legaten
P. Sulpicius Quirinius im Jahre 7 p. C, wo Jesus schon min-
destens sieben Jahre alt war, veranstalteten Census infolge
einer bei der geordneten römischen Verwaltung ebenso un-
denkbaren wie unsinnigen Mafsregel gezwungen worden sein,
die weite Reise von Nazareth nach Bethlehem zu machen, nur
um dort, wo niemand sie kannte, ihren Namen in die Schätzungs-
liste eintragen zu lassen, weil die Vorfahren von Joseph tausend
Jahre vorher dort gewohnt hatten.
Einen andern Weg schlägt die bei Matthäus erhaltenem Sage
ein. Nach ihr wohnen die Eltern ursprünglich in Bethlehem,
wie daraus mit Sicherheit hervorgeht, dafs nach ihrer. Rück-
kehr aus Ägypten ausdrücklich motiviert wird, warum sie
nicht nach Bethlehem zurücldiehren, sondern „in ejne Stadt,
die da heifst Nazareth" übersiedeln. Dafs Herodes aus Furcht
vor einem neugeborenen Knäblein alle Kinder unter ^wei
Jahren in Bethlehem und Umgegend habe umbringen lassen,
ist trotz seines argwöhnischen und zu Grausamkeiten geneigten
Charakters nicht weniger widersinnig als die bei Lucas zu-
grundeliegende Fiktion der Nötigung zu einer weiten Reise,
nur um sich zensieren zu lassen.
Als Beweis der Abstammung Jesu von David führen die
beiden genannten Berichte zwei Stammbäume vor, von denen
der bei Matthäus das Geschlecht Jesu bis auf Abraham, der
bei Lucas dasselbe sogar bis auf Adam zurückführt. Ohne uns
bei den willkürlichen Konstruktionen und Widersprüchen dieser
beiden Geschlechtsregister aufzuhalten, wollen wir nur daran
erinnern, dafs sie nicht in Maria, sondern in Joseph auslaufen,
TÖv avSpa MoLgloLQ, wie Matthäus bemerkt, während Lucas ein
6c svo[j.i'^£To u[6? 'I«cifj9 einschiebt. Sollen diese durch müh-
2. Leben und Wirken Jesu. 197
same Konstruktionen gewonnenen Stammbäume nicht ganz
widersinnig sein, so müssen sie, abgesehen von den erwähnten
Zusätzen, aus einer Zeit herrühren, wo man von einer über-
natürhchen Zeugung noch nichts wufste, sondern Jesum ein-
fach für einen Sohn des von David stammenden Joseph hielt.
Diese Anschauung hegt auch noch den Worten des Apostels
Paulus zugrunde, wenn er Röni; 1,3 sich als einen Diener Jesu
bezeichnet, toü yevo[j.svou ey, GTrepjj.aroc; AaßlS xaTa aapx.a* xoO
bgia^hxQC, uloö ©soü Iv 5uva[j.£!,, y.a,xd(. 7rvsij[j.a dY!.«aiJV7]C, s^ dva-
CTda^wi: vsxpwv, „der geboren ist von dem Samen Davids,
nach dem Fleisch, und kräftiglich erwiesen ein Sohn Gottes,
nach dem Geist, der da heiliget, seit der Zeit er auferstanden
ist von den Toten". Aus dem Gegensatze xard adpxa und
y.axd TTvsüjj.oc sowie aus dem Ausdruck Ix CKigixoLzoQ AaßcS
geht für jeden, der sehen will, klar hervor, dafs Paulus von
der übernatürlichen Zeugung noch nichts wufste. Sie ist die
Frucht einer volkstümlichen Neigung, geistige Verhältnisse
ins Konkrete zu übersetzen und dadurch fafslicher zu machen,
ähnlich wie man in Indien dem Gotte Brahman, weil es Rig-
veda 10,81,3 heilst:
~ „Allseitig Auge uud allseitig Antlitz,
Allseitig Arme ;und allseitig Fufs",
in späterer Zeit viele Gesichter und Arme andichtete. Es ist
daher aus der .christlichen Legende durchaus kein Grund dafür
zu entnehmen, dafs Jesus nicht das Kind seiner beiden Eltern,
des Joseph und der Maria, gewesen sei.
Wer heutzutage Nazareth als den Ort, wo Jesus höchst-
wahrscheinlich geboren wurde und wo er jedenfalls die Zeit
seiner Jugend verbrachte, mit hochgespannten Erwartungen
besucht, der wird einen ähnlichen Eindruck empfangen wie
die Besucher von Stratford on Avon, als dem Geburts- und
Heimatsorte Shakespeares, nämlich den Eindruck der Ver-
wunderung darüber, wie ein so grofser, in seiner Art welt-
beherrschender Genius die erste, für die Entwicklung einflufs-
reichste Periode seines Lebens fern von dem Treiben der
grofsen Welt in einer kleinen Provinzialstadt verbringen
konnte, welche sich durch nichts vor hundert ähnlichen aus-
198 VII. Leben und Lehre Jesu.
zeichnet. Dies scheint zu beweisen, dafs der Genius zu dem,
was er selbst mitbringt, keiner besonders starken Anregungen
von aufsen bedarf, und dafs vielmehr das Treiben einer Grofs-
stadt wegen der Überfülle der Eindrücke den jungen Geist
eher zur Oberflächlichkeit verleiten und daher auf seine Ent-
wicklung ungünstig einwirken kann. Und so fand denn auch
Jesus in dem kleinen, dem Alten Testament ganz unbekannten
Nazareth alles, was er zum Aufbau seines geistigen Lebens
bedurfte, und was sich in seinen Eeden so lebensvoll wider-
spiegelt, den blauen Himmel und die schöne galiläische Land-
schaft mit ihren blühenden Gärten, ihren Ol- und Feigen-
bäumen. Hier konnte er die Vögel unter dem Himmel und
die Lilien auf dem Felde beobachten, freilich auch die Menschen-
welt mit ihren perversen Neigungen, und frühe schon mag er
seine pessimistischen Anschauungen über „die böse und ehe-
brecherische Art, die Narren und Blinden" und die blinden
Leiter dieser Blinden, die Pharisäer und Schriftgelehrten, „die
Heuchler, die Schlangen, das Otterngezücht", eingesogen haben.
Ob er vor seinem öffentlichen Auftreten im dreifsigsten Jahre
weit über Nazareth hinaus, namentlich auch nach Jerusalem
gekommen ist, mufs zweifelhaft bleiben. Die Apostel datieren
ihre Kenntnis von Jesu und die Predigt über ihn erst von der
Taufe durch Johannes an (vgl. die Anfangsworte des Marcus
und Apostelgesch. 1,21— 22 und 10,37), und aus der Zeit vor-
her haben wir nur die anmutige, nach Art des Lucas jeden-
falls stark ausgeschmückte Erzählung vom zwölfjährigen Jesu
im Tempel, welcher nicht nur das Bedenken entgegensteht,
dafs alle andern Berichterstatter davon nichts wissen, sondern
auch das Verhalten seiner Nazarether Mitbürger und besonders
auch das seiner eigenen Familie dem spätem Auftreten Jesu
gegenüber, welches schon hier zur Sprache kommen mag.
Wie Sokrates der Sohn eines Bildhauers oder richtiger
w^ohl Steinmetzen, Kant der eines Sattlermeisters, so war auch
Jesus der Sohn eines Handwerkers, eines einfachen Zimmer-
manns, und hat nach Marc. 6,3 das Zimmermannshandwerk
auch selbst betrieben. Vom Vater ist, abgesehen von den
Kindheitssagen, weiter nicht mehr die Rede, vielleicht w^eil
er frühzeitig verstorben war, die Mutter Maria wird von den
2. Leben und Wirken Jesu. 199
Synoptikern nur selten erwähnt und scheint sich nicht über
das o-ewöhnhche Niveau der einfachen Büro-erfrauen ihres
Landes und Zeitalters erhoben zu haben. Ihrer Ehe sind nach
Jesu Geburt noch vier Söhne, Jacobus, Joses, Simon und
Judas, sowie einige Töchter entsprossen, und bei dieser zahl-
reichen Familie mochte ein öfteres Reisen zum Feste nach
Jerusalem schwierig und eine Lebensführung in den einer
einfachen Handwerkerfamilie gesteckten Grenzen geboten sein.
Sonach wird die Jugendbildung Jesu, abgesehen von dem Ein-
druck der ihn umgebenden anschaulichen Welt und der grofson
Natur in seinem Innern, wesentlich auf das Studium des Alten
Testaments und den etwa daran anknüpfenden rabbinischen
Schulunterricht beschränkt geblieben sein, und eine gewisse
Enge seines Gesichtskreises läfst sich bei aller Gröfse und
Tiefe seiner Anschauungen nicht verkennen. Die Geschichte
der Welt mit Ausnahme dessen, was er aus dem Alten Testa-
ment schöpfen konnte, scheint ihm fern geblieben zu sein.
Seine so sinnreichen Reden und Gleichnisse von den Reichen
dieser Welt und ihrer Herrlichkeit, von den Königen . und den
sie umgebenden Grofsen beweisen nur, dafs ihm diese Kreise
des Lebens fremd geblieben sind, und während Johannes der
Täufer doch mit dem Hofleben des Herodes Antipas in Zu-
sammenhang gebracht wird, scheint Jesus dessen Hauptstadt
Tiberias bei seinen zahlreichen Wanderungen in Galiläa nie
betreten zu haben. Von einem Interesse Jesu für bildende
Kunst, Poesie und Musik ist nirgendwo die Rede; als seine
Jünger ihn auf die Herrlichkeit des herodianischen Tempels
(oben S. 158) bewundernd aufmerksam machten, hatte er als
Antwort nur düstere Zukunftsahnungen. Schon früh scheint
der Gedanke an seine grofse Mission, den Menschen die Nähe
des Himmelreichs zu verkünden, alle andern Interessen zurück-
gedrängt zu haben, woraus auch das Verhalten gegenüber
seiner Familie sich erklärt, welche ebenso wie die Bürger seiner
Heimatstadt für seine grofse Aufgabe kein Verständnis hatte.
Ein Besuch, w^elchen er während der Periode seiner Wirk-
samlveit in den verschiedenen Orten Galiläas seiner Heimat-
stadt Nazareth machte, endete daher mit einem Mifserfolg,
Marc. 6,1 — 5: „Und er ging aus von dannen und kam in seine
200 ^'^il- Leben und Lehre Jesu.
Vaterstadt; und seine Jünger folgeten ihm nach. Und da der
Sabbat kam, hub er an zu lehren in ihrer Schule. Und viele,
die es höreten, verwunderten sich seiner Lehre und sprachen:
«Woher kommt Dem solches? und was Weisheit ists die ihm
gegeben ist, und solche Taten, die durch seine Hände ge-
schehen? Ist er nicht der Zimmermann, Maria Sohn und der
Bruder Jakobi, und Joses, und Judä, und Simonis? Sind
nicht auch seine Schwestern allhier bei uns?» Und sie ärgerten
sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen : « Ein Prophet gilt
nirgend weniger, denn im Vaterlande und daheim bei den
Seinen.» Und er konnte allda nicht eine einzige Tat tun;
ohne, wenigen Siechen legte er die Hände auf undheilete
sie." — Von einem höchstwahrscheinlich spätem Vorgang,
der sich zu Kapernaum im Hause des Petrus abspielte, be-
richtet Marc. 3,20 — 35: „Und sie kamen nach Hause. Und
da kam abermals das Volk zusammen, also, dafs sie nicht
Kaum hatten zu essen. Und da die Seinigen es gehört, gingen
sie aus, ihn zu ergreifen, denn sie sagten: Er ist von Sinnen
(s^sax'/], was Luther allzu wohlwollend übersetzt: Er wird
von Sinnen kommen) ... Es kommen nun seine Brüder und
seine Mutter und standen draufsen, schickten zu ihm und
liefsen ihn rufen, und das Volk safs um ihn. Und sie sprachen
zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder draufsen fragen
nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist
meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf
die Jünger, die mit ihm im Kreise safsen, und sprach: Siehe,
das ist meine Mutter und meine Brüder. Denn wer Gottes
Willen tut, der ist mein Bruder, und meine Schwester, und
meine Mutter."
Aus diesen spätem Vorgängen dürfen wir schliefsen, dafs
Jesus seine Jugend in Nazareth zubrachte, ohne dafs seine
Mitbürger oder auch seine eigene Familie ein Verständnis
hatten für die grofsen Gedanken, die ihn innerlich bewegten
und an dem Studium der Schriften des Alten Testaments
allmählich zur Reife kamen. Vor allem war es das Buch
Daniel, welches er, dessen historische Beziehung auf Antiochus
Epiphanes verkennend, auf seine eigene, unter der Herrschaft
der Römer und Herodianer schmachtende Zeit bezog, so dafs
2. Lcbcii und Wirken Jesu. 201
er im Ansclilufs an die Weissagungen dieses Buches einen
baldigen Ablauf der vier Weltreiche und das ewige Messia-
nische Reich nebst dem Weltende and der Auferstehung der
Toten erwartete. Und als er hörte, dafs in Judäa am untern
Laufe des Jordan ein Prophet aufgetreten sei, welcher unter
grol'sem Zulauf die Nähe des von Daniel geweissagten Himmel-
reichs verkündete, die Menschen aufforderte, Bufse zu tun?
und sie' als Symbol der Reinigung von ihren Sünden im Jordan
taufte, da liefs es ihn nicht länger in seiner Heimat, und er
machte sich auf nach dem gleichfalls dtem Herodes gehörigen
Peräa, um dort den neuen Propheten kennen zu lernen.
Das Auftreten Johannes des Täufers scheint weder in
näherm Zusammenhang zu stehen mit den Nasiräern, an
welche nur seine Kindheitslegende erinnert, noch auch mit
den Essenern, mit deren Geheimhaltung der Lehren, drei-
jährigem strengen Noviziat und Enthaltung von Fleisch-
nahrung vielmehr sein offenes Predigen zu allen, sofortiges
Vornehmen der Taufe und gelegentliches Essen von Heu-
schrecken in entschiedenem Widerspruch steht. Umsomehr
erinnert sein Gebaren an das der Propheten, namentlich der
alten, noch nicht schriftstellernden, eines Elias und Elisa: wie
sie trägt er einen härenen Mantel und ledernen Gürtel und
scheut sich nicht, mit Gefahr seines Lebens dem A^olke wie
den Fürsten derbe Wahrheiten zu sagen; wie sie liebt er
drastische Bilder von der Wurfschaufel und der Axt, die den
Bäumen an die Wurzel gelegt ist, und auch darin gleicht er
ihnen, dafs er den Gedanken, welcher ihn bewegt, durch eine
äufsere Manipulation, die Taufe, veranschaulicht.
Ob die Taufe der Proselyten schon in vorchristlicher Zeit
von den Juden geübt wurde, ist ja zweifelhaft, doch ist nicht
eben wahrscheinlich, dafs sie diesen Ritus erst von den ver-
hafsten Christen übernommen haben sollten. Wie dem auch sei,
jedenfalls ist das Taufen durch Johannes in ähnlichem Sinne zu
verstehen wie die Proselytentaufe durch die Juden. Wie durch
sie der Proselyt aus dem Heidentum zum Judentum übertrat
und gleichsam einen neuen Menschen anzog, so wird bei
Johannes die Taufe zum Symbol der Sinnesänderung, welche
er beim Herannahen des Himmelreiches durch seine Predigt
202 ^11- Leben und Lehre Jesu.
fordert: ij.eTavcitiTs, YH^y-^ Y^p vj ßacusta t«v oupavöv, „tut
Bufse (wörtlich, ändert euren Sinn), denn das Himmelreich
ist nahe herbeigekommen". Der paradoxe Begriff eines himm-
lischen Messiasreiches weist unverkennbar zurück auf das
Buch Daniel als seinen Ursprung, Da das Messiasreich und
mit ihm Auferstehung, Weltgericht und Weltende auch nach
den Zeiten des Antiochus Epiphanes immer noch auf sich
w^arten liefs, so lag es nahe, unter dem vierten Tier unhistorisch
das römische Weltreich zu verstehen, und mancher unter der
Bedrückung durch die Römer seufzende Jude wird Trost ge-
funden haben in den Worten Daniel 7,13: „Ich sähe in diesem
Gesicht- des nachts: und siehe, es kam Einer in des Himmels
Wolken, wie eines Menschen Sohn, bis zu dem Alten; und
ward vor denselbigen gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre
und Reich, dafs ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen
sollten. Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergehet, und sein
Königreich hat kein Ende." Das hier verheifsene Himmel-
reich erscheint doch zugleich als ein ewiges Reich auf Erden,
und man kann zweifelhaft sein, in welcher von beiden Formen
Johannes der Täufer sich das Himmelreich vorstellte, dessen
Herannahen er verkündigte, und als dessen Vorläufer, als den
Jesaia 40,3 verkündigten Prediger in der Wüste er sich selbst
betrachtet haben mag.
Zu diesem Prediger in der Wüste kam also auch Jesus
und liefs sich von ihm taufen, ein Vorgang, den die Legende
in ihrer Weise ausgeschmückt hat. über den Verkehr Jesu
mit Johannes wdssen wir nichts; nach dem glaubwürdigen Zeug-
nisse bei Matth. 4,12, Marc. 1,14 blieb er bei Johannes bis zu
dessen Verhaftung, also möglicherweise längere Zeit; die
Austerität in Fasten und Gebetsübungen der Johannesjünger
hinderte ihn, sich diesen anzuschliefsen, er kehrte nach Galiläa
zurück, um in freierm -and tieferm Geiste das Werk des ge-
fangenen Propheten fortzusetzen; an ihn anknüpfend, aber
ohne auf die äufsere Zeremonie der Taufe Wert zu legen, fing
auch er an zu predigen: „Tut Bufse, denn das Himmel-
reich ist nahe herbeigekommen."
Über das Schicksal Johannes (Tes Täufers gibt es zwei
Berichte, welche schwier in Einklang zu bringen sind. Nach
2. Leben und Wirken Jesu. 20;>
Josephus hätte Herodes ihn aus Furcht, dal's er das Volk auf-
A\ iegehi konnte, in der Festung Machärüs (östHch vom Toten
Meer) gefangen setzen und hinricliten lassen. Sollte dieser
Bericht des Josephus für wahr gelten müssen, so würde die
"Glaubwürdigkeit der evangelischen Erzählung über den Vorfall
Stade erschüttert werden. Zwar könnten bei Gefangennahme
und Hinrichtung beide Motive, die Furcht vor einem Volks-
■ aufstände und der Hafs der Herodias, zusammengewirkt haben;
aber als Ort, wo diese Vorgänge sich abspielten, müssen wir
nach den Evangelien, wenn sie ihn auch nicht nennen, jeden-
falls Galiläa, und so aller Wahrscheinlichkeit nach die Haupt-
stadt Tiberias denken, nicht aber das ferne Machärüs; denn
dafs Herodes dort in Peräa seinen Geburtstag begangen hätte,
während Herodias und ihre Tochter in der Nähe und, falls
Marc. 6,21 nicht eine spätere Einschiebung ist, „die Obersten
und Hauptleute und Vornehmsten in Galiläa" mit bei Tische
waren, ist sehr unwahrscheinlich, nicht zu reden davon, dafs
nach Marc. 6,20 Herodes gern den gefangenen Johannes ge-
hört und ihm in vielen Sachen gehorcht habe, und dafs ein
Verkehr des Johannes im Gefängnisse mit seinen Jüngern und
'durch sie mit Jesu in der Weise, wie es die Evangelien be-
richten, nicht denkbar gewesen wäre, wenn Johannes in dem
fernen, auch noch durch das Gebiet der Dekapolis getrennten
Machärüs gefangen gehalten worden wäre.
Schwierigkeit macht auch die Rede Jesu über Johannes
Matth. 11,7 — 13 (= Luc. 7,24 — 28), in welcher er denselben
rühmt, dafs er nicht charakterlos wie ein vom Wind bewegtes
Rohr, nicht weichlich wie die Vornehmen in der Könige
Häusern, sondern der gröfste aller Propheten sei, eine Rede,
welche Jesus nach dem Zusammenhang während der Gefangen-
schaft Johannis gehalten haben soll, und deren Form doch
das Wirken des Johannes in Freiheit und den fortgesetzten
Zulauf des Volkes zu ihm vorauszusetzen scheint.
Wenn endlich Marc. 6,14 (= Matth. 14,2) behauptet wird,
Herodes habe Jesum für den von den Toten auferstandenen
Johannes gehalten, so ist eine so absurde Annahme bei einem
römisch gebildeten Herodianer undenkbar. Er mag gesagt
haben, da sei wieder ein solcher wie Johannes, und dieser
204 VIT. Leben iiiicl Lehre Jesu.
Ausspruch hat im Volksmunde die Form angenommen, in der
er berichtet wird.
Überaus lebendig und anschaulich ist die Schilderung,
welche die Evangelien von Jesu geben, wie er nach Gefangen-
nahme des Johannes vom Jordan nach Galiläa zurückkehrt,
Kapernaum zu seinem Lieblingsaufenthalte erwählt und von
dort aus die Städte und Märkte Galiläas und jenseits von
dessen Grenzen durchzieht, um die Nähe des Himmelreiches
zu verkünden, bald in den Synagogen und Häusern, bald am
Meere von einem Kahn aus oder von einer Anhöhe lehrend,
immer umgeben von einer Volksmenge, die sich an ihn heran-
drängt, bis ihn plötzlich das bei edeln Naturen so starke Be-
dürfnis nach der Einsamkeit wegführt, seine Jünger ihn suchen
und ihn endlich wiederfinden in stiller Meditation über das
Ewige, welche bei ihm, entsprechend der semitischen Grund-
anschauung, die Form des Gebets zu seinem himmlischen
Vater anzunehmen pflegte.
Da Jesus offenbar kein eigenes Vermögen besafs, auch
nicht, wie der Aposel Paulus, ein Gewerbe betrieb, so fragt
es sich, auf welche Art er bei seinen Wanderungen durch die
Städte und Märkte von Galiläa und den umliegenden Land-
schaften den Lebensunterhalt für sich, seine Jünger und das
gelegentlich sich anschliefsende Gefolge bestritten haben mag.
Zur Beantwortung dieser Frage haben wir einen Anhalt an
den Ermahnungen, welche Jesus seinen Jüngern bei ihrer Aus-
sendung mit auf den Weg gab. Matth. 10,8 — 14 (vgl. Marc.
6,8 — 11, Luc. 9,3—5. 10,4 — 11): „Umsonst habt ihrs empfangen,
umsonst gebet es auch. Ihr sollt nicht Gold, noch Silber,
noch Erz in euren Gürteln haben; auch keine Taschen zur
Wegfahrt, auch nicht zween Röcke, noch [zwei Paar] Schuhe^
auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise
wert. Wo ihr aber in eine Stadt oder Markt gehet, da er-
kundiget euch, ob jemand drinnen sei, der es wert ist; und
bei demselben bleibet, bis ihr von dannen ziehet. . . . Und wo
euch jemand nicht annehmen wird, noch eure Rede hören, so
gehet heraus aus demselbigen Hause oder Stadt, und schüttelt
den Staub von euren Füfsen." Wenn Jesus Vers 25 hinzu-
fügt: ,,Es ist dem Jünger genug, dafs er sei wie sein Meister",
2. Leben und Wirken Jesu. 205
SO liegt darin, dafs die den Jüngern gegebenen Vorschriften
dieselben waren, welche auch der Meister belujgte. Zum
Mittelpunkte seiner Wirksamkeit hatte er Kapernaum erwählt,
eine blühende Stadt mit regem See- und. Landverkehr, an der
Handelsstrafse von Damaskus nach dem Mittelmeer gelegen.
Hier pflegte er- wohl im Hause des Simon Petrus, dessen
Schwiegermutter er vom Fieber befreit hatte, zu wohnen, hier
erfolgte auch wohl die Berufung des Zollbeamten Matthäus
oder Levi und. das nachfolgende Gastmahl in dessen Hause,
bei welchem Jesus mitten unter den Zöllnern und. Sündern
safs, zum grofsen Ärgernis der Gesetzesfrommen, denen er
mit beifsender Ironie die Antwort gab: „Die Gesunden be-
dürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken." Im Gegen-
satze zu der asketischen Strenge Johannis des Täufers, zu dem
er sich ähnlich verhielt wie die Stoiker zu den Kynikern, war
Jesus seiner festen Wurzelung im Ewigen, semitisch aus-
gedrückt, seiner Einheit mit Gott, so sicher, dafs er ohne etwas
zu verlieren, sich dem heitern Genüsse der Gegenwart hin-
geben konnte und gerade dadurch ein grofses Vorbild für alle
künftigen Zeiten aufgestellt hat. Dem Befremden der Johannes-
jünger begegnet er mit dem Scherzworte: „Wie können die
Hochzeitleute Leid tragen, so lange der Bräutigam bei ihnen
ist?" und deutet in den folgenden Worten in bildlicher Weise
an, dafs die jüdischen Satzungen ein verbrauchtes, nicht mehr
zu flickendes Kleid sind, ein alter Schlauch, welcher den neuen
Wein nicht mehr fassen kann (Matth. 9,15 — 17), Schärfer tritt
er den Anhängern der Pharisäer entgegen, vergleicht sie
(Matth. 11,16 — 19) launischen Kindern, welche verlangen, dafs
man tanzen soll wie sie pfeifen, und fährt fort : „Johannes ist
gekommen, afs nicht und trank nicht: so sagen sie, er hat
den Teufel. Des Menschen Sohn ist gekommen, isset und
trinket, so sagen sie: Siehe wie ist der Mensch ein Fresser,
und ein Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle!"
und „die (pharisäische) Weisheit zeigt an dem Treiben ihrer
eigenen Kinder, was sie wert ist" (xal eSixai.to'^T] y] G09ia 0.7:0 töv
Tsxvov. a.\)xf^c). Ähnlich wie Sokrates und aus demselben Grunde,
nur von einem ungleich höhern Standpunkte aus, war auch
Jesus den harmlosen und mafsvollen Freuden des geselligen.
206 VII. Leben und Lehre Jesu.
durch Reden gewürzten Mahles nicht feind; sogar das Tlimmel-
reich stellt er sich vor unter dem Bilde eines festlichen Ge-
lages (Matth. 8,11), und mit einer gewissen Wehmut nimmt
er beim letzten Abendmahle Abschied vom Gewächse des
Weinstocks bis an den Tag, da er es neu trinken werde mit
seinen Jüngern in seines Vaters Haus (Matth. 26,29). — Aber
bei den weiten Wanderungen, welche J^sus von Ort zu Ort
unternahm, waren, ungeachtet der im Orient üblichen Gast-
freundschaft, doch nicht immer Häuser vorhanden, um Jesum
und sein grofses Gefolge zu bewirten, und wenn auch, wie
Luc. 8,3 berichtet, Frauen befreundeter Häuser in seinem Ge-
folge „Handreichung taten von ihrer Habe", so mochte es doch
vorkommen, dafs Jesus mit seinen Jüngern auf dem Felde
Ähren ausraufte, um den Hunger zu stillen, was nach 5. Mos
23,25 gestattet war, aber, weil es an einem Sabbat geschah,
von den Pharisäern vermöge einer rigoristischen Auslegung
von 2. Mos. 20,10 für Sabbatschändung erklärt wurde und
dadurch Anlafs gab zu dem geistvollen Ausspruche Jesu: „Der
Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der
Mensch um des Sabbats willen" (Marc. 2,27). Wie sehr es
an Geld gebrach, lehrt die Erzählung Matth. 17,24 — 27, wo
Jesus und Petrus nicht imstande sind, die jedem Juden ob-
liegende jährliche Tempelsteuer von zwei Drachmen auf-
zubringen. Jesus bemerkt zu ihm, dafs die Kinder von dieser
ihrem himmlischen Vater zu zahlenden Steuer eigentlich be-
freit bleiben müfsten, weiset ihn aber dann an, als Fischer
durch Fang und Verkauf eines gröfsern Fisches die kleine
Summe zu beschaffen, wobei er scherzend gesagt haben mag,
der Fisch werde den Stater, das Silberstück von vier Drachmen
im Munde haben (wie wir sagen: Morgenstund hat Gold im
Mund), was dann von der 'Volkslegende buchstäblich ver-
standen wurde. Dafs es bei weitern Reisen in der Umgegend
zuweilen auch sogar für Jesum an einem Unterkommen fehlte,
scheinen die Worte zu besagen: „Die Füchse haben Gruben
und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des
Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege" (Matth.
8,20). Doch soll zum Schlufs nicht unerwähnt bleiben, was
nach Luc. 22,35 in der letzten Stunde des Zusammenseins der
2. Leben und Wirken Jesu. 2(.)7
Herr zu seinen Jüngern sprach: „So oft ich euch gesandt
habe ohne Beutel, ohne Tasche, und ohne Schuhe, habt ihr
auch je Mangel gehabt? Sie sprachen: Nie keinen!" —
Dafs Jesus „gewaltig predigte und nicht wie die Schrift-
gelehrten", würden wir auch dann glauben, wenn es nicht
ausdrücklich überliefert wäre. Die meisten der Sprüche und
Reden, welche wir der Sammlung eines Augenzeugen, des
Matthäus (oben S. 191), verdanken, erweisen sich als echt
schon durch den Umstand, dafs kein anderer in der Zeit und
Umgebung Jesu sich denken läfst, von dem so geistvolle, so
frei über die Vorurteile des Zeitalters sich erhebende Ge-
danken hätten ausgehen können. Und auch die Worte, in
welche gekleidet diese Gedanken erscheinen, zeugen für die
Treue der Überlieferung durch ihr Gepräge, durch einen eigen-
tümlichen Glanz, welcher ihnen anhaftet und auch im Laufe
aller kommenden Jahrhunderte nicht verblichen ist. Mitunter,
wenn auch nicht eben häufig, begegnet uns ein sinnreiches
Scherzwort, wie er denn z. B. den Petrus und Andreas von
ihrem Fischergewerbe abruft, indem er verspricht, sie zu
Menschenfischern zu machen. Oft haben diese Scherzworte
einen sarkastischen Beigeschmack, wie das schon oben er-
wähnte: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern
die' Kranken", oder die Antwort, die dem Jünger zuteil wurde,
welcher, ehe er sich an Jesus anschlofs, noch seinen verstorbenen
Vater begraben wollte : „Folge du mir und lafs die Toten ihre
Toten begraben" (Matth. 8,22). Viele dieser Aussprüche er-
innern in ihrer scharfen Pointierung an die Art des Heraklit,
während der überströmende Eeichtum an Bildern in Jesu
Sprache nur von einem Shakespeare überboten wird.
Wundervoll ist auch die Geistesgegenwart, mit welcher
er die verfänglichen Fragen der Pharisäer zu beantworten
weifs. So, wenn sie ihm eine Frage vorlegen, deren Beant-
wortung entweder die Römer oder das Volk gegen ihn auf-
bringen mufste, ob es recht sei, dem Kaiser den Zins zu
geben, i^nd er antwortet: „So gebt dem Kaiser, was des
Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (Matth. 22,21). Ganz
ähnlich liegt der Fall bei einem versprengten Stück synop-
tischer Überlieferung, welches sich bei Joh. 8,3 — 11 findet;
208 VII- Leben und Lehre Jesu.
hier bringen -die Pharisäer Jesiim in Konflikt zwischen dem
mosaischen Gesetz und den Forderungen der MenschHchkeit,
indem sie ihm eine Ehebrecherin vorführen, welche nach
3. Mos. 20,10 getötet werden mufste. Jesus bückt sich und
schreibt in den. Sand, nichts anderes, wie wir glauben und
schon in unserer Schrift über Jakob Böhme (2. Aufl., S. 3)
gesagt haben, als die Worte des Gesetzes: „Sie soll des
Todes sterben", wodurch er in drastischer Weise dem Gesetz
die gebührende Anerkennung zollte und zugleich dasselbe als
toten Buchstaben behandelte, in Gedanken das paulinische
Wort antizipierend: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist
macht lebendig" (2. Kor. 3,6).
Die Neigung Jesu für bildliche Au'sdrucksweise findet
ihren Höhepunkt in seiner Gewohnheit, abstrakte Gedanken
in Parabeln zu kleiden, von denen das Gleichnis vom Säe-
mann, von den törichten und klugen Jungfrauen, vielleicht
auch, wiewohl sie nur bei Lucas stehen, vom barmherzigen
Samariter und vom verlornen Sohne herrliche Beispiele geben.
Viele derselben sind durch die Überlieferung entstellt und ver-
dorben worden, wie namentlich das Gleichnis Matth. 22,2 — 14
(vgl. Luc. 14,16 — 24), nach w^elchem ein König seine Grofsen
zur Hochzeit ladet, und als sie sich entschuldigen, seine Gäste
auf der Landstraf se auflesen läfst, dann aber einen bemerkt,
der kein hochzeitliches Kleid anhat und denselben zur Ver-
dammnis überliefert. Hier haben sich off'enbar zwei Parabeln
wie zwei Kristalle störend durchdrungen, deren eine die Armen
und Geringen ins Himmelreich lud, während die andere die
Unwürdigen von demselben ausschlofs. Der letztere Zug fehlt
bei Lucas, der somit, abgesehen von den bei ihm üblichen
Ausschmückungen, die Überlieferung reiner bewahrt zu haben
scheint.
Auf die Frage, warum Jesus in Parabeln lehre, erhalten
wir aus Jesu eigenem Munde nach Marc. 4,11 — 12 (vgl. Matth.
13,13—14) die seltsame Antwort: „Euch ist es gegeben, das
Geheimnis des Reichs Gottes zu wissen; denen aber draufsen
widerfährt es alles durch Gleichnisse. Auf dafs sie es mit
sehenden Augen sehen, und doch nicht erkennen, und mit
hörenden Ohren hören, und doch nicht verstehen; auf dafs
2. Leben und Wirken Jesu. 209
sie sich nicht dermaleinst bekehren, und ihre Sünden ihnen
vergeben werden." Wenn diese augenscheinhch an Jesaia
(3,8 — 10 anknüpfenden "Worte wirkhch von Jesu gesproch'en
worden sein sollten, so würden wir schon bei ihm die Keime
der Prädestinationslehre vor uns haben, welche allerdings, wie
später zu zeigen sein wird, da wo der Determinismus sich mit
dem Theismus verbindet, die notwendige Konsequenz ist, nur
dafs es fraglich bleiben mufs, ob Jesus diese Konsequenz
schon gezogen hat.
Bei Beurteilung Jesu soll man nie aufser Augen lassen,
dafs wir ihn nur als einen jungen Mann kennen, welcher nach
dem, trotz allen neuern Hypothesen immer noch am wenigsten
unwahrscheinlichen Berichte des Lucas erst dreifsig Jahre alt
war, als er seine kurze öffentliche Laufbahn antrat. So er-
scheint er als ein junger, feuriger, noch nicht völlig mit sich
fertiger Geist, wie dies namentlich bei seiner heftigen Polemik
gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer Matth. 23 hervor-
tritt, welche, einzelne Beobachtungen verallgemeinernd, gegen
alle psychologische Wahrscheinhchkeit eine ganze Menschen-
klasse, unter der sich doch auch Männer wie Gamaliel und
Paulus befanden, in leidenschaftlicher Rede verurteilt. Die
Jugendlichkeit Jesu macht sich besonders bemerkbar in einer
gewissen Exzentrizität seines ganzen, eben dadurch so liebens-
würdigen und die Herzen gewinnenden Wesens. Alle seine
Reden zeigen eine Vorliebe für groteske, das Mafs über-
schreitende Ausdrücke; so erklärt er es Matth. 19,24 für leichter,
dafs ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dafs ein Reicher
ins Reich Gottes komme. Man hat diesen Vergleich zu stark
gefunden und der Sache abzuhelfen gesucht, indem man ent-
weder das Kamel zu einem Tau verkleinerte oder das Nadelöhr
zu einer Zeltöffnung vergröfserte. Aber eine ganze Reihe ähn-
licher Ausdrücke beweisen die Vorliebe des jugendlichen Feuer-
geistes für derartige übertriebene Wendungen. Er wirft den
Pharisäern vor, dafs sie Mücken seihen und Kamele ver-
schlucken (Matth, 23,24); er ermahnt, das Licht nicht unter
den Scheffel zu stellen (Matth. 5,15), die Perlen nicht vor die
Säue zu werfen (Matth. 7,6), beim Almosengeben die linke
Hand nicht wissen zu lassen, was die rechte tut (Matth. 6,3);
Peüssen, Geschichte der Philosophie. II. ii. 14
210 ^11- Leben und Lehre Jesu.
tadelt es, dafs man den Splitter im Auge des Nächsten und
nicht den Balken im eigenen Auge sehe (Matth. 7,3) ; erklärt :
„Wer aber ärgert dieser geringsten Einen, die an mich glauben,
dem wäre besser, dafs ein Mühlstein an seinen Hals gehänget,
und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist" (Matth.
18,6); erwidert bei seinem Einzüge in Jerusalem den an dem
Jubel des Volkes Anstofs nehmenden Pharisäern: „Wo diese
werden schweigen, so werden die Steine schreien" (Luc. 19,40);
spricht auf dem Ölberg zu seinen Jüngern: „So ihr Glauben
habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein solches mit
dem Feigenbaum tun; sondern so werdet ihr sagen zu dem
Berge: Hebe dich auf und wirf dich ins Meer! so wird es ge-
schehen" (Matth. 21,21); und sagt bei der Gefangennahme zu
Petrus : „Oder meinest du, dafs ich nicht könnte meinen Vater
bitten, dafs er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen
Engel?" (Matth. 26,53).
Exorbitant wie diese Aussprüche sind auch die ethischen
Forderungen Jesu, wenn er verlangt, dem, der uns auf den
rechten Backen schlage, auch den linken darzubieten (Matth.
5,39), dem, der den Rock nehme, auch den Mantel (das wert-
vollere Stück) zu geben (Matth. 5,40, anders Luc. 6,29), nicht
für den andern Morgen zu sorgen (Matth. 6,34), wenn er zu
dem reichen Jüngling sagt: „Willst du vollkommen sein, so
gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen"
(Matth. 19,21), ja, noch weit über alles dieses hinaus geht
(Matth. 19,12; vgl. Matth. 5,27—30).
Derartige Vorschriften scheinen nicht ganz ernst gemeint
zu sein, sondern, durch Aufstellung eines unerreichbaren und
nicht einmal wünschenswerten Ideals nur die Richtung an-
deuten zu wollen, in welcher unser Handeln sich zu bewegen
hat, um des Himmelreiches würdig zu werden.
Als die beiden Grundzüge des Charakters Jesu lassen sich
bezeichnen einerseits ein leidenschaftlicher und rückhaltlos
sich äufsernder Zorn über alles, was verwerflich war oder
ihm zu sein schien, und andererseits ein grenzenloses Mitgefühl
mit allen Leidenden, Elenden und Unterdrückten: „Kommet
tier zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will
euch erquicken." Ein besonders rührender und sympathischer
2. Leben und Wirken Jesu. 211
Zug ist seine Liebe zu den Kindern: „Lasset die Kindlein zu
mir kommen, und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das
Reich Gottes" (Marc. 10,14). Mufste er sich nicht sagen, dafs
die Pharisäer und Schriftgelehrten, welche er bekämpfte, auch
einst solche Kinder gewesen seien, und dafs die Kindlein,
welche er herzte und segnete, auch dereinst Männer werden
würden wie die, über welche er so oft die Schale seines Zornes
ausgegossen hat? Oder glaubte er Weltende und Himmel-
reich so nahe, dafs es den Kindern, die er in seinen Armen
hielt, erspart bleiben würde, in den Kampf des Lebens und
seine Versuchungen einzutreten, dafs die Vollendung des
Himmelreichs hereinbrechen werde, ehe Begierde, Sünde und
Laster den unschuldigen Kindergesichtern ihre Züge ein-
graben würden?
Jenes Mitgefühl mit allen Leidenden und der Wille Jesu,
ihnen nach Kräften zu helfen, ist die eigentliche Wurzel ge-
wesen, aus der die zahlreichen Wundergeschichten erwachsen
sind, welche die Kunde von Jesu Wirken so sehr überwuchert
und verdunkelt haben. Es wird nicht zu umgehen sein, uns
über diesen Punkt mit rückhaltloser Deutlichkeit auszusprechen.
Unter einem Wunder verstehen wir nicht etwa ein Er-
eignis, dessen Möglichkeit wir zurzeit einzusehen noch nicht
imstande sind, sondern ein Wunder im vollen und wahren
Sinne des Wortes ist eine Begebenheit, welche nach der uns
bekannten Naturordnung unmöglich und doch wirklich ist.
Es gibt ein solches Wunder, und es begibt sich täglich und
stündlich vor unsern Augen. Es ist die unleugbare Tatsache,
dafs wir, obgleich die Naturordnung unsere Fähigkeit, Lust
und Schmerz zu empfinden, auf unser eigenes Selbst und was
zu ihm gehört, beschränkt, imstande sind, diese durch die
räumliche Trennung der Individuen gesetzte Naturordnung zu
durchbrechen, und das Unmögliche wirklich zu machen, indem
wir das Leiden anderer fühlen, als wäre es unser eigenes,
und Opfer an unserm persönlichen Wohlsein bringen, um die
Not unserer Mitgeschöpfe zu lindern. Diese wunderbare Tat-
sache ist aus den Gesetzen der empirischen Realität nicht zu
erklären, weist über dieselbe hinaus und enthält ein ganzes
und sicheres Evangelium dafür, dafs diese aus dem Egoismus
U*
212 VII- Leben und Lehre Jesu.
entsprungene Weltordnung nicht das letzte Wort der Natur,
dafs unsere wahre Bestimmung nicht diesseits, sondern jen-
seits des Grabes zu suchen ist. An diesem einen, durch die
sicherste Erfahrung immer wieder aufs neue bezeugten Wunder
müssen und können wir uns genügen lassen, wenn wir sehen,
wie zwar die mythische Vorgeschichte aller Völker, und nicht
sie allein, voll ist von Wundererzählungen, wie aber keine
einzige dieser Erzählungen, mögen sie innerhalb oder aufser-
halb des biblischen Gebietes liegen, auch nur entfernt der-
artig bezeugt und beglaubigt ist, dafs wir in ihr eine Durch-
brechung der uns bekannten, durch den Verlauf unseres ganzen
Lebens bestätigten Naturordnung und nicht vielmehr eine aus
der Neigung der Menschen, natürliche Vorgänge zu vergröfsern
und ins Wunderbare zu steigern, entsprungene Erdichtung an-
erkennen müfsten.
Von dem Bericht über die Auferstehung Jesu werden wir
weiter unten zu handeln haben. Was die Wundererzählungen
aus seinem Leben betrifft, so hindert uns nichts, anzuerkennen,
dafs diesem aufserordentlichen Menschen auch aufserordent-
liche, vielleicht uns noch unbekannte Kräfte gegeben waren,
dafs er durch den Eindruck seiner mächtigen Persönlichkeit
in neurasthenischen, der damaligen Zeit unerklärlichen und
daher für ein Besessensein von Teufeln gehaltenen Zuständen,
vielleicht auch in andern Krankheiten, durch physische oder
rein geistige Mittel eine vorübergehende, möglicherweise auch
eine dauernde Heilung zu erzielen vermochte. Solche Erfolge,
von Mund zu Mund weitergetragen, führten dann schlief slich
dazu, bei dem wunderbaren Manne nichts für unmöglich zu
halten, und auf Anlässe liin, die wir nicht mehr kennen, eine
Erweckung wirklich Verstorbener, eine Speisung von fünf-
tausend Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen, ein
Wandeln auf dem Meere und dergleichen von ihm zu be-
richten.
Über eine Fortentwicklung Jesu, soweit von einer solchen
während der kurzen Zeit seines öffentlichen Wirkens die Rede
sein kann, sind wir auf Vermutungen angewiesen, da die
Synoptiker in dieser Hinsicht vom Synoptiken, dieses aber
wiederum vom Urmarkus abhängen, welcher nach dem Bericht
2. Leben und Wirken Jesu. 213
des Papias ohne chronologische Ordnung war (oben S. 191).
AVir dürfen aber annehmen, dafs Jesus im allgemeinen vom
Partikularismus zum Universalismus und von der Ankündigung
des nahen Messiasreiches zur Verwirklichung desselben als
der Messias fortgeschritten ist.
Dafs Jesus zu Anfang seiner Lehrtätigkeit partikularistisch
dachte und seine Mission auf das Judenvolk beschränkte,
spricht er mit Bestimmtheit aus, Matth. 15,24 : „Ich bin nicht
gesandt, denn nur zu den verlornen Schafen von dem Hause
Israel." Beweisend hierfür ist auch, dafs er zwölf Jünger er-
wählte, offenbar entsprechend den wenigstens in der Theorie
noch fortbestehenden zwölf Stämmen Israels, sei es, dafs Levi
mitgezählt oder Joseph als Ephraim und Manasse doppelt ge-
zählt wurde ; ausdrücklich befiehlt er seinen Jüngern bei deren
Aussendung, Matth. 10,5 : „Gehet nicht auf der Heiden Strafse,
und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin
zu den verlornen Schafen aus dem Hause Israel." Aber die
Erfahrungen, welche er an seinen eigenen Landsleuten und
im Gegensatze dazu an NichtJuden, wie dem kananäischen
Weibe (Matth. 15) und dem Hauptmann von Kapernaum
(Matth. 8) machte, erweiterten seinen Blick, so dafs er bei
Gelegenheit des letztern Vorganges erklärte, Matth. 8,11 — 12:
„Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend, und
mit Abraham und Isaak im Himmelreich zu Tische sitzen,
aber die Kinder des Eeichs werden ausgestofsen in die äufserste
Finsternis hinaus, da wird sein Heulen und Zähnklappen."
Diese universalistische Auffassung seiner Aufgabe mufste vor-
hergehen oder gleichzeitig erfolgen, wenn Jesus in sich den von
Daniel 7,13 — 14 verkündigten Weltheiland erblicken sollte,
„welchem alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten".
Was Jesum veranlafste zu dem grofsen Schritt, sich nicht
mehr als den Verkündiger des Messiasreiches, sondern als den
erwarteten Messias selbst zu betrachten, können wir nur ver-
mutungsweise ermitteln. Ursprünglich war seine Predigt die-
selbe wie die Johannes des Täufers: „Tut Bufse, denn das
Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Matth. 4,17), und
eben diese Predigt trug er auch seinen Jüngern bei ihrer
Aussendung auf (Matth. 10,7). Dafs das von messianischen
214 Vn. Leben und Lehre Jesu.
Hoffnungen erfüllte Volk geneigt war, in ihm den Messias zu
sehen, dafs Besessene und andere Kranke ihn dafür erklärten,
konnte wenig Eindruck auf ihn machen; er gebot ihnen zu
schweigen. Eine stärkere Anregung empfing er schon, als
der von ihm so hochgeschätzte Johannes aus dem Gefängnisse
ihn fragen liefs, Matth. 11,3: „Bist du, der da kommen soll,
oder sollen wir eines andern warten?" Die Antwort, welche
Jesus erteilt, und welche seine Messianität voraussetzt, mufs
wohl auf späterer Redaktion beruhen. Denn wenn nicht alles
täuscht, liegt die entscheidende Wendung für das Bewufst-
sein Jesu erst in dem bekannten Bekenntnisse des Petrus,
Matth. 16,13 — 17: „Da kam Jesus in die Gegend der Stadt
Cäsarea Philippi, und fragte seine Jünger, und sprach: Wer
sagen die Leute, dafs des Menschen Sohn sei? Sie sprachen:
Etliche sagen, du seiest Johannes der Täufer; die andern, du
seiest Elias; etliche, du seiest Jeremias, oder der Propheten
einer. Er sprach zu ihnen: Wer sägt denn ihr, dafs ich sei?
Da antwortete Simon Petrus, und sprach: Du bist Christus,
des lebendigen Gottes Sohn. Und Jesus antwortete und sprach
zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch
und Blut hat dir das nicht geoffenbaret, sondern
mein Vater im Himmel." Diese Worte beweisen, dafs
Jesus in der spontanen Aufserung des Petrus, er sei Christus,
d. h. der Messias, nicht eine individuelle Anschauung des
Petrus, sondern eine Eingebung von oben erkannte, welche
als solche vollkommen ausreichte, um in ihm jeden Zweifel
an seinem Berufe zum Messias und Sohn Gottes zu beseitigen.
3. Jesu Bewufstsein von Gott und von der Welt.
Zunächst kann es keinem Zweifel unterliegen, dafs Jesus
sich selbst für den Messias und den Sohn Gottes, nicht in
dem Sinne, in welchem alle Menschen Kinder Gottes heifsen,
sondern im eminenten und ausschliefslichen Sinne des Wortes
gehalten und erklärt hat. Wer hieran noch zweifeln und die
eben mitgeteilte Erzählung vom Bekenntnis des Petrus, wie
so vieles in den Evangelien, für eine spätere Legende halten
wollte, der wäre zu verweisen auf die Erklärung, welche Jesus
3. Jesu Bewufstsein von Gott und von der Welt. 215
selbst vor dem Hohen Rate abgegeben hat. Mag auch noch
so viel auf späterer Erfindung beruhen, die Vorgänge bei einem
gerichtlichen Verhör, von dem die Entscheidung über Leben
und Tod des Angeschuldigten abhing, mufsten auf die zahl-
reichen Zeugen dieses Verhörs einen tiefen Eindruck machen
und, wenn irgend etwas, treu in der Erinnerung erhalten
werden. Matth. 26,63—65 (vgl. Marc. 14,61— 64; Luc.22,68— 71)
heifst es: „Und der Hohepriester antwortete, und sprach zu
ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dafs du
uns sagest, ob du seiest Christus, der Sohn Gottes. Jesus
sprach zu ihm: Du sagest es (d. h. Ich bin's, wie bei Marcus
steht). Doch sage ich euch: Von nun an wird es geschehen,
dafs ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten
der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels. Da
zerrifs der Hohepriester seine Kleider, und sprach: Er hat
Gott gelästert; was bedürfen wir weiter Zeugnis? Siehe, jetzt
habt ihr seine Gotteslästerung gehört." Hier erklärt sich
Jesus mit ausdrücklicher Beziehung auf Daniel 7,13 — 14 un-
umwunden für den Messias und Sohn Gottes. Eine solche
Erklärung mag vielen anstöfsig erscheinen, aber wenn man
sich klar macht, was unter Gott und einem Sohne Gottes
vernünftigerweise verstanden werden mufs, so wird man finden,
dafs Jesus mit seiner Erklärung vollkommen im Rechte war.
Wir wissen es, und alle tiefern Geister der Menschheit
haben es erkannt und ausgesprochen, dafs die wahre und
ewige Realität, dafs der Urgrund des Seins und das höchste
Ziel unseres Strebens nicht in dieser Erscheinungswelt, son-
dern in dem zu suchen ist, was uns erst zugänglich wird,
sofern und in dem Mafse wie wir diese ganze in Raum und
Zeit ausgebreitete Welt von uns abgeschüttelt und über-
wunden haben. Wir haben aber nach dem ganzen Eindruck
der Überheferung Jesuni zu denken als einen Menschen, welcher
ohne nennenswerte Kämpfe (denn die Versuchungsfabeln be-
weisen gar nichts) infolge einer überaus glücklichen Natur-
anlage über diese Welt hinausging und zum Bewufstsein der
festen Wurzelung in jenem ewigen Urgründe und der völligen
Einheit mit ihm gelangt ist. Nun erschien ihm jenes ewige,
über die Erscheinungswelt hinausliegende Reich, entsprechend
216 VII. Leben und Lehre Jesu.
der semitischen Anschauung, die wir oben (S. 114 — 116)
charakterisierten und als relativ berechtigt anerkannten, als
Jahve, als persönlicher Gott, und indem Jesus in der Natur
nach einem Bilde suchte, um die Gottesgemeinschaft, welche
ihn beseelte, zum fafslichen Ausdruck zu bringen, konnte er
kein glücklicheres Bild finden, als das Verhältnis des Sohnes
zum Vater, bezeichnete Gott als seinen Vater und sich selbst
als den Sohn Gottes. Das vierte Evangelium, welches als
historische Quelle nicht verwendbar ist, aber oft mit tiefer
poetischer Wahrheit die historischen Vorgänge interpretiert,
hat für dieses Bewufstsein Jesu von seinem Verhältnis zu
Gott das kurze und treffende AVort: „Ich und der Vater
sind eins" (Job. 10,30).
Aus diesem Verhältnis zu Gott ergibt sich von selbst
das Verhältnis Jesu zur Welt, und- auch dieses wird durch
ein grofses Wort des vierten Evangeliums, welches in der
Kürze alles befafst, gleichsam blitzartig erleuchtet, wenn Jesus
Job. 16,33 sagt: „Ich habe die Welt überwunden." Diese
Weltüberwindung zeigt sich in allem, was von Jesu glaubhaft
überliefert ist, und läfst sich nach drei Kichtungen hin ver-
folgen, sofern er erstlich die Welt und ihre Ordnung verachtete,
zweitens dieser Ordnung fremd blieb, weil er es nicht für der
Mühe wert hielt, sie näher kennen zu lernen, und drittens
von der ethischen Höhe seiner das Land wie die Zeit weit
überragenden Anschauungen aus die engen, veralteten, das
geistige und sittliche Leben niederhaltenden Formen, in denen
sich das Leben des Volkes und seiner Führer bewegte, schroff
und trotzig bekämpfte, wodurch er kurze Zeit nach seinem
öffentlichen Auftreten seinen Untergang herbeiführte. Diese
dreifache Stellung Jesu zur Welt erfordert eine nähere Be-
leuchtung.
1. Jesu Weltverachtung. Wir haben oben (S. 210)
eine Reihe von Forderungen Jesu zusammengestellt, deren
buchstäbliche Befolgung das staatliche und bürgerliche Leben
völlig auflösen und unmöglich machen würde. Wollten wir
allem gewalttätigen und raublustigen Gesindel erlauben, uns
nach Belieben zu mifshandeln und zu plündern, wollten wir
aufhören, am heutigen Tage für den morgenden zu sorgen,
3. Jesu Bewufstsein von Gott und von der Welt. 217
und alle unsere Habe verschenken, um selbst als Bettler
unsern Mitmenschen zur Last zu fallen, so würden daraus
soziale Zustände entstehen, welche keinem Wohlgesinnten als
wünschenswert erscheinen können. Wir haben daher oben
der Meinung Ausdruck gegeben, dafs diese Vorschriften nur
die Kichtung bezeichnen sollen, in der sich unser Handeln
zu bewegen hat, somit nicht völlig ernst zu nehmen sind.
Sofern sie aber von Jesu wirklich ernst gemeint sein sollten,
würden sie sich wohl nur aus der Überzeugung erklären,
welche von Jesu wiederholt und unmifsverständlich aus-
gesprochen wird, dafs das Weltende ganz nahe bevorstehe
und die gegenwärtige Generation es noch erleben werde.
Matth. 16,27—28 (vgl. Marc. 8,38—9,1, Luc. 9,26—27): „Denn
es wird je geschehen, dafs des Menschen Sohn komme in
der Herrlichkeit seines Vaters, mit seinen Engeln; und als-
dann wird er einem jeglichen vergelten nach seinen Werken.
Wahrlich ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht
schmecken werden den Tod, bis dafs sie des Menschen Sohn
kommen sehen in seinem Reich" ; Matth. 24,34 (vgl. Marc. 13,30,
Luc. 21,32): „Wahrlich ich sage euch: Dies Geschlecht wird
nicht vergehen, bis dafs dieses alles geschehe."
2. Jesu Weltfremdheit. Jesus war der Sohn eines
Handwerkers und stammte aus einer kleinen Provinzial-
stadt; seine Jünger waren, soweit wir deren Vorleben kennen,
Fischer und Zöllner; er selbst verkehrte vorwiegend mit den
niedrigsten Schichten des Volkes, und es ist fraglich, ob und
inwieweit er überhaupt Gelegenheit gehabt hat, den höhern
Kreisen der menschlichen Gesellschaft näherzutreten; Tiberias,
die Hauptstadt Galiläas, hat er, wie es scheint, nie besucht,
und seine Parabeln von Königen, Vornehmen und Grofsen
beweisen, dafs er deren Leben nie näher kennen gelernt hat;
auch dürfte er bei seinem Leben in und mit Gott, bei seiner
Geringschätzung aller irdischen Herrlichkeit und der Erwartung
ihres nahen Unterganges wohl kaum Wert darauf gelegt haben,
diesen Dingen näherzutreten. Dafs er für das Wesen des
Menschen, für die Schwäche, Sündhaftigkeit und Bedürftig-
keit des menschlichen Herzens ein tiefes psychologisches Ver-
ständnis besafs, geht aus allen seinen Reden hervor; aber
218 ^11- Leben und Lehre Jesu.
eine andere Frage ist, ob sein Blick nicht zu sehr auf das
Ganze und in die Ferne gerichtet war, um das einzelne Indi-
viduum mit seinen kleinlichen Interessen und Bestrebungen
richtig einzuschätzen. Piaton sagt vom Philosophen (Theaetet
p. 174B): „Er weifs nichts von seinem Nächsten und Nachbar,
nicht nur nicht was er betreibt, sondern kaum ob er ein
Mensch ist oder irgendein anderes Geschöpf. Was aber der
Mensch an sich sein mag, und was einer solchen Natur ziemt
anders als andern zu tun und zu leiden , das untersucht er,
und läfst es sich Mühe kosten, es zu erforschen." Was Piaton
vom Philosophen sagt, das gilt ebensosehr von einem religiösen
Genius. Auch Jesu Kopf und Herz war zu sehr mit der Sorge
für den Menschen als solchen beschäftigt, als dafs er den
einzelnen Menschen genauer zu sondieren und abzuschätzen
vermocht oder auch nur gewünscht hätte. So ist es zunächst
kaum zu verstehen, wie Jesus unter den zwölf Jüngern, die
er erwählt hatte, einen Schurken, wie den Judas, dulden und
mit den elf übrigen vertrauensvoll aussenden konnte, um die
Nähe des Himmelreichs zu verkündigen. Man hat es versucht,
den Judas weifszuwaschen ; er habe, so meint man, durch
seinen Verrat nur Jesum zwingen wollen, sich für den Messias
zu erklären und die Macht an sich zu reifsen; aber derartige
Versuche scheitern an der Tatsache, dafs er Geld dafür nahm,
seinen Verrat, und noch dazu in so schamloser Weise, aus-
zuführen; daher er noch um eine Stufe tiefer steht als der
Verräter Brutus, mit welchem zusammen er von Dante in den
untersten Höllenpfuhl versetzt wird. Aber auch an seinen
andern Jüngern hat der Meister nicht viel Freude erlebt. Oft
genug schilt er ihren Unverstand und ihre Kleinmütigkeit.
Er erzählt ihnen das Gleichnis vom Säemann, dessen Be-
deutung so durchsichtig ist; sie aber verstehen es nicht,
kommen und bitten Jesum, es ihnen zu erklären, worauf er
erwidert: „Versteht ihr dieses Gleichnis nicht, wie wollt ihr
denn die andern alle verstehen?" (Marc. 4,13). Er spricht zu
ihnen das geistvolle Wort: „Hütet euch vor dem Sauerteig
der Pharisäer", sie aber verstehen ihn so wenig, dafs sie
unter sich sagen: „Das wird es sein, dafs wir nicht haben
Brot mit uns genommen" (Matth. 16,7). Während Jesus in
3. Jesu Bew'ufstsein von Gott und von der Welt. 219
Gethsemane in der gröfsten Seelennot ist, kämpfen sie mit dem
Schlafe, und als der Verräter mit den Schergen herankommt,
ihren Herrn gefangen zu nehmen, „da verliefsen ihn alle
Jünger und flohen" (Matth. 26,56, Marc. 14,50). Wir
brauchen nicht eben hoch von uns zu denken, um zu glauben,
und tausende in jeder der seit Jesu vergangenen Generationen
werden diesen Glauben geteilt haben, dafs sie sich stark
genug fülilten, mit einem solchen Herrn und Meister lieber
das Aufserste zu erdulden, als ihn im Augenblick der gröfsten
Not schmählich im Stiche zu lassen. War die Gesinnun»; der
Jünger wirklich eine so niedrige, oder war der Eindruck der
Persönlichkeit Jesu in der Gegenwart nicht so mächtig, wie
er auf uns in der Ferne wirkt? Diese Frage ist um so schwerer
zu entscheiden, als möglicherweise keine einzige Schrift des
Neuen Testaments von einem Augenzeugen des Wirkens Jesu
herrührt. Am meisten kann noch die Offenbarung Johannis
darauf Anspruch machen, ein Werk des Jüngers Johannes zu
sein, des Donnersohnes, wie ihn Jesus nannte (Marc. 3,17;
vgl. Luc. 9,54), ein Buch, dessen wilde Poesie wir mit der
Bemerkung auf sich beruhen lassen können, dafs der Verfasser
jedenfalls von dem wirklichen Entwicklungsgang, den die
christliche Kirche genommen hat, keine Ahnung hatte. Von
dem spätem Wirken der meisten Apostel haben wir, abgesehen
von dem, was in den Briefen des Apostels Paulus steht, keine
sichere Kunde, dieser aber scheint ihre Verdienste nicht allzu-
hoch anzuschlagen, wenn sie von ihm nicht ohne leichte
Ironie als oi SoxoOvtö^ (Gal. 2,2.6), oi Soxoüvts? axijAO!, slvat,
(Gal. 2,9), o[ uTTspXiav äiüoaxoXoi (2. Kor. 11,5 und 12,11) be-
zeichnet werden, und wenn er, gewifs mit Recht, erklärt:
„Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle" (1. Kor. 15,10;
vgl. 2. Kor. 11,23). Jesus selbst scheint unter seinen Jüngern
die gröfste Hoffnung auf Petrus gesetzt zu haben, zu welchem
er nach dessen oben erwähntem Bekenntnis die Worte spricht :
„Du bist Petrus, und auf diesen Felsen (Tterpa) will ich bauen
meine Gemeinde, und die Pforten der Höllen sollen sie nicht
überwältigen" (Matth. 16,18). Mit diesem Urteil mufs man
vergleichen, was über Petrus berichtet wird, dafs er in der
Nacht der Gefangennahme, ehe der Hahn krähte, d. h. ehe
220 ^^^^- Leben und Lehre Jesu.
der Morgen nahte, seinen Herrn dreimal hinter einander ver-
leugnet haben soll, und dafs er, wie Paulus Gal. 2 erzählt,
bei einem Besuch in Antiochien sich dazu bestimmen liefs,
mit den Heidenchristen zu Tische zu sitzen, dann aber, als
einige Judenchristen von der durch Jakobus in Jerusalem
vertretenen Richtung angereist kamen, für seine Reputation
in Jerusalem fürchtete und steh von den Heidenchristen zurück-
zog, worauf ihm Paulus vor aller Augen die bekannte derbe
Zurechtweisung erteilte (Gal. 2,14). Die Hochschätzung, welche
gerade Petrus im katholischen Mittelalter genofs, erklärt sich
zum Teil wohl daraus, dafs er, im Gegensatze zu Paulus als
dem Apostel der Gebildeten und Denkenden, ein typischer
Vertreter der Volksseele war, welche sich -leicht zur Be-
geisterung für das Hohe und Edle entflammen läfst, aber bald
darauf wankelmütig ins Gegenteil umschlägt.
3. Jesu Welt trotz. Es ist sehr begreiflich, dafs ein
Genius, welcher berufen ist, das geistige Leben der Mensch-
heit in ganz neue Bahnen zu leiten, den brennenden Wunsch
und die Hoffnung hegt, schon die Zeitgenossen für seine Ideale
zu gewinnen, — es ist aber auch sehr begreiflich, dafs ein
beträchtlicher, und nicht immer der schlechteste, Teil der Zeit-
genossen jeder gewagten Neuerung, deren Konsequenzen er
nicht zu übersehen vermag, mifstrauisch gegenübersteht und
mit Zähigkeit an dem von den Vätern überkommenen, durch
die Zeit bewährten und gleichsam geheiligten Alten festhält,
wie denn selbst eine so edle Natur wie die des Apostels
Paulus vor seiner Bekehrung „über die Mafse um das väter-
Hche Gesetz eiferte" (Gal. 1,14). Auch auf geistigem Gebiete
gilt das Gesetz, dafs natura non facit saltus, dafs eine gesunde
Entwicklung nicht in Sprüngen vor sich geht, sondern nur
stetig und allmählich von weniger Gutem zum Bessern fort-
schreitet. Wer dies aufser acht läfst und mit Ungestüm das
Alte einreifst, um Neues und Besseres an seine Stelle zu
setzen, der läuft Gefahr, sich selbst zum Märtyrer seiner Über-
zeugung zu machen, und dies ist, wie bei so vielen grofsen
Erscheinungen in der Weltgeschichte, auch bei Jesu der Fall
gewesen. Sein feuriges Temperament erlaubte ihm kein ge-
duldiges Abwarten, und er ist sich des Gewaltsamen seines
3. Jesu Bewul'stseiii von Gott uiul von der Welt. 221
Auftretens selbst deutlich bewul'st, wenn er sagt: „Von den
Tagen Johannis des Täufers, bis hieher, leidet das Himmelreich
Gewalt; und die Gewalt tun, reifsen es an sich" (Matth. 11,12).
Schroff und rücksichtslos stellt er seine hohen ethischen An-
schauungen dem in Buchstabenkultus und Werkheiligkeit
erstarrten Judentum entgegen; er vernachlässigt die jüdischen
Speisegesetze: „Was zum Munde eingehet, das verunreinigt
den Menschen nicht, sondern was zum Munde ausgehet, das
verunreiniget den Menschen" (Matth. 15,11), er sitzt zu Tische
mit Zöllnern und Sündern, verlangt von seinen Jüngern nicht,
dafs sie fasten, dafs sie die Hände vor dem Essen waschen,
und behandelt die Kranken auch am Sabbat. Hierzu kommen
seine heftigen Ausfälle gegen das Treiben der Pharisäer und
Schriftgelelirten, von denen uns Matth. 23 eine Probe erhalten
ist. Er tadelt ihre Scheinheiligkeit und Habgier, ihr klein-
liches Kleben am Buchstaben des Gesetzes und ihre Bedrückung
des Volkes durch Vorschriften, welche sie selber zu halten
nicht gesonnen sind; immer kühner wird sein Auftreten; er
läfst es sich gefallen, dafs das Volk ihn bei seinem Einzüge
in Jerusalem als Messias feiert, und treibt mit eigener Hand
Krämer und Wechsler aus dem Vorhofe des Tempels weg,
zum Entsetzen der Pharisäer und Schriftgelehrten, welche
nicht wagten, gegen ihn einzuschreiten, so lange er von einer
ihm zujubelnden Volksmenge umgeben und geschützt war,
und erst als diese sich verlaufen hatte, Mittel und Wege
fanden, ihn zu verderben.
4. Das Schicksal Jesu.
Nicht immer scheint Jesus den Vorurteilen seines Zeit-
alters so kühn entgegengetreten zu sein, wie in Jerusalem
während der letzten Woche seines Lebens. In der ersten
Periode seiner Wirksamlceit, welche sich von der Gefangen-
nahme Johannes des Täufers bis über dessen Hinrichtung
hinaus erstreckt, und in der sich Jesu Wirken auf Galiläa
und dessen Umgebung beschränkte, lassen sich Anzeichen
einer gewissen Behutsamkeit erkennen, welche in dem nach
Heilerfolgen so häufigen Verbote, dieselben kundzumacJien,
222 Vn. Leben und Lehre Jesu.
zum Ausdruck kommen und vermuten lassen, dafs auch die
Schärfe in der Verurteilung des Pharisäerwesens von dem
mildern, in der Bergpredigt angeschlagenen Ton bis zu der
grofsen Strafpredigt in Jerusalem (Matth. 23) stetig zugenommen
hat. Als nach der Enthauptung des Johannes die Aufmerksam-
keit des Herodes auch auf Jesum gelenkt wurde, fand dieser
es geraten, der Gefahr aus dem Wege zu gehen (Matth. 14,13);
wir finden ihn bald in der Wüste (Speisung der Fünftausend)
oder auf einem entlegenen Berge (Speisung der Viertausend),
bald in der Gegend von Tyrus und Sidon, bis er schliefslich
seinen Aufenthalt in der Umgebung von Cäsarea Philippi, im
Tetrarchat des milde und gerecht regierenden Philippus, wählte,
wo er vor den Nachstellungen des Herodes (Luc. 13,31) in
Sicherheit war. Hier erfolgte das Bekenntnis des Petrus (oben
S. 214) und der Entschlufs Jesu, als Messias den Gefahren
Trotz zu bieten und seine Gegner in der Hochburg des Juden-
tums, in Jerusalem selbst, aufzusuchen. Wohl mag er auf
dieser letzten Reise von düstern Ahnungen erfüllt gewesen
sein, mag auch wohl schon neben dem ihm aus Daniel vor-
schwebenden Bilde des triumphierenden Messias Andeutungen
eines leidenden Messias in Stellen wie Jes. 53 und Ps. 22 als
erster gefunden haben, dafs er aber den Jüngern sein Leiden und
Sterben und wohl gar seine Auferstehung, wie die Evangelien
erzählen, mit Bestimmtheit vorausgesagt habe, ist gegen alle
psychologische Wahrscheinlichkeit und steht auch im Wider-
spruch damit, dafs Jesus noch in Gethsemane an die Möglich-
keit glaubte, dafs dieser Kelch an ihm vorübergehen könne.
Wie sich Jesus den weitern Gang vorstellte, den die Er-
eignisse nehmen würden, ist allerdings schwer zu sagen. Er
wufste sich als den Messias, der bestimmt sei, noch vor
Ablauf der jetzt lebenden Generation das Weltende und Welt-
gericht herbeizuführen. Er wufste Elias als seinen Vorläufer
und hat sicher an dessen Himmelfahrt fest geglaubt. Durfte
er nicht annehmen, dafs auch ihn sein himmlischer Vater in
Not und Gefalir nicht im Stiche lassen werde, dafs er durch
ein Wunder gerettet, etwa wie Elias auf feurigem Wagen
emporgehoben werden könnte bis zu dem Throne des Alten,
wie ihn Daniel nennt, um von dort in den Wolken des Himmels
4. Das Schicksal Jesu. 223
als Weltrichter zurückzukehren? Wie dem auch sei, jeden-
falls war es die Überzeugung, dafs Gott ihn nicht verlassen
werde, welche ihm den Mut eingab, in Jerusalem so aufzu-
treten, wie wir es gesehen haben. Inzwischen zogen sich die
Wolken über ihm zusammen; im Kreise der eigenen Jünger
fühlte er sich vor Verrat nicht mehr sicher; immer deutlicher
mochte er ahnen, dafs schlimme Dinge bevorstünden.
In dieser Stimmung feierte er mit seinen Jüngern das letzte
Abendmahl. Hierüber haben wir den urkundlichen Bericht des
Apostels Paulus, der ihn ohne Zweifel von Augenzeugen erhalten
hat, 1. Kor. 11,23 — 26: „Denn der Herr Jesus in der Nacht, da
er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach es und
sprach: Nehmet, esset, das ist mein Leib, der für euch ge-
brochen wird; solches tut zu meinem Gedächtnis. Desselbigen
gleichen auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach:
Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut; solches
tut, so oft ihr es trinket, zu meinem Gedächtnis. Denn so
oft ihr von diesem Brot esset, und von diesem Kelch trinket,
sollt ihr des Herrn Tod verkündigen, bis dafs er kommt."
Ohne uns hier bei dem Wörtchen „ist" aufzuhalten, welches
so viel unnötigen Staub aufgewirbelt hat, müssen wir doch
aus dieser Stelle zweierlei entnehmen, erstlich, dafs Jesus
nach der Wendung, welche die Dinge genommen hatten,
sein.en Tod mit Bestimmtheit voraussah, und zweitens, dafs
er das Bewufstsein hatte, für seine Anhänger in den Tod zu
gehen. Das erstere steht allerdings in Widerspruch damit,
dafs Jesus, wie schon oben bemerkt, noch in Gethsemane
eine Rettung, ein Vorübergehen des Kelches für möglich hielt,
und wir werden annehmen dürfen, dafs, je nach der Stimmung,
beide Möglichkeiten abwechselnd sein Gemüt beherrschten;
das letztere aber erklärt sich wohl daraus, dafs Jesus in dem
Mafse, wie die Schwierigkeit der Lage einen andern Ausweg
immer unwahrscheinlicher machte, anfing, sich mit dem Knecht
Gottes Jes. 53 zu identifizieren und auf sich die Worte zu
beziehen: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dafs wir Frieden
hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet."
Furchtbar ist das Schicksal, welches dem geistig wie
sittlich so hoch- über seinem Zeitalter stehenden Manne von
224 VII. Leben und Lehre Jesu.
seinen Gegnern, und nicht nur von diesen allein, "bereitet
wurde. Empörend sind die Beschuldigungen im Verhör Jesu
vor dem Hohen Rate, denen er nur ein erhabenes Schweigen
entgegensetzte. Entsetzlich sind die Mifshandlungen und Ver-
höhnungen durch rohe Kriegsknechte, aber das Schwerste
von allem war doch, dafs keiner der Jünger, die er erwählt,
belehrt und geliebt hatte, ihm Beistand leistete, dafs sie
sämtlich in der Stunde der gröfsten Not ihren Meister schmäh-
lich verlassen hatten. Doch wie alles Erdenleid nahm auch
dieses, nahm auch die Qual des langsamen Verschmachtens
am Kreuze ein Ende. Das dritte und vierte Evangelium legen
Jesu am Kreuze sechs schöne und würdige Aussprüche in den
Mund, welche, wenn sie historisch wären, bei Matthäus und
Marcus sicherlich nicht fehlen würden. Der treueste Bericht
ist bei Matthäus (in allem Wesentlichen mit Marcus überein-
stimmend) erhalten: Kap. 27,46 — 50: „Und um die neunte
Stunde schrie Jesus laut, und sprach: EU, EU, lama asab-
thani? das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen? Etliche aber, die da standen, da sie das höreten
sprachen sie: Er ruft den Elias. Und bald lief Einer unter
ihnen, nahm einen Schwamm, und füllete ihn mit Essig, und
steckte ihn auf ein Rohr, und tränli;te ihn. Die Andern aber
sprachen: Halt, lafs sehen, ob Elias komme, und ihm helfe!
Aber Jesus schrie abermal laut, und verschied." Wie der
letzte Ausruf Jesu zu verstehen sei, ob er einen Trost darin
suchte, dafs er sich selbst als den leidenden Messias in den
Worten des Psalms (22,2) wiedererkannte, — oder ob er, von
physischer und geistiger Schwäche übermannt, einen Augen-
blick an seiner ganzen Lebensaufgabe irre wurde und ver-
zweifelte — , mufs dahingestellt bleiben. Die Bedeutung
seines Werkes wird durch diese Frage nicht berührt.
Die Geschichte des Todes Jesu bildet eines der schwär-
zesten Blätter in den Annalen der Menschheit. Hier scheint
das Wort: tout comprendre c'est tont pardonner eine Aus-
nahme erleiden zu müssen. Verziehen werden kann diese
Untat nimmermehr, und sie ist nicht verziehen worden, denn
4. Das Schicksal Jesu. 225
fürchterlich hat sich durch alle kommenden Jahrhunderte an
dem unglücklichen Volke der Juden das (schwerlich historische)
Wort erfüllt: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!"
(Matth. 27,25). — Aber verstehen, d. h, als notwendige Folge
vorhergehender Ursachen begreifen lassen, wird sich, wie alles
in der Welt, so auch dieses Unerhörte, dafs die Juden den
edelsten Mann, den ihre Nation je hervorgebracht hat, so
schmählich hingemordet haben. Der Hauptgrund dafür ist
sicherlich darin zu suchen, dafs Jesus, aufschiefsend wie ein
Palmbaum unter niedrigem Gestrüpp, zu hoch über seinem
Zeitalter und Volke stand, um von ihm verstanden zu werden;
verstanden ihn doch seine eigenen Jünger nicht. Wie kann
man von einem römischen Verwaltungsbeamten gewöhnlichen
Schlages, wie es Pilatus war, erwarten, dafs er einen Jesus
habe würdigen können? Er hatte die schwere Aufgabe, ein
unbändiges, verkommenes Volk im Zaume zu halten, und um
vor ihm Ruhe zu haben, hat er nach einigem Widerstreben
Jesum geopfert Aber nicht das Volk, sondern seine Leiter,
die Pharisäer und Schriftgelehrten, sind für die Ermordung
Jesu verantw^ortlich zu machen, und auch diese, die blinden
Leiter der Blinden, wie sie Jesus nennt, haben sich nicht aus
Bosheit, sondern aus Unwissenheit an ihm versündigt, sie
wufsten nicht, was sie taten, als sie ihn ans Kreuz schlagen
liefsen, und konnten es nicht wissen. Eingerostet in den er-
erbten Vorurteilen ihres Zeremonialgesetzes und unfähig zu
verstehen oder auch nur ernstlich zu prüfen, was diesem zu-
wider war, mufsten sie in Jesu einen verwegenen Neuerer
sehen, der um so gefährlicher war, je heftiger und rücksichts-
loser er gegen sie auftrat. Die weltliche Herrschaft war an
die Römer verloren gegangen; nur die geistige Leitung des
Volkes w^ar dem Hohenpriester und den Schriftgelehrten ver-
blieben. Was Jesus wollte, war ihnen nicht klar, und nur
eines war ihnen klar, dafs der letzte Rest ihres Einflusses auf
die Volksmassen verloren ging, wenn dieselben Jesu zufielen,
wozu nach den Vorgängen bei seinem Einzüge in Jerusalem
alle Aussicht war. Sie kämpften um ihre Existenz: entweder
sie mufsten fallen oder er; sie wählten das letztere, denn omms
natura vult esse conservatrix sui. Ein zufälliges Zusammen-
Dkcssen, Geschichte der Philosophie. II,u. J5
226 VII. Leben uud Lehre Jesu.
treffen von Umständen, vor allem die Arglosigkeit Jesu,
vermöge deren er, statt wie sonst nach Bethanien zurück-
zukehren, die verhängnisvolle Nacht in Gethsemane zubrachte,
begünstigte ihren Anschlag. Wir wissen nicht, welche Agi-
tation sie betrieben haben, um die Menge umzustimmen und
die schon halb verlorene Volksgunst wiederzugewinnen; wäre
es ihnen nicht gelungen, so hätte der Ausgang leicht ein
anderer sein können, und die Entwicklung der Weltgeschichte
würde einen andern Gang genommen haben.
Der Glaube an die Auferstehung Jesu ist der Grund für
die Entstehung der christlichen Kirche geworden. Wie dieser
Glaube unter den entmutigten und den Verlust ihres Meisters
betrauernden Jüngern habe entstehen können, läfst sich bei
den Widersprüchen und der teilweisen Verworrenheit der
evangelischen Überlieferung nur vermutungsweise ermitteln.
Wollen wir aber nicht so weit gehen, den Berichten der Evan-
gelien alle Glaubwürdigkeit abzusprechen, wollen wir nicht
annehmen, dafs das alles erst später, als niemand mehr in
der Lage war, die Gerüchte an dem Tatbestande zu kontrollieren,
willkürlich erdichtet worden sei, so scheinen sich doch zwei
Tatsachen aus der Mitte der sie umrahmenden Legenden als
historisch gesichert zu ergeben :
erstlich, dafs Jesus am Kreuze wirklich gestorben .ist,
denn unmöglich konnte der Glaube seiner siegreichen und
glorreichen Auferstehung an das Fortleben einer siechen, durch
Martern aller Art geschwächten Persönlichkeit anknüpfen ; und
zweitens, dafs die Frauen, welche am Morgen nach dem
Sabbat kamen, um den Leichnam zu salben, das Grab, in
welchem sie denselben vermuteten, leer fanden, eine Tatsache,
welche den Glauben, der Herr sei neubelebt aus dem Grabe
hervoro;eo;ano;en, und weiterhin das Gerücht, man habe ihn
hier und da gesehen, veranlafste. Wie aber -jene Tatsache
zu erklären ist, auf welchem seltsamen Zufalle oder, wenn
man will, auf welcher Fügung es beruhte, dafs die Frauen
das Grab leer fanden, darüber lassen sich nur Vermutungen
äufsern. Dafs die Jüns-er ihn heimlich aus dem Grabe entwendet
4. Das Schicksal Jesu. 227
und daraufhin die Predigt von seiner Auferstehung gegründet
hätten, widerspricht so sehr ihrem weitern ethischen Verhalten,
dafs eine solche, schon Matth. 27,64 erwähnte, Möglichkeit
schlechterdings von der Hand zu weisen ist. Aber an einer
kleinen ^)?a frans ist, scheint es, doch nicht vorbeizukommen.
Denn als das Gerücht aufkam, der Herr sei auferstanden, da
waren einige oder mindestens einer, welcher wufste, wie die
Sache lag, derjenige nämlich, welcher den Leichnam entweder
von vornherein anderswo untergebracht oder, wenn die Frauen
wirklich bei der Grablegung zugegen gewesen sein sollten,
ihn von dort, wir wissen nicht, ob auf Anordnung des Joseph
von Arimathia oder aus andern Gründen, wieder weggenommen
und an einem andern Orte bestattet hatte. Einer also mufste
wissen, wo der Leichnam zu finden gewesen wäre, weil er
ihn selbst hingebracht hatte, dieser eine aber, als das Gerücht,
der Auferstehung aufkam, hat geschwiegen, und dafs er schwieg,
das ist die kleine pm frans, an welcher, wie es scheint, nicht
vorbeizukommen ist.
Freilich haben wir über die Erscheinungen des Auf-
erstandenen nicht nur die phantasievollen und unvereinbaren
Berichte der Evangelien, sondern, was schwerer wiegt als sie
alle, das Zeugnis des Apostels Paulus, an dessen Redlichkeit
als einer anima Candida nicht zu zweifeln ist, und der sich
L Kor. 15,3 — 8 also vernehmen läfst:
„Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, welches ich
auch empfangen habe: dafs Christus gestorben sei für unsre
Sünden nach der Schrift; und dafs er begraben sei, und dafs
er auferstanden sei am dritten Tage, nach der Schrift; und
dafs er gesehen worden ist von Kephas, darnach von den
zwölfen. Darnach ist er gesehen worden von mehr denn
fünfhundert Brüdern auf einmal: derer noch viele leben, etliche
aber sind entschlafen. Darnach ist er gesehen worden von
Jakobo, darnach von allen Aposteln. Am letzten nach allen
ist er auch- von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen
worden."
Die letzte der sechs von Paulus erwähnten Christus-
erscheinungen, welche ihm selbst zuteil geworden ist, liefert
uns den Schlüssel zu allen übrigen. Bei der zu ekstatischen
228 ^H- Leben und Lehre Jesu.
Zuständen neigenden Natur des Apostels Paulus ist es begreif-
lich, wie seinem, durch gewaltige innere Kämpfe und Wand-
lungen erschütterten Gemüte eine subjektive Vision sich als
objektive Begebenheit darstellen konnte, wie er den Herrn,
dessen Anhänger er so eifrig v.erfolgt hatte, und dem er in
plötzlicher innerer Umwandlung mit der ganzen Glut seines
feurigen Temperaments sich hingab, leibhaftig als eine objek-
tive Erscheinung gesehen zu haben glaubte. Von dieser Art
werden auch jene frühern Erscheinungen gewesen sein, nicht
nur die, welche dem Petrus und Jacobus, sondern auch die,
welche allen zwölf Jüngern, ja auch den fünfhundert Brüdern
zuteil wurden, denn dafs bei einer gleichgesinnten und religiös
aufgeregten Versammlung die dem einen oder andern sich
darstellenden Visionen eine gewisse Ansteckungskraft üben
und allen Anwesenden sich mitteilen können, ist eine psycho-
logische, durch Beispiele aus allen Ländern und Zeiten belegte
Tatsache.
5. Philosophische Elemente der Lehre Jesu.
Bei jedem Denker auf philosophischem wie auf religiösem
Gebiete haben wir, wie zu Eingang dieses Werkes auseinander-
gesetzt wurde, zwei Elemente in seinen Gedanken zu unter-
scheiden, das traditionelle Element, welches alles befafst,
was er aus der Tradition, von seinen Vorgängern wie aus
dem Ideenkreise seines Zeitalters und Volkes übernommen
hat, und das originelle Element, worunter wir nur das ver-
stehen, was der philosophische oder religiöse Genius unmittel-
bar aus der Natur, aus der ihn umgebenden Aufsenwelt wie
aus den psychologischen Erlebnissen seines eigenen Innern
schöpfte. An das traditionelle Element knüpfen sich alle die
Mifsverständnisse und Verirrungen, an denen das geistige
Leben der Menschheit in philosophischer wie in religiöser Hin-
sicht so reich ist; was hingegen ein Denker an originellen
Gedanken unmittelbar aus dem Eindruck der äufsern und
innern Wirklichkeit geschöpft hat, das kann wohl einseitig,
nicht aber eigentlich falsch sein, so wenig die Natur selbst es ist.
Diese Unterscheidung des traditionellen Elements als der
blofsen Schale und des originellen Elements als des eigent-
5. Philosophische Elemente der Lehre Jesu. 229
lieh wertvollen und für alle Zeiten gültigen Kerns eines Ge-
dankenzusammenlianges erweist sich, wie überall, so auch
bei Jesu, und bei diesem in besonders hohem Grade, geboten
und fruchtbar.
Wie jeder Mensch, so stand auch Jesus zunächst unter
dem Einflüsse der Traditionen seines Zeitalters, und in dieser
Hinsicht ist er ein bewufster Schüler des Mose und ein un-
bewufster Schüler des Zarathustra. Viele seiner Gedanken
sind nur eine lebendige Reproduktion des von diesen beiden
Meistern Überkommenen.
Auf dem Mosaismus beruhen Jesu Theismus sowie die
Grundzüge seiner Weltanschauung im allgemeinen, während
er von den Propheten die überall hervortretende Gering-
schätzung der äufserlichen Kultusbräuche und das Dringen
auf Reinheit des Herzens, auf Gerechtigkeit und Mitleid über-
nommen hat, wie sich dies am kürzesten und schönsten in
dem wiederholt von ihm zitierten Ausspruch des Hosea (6,6)
zusammenfassen iäfst: eXeov '^sXw xcd ox> ^ucLav, „Ich habe
Wohlgefallen an Barmherzigkeit, und nicht am Opfer" (Matth.
9,13 und 12,7). Hingegen hat Jesus aus der iranischen Welt-
anschauung, nicht direkt, sondern durch Vermittlung des zu
Jesu Zeit von diesen Vorstellungen durchdrungenen Juden-
tums, wie oben gezeigt wurde, seine ausgebildete Dämonen-
lehre, wie auch seinen Unsterblichkeitsglauben in der realisti-
schen Form einer Auferstehung von den Toten übernommen.
Aber auch die jüdische Messiasidee hat Jesus in der durch
iranischen Einflufs modifizierten Form, wie sie im Buche Daniel
vorliegt, sich zu eigen gemacht, und nachdem er durch gött-
liche Eingebung, wie sie dem Petrus geworden war, den er-
warteten Messias in sich selbst erkannt hatte, war es eine
einfache Konsequenz dieser Anschauungen, dafs er sich für
berufen hielt, noch bei Lebzeiten der gegenwärtigen Generation
Weltende und Weltgericht herbeizuführen, wobei natürlich in
dem allgemeinen Untergang auch der Jerusalems und des
T empels einbegriffen war, um dem neuen Messianischen Reiche
Platz zu machen. So würde sich seine Weissagung erklären,
dafs kein Stein des Tempels auf dem andern bleiben werde,
so auch, wenn sie historisch sein sollte, die ihm von seinen
230 ^"II- Leben und Lehre Jesu.
Gegnern schuldgegebene Behauptung, dafs er den Tempel
abbrechen und in drei Tagen wieder aufbauen werde. Diese
Weissagungen Jesu lebten in mündlicher, vielleicht auch
schon schriftlich fixierter Erinnerung fort, als der jüdische
Krieg ausbrach und in seinem Gefolge im Jahre 70 p. C. die
Zerstörung Jerusalems und des Tempels sich verwirklichte,
während der Untergang der Welt noch auf sich warten liefs.
Jetzt war die Tradition genötigt, die beiden von Jesu als
Einheit gedachten und noch vor Ablauf der lebenden Gene-
ration erwarteten Katastrophen, die Zerstörung Jerusalems und
den Untergang der Welt, von» einander zu trennen, wobei die
bald nach 70 p. C. verfafste Schilderung dieser Vorgänge bei
Matthäus, wie die Worte Matth. 24,29 „bald (eu^s«?) aber
nach dem Trübsal derselbigen Zeit" beweisen, in jener Zeit
der höchsten Not und Verwirrung das Weltende als nahe
bevorstehend dachte, während dasselbe von den später ver-
fafsten Berichten des Marcus (vgl. 13,24) und Lucas (vgl.
21,24 fg.) weiter und weiter hinausgeschoben wird. Aber auch
in dieser modifizierten Form zeigen die eschatologischen Reden
Jesu eine starke Abhängigkeit von iranischen Vorstellungen.
Wie dort (vgl. oben S. 142) der aus dem Samen des Zara-
thustra stammende ^aoslnjang (d. h. „der da retten wird",
„der Heiland"), so bewirkt hier der aus dem Samen Davids
stammende Messias die Auferstehung der Toten und das Welt-
gericht. Wie QaoshyanQ dabei von fünfzehn männlichen und
fünfzehn weiblichen Gehilfen unterstützt wird, so verhelfst
Jesus seinen Jüngern, dafs sie auf zwölf Stühlen sitzen werden
und richten die zwölf Geschlechter Israels (Matth. 19,28), wie
der Weltrichter dort die schwarzen von den weifsen Schafen,
so scheidet er hier, weniger treffend, die Schafe von den
Böcken (Matth. 25,32). Diese Züge werden genügen, um zu
zeigen, dafs hier nicht eine zufällige Analogie, sondern eine
direkte Abhängigkeit vorliegt, und fragen wir, auf wessen
Seite die Priorität zu suchen ist, so kann es nach dem, was
oben (S. 133). über das Alter der iranischen Vorstellungen
beigebracht wurde, sowie nach den zahlreichen Spuren per-
sischer Einflüsse auf das Judentum, denen wir im weitern
Verlaufe begegnet sind, wohl, keinem Zweifel unterliegen, dafs
5. Philosophische Elemente der Lehre Jesu. 231
mit so vielem andern auch die eschatologischen Vorstellungen
von Iran nach Palästina gedrungen und dort von Jesu über-
nommen worden sind.
Wenden wir uns von diesen auf Tradition beruhenden
Vorstellungen zu der Frage, worin denn eigentlich das origi-
nelle Element der Lehre Jesu zu suchen ist, so kann es
sich dabei nicht sowohl um Gedanken handeln, welche nie
vorher ausgesprochen worden wären, als vielmehr um solche
welche von Jesus aus dem unmittelbaren Eindrucke der äufsern
und innern Natur geschöpft wurden und in der Folge zu den
tragenden Grundpfeilern der christlichen Weltanschauung ge-
worden sind. Was ist unter der reichen Fülle der in Jesu
Reden . ausgestreuten Keime das eigentlich W^esentliche, das
Senfkorn, aus dem nachmals der Baum des Christentums er-
wachsen ist? — Um in Beantwortung dieser Frage einen
methodisch sichern Weg einzuschlagen, müssen wir davon
ausgehen, dafs das Zentraldogma des Christentums, dafs die
spezifische Lehre, welche das Christentum vor allen andern
Religionen auszeichnet, besteht in dem von Paulus ausgebildeten
und vom vierten Evangelium fertig übernommenen Dogma der
Wiedergeburt, nach welchem das Heil nicht von einem Tun
und Lassen im einzelnen, sondern von einer völligen üm-
schaffung unseres natürlichen W^esens, einer xat-vr, vMaic, wie
sich der Apostel Paulus ausdrückt, zu suchen ist. Diese Lehre
findet sich, von un sichern Anklängen abgesehen, beim histori-
schen Jesus noch nicht, wohl aber lassen sich bei ihm die
Keime nachweisen, aus welchen sie entsprungen ist, und diese
Keime bestehen in zwei Gedanken, welche scheinbar in Wider-
spruch mit einander stehen, in einer Art Antinomie, aus welcher,
wie aus Stahl und Stein der lebendige Feuerfunke, jene Grund-
lehre des Christentums von der Wiedergeburt hervorgegangen
ist. Mit modernen Ausdrücken können wir jene beiden sich
widerstreitenden Gedanken Jesu als seinen Determinismus
und seinen kategorischen Imperativ bezeichnen.
1. Jesu Determinismus. Zunächst kann es keinem
Zweifel unterliegen, dafs Jesus überzeugt war von der empiri-
schen Unfreiheit des Willens, der zufolge jeder so handeln
mufs und nicht anders handeln kann, als es seiner Natur
232 ^'^II- Leben und Lehre Jesu.
gemäfs ist. Wie der Baum, so seine Früchte ; wie der Mensch,
so seine Taten. In der Bergpredigt heifst es Matth. 7,16 — 18:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch
Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln?
Also ein jeglicher guter Baum bringet gute Früchte: aber ein
fauler Baum bringet arge Früchte. Ein guter Baum kann
nicht arge Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht
gute Früchte bringen." Wie dieses Gleichnis zu verstehen
sei, lehrt unmifsverständlich der Zusammenhang Matth. 12,
wo die Pharisäer einen besonders auffallenden Beweis ihrer
Verstocktheit geben, indem sie behaupten, Jesus treibe die
Teufel aus durch der Teufel Obersten, worauf Jesus erwidert,
Matth. 12,33 — 35: „Setzet entweder einen guten Baum, so wird
die Frucht gut: oder setzet einen faulen Baum, so wird die
Frucht faul. Denn an der Frucht erkennet man den Baum.
Ihr Otterngezüchte, wie könnet ihr Gutes reden, die weil ihr
böse seid? Wefs das Herz voll ist, defs gehet der Mund über.
Ein guter Mensch bringet Gutes hervor aus seinem guten
Schatz des Herzens; und ein böser Mensch bringet Böses
hervor aus seinem bösen Schatz." Das originelle und drastische
Bild von dem Baum und den Früchten deutet darauf hin, dafs
Jesus die Überzeugung von der Unfreiheit des Willens, so oft
sie auch schon vor ihm ausgesprochen sein mag, doch nicht
von andern übernommen, sondern unmittelbar aus der Be-
obachtung des Treibens der Menschen um ihn her geschöpft
hat. Zugleich aber fühlte er in sich die Gewifsheit, welche
jeder von uns in seinem Innern fühlt, dafs unser Wille frei
ist, nicht nur sofern wir tun können, was wir wollen, sondern
sofern es nur auf uns ankommt, anders zu wollen, als wir
wollen, ja sogar anders zu sein, als wir sind, und nur auf
dieser in unserm tiefsten Innern lebenden Gewifsheit kann es
beruhen, dafs Jesus in allen seinen Reden von den Menschen
fordert, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, wie wir
sogleich weiter auszuführen haben.
2. Jesu kategorischer Imperativ. Alle Forderungen,
welche Jesus an den Menschen stellt, lassen sich zusammen-
fassen in dem einen grofsen Imperativ, Matth. 5,48: „Darum
sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel
5. Philosophische Elemente der Lehre Jesu. 233
vollkommen ist!" Dieser Imperativ ist ein kategorischer, kein
hypothetischer, denn so oft auch Jesus verheifst: es wird euch
im Himmel wohl belohnt werden, so sind derartige Ver-
heifsungen bei ihm, ähnlich wie die Postulate bei Kant, doch
nur eine Folge, nicht aber der Grund des sittlichen Wohl-
verhaltens ; er sagt nicht : um dafür himmlischen Lohn zu er-
halten, sondern weil es uns eine innere Stimme gebietet, sollen
wir das Gute tun, und haben wir es getan, dann sollen wir
sagen: „Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was
wir zu tun schuldig sind" (Luc. 17,10). Entkleiden wir dieses
Wort der semitischen Hülle, in welcher es auftritt, so besagt
es: Nicht aus Hoffnung auf Lohn sollen wir das Gute tun,
sondern nur darum, weil unser Gewissen es uns gebietet.
Der Widerspruch zwischen diesen kategorischen Forde-
rungen Jesu und dem gleichzeitig von ihm vertretenen Deter-
minismus verschärft sich noch, wenn wir andere Aussprüche
Jesu ins Auge fassen. Zu den Alten ist gesagt: Du sollst
nicht töten, sollst nicht ehebrechen, Jesus verbietet, den
Bruder zu hassen, ein Weib anzusehen ihrer zu begehren ; die
Alten verbieten die böse Tat, Jesus auch die Gesinnung, aus
der sie entspringt; die Alten verlangen: Du sollst anders
handeln als du handelst; Jesus verlangt: Du sollst anders
sein als du bist; dies aber ist nach der empirischen Natur-
ordnung unmöglich, ebenso wie es unmöglich ist, unsere
Feinde zu lieben, denjenigen .zu helfen, welche uns schädigen,
und somit indirekt unsere eigene Schädigung zu fördern.
Ihren Höhepunkt erreichen diese Forderungen Jesu in dem
grofsen Worte, dem gröfsten, welches überhaupt von ihm ge-
sprochen worden ist : „Wer mir nachfolgen will, der verleugne
sich selbst" (dcTrapv-^cacrtr« sauirov, Matth. 16,24). Man kann
alles verleugnen, sich von allem lossagen, nur nicht von sich
selbst, wie ein Messer alles schneiden kann, nur nicht sich
selbst. Erfüllbar wird die Forderung nur, wenn in dem Satze :
„er verleugne sich selbst" Subjekt und Objekt verschieden
sind, wenn derjenige, welcher sich lossagt, ein anderer ist als
der, von welchem er sich lossagt; der letztere ist, mit dem
Apostel Paulus zu reden, der alte Mensch, der alte Adam in
uns, der erstere der neue Mensch, der Christus, welcher in
234 VII. Leben und Lehre Jesu.
uns Gestalt gewinnen soll; es ist der Mensch als Gott, welcher
den Menschen als Menschen überwindet, es ist, wie Kant sagt,
der Mensch als Ding an sich, welcher dem Menschen als Er-
scheinung das Gesetz gibt.
Wie dies möglich sei, darüber finden sich in Jesu Worten
nur Andeutungen, wenn er Matth. 19,26 sagt: „Bei den Menschen
ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich" oder
Matth. 15,13 : „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht
gepflanzet, die werden ausgereutet."
Das Zusammenbestehen der empirischen Unfreiheit mit
der metaphysischen Freiheit unseres Wesens ist das letzte
und höchste Kesultat der Philosophie Kants, bei welchem es
sich als notwendige Konsequenz seiner ganzen Weltanschauung
ergibt. Jesus hat dieses Kesultat vorweggenommen, indem er
einerseits die äufsere Notwendigkeit alles Geschehens erkannte,
andererseits die innere Freiheit in der Selbstbestimmung unseres
Wollen s empfand und mit naiver Unbefangenheit aussprach.
Wie diese Gegensätze zu versöhnen seien, darüber finden sich
in Jesu Worten nur Andeutungen wie die erwähnten, deren
weitere Entwicklung dem Apostel Paulus zufiel. Eine Ver-
folgung der von Jesu aufgedeckten Antinomie zwischen der
Unfreiheit unseres dem Gesetze der Kausalität unterworfenen
Handelns und der Freiheit des Willens als unserer ansich-
seienden, kausalitätlosen Wesenheit würde zu allen wesent-
lichen Grundanschauungen der Kantischen Philosophie ge-
führt haben.
VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
1. Des Paulus Leben und Schriften.
Indem wir uns von dem Leben und Wirken Jesu zu dem
des Apostels Paulus wenden, ist uns zumute wie dem, welcher
nach einer schönen, aber vmsichern Seefahrt das Land betritt
und festen Boden unter den Füfsen fühlt. Sind uns doch hier
neben Berichten durch andere eine Reihe von Briefen von der
eigenen Hand des Apostels erhalten, denen wir nicht nur
manche wertvolle Angaben über sein äufseres Leben und
1. Des Paulus Leben und Schriften. 235
Wirken, sondern auch ein deutliches und lebendiges Bild von
seiner Sinnesart und Weltanschauung verdanken. Überliefert
sind unter dem Namen des Apostels Paulus dreizehn Briefe,
von denen vier (der an die Galater, die beiden an die Korinther
und der an die Rö,mer) unzweifelhaft echt, drei andere (die
beiden an Timotheus und der an Titus) sicher unecht, und
die sechs übrigen (zwei an die Thessalonicher und je einer an
die Kolosser, Epheser, Philipper und an Philemon) einigen Be-
denken oflen stehen, so jedoch, dafs bei den meisten derselben
die Gründe für ihre Echtheit überwiegen. Daneben dient als
Hauptquelle für das äufsere Wirken des Paulus die Apostel-
geschichte, deren Verfasser, mag er nun Lucas oder anders
geheifsen haben, zugleich der des dritten Evangeliums ist und
hier, wo wir seinen Bericht an dem des Matthäus und Marcus
kontrollieren können, nicht gerade den Eindruck eines sehr
sorgfältigen und zuverlässigen Schriftstellers macht. Um so
wertvoller sind diejenigen Teile der Apostelgeschichte, wo der
Verfasser den wörtlichen Bericht eines Augenzeugen in seinem
Werke wiedergibt, wie dies bei der Reise von Troas bis Phi-
lippi auf der zweiten (Apostelgesch. 16,10 — 17) und wieder von
Philippi über Troas bis Jerusalem auf der dritten Missionsreise
(Apostelgesch. 20,5 — 21, 18), sowie bei der Fahrt von Cäsarea
bis nach Rom (Apostelgesch. 27,1—28, 31) der Fall ist. Es
kommen denn auch in diesen Berichten des Augenzeugen keine
eigentlichen Wunder vor, denn dafs ein Knabe nach einem
schweren Sturz die Besinnung wiedererlangt, dafs bei einem
Erdbeben die Türen eines mangelhaften Provinzialgefängnisses
aufspringen, dafs eine Schlange ohne Schaden vom Arme
abgeschüttelt werden kann, und dafs Kranke, über denen
man gebetet hat, post hoc wieder gesund werden, kann man
nicht als Wunder verzeichnen. — Nicht frei von Wunder-
erzählungen, und schon darum weniger historisch gesichert
als dieser Bericht eines Augenzeugen, sind die übrigen Nach-
richten der Apostelgeschichte über das frühere Wirken des
Apostels Paulus, doch dürfen wir -ihnen die Hauptmomente
seiner Lebensgeschichte ohne Bedenken entnehmen, indem
wir versuchen, ihnen gehörigen Orts die Briefe des Apostels
einzufügen und dadurch für deren Veranlassung ein besseres
236 Vni. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
Verständnis zu gewinnen, als es die apokryphen Unterschriften
gewähren.
„Saulus, der auch Paulus heifst" (Apostelgesch. 13,9,
wahrscheinlich führte er von Haus aus beide Narnen, erstem
unter seinen Stammesgenossen, letztern in seinem Verkehr mit
den Griechen) war geboren zu Tarsus in Cilicien, einer da-
mals blühenden und reichen Stadt, deren Bildungsanstalten von
Strabo denen in Athen und Alexandria gleichgesetzt werden.
Hier war Paulus von einer jüdischen, der Sekte der Pharisäer
angehörenden Familie aus dem Stamme Benjamin geboren,
welche das, durch Kauf oder besondere Verdienste erworbene,
römische Bürgerrecht besafs. Sein Geburtsjahr ist nicht be-
kannt; da wir ihn aber bei seiner, wahrscheinlich in das
Jahr 37 p. C. fallenden Bekehrung wohl nicht jünger als 20,
aber auch nicht wohl älter als 27 Jahre denken können, so
wird seine Geburt in die Zeit zwischen 10 und 17 p. C. ge-
setzt werden dürfen. Dafs er an den reichen Mitteln seiner
Vaterstadt zur Erwerbung einer griechischen, namentlich auch
philosophischen, Bildung vielen Anteil genommen habe, ist bei
seiner Zugehörigkeit zur strengen Sekte der Pharisäer, wie
auch bei seinem ungünstigen Urteil über die griechische Philo-
sophie nicht anzunehmen; doch besafs er eine bei einem Juden
achtungswerte Kenntnis der -griechischen Sprache, wie seine
Schriften beweisen. Aber wie diese, so wird auch sein münd-
licher Vortrag nicht frei von Hebraismen und andern Härten
gewesen sein, und wenn die feinen Athener ihn verächtlich
als einen Landstreicher {aTZEgi).o\6yoc, eigenthch „Krähe") be-
zeichneten, so dürfte dies teils auf seine äufsere Erscheinung,
teils auf die holperige Form seines Vortrags zu beziehen sein,
denn der Inhalt seiner Predigt von dem Auferstandenen konnte,
bei ihrer stoisch-pantheistischen Färbung und ihrer Berufung
auf den Zeus-Hymnus des Kleanthes, zwar wohl befremden,
nicht aber Geringschätzung hervorrufen; nennt er sich doch
selbst 2. Kor. 11,6 ihi6xriQ xü Aoyw äX\' ou xf^ yvocöi.. — Zu
seiner weitern Ausbildung als Pharisäer wurde der junge
Paulus nach Jerusalem geschickt, wo er den Unterricht des
weisen Gamaliel genofs, des grofsen Greises, dessen Andenken
noch im Talmud fortlebte. Hier hat sich Paulus neben der
1. Des Paulus Leben und Schriften. 237
labbinischen Methode, welche auch in seinen Schriften nicht
zu verkennen ist, seine überall hervortretende genaue Kenntnis
der heiligen Überlieferung seines Volkes erworben, wenn auch
nicht in streng pliilologischem Sinne, da er sonst nicht einer
Allegorie zuliebe Gal. 4,25 die Hagär (das Neben weih Abrahams)
mit liähär (dem Berge Sinai) identifiziert haben würde. Paulus
gibt sich selbst das Zeugnis, Gal. 1,14: xpoexoTUTov sv xö
ccTspo? ^TjXoT-r]^ '57rdpxwv t^«v luaTpt.xöv [j.ou TCocpaScaeov, „ich
machte mehr Fortschritte im Judentum als viele meiner Alters-
genossen in meinem Geschlecht, da ich über die Mafsen ein
Eiferer w^ar für die Überlieferungen meiner Väter". Ob der
junge Student von Jesu und seinem Wirken irgendwelche Notiz
genommen hat, wissen wir nicht. Er selbst sagt 2. Kor. 5,16:
„Darum von nun an kennen wir niemand nach dem Fleisch;
und ob wir auch Christum gekannt haben nach dem Fleische,
so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr." Hiernach kann
man zweifeln, ob Paulus Jesum jemals gesehen hat. Während
der letzten AVoche von Jesu Leben wird wohl auch er als
guter Jude zum Osterfeste in Jerusalem gewesen sein, aber,
vertieft in das Studium des Mose und der Propheten, all dem
Lärm um ihn her vielleicht keine sonderliche Beachtung ge-
schenkt haben.
Inzwischen hatte der Glaube an die Auferstehung Jesu
das versprengte Häuflein seiner Jünger. wieder gesammelt und,
in dem Mafse wie er sich verbreitete, immer neue Anhänger
von nah und fern um die in Jerusalem versammelten Apostel
geschart. Hier oder in der Umgegend der Stadt mag es denn
auch gewesen sein, dafs in einer begeisterten Versammlung
mehr als fünfhundert Brüder den Auferstandenen zu sehen
glaubten. Auch ein Versuch, in der jungen, auf die nahe
Wiederkunft des Herrn hoffenden Gemeinde Gütergemeinschaft
einzuführen, scheint gemacht worden, und hier wie überall,
wo ein derartiges Unternehmen sich nicht auf einen ganz
engen Kreis beschränkte, im' Sande verlaufen zu sein. In-
zwischen wuchs die Bewegung in beunruhigender Weise an,
und das Synedrium fand es geraten, gegen dieselbe ein-
zuschreiten. Die Hauptführer, genannt werden Petrus und
238 YIIl. Leben und Lebre des Apostels Paulus.
Johannes, wurden vor den Hohen Rat gefordert und verwarnt,
vielleicht auch mit einer kurzen Gefängnisstrafe belegt, ohne
dafs es gelang, ihrem Predigen Einhalt zu tun; sie erklärten,
man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. Einer
der zur Pflege der Gemeinde ernannten Diakonen, Stephanus,
welcher sich am weitesten vorgewagt haben mochte, wurde
vor das Synedrium gefordert und beim Verlassen desselben
von der aufgeregten, wütenden Volksmenge vor die Stadt ge-
schleppt und durch Steinwürfe getötet. Dies war das Signal
zu einer allgemeinen Verfolgung der jungen Sekte; viele
brachten sich durch die Flucht in Sicherheit, und gerade
durch sie wurde der neue Glaube in immer weitern Kreisen
des jüdischen Landes und darüber hinaus verbreitet.
Jetzt war der Augenblick gekommen, wo Saulus, der
junge Pharisäer, die geheiligten Überlieferungen der Väter
gefährdet sah und sich entschlofs, mit der ganzen stürmischen
Energie seiner Jugend für ihre Rettung einzutreten. Er er-
wirkte sich Briefe vom Hohen Rat und die nötigen Mann-
schaften, um die Christen, Männer wie Weiber, in ihren
Häusern und Versammlungen aufzusuchen, vor Gericht zu
ziehen und ins Gefängnis zu werfen. Eben war er wieder auf
einer derartigen Expedition begriffen, als ilim in der Nähe
von Damaskus etwas ganz Unerwartetes begegnete.
Das Ereignis vor Damaskus, welches für die ganze Ent-
wicklung der christlichen Kirche von entscheidender Bedeutung
geworden ist, wird dreimal in der Apostelgeschichte, 9,3 — 9.
22,G — 11. 20,12—18, jedesmal in etwas anderer Variation erzählt.
Paulus selbst sagt Gal. 1,16 nur: Es gefiel Gott wohl, seinen
Sohn zu offenbaren Iv laoi „in mir" (was allerdings auch „an
mir" heifsen könnte). Ein äufseres Ereignis, etwa ein plötzlich
in der Nähe des Paulus herabfallender und ihn vorübergehend
blendender Blitz mag sich in seiner aufgeregten Phantasie als
eine Erscheinung Jesu dargestellt haben. Auf das Plötzliche
'des Ereignisses scheint auch der von Paulus 1. Kor. 15,8 ge-
brauchte Ausdruck £XTp«[jLa hinzudeuten. Von einer Umwand-
lung des Charakters (dergleichen es überhaupt nicht gibt)
kann natürlich keine Rede sein; es war dasselbe Einsetzen
der ganzen Persönlichkeit für eine grofse Aufgabe, welche den
1. Des Paulus Leben und Schriften. 239
Jüngling vor seiner Bekehrung zum eifrigen Verfolger und
nach derselben zum nicht weniger eifrigen Beförderer des
Christentums machte. Wohl mag die Standhaftigkeit, welche
der Glaube an den Auferstandenen den von ihm Verfolgten
und Gepeinigten einflöfste, nicht ohne Eindruck auf ihn ge-
blieben sein, wohl mag er auch schon in der strengen Be-
folgung des mosaischen Gesetzes keine rechte Ruhe für seine
Seele mehr gefunden haben, aber zum Durchbruche kam die
Sache plötzlich, indem aus Anlafs der äufsern Lichterscheinung
ihm ein inneres Licht darüber aufging, dafs dasjenige, was
er vor allem schätzte, die aufopfernde Hingabe der ganzen
Persönlichkeit an eine grol'se Sache, viel mehr auf selten der
von ihm verfolgten Christen als bei seinen Pharisäern zu
finden sei. Bei der zähen Beharrlichkeit aber, mit welcher
der Apostel sein ganzes Leben lang durch alle Hindernisse
hindurch einen einmal vorgesetzten Zweck zu verfolgen
pflegte, konnte seine Bekehrung nicht allmählich, sondern,
wenn überhaupt, dann nur plötzlich und mit einem Schlage
stattfinden, wie dies tatsächlich vor Damaskus der Fall ge-
wesen zu sein scheint. Hören wir, was der Apostel Gal.
1,15 — 19 -weiter über seine Bekehrung berichtet: ,,Da es aber
Gott wohlgefiel, der mich von meiner Mutter Leibe hat aus-
gesondert und berufen durch seine Gnade, dafs er seinen Sohn
ofl'enbarete in mir, dafs ich ihn durchs Evangelium verkündigen
sollte unter den Heiden, alsobald fuhr ich zu, und besprach
mich nicht darüber mit Fleisch und Blut, kam auch nicht
gen Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern
zog hin in Arabien und kam wiederum gen Damaskus. Dar-
nach über drei Jahre kam ich gen Jerusalem, Petrum zu
schauen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Der andern Apostel
aber sah ich keinen, ohne Jacobum, des Herrn Bruder."
Auffallend ist es zunächst, dafs Paulus nach dem Ereignis
nicht nach Jerusalem, von wo er gekommen war, und wo er
seinen Wohnsitz hatte, zurückkehrte, sondern von Damaskus,
nachdem er sich von dem Erlebten erholt hatte, nach Arabien
in die Einsamkeit ging, und es so wenig eilig hatte,- über
Jesum, von dem er offenbar sehr wonig wufste, nähere Er-
kundigung bei den Aposteln einzuziehen, dafs er erst nach
240 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
seiner Rückkehr aus Arabien, erst nachdem drei Jahre seit
seiner Bekehrung verstrichen waren, das Bedürfnis empfand,
den Petrus zu befragen und sich zu einem nur kurzen Besuch
von fünfzehn Tagen nach Jerusalem zu begeben. Auch dafs
er aufser Petrus und Jacobus, dem Bruder des Herrn, keinen
der andern Apostel besucht hat, ist bemerkenswert. Sicher-
lich wären sie ihm zu erreichen gewesen, wenn er darauf Wert
gelegt hätte. Den Schlüssel zu diesem sonderbaren Verhalten
liefert die höchst bedeutsame Stelle, Gal. 1,11 — 12: „Ich tue
euch aber kund, lieben Brüder, dafs das Evangelium, das von
mir gepredigt ist, nicht menschlich ist. Denn ich habe es
von keinem Menschen empfangen noch gelernet,
sondern durch die Offenbarung Jesu Christi." Hierdurch wird
auch die Annahme hinfällig, als habe Paulus in Damaskus
von Ananias, welcher Art auch die Berührung mit diesem ge-
wesen sein mag, wesentliche Belehrungen über das Christen-
tum empfangen. Er beruft sich darauf, seine eigene Offen-
barung zu haben, und diese ist ilmi aller . Wahrscheinlichkeit
nach in der Einsamkeit in Arabien zuteil geworden. Der
Christus des Apostels Paulus ist also von Haus aus nicht ein
historischer, sondern ein idealer Christus ; auf ihm aber beruht,
wie später zu zeigen sein wird, ihren dogmatischen Grund-
zügen nach die Christusgestalt des vierten Evangeliums und
mit ihm die der christlichen Kirche bis auf den heutigen Tag.
Die Bekehrung des Paulus fällt nach wahrscheinlicher
Berechnung in das Jahr 37, sein kurzer Besuch in Jerusalem
in das Jahr 41 p. C. Seine erste Missionsreise mit Barnabas
trat er nach Apostelgesch. 12 und 13 erst an nach dem 44
erfolgten Tode des Herodes Agrippa, also mutmafslich erst
45 p. C. Über die dazwischen liegenden vier Jahre berichtet
Paulus G^l. 1,21 — 24: „Danach kam ich in die Länder Syrien
und Cilicien. Ich war aber unbekannt von Angesicht den
christlichen Gemeinden in Judäa. Sie hatten aber allein ge-
höret, dafs, der uns weiland verfolgte, der prediget jetzt den
Glauben, welchen er weiland verstörete, und priesen Gott über
mir." Nach Apostelgesch. 11,25- — 26 wurde Paulus von Barna-
bas aus Cilicien nach Antiochien geholt, um in der neuen
dort entstandenen Gemeinde zu wirken. Von hier aus trat er.
1. Des Paulus Leben und Schriften. 241
ohne noch einmal in Jerusalem gewesen zu sein (Gal. 1,22,
anders Apostelgesch. 11,30), seine erste Missionsreise an, wahr-
scheinlich 45 p. C. Nicht genauer bestimmen läfst sich die
Zeit des Abenteuers in Damaskus, welches Paulus 2. Kor.
11,32 — 33 erzählt: „Zu Damaskus der Landpfleger des Königs
Aretas verwahrete die Stadt der Damasker, und wollte mich
greifen. Und ich ward in einem Korbe zum Fenster aus durch
die Mauer niedergelassen, und entrann aus seinen Händen."
Bei seinem ersten Aufenthalt in Damaskus nach der Bekehrung
kann es nicht, wie es nach Apostelgesch. 9,25 scheinen könnte,
gewesen sein, da Paulus damals noch keinen Grund zur Ver-
folgung gegeben hatte, auch nach einer solchen Flucht aus
Damaskus die Rückkehr dorthin nach seinem Aufenthalte
in Arabien, welche er selbst Gal. 1,17 bezeugt, nicht mög-
lich gewesen wäre. Es mufs also nach dieser Rückkehr aus
Arabien, aber noch während der Regierung des Aretas IV.
(bis 40 p. C.) geschehen sein, dafs Paulus durch seine Predigt
sich der Behörde verdächtig machte und heimlich entfliehen
mufste.
Vierzehn Jahre vor die Abfassung des zweiten Korinther-
briefes, also wahrscheinlich in das Jahr 44 und jedenfalls vor
die erste Missionsreise, fällt eine für die Gemütsart des Apostels
charakteristische Begebenheit, von der er 2. Kor. 12,1 — 5
spricht: „Es ist mir ja das Rühmen nichts nütze: doch will
ich kommen auf die Gesichte und OflFenbarungen des Herrn.
Ich kenne einen Menschen in Christo vor vierzehn Jahren
(ist er in dem Leibe gewesen, so weifs ichs nicht; oder ist
er aufser dem Leibe gewesen, so weifs ichs auch nicht; Gott
weifs es). Derselbige ward entzücket bis in den dritten
Himmel. Und ich kenne denselbigen Menschen (ob er in
dem Leibe, oder aufser dem Leibe gewesen ist, weifs ich
nicht; Gott weifs es). Er ward entzücket in das Paradies: und
hörete unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen
kann. Davon will ich mich rühmen: von mir selbst aber will
ich mich nichts rühmen, ohne meiner Schwachheit."
Seine erste Missionsreise unternahm Paulus, wie
schon bemerkt, wahrscheinlich im Jahre 45 mit Barnabas und
Johannes Marcus. Von Antiochien kamen sie nach Seleucia,
Peussen, Geschichte der Philosophie. II, ii. 16
242 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
fuhren zu Schiff von dort nach Salamis auf Cypern, durch-
wanderten die Insel bis Paphos, wo sie den Statthalter Servius
Paulus bekehrten, und setzten dann über nach Perge in Pam-
phylien, wo Johannes Marcus sie verliefs, um nach Jerusalem
zurückzukehren. Paulus und Barnabas zogen von Perge nach
Antiochien in Pisidien und weiter nordwärts bis Ikonium.
Ihre Erfolge an diesen beiden Orten regten die feindliche Partei
gegen sie auf, so dafs sie fliehen mufsten. Von Ikonium
wandten sie sich südöstlich nach Lystra und Derbe, kehrten
auf demselben Wege bis nach Perge zurück und gelangten
zu Schiff wieder nach Antiochien in Syrien, Das Verfahren
des Paulus auf dieser wie auf den folgenden Keisen bestand
darin, dafs er sich zunächst an die jüdischen Synagogen, wo
solche schon bestanden, wandte und den Juden verkündigte,
dafs der von ihnen erwartete Messias gekommen, in Jerusalem
gekreuzigt und begraben, aber von Gott wieder von den Toten
auferweckt worden sei. Diese Predigt pflegte dann eine
Spaltung in der jüdischen Gemeinde zu erregen; ein Teil der-
selben schenkte den Worten des Apostels Glauben und schlofs
sich zu einer. Christengemeinde zusammen, welche sich bald
weiter ausbreitete, während ein anderer Teil an dem Gedanken
eines gekreuzigten Messias grofsen Anstofs nahm und die Ver-
kündiger der neuen Lehre verfolgte. Mehr Anklang fand das
Evangelium unter der nichtjüdischen Bevölkerung. Was
Apostelgesch. 17,21 von den Athenern gesagt wird, dafs sie
auf nichts anderes gerichtet waren als etwas Neues zu hören,
das wird wohl von den Griechen im allgemeinen gelten dürfen.
Dazu kam, dafs der Glaube an die althellenischen Götter schon
lange stark erschüttert war, und dafs die Lehrsysteme der
Stoiker und Epikureer nur einen unvollkommenen Ersatz boten,
namentlich für die niedern Klassen der Bevölkerung, welche
daher dem christlichen Dogma mit seinem derben Realismus
ein wilhges Ohr lieh, zumal die neue Lehre mit sittlichem
Ernste und im Tone der tiefsten Überzeugung vorgetragen
wurde ; daher sie unter dem griechischen Volke leicht Wurzel
schlug, wiewohl „nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht
viel Gewaltige, nicht viel Edle" (1. Kor. 1,26) zu seinen An-
hängern zählten. —
1. Des Paulus Leben und Schriften. 243
Paulus mochte bei der gröfsern Welterfahrung, die er vor
den Üraposteln voraus hatte, wohl einsehen, dafs das Christen-
tum immer nur auf enge Kreise beschränkt bleiben würde,
wenn er seinen Bekennern aufser der unerläfslichen Zeremonie
der Taufe auch noch die lästige Prozedur der jüdischen Be-
schneidung auferlegte. Er tat daher den grofsen, bisher durch
keine Tradition gerechtfertigten Schritt, dafs er die Hellenen in
die christliche Gemeinde aufnahm, ohne ihnen den Durchgang
durch das jüdische Zeremoniell zuzumuten. Dieser Schritt
erregte in den judenchristlichen Kreisen in Jerusalem grofsen
Anstofs, „und etliche kamen herab von Judäa [nach Antiochien]
und lehrten die Brüder: Wo ihr euch nicht beschneiden lasset
nach der Weise Mose, so könnet ihr nicht selig werden"
(Apostelgesch. 15,1). Um die Streitfrage zu schlichten, begab
sich Paulus mit Barnabas und Titus 14 Jahre nach Pauli Be-
kehrung, also 51 p. C, nach Jerusalem, worüber er selbst
Gal. 2,1 fg. berichtet: „Darnach über vierzehn Jahr zog ich
abermal hinauf gen Jerusalem mit Barnabas, und nahm
Titus auch mit mir. Ich zog aber hinauf aus einer Offen-
barung, und besprach mich mit ihnen über dem Evangelio
das ich predige unter den Heiden; besonders aber mit denen,
die das Ansehen hatten, auf dafs ich niclit vergeblich liefe
oder gelaufen hätte. Aber es war auch Titus nicht gezwungen
worden, sich zu beschneiden, der mit mir war, ob er wohl
ein Grieche war. Denn da etliche falsche Brüder sich mit
eingedrungen, und neben eingeschlichen waren, zu verkund-
schaften unsere Freiheit, die wir haben in Christo Jesu, dafs
sie uns gefangen nähmen, wichen wir denselbigen nicht eine
Stunde, Untertan zu sein, auf dafs die Wahrheit des Evangelii
bei euch bestände. Von denen aber, die das Ansehen hatten,
welcherlei sie irgend gewesen sind, da liegt mir nichts an;
denn Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht. Mich
aber haben die, so das Ansehen hatten, nichts anderes ge-
lehret ; sondern im Gegenteil, da sie sahen, dafs mir vertrauet
war das Evangelium an die Vorhaut, gleichwie Petro das
Evangelium an die Beschneidung (denn der mit Petro kräftig
gewesen ist zum Apostelamt unter die Beschneidung, der ist
mit mir auch 'kräftig gewesen unter den Heiden) ; und erkannten
16*
244 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
die Gnade, die mir gegeben war, Jacobus und Kephas
und Johannes, die für Säulen angesehen waren (ol Soxcüvtsc
cxijAO!. stvat.); gaben sie mir und Barnabas die rechte Hand,
und wurden mit uns eins, dafs wir unter den Heiden,
sie aber unter der Beschneidung predigten; allein dafs wir
der Armen gedächten, welches ich auch fleifsig bin gewesen
zu tun."
Ermutigt durch diesen Erfolg, kehrte Paulus nach Antiochien
zurück und unternahm im folgenden Jahre eine zweite Missions-
reise, welche ihn weit in das Gebiet der hellenischen Welt
führte. Da er sich mit Barnabas über die Mitnahme des
Johannes Marcus, der sie auf der ersten Keise verlassen hatte,
nicht einigen konnte, trennte er sich von beiden, und wählte
Silas (Silvanus) zu seinem Begleiter.
Die zweite Missionsreise (52 — 54 p. C.) setzte da ein,
wo die erste aufgehört hatte, führte also zunächst durch Syrien
und Cilicien nach Derbe und Lystra, wo sich Timotheus an-
schlofs, und sodann durch Phrygien nach Galatien, wo Paulus
die Gemeinde der Galater gründete. Seine Absicht, in Mysien
und Bithynien zu predigen, gab er auf, weil „es ihm der hei-
hge Geist wehrte" (Sokrates würde gesagt haben, weil sein
8at,[ji,6vi,ov es ihm verbot), und kam nach Troas, wo ihm der
mazedonische Mann im Traume erschien und bat: „Komm
hernieder in Mazedonien und hilf uns!" (Apostelgesch. 16,9).
Von Troas begleitete ihn ein Augenzeuge (dessen Bericht
Apostelgesch. 16,10 — 17 eingeschoben ist, und welcher, wie
es scheint, weder Silas noch Timotheus, sondern ein Dritter
war) über Samothrake und Neapolis bis Philippi, wo der
Augenzeuge wieder verschwindet. Hier fanden Paulus und
Silas Aufnahme in dem Hause der Purpurkrämerin Lydia,
erregten aber durch ihr Auftreten Anstofs und wurden ins
Gefängnis gesetzt, aus welchem die Befehlshaber, nachdem
sie gehört hatten, dafs die Gefangenen römische Bürger seien,
sie mit allen Ehren hinausführten. Von Philippi begaben sich
die Reisenden über Amphipolis und Apollonia nach Thessa-
lonich. Hier fand die Predigt des Apostels trotz mehrwöchent-
lichem "Wirken bei den Juden nur wenig Anklang, um so mehr
bei den Griechen, worauf die Juden einen Aufstand erregten,
1. Des Paulus Leben und Schriften. 245
infolgedessen Paulus in der Nacht nach Beroea geleitet wurde ;
hier hatte er nicht nur bei den Griechen, sondern auch unter
den Juden gröfsere Erfolge, bis aus Thessalonich feindlich
gesinnte Juden eintrafen und auch hier einen Aufstand erregten,
infolgedessen Paulus von den Brüdern bis an das Meer und,
wie es scheint, zu Schiff bis nach Athen geleitet wurde, wo-
hin er Timotheus und Silas später nachkommen liefs. In
Athen folgte dann das Zusammentreffen des Paulus mit stoi-
schen und epikureischen Philosophen, sowie seine berühmte
Predigt auf dem Areopag von dem „unbekannten Gott". Nur
wenige schlössen sich ihm an, unter ihnen Dionysios Areo-
pagita, dessen Name uns später begegnen wird als des
vermeintlichen Urhebers gewisser christlich -neuplatonischer
Schriften, welche auf die Philosophie des Mittelalters von
grofsem Einflufs geworden sind. Von Athen wandte sich
Paulus, nachdem er, wie aus 1. Thess, 3,2 sich ergibt, Timo-
theus und Silas nach Thessalonich zurückgesandt hatte, zu-
nächst allein nach Korinth, wo er bei Aquila und Priscilla,
einem jüdischen, unter Claudius (oben S. 189) aus Rom ver-
triebenen Ehepaar, Wohnung nahm und ein Jahr und sechs
Monate verweilte. Zunächst scheint er sich bis zur Rückkehr
des Timotheus und Silas vorsichtig zurückgehalten und bei
seinen Wirtsleuten, welche Zeltmacher waren, das gleiche,
von ihm schon in der Jugend erlernte Gewerbe betrieben zu
haben. Nach und nach trat er mit der Predigt von Christus
hervor, fand aber bei den Juden so wenig Beifall, dafs er
erklärte, es sei nicht seine Schuld, wenn er fortan lieber als
an seine Stammesgenossen sich an die Heiden wenden würde,
denen er sodann, durch ein Traumgesicht ermutigt, frei und
ohne Scheu das Evangelium verkündigte. Die Juden ver-
suchten, ihn bei dem Prokonsul Gallio, dem Bruder des
Philosophen Seneca, zu verklagen, wurden aber von ihm
abgewiesen, so dafs Paulus ungestört seinem Missions-
werke unter den Griechen obliegen konnte. In diese Zeit
des anderthalbjährigen Aufenthalts in Korinth fällt auch
wahrscheinlich die Abfassung der beiden Briefe an die Thessa-
lonicher, welche man auf Grund der, wie so oft, unzuver-
lässigen Nachrichten der Apostelgeschichte ohne Not verdächtigt
246 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
hat.* Auch Apostelgesch. 17,15 hegt in dem &)Q xo(.yj.aTC(. noch
die Andeutung, dafs Silas und Timotheus schon in Athen zu
Paulus stiefsen, aber von dem um das Schicksal der jungen Ge-
meinde besorgten Apostel nochmals nach Thessalonich gesandt
wurden und, erst längere Zeit darauf von dort zurückkehrend,
mit Paulus in Korinth zusammentrafen. Auch die Idee des Anti-
christ im zweiten Briefe ist nicht befremdlich, da Paulus sie
ebenso wie Jesus im Buche Daniel vorgezeichnet fand (vgl.
Daniel 9,27 und Matth. 24,15 mit 2. Thess. 2,4: öars auxov
Von Korinth fuhr Paulus mit Aquila und Priscilla nach
Ephesus, wo er dieselben zui;jückliers , um zum Feste nach
Jerusalem zu fahren. Vorher hatte er in der Synagoge eine
Unterredung mit den Juden, machte sich aber bald los mit
dem Versprechen wiederzukommen. Was er mit den Juden
verhandelt hat, wissen wir nicht. Da sie später nur von der
Taufe Johannis wufsten, so müssen wir annehmen, dafs er
aus Mangel an Zeit es vermied, ihnen Christum zu predigen,
indem er es Aquila und Priscilla überliefs, den Boden für
sein künftiges Wirken vorzubereiten. Dies mufs auch von
ihnen geschehen sein, da sie später ja den Apollos aus einem
Johannesjünger zu einem Christusjünger machten, so dafs er
von ihnen und andern Brüdern (d5sA^o[ Apostelgesch. 18,27)
Empfehlungen an die Gemeinde in Achaia erhalten konnte.
Paulus selbst schiffte sich nach Cäsarea ein, wird dann zum
Feste in Jerusalem gewesen sein (wiewohl die Apostelgeschichte
vergifst, es zu erwähnen) und kehrte von dort nach Antiochia
in sein Standquartier zurück, von wo er im folgenden Jahre
seine dritte und letzte Missionsreise unternahm.
Die dritte Missionsreise (55—58 p. C.) führte Paulum,
wir wissen nicht mit welchen Begleitern, zunächst nach
* Dies war schon meine Meinung, als ich, im Frühjahr 1890, in Sa-
loniki weilend, an den Vertreter der neutestamentlichen Exegese zu Kiel
das scherzhafte Epigramm richtete:
Nach Thessalonich schrieb Paulus der Gröfsere zweimal,
Wenn auch die böse Kritik dieses wie alles benagt.
Aus Thessalonich schreibt Paulus der Kleinere heute. —
Für ein kanonisches Werk kommen wir leider zu spät.
1. Des Paulus Leben und Schriften. 247
Galatien und Phrygien, um die dort bestehenden Gemeinden zu
stärken, und weiter nach Ephesus, wo er zwei Jahre und
drei Monate verweilte. Dort scheinen die Verhältnisse trotz
dem vorherigen Wirken des Aquila und anderer noch sehr
wenig vorbereitet gewesen zu sein. Zunächst gelang es dem
Paulus nur, in Nachbildung des Verfahrens Jesu, zwölf Jünger
aus Johannesjüngern zu Jesusjüngern zu machen. Nach diesem
ersten Erfolge lehrte er drei Monate lang in der Synagoge^
fand aber so starken Widerspruch, dafs er mit seinen An-
hängern dieselbe verliefs und die Schule (a^oXT]) eines gewissen
Tyrannos zum Mittelpunkte seiner Wirksamkeit machte. Hier
gewann er während der übrigen beiden Jahre unter Juden
und Griechen einen grofsen Anhang. Eine neue Störung drohte,
als der Goldschmied Demetrius, welcher silberne Modelle des
Tempels der Artemis verfertigte, durch die Predigt von dem
Gott, der nicht in Tempeln wohnt, sein Gewerbe gefährdet
sah. Er erregte in Verein mit seinen Handwerksgenossen
einen Volksaufstand, welcher von dem Stadtsekretär (Ypatj.-
}j.aT£{i(;) durch gütiges Zureden nur mit Mühe gedämpft wurde.
Welche Rolle Paulus dabei spielte, ist nicht klar. Nach der
Apostelgeschichte sollen die ihm wohlwollenden höhern Be-
amten ihn zurückgehalten haben, sich unter die aufgeregte
Volksmenge zu begeben. Paulus selbst aber erwähnt (1. Kor.
15,32), dafs er in Ephesus mit den wilden Tieren gekämpft
habe (i'^Tjpt.ojjLdxTjaa). Da bei einem römischen Bürger von
einer Verwendung in Gladiatorenkämpfen keine Bede sein kann,
so scheint er mit diesem etwas hyperbolischen Ausdruck nur
sein Ankämpfen gegen den Aufruhr der tobenden Volksmenge
zu bezeichnen, in welchen er mehr verstrickt gewesen sein
mag, als es nach der Darstellung der Apostelgeschichte den
Anschein hat.
Aus dem mehrjährigen Aufenthalt des Apostels zu Ephesus
stammen nach wahrscheinlicher Annahme zwei seiner wich-
tigsten Briefe, der an die Galater und der erste Brief an die
Korinther.
Die Gemeinde in Galatien (fraglich, ob in dessen Haupt-
stadt, dem durch den . Kybelekult berühmten Pessinus) war
von Paulus auf der zweiten Missionsreise begründet und auf
248 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
der dritten neu gestärkt worden. Sie bestand vorwiegend aus
Heidenchristen. Nachdem aber Paulus sie verlassen hatte, um
nach Ephesus zu gehen, waren unter den Galatern juden-
christliche Parteigänger aufgetreten, welche das Gewissen der
Gemeinde verwirrten, indem sie die Notwendigkeit der Be-
schneidung behaupteten und das Ansehen des Apostels Paulus
zu untergraben suchten. Gegen beides wendet sich der Galater-
brief, indem er den Unterschied zwischen dem mosaischen
Gesetze und der evangelischen Freiheit mit Schärfe aus-
einandersetzt und dabei höchst wertvolle Mitteilungen über
Pauli Vorleben und sein Verhältnis zu den übrigen Aposteln
macht.
Auch der erste Brief an die Korinther ist in Ephesus
wahrscheinlich gegen Ende des Aufenthalts dort geschrieben
worden im Verfolge eines vorhergegangenen, aber verlorenen
Briefwechsels zwischen Paulus und den Korinthern. Unter
diesen waren Spaltungen eingetreten, indem die von Paulus
Bekehrten sich nach ihm nannten, andere nach dem die christ-
liche Lehre mit gröfserer Beredsamkeit vertretenden Apollos,
noch andere nach Petrus, wahrscheinlich we il sie mit ihm und
seiner Partei den Genufs des Opferfleisches verwarfen, noch
andere endlich nach Christus, vermutlich weil sie die im
Schwange gehenden Gnadengaben, wie Zungenreden und
Prophezeien, seiner unmittelbaren Eingebung zu verdanken
glaubten. Demgegenüber mahnt der Apostel zur Eintracht
und stellt in dem wundervollen dreizehnten Kapitel die Liebe
hoch über alle andern Betätigungen der christlichen Gesinnung.
Daneben geben ihm Unzucht und Schwelgerei, wie sie in der
reichen und üppigen Stadt herrschten, Anlafs, seine Ansichten
über das eheliche und das bei der Nähe des Weltendes vor-
zuziehende ehelose Leben zu entwickeln, sowie auch, gegen-
über der bei den Liebesmahlen eingerissenen Unordnung, die
wahre Bedeutung des Abendmahls zu erörtern und den auf-
gekommenen "Zweifeln über die Auferstehung der Toten durch
Hinweisung auf Jesu Auferstehuno; nachdrücklich zu begegnen.
Von Ephesus wandte sich der Apostel nach Norden und
gelangte auf dem Landwege (wie der hier sehr ungenügende
Bericht der Apostelgeschichte vermuten läfst) nach Mazedonien
1. Des Paulus lieben und Sclirifteu. 249
und von dort nach Hellas, wo er drei Monate verweilte, wahr-
scheinlich in Korinth. Vorher aber schrieb er aus Mazedonien,
mutmarslich aus Philippi, den zweiten Brief an die Korin-
ther, welcher bei seiner etwas ungeordneten Darstellung den
Eindruck macht, dafs er unter Störungen auf der Reise verfafst
wurde, und eine sehr gedrückte Stimmung verrät. Zu dieser
trugen nicht wenig bei die Nachrichten aus Korinth, wo, wie
es scheint, „falsche Apostel und trügliche Arbeiter" (2. Kor.
11,13) geschäftig waren, das Ansehen des Paulus herabzu-
setzen. Den Höhepunkt des Briefes bildet die Selbstverteidigung,
welche der Apostel 2. Kor. 11,22 — 28 ilirem Treiben entgegen-
setzt: „Sie sind Ebräer, ich auch. Sie sind Israeliter, ich
auch. Sie sind Abrahams Samen, ich auch. Sie sind Diener
Christi (ich rede törlich), ich bin wohl mehr. Ich habe mehr
gearbeitet, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin öfter ge-
fangen, oft in Todesnöten gewesen. Von den Juden habe ich
fünfmal empfangen vierzig Streiche weniger einen. Ich bin
dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiff-
bruch erlitten, Tag und Nacht habe ich zugebracht in der
Tiefe (des Meeres). Ich habe oft gereiset, ich bin in Fähr-
lichkeit gewesen zu Wasser, in Fährlichkeit unter den Mör-
dern, in Fährlichkeit unter den Juden, in Fährlichkeit unter
den Heiden, in Fährlichkeit in den Städten, in Fährlichkeit
in der Wüste, in Fährlichkeit auf dem Meer, in Fährlichkeit
unter den falschen Brüdern, in Mühe und Arbeit, in viel
Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und
Blölse, ohne was sich sonst zuträgt, nämlich, dafs ich täglich
werde angelaufen und trage Sorge für alle Gemeinden."
Neben den äufsern Drangsalen, von welchen diese Stelle
Zeugnis gibt, wurde dem Apostel Paulus sein tapferes Wirken
noch erschwert durch ein körperliches Leiden, auf welches er
wiederholt anspielt. So redet er Gal. 4,14 von den Anfech-
tungen, die er leide nach dem Fleische, und sagt am Schlüsse
des Briefes 6,17: „Hinfort mache mir niemand weiter Mühe;
denn ich trage die Malzeichen des Herrn Jesu an meinem
Leibe." Noch etwas deutlicher redet er darüber 2. Kor. 12,7 — 9 :
„Auf dafs ich mich nicht der hohen Oifenbarung überhebe,
ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans
250 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf dafs ich mich nicht
überhebe. Dafür ich dreimal den Herrn geflehet habe, dafs
er von mir wiche. Und er hat zu mir gesagt : Lafs dir an
meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen
mächtig."
Während seines mehrmonatlichen Aufenthalts in Korinth
hat der Apostel Paulus allem Anschein nach den wichtigsten
seiner Briefe, den an die Kömer, verfafst und durch Phöbe,
eine Christin aus dem benachbarten Kenchreä, übersandt.
Wann und wie die Christengemeinde in Rom entstanden war,
ist nicht bekannt. Vielleicht war von Antiochien in Zusammen-
hang mit den Handelsverbindungen dieser Stadt mit Rom die
Saat des Christentums dorthin importiert worden, jedenfalls
vor dem die Juden aus Rom verbannenden Edikt des Kaisers
Claudius (oben S. 189), dessen Datum wir leider nicht kennen.
(Nach Orosius ad paganos 7,6,15 soll es im neunten Jahre
des Claudius, also 50 p. C. gewesen sein.) Paulus spricht in
dem Briefe die Hoffnung aus, auf einer Reise nach Spanien
die Brüder in Rom begrüfsen zu können, eine Hoff'nung, welche
einige Jahre später, als er als Gefangener nach Rom deportiert
wurde, in anderer Weise in Erfüllung ging, als er es erwartet
hatte. Im übrigen enthält dieser Brief, da die Empfänger dem
Apostel noch unbekannt waren, weniger persönliche Herzens-
ergüsse als die Briefe an die Galater und Korinther; um so
wichtiger ist er für das Lehrsystem des Apostels, einerseits
voll von psychologischen Tief blicken, andererseits aber reich
an fast unerträglichen Härten, wie sie neben der auch hier
stark hervortretenden rabbinisierenden Methode besonders
entspringen aus dem Zusammenstofs der sehr richtigen ethi-
schen Erkenntnisse des Apostels mit seinem althebräischen
Theismus.
Von Korinth wollte Paulus zu Schiß" nach Syrien fahren,
änderte aber, da er Grund hatte, Nachstellungen von den Juden
zu fürchten, diesen Plan und zog, von mehrern Begleitern
umgeben, nach Philippi. Für die weitere Reise von dort bis
nach Jerusalem ist in die Apostelgeschichte (Apostelgesch.
20,5 — 21,17) das Reisejournal eines Augenzeugen eingelegt,
welches Troas, Assos, Mitylene, Chios, Samos, Milet, Kos,
1. Des Paulus Leben und Schriften. 251
Khodos, Patara, Tyros, Ptolemais und Cäsarea als Stationen
verzeichnet und berichtet, wie der Apostel die Ältesten der
Gemeinde von Ephesus nach Milet beschied, um in längerer
Kede von ihnen Abschied zu nehmen. Diese Eede, so g-ehalt-
voll sie ist, macht doch mit ihren allzudeutlichen Anspielungen
auf das bevorstehende Schicksal des Apostels und mit den
zahlreichen Keminiszenzen an Stellen paulinischer Briefe, auf
denen eben ihre Schönheit beruht, den Eindruck, erst hinter-
her, sei es von dem Augenzeugen oder einer andern Hand,
komponiert worden zu sein.
In dem Mafse wie Paulus durch sein Wirken unter den
Heiden in Kleinasien, Mazedonien und Griechenland Erfolge
errungen hatte und berühmt geworden war, mufste auch der
Hafs der Juden gegen ihn, der die Beschneidung mitsamt dem
mosaischen Gesetze für antiquiert erklärte, sich steigern, und es
war für ihn kein geringes Wagnis, auf das Pfingstfest 58 p. C.
nach Jerusalem zu gehen. Schon von Korinth aus hatte er die
Römer ermahnt, für ihn zu beten, ,,auf dafs er errettet werde
von den Ungläubigen in Judäa" (Rom. 15,31), hatte auch aus
Furcht vor den Nachstellungen der Juden von Korinth aus
den Seeweg vermieden und den Umweg über Mazedonien
gewählt. Auch in Milet mag er seinen trüben Ahnungen
Worte geliehen haben , und kaum war er in Tyros ans Land
gestiegen, als die Brüder ihn vor den Gefahren einer Reise
nach Jerusalem warnten. Auch der aus Judäa kommende und
mit Paulus in Cäsarea zusammentreffende Agabus brauchte
eben kein grofser Prophet zu sein, um dem Paulus die Ge-
fahren, welche seiner warteten, nach Art der alten Propheten
durch eine drastische Manipulation vorauszusagen. Den in
Jerusalem wohnenden Christen konnte die Erbitterung nicht
unbekannt sein, welche unter den Juden gegen Paulus bestand,
und so war es mindestens höchst unklug und zeugte von
geringer Welterfahrung, als der alte Jacobus ihm riet, sich
im Tempel einer Reinigungszeremonie zu unterwerfen. Vier
arme Teufel von Judenchristen hatten ein Nasiräatsselübde
unternommen, welches darin bestand, dafs man für eine be-
stimmte Zeit sich berauschender Getränke enthielt und das
Haar wachsen liefs, welches erst am Schlufs des Gelübdes
252 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
im Tempel vom Priester abgeschnitten und dem Herrn geweiht
wurde, wobei zugleich ein Lamm als Brandopfer, ein Schaf
als Sündopfer und ein Widder als Dankopfer sowie ver-
schiedene Ölkuchen und Ölfladen darzubringen waren. Da
die Sache ziemlich kostspielig war, so sollte Paulus, um seine
Anhänglichkeit an das Judentum zu dokumentieren, auf den
Rat des Jacobus sich, was gesetzlich zulässig war, den vier
armen Nasiräern für die Dauer ihres Gelübdes anschliefsen
und die Kosten für sie tragen, wozu dann wohl ein Teil der
in Mazedonien und Griechenland gesammelten Liebesgaben
verwendet werden mochte. Paulus, der bei eiserner Festig-
keit in Verfolgung seines Hauptzweckes doch in allem Neben-
säclilichen äufserst tolerant und gefügig, der den Juden ein
Jude und den Griechen ein Grieche war, unterzog sich um
des lieben Friedens willen dieser Zeremonie, und das war sein
Verderben. Man entdeckte ihn im Tempel, behauptete fälsch-
lich, er habe einen Griechen mit sich in den Tempel genommen,
zerrte ihn auf die Strafse, und er wäre von der wütenden
Volksmenge gelyncht worden, hätte nicht zum Glück die
römische Miliz interveniert und ihn durch den schreienden
und tobenden Pöbelhaufen hindurch auf den Armen in das
bei der Burg Antonia befindliche Feldlager getragen und vor
den Militärtribunen gebracht. Da Claudius Lysias, der Tribun
der in Jerusalem liegenden Kohorte, angesichts der heftigen
Anklagen des Volkes und seiner Leiter gegen einen Mann,
an dem er kerne Schuld finden konnte, sich nicht zu raten
wufste, auch von einer Verschwörung zu dem Zwecke, Paulum
hinterlistig zu töten, gemunkelt wurde, liefs er den Gefangenen
bei der Nacht unter sicherm Geleite nach Cäsarea zum Pro-
kurator Felix bringen, welcher, obwohl nur ein Freigelassener
des Kaisers Claudius, durch dessen Gunst seine verantwortungs-
volle Stelle im Jahre 52 p. C. erlangt hatte und seitdem bis
zu seiner Abberufung im Jahre 60, wie Tacitus berichtet (oben
S. 163), „in jeder Art von Grausamkeit und Habgier das ihm
verliehene Herrscherrecht mit sklavischer Gesinnung ausübte".
In seiner Behandlung des Paulus treten diese Charakterzüge,
abgesehen davon, dafs er vielleicht Geld von ihm für seine
Freilassung erwartete, nicht hervor. Er wies eine fünf Tage
1. Des Paulus Leben und Schriften. 253
später ankommende Deputation der Jerusalemer Juden bis auf
die Zeit ab, wo er den Lysias verhört haben würde, hel's zu-
sammen mit seinem Weibe Drusilla, welche eine Jüdin war,
den Apostel wiederholt sich vorführen und behielt ihn während
der zwei letzten Jahre seiner Prokuratur in milder Haft, welche
es den Freunden des Gefangenen ermöglichte, ungehindert mit
ihm zu verkehren. Bei seiner Abberufung, wahrscheinlich im
Jahre 60, übergab er, um die Juden, welche eine Anklage
gegen ihn beim Kaiser Nero in Rom vorbereiteten, nicht noch
mehr gegen sich aufzubringen (Apostelgesch. 24,27) , den
Apostel seinem Nachfolger, dem rechtlich gesinnten, sein
schweres Amt mit einer etwas pedantischen Beamtentreue ver-
waltenden Porcius Festus. Sobald dieser nach Jerusalem
kam, erneuerten die Juden ihre Anklagen gegen Paulus. Festus
beschied sie nach Cäsarea. Als sie dort erschienen, ihre An-
klagen wiederholten, und Festus vorschlug, die Verhandlung
vor dem Synedrium in Jerusalem vorbehaltlich seiner Ent-
scheidung führen zu lassen, lehnte dies Paulus mit Berufung
auf sein römisches Bürgerrecht ab, worauf Festus mit bureau-
kratischer Korrektheit entschied: „Auf den Kaiser hast du
dich berufen, zum Kaiser sollst du ziehen." * Auch ein Verhör
des Apostels in Gegenwart des Königs Agrippa und der ihn
begleitenden Berenike, welches beider Herzen für den Apostel
gewann, konnte an dieser Entscheidung nichts mehr ändern;
es war beschlossene Sache, den Apostel behufs seiner Ver-
antwortung nach Rom zu senden. Man war in Cäsarea froh,
in dieser schwierigen Sache einen gangbaren Ausweg gefunden
zu haben.
Aus seiner Gefangenschaft schrieb Paulus, zweifelhaft, ob
teilweise noch aus Cäsarea oder schon aus Rom, die vier
Briefe an den Philemon, die Kolosser, Epheser und Philipper,
deren Echtheit freilich nicht durchweg gesichert ist.
* Vgl. Mommsen, Römisclies Strafreclit, S. 243: „Bei dem Kapital-
delikt hat der Statthalter nach Feststellung einer derartigen Anschuldigung
sich der formalen Urteilsfällung zu enthalten und den Angeschuldigten an
die allein zur Fällung eines Todesurteils über den römischen Bürger kom-
petenten hauptstädtischen Gerichte, insonderheit das Kaisergericht zu ver-
schicken."
254 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
Unzweifelhaft, wenn auch nicht unbezweifelt, echt ist der
reizende kleine Brief an den Philemon, einen wohlhabenden
Bürger aus Kolossä, der, wahrscheinlich in Ephesus, von
Paulus für das Christentum gewonnen worden war. Diesem
war ein Sklave, namens Onesimos, entlaufen, welcher des
kümmerlichen Lebens in der Freiheit so überdrüssig geworden
war, dafs er sich nach dem stets gedeckten Tische seines
Herrn zurücksehnte. In seiner Not wandte er sich an Paulus,
der ihn bekehrte und ihn als einen Bruder- in Christo durch
Tychikos an seinen Herrn mit diesem nicht ohne einen An-
flug von Humor geschriebenen Begleitschreiben zurücksandte,
welches nicht nur auf den milden, versöhnlichen Sinn des
Apostels ein schönes Licht wirft, sondern auch für die sich
vorbereitende Stellung des Christentums zur Sklaverei von
Bedeutung ist.
Mit derselben Gelegenheit wie das Schreiben an Philemon
sandte Paulus durch Tychikos auch den Brief an die Ko-
losser, eine junge Christengemeinde, welchß dem Apostel
persönlich unbekannt war, da er bei seiner Reise durch
Phrygien das etwa 200 Kilometer östlich von Ephesus liegende
Kolossä nicht besucht zu haben scheint. "Wenn in diesem
Briefe im Vergleich mit den frühern die Christologie des
Paulus eine Erweiterung erfahren hat, welche sich schon der
des vierten Evangeliums annähert, so liegt in dieser Fort-
entwicklung, da sie durchaus in der Richtung des paulinischen
Denkens sich bewegt, kein ausreichender Grund dafür, diesen
kurzen, aber v^ertvolle Gedanken enthaltenden Brief dem
Paulus abzusprechen.
Bedenklicher steht vor dem Forum der neuern Kritik die
Sache des Briefes an die Epheser. Sehr auffallend und
ohne Beispiel in der Briefliteratur des Paulus ist zunächst
die starke Abhängigkeit dieses Briefes in Gedankengang und
Wortlaut von dem Kolosserbrief, nur dafs dessen Gedanken
hier weiter, um nicht zu sagen breiter, ausgeführt werden-
Möglich wäre allerdings, dafs der Apostel, wie es uns allen
begegnet, in zwei zu gleicher Zeit geschriebenen Briefen die-
selben Gedanken und Wendungen wiederholt hätte, um sie
an verschiedene Empfänger zu richten. Aber wer sind diese
1. Des Paulus Leben und Schriften. 255
Empfänger? A-ls solche nennt der Brief nicht nur in der apo-
kryphen Unterschrift, sondern auch im ersten Verse des Textes
selbst die Epheser ; aber wenn man die oben besprochenen
nahen Beziehungen des Apostels zu der Gemeinde zu Ephesus
erwägt, so sollte man, wie es so schön in den Korintherbriefen
hervortritt, auch hier eine nähere Bezugnahme auf das per-
sönliche Verhältnis des Apostels zu der Gemeinde von Ephesus
und den dort gemachten Erfahrungen erwarten und nicht blofse
Allgemeinheiten, wie sie an jede christliche Gemeinde gerichtet
werden konnten. Dazu kommt, dafs der Brief nur Heiden-
christen im Auge zu haben scheint, während in Ephesus doch
auch die Judenchristen einen erheblichen Prozentsatz der Ge-
meinde bildeten. Dies scheint man schon im Altertum gefühlt
zu haben, daher manche Handschriften die Worte I, 1 Iv 'E(piai>y
auslassen, wodurch aber das vorhergehende xolc, ohai unerklär-
bar sein würde. Anerkannt aber mufs werden, dafs dieser
Brief durchaus in paulinischem Geiste geschrieben ist, welcher
hier bestimmter und deutlicher als in manchen andern Briefen
zum Ausdruck kommt. Daher mufs dieser Brief, wenn nicht
den Paulus selbst, jedenfalls eine ganz unter dem Einflüsse
seiner Denkungsart stehqnde Persönlichkeit zum Verfasser
haben und kann ohne Bedenken bei Darstellung der Welt-
anschauung des Apostels mitbenutzt werden.
Nicht so ergiebig an dogmatischen Aufschlüssen wie der
Epheserbrief, aber um so reicher an Mitteilungen über Gemüts-
stimmung und äufsere Lage des Apostels ist der sicher aus
■Rom geschriebene Brief an die Philipper, dessen Über-
bringer Epaphroditus von Philippi mit einer Unterstützung zu
dem gefangenen Apostel gesandt worden war und mit diesem
Briefe nach Philippi zurückkehren sollte. Bei aller Bereit-
willigkeit zu sterben und bei Christo zu sein, hegt Paulus
dennoch die Hoffnung, freigelassen zu werden und seine Freunde
in Mazedonien w^iederzusehen. Für seine Anschauungen aber
ist es sehr bedeutsam, dafs er 2,12 — 13 die Philipper auf-
fordert, ihre Seligkeit mit Furcht und Zittern zu schaffen, und
als Begründung scheinbar unlogisch hinzufügt: „Denn Gott
ist es, der in euch wirket beide, das Wollen und das Voll-
bringen."
256 'VIU. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
Der Brief an die Philipper ist das letzte Dokument, welches
wir von der Hand des Apostels besitzen, denn die sogenannten
Pastoralbriefe, die beiden Briefe an Timotheus, welche
an diesen nach Ephesus, und der Brief an Titus, welcher
an denselben nach Kreta, beide als Organisatoren der dort
befindlichen Gemeinden, gerichtet sind, lassen sich auf keine
Weise in das uns bekannte Schema des Lebens des Apostels
einreihen, setzen zudem eine Entwicklung dieser Gemeinden,
sowie ein Eindringen judenchristlicher und sogar gnostischer
Häretiker voraus, wie es beides erst nach längerm Bestände
der Gemeinden möglich war. Können daher auch diese drei
Briefe nicht dem Paulus selbst zuerkannt werden, so sind sie
doch aus seiner Schule hervorgegangen, mögen vielfach auf
mündliche oder schriftliche Äufserungen des Apostels zurück-
gehen und sind in jedem Falle wertvolle Zeugnisse für das
geistige Leben in den ersten Christengemeinden. Dafs man
aber diese Dokumente in der Form abfafste, als seien sie von
Paulus selbst geschrieben, und sie mit allerlei Reminiszenzen
an sein Wirken und das seiner Mitarbeiter ausstattete, ist als
ein Akt der Pietät gegen den grofsen Lehrer aufzufassen und
nicht mit dem gehässigen Namen einer Fälschung zu belegen,
denn das Altertum dachte und empfand wie in vielen andern
Fällen so auch in diesem Punkte anders, als wir im Zeitalter
der kritischen und hyperlvritischen Epigonen zu denken und
zu empfinden gewohnt sind.
Aus dem Leben des Apostels Paulus bleibt uns nur noch
übrig, seine Reise von Cäsarea nach Rom als römischer'
Gefangener zu betrachten, welche die letzte Reise in seinem
tatenreichen Leben werden sollte und über die wir in den
beiden letzten Kapiteln der Apostelgeschichte den auch für
die Kenntnis des antiken Seewesens höchst wertvollen Bericht
eines Augenzeugen besitzen.
Im Spätsommer wahrscheinlich des Jahres 61 wurde Paulus
mit mehrern andern Gefangenen dem Centurio Julius, welcher
dem Apostel wohlwollte, übergeben, und begann die Reise
auf einem Schiff aus Adramyttium in Mysien, welches die
Reisenden nur ein Stück des Weges bringen konnte, vermut-
lich weil es auf der Heimreise nach Mysien begriffen war.
1. Des Paulus Ijeben und Schriften. 257
Die Fahrt ging zunächst nach Sidon, wo es dem Paulus ver-
gönnt war, einige Zeit seine Freunde zu besuchen, dann
zwischen Cypern und Cihcien durch nach Myra in Lykien,
Hier wurden die Gefangenen auf ein anderes Schiff verladen,
welches von Alexandria kam und nach Italien fahren wollte.
Das Schiff war mit Waren und Menschen gefüllt; aufser der
Bemannung befanden sich an Bord eine Abteilung römischer
Soldaten, sodann Paulus mit den übrigen Gefangenen und
wohl auch noch andere Keisende, namentlich auch solche,
welche freiwillig dem Apostel das Geleit nach Eom gaben,
im ganzen 276 Seelen. Infolge widriger Winde ging die Fahrt
nur langsam vonstatten, und die Zeit der Äquinoktien (der
vTjCTita, des Fastens am grofsen Versöhnungstage) war schon
vorüber, als das Schiff endlich Kreta erreichte und in einen
kleinen Hafen an der Südseite der Insel östlich vom Vor-
gehirge Matala einlief, welcher wahrscheinlich euphemistisch
damals wie neute noch den Namen KaXol ALfj-evs?, „Schöner
Hafen", führte. Paulus riet, hier zu überwintern, aber der
Kapitän fand die Bucht nicht dazu geeignet und hoffte bei
dem herrschenden Südwind noch den Hafen der Stadt Phoinix
(vielleicht des heutigen Lutro) im Westen der Südseite Kretas
zu erreichen. Aber nach begonnener Fahrt schlug der Wind
um nach Nordost und wurde so stürmisch, dafs man anfing
die Herrschaft über das Schiff zu verlieren; mit Mühe gelang
es zwischen Kreta und der kleinen Insel Klauda (jetzt Gavdos)
das am Schiff angebundene Rettungsboot heraufzuziehen, dann
trieb das Schiff, vom Sturme gejagt, nach Südwesten, und
man reffte die Segel, da man fürchten mufste, auf die ^upTic,
die Sandbänke der afrikanischen Küste, getrieben zu werden.
Vierzehn Tage und Nächte seit der Abfahrt von Kreta war
das Schiff ein Spiel des Sturmes und der Wellen, alle glaubten
sich verloren, aber Paulus, gehoben durch die moralische
Kraft, welche sich ihm als eine göttliche Erscheinung dar-
stellte, sprach den Mitreisenden Mut ein, begann vor ihren
Augen zu essen und ermunterte sie, seinem Beispiel zu folgen.
In der vierzehnten Nacht wurde man durch Lotung die Nähe
eines Landes gewahr und warf die Anker aus, um nicht auf
den Strand geworfen zu werden. Bei Tagesanbruch sah man
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii- 17
258 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
Land vor sich und eine Bucht, welche man nach Kappung
der Anker und Losbindung des Steuerruders durch Segeln
zu erreichen hoffte. Aber der Wind trieb das Schiff auf eine
vorspringende Landzunge, auf welcher das Vorderteil strandete,
während das Hinterteil durch die Gewalt der Wellen abbrach.
Der Absicht, die Kriegsgefangenen zu töten, weil man einen
Fluchtversuch befürchtete, widersetzte sich der Centurio, um
Paulum zu retten, und erlaubte den des Schwimmens Kundigen
ans Land zu schwimmen, während die übrigen sich auf Planken
und andern Schiffstrümmern retteten, so dafs, während das
Schiff selbst ein Raub der Wellen wurde, alle Mitreisenden
unversehrt ans Land gelangten. Von den Bewohnern der
Insel Malta, denn an dieser waren sie gescheitert, wurden die
von Entbehrung, Kälte und Nässe erschöpften Schiffbrüchigen
freundlich aufgenommen und gepflegt, und Paulus wufste sich
während des dreimonatlichen Aufenthalts auf der Insel der
Kranken anzunehmen und durch Gebet und ermutigenden Zu-
spruch ihre Genesung zu befördern. Als die bessere Jahres-
zeit eingetreten war, wurden die Gefangenen auf einem alexan-
drinischen Schiffe über Syrakus und Rhegium in glücklicher
und schneller Fahrt nach Puteoli gebracht, von wo sie nach
siebentägigem Aufenthalt und Verkehr mit den auch dort
schon angesiedelten Christen wahrscheinlich zu Lande auf der
Via Appia nach Rom gelangten. Die römischen Christen
kamen dem Paulus teils bis Forum Appium, teils bis Tres
Tahernae, etwa eine Tagereise weit von Rom, entgegen. Nach
der Ankunft in Rom wurden die Gefangenen von dem sie
führenden Centurio Julius dem axga.TOTZs.ha.^iri^ (dem praefecüis
pradorio oder, wie Mommsen will, dem princcps castrorum
peregrinoriim) übergeben, welcher dem Paulus gestattete, unter
Bewachung durch einen Soldaten Iv iSuo [xw^opiaTt,, d. h. in
einer gemieteten Privatwohnung, die Zeit seines Verhörs ab-
zuwarten. Über das, was uns am meisten interessieren würde,
über den Verkehr mit der römischen Christengemeinde, an
welche Paulus drei Jahre vorher seinen Römerbrief gerichtet
hatte, sagt die Apostelgeschichte bedauerlicherweise nichts,
hingegen wird weitläufig über sein Auftreten in der jüdischen
Gemeinde in Rom berichtet, welches ganz nach dem üblichen
1. Des Paulus Leben und Schriften. 259
Schema verläuft : der Apostel verkündet Jesum als den Messias,
einige stimmen ihm zu, andere widersprechen, und Paulus be-
klagt ihre Verstocktheit. Auffallend ist, was die Juden zu
Paulus 28,22 über die Christensekte äufsern : xspl [jisv yap xfic,
odgian,)<; zodixt]^ yvooTov eötiv -i^f^tv ort TCavraxou dvTtXeYSTat..
Aus diesen Worten scheint hervorzugehen, dafs zwischen den
Juden und den Christen in Rom keine nähere Beziehung be-
stand, wahrscheinlich weil der Christenglaube vorbehaltlich
einer entgegengesetzten Entscheidung des Kaisers noch als
eine religio ülicita galt, daher seine Anhänger Grund hatten,
sich in der Stille zu halten. Hierauf scheinen auch die Worte
28,30 zu deuten, xai oLizthiytxo Tuavxac xohc, sLaTcopsuotJLsvoui; izghc,
aÜTov, welche besagen, dafs Paulus nur bei den Judon, nicht
aber bei den Christen in öffentlicher Versammlung auftrat,
sondern die Besuche der letztern nur in seiner Privatwohnuns
empfing, wo es ihm dann möghch war, mit allem Freimut zu
reden. Dieser Zustand währte, wie aus dem Aorist in den
W^orten £[j.et,v£ hizxia:> SXtjv hervorgeht, zwei Jahre und nicht
länger; diese genaue Zeitbestimmung hätte der Verfasser nicht
geben können, wenn er nicht auch gewufst hätte, was nach-
her geschehen, was aus Paulus nach Ablauf dieser zwei Jahre
geworden war. Unbegreiflicherweise hat es uns der Bericht-
erstatter verschwiegen, und wir sind auf die Vermutungen
angewiesen, welche sich aus dem Philipperbrief und den all-
gemeinen Zeitverhältnissen ergeben. Im Brief an die Philipper
zeigt sich der Apostel bereit zu sterben (1,23) und das Leiden
Christi auch an sich zu erdulden (3,10), über sein Schicksal
ist er noch in Ungewifsheit (2,23), düstere Ahnungen erfüllen
ihn (2,17), aber gleichwohl spricht er zuversichtlich die Hoff-
nung aus, freigesprochen zu werden und seine Freunde wieder-
zusehen; 1,25: „In guter Zuversicht weifs ich, dafs ich bleiben
und bei euch bleiben und bei euch allen sein werde, euch
zur Förderung und zur Freude des Glaubens"; 2,24: „Ich ver-
traue aber in dem Herrn, dafs auch ich selbst schier kommen
werde." Diese Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen.
Im Monat Juli des Jahres 64 brach der grofse Brand von
Rom aus; Nero schob, um den Verdacht von sich abzuwälzen,
die Schuld auf die Christen; eine furchtbare Christen Verfolgung
17*
2G0 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
brach aus und allem Anscheine nach ist ihr auch der Apostel
Paulus zum Opfer gefallen. Was von einer Freisprechung,
Reise nach Spanien und abermaligen Gefangenschaft von
Spätem erzählt wird, beruht auf einer falsch gedeuteten rheto-
rischen Floskel des Clemens Romanus und vagen Vermutungen
späterer Schriftsteller. Dafs Paulus aus der beglaubigten Ge-
schichte plötzlich, wie in einer Versenkung, verschwindet, er-
klärt sich, wenn er mit vielen andern Christen der Wut des
aufgereizten Pöbels erlegen ist. Hätte er diese Katastrophe
überlebt, so würde das weitere Wirken eines Mannes von
seiner Berühmtheit ganz andere Spuren in der geschichtlichen
Erinnerung liinterlassen haben.
Drei Züge sind es, welche in dem Charakter des Apostels
Paulus besonders hervortreten und ihm sein eigentümliches
Gepräge geben: Zunächst eine ungemeine Lebhaftigkeit des
Geistes, welche ihn nicht nur befähigte, die Eindrücke der
Aufsenwelt mit gröfster Empfänglichkeit aufzunehmen und in
sich zu verarbeiten, sondern sich gelegentlich auch in offen-
barenden Träumen äufserte, ja sogar Visionen und ekstatische
Zustände bei ihm veranlafste. Mit dieser geistigen Beweglich-
keit verband der Apostel eine grofse Beharrlichkeit des Willens,
welche sich durch kein Hindernis beirren und abhalten liel's,
den vorgesetzten Zweck mit Einsetzung der ganzen Persönlich-
keit und bis zur Aufopferung derselben zu verfolgen. Diese
unbeugsame Festigkeit in Durchführung seiner Lebensaufgabe
war bei Paulus gepaart mit einer seltenen Milde, Duldsam-
keit und Nachgiebigkeit in allem^ was er für nebensächlich
hielt, er war den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche
(L Kor. 9,20); er hatte kein Bedenken gegen das Essen von
Fleisch, selbst wenn es von einem Götzenopfer herrülirte, wollte
aber lieber für sein ganzes Leben auf Fleischessen verzichten,
als dafs er dadurch bei dem schwächern Bruder Anstofs er-
regte. In dieser Akkommodationsfähigkeit seiner Natur bildet
Paulus den gröfsten Gegensatz und damit zugleich die für
den Fortgang des Christentums notwendigste Ergänzung zu
dem Charakter Jesu. Wenn Jesus seine Forderungen ohne
Rücksicht auf die bestehenden Verhältnisse kühn und schroff
aufstellte und dadurch im höchsten Grade fähig war, den
1. Des Paulus Leben und Schriften.
261
Menschen das Neue zu geben, nicht aber ihm bei denselben
Eingang zu verschaffen, so war für diese letztere Aufgabe der
Apostel Paulus, vermöge seiner Anpassung an die äufsern Um-
stände, im höchsten Grade die geeignete und berufene Persön-
lichkeit. Beider Schicksal nahm die entscheidende Wendung
in Jerusalem, und beide fielen den entgegengesetzten Grund-
eigenschaften ilir.es Charakters zum Opfer: Jesus führte durch
sein schroffes Auftreten seinen Untergang herbei, Paulus geriet
durch sein gefügiges Eingehen auf Vorurteile, welche er für
sich selbst längst überwunden hatte, in eine Gefangenschaft,
aus der er nicht mehr frei werden sollte.
p.c.
10—17 (?)
40
44
45
51
52—54
54
55—58
58
Tabelle zum Leben des Apostels Paulus.
Paulus (Saulus), geboren zu Tarsus in Cilicien, aus dem Stamme
Benjamin, als römischer Bürger.
Studiert unter Gamaliel in Jerusalem.
Bekehrung (dTiox-aXu^jat tov ulbv auToü h i\xoC). Zieht sich nach
Arabien in die Einsamkeit zurück. Von dort Rückkehr nach
Damaskus.
(jjLSToc £TTi xpia) RelsB nach Jerusalem, wo er Petrus und Jacobus
besucht und 15 Tage verweilt.
Geht von dort nach Syrien und Cilicien.
Wird von Barnabas nach Antiochien geholt (Apostelgesch.
11,25—26).
Hinrichtung des Jacobus. Tod des Agrippa.
Erste Missionsreise mit Barnabas über Cypern nach An-
tiochien (in Pisidien), Ikonium, Lystra, Derbe und
zurück auf demselben Wege (Apostelgesch. 13 — 14).
Apostelsynode in Jerusalem (Apostelgesch. 15).
Zweite Missionsreise über Derbe und Lystra nach Galati en,
Philippi, Thessalon ich und Korinth (V,^ Jahre; erster
und zweiter Brief an die Thessalonicher). Zu Schiff nach
Ephesus und zurück nach Syrien.
Reise nach Jerusalem.
Dritte Missionsreise durch Galatien und Phrygien nach
Ephesus (21/4 Jahre; Brief an die Galater, erster Brief an
die Korinther), von dort nach' Mazedonien (zweiter Brief
an die Korinther) und durch Achaia nach Korinth (Brief
an die Körner). Von dort über Mazedonien, Troas und
Milet nach Jerusalem.
Zu Pfingsten in Jerusalem gefangen genommen.
262 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
58-60
61
62
62—64
64
Zweijährige Gefangenschaft zu Cäsarea unter Felix.
(Herbst) unter Festus nach Rom.
(Frühjahr) Ankunft in Rom.
Gefangenschaft in Rom (Iv iSitp fxta-
i(0[JLaTl).
(Briefe an Fhilemon, die
Kolosser, Epheser [?] und
PJiilipper).
(Juli) Brand Roms. Christenverfolgung. Pauli Hinrichtung.
Unecht sind der erste und zweite Brief an Timotlieiis und der Brief
an Titus, unglaubhaft die Sage von Pauli Befreiung und einer zweiten Ge-
fangenschaft.
2. Philosophische Elemente der Lehre des Apostels Paulus.
a) Das traditionelle Element: der Christus für uns.
Der Apostel sagt 1. Kor. 2,10: „Der Geist erforschet alle
Dinge, auch die Tiefen der Gottheit." Er versteht darunter
den Geist Gottes, sofern er sich im Menschen offenhart, während
er über die Weisheit dieser Welt eine sehr ungünstige Meinung
hat; 1. Kor. 3,19: „Dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott";
1. Kor. 2,14: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts
vom Geist Gottes : es ist ihm eine Torheit, und kann es nicht
erkennen, denn es mufs geistlich gerichtet sein"; 1. Kor. 1,20:
„Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo
sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser
Welt zur Torheit gemacht?" Koloss. 2,8: „Sehet zu, dafs
euch niemand beraube durch die Philosophia und lose Ver-
führung nach der Menschen Lehre." — Bedürfte es noch eines
Beweises, so würden diese Stellen ihn erbringen dafür, dafs
Paulus die griechische Philosophie, deren herrlichste Erzeug-
nisse zu seiner Zeit fertig vorlagen und jedem leicht zugäng-
lich waren, weder näher gekannt, noch auch kennen zu lernen
für der Mühe wert gehalten hat. Ein leichter Anflug von
stoischem Pantheismus, wie er damals in der Luft lag, läfst
sich in der Rede zu Athen (namentlich Apostelgesch. 17,28),
deren Authentizität allerdings nicht gesichert ist, auch wohl
in Stellen wie Rom. 11,36 verspüren, im übrigen aber kann
von einem Einflüsse der griechischen Philosophie auf die Ge-
danken des Apostels Paulus keine Rede sein.
Um so mehr ist sein Denken von der althebräischen und
jüdischen Tradition abhängig. . Das Alte Testament hat er
2. Philosophische Elemente der Lehre des Apostels Paulus. 2G3
nach Messiasverlieifsungen fleifsig durchforscht; die unter
iranischem Einflüsse stehende Fortentwicklung des Judentums
in Dämonologie, Auferstehungslehre und Messiaserwartungen
hat, wie oben gezeigt wurde, auch er als Pharisäerzögling sich
zu eigen gemacht, und auch die schöne und tröstliche Vor-
stellung der Iranier von den Fravashi's (oben S. 138) scheint,
wie bei Jesu (Matth. 18,10), so auch bei Paulus in dem Ge-
danken von der himmlischen Behausung, mit welcher über-
kleidet zu werden ihn verlangt (2. Kor. 5,2), nicht undeutlich
durchzublicken. Ein drittes traditionelles Element neben diesen
althebräischen und iranischen Einflüssen liegt in dem Wenigen,
aber sehr Bedeutsamen, was diesem Apostel von dem histo-
rischen Leben und Wirken Jesu bekannt gewesen ist. Wer
es versuchen wollte, aus den Briefen des Paulus ein Leben
Jesu zusammenzustellen, der würde erstaunen über das geringe
Material, welches ihm dabei zu Gebote stünde. Es sind immer
nur dieselben Gedanken, dafs der Sohn Gottes in Christo
Mensch geworden, von den Juden gekreuzigt, von Gott wieder
auferweckt worden ist und in nächster Zeit wiederkommen
wird, welche den Inhalt der Predigt des Apostels bildeten und
in zahlreichen Wendungen sich durch alle seine Briefe durch-
ziehen.
Dieser Tatsache, dafs der allmächtige Gott die Menschen
nicht gehindert hatte, an seinem von ihm gesandten Sohne
nach qualvollen Martern die schmählichste Todesstrafe zu voll-
ziehen, stand die erste Christenheit, stand vor allem der
Apostel Paulus als einer schwer zu begreifenden Fügung gegen-
über. Sie wurde für ihn das Problem, zu dessen Lösung die
Worte Jesu : „Das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird"
(1. Kor. 11,24) die Anleitung gaben. Er fand diese Lösung
in der seltsamen Theorie, dafs Gott absichtlich und mit Vor-
bedacht seinen Sohn in Leiden und Tod hingegeben habe als
ein Sühnopfer (LXaffTiqpt.ov, Gnadenstuhl, wie Luther übersetzt,
Rom. 3,25), um für die Sünden der ganzen Menscliheit Genug-
tuung zu leisten. Der Stammvater der Menschheit, so ge-
staltete sich diese Theorie im Geiste des Paulus, der erste
Mensch, Adam, hat gesündigt und ist dafür gestorben; diese
erste Sünde, als Erbsünde, und mit ihr der Tod, ist „zu allen
264 "VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
Menschen durchgedrungen" (Rom. 5,12); sie sind allzumal
Sünder, wie die Erfahrung zeigt (Rom. 3,12), und wie es auch
daraus sich ergibt, dafs alle Menschen sterben müssen, welches
nicht der Fall sein würde, wenn sie nicht Sünder wären,
„denn der Tod ist der Sünden Sold" (Rom. 6,23). Zwar hat
Gott den Juden das mosaische Gesetz und den Heiden als
Ersatz das Gesetz ihres Gewissens gegeben (Rom. 2,15), beides
aber nicht, als wenn sie es zu halten vermöchten, sondern
nur, damit sie zur Erkenntnis ihrer Sünde gelangen, „darum,
dafs kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht
sein mag, denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde"
(Rom. 3,20). Eine Sühnung der Sünde erfolgt erst durch den
Opfertod Jesu und nur für die, welche die Begnadigung im
Glauben annehmen; „so halten wir es nun, dafs der Mensch
gerecht werde, ohne des Gesetzes Werke, [allein] durch den
Glauben" (iziazsi St-xaioüa^ai av'^poxov, jj^glc l'pywv vojjiou, Rom.
3,28), während das Gesetz nur eine vorbereitende Bedeutung
hat, nur ein Erzieher oder Zuchtmeister (TcaiSaywyoc, Gal. 3,24)
auf Christum gewesen ist. Die gröfste Schwierigkeit dieser
paulinischen Vorstellung liegt darin, dafs die Gnade durch
Christum nicht schon immer da war, sondern erst in einem
bestimmten Zeitpunkte eingetreten ist, nachdem das Gesetz
viele Jahrhunderte vorher gegeben wurde, während man, da der
Erlösungsprozefs jeden einzelnen Menschen betrifft, erwarten
sollte, dafs jedem Individuum die Erkenntnis der Sünde durch
das Gesetz und zugleich die Rechtfertigung durch die Gnade
dargeboten werden müfste. Der Apostel hat eben nur den
gegenwärtigen Zustand vor Augen, wo Gesetz und Evangelium,
Erkenntnis der Sünde und Begnadigung gleichzeitig an jeden
Menschen herantreten; was aus all den zwischen Mose und
Jesu abgelaufenen Generationen wird, welchen zwar die Er-
kenntnis ihrer Sünde durch das Gesetz zum Bewufstsein ge-
bracht wurde, aber der allein mögliche Weg zum Heil in
Christo versagt blieb, darauf findet sich in der Theorie des
Apostels keine befriedigende Antwort.
Hingegen läfst sich gegen die paulinische Rechtfertigungs-
lehre nicht der Vorwurf erheben, dafs sie es den Menschen
allzu leicht macht, wenn sie das Heil blofs an die eine
2. Philosophische Elemente der Lehre des Apostels Paulus. 2G5
Bedingung des Glaubens knüpft; denn, wenn Paulus das Wort
Glaube gebraucht, so versteht er darunter nicht nur (wie der
Verfasser des Hebräerbriefes 11,1) ein gläubiges Annehmen
äufserer Tatsachen, sondern einen Glauben, wie er ihn selbst
besafs, einen lebendigen Glauben, bei welchem Kreuzigung
und Auferstehung Jesu das Gemüt so tief ergreifen, dafs sie
zur Kreuzigung des eigenen Fleisches und zur Auferstehung
in einem neuen Leben werden; Eöm. 6,4: „So sind wir ja mit
ihm begraben durch die Taufe in den Tod: auf dafs gleich
wie Christus ist auferwecket von den Toten, durch die Herr-
lichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben
wandeln." Aus einem solchen Glauben folgt, in dem Mafse
wie er im Menschen sich lebendig erhält, mit Notwendigkeit
das sittliche Wohlverhalten, er ist eine 7i:i(jT!.(; hi' oLydiz-qc evepyou-
fxsvTj, „ein Glaube, der sich durch die Liebe betätigt" (Gal. 5,6).
b) Das originelle Element: der Christus in uns.
In diese auf althebräischer, jüdischer und historischer
Tradition beruhenden Gedanken wie in eine Schale gleichsam
eingebettet ist dasjenige, was wir als das originelle Element
der Lehre Pauli bezeichnen können, und was sich als die un-
mittelbare Fortsetzung des gleichnamigen Elements im Ge-
dankenkreise Jesu betrachten läfst, ohne dafs es darum nach-
weisbar von Jesu übernommen wäre, vielmehr von dem einen
wie von dem andern unmittelbar aus der Natur geschöpft
sein konnte. Denn das feine moralische Gefühl für den Unter-
schied des Guten und Bösen, welches wir oben (S. 53) als
den die Hebräer vor allen andern Völkern auszeichnenden
Charakter hervorhoben, erscheint bei Jesu und Paulo, in
welchen beiden der hebräische Genius zum hellsten 'Bewufst-
sein über sich selbst und die Welt in betreff des moralischen
Empfindens gelangt war, als eine zweifache Erkenntnis, sofern
beide grofse Lehrer der Menschheit aus der Betrachtung der
sie umgebenden Menschenwelt die Überzeugung von der Un-
freiheit des Willens und aus den Tiefen des eigenen Gemüts
die Gewifsheit von der Verantwortlichkeit, Imputabilität und
folglich Freiheit des Willens schöpften, und diese beiden
philosophischen, antinomisch entgegengesetzten Grundlehren
266 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
jeder tiefern Ethik schärfer und deutlicher aussprachen, als
es je vorher, sei es in der indischen oder griechischen oder
auch hebräischen Welt (vgl. jedoch Jerem. 10,23) der Fall
gewesen war. Beide, Jesus und Paulus, sind einerseits An-
hänger des Determinismus, und beide lassen sich doch
dadurch nicht abhalten, andererseits Imperative aufzustellen,
welche kategorische heifsen müssen, weil sie, wenn auch
(ähnlich wie bei Kant) hin und wieder begleitet von der Aus-
sicht auf künftige Seligkeit oder Verdammnis, doch nicht auf
diese gegründet werden, sondern aus den metaphysischen
Tiefen des Gemüts als sittliche Forderungen unmittelbar ent-
springen. Wir haben gesehen, wie diese beiden Fundamental-
sätze bei Jesu aus der naiven Göttlichkeit seiner Natur hervor-
quellen, ohne dafs ein deutliches Bewufstsein ihrer Unverein-
barkeit oder auch nur Gegensätzlichkeit vorhanden gewesen
wäre, und haben nunmehr zu zeigen, wie Paulus vermöge der
mehr systematischen Anlage seines Geistes eben dieselben
beiden ethischen Grundwahrheiten mit einander und mit seinen
anderweitigen Anschauungen, nicht immer mit Glück, zu ver-
knüpfen bemüht ist.
Zunächst ist Paulus nicht weniger als Jesus von der
empirischen Unfreiheit oder, wie er sich ausdrückt, von der
Unmöglichkeit des fleischlichen Menschen, das Gute zu voll-
bringen, überzeugt; Eöm. 7,23: „Ich sehe aber ein ander Ge-
setz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in
meinem Gemüte, und nimmt mich gefangen in der Sünden
Gesetz, welches ist in meinen Gliedern." Aber diese richtige
philosophische Erkenntnis verbindet sich bei Paulus mit dem
aus dem Alten Testament überkommenen Theismus. Hier
aber wie 'überall gilt die Formel:
Determinismus + Theismus = Prädestination,
und dementsprechend gibt Paulus an zahlreichen Stellen der
Überzeugung Ausdruck, dafs alle, welche der Gnade teilhaft
werden, von Anfang an durch Gott dazu vorausbestimmt sind»
wie er denn auch von sich selbst erklärt, dafs Gott ihn „von
Mutterleibe durch seine Gnade ausgesondert und berufen"
habe (Gal. 1,15). Diese grauenhafte Lehre findet ihren deut-
2. Pliilosophiscbe Elemente der Lehre des Apostels Paulus. 267
liebsten, man darf wohl sagen krassesten Ausdruck im neunten
Kapitel des Römerbriefes, namentlicb in dem Gleicbnis von
dem Töpfer und seinen Gefäfsen, Rom. 9,21: „Hat nicbt ein
Töpfer Macbt aus einem Klumpen zu macben ein Fafs zu
Ebren und das andere zu Unebren?" 9,16: „So liegt es nun
nicbt an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes
Erbarmen." Ebenso beifst es nocb im Pbilipperbrief 2,12:
„Scbaffet, dafs ibr selig werdet mit Furcbt und Zittern. Denn
Gott ists, der in eucb wirket beide, das Wollen und das Voll-
bringen, nacb seinem Woblgefallen." Dafs wir unsere Selig-
keit mit Furcbt und Zittern scbaffen sollen, berubt darauf,
dafs Gott allein nacb Willkür uns begnadigen oder ver-
dammen kann, und docb ruft der Apostel uns in imperativer
Form zu: „Scbaffet eure Seligkeit!", und äbnbcbe Imperative
treten uns aus bundert Stellen seiner Werke entgegen, in
welcben der Apostel seine Leser unermüdlicb ermabnt und
auffordert, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Gilt
nicbt aucb bier der Kantiscbe, von Scbiller so glücklieb formu-
lierte Satz: „Du kannst, denn du sollst"? Müssen wir nicbt,
und mufste nicbt der Apostel selbst annebmen, dafs diejenigen,
an welcbe er seine Ermabnungen ricbtet, aucb irgendwie im-
stande sein mufsten, dieselben zu befolgen? — Ebe wir dieser
Frage weiter nacbgeben, wollen wir die wie bei Jesu, so aucb
bei Paulo neben seinem Determinismus bestellende imperative
Form seiner Ethik nocb etwas näher ins Auge fassen.
Was das Gute sei, was wir tun sollen, wissen wir, denn
Gott bat es uns offenbart, den Juden durch das Gesetz Mosis,
den Heiden durch das in ihren Herzen geschriebene Gesetz des
Gewissens. Aber weder von den Juden nocb von den Heiden
konnte dieses Gesetz befolgt werden, „sintemal es durch das
Fleisch geschwächet war (rjo'^svet., unwirksam war, Rom. 8,3)".
Hier wie aucb Gal. 3,21 fg. und anderweit begegnen wir der
seltsamen Auffassung, dafs das mosaische Gesetz gar nicht
gegeben worden sei, um gehalten zu werden, ja dafs der
Mensch überhaupt nicht imstande sei es zu halten. Aber alle
fünf Bücher Mosis enthalten nichts, was den Menschen etwas
Unmögliches zumutete oder von ihnen forderte, und sicherlich
wäre das alttestamentliche Gesetz nicht gegeben worden, wenn
268 VIII. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
es nicht selbst bis zu den minutiösesten Vorschriften herab
auch gehalten werden könnte. Aber selbst die pünktlichste
Befolgung dieses Gesetzes würde der Apostel für ungenügend
erklären, weil er unter dem Worte v6|j.o? nominell das mosaische,
auf die Erfüllung äufserer Werke gerichtete Gesetz, in Wahr-
heit aber das Sittengesetz versteht, welches nicht Legalität,
sondern Moralität, nicht nur die guten Werke, sondern auch
die gute, d. h. selbstverleugnende („das Fleisch kreuzigende")
Gesinnung fordert, welche sich zu geben nicht in der Macht
des natürlichen Menschen steht. Darum sagt er Rom. 2,29:
„Das ist ein Jude, der inwendig verborgen ist; und die Be-
schneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und
nicht in Buchstaben geschieht." Wird das jüdische Gesetz so
verstanden, so wird es begreiflich, dafs der Apostel es auf die-
selbe Linie stellt mit dem Sittengesetze, welches auch den Heiden
gegeben ist, „damit, dafs sie beweisen, des Gesetzes Werk sei
beschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen sie bezeuget,
dazu auch die Gedanken, die sich unter einander verklagen oder
entschuldigen" (Rom. 2,15). Daher bezieht es. sich auf beide,
Juden wie Heiden, wenn es Rom. 7,22 — 25 heifst: „Denn ich
habe Lust an Gottes Gesetz, nach dem inwendigen Menschen;
ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da
widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte, und nimmt mich
gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.
— Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe
dieses Todes? Ich danke Gott durch Jesum Christum!"
Christus also ist es, durch den allein Rettung möglich
ist, der Christus, welcher sich dem Apostel in den Einöden
Arabiens offenbarte, möglicherweise nicht der, welchen Petrus
in Jerusalem verkündigte; darum sagt Paulus 2. Kor. 5,16:
„Darum von nun an kennen wir niemand nach dem Fleisch;
und ob wir auch Christum gekannt haben nach dem Fleisch,
so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr. Darum, ist
jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur" (xaiv-rj
xxlaiQ, derselbe Ausdruck Gal. 6,15; vgl. auch Tit. 3,5 das
Aoij-pov xf^c, TCaXcyysvsccac). An Stellen wie diesen sehen wir,
wie als Resultat schwerer innerer Gedankenkämpfe des Apostels
Paulus das tiefsinnige Fundamentaldogma des Christentums
2. Pliilosophische Elemente der Lehre des Apostels Paulus. 209
sich ans Licht emporwindet, die Lehre von der Wieder-
geburt, d. h. die grofse Wahrheit, dafs Heil und Rettung
zu erwarten ist nicht von einem hlofsen Tun und Lassen,
welche nur eine Folgeerscheinung darstellen, sondern von
einer völligen Umwandlung des natürlichen Menschen, welche
dieser als solcher aus eigenen Kräften nicht zu vollbringen
vermag, denn, wie Paulus Rom. 7,18 sagt: „ich weifs, dafs in
mir, das ist in meinem Fleisch, wohnet nichts Gutes". Die
Kraft, welche das Wunder dieser Umwandlung vollbringt,
wird von dem Apostel unter Christus verstanden; dieser
Christus mufs in uns geboren werden, in uns „Gestalt ge-
winnen" (Gal. 4,19), wir müssen mit Christo begraben werden
durch die Taufe in den Tod (Rom. 6,4), unser alter Mensch
mufs mit Christo gekreuzigt werden (Rom. 6,6), wir müssen
unser Fleisch kreuzigen samt den Lüsten und Begierden
(Gal. 5,24), wir sollen der Welt gekreuzigt werden und die
Welt uns (Gal. 6,14), sollen den alten Menschen ausziehen
und den neuen Menschen anziehen (Kol. 3,9), sollen Christum
anziehen (Gal. 3,27), und gleich wie Christus ist auferstanden
von den Toten, also sollen auch wir in einem neuen Leben
wandeln, so dafs wir mit Paulus Gal. 2,20 sagen können:, „Ich
lebe, aber doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir."
Verstehen wir unter Monergismus die Lehre, dafs der
Mensch als solcher nur egoistische, d. h. sündliche Handlungen
vollbringen kann, und dafs alles Gute in uns durch Gott oder
Christum gewirkt wird, hingegen unter Synergismus die
Meinung, dafs der Mensch irgendwie mitwirken mufs, wäre
es auch nur, sofern er der Gnade entgegenkommt, sein Herz
ihr öffnet, ihr nicht widerstrebt usw. , so wird aus allem Ge-
sagten klar sein, dafs Paulus, soweit er konsequent ist, auf
dem Standpunkte des Monergismus steht, und dafs diese Lehre,
wonach Gott allein, und nur er, alles Gute, sowohl das Wollen
als auch das Vollbringen in uns wirkt, die einzige Auffassung
ist, welche der Konsequenz des Systems entspricht. Wenn
man von jeher Bedenken getragen hat, diese Konsequenz zu
ziehen und immer wieder zum Synergismus abgewichen ist,
so geschah es aus Furcht vor dem Schreckgespenst der Prä-
destination, und allerdings ist diese unvermeidlich, solange
270 Ylll. Leben und Lehre des Apostels Paulus.
wir dem semitischen Realismus huldigen und aus Gott und
Mensch zwei individuell einander gegenüberstehende und sich
gegenseitig ausschliefsende .Wesen machen. Hier ist der
Punkt, wo das Christentum eine notwendige Ergänzung oder
Berichtigung aus der indischen Lehre entnehmen mufs, dafs
Gott, das Prinzip der Welt, der Ätman, wie die Inder sagen,
nicht ein uns als ein anderer gegenüberstehendes Wesen,
sondern unser eigenes metaphysisches Selbst ist, aus welchem
die das Gute wirkenden Kräfte in die von ihm abgeirrte Er-
scheinung dringen, um dieselbe umzuwandeln und zu ihrer
wahren und ewigen Wesenheit zurückzuführen. Sonach wird
das Gute in gewissem Sinne ganz ohne unser Zutun gewirkt,
und ist doch in gewissem Sinne ganz und gar unser eigenes
W^erk, und es wird begreiflich, wie Jesus und Paulus, ob-
gleich sie alle moralischen Handlungen auf Gott als ihren
Ursj)rung zurückführen, doch unermüdlich dem Menschen ein-
schärfen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, in dem
unbestimmten, aber sichern Gefühl, dafs der Mensch auch im-
stande sein mufs, das Gebotene zu vollbringen.
IX. Das vierte Evangelium.
1. Paulus und das vierte Evangelium.
Das Bedürfnis der christlichen Gemeinde, die von Paulus
auf Grund einer Innern Offenbarung geschaffene Christusgestalt
der Kirche auch an dem Leben Jesu selbst dargestellt und
erläutert zu sehen, wurde der Anlafs zu einer literarischen
Komposition höchst origineller Art, welche schon dadurch Ge-
fahr läuft, in ein falsches Licht gerückt zu werden, dafs sie
den drei Evangelien des Matthäus, Marcus und Lucas als ein
viertes Evangelium koordiniert wird, während in Wahrheit
dieses vierte Evangelium von den drfei übrigen grundverschieden
ist und an Wert in gewissem Sinne ihnen nicht gleichkommt^
in anderm Sinne sie alle weit übertrifft. Jene sind Volks-
bücher und enthalten, wie wir gesehen haben, in den Er-
zählungen und vielmehr noch in den Reden ein gutes Stück
echter historischer Tradition, das Evangelium Johannis hin-
1. Paulus und das vierte Evangelium. 271
gegen ist eine von Grund aus ideale Schöpfung, welche
Begebenheiten und Reden in der freiesten Weise gestaltet,
nur um durch sie das Wesen des von Paulus der Welt ge-
predigten Sohnes Gottes in lebendiger Weise zur Anschauung
zu bringen. Alle Grundgedanken des Paulus über den gött-
lichen Heilsplan, das Wesen des Sohnes Gottes, die Wieder-
geburt, den ]\Ionergismus, die an Stelle der Knechtschaft ge-
tretene Kindschaft und die Betätigung derselben durch die
Liebe, bilden die wesentlichen und konstruktiven Elemente,
welche in diesem wunderbaren W^erke zu einem organischen
Ganzen von hoher künstlerischer Vollendung, jedoch ohne jedes
Anrecht auf historische Geltung vereinigt sind. Dafs es aber
neben manchen geschichtlichen Reminiszenzen ganz wesent-
lich paulinische Anschauungen sind, welche das Grundgewebe
dieser Komposition bilden, ergibt sich vor allem daraus, dafs
die Gedanken, deren Entwicklung wir in den Briefen des
Paulus noch schrittweise verfolgen können, und welche oft
nur als das Ergebnis eines schweren geistigen Ringens sich
mühsam zum Lichte emporarbeiten, dafs eben diese Gedanken,
namentlich der von der vorzeitlichen Existenz des Sohnes
Gottes, und die Idee der Wiedergeburt in dem vierten Evan-
gelium als fertige Resultate wie ein deus ex macJiina auftreten,
welches ein sicheres Anzeichen dafür ist, dafs ihr Ursprung
im paulinischen Gedankenkreise zu suchen ist, wo wir ihre
Genesis noch beobachten können.
2. Universeller Charakter des vierten Evanareliums.
Neben dieser paulinischen Grundlage, welche in den folgen-
den Abschnitten näher nachzuweisen sein wird, und gewissen
unverkennbaren, aber in freiester Weise verwerteten histori-
schen Erinnerungen steht unser Evangelium ebenso wie Jesus
und Paulus selbst unter dem Einflüsse der althebräischen und
iranisch-jüdischen Tradition, wozu sich als fünfter und letzter
Faktor ein bei Jesu und Paulo noch nicht merkbarer Einflufs
der griechisch-alexandrinischen Philosophie in der von Heraklit
zu den Stoikern, von diesen zu den jüdisch-alexandrinischen
Philosophen gelangten Form von dem weltschafFenden Logos
272 ^^- I^^s vierte Evangelium.
gesellt, wie denn als Grundthema des ganzen Evangeliums
die Worte 1,14 gelten können:
6 Xöyoc capi e^svexo,
„das Wort ward Fleisch", das heifst : der diese Welt schaffende,
durchdringende und erleuchtende Logos, von dem eure Philo-
sophen reden, ist in Jesu Christo Fleisch geworden.
Sonach sind es nicht weniger als fünf verschiedene Ele-
mente, das althehräische, iranisch -jüdische, stoisch- alexan-
drinische, paulinische und ein historisches Element, welche in
diesem Evangelium zusammengeflossen und zu einem Ganzen
voll Bestand vereinigt sind, und die sich, wie im ganzen Werke,
so schon in dem wunderbaren Prolog bemerkbar machen,
wie wir in der Kürze an dessen Worten zeigen wollen.
Im Anfang war das Wort , und das Wort war bei Gott,
und Gott war das Wort. Dasselbige war im Anfang bei Gott.
fGriechiscli-alcxandrinisch.J
Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne das-
selbige ist nichts gemacht, was gemacht ist. fÄltliehrüisch.J
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der
Menschen. Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die
Finsternis haben es nicht begriffen. {Iranisch, vgl. oben S. 136.)
Es ward ein Mensch von Gott gesandt, der hiefs Johannes.
Derselbige kam zum Zeugnis, dafs er von dem Lichte zeugete,
auf dafs sie alle durch ihn glaubeten. Er war nicht das Licht,
sondern dafs er zeugete von dem Licht. fHistoriscli.J
Es war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen er-
leuchtet, kommend in die Welt. Es war in der Welt, und
die Welt ist durch dasselbige gemacht, und die Welt kannte
es nicht. Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nähmen
ihn nicht auf. (Hebräisch-iranisch.J
Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht,
Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben,
welche nicht von dem Geblüt, noch von dem Willen des
Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von
Gott geboren sind. fPaulimsch.J
Und das Wort ward Fleisch fgriecMsch-alexandrinischJ,
und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit als
2. Universeller Charakter des vierten Evangeliums. 273
des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahr-
heit. Johannes zeuget von ihm, ruft und spricht: Dieser
war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen,
der vor mir gewesen ist; denn er war eher denn ich.
fHistorisch.J
Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade
um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mosen gegeben; die
Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden.
Niemand hat Gott je gesehen. Der eingeborne Sohn, der in
des Vaters Schofs ist, der hat es uns verkündiget. {Fauliniscli.J
Dafs ein Werk von so weitem historischen Horizont und
solcher philosopliischen Tiefe verfafst worden sein soll von
dem Jünger Johannes, welcher bis ins Mannesalter hinein mit
seinem Vater Zebedäus und seinem Bruder Jacobus am Gali-
läischen Meere das Fischerhand werk betrieben hatte, davon
kann doch eigentlich heute keine Rede mehr sein. Wie hätte
ein solcher, der noch in dem nach 55 p. C. geschriebenen
Galaterbrief 2,9 vom Apostel Paulus mit einer leichten Ironie
behandelt wird, sich erst im spätem Alter die historische und
philosophische Bildung aneignen können, welche der Verfasser
dieses Evangeliums besafs, wie auch das edle Griechisch,
welches unsere Schrift vor fast allen andern des neutestament-
lichen Kanons auszeichnet? So viel aber ist gewifs, dafs
unser Autor dem johanneischen Kreise angehörte, manche auf
Johannes zurückgehende Überlieferung benutzt haben mag .und
für diesen Jünger, „der an Jesu Brust lag", „den der Herr
lieb hatte", eine besondere Vorliebe zeigt, ja, wohl auch den
Eindruck macht, dafs er (wie schon von dem Verfasser des
anerkannt unechten Anhangs Kap. 21 geschieht), nicht un-
gern für diesen Jünger selbst gehalten werden möchte, ohne
dafs er dies irgendwo bestimmt erklärte, wofür besonders
charakteristisch ist die Stelle bei der Erzählung von dem ver-
meinthch den erfolgten Tod beweisenden Lanzenstich in Jesu
Seite, 19,35: „Und der das gesehen hat, der hat es bezeuget,
und sein Zeugnis ist wahr: und derselbige weifs, dafs er die
Wahrheit saget, auf dafs auch ihr glaubet." Hierzu kommt,
Deussen, Geschichte der Philosophie. II,n- 18
274 IX. Das vierte Evangelium.
dafs zu dem Charakter des Jüngers Johannes, der nach Luc. 9,54
mit seinem Bruder Jacobus auf die Städte Samarias Feuer
vom Himmel fallen lassen wollte und vermutlich um dieses
Jähzorns willen von Jesu Marc. 3,17 als Donnersohn be-
zeichnet wurde, dafs zu einem solchen Charakter allenfalls die
wilden, apokalyptischen Bilder der Offenbarung Johannis passen
möchten, nicht aber das milde Licht und die philosophische
Ruhe des vierten Evangeliums.
3. Die paulinische Heilstheorie und der Pragmatismus des vierten
Evangeliums.
Wir haben gesehen, wie der Glaube an Jesus, als den
gottgesandten Messias, und die Tatsache der Kreuzigung Jesu
im Geiste des Apostels Paulus sich zu der Theorie verknüpften,
dafs Gott nach einem vorher beschlossenen Heilsplane seinen
Sohn, um für die Sünden der Welt Genugtuung zu leisten, in
Leiden und Tod hingegeben habe. Zu welchen Konsequenzen
diese Theorie führt, ersieht man an dem Pragmatismus des
vierten Evangeliums, welcher ein ganz unhistorischer ist.
Unter einem historischen Pragmatismus verstehen wir einen
solchen, welcher die Begebenheiten aus ihren natürlichen Ur-
sachen ableitet, wie in der Profan geschieh te geschieht, auch
allenfalls noch einen solchen, welcher zu diesen Ursachen ein
unmittelbares Eingreifen Gottes oder der Götter mitrechnet,
wie es in den Heiligenlegenden aller Völker der Fall ist; aber
von beiden verschieden ist der Pragmatismus des vierten
Evangeliums, nach welchem alle Begebenheiten nicht durch
natürliche oder auch übernatürliche Ursachen bewirkt wer-
den, sondern allein durch den in Gottes Ratschlufs voraus-
bestimmten Zweck, die Herrlichkeit des Sohnes Gottes den
Menschen zu offenbaren. Daher die öfter vorkommende Wen-
dung in den Reden des johanneischen Jesu: „Meine Stunde
ist noch nicht gekommen" (vgl. 2,4. 7,6), daher auch die
wiederholten Versuche der Juden, Jesum gefangen zu nehmen,
erfolglos bleiben; 7,30: „Da suchten sie ihn zu greifen, aber
niemand legte die Hand an ihn, denn seine Stunde war noch
nicht gekommen"; 8,20: „niemand griff ihn, denn seine Stunde
3. Die paulin. Heilstlieorie u. der Pragmatismus d. vierten Evangeliums. 275
war noch nicht gekommen". Besonders grell tritt dieser
Pragmatismus der Vorausbestimmung an einigen Ereignissen
hervor, so namentlich bei dem Blindgeborenen im Kap. 9, in
bezug auf welchen die Jünger dem Herrn die sonderbare
Doppelfrage vorlegen, 9,2 : „Meister, wer hat gesündiget, dieser
oder seine Eltern, dafs er ist bhndgeboren?" Wollen wir
nicht unsern Autor einer Gedankenlosigkeit beschuldigen, so
werden hier zwei mögliche Erklärungsgründe aufgestellt : Der
Mensch ist blindgeboren, entweder, weil seine Eltern ge-
sündigt haben, gemäfs der mosaischen Theorie, nach welcher
die Missetat der Eltern heimgesucht wird an den Kindern
(2. Mos. 20,5), oder weil er selbst gesündigt hat, eine Möglich-
keit, welche eine Seelenwanderung in der Weise der Inder
voraussetzt. So betrachtet würde die Doppelfrage der Jünger
ein grofses, welthistorisches Problem aufrollen : Wer hat Kecht
in der Erklärung der Leiden des Lebens, Mose, der keine Un-
sterblichkeit kennt, daher die Sünden der Väter an den Kindern
vergolten werden läfst, oder die Inder, nach deren Pragmatis-
mus alle Leiden des Lebens die Folgen der eigenen Versündi-
gung in einer frühern Geburt sind. Aber weder der alt-
hebräische noch der altindische Pragmatismus ist der unsers
Autors, M^ elcher seinen Jesus entscheiden läfst: „Es hat weder
dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern, dafs die Werke
Gottes offenbar würden an ihm." Also nur darum mufste der
arme Mensch von Geburt an blind sein, damit dem Sohne
Gottes eine Gelegenheit geboten würde, seine Macht an ihm
zu offenbaren. — Ähnlich liegt der Fall des Lazarus, welcher
aus demselben Grunde krank werden und sterben mufs;
11,4: „Da Jesus das hörete, sprach er: Die Krankheit ist nicht
zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dafs der Sohn Gottes da-
durch geehrt werde" (vgl. 11,42). — Alles aber wird über-
boten durch die Rolle, welche dieses Evangelium den Judas
spielen läfst. Jesus erwählt den Judas, obgleich er „von
Anfang an" (6,64) weifs, dafs derselbe ihn verraten werde,
und dieses sogar offen ausspricht, 6,70: „Habe ich nicht euch
zwölfe erwählet? Und euer einer ist ein Teufel!" Warum,
so wird doch jeder fragen, wählte denn Jesus den Judas,
wenn er wufste, dafs er ein Teufel war? Darum, so lautet
18*
276 IX. Das vierte Evangelium.
die Antwort, weil in dem ewigen Ratschlüsse Gottes dieser
Unglücksmensch notwendig war, um die Gefangennahme Jesu
herbeizuführen.
4. Der Sohn Gottes, allwissend und allmächtig.
Lesen wir die Briefe des Paulus nach der Reihenfolge
ihrer Abfassungszeit, so läfst sich vom ersten bis zum letzten,
vom ersten Briefe an die Thessalonicher bis zum Briefe an
die Philipper verfolgen, wie Jesus dem Apostel unter den
Händen aus einem individuellen Wesen sich fortentwickelt
zu einem kosmischen Prinzip, als welches er neben Gott
schon erscheint 1. Kor. 8,6: „So haben wir doch nur einen
Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir in
ihm; und einen Herrn Jesum Christ, durch welchen alle
Dinge sind und wir durch ihn." Deutlicher reden die spätesten
Briefe, Kol. 1,15, wo es von Christo heifst: „Welcher ist das
Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne vor allen
Kreaturen. Denn durch ihn ist alles geschaffen, das im Himmel
und auf Erden ist, das Sichtbare und Unsichtbare" ; vgl. auch
Eph. 3,9: „Die Mitteilung des Geheimnisses, das von der Welt
her in Gott verborgen gewesen ist, der alle Dinge geschaffen
hat durch Jesum Christum." Diese Fortentwicklung Jesu von
einem individuellen zu einem kosmischen Prinzip ist neben
der Anknüpfung an die griechische Philosophie die Vorstufe
und Voraussetzung der Logoslehre des vierten Evangeliums.
In diesem erscheint Jesus von vornherein als eine Inkarnation
Gottes, ausgestattet mit den göttlichen Prädikaten der All-
wissenheit und Allmacht. Der johanneische Jesus ist all-
wissend, Job. 2,24 — 25: „Aber Jesus vertraute sich ihnen
nicht, denn er kannte sie alle. Und bedurfte nicht, dafs jemand
Zeugnis gäbe von einem Menschen : denn er wufste wolil, was
im Menschen war." Er kennt den Nathanael, ehe er ihn
noch gesehen hat (1,48). Er enthüllt dem samaritischen Weibe
seine Vergangenheit (4,18), weifs, dafs er vor Abraham schon
da war (8,58), sagt auf das bestimmteste voraus, dafs der
Tempel seines Leibes abgebrochen und von ihm selbst am
dritten Tage wieder erbaut werden wird (2,19 — 21), sagt die
4. Der Sohn Gottes, allwissend und allmächtig. 277
Auferstehung der Toten voraus (5,28), meldet seinen Jüngern
den in der Ferne erfolgten Tod des Lazarus (11,11 — 14), und
auch in dem Zusatzkapitel von anderer Hand erklärt Petrus:
„Herr, du weifst alle Dinge" (21,17). Diese Allwissenheit
scheint sich gelegentlich auch auf andere zu übertragen, denn
dem Johannes wird eingegeben zu taufen, um den Messias
zu erkennen, und nachdem die Taube als das verabredete
Kennzeichen sich auf Jesum herabgelassen hat (1,32 — 33),
weifs Johannes sofort und sagt es voraus, dafs Jesus das
Lamm (a[j.vc(;, vgl. Jesaia 53,7) Gottes sei, „welches der Welt
Sünde trägt" (1,29). Ja sogar der Hohepriester Kaiphas weis-
sagt, ohne selbst zu verstehen, was er sagt, den Opfertod
Jesu (11,51). — Weiter ist Jesus als inkarmerter Gott auch
allmächtig; als solcher bedarf er keiner Speise (4,34), geht
durch verschlossene Türen (20,19.26), er hat die Welt er-
schaffen (1,3), Gott hat ihm Macht gegeben über alles Fleisch
(17,2), und er betätigt diese Macht durch acnt Wunderwerke,
welche alles hmter sich lassen, was die Synoptiker von dieser
Art berichten.
Das erste Wunder, die Verwandlung des Wassers in
Wein auf der Hochzeit zu Kana, ist ohne jeden ethischen
Gehalt und hat daher lediglich den Zweck, die magische
Macht des Gottessohnes über die Natur zu erweisen (Kap. 2).
Dann folgt die Heilung des Sohnes des Königischen aus der
Ferne (4,52), des Gichtbrüchigen, bei dem die magische Wir-
kung des durch einen Engel bewegten Wassers ersetzt wird
durch die nicht weniger magische Wirkung des Wortes Jesu
(5,4.8). Aus der synoptischen Überlieferung sind die Speisung
der Fünftausend und das Wandeln auf dem Meere herüber-
genommen; eigentümlich dem vierten Evangelium und, wie
oben gezeigt, bedingt durch den Zweck, die Herrlichkeit des
Sohnes Gottes zu offenbaren, sind die Heilung des Blind-
geborenen (Kap. 9) und die Auferweckung des Lazarus (Kap. 11),
woran sich als achtes Wunderwerk die aus der allgemeinen
Tradition übernommene Auferstehung Jesu schliefst, welche
hier nicht, wie nach der paulinischen Predigt, durch Gott,
sondern durch Jesum selbst bewirkt wird (2,19; über die ur-
sprüngliche Bedeutung dieses Wortes vgl. oben S. 229 fg.). Auch
278 IX. Das vierte Evangelium.
sonst fehlt es in unserm Evangelium nicht an Zügen magischer
Wirkung; so bei der Gefangennahme (18,6): „Als nun Jesus
zu ihnen sprach: Ich bins, wichen sie zurück und fielen zu
Boden"; und nach der Auferstehung 20,22 heifst es: „Und
da er das sagte, blies er sie an, und spricht zu ihnen : Nehmet
hin den heiligen Geist." Das stärkste Beispiel ist die Art,
wie hier der Verrat des Judas eingeleitet wird. Nach Matth.
26,23, Marc. 14,20 will Jesus beim letzten Mahle nur sagen:
Einer, der mir so nahe steht, dafs er mit mir die Hand in
die Schüssel taucht, d. h. mit mir aus derselben Schüssel ifst,
wird mich verraten. Und was wird daraus im vierten Evan-
gelium? Jesus erklärt: Einer unter euch wird mich verraten.
Petrus winkt dem Johannes, den Herrn zu fragen, welcher es
sei. Jesus antwortet : „Der ist's, dem ich den Bissen eintauche
und gebe. Und er tauchte den Bissen ein und gab ihn Juda
Simonis Ischarioth. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in
ihn" (13,26 — 27). Hiernach sieht es fast so aus, als hätte
Jesus durch Überreichung des Bissens das Fahren des Satans in
Judas und somit dessen Verrat selbst veranlafst. — Zu solchen
Konsequenzen führt der Pragmatismus dieses Evangeliums.
5. Die Wiedergeburt und der Monergismns.
Wir sahen oben, wie im Gedankengang des Apostels
Paulus aus den beiden fundamentalen Überzeugungen von der
Unfreiheit des Willens und den gleichwohl zu Recht be-
stehenden ethischen Forderungen die Lehre von der Wieder-
geburt als das Zentraldogma des Christentums allmählich
entstand, ohne dafs für die Bezeichnung dieser Wiedergeburt
schon ein bestimmter Terminus vorhanden wäre. Vielmehr
beschreibt Paulus diesen Prozefs mit mannigfachen Ausdrücken
als eine neue Schöpfung (Gal. 6,15, 2. Kor. 5,17), als ein Um-
gewandeltwerden ([j.£Ta[j.op9oOG'^£, Rom. 12,2), ein Geboren-
werden Christi in uns, das Anziehen eines neuen Menschen,
und erst im unechten Titusbrief 3,5 begegnet uns das Wort
luaXiYYsvsaia. — Diese verschiedenen Bezeichnungen beweisen,
dafs Paulus erst sucht nach einem Ausdruck für das, was
ihn innerlich beschäftigt, dafs somit das Dogma von der
5. Die Wiedergeburt und der Monergismus. 279
Wiedergeburt bei ihm noch nicht fertig dasteht, sondern erst
im Entstehen begriften ist. — Ganz anders im vierten Evan-
gehum. Hier tritt Jesus dem von etwas ganz anderm redenden
Nikodemus plötzhch und unvermittelt mit der Forderung ent-
gegen (3,3): „Es sei denn, dafs jemand von neuem geboren
werde (y£vvr,^fi avw'isv), kann er das Reich Gottes nicht sehen",
und ebenso paradox und unerwartet ist es, wenn schon der
Prolog (1,13) von solchen redet, die nicht von Menschen,
sondern von Gott geboren sind (Ix 'ieox) eyevvi^^YjCav). Die
Art, wie in diesen Stellen ein so originelles Dogma wie das
von der Wiedergeburt ohne Umstände als eine anerkannte
^^'ahrheit auftritt, ist ein deutlicher Beweis dafür, dafs dieses
Dogma unter den Händen des Paulus entstanden und im
vierten Evangelium von diesem fertig übernommen worden
ist. Und so findet auch die damit zusammenhängende pau-
linische Lehre vom Monergismus, nach w^elcher Gott allein es
ist, der sowohl das Wollen als auch das Vollbringen des
Guten in uns bewirkt, im vierten Evangelium vielfach seinen
Ausdruck ; 6,29 : „Das ist Gottes Werk, dafs ihr an den glaubet,
den er gesandt hat"; 6,37: „Alles was mir mein Vater gibt,
das kommt zu mir"; 6,44: „Es kann niemand zu mir kommen,
es sei denn, dafs ihn zieht der Vater, der mich gesandt hat";
6,65: „Darum habe ich euch gesagt, niemand kann zu mir
kommen, es sei ihm denn von meinem Vater gegeben"; 14,6:
„Niemand kommt zum Vater denn durch mich"; 15,5: „Ohne
mich könnt ihr nichts tun."
Ist somit der Beweis erbracht, dafs das vierte Evangelium
in allen Hauptpunkten der Lehre von den paulinischen Ge-
danken abhängig ist, so dürfen wir annehmen, dafs diese
Abhängigkeit wohl auch noch auf andere Gedanken sich er-
streckt. So begegnet uns der paulinische Gegensatz von
Fleisch und Geist zur Bezeichnung des natürlichen und des
wiedergeborenen Menschen, 3,6: „Was vom Fleisch geboren
wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird,
das ist Geist." Die von Paulus erkämpfte Freiheit vom
mosaischen Gesetz kommt schon im Prolog zum Ausdruck;
1,17 — 18: „Denn das Gesetz ist durch Mosen gegeben: die
Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden
280 IX- Das vierte Evangelium.
(also nicht durch Mose). Niemand hat Gott je gesehen (also
auch Mose nicht,, wie 4. Mos. 12,8, 5. Mos. 34,10 behauptet
wird), der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schofs ist, der
hat es uns verkündigt." Man vergleiche die Seitenblicke, die
der vierte Evangelist gelegentlich (z. B, 3,10. 4,21. 5,39. 6,49
[8,6]. 8,58. 10,8) auf die Religion der Väter wirft, wie auch
8,36: „So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht
frei." Der paulinische Gegensatz zwischen Knechtschaft und
Kindschaft erscheint 15,15 als der zwischen den Knechten
und den Freunden, und das von Paulus gebrauchte Bild von
Christo als dem Leib und den Christen als seinen Gliedern
(1. Kor. 12,12) mag Anlafs gegeben haben zu dem im vierten
Evangelium Kap. 15 ausgeführten von dem Weinstock und
seinen Reben. Endlich mag in betreff des Gebotes der Liebe
noch erwähnt werden, dafs bei Paulus die unter den Korinthern
betriebenen sogenannten Gnadengaben, wie Zungenreden und
Weissagen, dem Apostel Anlafs gaben, in dem herrlichen
Kapitel 1. Kor. 13 die Liebe höher als sie alle zu stellen,
während im vierten Evangelium derselbe Gedanke nicht durch
einen bestimmten Anlafs vermittelt, wie im ersten Korinther-
brief, sondern unvermittelt und also wohl auch hier in An-
lehnung an Paulus auftritt, 13,34: „Ein neu Gebot gebe ich
euch, dafs ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebt
habe, auf dafs auch ihr einander lieb habet."
Die zahlreichen von uns beigebrachten Gründe für eine
Abhängigkeit des vierten Evangeliums vom paulinischen Ge-
dankenkreise dürften hinreichen, unsere zu Eingang aufgestellte
Behauptung zu erweisen, dafs das Evangelium Johannis, weit
davon entfernt, das Werk eines unmittelbaren Jüngers zu sein,
vielmehr seine Entstehung dem Bedürfnis verdankt, die wesent-
lich aus eigener, innerer Offenbarung erwachsene Christus-
gestalt des Apostels Paulus in einem Leben Jesu anschaulich
dargestellt zu sehen.
Die Aussprüche des synoptischen Jesus, die in der Tiefe
des eigenen Bewufstseins wurzelnde Christusgestalt des Apostels
Paulus und die metaphysischen Spekulationen des vierten
Evangeliums haben gleichmäfsig zum Aufbau des Christus
der Kirche beigetragen. Alle drei sind nicht nur für die Ge-
5. Die "Wiedergeburt und der Monergismus. 281
schichte der Philosophie, sondern auch für die philosophische
Wahrheit selbst von hohem Werte. Aber wichtiger als der
Synthetiker Johannes ist uns der Analytiker Paulus, und beider
Systeme an Wert für die Menschheit weit überragend ist das-
jenige, was wir aus der synoptischen Überlieferung als echte
Gedanken Jesu anerkennen und uns zu eigen machen können.
X. Kern und Schale des Christentums.
Der Apostel sagt 2. Kor. 4,7: e'xofJ-sv 6s xöv j-irjCaDpöv toütov
SV haxgoLYlvoic, cxsusaw, „wir haben aber diesen Schatz in irdenen
Gefäfsen". In anderm Sinne als dem, welchen der Zusammen-
hang der Stelle fordert, können wir diese Worte auf das ganze
Christentum beziehen und an ihm einen unvergänglichen Schatz
von den vergänglichen Gefäfsen, die ihn einschliefsen , einen
unverherbaren Kern echter philosophischer Wahrheit von einer
sehr unphilosophischen Schale unterscheiden. Die fundamen-
tale Bedeutung dieser Unterscheidung wird sich aus dem ganzen
weitern Verlauf unserer Darstellung ergeben ; es wird sich dabei
zeigen, wie die Aneignung des Kernes mitsamt seiner Schale
den Grundcharakter der Philosophie des Mittelalters,
die Befreiung des Kernes von der ihn einschliefsenden Schale
die Hauptaufgabe der neuern Philosophie gebildet hat;
erstere hat nur zu oft über der Schale den Kern vernach-
lässigt, letzterg nur zu oft mit der Schale auch den Kern
weggeworfen und verloren.
1. Der Kern des Christentums.
Vier grofse Grundwahrheiten sind es, welche die Philo-
sophie dem Christentum verdankt, und welche sie nie aufgeben
kann, will sie nicht das Beste verlieren, was sie überhaupt
besitzt.
Erste Wahrheit: Der Determinismus. Dafs der
Wille des Menschen nicht frei, sondern durch die jedes-
maligen Motive mit Notwendigkeit bestimmt ist, dafs, mit
andern Worten, dem die ganze Natur beherrschenden Kausali-
tätsgesetz auch das Wollen und Handeln des Menschen unter-
282 X. Kern und Schale des Christentums.
liegt, ist eine Grundwahrheit, deren Spuren sich zwar auch
in dem indischen, griechischen und althebräischen Denken
nachweisen lassen, welche aber erst von Jesus und Paulus
mit voller Deutlichkeit ausgesprochen und zum Grundstein
ihrer ganzen Weltanschauung gemacht worden ist. Wie der
Baum, so seine Früchte, wie der Mensch, so seine Taten.
Dieses von Jesu gebrauchte Bild läfst keinen Zweifel darüber,
dafs er die Unfreiheit des Willens mit aller Deutlichkeit
erkannt hat. Dieselbe Erkenntnis finden wir beim Apostel
Paulus, nur dafs sie sich bei ihm mit dem aus dem Alten
Testament vererbten Theismus verbindet und dadurch zur
Prädestination als ihrer Konsequenz führt. Wie der Mensch
geschaffen ist, so ist er beschaffen, und wie er beschaffen ist,
so mufs er handeln. Frei sein kann nur ein solches Wesen,
welches sich selbst erschaffen, welches die Beschaffenheit,
nach der es mit Notwendigkeit handelt, aus sich selbst heraus
geboren hat.
Zweite Wahrheit: Der kategorische Imperativ-
Jesus und Paulus lassen sich durch die von beiden klar er-
kannte Unfreiheit des Willens nicht davon abhalten, unermüd-
lich vom Menschen zu fordern, dafs er das Gute vollbringe
und das Böse meide. Diese Imperative, von denen Jesu Worte
und Pauli Schriften voll sind, müssen als kategorische im
Kantischen Sinne anerkannt werden. Zwar ist oft genug im
Neuen Testament vom himmlischen Lohn, von der Aussicht
auf einen seligen Endzustand die Rede; aber es ist etwas
ganz anderes, ob dieser himmlische Lohn als Grund für das
sittliche Wohlverhalten, oder ob er nur als eine Folge des-
selben erscheint. Letzteres ist auch bei Kant der Fall, wenn
er in der Dialektik der praktischen Vernunft Unsterblichkeit
und jenseitige Vergeltung als Postulate aufstellt, ohne dafs
darum jener Imperativ aufhört, ein kategorischer zu sein,
welchen er formuliert in den Worten: „Handle so, dafs die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Diese Worte be-
sagen nicht, dafs wir die allgemeine Glückseligkeit befördern
sollen, weil unsere eigene darin mit einbegriffen ist, son-
dern ihr wahrer und tieferer, wenn auch nicht überall von
1. Der Kern des Christentums. 283
Kant streng festgehaltener Sinn ist: Handle nicht individuell,
sondern überindividuell, handle s(f, wie der handeln würde, den
du dir als den allgemeinen Gesetzgeber des Weltalls vorstellst.
So aufgefafst trifi't der Kantische Imperativ mit dem Jesu zu-
sammen: „darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer
Vater im Himmel vollkommen ist". Schärfer noch aber als
bei Kant in dem Kapitel von den Triebfedern der reinen
praktischen Vernunft tritt der wahre Inhalt dieses kategori-
schen Imperativs hervor in den Worten Jesu : „Will mir
jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein
Kreuz auf sich und folge mir" (Matth. 16,24), und in den
Worten Pauli : „Welche aber Christo angehören, die kreuzigen
ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden" (Gal. 5,24). Unter
Fleisch ist hier wie überall bei Paulus der Egoismus zu ver-
stehen, welcher die Wurzel des ganzen natürlichen Menschen
bildet, und aus welchem alle Handlungen desselben nach dem
Kausalitätsgesetz mit Notwendigkeit hervorgehen, daher es
Rom. 7,18 heifst: ,,Denn ich weifs, dafs in mir, das ist in
meinem Fleisch, wohnet nichts Gutes."
Dritte Wahrheit: Die Wiedergeburt. Hieraus ergibt
sich, dafs nicht ein blofses Tun und Lassen, sondern' eine
völlige "Neuschöpfung (y.awr] xtIük;) , eine Umwandlung des
alten Menschen in den neuen, wie Paulus, eine Wendung des
Willens von der Bejahung zur Verneinung, wie Schopenhauer
sagt, dasjenige ist, was dem aus den letzten metaphysischen
Tiefen unserer Natur entspringenden kategorischen Imperativ
Genüge leistet. Diese Wiedergeburt erscheint in der Dar-
stellung bei Paulus wie bei Schopenhauer in der Regel als
ein einmaliger Akt, indem beide in der begrifflichen Betrach-
tung zusammenrücken, was sich meist nur allmählich im
Verlauf des ganzen empirischen Daseins vollzieht. Denn der
, höchste Zw^eck und der eigentliche Sinn dieses Daseins besteht
darin, dafs der sich bejahende Wille aus der Erkenntnis der
Folgen dieser Bejahung an sich selbst und in der umgebenden
Aufsenwelt nach und nach zu einer Läuterung des ihm ein-
geborenen Egoismus gelangt. „Aus der Erkenntnis entspringt
die Erlösung" fjnänäd mohshahj ^ wie die Inder sagen, aber
diese Erkenntnis ist keine Erkenntnis, wie sie dem natürlichen
284 X. Kern und Schale des Christentums.
Willen die Motive seines Handelns liefert, sondern ganz anderer
Art, und kann durch keine •Belehrung, kann überhaupt nicht
durch natürliche Mittel bewirkt werden.
Vierte Wahrheit: Der Monergismus. Wenn das
Christentum in seinen hellsten Augenblicken und da, wo es
konsequent ist, erklärt, dafs diese Umwandlung, weil sie den
ganzen natürlichen Menschen betrifft, nicht von diesem selbst,
sondern von Gott, von dem, was das Christentum Gott nennt,
gewirkt werde, so wird sich eine tiefere Philosophie dieser
reinlichen Scheidung der natürlichen, d. h. egoistischen, und
der moralischen, d. h. das eigene Selbst verleugnenden Hand-
lungen, voll und ganz anschlief sen müssen. Beide sind so
entgegengesetzt wie Tag und Nacht, wenn sie auch eben wie
diese empirisch ununterscheidbar zusammenfliefsen und in
einander übergehen. Jede Handlung, deren letzter Zweck die
Beförderung des eigenen Wohles ist, entspringt aus dem
Egoismus, dieser Wurzel des natürlichen Menschen, und jede
Handlung, auch die kleinste, bei welcher das Bewufstsein vor-
handen ist, unser eigenes Wohl einem höhern Zweck zum
Opfer zu bringen, ist aus der natürlichen Ordnung der Dinge
nicht abzuleiten oder zu begreifen. Sie wird, wie das Christen-
tum sagt, durch Gott gewirkt. Aber das ist eben der
tiefere Sinn des Gottesbegriffes, dafs unser empirisches
Dasein, welches den Gesetzen des Raumes, der Zeit und der
Kausalität unterliegt, folglich egoistisch, sterblich und unfrei
ist, nicht unser wahres, metaphysisches Wesen, sondern eine
Abirrung von demselben bedeutet, aus welchem wir, wie
eine innere Stimme fordert, zu unserer eigenen, an sich
seienden, raumlosen, zeitlosen, kausalitätlosen, folglich sünd-
losen, unsterblichen und freien Wesenheit, mit andern Wor-
ten zu Gott zurückkehren sollen. Jede egoistische Handlung
entspringt aus dem angeborenen Befangensein in Raum, Zeit
und Kausalität, ist somit unfrei, und die mit dieser empiri-
schen Unfreiheit nach Kants Lehre zusammenbestehende
Freiheit des Willens bedeutet nichts Geringeres, als die bei
jeder Handlung unseres Lebens offenstehende Möglichkeit,
dafs wir imstande sind, wie ein Vogel aus der Schlinge, uns
von dem ganzen phantasmagorischen Zyklus der empirischen
1. Der Kern des Christentums. 285
Realität loszumachen und uns auf unsere an sich seiende,
göttliche Natur zurückzuziehen, d. h. zu Gott zurückzukehren.
2. Die Schale des Christentums.
Dieser köstliche Kern ethischer und metaphysischer Grund-
wahrheiten findet sich im System der christlichen Lehre ein-
gebettet in einer harten, auf der Beibehaltuiig des altsemitischen
Realismus (oben S. 32) beruhenden Schale, welche mit den
sichersten Resultaten der historischen, naturwissenschaftlichen
und philosophischen Forschung in unversöhnlichem Wider-
spruche steht.
Ewig ist nach diesem System nicht die Welt, nicht ein-
mal die Substanz, deren Unschaff barkeit und Unvernichtbar-
keit doch auf einem Grundgesetze a priori beruht, sondern
allein JaJive; Ps. 90,2: „Ehe denn die Berge worden, und die
Erde, und die Welt geschaffen worden, bist du, Gott, von
Ewigkeit zu Ewigkeit." Diesen Gott denkt sich der Hebräer
und, ihm folgend, das Christentum zwar allwissend und all-
mächtig, übrigens aber menschenähnlich; denn wenn es
1. Mos. 1,27 heifst: „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde",
so bedeutet das, in die Sprache der Wissenschaft übersetzt:
der Mensch stellt sich Gott nach dem Bilde eines Menschen
vor, eine Hypothese, welche unter allen, die man je zur Er-
klärung der Welt aufgestellt hat, die verwegenste und unmög-
lichste ist. Dieser Gott beschliefst zu einer bestimmten
Zeit, man sieht nicht recht warum, nachdem eine unendliche
Zeit ungenützt verstrichen ist, eine Welt zu schaffen. Im
Verlaufe von sechs Tagen schafft er, wie es scheint, aus
nichts (Hebr. 11,3) die Welt, d. h. die Erde und das
Übrige. Sonne, Mond und alle Sterne scheinen nur da zu
sein, um der kleinen Erde Wärme und Licht zu spenden.
Von den möglicherweise, ja auf Grund der Analogie wahr-
scheinlicherweise vorhandenen Bewohnern anderer Planeten
unseres Sonnensystems und der zahllosen übrigen Sonnen-
systeme ist keine Rede, noch weniger davon, ob auch sie
einer Erlösung bedürfen und auf welche Weise sie zu der-
selben gelangen können. Wir stofsen hier sogleich auf das
Grundgebrechen der christlichen Dogmatik; es besteht darin,
286 X. Kern und Schale des Christentums.
dafs sie Gott zum Prinzip der Welterlösung und zugleich
zum Prinzip der Weltschöpfung macht. Liegt diese Welt
im Argen, ist der Fürst dieser Welt der Teufel, bedürfen wir
einer Erlösung aus ihr, so kann sie nicht die Schöpfung eines
allweisen, allmächtigen und allgütigen Gottes sein, ist sie hin-
gegen das Werk eines solchen Gottes, so kann derselbe für
das Böse und das Übel, dessen die Welt voll ist, nicht ver-
antwortlich gemacht werden, wie es doch nach der alt-
testamentlichen, vom Christentum beibehaltenen Anschauung
unvermeidlich igt. Die Annahme, dafs Gott den Menschen
geschaffen und ihm dabei die Freiheit des Willens ver-
liehen habe, genügt nicht, um über diese Schwierigkeit hin-
wegzukommen, denn warum verlieh Gott den Menschen dieses
gefährliche Geschenk, da er doch vermöge seiner Allwissenheit
voraussehen konnte, wie die Sache ablaufen würde, und ver-
möge seiner Allmacht imstande sein mufste, eine andere Ein-
richtung zu treffen; aber eine Freiheit des Willens ist über-
haupt weder vereinbar mit Gottes Allwissenheit, welche eine
Vorausbestimmtheit alles Künftigen involviert, noch auch mit
einer Schöpfung des Menschen durch Gott, denn alles, was
geschaffen ist, mufs auch irgendwie beschaffen sein und gemäfs
dieser Beschaffenheit nach dem Kausalitätsgesetz mit Not-
wendigkeit handeln. Frei kann, wie schon oben gesagt wurde,
nur ein solches Wesen sein, welches sich selbst erschaffen,
welches die Eigenschaften, nach denen es handelt und handeln
mufs, aus sich selbst heraus geboren hat. Unbekümmert um
diese Schwierigkeiten lehrt das System, dafs Gott den Men-
schen frei geschaffen, und dafs der erste Mensch in seiner
Unerfahrenheit alsbald die ihm verliehene Freiheit benutzt hat,
um eine Handlung des Ungehorsams zu begehen, welche nach
menschlichen Begriffen ziemlich harmlos, als ein blofser Akt
des Vorwitzes erscheint, aber die fürchterlichsten Folgen hat,
sofern durch denselben Adam mit allen seinen Nachkommen
den Leiden des Daseins, dem ihnen nachfolgenden Tode
welcher der Sold der Sünde ist, und nach dem Tode der ewigen
Verdammnis anheimfällt. Um ihn aus dieser zu retten, sendet
Gott seinen Sohn, welcher nach vorbedachtem Ratschlufs als
ein sündloser Mensch (eine contradictio in adjecto) geboren
2. Die Schale des Christentums. 287
wird, leidet und stirbt, wodurch er für die Sünden der ganzen
Menschheit die Genugtuung geleistet hat, welche Gottes Ge-
rechtigkeit erfordert. Aber wenn es ungerecht ist, dem Sünder
die verdiente Strafe zu erlassen, so wird, nach menschlichen
Begritfen, die Ungerechtigkeit nicht ausgeglichen, sondern
verdoppelt, wenn die verdiente Strafe von dem Schuldigen
genommen und auf einen Unschuldigen gelegt wird. Nach
dieser Theorie, welche den Begriff einer materiellen Kom-
pensation in einer nicht eben glücklichen Weise auf das Gebiet
des Ethischen überträgt, sind durch den Opfertod des Sohnes
Gottes die Menschen von der Gewalt des Teufels erlöst, doch
besteht dabei die Bedingung, dafs sie die ihnen gebotene
Gnade im Glauben annehmen. Nach der tiefern Auffassung
des Apostels Paulus ist dieser Glaube nicht eine blofs äufser-
liche Annahme der Heilstatsachen, sondern eine so tiefe Er-
fassung derselben, dafs Kreuzigung und Auferstehung des
Heilands für uns zu einer Kreuzigung unseres ganzen natür-
lichen Menschen und zu einer Auferstehung in einem neuen
heiligen Lebenswandel wird, aber diese tiefere Auffassung
wird in der christlichen Kirche und auch im Neuen Testa-
ment keineswegs immer festgehalten; vielmehr ist der Glaube
sehr häufig, wie er schon Hebr. 11,1 definiert wird, nur eine
eA7T:t.^o[j.£vwv uTCcaTaai?, -n:pay;j,dT«v 'ikzjjpc, ou ßXsTCop-svov, „eine
gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und nicht zweifelt an
dem, das man nicht siehet", eine Erklärung, welche am Ende
doch auf ein Überzeugtsein ohne zureichende Gründe hinaus-
läuft; wonach also dasjenige, vor dem wir im Leben wie in
der Wissenschaft mit Recht gewarnt werden, irgend etwas
als wahr anzunehmen, von dem wir uns nicht überzeugen
können, hier als Bedingung der ewigen Seligkeit gefordert
wird. Aber auch diese Bedingung kann der Mensch nicht
aus eigener Kraft erfüllen, sondern es ist die Gnade Gottes,
welche willkürlich den einen zum Glauben und Heil, den andern
zur ewigen Verdammnis vorausbestimmt hat. Berechnet man
nun, wie viele Menschen und ganze Völker der Erde in der
vorchristlichen und nachchristlichen Zeit die Glaubensbotschaft
nie haben vernehmen können, der Bewohner anderer Welten
gar nicht zu gedenken, wie viele ferner schon hier auf der
288 X. Kern und Schale des Christentums.
Erde durch einen gewissen Grad historischer und naturwissen-
schaftHcher Bildung unfähig geworden sind, den Kirchen-
glauben festzuhalten, so dürfte wohl nur ein kleiner Prozent-
satz aller Menschen der Seligkeit teilhaftig werden, während
alle übrigen dem ewigen Verderben verfallen.
So wunderlich nimmt sich bei vorurteilsfreier Betrachtung
die äufsere Schale aus, welche die ewigen Heilswahrheiten
unserer Religion umschliefst und nur zu oft verdunkelt, —
und doch ist es besser, den Kern mitsamt der Schale fest-
zuhalten, als, wie es heutzutage leider nur zu oft geschieht,
mit der Schale auch den Kern wegzuwerfen und zu verlieren.
XI. Der christliche Gedanke und die antil<e Welt.
1. Der christliche Gedanke.
Der Grundgedanke des Christentums ist so paradox, so
unpopulär, so sehr der menschhchen Natur zuwider, dafs man
sich bilhg wundern mufs, wie ein solcher Gedanke unter
Menschen, wie wir nun einmal sind, Wurzel schlagen konnte.
Bricht doch dieser Gedanke den Stab nicht nur über diesem
und jenem Tun und Lassen, verlangt er doch eine völlige
Umwandlung unserer ganzen empirischen Natur, und diese
Umwandlung kann nicht von uns, sondern mufs von Gott
gewirkt werden, und uns bleibt nichts übrig, als demütig
„mit Furcht und Zittern" abzuwarten, ob es der göttlichen
Gnade belieben mag, sich unser zu erbarmen. Wie sollte der
natürliche Mensch, dessen Wesen in der Entwicklung des
klassischen Altertums einen so klaren und schönen Ausdruck
gefunden hatte, sich nicht mit dem ganzen Stolze, den ihm
das Bewufstsein des eigenen Wertes gab, gegen eine solche
Lehre aufbäumen ! Zwar waren auch dem lebensfrohen Volke
der Griechen Anklänge an den christlichen Gedanken nicht
fremd geblieben. Schon Anaximandros scheint das ganze
empirische Dasein für eine Schuld (a§t.xia) anzusehen, welche
durch den Tod gesühnt werden mufs, und Piatons Ethik
erhebt sich bis zu den Gedanken, dafs das Erdenleben in
Wahrheit ein Tod, dafs Unrechtleiden besser sei als Unrecht-
tun, und dafs die höchste Aufgabe des Daseins darin bestehe,
demselben zu entfliehen; Theaetet p. 176 A: „Es ist nicht
möglich, o Theodoros, dafs das Böse zunichte werde, denn
ein Gegensatz gegen das Gute mufs immer sein, noch auch,
Dkussen, Gescliichte der riiilosophie. II,ii, 2. 19
290 XI. Der christliche Gedanke und die antike Welt.
dafs es seinen Sitz habe bei den Göttern, sondern in der
sterblichen Natur und um die Stätte hienieden treibt es sich
um mit Notwendigkeit; und darum soll man bestrebt sein,
von hier dorthin zu fliehen so schnell wie möglich; das aber
ist die Flucht, dafs man Gott ähnlich werde so sehr man es
vermag, die Gottähnlichkeit aber besteht darin, dafs man
gerecht und heilig und weise werde." — Aber Gedanken wie
diese lagen dem Geiste des klassischen Altertums zu fern, als
dafs sie nicht auf den Kreis weniger Auserwählter, einen
Philo Judaeus, einen Plotinos und was ihnen nacheiferte, hätten
beschränkt bleiben müssen. Schon Aristoteles steht einer
solchen weltflüchtigen Stimmung völlig ablehnend gegenüber,
und die im spätem Altertum herrschenden Systeme der Stoiker
und Epikureer sind nur darauf bedacht, in der einen oder
andern Weise das Dasein auf dieser Erde möglichst wohnlich
und behaglich einzurichten.
Wenn es dem Piatonismus und dem bestechenden Glänze
seiner Diktion nicht möglich war, derartigen Gedanken zur
Herrschaft im Altertum zu verhelfen, wie konnte dies dem
Christentum und seiner stammelnden Sprache gelingen, zumal
dasselbe nicht auf nationalem Boden entsprossen war, sondern
aus dem barbarischen, durch seine fortwährenden Unruhen
verrufenen Palästina, und von dem kleinen, im Altertum
wegen seines Aberglaubens — creclat Judaeus Apella! Hör.
Sat. 1,5,100 — verachteten Volke der Juden herstammte? Die
Antwort wird lauten müssen: nur die Ermüdung des antiken
Geistes machte es möglich, dafs er sich dem weltfeindlichen
Christentum in die Arme warf, und nur die Unschuld und
kindliche Unerfahrenheit der germanischen Völker machte es
möglich, dafs sie die Schätze der eigenen Mythologie ohne
Bewufstsein ihres unersetzlichen Wertes aufopferten und sich
den christlichen Gedanken einimpfen liefsen, — aber nur der
ewigen Wahrheit dieses so paradoxen Gedankens ist es zu-
zuschreiben, dafs er sich in dem rastlos fortschreitenden Welt-
leben bis auf die Gegenwart erhalten hat und, wiewohl in
geläuterter Form, auch in aller Zukunft erhalten wird.
I
2. Die antike Welt. 291
2. Die antike Welt.
Müde allerdings war beim Einbruch des Christentums die
griechisch-römische Welt geworden, soweit von der Ermüdung
eines ganzen Zeitalters die Rede sein kann. Denn obgleich
die Göttin Natur jedes Zeitalter mit einer Anzahl überlegener
Geister beschenkt, so bedürfen dieselben doch eines Resonanz-
bodens, der Teilnahme der Zeitgenossen, und sind diese durch
Aufhäufung von geistigen Schätzen gesättigt, übersättigt und
abgestumpft, so kann sich der Genius so wenig entfalten wie
die Pflanze, wenn ihr Boden und Nahrung, Luft, Licht und
"Wärme mangeln. In dieser Lage aber war der antike Geist
beim Auftreten des Christentums.
Längst vorüber waren die Zeiten, wo die griechischen
Kantone in fröhlichem Aufblühen und frischen Fehden gegen
einander auch zu geistiger Produktion erstarkt waren, wo
sodann Athen und Sparta in dem unseligen Peloponnesischen
Kriege sich gegenseitig zerfleischt hatten und als Folge davon
dem macedonischen Eroberer zur Beute wurden (338 a. C),
dessen Reich seinem grofsen Sohne nur als Sprungbrett diente,
um hellenische Kultur bis nach Indien hineinzutragen, und
wo das von ihm geschaff'ene Weltreich in vier sich gegen-
seitig bekämpfende und schwächende Monarchien, die mace-
donische, pergamenische, syrische und ägyptische, auseinander-
gebrochen war.
Inzwischen hatte Rom aus kleinen Anfängen, getragen
durch die handfeste Tapferkeit und die ehrbare Tugend seiner
Bürger, sich zur Herrin von ganz Italien gemacht, und den
geübten Waffen seiner Legionen waren nach und nach Spanien
(197), Macedonien (168), Karthago (146), Pergamum (133),
Syrien (65), Gallien (52), Ägypten (31) erlegen.
Aber die mit der Eroberung so vieler Länder betrauten
Feldherren erstrebten und erlangten an der Spitze ihrer sieg-
reichen Heere eine Selbständigkeit, welche zu Zwietracht und
Bürgerkriegen zwischen Marius und Sulla, zwischen Pompejus
und Cäsar führten, bis schliefslich der Feldherr zum Monarchen,
der Imperator zum Kaiser wurde und nach der Schlacht bei
Aktium (31 a. C.) Augustus das Erbe seines grofsen Oheims
19*
292 XI. Der christlicbe tJedaiike und die antike Welt.
antrat und cimcta discordiis civüihus fessa )wminc principis
sub imperntm accrpit, „das ganze, der Bürgerkriege müde Reich
als Alleinherrscher in Besitz nahm". Aber mit dem Verfall
des Vaterlandes war auch die Religion der Väter im weiten
Römischen Reiche in Verfall geraten, neben der Zwietracht
der Machthaber ging die Zwietracht der verschiedenen Philo-
sophenschulen her, bis auch hier alles der unaufhörlichen
Streitigkeiten müde geworden und der geistige Boden für die
grofse Revolution vorbereitet war, welche im geistigen Leben
der Zeit durch das Christentum, nicht von oben nach unten,
sondern von unten nach oben in Gang gebracht wurde, bis
der in den untern Volksschichten erstarkte neue Glaube auch
die Spitzen des geistigen und des politischen Lebens ergriff
und unter seine Herrschaft beugte.
3. lufsere Ausbreitung des Cliristentums.
Paulus war es, welcher in unermüdlichem Missionseifer
das Christentum in Syrien und Kleinasien, in Macedonien und
Griechenland verbreitet und schlief slich sogar in Rom ge-
predigt liatte. Hingegen scheinen die übrigen Apostel ihre
Tätigkeit vorwiegend auf Palästina und Syrien beschränkt zu
haben; nur unsichere und teilweise mit dem Tatsächlichen in
Widerspruch stehende Sagen wissen davon zu berichten, dafs
auch Petrus nach Rom gekommen sei, dafs Andreas in Skythien,
Thomas in Parthien und Bartholomäus in Indien das Christen-
tum verbreitet habe. Wie dem auch sei, jedenfalls machte
das Christentum im griechisch-römischen Weltreiche erstaun-
lich schnelle Fortschritte. So berichtet Plinius Secundus,
welcher 111 — 113 als Prokonsul die Provinz Bithynien ver-
waltete, in einem Briefe an den Kaiser Trajan (Epist. X, 96),
dafs durch das Anwachsen des Christentums die Göttertempel
schon fast verödet seien fprope jam dcsolafa- templaj und die
Opfertiere vergebens zum Kaufe angeboten würden, dafs er
die gegen geheime Verbindungen (hdacriae) bestehenden Gesetze
mit Strenge angewendet und die als Christen ihm Angegebenen
verhört habe, aber vihil aliud incon quam snpcrstitioncm pra-
vaiii (t iinniodicant. In seinem Antwortschreiben (Epist. X, 97)
3. Aiilseie Ausltroituiijr des Christentums. 293
billigt der Kaiser das Verfahren des Piinius, bestimmt aber,
dafs man die Christen nicht aufspüren, sondern nur, wenn
sie als solche angegeben würden, gerichtlich verhören und
bestrafen solle f'conqiiirendi nou sunt; si dcfcrantnr et arfiuan-
iur, pumciidi sunfj. —
Wie im Orient, wo bald darauf Edessa ein Hauptsitz des
Christentums wurde, verbreitete sich auch im Abendlande,
namentlich von Karthago, Lugdunum und Vienna aus, das
Christentum durch Einzelne bis nach dem linksrheinischen
(jermanien und nach Britannien hin, so dafs wir um das
Jahr 150 in allen Teilen des Kömischen Reiches und über
seine Grenze hinaus christliche Gemeinden finden, ungeachtet
der Verfolgungen, denen die Christen von Seiten des Volkes
wie der Regierung ausgesetzt waren.
Während die Juden schon durch die Edikte des C. Julius
Cäsar in ihren Privilegien geschützt und als eine religio licita
anerkannt waren, auch wegen der Einschränkung ihrer Religion
auf ein durch Rasse und Lebensgewohnheiten scharf unter-
schiedenes Volk weniger gefährlich erschienen, so fiel das
Christentum unter den Begriff der verbotenen Hetärien, galt
nach wie vor als eine religio iUicita, und seine Anhänger
waren genötigt, ihre Zusammenkünfte selbst in Katakomben
und andern geheimen Orten abzuhalten, wodurch sie zu den
absurdesten Verleumdungen, sie schlachteten kleine Kinder,
tränken Menschenblut, verehrten als Gott einen Eselskopf usw.,
Anlafs boten und sich beim Volke gründlich verhafst machten.
Aber auch unter den gebildeten Römern war das Urteil über
die Christen kaum weniger ungünstig, wie daraus zu ersehen,
dafs Tacitus (Annal. XV, 44) sie als per flagitia invisos be-
zeichnet und behauptet, sie seien odio Immani gcneris covvicH,
während Sueton (Vita Neronis cap. XVI) von ihnen redet als
einem genus liomiinim superstitiofns vovae ac maleficae. Indem
dieser Hafs die Christen zur geheimen Ausübung ihres Kultus
nötigte, und diese Geheimhaltung in unheilvoller Wechsel-
wirkung neuen Hafs erzeugte, kam die gesteigerte Volkswut
hier und da zunächst in lokalen Verfolgungen der Christen
zum Ausbruch. Bald aber sah sich auch die Staatsregierimg
veranlafst, gegen die Christen einzuschreiten, da dieselben
294 XI. Der christliche Gedanke und die antike ^^'clt.
weder die Götter der Staatsreligion anerkannten, noch auch
dem Kaiser die übHche Verehrung als einem Wesen höherer
Art zollten, von religiösen Festen und öflfentlichen Lustbar-
keiten fernblieben, auch wohl gelegentlich sich weigerten,
Amter zu verwalten und Kriegsdienste zu leisten, und durch
alles dieses als religionslose Atheisten und staatsgefährliche
Neuerer in Verruf waren. Daher erklärt sich die auffallende
Erscheinung, dafs es in der Regel gerade die bessern Kaiser
waren, welche die neue Sekte verfolgten und zu unterdrücken
suchten. Die neronische Verfolgung nach dem Brande Roms
im Jahre 64 p. C. scheint bis zum Tode des Nero fortgedauert,
aber doch auf Rom und seine Umgebung sieh beschränkt zu
haben. Vespasian (69 — 79) und Titus (79—81) bedrückten die
Christen nicht, nur dafs sie ebenso wie die Juden die jähr-
liche Tempelsteuer bezahlen mufsten; unter Domitian (81 — 9G)
wurden mehrfach Christen als Atheisten hingerichtet. Nerva
(96 — 98) liefs sie in Ruhe; Trajan (98—117) empfahl, wie oben
gezeigt, dem Plinius, die Christen nur, wenn Klage gegen sie
erhoben würde, vor Gericht zu ziehen und aljzuurteilen; Hadrian
(117 — 138) verachtete, wie alle ausländischen Kulte, auch das
Christentum, trat aber doch dem Verlangen des Volkes, bei
öffentlichen Festen einige Christen hingerichtet zu sehen, ent-
gegen. Unter Antoninus Pius (138 — 161) und seinem Nach-
folger Mark Aurel (161 — 180) waren es namentlich öffentliche
Kalamitäten, wie Erdbeben, Brand und Pest, welche als eine
Strafe der Götter wegen des ihnen feindlichen Christentums
angesehen wurden und dadurch die Volkswut gegen die Christen
erregten, welcher der milde gesinnte Antoninus nach Möglich-
keit entgegentrat, während Mark Aurel zu sehr von dem höhern
Werte seines Stoicismus überzeugt war, um nicht sogar Folte-
rung der Christen zum Zwecke des Widerrufs und Konfiskation
ihres Vermögens zugunsten ihrer Angeber zu dulden. Milder
behandelte sie, durch weiblichen Einflufs bestimmt, sein laster-
hafter Sohn Commodus (180 — 192). Septimius Severus .(193 —
211), anfangs gegen die Christen milde gestimmt, verbot durch
ein 202 erlassenes Edikt den Übertritt zum Judentum und
Christentum und gab dadurch der Verfolgungswut neue Nah-
rung. Auch unter seinem Sohne Caracalla (211—217) dauerten
I
3. Äufsere Ausbreitung des Cliristeutums. 295
die Verfolgungen wenigstens in einzelnen Provinzen fort, wälirend
dessen angeblicher Sohn Elagabalus (218—222) und sein ihm
folgender Vetter Alexander Severus (222 — 235) dem Christentum
Duldung gewährten. Feindlicher gegen dasselbe stellte sich
der Usurpator Maxirainüs Thrax (235 — 238), welcher durch
sein Edikt gegen den Klerus dem Christentum den Boden zu
entziehen suchte, während Gordianus (238 — 244) und Philippus
Arabs (244—249) das Christentum sogar offen begünstigten.
Unter dem letztern wurde 248 das tausendjährige Bestehen
des Römischen Reiches gefeiert; die ruhmreichen Erinnerungen
an die Vergangenheit und mit ihnen das Interesse für die
Staatsgötter wurden neu belebt, und um ihren Kultus als un-
entbehrliche Stütze der staatlichen Ordnung wiederherzustellen,
beschlofs der tapfere, an Stelle des Philippus von dem Heere
zum Kaiser erwählte Feldherr Decius (249—^251), das Christen-
tum durch eine systematische, auf alle Teile des Reiches sich
erstreckende Verfolgung gänzlich auszurotten. Die Magistrate
der Städte wurden angewiesen, die Bischöfe zu töten, alle
übrigen aber, deren grofse Zahl für den Bestand des Reiches
schon nicht mehr zu entbehren war, durch alle möglichen
Mittel, durch Folter, Gefängnis und Hunger zum Abschwören
des Christentums zu zwingen. Viele liefsen sich bewegen zu
opfern füinrißcati , sacrißcatij und erhielten dafür eine Be-
scheinigung {lihellusj ausgestellt flibellaticij, andere wufsten
diese Bescheinigung zu erkaufen; die das Christentum auch
unter Martern Bekennenden hiefsen confessores, die, welche
bis zum Tode standhaft blieben, wurden martyns genannt.
Viele liefsen sich durch diese, auch während der folgenden
Regierungen des Gallus und Valerianus zehn Jahre lang fort-
gesetzten Verfolgungen bewegen, zu dem alten Götterglauben
zurückzukehren, viele erlitten den .Märtyrertod, aber noch
gröfser war die Zahl derer, welche durch Standhaftigkeit der
Gefolterten und Getöteten für den Christenglauben gewonnen
wurden; das Blut der Märtyrer wurde der Same der Kirche.
Erst unter Galhenus (2G0-268) und Claudius H. (268—270)
wurden die Verfolgungen eingestellt, auch unter Aurelian
(270 — 275) wegen dessen frühzeitig erfolgten Todes nicht wieder
aufgenommen, und ebenso ruhten sie unter seinen durch
296 XI. Der christliche Gedanke und die antike Welt.
Bekämpfung auswärtiger Feinde in xVnspruch genommenen, in
rascher Folge wechselnden Nachfolgern, Tacitus, Probus und
Carus, so dafs die Kirche einen vierzigjährigen Frieden genofs
und in dieser Zeit nicht gehindert wurde, sich mächtig aus-
zubreiten. Diokletian (284—305), von dem Heere zum Augustus
erwählt, ernannte zum zweiten Augustus seinen Waffen-
gefährten Maximian und zu Cäsaren, d. h. Thronfolgern, seine
beiden Schwiegersöhne, den Constantius, welcher seine frühere
Gemahlin, die Christin Helena verstofsen mufste, und den
Galerius, und verteilte die Verwaltung des weiten Reiches in
der Art, dafs Constantius in Gallien, Maximian in Italien,
Galerius in den Balkanländern und er selbst in Kleinasien
residierte. Anfangs gegen die Christen eine schon zur Tradi-
tion gewordene Toleranz übend, liefs er sich gegen Ende seiner
Regierung durch Galerius zu vier immer mehr verschärften
Edikten gegen die Christen bestimmen, auf Grund deren acht
Jahre lang, 303 — 311, eine schwere Christenverfolgung in
allen Teilen des Reiches ausbrach, welche nur im Gebiete des
Constantius (Gallien und Britannien) gemildert wurde und,
als nach dessen Tode Constantinus, sein Sohn von der Helena,
ihm .306 als Cäsar folgte, in seinem Gebiete ganz aufhörte,
während sie im Osten des Reiches unter Galerius und zwei
von ihm ernannten Cäsaren nur um so stärker fortwütete, bis
Galerius, die Vergeblichkeit seiner Bemühungen erkennend,
311 in Gemeinschaft mit Constantin ein Toleranzedikt erliefs,
welches den Christen in allen Teilen des Reiches freie Religions-
übung zusicherte. Im Grunde war es auch hier die Tyrannei
des Begrifies (Phil. d. Griechen, S. 162), welche Verfolger wie
Verfolgte wie ein Dämon beseelt und so viel Verwirrung und
Unglück veranlafst hatte; denn nur ein abstrakter Begritf war
es, welcher die Verfolger alle Gebote der Menschlichkeit ver-
gessen liefs, und welcher den Verfolgten die Standhaftigkeit
verlieh, um seinetwillen sich selbst und ihre Familien in namen-
loses Unglück zu stürzen. Inzwischen hatten Diokletian und
Maximian bereits 305 die Regierung niedergelegt, und an ihre
Stelle waren im Osten Galerius, im Westen Constantius und
nach seinem Tode 306 Constantin getreten, während in Rom die
Prätorianer den Maxentius, Sohn des Maximianus, zum Kaiser
3. Äufsore Ansliieitiing des Cliristcntums. 297
erhoben hatten. Dieser war ursprünglich dem Christentum
geneigt, his ihn die Eifersucht auf Constantin veranlafste, sich
der heidnischen Partei zuzuwenden. Es kam zwischen den
beiden zum Krieg, Constantin ging über die Alpen und be-
siegte den Maxentius zu Turin und bei den Saoca rubra un-
weit lioms (Itoc siguo vincaslj: Maxentius floh und ertrank im
Tiber 312. Im Osten trat nach dem Tode des Galerius 311
Licinius an seine Stelle; auch dieser war zuerst dem Christen-
tum nicht abgeneigt und erliefs gemeinsam mit Constantin
ein Toleranzedikt; aber auch ihn veranlafste die Eifersucht,
sich auf Seite der heidnischen Partei zu stellen; beide Herrscher
gerieten in Streit, und der Kampf zwischen Licinius und Con-
stantin wurde zum Entscheidungskampf zwischen Heidentum
und Christentum. Nach Besiegung des Licinius (hingerichtet
325) bheb Constantin Alleinherrscher (324 — 337); er gewährte
dem Christentum volle staatliche Anerkennung und viele Ver-
günstigungen, zeigte sich aber auch dem Heidentum gegen-
über duldsam. Die Taufe empfing er erst kurz vor seinem
Tode. Die Verwaltung des Reiches ging an seine drei zu
Augusti ernannten Söhne, Constantin II. im Westen, Constans
in Italien, Constantius im Osten, über, deren Bedrückung des
Heidentums und Bevorzugung des Christentums sie nicht ab-
hielt, bald mit einander in Streit zu geraten. Constantin
wurde bei einem Feldzuge gegen Constans 340 erschlagen,
sein Bruder Constans fiel zehn Jahre später einer Verschwörung
zum Opfer; Constantius, zum Alleinherrscher geworden, liefs
nicht nur die heidnischen Tempel schliefsen und die Opfer ver-
bieten, sondern verfolgte als Gegner des Parteiwesens auch den
Athanasius und seine Anhänger. Er ernannte zum Cäsar seinen
Vetter Julianus, welcher durch siegreiche Kämpfe im Elsafs,
am Rhein und in den Niederlanden die Eifersucht des Kaisers
erregte und, als dieser ihm seine besten Truppen entziehen
wollte, von dem für ihn begeisterten Heere zu Paris zum
Kaiser ausgerufen wurde. Constantius starb, ehe es zum Zu-
sammenstofs kam, und Julianus (361—363), der in den Idealen
der antiken Welt lebte und ein begeisterter Anhänger der
neuplatonischen Philosophie war, suchte, ohne die Christen
direkt zu bedrücken, durch Entziehung ihrer Privilegien und
298 XL Der christliche Gedanke und die antike Welt.
Erneuerung des alten Gotterkultus das absterbende Heidentum
neu zu beleben, bis er, zwei Jahre nach seinem Regierungs-
antritt, in Persien seiner ungestümen Tapferkeit zum Opfer
fiel. Mit seinem Tode war der Untergang des antiken Heiden-
tums und der Sieg des Christentums entschieden, wie es der
dem sterbenden Kaiser in den Mund gelegte Ausruf besagt:
o,ao? v£V''xr|xac, o ToLkikalsl „0, Galiläer, nun hast du doch
gesiegt!"
In den folgenden Jahren regieren im Westen Valentinianus
und sein Sohn Gratianus, im Osten Valens und nach seinem
Tode (378), von Gratianus zum Mitregenten ernannt, Theo-
dosius, welcher, nachdem Gratianus im Kampfe gefallen war
und nach Beseitigung einiger Nebenkaiser, zum letzten Male
(383 — 395) das ganze Römische Reich unter seinem Szepter
vereinigte. Er liefs 390 eine wegen seiner Greueltat in Thessa-
lonich vom Bischof Ambrosius in Mailand über ihn verhängte
achtmonatige Kirchenbufse willig über sich ergehen und
machte 392 durch ein allgemeines Verbot dex heidnischen Opfer
dem Heidentum in den Städten ein Ende, während es sich bei
den Dorfbewohnern {payanij noch länger erhielt und erst all-
mählich erlosch.
Dem endgültigen Siege des Christentums folgte bald
darauf (476) der Zusammenbruch des weströmischen Staates.
Es wäre zu viel gesagt, wollte man ihn in erster Linie dem
Christentum schuld geben. Vielmehr waren es die aus dem
Kinderschlaf erwachten und ihrer Kraft sich bewui'st ge-
wordenen nordischen Barbaren, vor allen die Germanen, welche
nicht mehr zu bändigen waren, unaufhaltsam gegen das Rö-
mische Reich anstürmten und dessen Auflösung herbeiführten.
Aber in dem Mafse, wie ihre Angriffskraft wuchs, war die
W^iderstandsfähigkeit des römischen Bürgers geschwunden,
seitdem der alte Götterkultus verdrängt w^ar durch den Christen-
glauben, welcher schon darum den Ruin des Staates gelassen
und gleichgültig anzusehen lehrte, weil er in kürzester Zeit
die Wiederkunft des Herrn und mit ihr das Ende aller irdischen
Herrlichkeit erwartete.
Die Patristik.
XII. Die erste Periode der Patristik:
Vom apostolischen Zeitalter bis zum Konzil zu Nicaea
(100—325 p. C).
1. Vorbemerkungen.
Neben den äufsern Verfolgungen, welchen das Christen-
tum während der ersten drei Jahrhunderte seines Bestehens
teils durch den Unverstand der Menge, teils durch den Ver-
stand und das staatskluge Verhalten der Regiereaden aus-
gesetzt war, hatte die junge Kirche in demselben Zeitraum
manche innere Krisen zu überwinden, welche einerseits durch
ihr Hervorwachsen aus dem Schol'se des Judentums, anderer-
seits durch gewisse keimartig in ihr liegende und zur Fort-
entwicldung drängende Prinzipien über sie heraufbeschworen
wurden.
In erster Hinsicht hatte die Kirche schon im apostolischen
Zeitalter und so auch in der ihm folgenden Periode viel zu
leiden durch den Gegensatz zwischen den Judenchristen,
welche die Beibehaltung der Beschneidung, des mosaischen
Gesetzes und der jüdischen Werkheiligkeit für Bedingungen
der Seligkeit erklärten und geneigt waren, Jesum als einen
blofsen Menschen, als den letzten und höchsten der Propheten
anzusehen, und den Heidenchristen, welchen nach pau-
linischem und johanneischem Vorgange Jesus eine Inkarnation
der Gottheit, der fleischgewordene Logos war und welchen
300 XII. I)ie*eiste Periode der Patristik.
die durch das Evangelium erlangte Freiheit vom Gesetze
nicht selten als Deckmantel weltlicher und sinnlicher Gelüste
dienen mufste.
Aber noch schwerer krankte die Kirche daran, dafs die
in ihr liegenden intellektuellen und moralischen Tendenzen
auf eine extreme Ausbildung hindrängten, woraus einerseits
der Gnostizismus, andererseits der Montanismus und
schliefslich der beide Tendenzen in sich vereinigende Mani-
chäismus hervorging.
Indem die Kirche derartige Bestrebungen entweder als
Häresien aus sich ausschied oder dieselben, so gut es gehen
wollte und zum Schaden der logischen Konsequenz, zu sich
zurückbog, gelangte sie endlich dazu, eine katholische, alle
Christen in sich befassende Gemeinschaft zu werden, bis im
weitern Verlaufe (1054 p. C.) diese katholische. Kirche in eine
römisch-katholische und eine griechisch-katholische
und damit in zwei contradidiones in adjedo auseinanderbrach.
Wir wollen versuclien, die Hauptmomente dieses Entwick-
lungsganges in der Kürze zu charakterisieren.
2. Die apostolischen Väter.
An der Schwelle der Patristik, der Geschichte der patres
ecdesiae oder Kirchenväter, begegnen uns die apostolischen
Väter, welche so heifsen, weil sie mit Recht oder Unrecht
dafür gelten, noch unmittelbare Schüler der zwölf Apostel
gewesen zu sein. Von sieben unter ihnen haben sich eine
Anzahl Schriften, meist in Briefform, erhalten, in Nachbildung
der paulinischen Briefe, an deren Tiefe, Aktualität und inneres
Leben jedoch die Schriften dieser apostolischen Väter nicht
entfernt heranreichen. Eine Erklärung dieser Dekadenz daraus,
dafs der biblische Kanon inspiriert, die an ihn sich schliefsende
Kirchenliteratur aber nicht mehr inspiriert sei, würde auf der
jedenfalls irrigen Voraussetzung beruhen, dafs der Heilige Geist
nur über den Anfängen der Kirche, nicht aber mehr über
deren weitern Schicksalen gewacht habe, und beruht dazu
auf einer nicht mehr haltbaren Vorstellung von der Inspira-
tion, einem Begriff, welcher durchaus nicht zu verwerfen ist.
2. Die apostolischen Väter. 301
aber gar sehr der Umformung bedarf. Allerdings steht der
empirischen Erkenntnis, welche nur die Zusammenhänge der
Dinge in Raum, Zeit und Kausalität klarzulegen vermag, eine
andere Art der Erkenntnis gegenüber, die metaphysische,
welche sich über alle diese Zusammenhänge erhebt, in dem
ansichseienden, uns allen innewohnenden Wesen der Dinge,
also in dem, was die Religion in ihrer Sprache Gott nennt,
wurzelt, und das, was sich ihr hier offenbart, nach drei Rich-
tungen hin, als philosophische, künstlerische und religiöse
Inspiration, gleichsam durch höhere Eingebung empfängt und
zum Ausdruck bringt. Als Beispiele dieser Inspiration können
aus der alten Welt in philosophischer Hinsicht Parmenides,
Piaton und Aristoteles, in künstlerischer Aischylos, Sophokles
und Euripides und in religiöser Jesus, Paulus und das vierte
Evangelium dienen. Der auffallende Umstand, dafs nach diesen
grofsen Erscheinungen lange Jahrhunderte hindurch nichts
hervortritt, was ihnen auch nur entfernt an die Seite gestellt
werden könnte, erklärt sich aus einem allgemeinen Natur-
gesetze, welches man das Gesetz der Epigonie nennen
könnte. Eine fruchtbare, in der Entwicklung der Menschheit
neu auftretende Idee pflegt bei ihrem ersten Aufkommen die
besten Geister des Zeitalters zu ergreifen, sie von Grund aus
zu erschüttern und zu den höchsten, ihrer Kraft erreichbaren
Leistungen anzuspornen; sind aber diese Leistungen voll-
bracht, ist gleichsam die neu entdeckte Mine ausgeschöpft,
so tritt naturgemäfs eine Zeit der Ermattung ein, welcher es
nicht an geistigen Kräften, wohl aber an der x\nregung zu
ihrer höchsten Anspannung mangelt.
Wie überall, so bewährt sich dieses Gesetz auch auf
religiösem Gebiete, wenn wir mit den Schriften des Neuen
Testaments die der apostolischen Väter vergleichen, welche
es für unsern Zweck genügen wird hier in der Kürze anzu-
führen. Die für sie am meisten charakteristischen Züge sind
eine weitgehende allegorische Erklärung des x\lten Testaments,
ungezügelte chiliastische Hoffnungen und eine vorzugsweise
praktische, moralisierende Tendenz. Viele Erzeugnisse dieser
Literaturgattung mögen verloren gegangen sein, anderes ist
von zweifelhafter Echtheit. Die Hauptschriften sind;
302 XII. Die erste Periode der Patristik.
1. der Brief des Clemens an die Korinther,
2. die Briefe des Ignatius von Antiocliien,
3. der Brief des Polykarp von Smyrna,
4. der Brief des Barnabas,
5. der Hirt des Hermas,
G. der zweite (unechte) Brief des Clemens,.
7. die hihoLffq Toü xuptcu Sia töv SwSey.a (xttcctcaov.
1. Der erste Brief des Clemens Tiomanus, dessen
Verfasser von einigen als erster, von andern als dritter Nacli-
folger des Petrus auf dem römischen Bischofsstuhl bezeichnet
wird, nimmt eine Spaltung in der korinthischen Gemeinde
zur Zeit des Domitian zum Anlafs, um den Korinthern neben
dem Glauben und der Liebe besonders die Eintracht und die
willige Unterordnung unter die von den Aposteln eingesetzten
Aufseher (Itc^xottoi) und Diener (Siaxovo',) zu empfehlen. Der
Anspruch einer hohem Autorität des römischen Bischofs über
die der übrigen Gemeinden tritt in dem Schreiben, dessen
Abfassung von den meisten in die Jahre 93 — 95 p. C. gesetzt
wird, schon deutlich hervor.
2. Die sieben Briefe des Ignatius von Antiocliien.
Ignatius, noch ein Schüler des Apostels Johannes, Bischof
von Antiocliien, starb als Märtyrer um 115 p. C, sei es in
Antiocliien, sei es in Kom, wohin er auf Befehl des Trajan
gefangen abgeführt und von Leoparden zerrissen worden sein
soll. Auf der Reise nach Rom soll er die sieben Briefe ver-
fafst haben, von denen fünf an kleinasiatische Gemeinden, die
beiden übrigen an die Römer und an Polykarp gerichtet sind.
Er warnt in diesen Briefen vor Irrlehren gnostischer Art und
empfiehlt als sichersten Schutz gegen dieselben die willige
Unterordnung der Gemeindeglieder unter die Autorität der
Bischöfe und Altesten.
3. Der Brief des Polykarp an die Philipper. Poly-
karp, Bischof von Smyrna, angeblich noch vom Apostel
Johannes in sein Amt eingesetzt, erlitt als Greis von 8G Jahren
auf dem Scheiterhaufen zu Smyrna den Märtyrertod, entweder
unter Mark Aurel oder schon 155 p. C. Sein mutmafslich noch
unter Trajan verfafster Brief an die Philipper crmahnt ähnlich
wie die Briefe des Ignatius zum Gehorsam, warnt vor Irrlehren,
2. Die apostolischen Vätor. 303
ergeht sicli in moralischen Betrachtungen und stellt die nahe
Wiederkunft Christi in Aussicht.
4. Der Brief des Barn.abas, nicht von dem Mitarbeiter
des Paulus, aber in dessen Sinn und unter seinem Namen von
einem Heidenchristen, nach Ilarnack wahrscheinlich erst um
das Jahr 130 p. C. verfafst, erklärt das Zeremonialgesetz des
Alten Testaments für unverbindlich, stellt ihm das neue Ge-
setz Jesu Christi gegenüber und gefällt sich in allegorischen
Umdeutungen des Alten Testaments, welche er als die yvöci«;
bezeichnet und der blofsen xlaxic als eine höhere Stufe gegen-
überstellt.
5. Der Hirt des Hermas. Der Verfasser dieser Schrift
kann nicht der Rom. 1G,14 erwähnte Hermas, sondern eher
der gleichnamige Bruder des römischen Bischofs Pius (um
150 p. C.) gewesen sein, würde mithin in dessen Zeit gehören.
Den Namen Pastor (7i:ct!J.T,v) führt das lateinisch und griechisch
vorhandene Buch davon, dafs darin ein Engel in Hirtengestalt
dem Hermas erscheint. Die in der alten Kirche hohes, nicht
selten kanonisches Ansehen geniefsende Schrift enthält fünf
Gesichte [visioncs, 6pdc7£t,c), zwölf Gebote (mandata, ivxoXat)
und zehn Gleichnisse [simüitiidines, -jüapaßoXai), in welchen die
nahe Wiederkunft Christi in Aussicht gestellt und, zur Vor-
bereitung auf dieselbe, Bufse gefordert wird.
6. Der sogenannte zweite Brief des Clemens Roma-
nus kann, obwohl unecht, dieser Reihe eingeordnet werden,
weil er die älteste uns erhaltene Homilie (Gemeindepredigt)
enthält, in welcher schon deutliche Beziehungen auf'gnostische .
Irrlehren sich erkennen lassen. Die Abfassungszeit ist un-
gewifs, nach Harnack würde sie zwischen 130 und 170 p. C.
liegen.
7. Die Lehre der zwölf Apostel {hihy:/j^ x'jp-'ou hÄ
Töv SoSsxa dcTCocTCAwv -zolc, e'^veaiv) enthält in den ersten zehn
Kapiteln eine gottesdienstliche Ordnung mit Vorschriften über"
Taufe, Gebet, Fasten und Abendmahl, sodann in den folgenden
sieben Kapiteln eine Gemeindeordnung, welche von den Gnaden-
gaben sowie von den Rechten und Pflichten der Bischöfe und
Diakonen handelt und mit Ermahnungen im Hinblick auf die
nahe Wiederkunft des Herrn schliefst. Verfafst ist diese
304 Xll. Die erste Periode der Patristik.
Schrift nach Harnack zwischen 131 und IGO p. C. und wird
schon von Clemens Alexandrinus zu den heiligen Schriften
gerechnet.
3. Die Apologeten.
Jede in der Welt neu aufkommende Eichtung bedarf, um
sich durchzusetzen, einer Apologetik, welche sie vor Mifs-
verständnissen und Mifsdeutungen zu schützen und ihre Be-
rechtigung nachzuweisen unternimmt, wobei eine polemische
Auseinandersetzung mit den bis dahin herrschenden Gedanken-
strömungen unvermeidlich ist. Dies gilt im besondern Mafse
vom Christentum, welches als eine religio ilUcita den Tag zu
scheuen hatte und gerade dadurch allen möglichen Verdächti-
gungen und Anfeindungen reiche Nahrung bot, nicht nur beim
Volke, sondern auch bei den eine Gefährdung der Staats-
ordnung befürchtenden Regierenden, und nicht am wenigsten
bei den zu Hütern der geistigen Güter des Zeitalters berufenen
Vertretern der Wissenschaft. An alle diese Kreise wendet sich
die namentlich im zweiten christlichen Jahrhundert blühende,
aber auch in den folgenden Zeiten tätige christliche Apolo-
getik; sie tritt den verleumderischen Nachreden entgegen,
welche unter dem Volke über die Heimlichkeiten des christ-
lichen Kultus umliefen, und setzt ihnen ein noch für uns wert-
volles Bild der christlichen Gottesverehrung und Sitte ent-
gegen; sie w^endet sich an die Kaiser und Machthaber, um
die Ungefährlichkeit des Christentums für den Bestand der
-öffentlichen Ordnung zu erweisen; vor allem aber ist die
Apologetik bestrebt, der hellenischen wie der jüdischen Wissen-
schaft gegenüber die christliche Offenbarung als die wahre,
allen andern überlegene Philosophie hinzustellen, wobei die
Gedanken der griechischen Philosophen, soweit sie der christ-
lichen Anschauung widerstreben, bekämpft, soweit sie mit ihr
'übereinstimmen, herübergenommen werden, mit der aber-
witzigen, aber damals nicht zum ersten Male (Phil. d. Griechen,
S. 465 Anm. und 468 fg.) auftretenden Behauptung, dafs Heraklit
und Sokrates, Piaton und Aristoteles ihre Weisheit aus Mose
und den Propheten geschöpft hätten. Als Typus und be-
deutendster Vertreter dieser Apologetik kann Justin der
3. Die Apologeten. 305
Märtyrer gelten, welchem bereits Quadratus (KdSpaxoc) mit
einer dem Kaiser Hadrian überreichten, aber verlorenen, und
Marcianus Aristides mit einer an Antoninus Pius gerichteten
und vollständig nur noch in syrischer Übersetzung vorhandenen
Apologie vorausgegangen waren, in welcher der höhere Wert
des Christentums gegenüber den Religionen der Barbaren,
Hellenen und Juden behauptet und eine warme Schilderung
des Lebens der Christen entworfen wird. Der ursprüngliche
griechische Text dieser Apologie des Aristides ist teilweise
erhalten als Einlage in dem von einem Johannes (vielleicht
dem Damascener, f vor 754 p. C.) verfafsten, vielgelesenen und
vielfach übersetzten Roman Barlaam und Josaphat, welcher
schildert, wie Josaphat, ein indischer Königssohn, durch
die Erscheinungen eines Greises, eines Kranken und eines
Leichnams die Nichtigkeit alles Irdischen inne wird, in die
Einsamkeit flieht, von dem Eremiten Barlaam zum Christen-
tum bekehrt wird und allen sinnlichen Verlockungen zum Trotze
bis an sein Ende ein frommes, entsagungsvolles Leben führt.
Es ist, wie man längst erkannt hat, kein anderer als Buddha
selbst, dessen Geschichte hier erzählt wird, und welcher unter
dem Namen Josaphat versehentlich unter die Heiligen der
katholischen Kirche geraten ist.
Justin der Märtyrer, geboren bald nach 100 p. C. zu
Flavia Neapolis, dem alten Sichem, von heidnischen Eltern,
und philosophisch von Piaton und den Stoikern gebildet, trat
um 13ö zum Christentum über, blieb aber auch weiterhin „der
Christ im Philosophenmantel (Tpcßwvj", nur dafs er das Christen-
tum für die wahre Philosophie erklärte und als Wanderprediger
verkündigte. Von Ephesus, wo sein Gespräch mit dem Juden
Tryphon stattgefunden haben soll, begab 6r sich nach Rom,
gründete dort eine Schule und erlitt unter Mark Aurel zwischen
1G3 und IGT p. C. den Märtyrertod durch Enthauptung. Von
den ihm zugeschriebenen Schriften sind als echt zu betrachten:
1. Die nach der unechten Überschrift mehreren Kaisem ge-
widmete Apologie, jetzt in zwei Teile zerlegt, in welcher er
dem Vorwurf der Gottlosigkeit entgegentritt und eine Schil-
derung von dem liebevollen und entsagenden Leben der Christen
entwirft, ferner die vermeintliche Staatsgefährlichkeit des
Deussen, Geschichte der PhiloBophie. II, ii, 2. 20
306 XII. Die erste Periode der Patristik.
Christentums zu widerlegen und die Überlegenheit des Christen-
tums als der wahren Philosophie über die Religion und Philo-
sophie der Heiden nachzuweisen unternimmt. 2. In seinem
Dialog mit dem Juden Tryphon (rrpoi; Tpi)9«va '^o'JSa^cv
?>'Ä\oyo;) erklärt er das mosaische Gesetz für überwunden durch
das neue Gesetz Christi, bezieht die Weissagungen des Alten
Testaments auf Christum und sieht in der Christengemeinde
das wahre, Gott wohlgefällige Israel. Christus ist ihm der
Acyoc, welcher aber samenartig, als Acyo? aizzgixrx.Tiy.cc, (wie
Justin mit völliger Umdeutung dieses stoischen Begriffs be-
hauptet), schon vor Christo bei den hebräischen Propheten
und bei griechischen Philosophen wie dem (platonischen)
Sokrates und Heraklit vorhanden war. Piaton, so meint er,
habe das Alte Testament gekannt, aber vielfach mifsverstanden;
doch ist auch ihm Gott nur wie bei Piaton der die Materie
formende 5-irj[j.f,c'jpycc;, die Unsterblichkeit ist der Seele nicht
wesentlich eigen, sondern wird ihr als eine Gnade von Gott
verliehen; zur Erlösung gelangt der Mensch kraft der ihm
eigenen Freiheit; das tausendjährige Reich und die ihm folgende
Auferstehung der Toten sowie ewige Höllenstrafen für die
Bösen stehen als Weltende nahe bevor.
Von spätem Apologeten mögen genannt werden der Syrer
Tatian, ein Schüler Justins, der in Rom zum Christentum
übertrat und später im Orient sich der Sekte der Enkratiten
angeschlossen haben soll, wegen seiner etwa 165 p. C. ver-
fafsten Apologie izgoc "E/vAYjva? mit ihren rohen und ungerechten
Angriffen gegen Piaton und Aristoteles; — ferner Athena-
goras, der in seiner w^ahrscheinlich 177 verfafsten rpecßsia
Tcspl Xp'.CTiavöv die Christen gegen die Vorwürfe des Atheismus
und der Unsittlichkeit verteidigt; — Theophilus, Bischof
von Antiochien, der in seiner Schrift Trpoc AütcX'jxov Lehre- und
Leben der Christen der heidnischen Götterverehrung gegen-
überstellt; — und der von unbekannter Hand verfafste Brief
an Diognet (zpoc; Alc^vtiTov), welcher den christlichen Kultus
behandelt; — sowie des liermias oberflächliche Verspottung
der heidnischen Philosophen (Siacjp.ao? töv e'^w 9',Aoa69ov),
wahrscheinlich schon der Zeit nach Constantin angehörig. Zu
den Apologeten sind endlich auch Irenaeus und Tertullian
3. Die Apologeten. 307
zu rechnen, von denen weiter unten in anderm Zusammen-
hange die Rede sein wird.
Wie in den Apologeten seine Verteidiger, so fand das
Christentum auch hterarisch gegen dasselbe ankämpfende
Gegner, unter denen neben dem Redner Fronto, dem Lehrer
des Mark Aurel, und Lucian im Peregrinus Proteus besonders
der um 178 verfafste Xcyoc aAVj^Tqc des Platonikers Celsus
Erwähnung verdient, dessen scharfsinnige und gelehrte An-
griffe gegen das Christentum uns in ^ der Gegenschrift des
Origenes xa-:a KeXco'j erhalten sind.
i. Die Gnosis und der Manichäismns.
Gefährlicher noch als die vom Staate und von der Be-
völkerung ausgehenden Verfolgungen, gefährlicher auch als
die Anfeindungen von Seiten der weltlichen Wissenschaft
wurden dem Christentum gewisse keimartig in ihm liegende
Tendenzen, welche zur Fortentwicklung drängten und den Be-
stand der jungen Kirche bedrohten. Die ernsteste dieser dem
Christentum aus seinen eigenen Prinzipien erwachsenen Ge-
fahren war die in den ersten Jahrhunderten weitverbreitete
und vielgestaltige Erscheinung, welche man unter dem Worte
vvöaic, „die Erkenntnis", zu befassen pflegt.
Schon Jesus soll nach Matth. 13,11 zu seinen Jüngern im
Gegensatz zum Volke gesagt haben: „Euch ist gegeben, dafs
ihr das Geheimnis des Himmelreichs vernehmet (yvövat. toc
fjLucT-rjpta ~fj? ^oLaChdoiC. xöv oüpavüv)", und der Apostel Paulus
erklärt: „Der Geist erforschet alle Dinge, auch die Tiefen der
Gottheit" (1. Kor. 2,10). Die christliche Lehre erhob den An-
spruch, in diese Tiefen der Gottheit eingedrungen zu sein und
den Menschen die höchsten Wahrheiten zu offenbaren. Die
Wahrheit aber läfst sich nicht eindämmen, sie greift immer
weiter um sich, zieht nach allen Seiten ihre Konsequenzen
und zerstört alles, was ihr selbst oder diesen Konsequenzen
widerspricht. Das Christentum aber trug infolge seines Hervor-
gehens aus dem Judentum einen verderblichen Keim in sich;
er bestand in dem innern Widerspruch, dafs derselbe Gott,
welcher durch seinen Sohn die Erlösung der Welt bewirkte,
20*
308 XII. Die erste Periode der Patristik.
als Gott- Schöpfer eben diese der Erlösung bedürftige Welt
hervorgebracht haben sollte. Ist die Welt ein Werk Gottes,
so kann es keiner Erlösung aus ihr bedürfen, bedarf es aber
aus ihr einer Erlösung, so kann' sie nicht das Werk eines
allweiscn, allgütigen und allmächtigen Gottes sein. Dieses
erkannt zu haben, ist das hohe und bleibende Verdienst der
christlichen Gnosis. Daher verfolgt sie die allen ihren Arten
und Schattierungen gemeinsame Tendenz, das Prinzip der
Welterlösung von den; Prinzip der Weltschöpfung, den Gott-
Erlöser von dem Gott- Schöpfer zu unterscheiden und dem
letztern eine niedrigere Stellung in der Hierarchie des christ-
lichen Pantheons anzuweisen. Dieser unzweifelhaft richtige
und fruchtbare Grundgedanke der Gnosis erscheint aber in
allen ihren Formen, dem Geschmack des Zeitalters entsprechend,
wie er sich auch im Neupythagoreismus und spätem Neu-
platonismus kundgibt, in einer mythologisch so wunderlich
verbrämten und verzerrten Gestalt, dafs man kaum glauben
kann, es sei den aufgeklärtem Vertretern der Gnosis 'damit
völlig ernst gewesen, vielmehr vermuten möchte, dafs sie diese
phantastische Form nur wählten, um dem Geschmack der
Zeiten Rechnung zu tragen, während sie in Wahrheit dadurch
ihren wertvollen Grundgedanken einer dauernden Wirkung
unfähig und für die Kirche unannehmbar gemacht haben.
Es würde zu weit führen, wollten wir alle Formen hier
verzeichnen, welche die christliche Gnosis im Orient und
Occident angenommen hat; es mufs uns genügen, als seine
Haupt Vertreter Basilides, Valentinus und Bardesanes kurz zu
besprechen imd an sie die ihnen auf das nächste verwandte
Erscheinung des Manichäismus anzuschliefsen.
Basilides, angeblich aus Syrien stammend, trug seit
125 p. C. in Alexandria sein System vor, dessen Grund-
anschauung in dem platonischen Gegensatze von Seele und
Leib wurzelt; die Seele stammt aus dem Geisterreich, der Leib
gehört dem Reiche der Materie ab. An der Spitze des Geiöter-
reiches steht der unsagbare, namenlose Gott, welcher als Erst-
geborenen den voij?, aus diesem den ac^o; und aus diesem
fünf weitere Prinzipien hervorgehen läfst; diese sieben Prin-
zipien bilden den obersten Himmel, aus welchem in stufen-
4. Die Gnosis und der Manichäismus. 309
weiser Emanation 364 weitere Himmel hervorgehen; alle die
so entstandenen 365 Himmel sind mit Engeln und göttlichen
Kräften bevölkert, Ihre Gesamtheit bildet das XAi^pojia, und
ihr oberster 'Beherrscher wird durch das Geheimwort Abraxas
bezeichnet, dessen Buchstaben (dßpa^dc;:) nach ihrem Zahlen-
werte 1 + 2 + 100+ 1 + 60-}- 1 + 200 auf die 365 Himmel hin-
deuten. Der Beherrscher des untersten Himmels ist der Juden-
gott, welcher aus der Materie und den in sie verirrten himm-
lischen Lichtelementen die Erdenwelt und den Menschen
gebildet hat und eine Herrschaft anstrebt, welcher sich die
Himmelsmächte widersetzen. Um die himmlischen Seelen aus
der Materie zu befreien, sendet der oberste Gott seinen erst-
geborenen Sohn, den vour, welcher als Christus auf die Erde
herabgestiegen, aber nicht gekreuzigt worden ist, da an seiner
Stelle Simon von Kyrene ans Kreuz geschlagen wurde. Wer
an den Gekreuzigten glaubt, wird noch nicht von der Seelen-
wanderung befreit; nur der Glaube an den voO? verleiht das
wahre Wissen und bewirkt die volle Erlösung und Rückkehr
der Seele in die Himmelswelt.
Von Valentinus, welcher die bedeutendste Richtung der
Gnosis begründete, ist nur wenig bekannt. Er stammte wahr-
scheinlich aus Ägypten, lehrte zuerst in Alexandrien, dann
136 — 165 p, C. in Rom und soll in Cypern gestorben sein. Er
verfafste ein Werk -igl twv Tp'.üv 9-jc;£wv und andere Schriften
praktischen Inhalts, von denen nur spärliche Fragmente sich
erhalten haben. Als Quelle seiner Erkenntnis bezeichnet er
den Aijoc, welcher ihm als neugeborenes Kind in einer Vision
erschienen sei. Seine Lehre verfliefst für uns mit der der
Valentinianer, welche sich in viele Richtungen spalteten,
und von .deren vielfach widerspruchsvollen Lehren sich aus
den Berichten des Hippolyt, Clemens. Alexandrinus unti anderer
nur ein unsicheres Bild gewinnen läl'st, dessen Grundzüge die
Lehren von den Äonen, von den Verirrungen der ao^^la. und
von Schöpfung und Erlösung des Menschen bilden. — An der
Spitze des Systems steht ein höchster, völlig transscendenter
und unerkennbarer Gott, welcher mit vielen Namen als der
vollkommene Äon (tsXs'.o; aiov), die unentständene Einheit
([j.ovac dyivvrjTor), der vorseiende Mensch (5 rcpowv avj^ptozor), der
310 XII. Die erste Periode der Patristik.
Abgrund (ßu'jcc) usw. bezeichnet wird. Viele stellen ihm einen
weiblichen Aon zur Seite, das Schweigen (aiyrj, mitunter
auch Einsicht (svvota) oder Liebe [äyaTZfi) genannt. Beide er-
zeugen als weitere Äonen den voü? und die (XAr^zwx, mit welchen
zusammen sie die Vierheit der obersten Gottheiten, die schon
von den Pythagoreern als die Wurzel des Weltalls gefeierte
Vierheit (xeTpaxTijc) bilden. Aus voü? und dXrj'ireta entspringen
Xoyo? und 'Cwiq, aus diesen av'rrpuTToc, der Urmensch, und
iy.yJ.r^al(x., die Urkirche. Diese acht bilden die o^hodc der
obersten göttlichen Potenzen. Eine weitere hsvAc von zehn
Äonen wird von löjoc und cwi], eine hohtxfxc von zwölf Äonen
von av'^p6)TC0i; und iy/lr^aia. erzeugt. Diese dreifsig Äcnen, als
männliches und weibliches Prinzip zu fünfzehn cu^uyia', ver-
bunden, bilden das TTATjpwixa, die Fülle der Gottheiten (vgl.
Evang. Joh. 1,16). — In romanhafter Weise werden die Schick-
sale der aoc^loi, der jüngsten unter diesen dreifsig Äonen, ge-
schildert. In Verkennung ihrer untergeordneten Stellung
möchte sie sich in Liebe zum Urvater erheben, und mufs
vom opoc, dem Grenzhüter der Äonenwelt, über dessen Un-
nahbarkeit belehrt werden. Der Äonenwelt verlustig ge-
gangen und von ihrem männlichen Äon getrennt, gebiert
sie ohne Gatten eine gestaltlose W^esenheit, a[j.op9o? oücia.
Flehend wendet sich die co9[a an den Urvater, auf dessen Ge-
heifs sie geläutert und durch den opo? wieder in das xAT,po[j.a
eingeführt wird, W^eiter lassen, um auch ihrem Kinde zu
helfen, voO:: und akf^e.i'x aus sich Christus und den Heiligen
Geist emanieren; Christus gibt dem gestaltlosen Kinde der
co9ia Form und Wesenheit und kehrt darauf mit dem Heiligen
Geist in das 7r);T,pw[j.a zurück, wo beide die Äonen über ihre
Stellung zum Vater belehren. Aufserhalb des TLAi^pwij.a ver-
bleibt die Tochter der ao9ia, die Achamoth (dx,a[ji.o j" , von
r:7;::n, W^eisheit, Plural Chochamoth, gewöhnlich Chochmoth,
schon Proverb. 9,1 personifiziert und als Singular, gebraucht).
Aus Dankbarkeit für die ihnen von Christus und dem Heiligen
Geist gewordene Beseligung schaffen die Äonen als gemein-
same Frucht des -KWjpwij.a ein herrliches Gebilde, Jesus den '
Heiland, welcher die Achamoth erlöst, indem er sie von den
ihr anhaftenden willensartigen Elementen 96ßcc (Furcht), a'jtc-/]
4. Die Gnosis und der Manichäismus. 311
(Trauer), d-cp''a (Not) und hir^cc (Flelicnj befreit. Aus diesen
gellt die physische Welt hervor, aus dem 9cßoc der Demiurg,
aus der Xutit, die Materie, aus der arropia die Dämonen und
aus der hir^ciz die liul'se. Aus den drei letztern Elementen
bildet der Demiurg, der Gott des Alten Testaments, welcher
sich für den höchsten Gott hält, die Welt und die Menschen.
Zugleich aber werden von dem zweiten Jesus und der cco'.o.
geistige Kräfte in die Welt ausgestrahlt, welche in die mensch-
liche Seele, soweit dieselbe nicht von Dämonen in Besitz
senommen ist, ein2;ehen. — Als die Zeit erfüllet war, wurde
als gemeinsames Erzeugnis des Demiurg, der Achamoth und
des Heiligen Geistes der dritte Jesus als Sohn der Maria
geboren. Wie der erste Christus die acc^ioc, der zweite die
Achamoth, so erlöst der dritte Christus die Menschen, welche
in drei Klassen, Hyliker, Psychiker und Pneumatiker, zer-
fallen. Die Hyliker sind vorwiegend in der Heidenwelt ver-
treten, sie haben die Verbindung mit Gott verloren, sind ganz
in die Materie verstrickt und fallen, wie es scheint, mit dieser
der Vernichtung anheim. Die Psychiker, vorwiegend durch
die Juden vertreten, werden durch Glauben und gute Werke
einer geringen Erlösung teilhaft, die Pneumatiker bedürfen
keiner Erlösung, sie' besitzen die Gnosis und gehen vermöge
derselben in das TrXiqpoij.a ein.
Aus der Schule des Valentinus stammt das nur in kop-
tischer Übersetzung erhaltene Üuch lliazic, ^09''a, „Glaube
und Weisheit", welches in der Form von Gesprächen zwischen
dem auferstandenen Christus und seinen Jüngern, namentlich
der Maria Magdalena, die Leiden der aus dem Pleroma herab-
gestürzten Sophia und ihre Erlösung als Vorbild der leidenden
und zur Erlösung gelangenden Menschheit schildert. {WiaTi^
2L09'!a, opus gnosticum Valentino adjudicatum, e codice Coptico
Londiniensi descripsit et latine vertit Schwartze, ed. Peter-
mann, Berlin 1851.)
Einfacher als die Gnosis des Valentinus und mehr der
kirchlichen Lehre sich annähernd ist die des Syrers Barde-
sänes, „Sohn des Daizan" (d. h. geboren am Daizan, einem
Flusse bei Edessa), geboren 153 p. C, welcher die Sünde aus
der dem Menschen von Gott verliehenen Freiheit des Willens
312 XII- l>ie erste Periode der Patristik.
erklärte und durch seine Hymnen, von denen sich einige
Bruchstücke erhalten haben, viel zur Verbreitung der gnosti-
schen Lehren beitrug.
Eine umfassende Verschmelzung christlich -gnostischer
Elemente mit Lehren des Parsismus und teilweise des Bud-
dhismus unternahm der Perser Mani (lateinisch: Manes oder
Manichaeus). Sein Vater Fatak war aus vornehmem Geschlecht,
seine Mutter stammte von den Arsacidenkönigen ab. Er selbst,
geboren 216 und von seinem Vater zu Ktesiphon in der baby-
lonisch-christlichen Sekte der Moghtasilah erzogen, trat 242
unter Sapores I. als Lehrer einer neuen Religion auf, indem
er sich für den von Christus verheifsenen Pcirakleten ausgab.
Er wurde verfolgt, brachte längere Zeit im Auslande, nament-
lich auch in Indien zu, kehrte 272 nach Persien zurück, genofs
zeitweilig den Schutz der" Regierung, wurde aber infolge der
Anfeindungen durch die Magier 276 unter Baranes L gekreuzigt
und seine Haut wurde öffentlich ausgestellt. Er hinterliefs
zahlreiche Schiiften in syrischer und persischer Sprache, in
einem eigenen Alphabet, aufser Briefen (darunter die von
Augustin bekämpfte epistula fundamenti) und Traktaten
namentlich sieben Bücher: l. das Buch der Geheimnisse, 2. das
Buch der Giganten, 3. das Buch der Vorschriften, 4. das Buch
Schahpurakaii (wohl an den König Sapores gerichtet), 5. das
Buch der Lebendigmachung, 6. die Tcpa-yjjiaTsia,' 7. eine Art
Evangelium. —
Da diese Schriften bis auf Mitteilungen in spätem Schrift-
stellern und einige neuerdings in Zentralasien aufgefundene
Bruchstücke verloren sind*, so bilden unsere Hauptquelle für
* Als Probe mag ein Gebet an Mani nnd Jesus dienen (bei Müller,
Handschriftenreste in Estrangelo-Scbrift aus Tarfan, II. Teil, Berlin 1904:,
S. 6G):
„Mani, Götter-Sohn, Herr,
Beieber des Glaubens, grofser, dir,
Erwählter, bringe ich Verehrung dar.
Strahlenden Antlitzes — mögest du werden.
Mani, Herr, Lebengebender.
Er belebt die Toten und erleuchtet die Finsteren.
Führe mich, Mani,
Herr; und «Jungfrau des Lichtes»
Antworte mir' durch Glanz ....
4. Die Gnosis und der Manicbäismus. 313
die Kenntnis des Manicbäismus die Acta Archelai des Hege-
inonius (verfafst zwischen 300 und 350), welche über eine
iingierte Disputation zwischen Mani und dem christlichen
Bischof Archelaus von Carchar in Mesopotamien Bericht er-
statten. Hiernach lehrte Mani im Anscblui's an die iranischen
Anschauungen (Phil. d. Bibel, S. 134—143), dafs von Ewigkeit
her zwei Reiche bestehen, die terra lucida, ein Reich des Lichts,
beherrscht von dem Vater des Lichts und seinen zwölf Äonen,
und die terra pcstifera^ das Reich der Finsternis, dessen Be-
herrscher der mit dem Judengott identifizierte Satan und
seine Dämonen sind. Um sie zu bekämpfen, erzeugt der Vater
des Lichts mit der Mutter des Lebens den Urmenschen (den
~pü-:or av'^^puTro?, entsprechend dem iranischen Gayo Meretan)
und sendet ihn gegen die Dämonen. Er unterliegt, wird zwar
selbst durch das ihm zu Hilfe gesandte ^«v 7T:v£0;j.a befreit
und als Jesus impatililis in die Sonne versetzt, aber Elemente
seines Lichts werden ihm von den Dämonen geraubt und als
Jesus patibiUs (die Weltseele) von der {jXt] verschlungen. Aus
diesen Lichtelementen und der Materie bildet auf Befehl des
höchsten Gottes das l^qv TCv£Ü|j.a die aus verschiedenen Himmeln
und Erden bestehende Welt. Die ersten Menschen, Adam
und Eva, letztere als Verkörperung der Sinnenlust, werden
nicht wie im Iranischen durch Ahuramazda geschaffen und
alsdann von den Dämonen verführt (Phil. d. Bibel, S. 140 fg.),
sondern sind von vornherein eine Schöpfung der Dämonen
aus der Materie und den in ihr enthaltenen Lichtelementen.
Von ihnen stammen die Menschen ab, welche dann noch weiter
von den Dämonen durch falsche Religionen wie die des Mose
und der Propheten irregeführt werden. Um sie zu retten,
steigt der Jesus impatihilis aus der Sonne in einem Schein-
leibe zur Erde herab, führt dort ein Scheinleben und erteilt
den Menschen die Belehrungen, auf Grund deren sie ihre
0 leuchtender Mani
Herr wachsenden Ruhmes, Lebengebender I
Schütze mich in der Leiblichkeit! Jesus (Yishö),
0 Herr, erlöse meine Seele
Aus diesem Geboren-Tot(sein) !
Prächtig ist dein strahlender Thron...."
314 XII. Die erste Periode der Patristik.
Erlösung selbst zu vollbringen haben: wem dies nicht gelingt,
der hat im Jenseits noch schwere Läuterungen durchzumachen,
während eine eigentliche Seelenwanderung von Mani, wie es
scheint, nicht gelehrt wurde. Sehr an die buddhistische Unter-
scheidung zwischen den Mönchen fbhilxshtij und den blolsen
Verehrern {iipdsdhaj erinnert die manichäische Unterscheidung
zwischen den dcdi und den für ihren Unterhalt Sorge tragenden
auditons. Die dccti sind die Wissenden und werden durch
drei Siegel vom sinnlichen Leben abgeschlossen, durch das
si(jimctilum oris, welches den Genufs tierischer Nahrung, das
signacidum mamis, welches gemeine Handarbeit, und das
siqnacidum sirnis, welches jeden Geschlechtsgenufs verbietet,
während den nuditorcs zwar nur pflanzliche Nahrung, im
übrigen aber weltliche Hantierungen und die Ehe gestattet
sind. An der Spitze der von Mani gegründeten und bald
weit sich verbreitenden Kirche steht ein Imäm (Papst) mit
dem Sitz in Babylon, später in Samarkand, unter ihm in
stufenweiser Rangordnung 12 niagistri, 72 i'piscopi^ sodann
die electi und endlich die miditorrs. Der Kultus der Manichäer
war einfach, ihr Hauptfest das im Monat März gefeierte Fest
des Lehrstuhls (ß'?i[j.a), dessen fünf Stufen die fünf Klassen
der Maniverehrer rei)räsentierten. Wie im Iranischen werden
am Ende der Weltgeschichte alle von der ^laterie geläuterten
Seelen um den höchsten Gott versammelt, während ein W^elt-
brand die von Lichtelementen entblöfste materielle Welt ver-
nichtet. —
Die Vorzüge des Manichäismus, namentlich seine Aus-
scheidung des Alten Testaments, seine gründliche Erklärung
des Bösen in der W^elt und seine einfache Erlösungslehre,
gewannen ihm bald zahlreiche Anhänger, nicht nur im Orient,
wo er sogar die mohammedanische Eroberung überdauerte
und bis über das Jahr 1000 hinaus bestand, sondern auch im
Abendlande, wo selbst Augustinus ihm neun Jahre lang als
Auditor anhing und dessen Zeitgenosse Faustus für seine
Verbreitung wirkte. Sein Hauptsitz war für das Abendland
in Afrika, wo er erst durch die Vandalen ausgerottet wurdej
während er im Römischen und Byzantinischen Reiche trotz
der Verfolgungen durch Kaiser wie Diokletian und Justinian
4. Die Gnosis und der Manicliäismus. 315
und der Bekämpfung durch Leo den Grofsen sich heimhch
noch lange erhielt und in seinen Nachwirkungen auf Paulicianer,
Bosomilen und Katharer bis ins 13. Jahrhundert hinein nach-
weisen läfst.
5. Der Monfanismus.
Nicht weniger bedrohlich für den Bestand der jungen
Kirche als die gnostischen waren die asketischen Extra-
vaganzen, welche ebenso wie jene als Keime im Urchristentum
lagen und zur Entwicklung drängten. Denn für das Christen-
tum ist die ganze Welt mit aller ihrer Schönheit und Ordnung
nicht Selbstzweck, sondern etwas, welches war überwinden
müssen, um dadurch unserer wahren und ewigen Bestimmung
teilhaft zu werden. Schon Jesus zeigt sich ganz von diesem
Geiste erfüllt; viele seiner Forderungen sind, wie früher gezeigt
wurde (Phil. d. Bibel, S. 209 fg. 216 fg.), mit einem geordneten
Bestände des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft schlecht-
hin unvertfräglich, verlangen eine Verzichtleistung auf alles in
der Welt und zuletzt sogar auf uns selbst: „Will mir jemand
nachfolgen, der verleugne sich selbst, und nehme sein Kreuz
auf sich, und folge mir" (Matth. 16,24j. In demselben Sinne
sagt der Apostel Paulus: „Welche aber Christo angehören,
die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden"
(Gal. 5,24), und das vierte Evangelium legt (18,36) seinem
Jesus das grofse Wort in den Mund: „Mein Reich ist nicht
von dieser Welt." Aber das Christentum strebte ein Reich
von dieser Welt an und mufste es anstreben, wenn es über-
haupt in der Welt auf die Dauer Bestand haben und nicht
vor lauter Weltflucht sich schliefslich aus der Welt ganz ver-
flüchtigen sollte. Aus diesen Verhältnissen erklärt sich einer-
seits die starke und weitverbreitete Neigung der ersten Christen
zu einem asketischen, weltflüchtigen Leben, andererseits aber
auch der starke Widerstand, welchen die Kirche diesen in
ihrem eigenen Prinzip liegenden und doch sie mit Auflösung
bedrohenden Bestrebungen entgegensetzte, zumal dieselben,
ähnlich wie der Gnostizismus, in so phantastischer Einkleidung
erschienen, dafs unter dieser auch die Sache selbst leiden,
sich Verfolgungen aussetzen und schliefslich verdrängt werden
316 XII. Die erste Periode der Patristik.
raufste. Als hervorragendster Typus dieser in schwärmeri-
scher Form auftretenden Askese mag uns der Montanisraus
dienen.
Um das Jahr loG p. C. trat in dem schon durch den
Kybelekultus zur Schwärmerei disponierten Phrygien zu Arda-
bau ein gewisser Montanus, bis vor kurzem noch heid-
nischer Priester, nach seiner Bekehrung zum Christentum
auf, berief sich auf seine ihm in ekstatischen Zuständen zu-
teil gewordenen Visionen, erklärte sich für den von Christo
verheil'senen Parakleten und verkündigte, unterstützt von den
beiden Prophetinnen Priscilla und Maximilla ("f 179), das un-
mittelbare Bevorstehen der so lange von der Kirche vergeblich
erwarteten Wiederkunft Christi, das mit ihr anbrechende, in
der Apokalypse geweissagte tausendjährige Reich und das
Herabkommen des himmlischen Jerusalems, als dessen Stätte
Pepuza, ein im westlichen Teile Phrygiens gelegenes Städt-
chen, auserwählt sei. Die Kirche, so lehrte er, sei nunmehr
aus dem Kindesalter des altlestamentlichen Prophetismus und
dem Jünglingsalter der Zeit Christi und der Apostel in ihr
Mannesalter, aus dem Reiche des Vaters und des Sohnes in
das des Geistes getreten, welchem entsprechend er für seine
Prophezeiungen eine höhere Stufe gegenüber den Propheten
und • dem Evangelium beanspruchte. Ohne im übrigen das
Dogma der Kirche anzutasten, eiferte er gegen die in ihr ein-
gerissene Verweltlichung, erklärte die zweite Ehe für Ehe-
bruch, verlangte, dafs beim Gottesdienst nicht nur die ver-
heirateten Weiber, sondern, gegen die übliche Praxis, auch
die Witwen und Jungfrauen nur verschleiert erscheinen dürften,
steigerte die in der Kirche herrschenden Fastenübungen und
ermahnte zu geflissentlicher Aufsuchung des Martyriums. Am
meisten Anstofs mochte es wohl erregen, dafs er die in der
Kirche sich bereits anbahnende Hierarchie nicht anerkannte,
Pepuza für den Sitz des Patriarchen und der ihn umgebenden
xo'.vovc' erklärte und alle Christen, als blofse '«^r/i'/'^'-i ^u seinen
Anhängern als den wahren lhvjix<x~iy.o[ zu machen suchte. Seine
Aussprüche und die seiner Prophetinnen wurden gesammelt und
höher gestellt als die Offenbarungen des Evangeliums. Die von
Montanus als unmittelbar bevorstehend geweissagte Wiederkunft
5. Der Montanismus. 317
Christi und die geforderte würdige Vorbereitung auf dieselbe
durch ein heihges, asketisches Leben entfesselte in der Kirche
eine mächtige Bewegung, rief aber auch den heftigsten Wider-
spruch hervor, zunächst in Kleinasien, wo schon um 170 p. C.
die Montanisten durch mehrere Synoden aus der Kirche aus-
geschieden wurden, dann aber auch in Rom, wo namentlich
Praxeas gegen dieselben eiferte. Eine starke Stütze erfuhr
der Montanismus in Afrika dadurch, dafs Tertullian mit der
ganzen Macht seiner Persönlichkeit für denselben eintrat, und
noch lange erhielt sich der Montanismus gegenüber der Be-
kämpfung durch die Apologeten und der Verfolgung von selten
Constantins und anderer Kaiser; noch Augustin fand in Kar-
thago eine kleine Gemeinde von Tertullianisten vor und führte
sie in den Schofs der Kirche zurück, und erst gegen 500 p. C.
erlosch der Montanismus, während die asketischen Tendenzen,
denen er seine eigentliche Kraft verdankte, in weniger phan-
tastischen Formen in der christlichen Kirche, eben weil sie
derselben wesentlich sind, auch weiterhin fortdauerten.
6. Die alexandrinische Theologie.
Während im westlichen Teile des Römischen Reiches durch
Männer wie Irenaeus und Tertullian um das Jahr 200 p. C.
sowohl der Gedanke einer rcgula fidei als auch der einer
hierarchischen Organisation mächtig erstarkte, bildete
sich gleichzeitig zu Alexandria in Ägypten in einer Schule zur
Heranbildung künftiger '/.oLzq-^/ir^x a.1 (d. h. Lehrer der xainfjxoü-
[j.£vot.) unter Lehrern wie Pantaenus, Clemens und Origenes
eine Theologie aus, welche sich von beidem, von einem Er-
starren sowohl in Dogmatismus als auch in Hierarchie, noch
freihielt und auch in der geistigen Auffassung des Christen-
tums jenen abendländischen Autoritäten weit überlegen war.
Mit der Gnosis teilen jene alexandrinischen Katechetenlehrer
die Anschauung, dafs erst die Gnosis dem Glauben die wahre
Vollendung gibt (Sta TauTT,c ycng TiXsioO-ai -q Tziazic, wie es bei
Clemens Strom. 7,10,14 heifst), halten sich aber von den die
Gnosis charakterisierenden Phantastereien frei und bilden so
durch Aufbau de^; christlichen Gedankens auf platonisch-
318 XII. Die erste Periode der Patristik.
stoischen Anschauungen eine wissenschaftliche Theologie aus,
welche von selten der Kirche zwar nur eine bedingte Zu-
stimmung fand, aher doch durch ihre geistvolle Behandlung des
Dogmas auf die Folgezeit von grofsem Einflufs geworden ist.
Von Pantaenus, welcher der Katechetenschule bis
200 p. C. vorstand, hat sich aufser spätem Berichten bei
Eusebius und Hieronymus nichts erhalten. Um so ausgiebiger
sind wir durch eigene Schriftwerke über seinen Schüler und
Nachfolger im Lehramt, den Clemens Alexandrinus, unter-
richtet.
T. Flavius Clemens stand der Katechetenschule zwar nur
kurze Zeit vor, da er sich den unter Septimius Severus aus-
brechenden Verfolgungen 202 p.c. mit Berufung auf Matth. 10,23
durch die Flucht entzog, aber bis zu seinem 216 erfolgten
Tode eine bedeutende literarische Wirksamkeit entfaltete.
Namentlich ist von seiner Hand ein . grofses dreigliederiges
Werk vorhanden; der erste Teil, der Aöjoc -Jzgo-gzTzziy.hc. izgoQ
"EAXrjva?, fordert in begeisterten Worten die Hellenen auf, sich
dem Christentum anzuschliefsen, der zweite, der naiSaYOYoc,
gibt in drei Büchern eine Anleitung zum christlichen Leben,
und der dritte Teil, die ^iTpoii-axeLC (Teppiche, d. h. bunte und
doch geordnete Aphorismen), sucht mit Hilfe platonischer und
stoischer Anschauungen das christliche Dogma zu vertiefen.
Wie bei Philo Judaeus steht im Mittelpunkte seiner Betrach-
tungen der Acyo:;, nur dafs dieser Begriff bei Philo ein Mittel-
wesen zwischen Gott und Welt bildet, bei Clemens hingegen,
in näherm Anschlufs an die Stoa, die ganze Fülle der Gottheit
umfafst. Von dem Logos als dem anfanglosen Prinzip (der
avapxoc ötpyj,) unterscheidet er den Logos als das menschen-
freundliche Werkzeug Gottes (das 9t.Adv'3~po-ov opYfxvov toü
■^^soü, Protr. 1,77), eine erstgeborene Kraft (TrpwTcycvoc Sijvaair)
Gottes, welche die Hellenen durch die Philosophie, die Juden
durch das Gesetz als ■Kcciha.jidycc. auf Christum vorbereitet hat.
Dieser letztere war beides, als Gott dTcajr,?, als Mensch eij.Tra'irrrj^,
er hat nur die Rolle eines Menschen übernommen (hier zeigt
Clemens eine Hinneigung zum Doketismus) und das heil-
bringende Drama der Menschwerdung aufgeführt (t6 CQXTJpwv
8pa[;.a ttjc dv'^p6)7;crY|T0? uTcsxpivaTo, Protr. 10,18), durch welches
6. Die alexMiulrinische Theologie. 319
auch wir der olt-olZhix teilhaft werden, in der Clemens mit den
Stoikern das sunimuni honum erkennt.
Was Clemens durch seine Schriften angebahnt hatte, die
Versöhnung des christlichen Dogmas mit der griechischen,
namentlich platonischen und stoischen Philosophie, das ge-
langte zur Vollendung, soweit eine solche möglich war, in
dem Lehrsystem des Origenes, des ersten Begründers einer
Theologie als Wissenschaft. Geboren w^ar er 185 p. C. zu
Alexandria in Ägypten ; sein Vater Leonides fiel 202 der Ver-
folgung unter Septimius Severus zum Opfer, während der
junge Origenes, vorgebildet durch den Unterricht des Clemens
wie auch w^ahrscheinlich des Neuplatonikers Ammonius Sak-
kas, schon 203 als achtzehnjähriger Jüngling zum Nachfolger
des Clemens im Lehramte der Katechetenschule zu Alexandria
berufen wurde. Wegen des eisernen Fleifses, mit dem er als
Lehrer wie als Schriftsteller wirkte, als dSaaavTioc und xaXx-
ivTspoi: gerühmt, zeichnete er sich nicht weniger aus durch
seine strenge asketische Lebensweise, welche er so weit trieb,
dafs er auf Grund von Matth. 19,12 eüvoüxwsv saiJTov. Sein
Ruhm erregte die Eifersucht des Bischofs Demetrius, auf
dessen Betreiben er 231 als Irrlehrer abgesetzt und exkom-
muniziert wurde. Er begab sich nach Cäsarea in Palästina,
wo er als Lehrer wie als Schriftsteller unermüdlich tätig war,
bis er, während der decianischen Verfolgung gefangen gesetzt
und gefoltert, als achtundsechzigjähriger Greis im Jahre 254
zu Tyrus seinen Leiden erlag. Von seinen exegetischen Ar-
beiten war am berühmtesten die bis auf Fragmente verlorene
Hexapla, in welcher er den hebräischen Text des Alten Testa-
ments in Parallele mit einer griechischen Transskription und
den Übersetzungen der Septuaginta des Aquila, Symmachos
und Theodotion stellte und mit kritischen Anmerkungen und
Schoben versah. Sein systematisches Hauptw^erk waren die
vier Bücher Trspl ap^öv, welches vollständig nur in der latei-
nischen, die Häresien abschwächenden Übersetzung des Rufinus
De 2Jrincij)/is erhalten ist. Von besonderm Interesse sind noch
die acht Bücher xa-a KeXco'j, namentlich durch das, was darin
aus der verlorenen Schrift dieses mit scharfsinnigen Argu-
menten das Christentum angreifenden (von Origenes fälschlich
320 XII. Die erste Periode der Patristik.
*
für einen Epikureer gehaltenen) Platonikers uns erhalten ist. —
Die Heilige Schrift ist nach Origenes durchaus inspiriert, aber
wie der Mensch aus Körper (aü[j.a), Seele (^}jux'^) ^"^ Geist
(T:vsO[j.a) besteht, so haben auch die Bibelworte als Leib einen
historischen, als Seele einen moralischen und als Geist einen
mystischen Sinn. Wie zum Alten Testament das Neue, so
verhält sich zum Neuen Testament die höchste, erst in der
Zukunft zu enthüllende Wahrheit. Ganz neuplatonisch ist die
Auffassung Gottes als der letzten Einheit, der hdc, oder [xovdc,
welche, wie bei Plotin, über Subjekt und Objekt erhaben
(sTCixs'-va voO xal ohalcnQ, contra Celsum 7, 08) ist. Von Ewig-
keit her ist der Sohn durch den Vater gezeugt und verhält
sich zu ihm (ganz neuplatonisch) wie der Glanz zu dem Lichte;
wie das Licht nie ohne Glanz, so ist der Vater nie ohne den
Sohn gewesen; wie der Glanz gleichen Wesens ist mit dem
Lichte, so der Sohn 6[jLccija!.0(: mit dem Vater, alDer doch
nicht aÜTctrsoc, sondern nur SsuTipo? '^scc, er steht als Media-
tor zwischen Gott und den Kreaturen, in gleichem Abstände
von Gott wie die Kreaturen von ihm. Die Ewigkeit der Seelen
(Engel, Menschen, Dämonen) verbindet Origenes mit ihrem
schriftmäfsigen Geschaffensein in der Art, dafs er den Wider-
spruch durch die Behauptung verhüllt, die Seelen seien von
Ewigkeit her durch Gott geschaffen. Er schuf sie alle gleich,
moralisch indifferent, verlieh ihnen aber die Freiheit, vermöge
deren sie das Gute oder das Böse aus sich selbst erschaff'en.
Um sie von letzterm zu läutern, schaff't Gott aus nichts die
Materie und eine Reihe aufeinanderfolgender Welten als
Läuterungsorte der gefallenen Seelen, welche auch in der
Materie ihre Freiheit behalten, vermöge deren sie sich wieder
zu Gott erheben, indem sie durch Teilnahme an seiner Gött-
lichkeit selbst vergottet werden (fjLSToxt; ^^ic, sxsbou 'ä'scT-/]Tcc
trsoTCoioijfxevot.). Hierbei werden sie durch den in Jesu fleisch-
gewordenen Logos unterstützt, dessen Tod Origenes nach
Matth. 20,28 als Xuxpov, als das dem Teufel für die Seelen zu
zahlende Lösegeld auffafst. Die Hölle behält Origenes bei,
aber nur als ein Läuterungsfeuer (-jrOp "xa'trapat.cv). Am Ende
aller Dinge findet eine dTroxardaxacu statt, eine Wiederbringung
aller Dinge zu Gott, so dafs Gott sein wird alles in allem. —
G. Die alexandriiiisilio Theologie. 321
!So war Origenes hoinülit, die Schriftlehren von dem GeschatlVn-
sein der Seelen und den jenseitigen Hüllenstrafen mit den
Forderungen der Vernunft und Menschlichkeit durch die An-
nahme einer zeitlosen Seelenschöpfung und einer 6L7:cy.rx~a.CTixaic.
-dcvTov in Einklang zu bringen, und verfiel dadurch in zwei
Ketzereien, W' eiche die Kirche so engherzig war ihm nie zu
verzeihen.
7. Die katholische Kirche.
Zwei innere Gefahren waren es, wie wir gesehen haben,
welche das Christentum in den ersten Jahrhunderten seines
Bestehens bedrohten, einerseits das Bestreben, in der Er-
gründung der ewigen Wahrheit über die Grenzen des Erkenn-
baren hinauszugehen, welches zum Gnostizismus führte
und andererseits das Bewufstsein von dem weltverneinenden
Charakter des Christentums, aus welchem unter andern ver-
wandten Erscheinungen namentlich der Montanismus her-
vorging. Beiden Richtungen, so begreiflich die Motive auch
w^aren, aus denen sie hervorgingen, setzte die Kirche einen
energischen Widerstand entgegen vermöge des Selbsterhal-
tungstriebes, welcher nicht nur Individuen, sondern auch In-
stitutionen innewohnt und bei diesen wie bei jenen in dem
bellum omninm contra omncs, w^elches nun einmal allem Erden-
dasein w^esentlich ist, seine relative Berechtigung findet.
Der Gefahr einer Zersplitterung der Lehrmeinungen und
dadurch zu befürchtenden Innern Auflösung der Kirche be-
gegnete dieselbe durch Aufstellung einer festen, für alle
verbindlichen regula ßdei, welche den Gnostikern gegenüber
an der Identität des Weltschöpfers mit dem Welterlöser fest-
hielt, in der schon Matth. 28,19 dem von seinen Jüngern
scheidenden Herrn in den Mund gelegten Taufordnung auf
den Namen des Vaters, Sohnes und Geistes ihren Ausdruck
fand, sodann zu dem auf die Apostel zurückgeführten, aber
erst gegen die Mitte des zweiten Jahrhunderts nachweisbaren
Sjimbolum Apostolicum erweitert wurde und in dem nach
und nach festgestellten Kanon der neutestamentlichen
Schriften Begründung und Beglaubigung erhielt.
Den nicht weniger die kirchliche Gemeinschaft zersetzenden
Devssex, GefcLicbte der riiilosophie. II, ri, 2. 21
322 XII. Die erste Teriode der Patristik.
asketischen und chiliastischen Neigungen des Montanismus und
verwandter Bestrebungen trat die Kirche durch Hinarbeiten
auf eine gleichfalls allgemein verbindliche weltliche Organi-
sation entgegen, wie eine solche schon in den durch das
Neue Testament beglaubigten Bischöfen, Presbytern und
Diakonen den Gemeinden vorgeschrieben worden war. In
der weltbeherrschenden Stellung der Stadt Rom, in welcher
Paulus und angeblich auch Petrus das Martyrium erlitten
hatten, war es begründet, dafs die römische Gemeinde ein
schon im Briefe des Clemens Romanus an die Korinther her-
vortretendes Aufsichtsrecht über alle andern Gemeinden be-
anspruchte und zugestanden erhielt. Kurz vor dem Episkopat
des Viktor (189 — 198) kam denn auch eine (in ihren ersten
Namen wahrscheinlich fingierte) Bischofsliste zum Vorschein,
welche die römischen Bischöfe in direkter Abfolge auf Petrus
selbst zurückführte.
Unter den Männern, welche das Bestreben der Kirche,
durch Ausscheidung separatistischer Einflüsse zu einer katho-
lischen Kirche zu erstarken, am kräftigsten unterstützten,
verdienen zwei als Typen besonders hervorgehoben zu werden,
Irenaeus in Gallien und Tertullian in Afrika.
Irenaeus stammte aus Kleinasien, war noch ein Schüler
des Polykarp gewesen, kam dann später nach Lugdunum in
Gallien, wo er zuerst als Presbyter, sodann seit 177 als Bischof
wirkte und in dieser Stellung, die er bis zu seinem etwa 202
erfolgten Tode innehatte, sowie in seinen Schriften den Geist
der kleinasiatischen Theologie mit ihrer Lehre von der dva-
y.z(fify.\c(.l(^ci:; oder rccapitulatio (d, h. dem Ausgang aller Dinge
von Gott und der endlichen Rückkehr- zu ihm) im Abendlande
vertrat. Sein Hauptstreben war dementsprechend, die auf eine
Trennung der weltschafienden und welterlösenden Potenz hin-
arbeitende Gnosis zu bekämpfen, wie dieses besonders in
seinem Hauptwerke, der in fünf Büchern, vollständig nur in
lateinischer Übersetzung vorhandenen Schrift Advcrsns Imcrescs
(sAsy/or xal dvarpoTTv] r-?;; 'I;i'jf^(ov'j;xo'j yvcocöwr, wie der ursprüng-
liche Titel lautete) hervortrat. — Die Gnosis ist nach ihm
eine Tochter der griechischen Philosophie, und er steht dieser
daher nicht freundlich o;e2:enüber. Die gnostische Unter-
7. Die katholische Kirche. 3l>-i
■Scheidung des Schöpfers vom Erlöser erscheint ihm als eine
Blasphemie; die stufenweise Entwicklung der vom Alten zum
Neuen Testament führenden Heilsordnung ist, wie er (an die
paulinische Anschauung von dem vc[j.o^ als einem Tra^iSa^wYÖi;
£'.r Xp'.STcv anknüpfend) darlegt, in dem göttlichen Erziehungs-
plane begründet, welcher von Adam durch die Propheten zu
Christus als dem zweiten Adam führt. Gottes wahre Wesen-
heit ist iucouiprclicutiihilis, sie wird erst comiyrehensibilis durch
■den Acyor, welcher mit Gott sanper coexistens und doch ihm
subordiniert ist. Der Acyo:; und der von ihm nicht streng
unterschiedene Heilige Geist, das Vcrhioii und die Saplentia,
sind die beiden Hände Gottes, mittels deren er die Materie
und die Welt erscliafi'en hat, und durch welche er sich den
Menschen offenbart, den Heiden durch die Stimme des Ge-
wissens, den Juden durch Gesetz und Propheten, den Christen
durch Christum, welcher als Mensch der Versuchung und dem
Tode unterworfen war, als Logos von beidem unberührt blieb.
Christus hat das Erlösungswerk iu compendio vollbracht, in-
dem er die Macht des Teufels brach und die Menschen wieder
mit Gott einigte (f'vcoasv). Dieses Heil wird von den Menschen
vermöge der ihnen verliehenen Freiheit des Willens er-
griffen. Es gibt keine Präexistenz der Seele und keine
Seelenwanderung. Die Welt besteht, entsprechend den sechs
^chöpfungstagen, 6000 Jahre, dann folgt, dem siebenten
Tage entsprechend, nach Überwindung des im Anschlufs an
2. Thess. 2,4 (vgl. oben, Phil. d. Bibel, S. 246) erscheinen-
■den Antichrists die tausendjährige Herrschaft Christi und nach
ihr eine allgemeine licsiirrectio carnis, das Gericht, ewige
Höllenstrafen der Bösen und ewige Seligkeit der Guten mit
und in dem Vater, welcher dann nach 1. Kor. 15,28 sein wird
alles in allem. — Wie für die innere Einheit der Kirche
vermöge der für alle verbindlichen Glaubensregel, so tritt
Irenaeus mit Entschiedenheit auch für den Anschlufs aller
Gemeinden an die Kirche Roms ein, „denn zu dieser Kirche
mufs sich wegen ihrer Ursprünglichkeit (jiropter potentiorem
principalitatcmj die gesamte Kirche, das heifst die Gesamtheit
der Gläubigen von überall her, zusammenscharen, weil in ihr
immer von den überall verbreiteten Gemeinden die von den
•21*
324 ^11- Die erste Periode der Patristik.
Aposteln herrührende Tradition auf bewalirt (conscrvaiaj worden
ist" (Adv. haeres. 3,3,1— lij.
Einer der eifrigsten Vorkämpfer für die Einlieit der Kirche
neben und nach Irenaeus, wenn auch nicht wie dieser für den
Primat des römischen Episkopats, war Tertullian, welcher
durch seine zahlreichen, von feuriger Beredsamkeit getragenen^
mit Witz und Sarkasmen gewürzten Schriften in lateinischer
Sprache, ungeachtet seines Anschlusses an den Montanismus,,
von grofsem Einflufs auf die Förderung des Gedankens einer
katholischen Kirche geworden ist.
Q. SepfiuuKS Florerts Tcrtullianus M^ar geboren etwa IGO p. C.
zu Karthago von heidnischen Eltern, ergriff die Laufbahn eines
Juristen und Rhetors, wandte sich infolge des Eindruckes, den
die Standhaftigkeit der Märtyrer auf ihn machte, mutmafslich
um das Jahr 193 dem Christentum zu, welches er seitdem
mit Einsetzung seiner ganzen mächtigen Persönlichkeit gegen
Gnostiker und andere Häretiker verteidigte, auch dann noch,
als ihn seine asketischen Neigungen, wahrscheinlich 202 p. C.^
bestimmten, für den Montanismus einzutreten und schliefslich
mit .der Kirche zu zerfallen, ohne dafs er bis zu seinem etwa
220 erfolgten Tode aufhörte, in apologetischen, dogmatischen
und ethischen Schriften für den christlichen Glauben zu wirken.
Alle weltliche Wissenschaft ist ihm, wie dem Apostel, eine
Torheit vor Gott, die griechische Philosophie erklärt er für
die Mutter aller Häresien, und seine offen zur Schau getragene
Verachtung der alten Philosophen würde nicht ahnen lassen,
wie gut er sie kennt und wieviel er ihnen, namentlich den
Stoikern, in seinem Materialismus und seiner Logoslehre zu
verdanken hat. Aber nicht in ihnen, sondern in der auf
göttlicher Offenbarung beruhenden Glaubensregel liegt der
Inbegriff aller Wahrheit, und es ist die höchste Weisheit,
nichts für wahr zu halten, was ihr widerspricht: adversiis
reguUim nihil scire omnia scirc est (De praescriptionibus 14).
Die dem christlichen Dogma anhängenden Widersinnigkeiten
gibt er offen als solche zu, ja, er sieht in ihnen einen Beweis
für die Wahrheit der christlichen Lehre : Natus est dei filius^
imn pudet, quia ^mdendum est; et mortuus est dei flius, prorsus
crcdihile est, quia ineptuni est; et sepidtus resnrrc.rit , certitm
7. Die katholische Kirche. 325
€st, quin n)ipossiJiiJc (De cariie Christi 5). Aus Aufserungen
dieser Art hat man den dem Tertullian zugeschriebenen, bei
ihm 'selbst nicht nachweisbaren, aber seine Anschauungen
richtig zusammenfassenden Ausspruch gebildet: crcdo qnia
uhsiirdum est, ich glaube es, nicht nur obgleich, sondern weil
es widersinnig ist. So empörend auch ein solches, aller Ver-
nunft und Wissenschaft hohnsprechendes Wort erscheinen
mag, so liegt doch in ihm ein dunkles Vorgefühl davon, dafs
die metaphysische Wahrheit zu allem empirischen Wissen in
einem durchgängigen, wohlbegründeten Widerspruch steht:
Empirisch ist der Mensch der Kausalität unterworfen und
daher unfrei, in der Zeit lebend und daher sterblich, meta-
physisch hingegen ist es ebenso wahr, dafs wir unserm wahren
Wesen nach unsterblich und frei sind; wie beides zusammen
l)estehen könne, ist schon öfter angedeutet worden und wird
im weitern Verlauf noch näher entwickelt werden. Von einer
solchen Einsicht ist Tertullian freilich noch weit entfernt; ihm
dient der erwähnte Grundsatz nur dazu, ihm über alles An-
stöi'sige der christlichen Lehre hinwegzuhelfen, das Unmögliche
möglich zu machen und seinen Christenglauben mit einem aus
der Stoa übernommenen massiven Materialismus und Sensualis-
mus zu verbinden. Alles, was die Sinne uns lehren, ist wahr,
denn Gott kann uns nicht betrügen wollen, und alles, was
existiert, ist körperlich: vUul est iucorporale, nisi qiiod non est
(De carne Christi 11; De anima 7), und da Gott und die Seele
existieren, so müssen auch sie materiell sein. „Wer kann
leugnen, dafs Gott körperlich ist, auch wenn er ein Geist ist?
nämlich als Geist ein Körper von besonderer Art in eigen-
tümlicher Gestalt." Dieser materielle Gott schafft die Materie
und aus ihr die Welt in einem bestimmten Zeitpunkte, in
welchem, wie bei Piaton, zugleich mit der Welt die Zeit er-
schaffen wurde, welche vorher noch nicht bestand; es gab
eine Zeit, in welcher es noch keine Zeit gab. Um durch ihn
die Welt zu schaffen, erzeugt Gott vermöge einer materiellen
Emanation seinen Sohn, den Logos, welcher das götthche
Schöpferwort und zugleich die weltordnende Vernunft und die
schöpferische Kraft ist. Er verhält sich zum Vater wie die
Strahlen fradiij zur Sonne, und der Geist verhält sich zum
326 XII. Die erste Periode der Patristik.
Sohne wie zu diesen Strahlen ihre die Erde berührenden
Spitzen fapiccsj. Der erste Mensch ist nach dem Ebenbild
Gottes geschaffen, wobei Christus, der Logos, als Modell
diente. Durch Adams Sündenfall ist die Sünde als Erbsünde
auf alle Menschen fortgepflanzt worden, doch ist ihnen ein
göttlicher Keim geblieben: anima nahiralitcr cliristiana (De
testimonio animae I); die Christenseele ist ein Engel, welcher
auf einer gezähmten Bestie reitet. Die Seele ist ein körper-
liches Wesen, durchzieht den ganzen Körper und hat (wie auch
die Jaina's in Indien, Phil. d. Inder, III, 260, lehren) die Gröfse
und Gestalt des Körpers, welchen sie beseelt. Sie ist aus der
Seele des Vaters bei der Zeugung entstanden, besitzt aber
nichtsdestoweniger Unsterblichkeit und Freiheit des Willens,
vermöge deren sie unter Mithilfe des als- ein materielles Fluidum
auf sie wirkenden Heiligen Geistes zur Erlösung gelangt. —
Die Freiheit nimmt Tertullian auch für die Wahl der Religion
den Verfolgern des Christentums gegenüber in Anspruch; die
Religion, meint er, sei eine individuelle Angelegenheit, welche
keinen andern etwas angehe: non alii prodcst aut ohcst altcrius
religio^ — und das wäre richtig, wenn unsere religiösen Über-
zeugungen nicht für unser Verhalten zu den Mitmenschen von
unmittelbarer und mafsgebender Bedeutung wären.
Weniger wegen seiner wissenschaftlichen Bedeutung, als
wegen seines, namentlich in der Schrift: De caiholicae ccchsiae
Imitate betätigten energischen Eintretens für die Einheit der
katholischen Kirche verdient neben Irenaeus und Tertullian
hervorgehoben zu werden Cyprian (Tltascins Cacc'dhis Ci/-
prianusj, welcher, geboren um 200 zu Karthago und als Rhetor
gebildet, 246 zum Christentum übertrat, 248 zum Bischof von
Karthago gewählt wurde, in der decianischen Verfolgung um
200 sich der Forderung des Pöbels: Cypricuium ad leoncm! durch
die Flucht entzog und von seinem Asyl aus die Angelegen-
heiten der Gemeinde leitete, nach Jahresfrist zu seinem Posten
zurückkehrte, unter Valerianus 2ö7 verbannt und nach seiner
Rückkehr 258 zu Karthago enthauptet wurde. In seinen
Schriften ist er wesentlich von Tertullian abhängig, dessen
Werke er sich, wie Hieronymus erzählt, täglich mit dem Worte:
Ba magistrum ! reichen liefs, unterscheidet sich aber von diesem
7. Die katholische Kirclie. 327
seinem Lehrer und Vorbilde durch griilVere Milde und prak-
tischen Sinn. Inwieweit er den Primat des Römischen Stuhles
anerkannte, ist strittig, sicher aber ist, dal's er die Einheit
der Kirche unter der Leitung des von Petrus begründeten
Episkopats in der oben erwähnten Schrift wie auch in seinen
Sl Briefen mit Eifer und Erfolg zu lordern bemüht war;
Epist. 43,5: Dens unus est et Christus unus et nna ccclesia et
cathedra una super Fetrum äomirti voce fundata. Diese katho-
lische Kirche ist für ihn nicht nur eine Gemeinschaft der
Gläubigen, sondern eine göttliche Heilsanstalt, aufserhalb deren
keine Kettung möglich ist; Epist. 73,21: s<dus caira ecclcsiam
non est.
Der schöne Gedanke einer katholischen, alle Christen ver-
einigenden Kirche, für welchen Irenaeus, Tertullian, Cyprian
und viele andere sich bemühten, konnte nicht ohne schwere
Opfer seiner Verwirklichung nähergebracht werden. Wie ein
Schiff zwischen links und rechts drohenden Klippen, bald
diesen, bald jenen ausweichend, mit Mühe und Gefahr seinen
Kurs nimmt, so mufste die Kirche die extremen Richtungen,
zu welchen die Konsequenz ihres Grundgedankens hindrängte,
vermeiden, indem sie zwischen beiden einen Mittelweg ein-
schlug und was diesem widerstrebte entw^eder als Häresie
ausschied oder, so gut es gehen wollte, mit ihren Grund-
anschauungen versöhnte, wobei nicht selten Worte und Formeln
dienen mufsten, um tiefer liegende Differenzen zu verdecken.
So hatte die Kirche zwischen dem Ebionitismus, welcher
am Alten Testament, dem mosaischen Gesetz und wohl gar
der Beschneidung festhielt und in Christo nur den letzten und
höchsten der Propheten sah, und zwischen dem zum Gnosti-
zismus ausartenden Paulinismus, welcher möglichst von der
alttestamentlichen Grundlage loszukommen suchte, einen Mittel-
weg eingeschlagen; und ebenso versuchte sie auf Kosten der
Konsequenz die Mitte zu halten zwischen den extravaganten,
mit dem weltlichen Bestände der Kirche unvereinbaren aske-
tischen Forderungen des Montanismus und andererseits
gewissen aus der Gnosis hervorwachsenden Richtungen
antinomistischer und libertinistischer Tendenz, deren
Anhänsrer als Pneumatiker ihre Erhabenheit über das Gesetz
328 XII. Die erste Periode der Patristilc.
des Judengottes selbst durch zügellose Orgien betätigt haben
sollen.
Unter den zahlreichen Streitigkeiten, welche die Gemüter
in der damaligen Zeit entzweiten und die Einheit der Kirche
gefährdeten, war keine, welche so viel Staub aufwirbelte und
so leidenschaftliche Kämpfe entfesselte, wie die Frage nach
dem Wesen Christi und seinem Verhältnis zu Gott dem \^ater.
In dieser Frage, welche über allen Bereich der menschlichen
Erfahrung hinausführte und nur durch die als göttliche Offen-
barung anerkannten Schriftworte beantwortet werden konnte,
welche jedoch einer verschiedenen, durch kein Erfahrungs-
wissen kontrollierbaren Auslegung fähig waren, gingen die
Meinungen der Kirchenlehrer weit auseinander. Viele erklärten
sich für den streng an der Einheit Gottes ([lovapyja) fest-
haltenden Monarchianismus. Von diesem Standpunkte aus
eröffneten sich jedoch für die Auffassung der Person Christi
zwei ganz entgegengesetzte Wege. Entweder man hielt ihn
für einen blofsen mit göttlicher Kraft ausgerüsteten Menschen
(dynamischer Monarchianismus), wodurch man in die
Häresie der Ebioniten verßel, oder man betrachtete ihn als
einen blofsen Modus des einen göttlichen Wesens (moda-
listisc her Monarchianismus), eine Annahme, welche dann
wiederum zu der unerträglichen Konsequenz führte, dafs der
allmächtige Gott selbst von den Juden «'ekreuzio-t worden sei
(Patripassianismus). Auch hier schlug die Kirche einen
Mittelweg ein und suchte sich bei der von namhaften Kirchen-
lehrern wie Irenaeus und Origenes vertretenen Theorie zu be-
ruhigen, dafs der Sohn zwar von Ewigkeit her vom Vater gezeugt,
aber doch diesem subordiniert sei (Subordinatianismus).
Brennend wurde diese Frage, als um das Jahr 318 zu
Alexandria der Presbyter Arius den alten Subordinatianismus
zu der Behauptung zuspitzte, der Logos sei nicht anfanglos,
sondern vor der Welt als erste der Kreaturen von Gott ge-
schaffen {iy.-[a~r^, nicht sYsvvT,trJ und dem Vater durchaus
wesensungleich (dvcij.cor xaToc -avTa zf^^ toO rcaTpbr o'jj''arj.
Ihm trat der Diakonus Athanasius entgegen, indem er lehrte,
dafs der Sohn mit dem Vater wesensidentisch, öaoo'jccr, und
von Ewigkeit her vom Vater gezeugt {^■)'^T)r^'Zr^, nicht t/.-'.aTr^}
7. Die katholische Kirclie. 329
sei. Beide fanden zahlreiche Anhänger, immer heftiger wogte
der Streit, und um ihn beizulegen, legte der Kaiser Constantin
im Jahre 325 auf dem Konzil zu Xicaea in Bithynien den
versammelten Bischöfen die Frage zur Entscheidung vor. Ob-
gleich eine Majorität widerstrebte, wurde doch unter dem
Druck, welchen der anwesende Kaiser auf die Versammlung
ausübte, eine Formel gefunden und zum Beschlufs erhoben,
nach welcher der Gottheit nur eine Substanz und zugleich
drei Personen beigelegt wurden. Die bixoo'jaic-'qc, hatte gesiegt,
Arius wurde verbannt und Athanasius 328 zum Bischof von
Alexandria erhoben. Aber der Streit sollte noch nicht so bald
zur Ruhe kommen, zumal auch Constantin wieder schwankend
wurde und seine Nachfolger Constantius ("f 361) und Valens
("f 378) einen Mittelweg suchten und die Widerstrebenden,
Valens sogar die Semiarianer, verfolgten. Athanasius wurde
nicht weniger als viermal verbannt und viermal zurückgerufen,
bis er 373 sein wechselvolles Leben beschlofs, ohne den vollen
Sieg seiner Lehre zu erleben. Der Occident, unterstützt durch
das dem Athanasius ergebene Mönchtum, hielt an dem Be-
schlufs des Nicaenum fest, während man im Orient sich mehr
dem Arianismus zuneigte, der ja im Grunde nur den hier von
alters her herrschenden Subordinatianismus auf eine bestimmtere
Formel gebracht hatte. Eine Reihe von Vermittlungsversuchen
trat hervor. Wenn der strenge Athanasianismus an der
ewigen Zeugung des Sohnes durch den Vater und an der
vollen Wesensgleichheit aller drei Personen festhielt, be-
haupteten die Pneumatomachen die Wesensgleichheit des
Sohnes, aber nicht des Geistes, die Semiarianer die ewige
Zeugung, aber nur die Wesensähnlichkeit, die Homoier die
Wesensähnlichkeit ohne ewige Zeugung, während die extremen
Arianer, die sogenannten Anomoier, sogar die Wesensähnlich-
keit bestritten. Auf zahlreichen Synoden wurde bald die eine,
bald die andere Richtung verdammt und über ihre Anhänger
die Verbannung verhängt, bis endlich mit Theodosius (379 —
395) ein strenger Athanasianer auf den Thron gelangte, unter
welchem 381 auf der Synode zu Konstantinopel die volle c;j.g-
o'jcio!., die Wesensgleichheit des Sohnes und des Geistes mit
dem Vater {uJ.t. cjs-'a, ~zi'.; 'j-z::-^.^^::, utia suhstantia, trcs
330 XII. Die erste Periode der Patristik.
2yrso)i(U'), zum festen Kirchengesetze erhoben wurde. Auf
derselben Synode wurde der Grund zu neuen Streitigkeiten
über die in der Person Christi vereinigten beiden Naturen ge-
legt, deren weitere Entwickluno- der folgenden Periode angehört.
XIII. Die zweite Periode der Patristik:
Vom Konzil zu Nicaea bis auf Karl den Großen
(325—800 p. C).
1. Geschichtlicher Überblick.
Unter Constantin hatte das Christentum im weiten römi-
schen Weltreiche, wenn auch wohl noch nicht die Hälfte seiner
Bewohner Christen waren, volle staatliche Anerkennung er-
langt. Nicht durch Bedrückung des Heidentums, welche sich
schon durch die immer noch grofse Anzahl seiner Anhänger
verbot, sondern durch die zahlreichen, unter Constantin und
seinen Nachfolgern dem Christentum gewährten Privilegien^
Schenkungen, Stiftungen usw. wuchs die Kirche mächtig an,
und es waren nicht immer die besten Elemente, welche, durch
äufsere Vorteile verleitet, nicht nur die Zahl ihrer Bekenner,
sondern auch die des höhern und niedern Klerus bald ins Un-
gemessene vermehrten.
Die nächste Folge dieser Erscheinung war eine starke
Verweltlichung sowohl der Kirche im allgemeinen, als auch
der schnell zu Macht und Keichtum gelangten Priesterschaft,
und als Reaktion gegen diesen zunehmenden Weltsinn ent-
wickelte sich das schon vom heiligen Antonius in Ägypten
(251 — 356 p. C.) durch Lehre und Beispiel kräftig geförderte
Mönchswesen, welches namentlich im Orient infolge der
Neigung zu einem beschaulichen Leben grofse Ausbreitung
fand, während im Abendlande Athanasius nach seiner Ver-
bannung nach Trier zu demselben anregte und Benedictus von
Nursia durch Gründung des Klosters auf dem Monte Cassino
(529 p. C.) Vorbild und Regel für hundert ähnliche An-
stalten schuf.
1. GeschichtlicLor Überblick. 331
Eine weitere Folge der staatlichen Anerkennung des
Christentums war eine starke, die Freiheit der Entwicklung
hemmende und störende Abhängigkeit von der Staats-
regierung, namentlich von dem Kaiser und seinem Hofe.
Die aristokratische Presbyterialverfassung der alten Zeit war
in ein monarchisches Regiment der Bischöfe übergegangen;
unter ihnen beanspruchten die Bischöfe der Provinzialhaupt-
städte und unter diesen wiederum die seit der Teilung des
Reiches in Diözesen über ihnen stehenden Patriarchen zu
Konstantinopel, Antiochia, Alexandria und Rom eine domi-
nierende Stellung. Über die Provinzialsynoden erhoben sich die
ökumenischen Synoden oder Konzilien, welche auf Anordnung
des Kaisers und nicht selten unter seiner persönlichen Leitung
stattfanden, wodurch der Kaiser und die Hofkamarilla einen
oft unheilvollen Einflufs auf die Entwicklung der kirchlichen
Lehre und Verfassung gewannen. So blieb denn der Schatz
ewiger Wahrheiten nicht nur in den irdenen Gefäfsen fest
eingeschlpssen, sondern diese Gefäfse waren fürs erste auch
Händen anvertraut, welche zu deren Bewahrung weder ganz
würdig noch auch fähig waren, und erst dem germanischen
Genius war es vorbehalten, nach Zertrümmerung des morschen
Römischen Reiches und nach Wiedergeburt des antiken Geistes
in der Renaissance, durch die deutsche Reformation und durch
die ihr Werk weiter und zu Ende führende deutsche Philo-
sophie die Segnungen des Christentums auch für die;jenigen
nutzbar zu machen, welche das kirchliche Dogma mit seinen
Härten zu ertragen nicht vermochten.
Bis dahin war freilich noch ein weiter Weg. Zunächst
hatten die germanischen Stämme nicht versäumt, das zer-
fallende Weströmische Reich in Besitz zu nehmen und Italien
und Afrika, Spanien und Gallien mit ihren Horden zu überfluten.
Der Ausspruch des Maharbal nach der Schlacht bei Cannae
(Liv. XXH, 51): vinccrc sa's, Hannihal, vicioria nti ncscis, läfst
sich auch auf das römische Weltreich und seine Geschichte
anwenden. Hatten die Römer es verstanden, durch Tapferkeit
und List alle Völker um das Mittelmeer her zu einem grofsen
Reiche zu vereinigen, so fehlte ihnen doch die Fähigkeit,
diesem Reiche eine Organisation zu geben, welche gleich sehr
332 XIII. Die zweite Periode der Patriätik.
den Bestand nach innen und den Schutz nach aufsen auf die
Dauer sichergestellt hätte. Es ist naturgemäfs, dafs mit der
Oröfse eines Reiches auch seine Macht zunimmt, und wenn
schon Livius klagt, dafs Rom an seiner eigenen Gröfse leide
(nt iam magnitudhie lahorct suaj, so erklärt sich dieses para-
doxe Wort nur daraus, dafs die organische Gliederung fehlte,
welche die Vielheit zur Einheit zusammenzuschliefsen und den
einheitlichen Willen der regierenden Macht durch Glieder und
Unterglieder bis zu den letzten Verzweigungen des Staats-
organismus zur Geltung zu bringen vermocht hätte. Die selt-
same Erscheinung, dafs die spätem römischen Kaiser es für
nötig fanden, Augusti und Caesarcs zu ihren Mitregenten zu
bestellen, beweist genugsam, dafs über der Vielheit der Teile
die Einheit des Ganzen anfing verloren zu gehen, und diese
Mitregentschaften waren nur das Vorspiel zu dem unheilvollen
Schritt, welchen Theodosius, der sogenannte Grofse, tat, als
er im Jahre 395 p. C. das Reich unter seine beiden unmündigen
Söhne Arcadius und Honorius teilte und so zwei dujch Eifer-
süchtelei und heimliche Begünstigung der Gegner sich gegen-
seitig schädigende Monarchien schuf, gerade zu der Zeit, wo
ein Zusammenhalten gegen die von Norden anstürmenden
Barbaren nötiger als je gewesen wäre. Hatte doch eben erst,
seit 375, das asiatische Reitervolk der Hunnen die in Süd-
rufsland östlich und westlich vom Dnjepr angesiedelten Ost-
goten und Westgoten aus ihren Wohnsitzen aufgestört, wo-
durch diese veranlafst wurden, von Mösien und Pannonien
aus beide Bruderreiche zu bedrängen. Der Westgotenkönig
Alarich wendet sich nach einem Raubzuge in Griechenland
gegen das Weströmische Reich, wo er nach wiederholten Ein-
fällen 410 Rom erobert und plündert, aber auf seinem weitern
Zuge in Süditalien stirbt; seine Westgoten ziehen nach
Gallien und Spanien, verdrängen von dort die Vandalen und
gründen in Südgallien und Spanien 415 das Westgotenreich,
welches in Spanien dreihundert Jahre bis zu seiner Vernichtung
durch die Araber im Jahre 711 besteht. Die von ihnen ver-
drängten Vandalen setzen nach Afrika über, wo sie 429 das
bis 534 bestehende Vandalenreich gründen, die Küsten der
Mittelmeerländer auf ihren Raubzügen verwüsten und im
1, Geschichtlicher Überblick. 333
Jahre 455 die Stadt Rom vierzehn Tage lang pUindern. In Itahen
folgen auf Valentinian III. seit 455 eine Reihe machtloser, teils
von Ostrom, teils von dem Suevenführer Ricimer eingesetzte
und abgesetzte Kaiser, bis endlich 476 Odoaker den letzten
Kaiser Romulus Augustulus entthront, aber schon . 493 von
Theoderich dem Grofsen besiegt und getötet wird, welcher das
bis 553 in Italien bestehende Ostgotenreich gründet. In-
zwischen sind die Franken unter Chlodwig vom Mittel- und
Niederrhein her in Gallien vorgedrungen und haben nach den
Siegen bei Soissons (486) und am Oberrhein (496) im nörd-
lichen Gallien das Frankenreich gegründet, so dafs um das
Jahr 500 sämtliche Hauptländer des Weströmischen
Reiches in Händen germanischer Stämme sind, von
denen die Ostgoten Italien, die Vandalen Afrika, die West-
goten Spanien und die Franken Gallien beherrschen.
Mit Ausnahme der Franken, welche infolge des Gelübdes
des Chlodwig in der Schlacht am Oberrhein den katholischen
(athanasianischen) Glauben angenommen hatten, waren alle
diese germanischen Stämme ursprünglich Anhänger des Arianis-
mus, welcher sich schon wegen seiner gröfsern Fafslichkeit
den einfachen Naturmenschen empfehlen mochte und durch
Ulfilas, Bischof der Goten (311—383), unter den Westgoten
Verbreitung fand, von denen Ostgoten, Vandalen und Sueven
ihn überkommen hatten. Mit Ausnahme der Vandalen, welche
ihrem Charakter gemäfs die Athanasianer mit Härte verfolgten,
wurde die katholische Lehre von den germanischen, dem
Arianismus huldigenden Eroberern nicht weiter bedrückt, nur
dafs der konfessionelle Unterschied zur Abgrenzung den ger-
manischen Siegern gegenüber der von ihnen beherrschten Be-
völkerung nicht unwillkommen war. Übrigens wurden nach
und nach alle diese Stämme für den Katholizismus gewonnen,
zu welchem die Burgunder im Jahre 517, die Sueven 550, die
Langobarden 587 und die Westgoten 589 übertraten.
Während der politischen Wirren dieser Zeiten wufste der
Römische Stuhl durch kluge Benutzung der jedesmaligen Kon-
stellation, ungeachtet mancher vorübergehenden Demütigungen,
sein Ansehen namentlich durch die Energie Leos I. (440 — 461)
und Gregors I. (590 — 604) zu behaupten und zu erweitern. Ein
334 Xlir. Die zweite Periode der Patristik.
reicher Besitz von Ländereien in allen Teilen Italiens, das
sogenannte Patrimoniiim Petri, und das dem Papste {jiapu,
offiziell zuerst seit 502 so genannt) zustehende Recht der
niedern Jurisdiktion auf diesen Gebieten machte es Gregor I.
möglich, in den Verhandlungen mit den eingedrungenen Lango-
barden als weltlicher Herrscher aufzutreten.
Inzwischen hatte das Oströmische Reich von der Be-
drängung durch die Hunnen seit dem Tode des Attila sich
wieder erholt und war unter der aus dem Bauernstande hervor-
gegangenen Dynastie des Justinus I. (518 — 527) und seines
Neffen Justinian L (527 — 565) zu neuem Ansehen gelangt, so
dafs man daran denken konnte, die an die Vandalen und Ost-
goten verlorenen Provinzen Afrika und Italien dem Ost-
röniischen Reiche zu gewinnen. Den mit Mifstrauen und Un-
dank vergoltenen Bemühungen des Belisar gelang es 534, das
Vandalenreich zu vernichten und die Ostgoten in Italien mit
Erfolg zu bekämpfen. Ihm folgte nach seiner Abberufung der
Eunuch Narses, welcher das Ostgotenheer unter seinen letzten
Königen Totila und Teja aufrieb und Italien 553 zu einem
byzantinischen Exarchat machte, welches fünfzehn Jahre später
durch den Einfall der Langobarden auf Venedig, Ravenna und
Calabrien eingeschränkt wurde, während das neuerrichtete
und bis nach Süditalien sich erstreckende Reich der Lango-
barden über zweihundert Jahre bis zu seiner Eroberung durch
Karl den Grofsen (774) Italien abermals unter germanische
Herrschaft brachte.
Verhängnisvoller für das byzantinische Kaiserreich als die
fortgesetzten Bedrohungen durch die Perser im Osten und die
Bulgaren und Serben im Norden wurden ihm nach Begründung
des Islam die Einfälle der Araber. Dem Kalifen Omar (1)34—044)
gelang es, nach Zerstörung des Perserreiches im folgenden
Jahre Jerusalem Qi^d>^ und Alexandria G42 zu erobern und da-
durch die Provinzen Syrien und Ägypten vom Oströmischen
Reiche für immer loszureifsen. \\'eitere Eroberungen der Ka-
lifen hatten zur Folge, dafs nach der Zerstörung Karthagos
(t)97) ganz Afrika dem Byzantinischen Reiche und nach der
Schlacht am Wadi Bekka (711) fast das ganze Spanien den
Westgoten entrissen und dem srofsen Reiche der Kalifen
1. Geschichtlicher Clcrblick. 335
«inverleibt wurden, welches, vom Indus bis zum Atlantisehen
Ozean sich erstreckend, die Expansion des Oströmischen,
Langobardischen und Fränkischen Reiches nach Süden hin
auf Jahrhunderte unmöglich machte und die christliche Welt
auf die Länder nördlich vom Mittelmeer einschränkte, während
-dieselbe nach Norden zu durch eine Kette heidnischer, dem
Christentum und der Zivilisation noch nicht erschlossener
Völker abgegrenzt wurde. Nach Niederwerfung der Langobarden
•durch Pipin (754) und durch Karl den Grofsen (774) sind es
neben dem absterbenden Byzantinischen Reiche und dem durch
die Karolinger in seinem Besitztum gesicherten Kirchenstaate
vor allem die unter dem Soepter Karls des Grofsen vereinigten
germanischen Stämme, in deren Händen die Aneignung und
Fortentwicklung der antiken Kultur und mit ihr des christ-
lichen Gedankens liest.
•2. Die monophysitischen und inonotheletischen Streitig'keiten.
Der Gedanke eines Mensch gewordenen Gottes liefs sich
als volkstümliche Vorstellung ertragen; sobald man aber ver-
suchte, diesen Gedanken psj'chologisch zu konstruieren und
dadurch wissenschaftlich begreiflich zu machen, mufste sich,
je länger je mehr, die völlige Unmöglichkeit herausstellen,
■die ganze zugrunde liegende Idee eines Gott-Menschen zu ver-
stehen, und diese Unmöglichkeit zum deutlichen Bewufstsein
gebracht zu haben, das dürfte wohl das eigentliche positive
Ergebnis der monophysitischen und monotheletischen Streitig-
keiten gewesen sein, welche jahrhundertelang unter allgemeinster
Teilnahme von Kaiser und Hof, Patriarchen und Bischöfen,
Priestern, Mönchen und Volk mit Erbitterung geführt wurden
und zu zahlreichen Verketzerungen, Verfolgungen und Verban-
nungen wohlgesinnter und hochgebildeter Männer Anlafs gegeben
haben. Wir können uns hier begnügen, diese unfruchtbaren
Streitigkeiten in ihren allgemeinsten Umrissen zu verfolsen.
Auch hier mufs man in der Weise des Thukydides die
•eigentlich tiefere Ursache von dem unmittelbaren äufsern
Anlafs unterscheiden. Die Ursache lag in der Grundidee des
Christentums vom Gott-Menschen, den äufsern Anlafs bildete
336 XIII. Die zweite Periode der l'atristik.
ein Einfall des Bischofs Apollinaris von Laodicea, welcher,
ausgehend von der aristotelischen Dreiteilung des Menschen
in crö[jLa (Leib), 'h'jyji (Seele) und voOc (Geist), die Hypothese
aufstellte, daXs bei Christo an Stelle des allen Menschen
eigenen vcüc der göttliche Acyc; getreten sei. Diese Auffassung
widersprach aber der kirchlichen Lehre, dafs Christus nicht
nur wahrer Gott, sondern auch wahrer Mensch gewesen sei;
und wie hätte er auch sonst durch seinen Opfertod für die
Sünden der Menschen bezahlen, wie hätte er den Menschen
ein sittliches Vorbild sein können, wenn er nicht die mensch-
liche Natur voll und ganz angenommen hätte? Die Meinung
des Apollinaris stiefs denn auch alsbald auf den lebhaftesten
Widerspruch, wurde 377 und 382 zu Rom sowie 378 zu
Antiochia als Irrlehre verworfen, und auf der ersten Kon-
stantinopolitaner Synode im Jahre 381 (oben S. 329) wurde
ihr als kirchliches Dogma entgegengestellt, dafs Christus
wahrer Gott und zugleich doch ein wahrer und vollständiger
Mensch gewesen sei. Am schärfsten drückt dies Augustinus
aus, wenn von ihm Epist. 137 Christus bezeichnet wird als
i» unitatc pcrsonuc copulans ufranirptc naturam. Christus sollte
also zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche, und
nichtsdestoweniger nur eine, in sich einheitliche Person be-
sessen haben. Hiermit aber war dem menschlichen Denken
ein schweres oder, richtiger gesagt, ein unlösbares Problem
aufgegeben worden. Denn wenn wir unter Natur die Gesamt:-
heit der Merkmale verstehen, welche einem Wesen zukommen,
so können diese Merkmale entweder als ohne Widerspruch
mit einander vereinbar gedacht werden, und dann bilden sie
zusammen nicht zwei Naturen, sondern eine, oder diese Merk-
male sind als göttlich und menschlich, leidlos und leidend,
unsterblich und sterblich, einander kontradiktorisch entgegen-
gesetzt, und dann können sie, nach dem Satze des Wider-
spruches, nicht in einer Person, d. h. in einem Individuum
zusammen bestehen; denn, wie schon Aristoteles (Metaphysik
IV, 3, p. lOOöb 19) sagt: xö yap auTÖ a[j.a uTrapyet.v xe xal ]xr\
hKtxgiuv aSuvaxov x« auxo xai. xaxa xö aüxo, „es ist unmög-
lich, dafs einem und demselben in derselben Hinsicht eines
und dasselbe zukomme und zugleich nicht zukomme". Legte
2. Die mouophysitiscbcn und monotheletischen Streitigkeiten. 537
man bei Christo den Nacluiruck auf die untrennbare Einheit
der Person, so liel's sich die Zweiheit der Naturen nicht aul-
rechthalten; betonte man hingegen die Zweiheit der Naturen,
so lief die Einheit der Person Gefahr, in eine göttliche und
eine menschhche Person auseinandergerissen zu werden. Auf
Grund dieses Dilemmas entwickelten sich zwei Schulen, welche
sich unter einander auf das heftigste befehdeten, die alexan-
drinische, vertreten namentlich durch die drei grol'sen
Kappadokier, ßasilius den Grofsen, Gregor von Nyssa und
Gregor von Xazianz, welche in mystischer, mehr das Gefühl
als den Verstand befriedigender Weise das Göttliche und
Menschliche in Christo (etwa wie in einer glühenden Eisen-
kugel das Eisen und die Glut) in inniger Durchdringung an-
schauten, wobei aber die Zweiheit der Naturen nicht bestehen
konnte, — und in eine antiochenische, deren bedeutendster
Vertreter Theodoros von Mopsuestia (Mc'jioy ka-la.) in Cilicien.
war, welche in verstandesmäfsiger Form die Zweiheit der
Naturen auseinanderhielt, die rein menschliche Entwicklung
Jesu mit Vorliebe verfolgte, diese aber mit seiner göttlichen.
Natur als Einheit zusammenzudenken nicht mehr vermochte.
Bald bemächtigte sich das hierarcliische Interesse dieses
Zwiespalts und suchte ihn für sich auszunutzen. Den ersten
Schlag führte Tlieophilus, der herrschsüchtige Patriarch von*
Alexandria, indem er den als Kanzelredner berühmten, aber
wegen seiner Sittenstrenge beim Klerus wie bei der Kaiserin
Eudoxia, Gemahlin des Arkadius, unbeliebten Patriarchen von
Konstantinopel, Johannes Chrysostomus, der Ketzerei be-
schuldigte. Auf der bei Chalkedon od quercmn 403 abgehaltenen
Synode wurde Chrysos'tomus abgesetzt und verbannt, sehr
bald freilich, um die Entrüstung des Volkes über diese Be-
handlung des gefeierten Kanzelredners zu beschwichtigen,
zurückberufen; als er jedoch sich unbeugsam zeigte, wurde
er Pfingsten 404 durch eine neue Synode abgesetzt und nach
Armenien verbannt, wo er 407 starb.
In eine neue und heftigere Phase trat der Konflikt zwischen
der alexandrinischen und antiochenischen Schule, nachdem 412
der streitsüchtige Cyrill den Patriarchenstuhl von Alexandria
bestiegen hatte, und Nestorius, ein Antiochener und Schüler
, Deussex, Geschichte dor l'hilosophie. 11. ii,2. 22
338 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
des Theodoros von Mopsuestia seit 428 als Patriarch von Kon-
stantinopel sich gegen die dem Volke teure Bezeichnung der
Maria als '^t.ozcy.oQ . [deipara, Gottesgebärerin) erklärt hatte, da
Maria nur den Menschen Jesus, nicht aber den in ihm wohnen-
den und von Ewigkeit vom Vater gezeugten aö^oc habe ge-
bären können. Beide Kirchenfürsten, Cyrill und Nestorius,
überschütteten sich mit Anathematismen. Eine Synode wurde
431 zu Ephesus anberaumt, wo Cyrillus in überstürztem Ver-
fahren die Verurteilung des Nestorius durchsetzte, welcher
zwei Jahre darauf von dem schwachen Theodosius IL, um
eine Union beider Parteien herbeizuführen, fallen gelassen und
in die thebaische Wüste verbannt wurde, wo er 440 einsam
und verlassen starb. Noch heftiger entbrannte der Streit, nach-
dem 444 Dioskuros dem Cyrill als Patriarch von Alexandria
gefolgt war, und sein Schützling, ein gewisser Eutyches, Abt
in Konstantinopel, die göttliche Natur Christi so stark betonte,
dafs er der längst verurteilten Ketzerei des Christo nur einen
Scheinleib zugestehenden Doketismus sich in bedenklicher
Weise annäherte. Eutyches' wurde von Flavian, Patriarchen
von Konstantinopel, abgesetzt, beide appellierten an Leo den
Grofsen zu Rom, der in seiner Epistola ad Flavianum sich für
dessen Zweinaturenlehre erklärte, während der Kaiser Theo-
dosius, um den Streit zu schlichten, 440 eine abermalige Synode
nach Ephesus berief. Sie wird die Räubersynode (cüvoSo^
X'TjGTpt.xi] , latrocinium Ephesmum) genannt, weil auf ihr Dios-
kuros, gefolgt von einem Aufgebot bewaffneter Soldaten,
rabiater Mönche und fanatischer Pöbelhaufen, unter Mifshand-
lung der Gegner die Wiedereinsetzung des Eutyches und die
Exkommunikation der Antiochener mit" Einschlufs des auf ihre
Seite getretenen Leo von Rom durchsetzte.
Im folgenden Jahre starb der solchen Schwierigkeiten
nicht gewachsene Kaiser Theodosius IL; seine energische
Schwerter Pulcheria bestieg mit ihrem Gatten Marcianus den
byzantinischen Kaiserthron, und beide beraumten 451 ein
ökumenisches Konzil zu Chalkedon an, auf welchem die alexan-
drinische Auffassung von der einheitlichen Natur Christi als
monophysi tische Ketzerei verworfen, Dioskuros nebst Eutyches
abgesetzt und eine vom römischen Patriarchen Leo I. in seiner
2. Die monopliysitisclicii und monotheletischen Streitigkeiteu. 339
Epistola ad Flavianum entworfene Formel zum Dogma er-*
hoben wurde. Der wesentlichste Inhalt derselben lautet: salvä
propridatc idrinsquc natiirae et in unam coeimte personam im-
jiassibil/'s dens fion dcdignaius est hämo esse x)assibäis et rm-
mortaUs mortis legibus suhiacere; qui enim verus est^deus, idem
rerus est homo^ m/it idraque forma cum alterius communione,
qnod proprium est; propter hanc unitateui personae in idraque
natura intelligendam, et filius hominis legitur dcscendisse de codo
et rursus filius dei crucifixus dicitur ac sepultus. „Indem die
Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen bestehen bleibt,
aber in einer Person sich verbindet, hat der vom Leiden freie
Gott es nicht verschmäht, ein dem Leiden unterworfener
Mensch zu werden und als Unsterblicher den Gesetzen des
Todes zu unterliegen; er ist ein wahrer Gott und eben der-
selbe ist ein wahrer Mensch; jede dieser beiden Formen be-
wirkt in Gemeinschaft mit der andern das, was ihrer Natur
entspricht; vermöge dieser Einheit der Person, welche zu be-
greifen ist als in beiden Naturen bestehend, ist nach der Schrift
einerseits des Menschen Sohn vom Himmel herabgestiegen,
und andererseits der Sohn Gottes gekreuzigt und begraben
worden." Die in dieser Formel behauptete unzertrennliche
Einheit der Person und dabei fortwährend in jedem Akte
des Lebens sich betätigende Zweiheit der Naturen liefs
sich wohl mit Worten sagen, nicht aber in Begriffen denken
oder irgendwie verstehen. Es ist daher begreiflich, dafs keine
der beiden Parteien mit ihr sich zufrieden gab; die Mono-
physiten in Syrien und Ägypten sagten sich von der Kirche
los und spalteten sich in der Folge in zahlreiche Sekten,
während andererseits die persische Kirche ihren eigenen durch
Nestorius vorgezeichneten Weg ging. Es kam sogar zu einer
vorübergehenden Spaltung zwischen der römischen und grie-
chischen Kirche (484 — 519), sowie unter Justinian 543 zu einer
Verurteilung der dem ganzen Streite zugrunde liegenden Doktrin
des Origenes (oben S. 320), ohne dafs die Innern Wirren ge-
hoben wurden, während die Bedrohung des zerrütteten Reiches
durch äufsere Feinde nah und immer näher rückte. In dieser
Not unternahm der Kaiser Heraklius (610—641) einen letzten
Versuch, die im Orient zahlreichen Monophysiten zu gewinnen,
22*
340 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
wodurch aber nur als Nachspiel der monophysitischen Streitig-
keiten der monotheletische Streit heraufbeschworen wurde-
Hei'aklius hatte die Patriarchen von Konstantinopel und Alexan-
dria für die Anschauung gewonnen, dafs in Christo nur ein
gottmenscli,licher Wille bestanden habe, und auch der römische
Papst Honorius hatte seine Zustimmung dazu gegeben. In-
dessen stellten weitere Verhandlungen und Vermittlungsver-
suche immer klarer heraus, dafs dieser Monotheletismus doch
nur ein verschleierter Monophysitismus sei, und dafs das
Dogma von den zwei Naturen notwendig auch die Annahme
von zwei Willen in Christo erfordert, und so wurde, nachdem
schon die Hauptsitze des Monophysitismus, Syrien und Ägypten,
638 und 642 unwiederbringlich an die Araber verloren ge-
gangen waren, 680 auf der Synode von Konstantinopel auf
Grund eines Sendschreibens des Papstes Agatho, nach welchem
in Christo Suo (p^jav/A ^£Ar,[j.aTa dhl'xlgi-^^ic, axpezTG^r, d;xspiCT(or,
dauyX^Twc; oh^i uTrsvavTLa dXAa src'j.evov t6 dv'ij'poTit.vov xal {iTcc-
Tacac[j.evov xw 'i'su.), „zwei natürliche Willen untrennbar, un-
wandelbar, unteilbar und un vermischbar, jedoch nicht ein-
ander widerstreitend, sondern so, dafs der menschliche Wille
dem göttlichen folgsam und Untertan gewesen sei", bestanden
hätten. Bei dieser Formel beruhigte man sich, die Anhänger
des Monotheletismus, unter ihnen auch der Papst Honorius,
wurden als Irrlehrer verdammt, und dieses Verdammungsurteil
seines Vorgängers auf dem Römischen Stuhle wurde von dem
Papste Leo II. ausdrücklich bestätigt.
3. Der Frädestinationsstreit : Augrustinns.
Während in den monophysitischen und monotheletischen
Streitigkeiten die Kirche, namentlich die orientalische, ihre
Kräfte in der Diskussion unfruchtbarer, durch keine Erfahrung
erweisbarer und freilich auch durch keine Erfahrung wider-
legbarer Lehrmeinungen verbrauchte, entspann sich in dem
mehr auf praktische Fragen gerichteten Abendlande ein Kampf,
dessen Bedeutung weit über das Zeitalter und die Formen,
welche er in demselben annahm, hinausreichte, indem er ein
Problem behandelte, welches auch heute noch das Nachdenken
* 3. Der Prädestinationsstreit: Augustinus. 341
des Menschen beschäfti2;t und in alle Zukunft beschäftigen
wird, die Frage nach der Unfreiheit oder Freiheit des
menschlichen Willens.
Es gibt ein Naturgesetz, welches alles Endliche ohne Aus-
nahme beherrscht, das Gesetz der Kausalität. Dieses Gesetz
besagt, dafs jede Veränderung in der Natur eine Wirkung
ist und nur erfolgen kann, aber unausbleiblich erfolgen mufs,
nachdem ihr gewisse andere Veränderungen, welche wir darum
als die Ursache jener Wirkung bezeichnen, vorangegangen
sind. Auch jede Handlung des Menschen ist eine Wirkung
und folgt, wie alles in der Natur, mit Notwendigkeit aus ihrer
Ursache, welche in diesem Falle aus zwei Komponenten be-
steht, einerseits den von aufsen an uns herantretenden Mo-
tiven und andererseits den durch sie zur Aktion veranlafsten
innern Charaktereigenschaften, von deren Beschaffen-
heit es abhängt, welches der verschiedenen Motive in einem
gegebenen Falle das stärkste ist; nach diesem erfolgt die
Handlung, wie jedes andere Naturereignis, mit unabwendbarer
Notwendigkeit, (Ja Charakter und Motive als Ursache der
jedesmaligen Handlung als 'Wirkung der Zeit nach vorher-
gehen, somit im Augenblicke des Handelns schon der Ver-
gangenheit angehören und daher niclit mehr in unserer Hand
sind. Je klarer unser Verstand diese Verhältnisse, zergliedert,
um so mehr überzeugen wir uns, dafs jede unserer Hand-
lungen aus ihren schon der Vergangenheit angehörigen und
daher unabänderlich feststehenden Ursachen mit Notwendig:-
keit erfolgt. (Thesis des Determinismus.)
Mit dieser Erkenntnis des Verstandes steht in Wider-
spruch ein in den letzten Tiefen unserer Natur wurzelndes
Gefühl, welches jede unserer Handlungen begleitet und in
uns das Bewufstsein lebendig erhält, dafs wir nicht nur anders
handeln können als wir handeln, sondern auch anders wollen
können als wir wollen, ja sogar, so wunderlich es klingt, dafs
wir in jedem Augenblick unseres Lebens anders sein können
als wir sind. Was wir sind, ist durch den empirischen, in
der ganzen Körperbeschaffenheit zum Ausdruck kommenden
Charakter fest bestimmt, und jenes Gefühl, dafs wir auch
anders sein können als wir sind, bedeutet nichts Geringeres
342 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
als die in jedem Augenblick und bei jeder Handlung unseres
Lebens bestehende Möglichkeit, uns von unserer ganzen
empirischen Existenz und ihren Gesetzen loszusagen und auf
unsere ansichseiende, ewige, kausalitätlose, göttliche Natur
zurückzuziehen, worin eben jede moralische, das eigene Selbst
verleugnende Handlung besteht.
Diese Antinomie zwischen Unfreiheit und Freiheit des
Willens, dieses schwerste aller dem Menschengeiste auf-
gegebenen Probleme, war der christlichen Kirche schon durch
die bei Jesus und Paulus hervortretenden Gedanken auferlegt
worden. Jesus erklärt in seiner drastischen Weise, dafs die
Früchte nicht anders sein können als der Baum, und verlangt
dennoch, dafs die Früchte anders sein sollen als sie sind.
Bei Paulus verquickt sich diese Antinomie mit dem aus dem
Alten Testament überkommenen Theismus; Rom. 9,16: „So
liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern
an Gottes Erbarmen"; Phil. 2,13: „Denn Gott ist es, der in
euch wirket beides, das Wollen und das Vollbringen, nach
seinem Wohlgefallen";' vgl. Evang. Johannis ,15,5: „Ohne mich
könnt ihr nichts tun." — Dem alle andern Väter der Kirche
an umfassender Bildung, Klarheit des Geistes und Konsequenz
des Denkens überragenden Aurelius Augustinus war die schwere
Aufgabe zugefallen, diese schon im Urchristentum liegenden
Keime weiterzuentwickeln.
Aurelius Augustinus wurde geboren am 13. November
354 zu Thagaste in Numidien als Sohn eines heidnischen
Vaters, des Decurio (Senator) Patricius und einer christlichen
Mutter Monica, welche bis zu ihrem Tode (387) in unermüd-
licher Sorge die geistige Entwicklung des Sohnes verfolgte,
ohne dafs es ihr zunächst gelungen wäre, ihn für das Christen-
tum zu gewinnen. Die biblischen Erzählungen waren ihm
damals noch Ammenmärchen , und seine kräftig entwickelte
Natur suchte ihre Befriedigung in einem Leben des Ge-
nusses. Was der Mutter nicht gelungen war, das bewirkte
der Horten srus des Cicero; sein Studium weckte in dem Jüng-
ling das Verlangen, die W^ahrheit über das Wesen der Dinge
zu ergründen, und er glaubte diese in dem Dualismus der
Manichäer zu finden; ihrer Sekte gehörte er zehn Jahre
3. Der Prädestinationsstreit: Augustinus. 343
(373 — 382) als anditor an, während er zuo-leich in Karthago
als Lehrer der Rhetorik wirkte. Allmählich an ihnen irre
werdend, begab er sich 383 nach Rom und bekleidete seit 384
eine Stelle als Lehrer der Beredsamkeit in Mailand, wobei er
vergeblich Befriedigung in dem Skeptizismus der Akademiker
suchte. Aus diesem rettete ihn das Studium der ncuplato-
nischen Philosophie, welche späterhin auf die Gestaltung seiner
christlichen Anschauungen nicht ohne Einflufs geblieben ist.
Die Predigten des Ambrosius, welche er um ihrer Form willen
besuchte, regten ihn an, die Bibel zu studieren und die von
den Manichäern am Alten Testament geübte Kritik durch
allegorische Erklärung desselben zu überwinden. Ein Wort
aus dem Römerbriefe (L3,13 — 14) und der Eindruck des
Mönchslebens veranlafsten ihn, sich von den Sinnengenüssen
loszusagen, sein Amt aufzugeben, sich auf das Landgut Cassi-
ciacum seines Freundes Verecundus zurückzuziehen und dort
in stiller Beschaulichkeit und in Gesprächen mit teilnehmen-
den Freunden die ihn bewegenden Gegensätze der neuplato-
nischen und christlichen Anschauungen zum Ausgleich kommen
zu lassen. Er empfing 387 durch Ambrosius die Taufe, kehrte
im folgenden Jahre, nach dem Tode der Mutter, in die Heimat
zurück und setzte in Thagaste sein kontemplatives Leben fort,
bis er gegen seinen Wunsch 391 zum Presbyter und 396 zum
Bischof von Hippo Regius ernannt wurde. In dieser be-
scheidenen Lebensstellung blieb er bis zu seinem am 28. August
430 während der Belagerung der Stadt durch die Vandalen
erfolgten Tode, gewann aber durch seine ausgebreitete, mit
allen Zeitströmungen sich befassende schriftstellerische Tätig-
keit einen dominierenden Einflufs auf sein Zeitalter und weit
über dasselbe hinaus.
In zahlreichen Schriften, deren Einflufs sich nicht nur auf
die Scholastiker und Mystiker des Mittelalters, sondern auch
auf die Periode des Humanismus und der Reformation, ja in
gewissem Sinne" bis auf die Gegenwart hin erstreckt, bekämpfte
er seit 388 die Manichäer, seit 393 die Donatisten, seit
412 die Pelagianer, während er aufser zahlreichen Predigten
und Briefen seine persönlichen Lebenserfahrungen in den
Confessiones, sowie den in seinen letzten Lebensjahren
344 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
geschriebenen Retractationes, und seine Weltanschauung-
namentlich in den grofsen Werken De Trinitate und De
Civitate Dei niederlegte. Die vielgelesenen Confessiones
in 13 Büchern behandeln in Form eines Gebetes an Gott das
Leben Augustins mit allen seinen Jugendverirrungen und
gnädigen Wendungen bis zur Taufe (387) hin. Zu Eingang
finden sich die berühmten Worte, welche die Grundstimmung
des Ganzen aussprechen: „Fecisti nos ad te et inquictum est
cor nostrum, donec requicscat in te." In den Retractationes
unterwirft er seine bis 427 veröffentlichten Schriften einer
kritischen Musterung und teilweise einer Berichtigung.
Wiederholt berührt Augustin in seinen Schriften die Frage
nach der Realität der Aufsenwelt, welche seit Descartes das
Grundproblem der ganzen neuern Philosophie geworden ist.
Schon Augustin erklärt die Überzeugung, dafs die uns um-
gebende Welt real sei, für einen blofsen notwendigen Glauben,
und findet, wie 400 Jahre nach ihm (^ankara in Indien und
1200 Jahre nach ihm Descartes, den letzten Grund aller Ge-
wifsheit in der Tatsache des eigenen Denkens; De trinitate
XIV, 7 : nihil enini tarn novjt mens quam id quod sibi j^raesto
est, nee menti magis quidqiiam praesto est quam ipsa sibi; De
Vera religione 73: omnis ifiittir qui utrvm sit vcritas duhitat,
in se ipso habet verum unde non duhifef* Aus dieser Gewifs-
heit des eigenen Geistes glaubt Augustin die Gewifsheit Gottes
als des letzten Grundes aller Wahrheit schöpfen zu können.
Gott ist ihm wie den Neuplatonikern das Wesen ohne alle
Bestimmungen, das etis simjjlicissimum, raumlos und zeitlos und
doch sine loco ubiquc, sine tempore sempiternus. In der Trinitäts-
lehre lehnt sich Augustin an die drei ersten Prinzipien der Neu-
platoniker, ev, vou?, "h^r/ji-, an, bestimmt Gottes Wesen als Sein,
Erkennen und Leben oder, wie er auch sagt, Liebe, und
wird dadurch ein Vorläufer der gleichfalls auf neuplatonischen
* Vgl. Qankara, ad Brahmasütram p. 6"20,6 (mein „System des Vedanta"
8. 137): „denn in Abrede stellen können wir eine Sache, die (von aufsen)
an uns herankommt, nicht aber, die unser eigenes Wesen ist. Denn wer
es in Abrede stellt, eben dessen eigenes Wesen ist es." — Descartes,
Meditationes II: nam quod ego sim, qui dubitem, qui intelligam, qui velim,
tarn manifestum est, ut nihil oceurrat, per quod 'evidentius expUcetur.
3. r>or l'rädcstinationsstreit: Augustinus. 345
Anschauungen beruhenden Trinitätslehren des Scotus Erigena,
Abaelard, Meister Eckhart und Jakob Böhme. — Die Verwirk-
hchung des Reiches Gottes in der Welt schildern die 22 Bücher
De cnitatc Dci. In den ersten fünf Büchern tritt er dem Vor-
wurf entsesen, als habe das Christentum den Verfall des
antiken Staates verschuldet; Ilium sei gefallen, und so werde
auch Rom fallen, weil sein Reich auf Selbstsucht gegründet
und daher in Sittenlosigkeit entartet sei; die Verwerflichkeit
der heidnischen Kulte und die Unzulänglichkeit der antiken
Philosophie werden in den folgenden fünf Büchern behandelt,
während die letztbn zwölf der Civitas tcrrena eines Assur-Babel
und Rom die durch Israel und die christliche Kirche ver-
wirklichte Civitus Bei gegenüberstellen.
Am wichtigsten und folgenreichsten ist das Eingreifen
Augustins in die Prädestinationsstreitigkeiten geworden. An-
lafs dazu bot das Auftreten des britischen Mönches Pelagius,
bei welchem die Schärfe des Denkens weniger entwickelt war
als das sittliche Gefühl, und der auf Grund des letztern be-
hauptete, der Fall Adams sei nur ein individueller, nicht ein
solcher der ganzen Menschheit gewesen; noch jetzt werde der
Mensch ohne Sünde, und frei geboren und könne auf Grund
seines liberum arhitrinm seine Seligkeit selbst erwirken, wobei
er durch die göttliche Gnade, sowie durch Vorbild und Lehre
Christi nur eine bei der allgemeinen Verderbtheit der Menschen
willkommene Unterstützung finde. Mit diesen Ideen kam er
409 nach Rom, gewann dort für sich den Caelestius und
ging mit ihm 411 nach Karthago, von wo Pelagius sich nach
Palästina begab und dort unter den synergistisch gestimmten'
Origenisten Duldung fand, während Caelestius sich in Afrika
um das Amt eines Presbyters bewarb, aber als Irrlehrer ver-
klagt und auf einer Synode zu Karthago 412 exkommuniziert
wurde. Nun griff Augustin in den Streit ein und bekämpfte
unermüdlich bis zu seinem Tode hin (430) den Pelagius und
Caelestius, welche beide 431 auf dem Konzil- zu Ephesus zu-
sammen mit Nestorius als Irrlehrer verdammt wurden. Die
Theorie, welche Augustinus dem Pelagius entgegenstellte, ist
im wesentlichen folgende.
Der erste Mensch, Adam, war nach dem Ebenbilde Gottes
346 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
erschaffen und hatte von diesem das liberum arhitrinm, die
Freiheit des Willens und damit die Möglichkeit erhalten, dem
göttlichen Willen zu folgen und dadurch Unsterblichkeit zu
erlangen :
poterat von ^^cccarc et pou mori.
Vom Satan verführt, fiel Adam und mit ihm die ganze Mensch-
heit, denn er war die ganze Menschheit, welche er als natura
seminalis in sich befafste. Wir alle als Nachkommen Adams
haben seine Sünde als Erbsünde fpeccatum originalej über-
kommen und mit ihr den Tod, welcher nach dem W^orte des
Apostels der Sünde Sold ist (Rom. 6^23). Die ganze Mensch-
heit ist eine einzige massa perditionis; die Freiheit des Willens
ist verloren gegangen; den Zustand des Menschen bezeichnet
die Formel:
non potest non peccare et von mori.
Gott ist gerecht, und nach seiner Gerechtigkeit müfsten alle
Menschen der ewigen Verdammnis verfallen; er ist aber auch
barmherzig, und um seine Barmherzigkeit zu bekunden, will
er einen Teil der Menschen retten. Vermöge eines elecretum
ahsoJutiim, welches seinen Grund nur in dem weisen und
geheimnisvollen Wohlgefallen Gottes hat, teilt er die Menschen
ein in Verworfene (reprohati) und Auserwählte (elcctij. Nur
an letztere wendet sich die göttliche Gnade; sie ist unwider-
stehlich firresistihilisj und unverlierbar finamissihUisJ ; sie be-
wirkt nach Phil. 2,13 beides, sowohl das Wollen als auch
das Vollbringen; in ersterer Hinsicht ist sie gratia prae-
vcniens oder opereins, in letzterer die gratia subseqncns oder
cooperans; in ersterer Hinsicht bewirkt sie den Glauben und
als seine Folge den Willen zum Guten, in letzterer stärkt
und erhält sie ihn durch Einflöfsung {infiisioj neuer W^illens-
kräfte: ut velimus operedur incipiens, volcntihus cooperedur per-
ficiens. Auch das Beharren im Guten ist ein Gnadengeschenk,
das donum perseverevntiac. So gelangt der Erwählte endlich
zur völligen Befreiung von der concupiscentia und damit zu
einem Zustande, in welchem es von ihm heifsen wird:
non poierit peccare et mori.
Dieser Zustand wird aber erst jenseits des Grabes erreicht.
3. Der Prädestinationsstreit: Augustinus. 347
Die von Augustin aufgestellte Lehre der Prädestination,
nach welcher Gott „nach dem. weisen und geheimen Wohl-
gefallen seines Willens", mit andern Worten, aus reiner Will-
kür einen Teil der Menschen rettet und die übrigen der ewigen
Verdammnis überliefert, war zu grauenhaft, als dafs sie, trotz
ihrer eisernen Konsequenz, auf allgemeinere Zustimmung hätte
rechnen können. Nur wo der kalte Verstand die Forderungen
des religiösen Gefühls völlig unterdrückte, konnte man sich
bei einer Theorie beruhigen, welche die einen zur Verzweiflung
an ihrem Seelenheil brachte, während sie die andern zu sitt-
licher Sorglosigkeit verleitete. , Es ist daher sehr begreiflich,
dafs man zwischen Augustinus, der alles von der Gnade, und
Pelagius, der alles von dem freien Willen des Menschen ab-
hängig machte, einen Mittelweg einzuschlagen suchte. Einen
solchen betrat Johannes Cassianus, Begründer und Vor-
steher eines Klosters zu Massilia, dessen Anhänger, damals
Massilienser, in spätem Jahrhunderten Semipelagianer
genannt, der Theorie huldigten, dafs das Heil von einem
Zusammenwirken der göttlichen Gnade und des menschlichen
Willens zu erwarten sei, wobei bald das eine, bald das andere
Moment den ersten Anstofs zur Bekehrung geben und bei deren
Durchführung überwiegen sollte. Nach langwierigen Verhand-
lungen und Streitigkeiten kam man endlich 529 auf der Synode
zu Arausio (Orange) zu einem im folgenden Jahre von dem
Papste Bonifacius IL sanktionierten Beschlüsse, nach welchem
die augustinischen Lehren von der Erbsünde, gänzlichen Ver-
dienstlosigkeit des Menschen und der unbedingten Notwendig-
keit der Gnade anerkannt, aber die Prädestination verworfen
und an ihre Stelle eine blofse Präscienz, ein Vorherwissen
Gottes, wie der Mensch sich entscheiden werde, gesetzt wurden,
wobei man sich vorläufig beruhigte.
Die Frage nach der Prädestination oder, ohne Mythologie
gesprochen, die Frage nach der Unfreiheit oder Freiheit des
menschlichen Willens war ein Problem, welches für das
augustinische. Zeitalter und seine Denkungsart noch nicht
lösbar war. Allerdings wäre eine Lösung zu finden gewesen
in der Lehre des Veda, nach welcher der Gott, welcher allein
348. XIII. Die zweite Periode der Patristik.
in uns das Wollen und Vollbringen des Guten Avirkt (Kathaka
Upanishad 2,23: „Nur wen er wählt, von dem wird er er-
griffen"), nicht eine uns fremd gegenüberstehende Persönlich-
keit, sondern unser eigenes metaphysisches Selbst, unser Atman
ist, welcher als solcher den Gesetzen der empirischen Realität,
indisch gesprochen, den Gesetzen der 3Iayä, d. h. des Raumes,
der Zeit und der Kausalität fdcca-Juda-mmittaJ nicht unterliegt.
Aber diese Lehre lag in jener Zeit für das Abendland in un-
erreichbarer Ferne, und wäre sie erreichbar gewesen, so würde
sie dem vom semitischen Realismus umklammerten Christen-
tum nicht verständlich gewesen sein, wiewohl der Apostel
Paulus, wenn er den natürlichen und den geistigen Menschen
unterscheidet und den letztern mit dem Herrn vom Himmel
identifiziert (1. Kor. 15,47), nicht fern von dieser Erkenntnis ist.
Näher kommt ihr noch Piaton, welcher die ewigen, ehernen,
grofsen Gesetze, nach welchen wir alle unseres Daseins Kreise
vollenden 'müssen, auf das Gebiet des yrfvcij.evov xac aTroXXi)-
|j.£vov, ovToc hl ohhiizoxt cv, „des Entstehenden und Vergehenden,
in Wahrheit aber niemals Seienden", einschränkt, wie er denn
auch den Menschen vor der Geburt frei dasjenige Leben er-
wählen läl'st, welchem er nach der Geburt mit Notwendigkeit
verbunden bleibt: sxaaToc a'.p'e'lT« ß'lov, w auvecTai 1^ dvaYX.r,?, . . .
rtl-zirx eXoijivou, '^soc avaLTt-oc (De Rep. X, 15, p. 617E). Eine
volle Lösung der Schwierigkeit kann diese platonische, auch
in neuerer Zeit als Prädeterminismus wieder erneuerte Lehre
nicht gewähren. Sie liegt allein in Kants grofser Lehre, dafs
wir als Erscheinung der Kausalität und mit ihr der Notwendig-
keit unterworfen, als Ding an sich aber von beiden frei sind ;
nicht als wenn wir, wie Piaton meinte, nur vor unserer Geburt
Ding an sich und frei, nach der Geburt aber blofse Erscheinung
und somit unfrei wären, sondern, so gewifs wir allezeit und
in jedem Augenblick unseres Lebens sowohl Erscheinung als
auch Ding an sich sind, so gewifs bestehen in jeder einzelnen
Handlung einerseits die empirische Unfreiheit und. anderer-
seits die metaphysische Fjeilieit neben einander, und die letz-
tere bedeutet niclits anderes als die in jedem Augenblicke
des Lebens offenstehende Möglichkeit, uns bei jeder einzelnen
Handlung aus dem ganzen Netze der Kausalität und des
3. Der Prädestinationsstieit: Augustinus. 349
Egoismus loszulösen und auf unsere ansichseiende, freie, gött-
liche Natur zurückzuziehen, worin eben das moralische, unser
ganzes empirisches Ich verleugnende; Handeln besteht. Frei-
lich müssen sich auch die moralischen Handlungen dem all-
gemeinen Schema der Kausalität einordnen, welches verlangt,
dafs jede Handlung mit Notwendigkeit aus ihren Ursachen
erfolgen mufs, nämlich subjektiverseits aus dem Charakter,
welcher allemal Egoismus ist, und objektiverseits aus den
Motiven, welche allemal in Gefühlen der Lust und Unlust
bestehen. Aber deutlich zeigt sich, wie bei den moralischen
Handlungen dieses Schema mit einem ganz andern Inhalt
erfüllt ist, sofern es in ihnen nicht mehr der individuelle,
sondern ein über alles Lebende, alles was Lust und Schmerz
empfindet, sich erweiternder Egoismus ist, welchem dem-
entsprechend nicht mehr das eigene Leiden , sondern das
Leiden aller Kreaturen als Mitleid die Motive des Handelns
liefert.
4. Eindringen neuplatonischer Gedanken in das Christentum:
Dionysiüs Areopagita.
Auch nachdem durch den unglücklichen Tod des edlen
Kaisers Julianus im Jahre 363 p. C. (Phil. d. Griechen, oben
II, I, S. 508 fg.) die letzte Hoffnung auf Wiederherstellung
der Religion der Väter im griechisch-römischen Weltreiche
geschwunden war, übte doch nach wie vor die hellenische
Kultur eine mächtige Anziehungskraft namentlich auf die-
jenigen Kreise der Bevölkerung, welche durch einen gewissen
Grad von Bildung und mit ihr- gesteigerten geistigen Bedürf-
nissen in dem Christentum mit seiner barbarischen Sprache
und Form auch bei aller Hochachtung vor der ihm inne-
wohnenden sittlichen Kraft doch keine volle Befriedigung
finden konnten. Besonders war es die griechische Philosophie,
welche als Neuplatonismus in dieser ihrer letzten und, wie
man damals glaubte, vollendetsten, alles Beste aus Piaton,
Aristoteles und der Stoa in sich vereinigenden Gestalt dem
Christentum um so gefährlicher wurde, je mehr der Neu-
platonismus denselben Gemütsbedürfnissen wie dieses ent-
gegenkam und doch den vielfachen Anstofs, welchen der
350 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
denkende Menschengeist an dem christlichen Dogma nahm,
zu vermeiden wufste. Und welchen tiefer denkenden Geist,
welches feiner empfindende Gemüt hätte es nicht ansprechen
sollen, wenn der Neuplatonismus statt der vom Christentum
beibehaltenen anthropomorphi sehen Gottesvorstellung die
völlige Unerkennbarkeit Gottes als des ewigen Urgrundes,
statt der Weltschöpfung in der Zeit eine zeitlose Emanation
alles Seienden aus Gott, statt ewiger Himmelsfreuden und
Höllenstrafen nach dem kurzen, hinfälligen Erdenleben eine
stufenweise Läuterung auf dem Wege der Seelenwanderung
bis zur endlichen Wiedervereinigung mit dem göttlichen Ur-
gründe in der ernsten, weihevollen Sprache eines Plotinos
lehrte und dabei die jeder tiefern Keligion wesentliche aske-
tische Tendenz kräftiger als das durch so viele Zeitrücksichten
gebundene Christentum betonte!
Solange die katholische Kirche noch in der Bildung be-
griffen war, noch um ihre Existenz ringen mufste, hatte sie
alle gnostischen und asketischen Abweichungen von der ge-
wöhnlichen Heerstrafse des orthodoxen Dogmas energisch
bekämpft, nachdem sie aber zur weltlichen Herrschaft gelangt
war und durch die grofsen Konzilien von Nicaea (325), Kon-
stantinopel (381), Ephesus (431) und Chalkedon (451) eine
allgemeinere Übereinstimmung in betreff der Fundamental-
dogmen erstritten hatte, konnten gerade die lebendigem Na-
turen an dem für alle Feststehenden, allen Zugänglichen und
daher trivial Gewordenen kein dauerndes Genügen finden,
und so vollzog sich eine gewisse Annäherung zwischen christ-
licher und hellenischer, speziell neuplatonischer Denkweise,
indem einerseits Kirchenlehrer wie Origenes und Augustinus
ihrem Lehrsystem einen starken Einschlag neuplatonischer
Gedanken einwoben, während andererseits auch solche, welche
auf dem angestammten Boden hellenischer Philosophie ver-
harrten, die innere Verwandtschaft des christlichen Dogmas
mit ihren Überzeugungen nicht verkannten und ihm den Wert
einer allegorischen, für die Fassungskraft der Menge geeigneten
Einkleidung der philosophischen Wahrheit zugestanden. Als
Typus der letztern Denkweise kann Synesios, Bischof von
Ptolemais in der Cyrenaica, gelten, welcher in seinen Reden
4. Eindringen neiiphitoniscbor Godiuikcii in das Christentuin. 351
und Hymnen, mehr noch in seinen Briefen zur Zeit der hin-
welkenden antiken Welt als eine der lebensfrischesten und
ansprechendsten Persönlichkeiten uns entgegentritt.
Öynesios wurde geboren unter Kaiser Valens bald nach
370 p. C. zu Kyrene als Abkömmling eines griechischen vor-
nehmen und begüterten Adelsgeschlechts, welches seinen
Stammbaum auf Eurysthenes, den Nachkommen des Herakles,
zurückführte. Seine erste Erziehung erhielt er in seiner Vater-
stadt Kyrene an der Hand der griechischen Klassiker, vor
allem des Homer, neben welchem die griechischen Lyriker
und die Philosophen, namentlich Piaton und Aristoteles, in
den Schriften des Synesios häufige Erwähnung finden. Zm'
Fortsetzung seiner Studien begab er sich nach Alexandria,
Avo die edle, durch Schönheit wie durch Sittenreinheit gleich
sehr ausgezeichnete Hypatia seine Lehrerin in der Philosophie
wurde. Ihr blieb er auch nach der Rückkehr in die Heimat
in höchster Liebe und Verehrung zugetan, legte ihr seine
Schriften, ehe er sie veröffentlichte, zur Beurteilung vor, nennt
sie in den Briefen an sie seine Lehrerin , seine Mutter, seine
Schwester, macht sie zur Ratgeberin in den Sorgen seines
häuslichen und öffentlichen Lebens, und dieses schöne Ver-
hältnis blieb auch dann ungetrübt bestehen, nachdem Synesios
vor der Übernahme seines Bischofsamtes zum Christentum
übergetreten war, welchem Hypatia ablehnend gegenüberstand.
Die grauenhafte Ermordung der Philosophin durch den vom
Patriarchen Cyrillus aufgehetzten christlichen Pöbel im Jahre
415 scheint Synesios nicht mehr erlebt zu haben. Noch in
jungen Jahren wurde Synesios von seinen Landsleuten an der
Spitze einer Gesandtschaft nach Konstantinopel geschickt, ' um
von dem schwachen, unter dem Einflüsse des Westgoten-
führers Gainas stehenden Kaiser Arkadius für die unter allerlei
Unglücksfällen leidende Cyrenaica einen Erlafs der Steuern
zu erwirken. In die Zeit dieses Konstantinopeler Aufenthalts
398 — 400 fällt die berühmte, vor Kaiser und Hof gehaltene
Rede des Synesios izzgl ßaausia?, in welcher er, wie er selbst
erzählt, kühner als je ein Hellene es gewagt, den Gegensatz
zwischen dem Tyrannen und dem philosophischen, Gottes Güte
nachbildenden, vor allem sich selbst regierenden Herrscher
352 XIII. Die zweite Periode der Fatristik.
entwickelt, die Abschliefsung des Kaisers von seinem Volke
durch die Hofetikette beklagt und die Rückkehr zu altrömischer
Einfachheit fordert. Froh war er, endlich von dem intriganten
Hofleben der Hauptstadt in seine Heimat zurückzukehren,
worauf ihm 403 zu Alexandria durch „Gott, das Gesetz und
die heilige Hand des Theophilus" eine Christin als Gattin
angetraut wurde, während er selbst nach wie vor Heide blieb,
ohne doch dem Kultus der christlichen Kirche und dem aske-
tischen Mönchswesen seine Achtung zu versagen. Er selbst
zog es vor, auf dem Wege der schönen Natur und Kunst sich
zur Betrachtung des Ewigen zu erheben und von ihr immer
wieder nicht zur Trivialität des Alltagslebens, sondern zur
Beschäftigung mit den Musen zurückzukehren. Mit philosophi-
schen Studien und in regem Briefwechsel mit seinen Freunden
verbrachte er die folgenden Jahre teils in Kyrene, teils auf
seinem Landgute, wo die beschauliche Ruhe nicht nur durch
Verkehr mit den einfachen Landleuten, durch Landwirtschaft
und Jagd, sondern auch durch die notwendige Verteidigung
seines Landgutes gegen die gelegentlichen Einfälle der barbari-
schen Maketen zeitweilig unterbrochen wurde. Eine gröfsere
und dauernde Störung seiner philosophischen Studien brach
über ihn herein, als im Jahre 409 Klerus und Volk seiner
Provinz baten, dafs dem nach vielen Richtungen einflufsreichen
Manne der erledigte Bischofssitz von Ptolemais (80 Kilometer
südwestlich von Kyrene) übertragen werde. In dem berühm-
ten, an seinen Bruder Euoptios in Alexandria gerichteten, aber
zur Mitteilung an den Patriarchen Theophilus bestimmten
105. Briefe äufsert Synesios seine Bedenken, da er über viele
Dinge anderer Anschauung sei als die Menge: „Niemals werde
ich mich davon überzeugen, dafs die Entstehung der Seele
dem Leibe erst nachfolge, niemals annehmen, dafs die Welt
mit allen ihren Teilen vergehe; die Auferstehung, die in aller
Munde ist, halte ich für etwas Heiliges und Mysteriöses, bin
aber weit entfernt von der Meinung der Menge darüber." Die
reine Wahrheit, so meint er, sei für die Fassungskraft der
Menge so wenig geeignet wie das volle Sonnenlicht für ein
krankes Auge. Finde der Patriarch in diesem Bedenken kein
unübersteigliches Hindernis, so sei er zwar bereit, den an ihn
4. Eindringen neuplatonisclier Godaiikon in das Christentniu. ."5;}
ergangenen ehrenvollen Ruf als eine Fügung Gottes anzu-
nehmen, könne aber seine philosophischen L berzeugungen
nicht verleugnen und müsse daher versuchen, sie mit den
Forderungen seines Amtes zu vereinigen, ~b. [jiv cl'xci 91X0-
ao9«v, ~a S'i^w 9!.Xo[j.'j't«v. In diesem klassischen Ausspruch
des Synesibs liegt das Programm für eine unberechenbar
ferne Zukunft; nie wird der wissenschaftlich Gebildete sich
zufriedengeben können mit der mythischen Form, in welcher
das christliche Dogma die ewigen Heilswahrheiten darbietet,
und schwerlich wird je die Zeit kommen, wo auch das Volk
anders als in dieser mythischen Form für dieselben empfäng-
lich sein wird. — Der Patriarch setzte sich, diplomatisch wie
e^ war, über die Bedenken des Synesios hinweg; während
eines siebenmonatigen Aufenthalts in Alexandria empfing der-
selbe Taufe und Bischofsweihe und hielt zu Ostern 410 seinen
Einzug als Metropolitanbischof in Ptolemais. Eine Reihe un-
glücklicher Jahre w^ar für ihn die Folge dieses übereilten
Schrittes; sei es, dafs seine schöngeistige Anlage nicht bis
in diejenige Tiefe zu dringen vermochte, wo der Einheits-
punkt von Wissen und Glauben liegt, sei es, dafs sein Neu-
platonismus dazu noch nicht die ausreichende Handhabe bot, —
über das Bewufstsein des Zwiespalts zwischen seinem Amte
und seinen Überzeugungen wufste er nicht hinwegzukommen.
Dazu kamen äufsere Widerwärtigkeiten, die politischen Schwie-
rigkeiten, denen sich der Idealist und Theoretiker nicht ge-
wachsen fühlte, der Konflikt mit dem rohen Präfekten An-
dronikos und der kurz aufeinanderfolgende Tod seiner drei
Söhne, welcher ihn tief niederbeugte, und in welchem er Trost
suchte nicht in den Worten der Heiligen Schrift, sondern in den
Lehren des Stoikers Epiktet. Synesios starb nach dem Amts-
antritt des Patriarchen Cyrillus 412, aber vor der Ermordung
der Hypatia 415. Ein gnädiges Geschick hatte es ihm erspart,
das schreckliche Ende der geliebten Lehrerin zu erleben.
Die philosophischen Schriften des Synesios, das Lob der
Kahlheit, der Dion und die Schrift über die Träume, bekunden
eine grol'se Belesenheit und enthalten viele geistvolle und witzige
Bemerkungen, aber keine eigentlich neuen philosophischen
Gedanken. Seine Philosophie ist durchaus abhängig von der
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii, 2. 23
354 XIII. Die zweite Periode der Tatristik.
alten hellenischen, namentlich sind es Piaton und Aristoteles,
welche er wie eine göttliche Offenharung verehrt, aber durch-
aus mit den Augen des Plotinos betrachtet, wiewohl er den
Plotinos nur einmal, den Jamblichos gar nicht erwähnt, aber,
wie sich zeigen wird, unter beider Einflul's steht. Mit Plotinos
hält er fest an dem unerkennbaren Einen, an seiner ersten
Emanation in dem vcuc und den Ideen, der aus diesen emanie-
renden psychischen Welt und der Materie als der letzten,
sich in das Dunkel verlierenden Ausstrahlung des göttlichen
Lichts. Das Eigentümliche besteht nur in der Art, wie Sy-
nesios mit diesem neuplatonischen Schema seine christlichen
Anschauungen, namentlich über die Trinität, zu vereinigen
sucht. Hierbei aber laufen in seinen Prosaschriften und
Hymnen drei verschiedene Auffassungen durch einander und
zeigen, dafs Synesios in seinem verhältnismäfsig kurzen Leben
nicht zu voller Klarheit der Grundanschauungen durchgedrungen
ist. Einerseits ist er im Anschlufs an Plotinos geneigt, Vater,
Sohn und Geist mit dessen drei ersten Prinzipien, dem ev,
dem vo'j? und der vb^j/-»], zu identifizieren, dann aber hebt er
mit Jamblichos, und hierin zeigt sich Beeinflussung durch
diesen, die höchste Monas über alles hinaus und läfst aus ihr
auch die Trias emanieren, und endlich verlegt er, im nächsten
Anschlufs an das Christentum, die ganze Dreieinigkeit in das
überwesentliche Eine, aus welchem er dann die Ideenwelt,
das Psychische und alles übrige entströmen läfst. Dafs die
menschliche Seele durch einen Abfall von Gott sich in die
Materie verirrt habe, und dafs ihr höchstes Ziel in einer
Rückkehr zu dem göttlichen Ursprung bestehe, nimmt er mit
Plotinos an, ist aber ebensowenig wie dieser über den Grund
dieses Abfalls und über die Materie, welche eine letzte Aus-
strahlung des Göttlichen und doch auch das Böse sein soll,
ins klare gekommen. »
Folgende Verse aus dem ersten Hymnus des Synesios
mögen genügen, um die Stellungnahme, welche er als Philo-
soph seinem christlichen Lehramt gegenüber einnimmt, zu
charakterisieren. Vers öS — 75:
Der Einheiten lieil'ge Einheit,
Der Monaden erste Monas,
4. Eiiuiringeii neuplatünischer Gedanköu in das ChristentuKi. 355
Aller Höhen Einfachheiten
Einend und sie in Geburten
Überwesentlich gebärend, —
Von dorther dann eilend selber,
Durch die erstgeborne Form
Unaussprechlich ausgegossen,
Steht dreifalt'ger Kraft die Monas,
Und die überhohe Quelle
Kränzt sich mit der Kinder Schönheit,
Die vom Mitteli3unkte laufen,
Um denselben sich bewegen. —
Halte ein, du kühne Leier,
* Halte ein, dem Volke zeige
Hochehrwürd'ge Weihen nicht.
Geh und singe Niederes
Und das Höhere deck' in Schweigen.
Weit ernster und nachhaltiger als es dem mehr ästhetisch
als philosophisch bedeutenden Synesios möglich gewesen war,
versuchte etwa hundert Jahre nach ihm ein Unbekannter unter
dem angenommenen Namen des Dionysius Areopagita die
neuplatonischen Anschauungen mit dem christlichen Dogma
zu verschmelzen. Ahnlich wie der Verfasser der unechten
Pastoralbriefe denselben allerlei auf die Lebensverhältnisse des
Apostels Paulus bezügliche Reminiszenzen einwebt, weifs auch
unser Autor die Fiktion, dafs er jener einst am Areopag
wohnende (nach Apostelgesch. 17,34 von Paulus zu Athen
'bekehrte und zuerst von Dionysios von Korinth 170 p. C. als
erster Bischof von Athen erwähnte) Dionysios sei, nicht un-
geschickt durchzuführen; er will zu Heliopolis die Sonnen-
finsternis während der Kreuzigung Christi beobachtet haben
(Epist. 7,2), will mit Petrus und Jacobus beim Tode der Mutter
Jesu zugegen gewesen sein (Von den göttlichen Namen III, 2),
korrespondiert mit Timotheus, Titus und dem auf Patmos ver-
bannten Johannes usw. Solche Fiktionen sind im Sinne -des
Altertums, besonders des orientalischen, nicht als Fälschungen
anzusehen, wurden wenigstens nicht als solche empfunden;
vielmehr ist nichts gewöhnlicher, namentlich in Indien, als
23*
,^,5G Xlll. Die zweite Periode der Patristik.
dafs ein unbekannter Schriftsteller sein Werk einer politisch
oder literarisch hochstehenden Persönlichkeit nicht nur, wie
auch bei uns zu geschehen pflegt, widmet, sondern das-
selbe geradezu als von ihr verfafst ausgibt, teils aus Be-
scheidenheit, teils auch um ihm leichtern Eingang zu ver-
schaffen, wie dies wohl auch von unserm Dionysius Areopagita
beabsichtigt wurde und, wie der Erfolg gezeigt hat, über
Erwarten gut gelungen ist; denn das ganze ]\Iittelalter bis
auf Laurentius Valla hin hat an der Echtheit dieser Schriften
festgehalten und in ihnen Dokumente aus der Zeit des Ur-
christentums verehrt. In Wahrheit aber haben diese Schriften
einerseits die Philosophie des Neuplatonikers Proklos (450 p. C),
andererseits die Formeln des Konzils zu Chalkedon (451) zur
Voraussetzung, sind der ganzen alten Kirche unbekannt und
werden zum ersten ^lale erwähnt bei dem Religionsgespräch
von Konstantinopel 533 p. C, wo die Severianer (eine mono-
physitische Sek'te, welche mit Severus von Antiochien an-
nahm, dafs der Leib Christi erst nach der Auferstehung äcfitrj.^-
Toc und dTCa^T,;; geworden sei) sich auf dieselben beriefen.
Zur kirchlichen Anerkennung gelangten sie erst durch die
Schollen, welche Maximus Confessor (580 — 662) zu ihnen
schrieb, in denen er die monophysitisch klingenden Stellen in
orthodoxem Sinne deutete. Fünf Schriften haben sich unter
dem Namen des Dionysius Areopagita erhalten:
1. -spt ^suov ovc[j.dt,T«v, „über die göttlichen Namen",
2. TTspt. oüpavcac hgoig-^^inc, „über die himmlische Hierarchie",
3. zspt, ixxkr^ai'xaziySqc ispapyjar, „über die kirchliche Hier- .
archie",
4. zspt. [j.'jc;-!,xf,:: 'rsoACYiac, „über die mystische Theologie",
5. zehn Briefe, gerichtet an den Therapeuten Gajus, den
Liturgen Dorotheos, den Presbyter Sosipater, den Hier-
archen Polykarpos, den Therapeuten Demophilos, den
Hierarchen Titus und den Theologen Johannes auf
Patmos.
•In diesen Schriften unterscheidet der Verfasser eine be-
jahende Theologie {y.7.xoic^oi-v/.(i 'riCAC7''a), welche von Gott
durch seine Eigenschaften und Emanationen (rcpccSo!.) zu den
Einzeldingen herabsteigt und Gott als den Vielnamigen (ttcX'jw-
4. Kindriiigen iieuplatonischor Gedanken in das Cliristentum. p,57
vDfJLcr) feiert, und eine verneinende Theologie (drc9aT!.x-r]
'tz.ZAzyl'x), welche auf mystischem Wege zu Gott als dem
Namenlosen (dcvuvjtj.cr) gelangt, indem, sie alle Unterschiede
der Einzelwesen, alle Vielheit in dem einen göttlichen Ur-
gründe auslöscht. Die bejahende Theologie wird vorwiegend
in der Schrift von den göttlichen Namen entwickelt, an welche
wir die Bücher von der himmlischen und der irdischen Hier-
archie anschliefsen; der verneinenden Theologie ist aufser Hin-
deutungen in den übrigen Schriften und Briefen die nur aus
fünf kurzen Kapiteln bestehende Schrift über die mystische
Theologie gewidmet.
Die Lehren der beiden Theologien, der bejahenden und
verneinenden, stehen in kontradiktorischem Gegensatz zu
einander: nach der einen ist Gott vielnamig, nach der andern
namenlos; diese beiden Vorstellungen können nicht als zwei
völlig ernstgemeinte Überzeugungen in demselben Kopfe zu-
sammenbestehen, und fragen wir, welche von beiden im Sinne
unseres Autors die wahrere ist, so lassen Bezeichnungen der
negativen Theologie als der gültigem (xupioTepa) und gött-
lichem (reioTspa) keinen Zweifel darüber, . dafs sie die eigene
Theologie unseres Verfassers ist; De div. nom. VH, § 3: y.al
§',a Yvwceor 6 0£cr yivocx-iTat xal S',a ayvcoCLar, xa», Icriv auToü
xal vcT,C'.r y.y.l Ac^or '/.al kiZ'.azr^iJ.'q xa', k7Z7.(^'q y.7l aiifZrp.'Z xal
hiz^y. xal oavT'xa''a xal Gvc|j.a xal to, aXAa Tcavxa, — xal o'jts voslra'.
CUTS Ao^öTa', z'j-i ovo[j.a«£Ta'/ xal oux la~i n töv cvtwv, ohhl sv
T'/r. Töv cvTf.)v Y'.vQCxsTa', ■ xal ev tolci -dvTa ia-l xal Iv cuSevl
o'jSsv xal ix — dvTwv -dac Yiv6c;xi"ra'. xal iz ouSsvör o'jSsvI' xal
ydp taOra opTör "spl öeoij a£yo[j.;v, xal Ix rwv cvro)'^ aTrdvTwv
ujj.vsiTa', xaTa ttiV TrdvTov dvaAcylav, 6v Ict'.v aÄT'.oc' xal &aT',v.
rvj'Z'.: r, j£(.oTd~^ tgO ©toü yvwcK: i^ St' ayvcoclac y^'^"^'''-^!-'-^*''''!?
xaTd -TTjV 6~;p voOv svfOGLv, cTav 6 vo'jc, Töv 6'vTwv zdvTov aTtoardr,
cTTiiTa xal £a'j-:6v doelr, evojfj Tale i)7:ip9a£a',v dxTlaiv, „Gott
wird erkannt durch das Erkennen und durch das Nicht-
erkennen; einerseits kommen ihm zu Verstand, Vernunft,
Wissen, Berührung, Wahrnehmung, Meinung, Phantasie, Name
und alles übrige, — und wiederum wird er weder erkannt,
noch ausgesprochen, noch genannt; und ist nichts von dem
Seienden, wird auch in nichts von dem, das ist, erkannt; er
358 XIII.' Die zweite Periode der Patristik.
ist in allen alles und wiederum in keinem irgend etwas; er
wird aus allem erkannt von allen 'und wiederum von keinem
aus keinem; denn auch jenes sagen wir mit Recht von Gott
aus und preisen ihn aus allem, was da ist, nach der Analogie
von allem, dessen Ursache er ist; und wiederum ist die gött-
lichste Erkenntnis Gottes diejenige, welche durch Nichterkennen
erreicht wird, vermöge der den Geist übersteigenden Ver-
einigung, wenn der Geist von allem Seienden absieht, schliefs-
lich auch sich selbst fahren läfst und eins wird mit den über
alles Licht erhabenen Lichtstrahlen."
Aber wie vereinigt dieser Standpunkt die mystische Ver-
senkung in die Gottheit mit den Aussprüchen der Heiligen Schrift,
welche ihm durchaus als" göttliche Offenbarung gilt, und mit
ihren anthropomorphen Vorstellungen? De div. nom, Paraphr. I,
§ 4: Tauxa 7^? ^'-^^ ^'^ TrapaTTSTacjj.a-a, jj/Jj ex.cvTov fj|j.öv oLixiaioQ
TtpocßaAAi'.v Toic zgoi'dx.aai, xal hijx toüto S£C[j.£vov :ü£p',xaA'j[j.-
tj-dtTov TLvöv . . . -l hi ia~i t6 9',Adv'^p(i)7rcv töv lepöv Ypa9wv; —
CT'- xaTa aYoc-TjCtv jsiav, Iva yop-r^'^'^ xo vct^tcv x.al dc/upr^TCv sv
T,|xtv, aia'^TjTot^ C'jii-ßcAO'.r l'i^rffrzo C'.ove'' T'.a», ~2p',xa)oj|j.|j.aai..
„Alles das sind Schleier, weil wir nicht imstande sind, die
Realität unmittelbar zu erfassen, und deswegen gewisser Hüllen
bedürfen . . . Wie aber ist dies menschenfreundliche Verhalten
der Heihgen Schrift zu verstehen? Aus göttlicher Liebe, da-
mit das Geistige und Unfafsbare uns fafslich werde, bedient
sie sich sinnlicher Symbole gleichsam als gewisser Hüllen."
Diese Stellen mufs man im Auge behalten, wenn man
sieht, wie der Verfasser der mystischen Theologie, ehe er
diese abhandelt, eine ausführliche Schrift Trspt ^e''«v 6vo[j.dT«v,
„über die göttlichen Namen", vorausschickt, welche schon
durch ihren Titel andeutet, dafs es sich hierbei um Namen
handelt, und deren Inhalt wir nur ganz kurz überblicken wollen.
Die obersten Benennungen Gottes sind die als der Gute
und Schöne. Auf seiner Güte beruht das Sein aller Dinge,
auf seiner Schönheit die Form, welche er ihnen verleiht,
„das überwesentlich Schöne aber wird Schönheit genannt,
wegen der Schönheit (xaAAcvT,), welche von ihm aus allen
Seienden, jedem nach seiner eigentümlichen Weise, mitgeteilt
wird"; es ist „alles Schönen Schönheitsquell";, es ist End-
' 4. Einilriiigen iieuplatonischcr Gedanken in das Cliristentum. 359
zweck und Vorbild alles Schönen in der Welt (De div. nom. IV,
§ 7). AA'eiter wird Gott bezeichnet als die Liebe (IV-, 12),
das Leben (cap. VI), die Weisheit, „als das, welches alle
Weisheit ins Dasein führt und über alle Weisheit und alles
Verständnis erhaben ist'" (VII, 1), die Kraft als „Urheber
aller Kraft, der alles mit unbeugsamer, unbegrenzter Kraft
ins Dasein bringt" (VlII, 2), woran sich eine Reihe weiterer
von Gott in der Bibel gebrauchter Bezeichnungen anschliefst.
Bei jeder dieser göttlichen Eigenschaften wird versichert, dafs
sie in überwesentlicher Vollkommenheit der Gottheit eigen
sind, und dafs sie aus .der Überfülle Gottes, ohne dafs die-
selbe dadurch vermindert wird, in die Welt ausstrahlen;
II, 11 Paraphr.: zal zoXXaTCAaataLicvTa', [j.lv a», ?>Mpsoc', i~l 'zzl^
xat:' exaJTCv, [j.ho-jci bk a:^v/.c^o'~r~i,):: sie ~b £v, „und zwar
werden die göttlichen Gaben vielfach gemacht in den Einzel-
dingen und bleiben doch unabgängig bestehen in dem Einen".
Mit diesen neüplatonischen Anschauungen verbindet Dio-
nysios die christliche Lehre von der Trinität in der Weise,
dafs er sämtliche göttliche Eigenschaften jeder der drei Per-
sonen zuschreibt, welche von einander verschieden sind und
doch eine Einheit bilden, vergleichbar drei Lichtern, welche
sich zu einem Lichtmeere vereinigen.
Zwischen der Gottheit und der irdischen Hierarchie steht
als Vorbild der letztern die himmlische Hierarchie, wie sie in
der Schrift zspl Tf,c oupaviac Upapx^a? vom Areopagiten be-
handelt ward. Sie zerfällt in eine obere, mittlere und untere
Trias von Engeln, ein Name, welcher eigentlich nur der letzten
Triade zukommt, aber auch auf die beiden obern seine 'An-
wendung findet, weil die obern Engel auch die Kräfte der untern
besitzen und ausüben, nicht aber die untern auch die der
obern. Die Namen der drei Triaden zeigt folgendes Schema:
a£pa9Mj.,
X£pc-j,3c[x,
^pcvoi.
XUp',GTT|T£r,
S'jva|j.£(.(:,
i'E,c-jcicf.i,
^91'^';
dpya7Y£Aci,
aY7£ACi.
Die in der Schrift -£pl £xx.AT,JLaaTL/-T,c [tg-y.z-/yj.c beschriebene
kirchliche Hierarchie ist ein Abbild der himmlischen und ent-
hält wie diese drei Stufen, welche durch den Bischof ([zgy.zyr^c),
?)ßO XIII. Die zweite Periode der Patristik. *
den Priester (up^ür) und den Diakonen (A£t,ToupYcc) gebildet
werden. Der überwesentliche Jesus ('ItjCoü?: ■uTispouCLOc), wie
er ein Glied der Trinität bildet, ist zu den Menschen herab-
gestiegen und hat durch seine 'TöavSpf.x-/] svip^sia die Kirche
gegründet als eine Anstalt, um die Menschen zu Gott empor-
zuführen. Der Aufstieg erfolgt in drei Stufen, welche als
xa^apc'.c (Reinigung), 9cort.c;j.c? (Erleuchtung) und zcXzldtaic
(Vollendung) bezeichnet werden. Der Diakon bewirkt die
xdc^apc'.r, der Priester den 9«T!,a|j.cc und der Bischof die xe-
löMcic, welche zur Vergottung (^soaic) emporführt. Wie bei
der himmlischen Hierarchie können auch bei der kirchlichen
die Funktionen der niedern Ordnungen auch von den höhern,
nicht aber umgekehrt auch die höhern von den niedern aus-
geübt werden.
Das höchste Ziel der Seele ist das Einswerden mit Gott
(rstjcT'.r), zu welchem drei Wege führen, die unser Autor als
die süviüa, k\<:/.ol'.hT^; und die xux/j//.-^ yl-rr^a'4, die gerade, die
spiralförmige, die zentrale Bewegung bezeichnet.
1. Die gerade Bewegung besteht darin, dafs die Seele izgoc,
Ta TZipl ea'jTTjV izgo'ioyjacc, xal öcto twv s^w^sv, ucTrep dx6 xtvo)-;
au'j-ßcAwv TrsxoLX'Ajxsvov xal TüSTCATj'i'ucjj.svwv, £7rl zoLC aTCAÖcr xal
Tjvoij.sva? dvocY^xa'. 'Tstjpia?, „sich der Umgebung zuwendet und
von den Aufsendingen als von mannigfachen und verviel-
fältigten Symbolen zu den einfachen und geeinigten Erkennt-
nissen emporgeführt wird", mit andern Worten, in dem von
der Vielheit der Dinge zur Einheit des Göttlichen empor-
führenden ^^'eg•e der A1)straktion.
'2. Die spiralförmige Bewegung erfolgt dann, wenn die
Seele oly.iioc sauTV] xdc t^eiar £AAd[j.~£Ta'. Yvcoa^'.r, oh vospwc xal
h'.7.io):, oLu.T. Aoyixwj xa', 5u^o6',xwr, xal cbv C'j[j.|jixTO!,c xai. [j.oTa-
ßaTixa-:; IvipYS'la',;, „in einer ihr innewohnenden Weise in betreff
der göttlichen Erkenntnisse erleuchtet wird, jedoch nicht (wie
auf dem dritten Wege) in intelligibler und einswerdender Art,
sondern logisch und diskursiv und gleichsam mit Hilfe ver-
mischter und in einander überschwebender Energien".
Erfolgt hiernach die gerade Bewegung a posteriori durch
Zusammenfassung des Mannigfaltigen, und die zweite Be-
wegung zwar a priori, aber nicht rein, sondern mit Hilfe der
4. iMiulringeii neuplatonisclier Gedanken in das Christentum. 30 1
bei ppimltormigem Aulstcigen von immer höherm Standpunkte
aus betrachteten Aul'senwelt, so besteht die dritte. Bewegung
darin, dafs die Seele rein a priori, rein in sich selbst die
Gottheit sucht und findet, wie folgende Stelle zeigt :
3. Die zentrale Bewegung der Seele ist tj si: sa'j-XjV eüco-
8or d~ö Töv £^o, xal twv vospöv oihzr^^ 5'jvdu.e(.)v tj £vo£t.8'r]C a'r)i-
A'4tr, „die Einkehr in sich selbst und Abkehr von den Aufsen-
dingen, bestehend in der Zusammenwicklung ihrer intelligiblen
Kräfte zu einer Einheit".
Das Resultat dieses dritten und besten Weges ist das-
jenige, was der Verfasser in der kurzen Abhandlung zspl
[j-uSTiXT,? ^soXo^iac mit wundervollem Tiefsinn zum Ausdruck
bringt. Ihr Grundgedanke ist die völlige Unerkennbarkeit
und allein möghche Erfassung der Gottheit durch unmittel-
bares Einswerden mit ihr.
Seltsam nimmt sich am Eingang des kleinen Werkes die
Anrufung der Trinität aus, um so seltsamer, als der Verfasser
sogleich darauf die Warnung davor ausspricht, seine Ge-
danken Uneingeweihten mitzuteilen: „Habe aber acht, dafs
keiner der Uneingeweihten dies höre, jene meine ich, die im
Seienden befangen sind und die sich einbilden, dafs über dem
Seienden nichts überwesentlich ist; sondern die da glauben
mit ihrem Verstände zu begreifen den, welcher die Finsternis
zu seiner Wohnung gemacht hat." Gott ist durch die Er-
kenntnis nicht zu erfassen, um ihn zu finden, müssen wir in
seine über alles Licht erhabene Finsternis (ttöv hizigc^uzz')
YV69CV) eintauchen, und dies geschieht, indem wir uns von allen
Aufsendingen und zuletzt auch von uns selbst lossagen, Iva
dTTSpLXaAlJTrTG)? YV«|X£V £X£[v'ir]V T7]V ayVCOGtaV, TT;V uttö TtdvTWV T«V
YvucjTwv Iv TZOLöi Toic oufft 7:£pixöxaAU|j.[j.£V'if]v , ,,um un verhüllt
jene Unerkennbarlceit zu erkennen, welche von allem Erkenn-
baren und in allem Seienden verborgen ist", wie die Statue
im Marmorblock, so dafs es der blofsen Wegnahme fd9aLp£a',r)
bedarf, um Gott in uns zu finden. Was wir da finden, kann
nicht durch viele Reden, auch nicht durch ßpapAoy'a mit-
geteilt werden, sondern allein durch Schweigen. Denn Gott
ist, wie das letzte Kapitel darlegt, nichts von allem Seienden,
Erkennbaren, Mitteilbaren; indem wir uns zu ihm erheben,
362 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
finden wir, „dafs Gott weder Seele noch Geist ist, dafs er
weder Phantasie, noch Vorstelhmg, noch Geist hat, dafs er
auch Verstand und Geist nicht ist, dafs er nicht ausgesprochen
und nicht gedacht wird, dafs er keine Zahl, keine Ordnung,
keine Gröfse, keine Kleinheit, keine Gleichheit, keine Ungleich-
heit ist, keine Ähnlichkeit, keine Unähnlichkeit, dafs er nicht
steht, nicht bewegt wird, nicht ruht, keine Kraft hat, und
weder Kraft noch Licht ist, dafs er nicht lebt und nicht Leben
ist, auch nicht Wesenheit, Ewigkeit, Zeit; dafs er mit dem
Geiste nicht berührt oder befühlt werden kann; dafs er nicht
Wissenschaft ist, nicht Wahrheit, nicht Reich; nicht Weis-
heit, Eines, Einheit, Gottheit oder Güte; nicht einmal ein
Geist, wie wir uns den Geist denken, nicht Sohnschaft, nicht
Vaterschaft, überhaupt nichts von dem, was uns oder einem
andern der Seienden bekannt ist; er ist auch nichts Nicht-
seiendes und nichts Seiendes, und das Seiende erkennt ihn
nicht, insofern er ist, und er erkennt das Seiende nicht, in-
sofern es Seiendes ist; er hat keinen Verstand, keinen Namen,
keine Kenntnis; er ist nicht Finsternis, nicht Licht, nicht
Irrtum, nicht W^ahrheit ; überhaupt weder Bejahung noch
Verneinung; sondern indem wir bei dem, was nach ihm
kommt, Bejahungen und Verneinungen setzen, setzen wir in
ihm weder Bejahung noch Verneinung, weil über alle Be-
jahung hinaus die vollkommene einige Ursache von allem
liegt, und weil über jede Verneinung die Überschwenglichkeit
des von allem Abgelösten sich erhebt, der über allem steht".
5. Ausgang der patristlschen Periode (500- sOO p. C).
Nachdem das Weströmische Reich in allen seinen Pro-
vinzen von den Barbaren der Nordländer überflutet und in
Besitz genommen war, nachdem ferner Justinian 529 die letzte
noch in Athen bestehende Philosophenschule geschlossen hatte,
und nachdem schliefslich dem Oströmischen Reiche von den
Mohammedanern die beiden Provinzen, welche noch am regsten
das geistige Leb^n gepflegt hatten, Syrien mit Antiochien
(638) und Ägypten mit Alexandria (642), entrissen worden
vmd unwiederbringlich verloren gegangen waren, trat als natür-
5. Alll^g;lng der patriotischen Periode (500—800 p. C). 3r)3
liehe Folge dieser politischen Wendungen im ganzen griechisch-
römischen Kulturkreise auf philosophischem wie auf religiösem
Gebiete eine Stagnation ein, welche es zu keinen neuen geisti-
gen Schöpfungen mehr kommen liefs, so dafs die hervor-
ragendsten Leistungen dieser Periode sich darauf beschränkten,
das Überkommene zu reproduzieren und für den praktischen
Gebrauch, namentlich auch fih* Schul zwecke, zurechtzuschnei-
den. Es mag für unsere Zwecke genügen, als bedeutendste
Erscheinungen im Abendlande die Leistungen des Marcianus
Capella, Boethius und Cassiodorus, sowie im Orient die Be-
mühungen des Mönches Johannes Damascenus kurz zu cha-
rakterisieren.
Marcianus Minaeus Felix Capella, zu dessen näherer
Zeitbestimmung die spärlichen Beziehungen in seinem Werke
nicht ausreiche;!, war geboren zu Madaura in Afrika, erhielt
seine Erziehung in Karthago und war von Beruf Sachwalter.
Er schrieb um 430, nach andern um 470, ein enzyklopädisches,
nach Form und Inhalt an Varro sich anlehnendes Werk unter
dem Titel Satirkon in neun Büchern in schwülstigem afrika-
nischen Stil, Prosa mit eingeflochtenen Versen. Die beiden
ersten Bücher führen den mitunter auch das Ganze bezeichnen-
den Titel De niiptiis P/iüologiae et llercttrii und schildern in
einer etwas frostigen Allegorie die in der Milchstrafse statt-
findende Vermählung der Wissenschaft mit' der Weltklugheit,
welchen von Apollo als Gefolge die Septem artes liberales ver-
liehen werden. Diese bilden den Inhalt der sieben folgenden,
den gesamten Wissensstoff der Zeit kompilatorisch, doch
meist ohne nähere Quellenangabe befassenden Bücher, von
denen Buch III die Grammatik, IV die Dialektik, Metaphysik
und Logik, V die Rhetorik, VI die Geometrie (mit Einschlufs
der Geographie), VII die Arithmetik, VIII die Astronomie
(welche auch eine Skizze des heliozentrischen Systems enthält,
die möglicherweise auf Kopernikus, der das Buch erwähnt,
von Einflufs gewesen ist), IX die Musik mit Einschlufs der
Poesie. Dieses Werk wurde, ungeachtet seiner schwerfälligen
Form, im Mittelalter das hauptsächliche Lehrbuch für den ge- ,
lehrten höhern Unterricht, welcher Grammatik, Dialektik und
Pihetorik als das Tricium, und Geometrie, Arithmetik, Astro-
364 XIII. Die zweite Periode der Patristik.
nomie und Musik als das Quadriviimi befafste, wie sie ein
alter versus mcniorialis (etwas abweichend von der Ordnung)
aufzählt als:
Livtjiia. Tropus, Batio; Numerus, Tenor, Anyulus, Astra.
Das Werk wurde im Mittelalter oft abgeschrieben, wodurch
viele Fehler hineinkamen, wie auch kommentiert und übersetzt.
Was Capeila für den Schulunterricht, das wurde für
die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Bildung
Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius. Er
war geboren zu Rom zwischen 470 und 480 aus vornehmer
und angesehener Familie, wurde gebildet zu Rom, nach an-
dern zu Athen, widmete sich neben der Philosophie politi-
schen Studien, wurde 510 von dem Ostgotenkönig Theodorich
zum Konsul ernannt und wirkte lange Zeit segensreich als
Ratgeber des Königs, bis er in Verdacht geriet, mit dem
byzantinischen Hofe zu konspirieren, ins Gefängnis geworfen
und um 525 zu Pavia auf Befehl des Königs, wie man sagt
ohne Ver^liör, hingerichtet v. urde. Während der Gefangenschaft
schrieb er sein berühmtes Werk De consoJcüione iiliilosophieic
lihri V, in edler, mit Versen untermischter Prosa, bestehend
in einem Gespräche mit der ihm erscheinenden Philosophia,
welche ihn ermahnt, durch die Vernunft seiner Affekte Herr
zu werden und auf die Vorsehung zu vertrauen, welche alles
zum besten wenden werde. Aufser dieser Hauptschrift hat
Boethius namentlich die logischen Schriften des Aristoteles
sowie die Isagoge des Porphyrios in die Kategorien des Aristo-
teles übersetzt und kommentiert und sie dadurch dem Mittel-
alter zugänglich gemacht. Ob Boethius Christ gewesen sei,
hängt ab von der noch nicht entschiedenen Frage, ob die ihm
in einer (möglicherweise eingefälschten) Stelle seines Zeit-
genossen Cassiodorus zugeschriebenen christlichen Schriften
De Trinitate u. a. von ihm verfafst sind. In seiner ConsoJatio
tritt eine Beziehung zum Christentum nirgendwo hervor.
Cassiodorus (Magnus Aurelius Cassiodorus Senator),
geboren gegen 480 zu Scyllacium (Squillace), südlich von
Kroton in Calabrien, aus vornehmer Familie, Zeitgenosse des
Boethius, aber diesen lange überlebend, bekleidete eine hohe
ö. Ausgang der patristisclieu Periode (500— 800 i). C). 36;")
Stelle am osto-otischen Hofe als Geheimsekretär des Theodorich
und seiner Nachfolger, stets bemüht, in den Gegensätzen
zwischen üstgoten und Römern versöhnlich zu wirken, zog
sich während der Zeit der durch Belisar veranlafsten Wirren
"540 auf das von ihm gegründete Kloster Vivarium (Vivarese
bei Squillace) zurück, wo er bis ins höchste Alter, er wurde
fast 100 Jahre alt, eine mnfassende schriftstellerische Tätig-
keit entfaltete und für das Abschreiben klassischer Werke
durch die Mönche anregend und vorbildlich wirkte. In seinem
Buche De nnima tritt er, wie schon vor ihm Claudianus Ma-
mertus (f 477), der stoischen, seit Tertullian vielfach ver-
breiteten Auffassung der Seele als einer materiellen Substanz
entgegen, ' erklärt, dafs sie nicht unter den aristotelischen
Kategorien der Qualität und Quantität subsumierbar, sondern
ganz in allen Teilen des Körpers {tota est in partihiis suis; De
animaG) gegenwärtig sei. Eine zweite Hauptschrift des Cässio-
dorus sind seine Institiitiones divinarum et saecidariwn littera-
rum in zwei Teilen, deren erster die theologischen Studien
behandelt, während der zweite eine Übersicht der Septem artes
liberales, nämlich der drei scientiae sermonicidcs und der "vier
disciplinae reales gibt, wobei er vielfach auf ßoethius und
Apuleius fufst und sich seiner Tätigkeit als einer blofs kom-
pilatorischen deutlich bewufst ist. Für die Geschichte des
Gotenreiches ist seine Urkundensammlung in den Variarum
epistidarnm lihri XII von grundlegender Wichtigkeit, wälirend
seine Historia Gotliorum nur in dem Auszuge des Jemandes
erhalten ist.
Während die Arbeiten des Capella, Boethius und Cassio-
dorus durch die auf ihnen beruhenden Kompilationen des
Spaniers Isidorus Hispalensis (Isidor von Sevilla) um 600,
sowie der Angelsachsen Beda Venerahilis (um 700) und ^4?-
cuinus (um 800) in das Mittelalter übergeführt wurden, leistete
für die griechische W^elt dasselbe Johannes Damascen/is, mit
dem Beinamen y^pucop'pcac, geboren etwa 700 zu Damaskus,
ein eifriger Verteidiger der Bilderverehrung und dadurch den
Anfeindungen der Kaiser Leo III. des Isauriers (717 — 741) und
Konstantin V. Kopronymos (741 — 775) ausgesetzt. Seine
Lebensschicksale erinnern an die des Cassiodorus; wie dieser
366 XIII. Die zweite Periode der Patrtstik.
am ostg'otischen Hofe, war Johannes ein hoher Beamter am
Hofe eines kaUfischen Fürsten, zog sich aber, ähnhch wie
Cassiodorus, um das Jahr 730 in das Kloster St. Sahas bei
Jerusalem zurück. Die Veranlassung zu diesem Schritte soll
ein Wunder gegeben haben : Leo der Isaurier, um den Bilder-
verehrer zu strafen, hatte ihn durch einen erdichteten Brief
bei seinem kalifischen Herrn verleumden lassen, welcher dem
Johannes die rechte Hand abhauen liefs, die aber, nachdem
dieser sich anbetend vor einem Marienbild niedergeworfen
hatte, alsbald wieder angewachsen sein soll. \Vie dem auch
sei, Johannes sagte dem weltlichen Leben Valet, zog sich in
das Kloster zurück und beschäftigte sich bis zu seinem 754
oder früher erfolgten Tode mit schriftstellerischerf Arbeiten.
Aus diesen ging als Hauptresultat das berühmte, noch heute
im Orient angesehene Werk hervor, welches den Titel Tzr^y}]
yvwaiur führt und aus drei Teilen besteht; der erste, die
X£9aAa!.a o'.Acaoo'.xa, enthält eine Darstellung der Logik und-
Ontologie nach Aristoteles, der zweite unter dem Titel z^pl
alpscsüv liefert eine Widerlegung der Ketzereien auf (Irund
der "Vorarbeit des Epiphanius, und der dritte, wichtigste Teil
führt den Titel: s.y.hoai; axp^ß-^r Tf^^ o^^zhclo-j ziCTöwr und ent-
hält eine .systematische Zusammenfassung dessen, was, wie
Johannes sagt, heilige und gelehrte Männer vor ihm dar-
gelegt haben. Dieses Werk ist nicht nur für die griechische
Kirche in der Folgezeit und bis auf die Gegenwart hin die
Grundlage der Dogmatik geblieben, sondern auch mittels einer
durch Burgundio von Pisa im 12. Jahrhundert verfafsten latei-
nischen Übersetzung im Abendlande auf Scholastiker wie
Petrus Lombardus und Thomas Aquinas von erheblichem Ein-
flufs o;eworden. •
Die Scholastik.
XIV. Die erste Periode der Scholastik
(von 800—1200 p. C).
1. Yorbemerkungeii.
Während die Patristik bemüht gewesen war, in ihrer
ersten Periode (100 — 325 p. C.) die wesentlichsten Dogmen
des Christentums festzustellen, und in ihrer zweiten Periode
(325 — 800) diese Grunddogmen zu einem System der Dog-
matik zu verknüpfen, beides auf Grund und unter Mitwirkung
der Errungenschaften der griechischen Philosophie, so fiel
der Scholastik die weitere Aufgabe zu, die erstarkte und
bereits erstarrte Dogmatik des Christentums mit den anfangs
nur sehr mangelhaft, weiterhin, namentlich seit 1200, immer
vollständiger auf Umwegen zu den Scholastikern gelangenden
Philosophemen der Griechen zu einer Art Religionsphilosophie
zu verweben, wobei man in der ersten Periode der Scholastik
(800 — 1200 ,p. C.) wiederholt versuchte, auch die Grundlehren
des Christentums, wie namentlich die von der Trinität und Welt-
schöpfung, mit Hilfe des neuplatonischen Emanationsschemas
genetisch zu erzeugen und dadurch begreiflich zu machen,
dann aber, nachdem diese Versuche an dem Widerspruche
der immer herrischer sich gebärdenden Orthodoxie gescheitert
waren, in einer zweiten Periode (von 1200 p. 0. an) darauf
verzichtete, die sogenannten Mysterien des Christentums, wier
namentlich die Trinität und die Inkarnation philosophisch zu
konstruieren, aber um so mehr und erfolgreicher daran arbeitete,
308 XIV. . Die erste Periode der ^^cholastik.
diese unangetastet bestehen bleibenden Mysterien des Christen-
tums mit einem breiten, aus der Theologie, Kosmologie, Psycho-
logie und Ethik des Aristoteles entnommenen Eahmen zu ver-
brämen, woraus dann die Hochblüte der Scholastik in den
Systemen eines Albertus Magnus und Thomas von Aquino
hervorging. Kaum aber schien dieses durch so viele Jahr-
hunderte erstrebte Ziel einer endgültigen Versöhnung von
Theologie und Philosophie, von Glauben und Wissen erreicht
zu sein, als auch schon, kurz nach 1300 p. C, deutliche
Symptome des Verfalles der Scholastik sich einstellten, indem
namentlich eine weitgehende, mit Orthodoxie gepaarte Skepsis
jenes mit so vieler Kunst hergestellte Gebäude unterwühlte
und dadurch den Sturz der Scholastik vorbereitete, welcher
dann durch das Wiedererwachen des klassischen Altertums
in der Renaissance, seine Pflege im Humanismus, die Kirchen-
spaltung in der Reformation und das Hand in Hand mit diesen
Phänomenen aufkommende Interesse für die Beobachtung und
das Studium der Natur erst gegen das Jahr 1600 hin deßnitiv
besiegelt wurde.
Eine analoge Entwicklung wie die hier geschilderte der
lateinisch redenden Welt spielte sich gleichzeitig in zwei
andern, parallel neben ihr herlaufenden Kulturkreisen, dem
arabischen im fernen Osten und in Spanien, sowie dem jüdi-
schen ab, welcher von dem durch alle Länder zerstreuten und
nur durch gemeinsame Rasse, Sprache und Religion zusammen-
gehaltenen Judentum gebildet wurde.
So sehr auch die neuere Philosophie der mittelalterlichen
an methodischer Behandlung der Probleme und Fruchtbarkeit
der Resultate überlegen ist, so hat die Philosophie der Haupt-
kulturländer des Mittelalters doch einen Vorzug, welcher der
neuern Zeit durch Abschliefsung der Nationalitäten gegen ein-
ander bedauerlicher Weise mehr und mehr verloren gegangen
ist: den Vorzug einer einheitlichen Sprache der Wissenschaft.
Heute haben wir eine deutsche, eine englische, eine fran-
zösische und eine italienische Philosophie; nur spät und in
unzulänglicher Weise werden die Geisteserzeugnisse einer dieser
Nationen den drei übrigen bekannt, denn auf Übersetzungen
ist kein Verlafs, und eine tiefere Kenntnis der fremden Sprachen,
1. Vorbemerkungen. 309
wie sie für das philosophische Verständnis unenthehrhch ist,
findet sich verhäUnismäfsig sehen. Im MittelaUer redete die
Philosophie in Deutschland, England, Frankreich und Italien
eine und dieselbe Sprache: das Lateinische. Jedes neu
erscheinende Werk wurde sofort in allen vier Kulturländern
gelesen und verstanden, und berühmte Lehrer waren nicht an
ihr engeres Vaterland gebunden : Scotus Erigena stammte aus
Irland oder Schottland und lehrte zu Paris, Anselm war ge-
boren zu Aosta in Piemont, lebte lange Zeit in der Normandie
und starb als Bischof von Canterbury in England; Albertus
Magnus lehrte zu Paris und Köln, sein Schüler Thomas von
Aquino zu Köln, Paris, Bologna, Rom und Neapel. In der
neuern Philosophie gehen Franzosen, Engländer, Deutsche ihre
eigenen Wege, und das ist sehr zu beklagen, deiin die Wahr-
heit ist eine für alle, und die Wissenschaft durchaus eine
internationale -Angelegenheit.
Neben dem lateinischen, Deutschland, England, Frank-
reich und Italien zur Einheit der wissenschaftlichen Arbeit
verbindenden Kulturkreise bestanden im Mittelalter, wie schon
bemerkt, drei andere: der griechische, welcher sich darauf
beschränkte, die Schätze des Altertums zu hüten, bis. sie sich
von ihm aus in der Renaissancezeit über das Abendland er-
gossen, der arabische,, der im fernen Osten blühte und in
Spanien eine Nachblüte erzeugte, und der jüdische, der sich
durch alle Kulturländer erstreckte. Die weltgeschichtliche
Mission der beiden letzten Kreise bestand darin, um und nach
1200 die Schriften des Aristoteles in Übersetzungen dem Abend-
lande zu übermitteln und dadurch seiner philosophischen Arbeit
neue Wege zu eröffnen.
Merkwürdig aber und auf einer Innern Gesetzmäfsigkeit
der Entwicklung beruhend ist es, dafs bei Arabern, Juden
und Lateinern im wesentlichen derselbe Vorgang sich abspielt:
in allen drei Sphären sucht man in einer ersten Periode das
christliche, islamische, jüdische Dogma auf Grund neuplato-
nischer Anschauungen genetisch zu erzeugen und dadurch
philosophisch begreiflich zu machen; nachdem aber die christ-
liche, mohammedanische und jüdische Orthodoxie in seltener
Einmütigkeit diese Versuche verw^orfen und abgelehnt hat,
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii, 2. - 24
fO
XIY. l)ie erste Periode der Scholastik.
flüchtet sich der Neuplatonismus in die Mystik, während die
Scholastik im lateinischen, arabischen und jüdischen Kultur-
kreise zum Aristoteles greift, um mit Hilfe seiner Philosophie
das Dogma der betreffenden Kirche zu stützen und um-
rahmend zu ergänzen. Auf alle drei Kulturkreise und den
Verlauf in ihren beiden Perioden bezieht sich das bekannte
Wort des Albertus Magnus (Summa theologiae I, 6): Äd tlieo-
hxjiam onmcs aliae scUrdiac midUavf^tr. welches jedoch die
Unterscheidung einer philosophischen und theologischen
Wissenschaft voraussetzt, die wir nicht gelten lassen können.
Nicht die Philosophie war die Magd der Theologie, sondern
beide lagen während des Mittelalters unter der Knechtschaft
der theologischen und philosophischen Tradition des Alter-
tums, bis sich der menschliche Geist in der neuern Philo-
sophie nach und nach von dieser Knechtschaft emanzipierte
und auf eigenen Füfsen zu gehen lernte.
Die Anordnung des Stoffes der Scholastik macht einige
Schwierigkeit, da die drei Entwicklungsreihen parallel neben
einander verlaufen. Da indessen das Hauptinteresse auf den
zwei durch das Jahr 1200 geschiedenen Perioden der christ-
lich-lateinischen Scholastik liegt, während die arabische und
jüdische weder vor noch nach ihnen eine geeignete Stelle
findet, so werden wir sie nach dem «zweckmäfsigen Vorgange
anderer zwischen die beiden Perioden der christlichen Philo-
sophie einschalten. Eine allgemeine chronologische Übersicht
bietet das folgende Schema:
Christlich-
Lateinisch.
850 Scotus Erigena l S ^
itOO Realismus und Nomi-
nalismus
1092 Auselm undRoscellin:
Synode von Soissons
llÜO Ahaelard
1200 Petrus Lomhardus
Kabbala
Jüdisch.
Jezirah
850,
Sohar
1200
En Soph
Azilah (Adam Kad-
mon)
Beriah (Ideen)
Jezirah (Engel)
Asijja Sinnenwelt
1150 Salomon ben Ge-
birol (Avicebron)
1180 Moses Maimun
;^
Arabisch.
850 Alkindi
900 Alfarabi
950 ichwan el
safa
S" fl020 Avicenna
gH I ^ \1080 Alghazel
I £-11120 Avempace
! ^11140 Abubacer
Im j _M
i< i <
1170 Averroes
1. Voibemcrkimgen. 37 [
'^ Mystik des Meister
Eckhart
1230 Albertus Magnus
1"260 Thomas von Aquino
1300 Wilk'iislehre des Duns
Sootus
Nomiiialismus des Wilh. v.
Occam
1400GemistosPIethonJ Geunadios 1401—1464 Kicolaus
^^J^;^Georgios Trapezuntios Cusanus
Bessarion- —
Marsilius Ficiinis Theodoros Gaza
1500 Petrus rem- Paracelsus
poiiatius^ — Augustinus Ni- Cardanus
I . _ phus Telesius
I I Copernicus
Lucilio Andreas Bacon, Böhme, Bruno
Vanini. Caesalpinus Galilei, Kepler.
*2. Johannes Scotus Eri(u)gena.
Gleich an der Schwelle der mittelalterlichen Philosophie
begegnet uns ein Mann, welcher an mystischem Tiefsinn,
AVeite des Blickes und Freiheit der Anschauungen sein eigenes
Jahrhundert wie die nächstfolgenden weit überragt, daher
auch von beiden nicht gebührend gewürdigt wurde. Er hiefs
Johannes, mit dem Beinamen Scotus (wahrscheinlich nach
Scofia major, wie Irland noch bis ins elfte Jahrhundert hiefs),
und Erigetia (genauer Eriugena, wie die ältesten Handschriften
haben, nach Eriii, Erin, dem keltischen Namen für Irland, —
wir bleiben bei dem durch die Tradition sanktionierten und
wohlklingenderen Erigcna), und war geboren etwa 810 zu
Irland, dessen damals blühenden Schulen er eine für seine Zeit
Tortreffliche Bildung, namentlich auch neben dem Lateinischen
die Kenntnis des Griechischen, verdankte. Er wurde, als nach
dem Vertrage zu Verdun auf dem Kontinente wieder geordnete
Verhältnisse eingetreten waren, von Karl dem Kahlen (843 bis
877) zum Vorsteher der Seliohi PaJatiua zu Paris berufen und
beauftragt, die Schriften des Dionysius Areopagita, welche
der byzantinische Kaiser Michael Baibus 824 Ludwig dem
Frommen geschenkt hatte, ins Lateinische zu übertragen. An
dieser Arbeit erwuchs sein eigenes, auf die Anschauungen des
Areopagiten gegründetes, aber weit über denselben hinaus-
gehendes System, welches er in seiner Schrift Tcspc 9^jacwr
24*
372 XIV. Die erste Periode der Scholastik.
[jL£pic;jj.c"j, i. e. de divisionc naturae entwickelte, indem er nach
grofsen, universellen Gesichtspunkten alles Seiende umspannte
und die Weltentwicklung als einen Kreislauf beschrieb, ver-
möge dessen die Dinge aus Gott hervorgehen und wieder in
denselben zurückkehren.
Dieser hohe Standpunkt machte sich auch geltend bei
seinem Eingreifen in den Prädestinationsstreit zwischen dem
Mönche Gottschalk und dem Erzbischof Hinkmar von Rheims.
Gottschalk hatte sich im schroffsten Augustinischen Sinne für
die doppelte Prädestination, der Guten zum Heil, der Bösen
zur Verdammnis ausgesprochen. Hinkmar wollte nur die ein-
fache Prädestination der Guten zur Seligkeit, hingegen für die
Bösen eine blofse Präscienz zugeben. Nach Erigena liegt
alles. Erschaffene, liegen die Guten wie die Bösen in Gott.
Dieser prädestiniert sich selbst, und natürlich nur zum Guten.
Von den Bösen läfst sich nur sagen, dafs Gott sich in ihnen
nicht zum Guten prädestiniert hat. Seine Präscienz ist iden-
tisch mit der Prädestination und reicht nicht weiter als diese.
Dieser Standpunkt des Erigena erregte heftigen V^-^ider-
spruch und wurde auf den Synoden zu Valence (855) und zu
Langres (859) verdammt. Doch hielt sich Erigena, wahr-
scheinlich vermöge der Gunst des Königs. Mit dem Tode
Karls des Kahlen (877) verschwindet auch Erigena aus der
Geschichte. Nur unbestimmte Sagen wissen zu berichten, dafs
Alfred der Grofse ihn nach Oxford berufen, dafs er später eine
Schule in Malmesbury geleitet habe und von seinen eigenen
Schülern ermordet worden sei.
Der historische Horizont Erigenas ist ein beschränkter.
Von Piaton kennt er nur den ersten Teil des Timaeus in der
Übersetzung des Chalcidius, von Aristoteles nur die beiden
logischen Schriften, categoriac nebst der Isagoge des Porphyrius,
und de interpretatione. dazu die oben (S. 363 fg.) er^^^ähnten
Hauptschriften des Marcianus Capella, Boethius und Cassio-
dorus, sowie die neuplatonische Metaphysik in der Form des
von ihm übersetzten Dionysius Areopagita. Autorität sind für
ihn die Heilige Schrift und, ihr nahezu gleichstehend, die
Kirchenväter, unter denen er namentjich die griechischen,
Origenes und andere, näher kennt. Er findet, dafs diese
2. Jobaiines Scotiis Eri(u)gena. 373
Autoritäten vielfach, wie eine Pfauenfeder, je nacli der Seite,
von der man sie betrachtet, in verschiedenen I'arben schillern,
.und ruft die Vernunft zu Hilfe, um die daraus entstehenden
Schwierigkeiten zu lösen; jedoch mufs die Vernunft durch das
göttliche Licht erleuchtet sein, wie der dunkle Luftraum durch
die Sonne. In diesem Sinne will er qt(ae vere praeäiccmtur
cndere et qiiae rcrc crcänntny inidUgcrc.
Mit diesen Mitteln ausgerüstet tritt er in seiner Haupt-
schrift, den fünf Büchern de divisione naturae, an die Gesamt-
heit des Seienden heran und unternimmt eine Einteilung alles
Seienden, welche ihm die Vollständigkeit seines Verfahrens
verbürgt und ein merkwürdiges Analogen in der Sähkhya-
Philosophie (vgl. Phil. d. Inder, III, S. 415 fg.) findet, wo es,
ohne dafs an eine historische Abhängigkeit zu denken wäre,
da eine universelle Betrachtungsweise der Natur in Europa
wie in Indien eine solche Vierfeilung nahelegte, im 2. Verse
der Säiikhya-Kärikä heifst:
Die Urerzeugerin ist unerzeugt ;
Erzeugend und erzeugt vom Grofsen an
Sind sieben; sechzehn sind' die blofs erzeugten;
Der Purusha ist nicht erzeugt noch zeugend.
Ebenso, wiewohl nicht ganz so passend, da Gott bei ihm in
zwei Kategorien eingereiht werden mufste, unterscheidet Erigena
vier allein mögliche Klassen von Wesen, je nachdem sie ent-
weder 1. schaffend, nicht erschaffen, oder 2. erschaffen und
schaffend, oder 3. erschaffen, nicht schaffend, oder 4. weder
erschaffen noch schaffend sind, wobei er alles Seiende diesen
vier Klassen in der Weise einordnet, wie sie das folgende
Schema zeigt:
1. creaf, non creatur: Dens
2. creantur et creant : genera, species
3. creantto', iwn'crecwt : individua
4. mquc creat, neque creatur: Dens ut finis I reversio sive
onmhtm j deificatio.
Die Worte resolidio und deificatio deuten auf den Doppel-
prozefs hin, vermöge dessen alle Dinge aus Gott hervorgehen
und wieder in denselben zurückkehren,^ woraus schon zu er-
( analijsis sive
( resohdio.
374 XIV. Die erste Periode der Scholastik.
sehen 'ist, dafs der Gottesbegriff und der Schöpfungsbegriff
des Erigena von dem der Kirche sich wesentlich unterscheidet.
Sein Gott ist nicht ein theistischer, sondern ein pantheisti-;
scher, und seine Schöpfung ist nicht eine zeithche, sondern
eine zeitlose Emanation aus Gott, wozu freilich die Eückkehr
in Gott, welche doch als ein zeitlicher Akt gedacht werden
mufs, nicht stimmen will; wenn die Dinge von Ewigkeit her
in Gott liegen, so bedarf es keiner Rückkehr zu Gott. Die
gröfste Schwierigkeit des Systems aber liegt in der Erklärung
des Bösen, wie sich dies aus der Einzelbetrachtung näher er-
geben wird.
1. (Jrcat. non creatnr: Dens.
In diesem Punkte zeigt sich Erigena stark abhängig vom
Areopagiten. Wie dieser unterscheidet er eine Theologia afßr-
niatlva und eine Tlieoloyia negativa, und billigt der erstem
nur eine metaphorische Bedeutung zu; sie redet non proprie
sed translative, während die negative Theologie, non trans-
lative sed proprie redet. Wahrer als alle positiven Eigen-
schaften, die man Gott zuschreibt, ist es, zu leugnen, dafs
Gott irgend etwas von dem sei, was man von ihm aussagt;
verins negatur Dens, quid eorum qitae de eo praedicaidur csse^
quam afßrmatur esse. Die bejahende Theologie schreibt Gott
alle Vollkommenheiten zu, die wir an den Dingen wahrnehmen,,
sie alle sind seine Theophanien, Von diesen Theophanien,
durch welche Gott sich in den Dingen offenbart, ist als eine
zweite Art der Theophanie zu unterscheiden die direkte Offen-
barung, in welcher Gott aus Gnade sein Wesen den Menschen
kund gemacht hat. Näher betrachtet, legt Gott sein Wesen
nach drei Seiten hin den Menschen dar, als Sein, Weisheit
und Leben, welche den drei Personen der Trinität entsprechen
und in der Einheit des göttlichen Wesens wurzeln. Das Sein
des Vaters entfaltet sich als Sohn zu einer W^elt der Ideen,,
welche alle von dem göttlichen Logos umschlossen werden,
und die Tätigkeit des Geistes besteht darin, diese Ideen über
die Dinge zu verteilen und in dem Leben der Welt zu ver-
wirklichen. Aber die wahre Gotteserkenntnis liegt in der
negativen Theologie, welche uns darüber belehrt., dafs Gott
nichts von alledem ist, was von ihm irgend ausgesagt werden
2. Joliannos Scotns Eri(u)gena. 375
könnte, dafs er nur erkannt wird nicht nach dem was er ist
(q^iikl csfj, sondern nur dafs er ist fquia solummodo est), dafs
er in einer lux hmccessihilis wohnt, dafs er auch über die
aristotehschen Kategorien erhaben ist, ohne Kühe und Be-
wegung, ohne Tun und Leiden, nicht hebend und nicht gehebt,
dafs er für unsere Erkenntnis ein blofses niltüuni ist ; hierin
besteht die wahre Weisheit: Bens melius nesciendo scitur, cujus
'Ignorant kl i'cra est sapientm. Er ist kein e^is, sondern supcr-
cssodialis, er ist nicht honus, sondern superljomn-; oder, wie
Erigena sich auch ausdrückt, plus quam homis, nicht sapiens,
sondern plus quam sapiens', suj) er sapiens, ja der Philosopli
versteigt sich bis zu dem kühnen Gedanken, dafs Gott, als über
alles Wissen erhaben, auch von sich selbst ein Wissen nicht
besitze, dafs, wie wir die verschiedenen darauf zielenden Aus-
sprüche zusammenfassen können, Deus ipse nescit quid Dcus sit.
2. Creantur et creant: gencra und species.
Anknüpfend an den mosaischen Schöpfungsbericht, deutet
.Erigena ihn dahin um, dafs die Schöpfung nicht im Sinne
einer zeitlichen Folge, sondern nur von der sachlichen Ord-
nung der Dinge zu verstehen sei. Gott selbst ist nur das
Nichts, aus dem die Welt geschaften wurde, er macht sich
erst dm*ch die Schöpfung aus dem Nichts zu einem Etwas,
die Schöpfung der Idealwelt ist die Selbstverwirklichung
Gottes. Die Genera und Species der Dinge sind als die Causae
primordiales anfanglos und ebenso ewig wie Gott. Sie alle,
von den obersten Kategorien an bis herab zu den Genera und
Species, sind die Urbilder (zpwxox'jTra) der Dinge und als solche
sind sie göttliche Willensakte C^reta '^eXiqpi.aTa) , sind Voraus-
bestimmungen (Tupoop'la.aaTa), und werden alle befafst in dem
göttlichen Logos, welcher, vom Vater von Ewigkeit her ge-
zeugt, nur das Sein des Vaters in seiner Selbstentfaltung zur
Ideenwelt, zum Logos, zum Sohne, ist.
3. Creantur, non creant: individua.
Wie die zweite Natur des Erigena auf einer Identifikation
der platonischen Ideenlehre mit dem Logos, dem Sohne, be-
rulit, so besteht ein ähnliches Verhältnis zwischen dem Geiste
37f) Xl\. Die erste Periode der Scholastik.
als der dritten Person der Gottheit mit der Erscheinungswelt,
sofern der Heilige Geist nicht nur innerhalb der Ideenwelt
das Verhältnis der Genera und S^jecies ordnet, sondern weiter
auch in der Erscheinungswelt diese Genera und Species über
die Individuen verteilt, in ihnen verwirklicht und dadurch das
Leben alles Individuellen bewirkt. Es ist zunächst das Sein
Gottes des Vaters, welches sich durch alles Individuelle hin-
durch erstreckt und doch in jedem ganz vorhanden ist; es
ist ferner der Logos als Inbegriff' der Ideen, welcher diesem
Sein die bestimmte Form verleiht, welche den Individuen eigen
ist, und es ist der Geist, der in den individuellen Dingen die
Materie als ein blofs negatives Substrat mit diesen Formen
umkleidet. Somit bestehen alle Individuen nur in Gott {in
Deo suhsisttintj. und sie sind unsterblich, sofern das in ihnen
A^er wirklichte göttliche Sein unsterblich ist.
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,
Das Ewige regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt,
Das Sein ist ewig, denn Gesetze. *
Bewahren die lebendigen Schätze.
Aus denen sich das All geschmückt.
Dieser Goethesche Vers ist geeignet, die Trinitätslehre
des Erigena zu veranschaulichen, wenn man das Sein auf den
Vater, die lebendigen Schätze der Ideenwelt auf den Sohn
und die gesetzmäfsige Schmückung des Alls mit diesen
Schätzen auf den Geist bezieht.
Nur von Gott kann man sagen, dafs er j^er se iiisum suh-
s/stit, von den Individuen hingegen, dafs sie ^)^'r se nini suh-
sistnnt. vielmehr, wie bei Piaton, nur gleichsam als die Schatten
der realen Wesenheiten (^s?"c«f iimhrac corporumj bestehen.
Aber woher das Böse und das Übel der Welt, wenn die
Dinge nur Gedanken Gottes sind, wenn Gott, wie oben in
den Ideen, so auch weiter in den Individuen nur sich selbst
schaffet? Hier bleibt unserm Philosophen der einzige Ausweg,
dafs er das Böse und das Übel nur als eine Privation des
Seins, als eine blbfse Negation erklärt. Gott hat den Men-
schen die Freiheit verliehen und mit ihr die Möglichkeit, sich
2. .loliaunes fecotus En(ii)gena. 377
von Gott als ihrem eigenen wahren Wesen abzuwenden. Diese
Alhvendung hat keinen realen Grund, sie ist ntcaKmh's, entspringt
aus einer blofsen Negation, sofern die menschliche Vernunft
der Erkenntnis ihrer Gottwesenheit ermangelt, woraus der
Hochmut hervorgeht, welcher die Wurzel alles Bösen in der
Welt ist. Eine Folge der Sünde ist die Umkleidung des Men-
schen mit der Leihlichkeit, angedeutet in der Bibel durch die
Schürzen aus Feigenblättern, und mit ihr die vorher nicht
bestehende Fortpflanzung der Menschen auf geschlechtlichem,
tierischem Wege, sowie die Vererbung der Sünde als Erb-
sünde auf alle folgenden Generationen.
4. Ncqnc creat, neque creatur: Dens nt ßnis omninm.
Wie ein Fehler als seine Konsequenz einen zweiten nach
sich zieht, so sieht sich Erigena genötigt, nachdem er das
Böse, wenn auch nur als eine negative Instanz, anerkannt hat,
eine Rückkehr der Dinge zu Gott zu lehren, beides im Wider-
spruch mit der pantheistischen Grundanschauung des Systems,
nach welcher, da alles in Goti ist, weder ein Böses in der
^^'elt bestehen könnte, noch eine Rückkehr zu Gott erforder-
lich sein würde, da ja alles schon von vornherein in Gott ist
und in ihm bleibt.
Die Rückkehr der Dinge zu Gott vollzieht sich, wie Eri-
gena, die Kirchenlehre beibehaltend, aber in allen Punkten
geistvoll vertiefend, ausführt, durch Christus, in welchem der
ewige Logos volle menschliche Natur mit Ausnahme der Sünde
angenommen hat. Christi Auferstehung und Himmelfahrt ist
eine solche der ganzen Menschheit, nur dafs in ihm mit einem
Male dasteht, was sich in der Menschheit als ein zeitlicher
Prozefs vollzieht, bei welchem die göttliche Gnade, vermittelt
durch die Kirche, und die nicht verlorene menschliche Frei-
heit zusammenwirken. Die Rückkehr des Menschen und mit
ihm aller Dinge zu Gott erfolgt in drei Stufen, vermöge der
Befreiung von der Sinnlichkeit, der Wiederherstellung der
ursprünglichen, vom Geschlechtsunterschied freien Idealnatur
und der endgültigen Einswerdung des ^lenschen und mit ihm
aller Dinge in Gott. Das individuelle Sein wird dabei nicht
aufgehoben, sondern besteht in Gott ebenso fort wie der Luft-
378 XIV. Die erste Periode der Scholastik.
räum, wenn er vom Sonnenlicht, wie das Eisen, wenn es von
der Glut durchdrungen ist.
Was wird aus den Bösen nach dem Tode? Die Hölle
wagt Erigena nicht zu beseitigen, verlegt sie aber mit allem
andern in die Gesamtheit des göttlichen Wesens. Sie ist kein
Ort, sondern ein Zustand der Qual, bestehend in der Fort-
dauer des Begehrens ohne die Möglichkeit seiner Befriedigung.
Die Strafe trifft dabei nicht die göttliche Natur des Menschen,
sondern nur die Abwendung dieser Natur von dem Göttlichen,
und nur auf diese Abwendung bezieht sich die Ewigkeit der
Höllenstrafen, nicht auf die Natur selbst, für welche Erigena
sich einer allgemeinen Apokatastasis (wie es scheint sogar
mit Einschlufs des Satans) zuneigt; de div. nat. 5,27: Diviua
honitas cousumiuabit imilitiam, aeterua vitd ahsorhchit mort<m,
heatitudo miscriain.
* *
*
Hatte sich schon der Papst Nikolaus I. 860 bei Karl dem
Kahlen, wiewohl vergebens, darüber beschwert, dafs man ihm
die Übersetzung des Dionysius Areopagita durch Scotus Eri-
gena nicht vor der Veröffentlichung zur Zensur vorgelegt habe^
so wurde durch zwei spätere Päpste, Leo IX. und Honorius HL,
in den Jahren 1050 und 1225, das grofse Meisterwerk des
Scotus Erigena, de divisione naturae, zur Vernichtung durch
den Scheiterhaufen verurteilt. Ein Glück, dafs es nicht mög-
lich war, den Geist mit zu verbrennen, aus dem es entstanden
war, und dem wir noch oft genug auf unserm Wege wieder be-
gegnen werden.
3. Realismus und Xomiualismus.
Das Wort Realismus hat in der mittelalterlichen 'Philo-
sophie einen von dem in der Neuzeit gebräuchlichen sehr
verschiedenen, ja entgegengesetzten Sinn. In der neuern Philo-
sophie stehen sich gegenüber der Realismus und der Idea-
lismus, der Realismus, welcher behauptet, dafs die uns um-
gebende Welt in Raum und Zeit im höchsten Sinne real,
dafs sie eine Ordnung der Dinge an sich selbst sei, eine Rich-
tung, welche, wenn konsequent verfolgt, notwendig zum Ma-
terialismus sa)/s pJnrisc führt, — und der Idealismus, welcher
o. Kealismus und Nominalismus. " 379
lehrt, dafs die Aufsenwelt nur ideal, nur in der Idee, in der
\'orstellung besteht, dafs sie nach den Indern eine blofse nidi/a,
nach Piaton eine blofse Welt der Schatten, dafs sie nach Kant
nur Erscheinung, nicht Ding an sich ist.
Etwas ganz anderes bedeutet der Realismus in der Philo-
sophie des Mittelalters; hier ist sein Gegensatz der Nomina-
lismus, und dieser Gegensatz betrifi't nicht die Realität der
Aufsenwelt, sondern die der Uinvcrsalia, d. h. der allgemeinen
Kategorien, gonra und spccies, von denen der Realismus be-
hauptet, dafs sie real, dafs sie, wenn auch nicht gerade in
zeitlichem Sinne, ursprünglicher und wesenhafter als die ent-
sprechenden Einzelwesen sind: nnivcrsalia aide res, während
der Nominalismus alles Allgemeine, die spccUs und genera bis
hinauf zu den Kategorien für blofse, auf dem AVege der Ab-
straktion aus den Einzeldingen gewonnene Begriffe fcouccptusj,
ja für blofse Namen (iiomhia, ßatus vovisj erklärt: hiuvcrsalia
post res. Der Realismus behauptet, dafs das Einzelne nicht
sein würde, wenn das Allgemeine nicht wäre, der Nominalis-
mus besteht vielmehr umgekehrt darauf, dafs das Allgemeine
nicht sein würde, wenn das Einzelne nicht wäre.
Eine vermittelnde Richtung sieht mit dem Realismus in
dem Allgemeinen das eigentliche Wesen der Dinge, nimmt
aber mit dem Nominalismus an, dafs dieses Allgemeine nur
in den Einzeldingen wirklich vorhanden sei: uiiivvrsalia in rebus.
Der im Mittelalter durch Jahrhunderte sich hinziehende
und mit grofsem Eifer geführte Streit zwischen Realismus und
Nominalismus hat seinen letzten Grund darin, dafs man in der
Philosophie des Piaton und Aristoteles, soweit sie damals be-
kannt waren, eine Zweideutigkeit zu erkennen glaubte, welche
es allen drei Parteien möglich machte, sich auf dieselben zu
berufen.
Piaton hatte erkannt, dafs in der Natur bei allem Wechsel
der Erscheinungen gewisse Formen oder Typen, welche er die
Ideen nannte, beharren, hatte aber als Leitfaden, um diese
allgemeinen Typen zu finden, die allgemeinen Begrifte gewählt,
so dafs er nicht nur Ideen der species, sondern auch der getura.
der Qualitäten und Relationen ansetzte; so ist nach ihm ein
bestimmtes Einzelding ein Pferd, weil es teil hat [\j.txi'/j.i) an
380 Xiy. Die erste Periode der Scliolastik.
der Idee der Pferdheit, und dabei ein Tier, schnell, schön,
gröfser als ein anderes, weil es zugleich an den Ideen der
Tierheit, Schnelligkeit, Gröfse usw. teil hat, wie dies Phil,
d. Griechen, S. 251 fg., näher auseinandergesetzt wurde. Einen
Schritt weiter ging in dieser für die Philosophie verhängnis-
vollen Verschmelzung der logischen mit den metaphysischen
Allgemeinheiten Aristoteles. Vermöge seiner auf die Einzel-
forschung gerichteten Neigung sah er in den Einzelwesen das
Primäre (die TTpö-rat. oucta',), in dem Allgemeinen nur 'das
Sekundäre (die SsuTspai ouGtac), steht aber andererseits so weit
unter dem Einflüsse Piatons, dafs er in dem Einzelnen nur
das für uns Primäre (das TupcTspov jrpor r||j.a;), hingegen in
dem Allgemeinen das seiner Natur nach Primäre und Ur-
sprünglichere (das TTpcTipov 9'jc;si) erkennt. Daher konnten
sich im Mittelalter beide Parteien, die Realisten wie die No-
minalisten, auf den Aristoteles berufen, während der Realis-
mus eine starke Stütze in dem namentlich durch Vermittlung
des Neuplatonismus ihm zugänglichen Piaton besafs, da der
Neuplatonismus in seinen vier Stufen des sy, der IhioLi, der
vb'jyjr, und der 'jWq das Besondere völlig aus dem Allgemeinen
emanieren liefs. In diesem Sinne haben wir im vorigen Ab-
schnitt Scotus Erigena als einen auf dem Neuplatonismus
fufsenden Vertreter des extremen Realismus kennen gelernt.
Schon im spätem Altertum hatten die erwähnten Rich-
tungen ihre Vertretung gefanden. So ist Marcianus Capella
(oben S. 363) entschiedener Nominalist, Boethius (oben S. 364)
vertritt eine vermittelnde Richtung, und Porphyrius als Schüler
des Plotin huldigt dem neuplatonischen Realismus, In seiner
Isagoge zu den Kategorien des Aristoteles, welche dem Mittel-
alter in der lateinischen Übersetzung des Boethius vorlag,
findet sich die berühmte Stelle, auf Grund deren im Mittel-
alter der Kampf zwischen Realisten und Nominalisten ent-
brannte und Jahrhunderte lang mit Eifer geführt wurde. Por-
phyrius bespricht dort die fünf Prädikamente r/r» ?f.y. ilifrrodia,
spccies, propritim und accidcns und macht dabei die Bemerkung:
dt generihns et specielms ilhid qnidem, sive sithsisfant sive in
solis midis irdcllectihns posiia sint, sive snhsisteiitia corpondia
sint an incorporcdia , et ,ufrum separcda a scnsilibus au in scn-
;?. Realismus und Nominalismus. 381
siUbus posita et circa liacc cousisteidia, dicerc recusabo: altissi-
mum enim negotium est Iniiusmodi et majoris egens inquisitiovis.-
„Was nun die gcnera und spccics betrifft, so werde ich über
die Frage, ob sie subsistieren [Thesis des Kealismus] oder ob
sie blofs und allein im Intellekt existieren [Thesis des No-
minalismus], ferner, falls sie subsistieren, ob sie körperlich
oder unkörperlich sind, und ob sie getrennt von den Sinnen-
dingen oder nur in den Sinnendingen und an diesen bestehend
sind [Thesis der vermittelnden Eichtung], es vermeiden mich
zu äufsern; denn eine Aufgabe wie diese ist sehr hoch und
bedarf einer eingehendem Untersuchung."
Alle die in dieser Stelle des Porphyrius angedeuteten
Richtungen fanden in den ersten beiden Jahrhunderten des
Mittelalters zahlreiche Vertreter, welche, anknüpfend an die
Porphyriusstelle, ihre realistischen, nominalistischen oder ver-
mittelnden Anschauungen in zahlreichen Variationen mit einem
grofsen Aufwände von Dialektik zu entwickeln wufsten, bis
der Nominalismus eine plötzliche Niederlage erlitt, welche ihn
fast um allen Kredit brachte, und von der er sich zwei
Jahrhunderte lang (bis auf William von Occam) nicht zu er-
holen vermochte. ^, Diese Niederlage wurde dadurch herbei-
geführt, dafs es- einem gewissen Kanonikus Roscellinus
(geboren um 1050 zu Compiegne, seit 1087 zu Besangen,
Tours und Loches lehrend) eingefallen war, den von ihm ver-
tretenen Nominalismus auf das Dogma der Trinität anzu-
wenden. Hierbei war in der schon seit 381 sanktionierten
Formel: ^oia snhstantia, trcs' pcrsonac für ihn der Begriff' der
Substanz eine blofs in der Redeweise der Kirche übliche sub-
jektive Zusammenfassung, die reale Einheit der Gottheit war
aufgegeben und ihre drei Personen blieben als drei Götter
neben einander bestehen. Diese Konsequenz des Nominalis-
mus erregte den gröfsten Anstofs, und Roscellin wurde auf
der Synode zu Soissons 1092 der Ketzerei des Tritheismus
überführt und gezwungen zu widerrufen, ' so dafs in der Folge-
zeit nur noch wenige sich offen zu nominalistischen An-
schauungen zu bekennen wagten.
So charakteristisch für den Geist des Mittelalters diese
Art ist, philosophische Theorien durch Berufung auf ein kirch-
382 XIV. Die erste Periode der Scholastik.
liches Dogma zu widerlegen, so liegen doch die Gründe noch
tiefer, welche das Mittelalter veranlafsten, o-anz überwiegend
der Theorie des Realismus anzuhängen. Für die Scholastik
kam es nicht darauf an, durch Beobachtung der Wirklichkeit
auf dem Wege der Induktion allgemeine Begriffe und Sätze
zu gewinnen, da die allgemeinen Wahrheiten durch das Dogma
der Kirche und, soweit sie diesem nicht widersprach, durch
die Philosophie der Alten von vornherein feststanden, und die
Aufgabe der philosophischen Forschung nur darin bestehen
durfte, aus diesem als real anerkannten Allgemeinen durch
dialektisches Verfahren auf dem W^ege des Fro und Contra zu
ermitteln, was mit den allgemeinen W^ahrheiten ohne Wider-
spruch zusammenbestehen konnte. Als Beispiel können wir
vorausgreifend die Art betrachten, wie Anselm von Canterbury
auf ontologischem Wege das Dasein Gottes erwies. Gott
existiert entweder nur in hddlcdu solo oder auch in Wirk-
lichkeit; die erstere Annahme würde, da Gott dasjenige ist,
quo majus ro(/üari ut-quit , zu dem Widerspruche führen, dafs
ro, quo majns cogitari nequit. nie jus cogitari posset^ dafs „etwas
Gröfseres gedacht werden könnte, als dasjenige, gröfser als
welches nichts gedacht werden kann", woraus es dann für
Anselm ohne weiteres feststand, dafs Gott nicht nur in der
Idee, sondern auch in Wirklichkeit bestehen müsse.
4. An sehn von Canterbury.
Zwischen Scotus Erigena und Thomas von Aquino
zeitlich die Mitte haltend, tritt uns 200 Jahre nach dem erstem
und um ebensoviel vor dem letztern als dritte Erscheinung
von überragender Bedeutung entgegen Anselm von Canter-
bury, von Erigena dadurch unterschieden, dafs er nicht neue
M'ege für den christlichen Gedanken sucht, sondern den-
selben in der überlieferten Form als ein treuer Sohn der
Kirche durch die Vernunft zu begründen bemüht ist, von Thomas
hingegen dadurch, dafs die Durchdringung des Glaubensinhalts
mittels der Vernunft von Anselm nur im Prinzip gefordert,
aber noch nicht völlig durchzuführen versucht wird, daher sie
auch vor den sogenannten Mysterien des Christentums nicht
zurückschreckt, während eben diese Durchdringung bei Thomas
4. Anselm von Caiitoibury. 383
Ton Aquino tatsächlich durchgeluhrt worden ist, soweit sie
überhaupt dairchführbar erschien, nämlich bis auf jene Mysterien
der Trinität und Inkarnation, welche als ein yon der Vernunft
unantastbares Noli mc ta))(ic)'( .stehen bleiben. ,
Anselm wurde geboren im Jahre 1033 zu Aosta im Pie-
montesischen aus vornehmer Patrizierfamilie, widmete sich dem
geistlichen Stande, trat, angezogen durch den Kuf des Lan-
franc, 1060 in das Kloster zu Bec in der Normandie ein, dessen
Abt er 1078 wurde, war bei der Synode zu Soissons (1092)
persönlich nicht zugegen, hatte aber brieflich in seltsamem
Kontrast zu der bekannten Milde seines Charakters verlangt,
dafs man Roscellin, ohne sich auf eine Diskussion mit ihm
einzulassen, zum ^Viderruf zwingen müsse, und w^urde 1093
im Alter von (30 Jahren auf den durch Lanfrancs Tod seit
1089 vakanten Erzbischofsstuhl von Canterbury erhoben, den
er bis zu seinem 1109 erfolgten Tode inne hatte. — Die Be-
deutung Anselms knüpft sich vornehmlich an die prinzipiell
geforderte Unterordnung der Erkenntnis unter den Glauben,
an seine Beweise für das Dasein Gottes und an eine neue
Theorie der Inkarnation.
1. Credo nt irdeUigam.
Schon Augustin hatte erklärt: credimus nf coffnoscanrns,
)i(>ti co(/i/oscinnis nf crcdannis. Im Anschlufs an ihn hat An-
selm das Wort geprägt, welches wie kein anderes den Stand-
punkt der Scholastik kennzeichnet: credo nt int ellig am , ich
glaube, damit ich verstehe (Proslogium 1). Die Scholastik
ist nichts weniger als vernunftfeindlich, sie will nicht nur
glauben, sondern auch das Geglaubte, sow^eit nicht in den
Mysterien unübersteigliche Grenzen gesetzt sind, mit der Ver-
nunft begreifen; aber sobald sie auf Sätze gerät, welche dem
kirchlich anerkannten Dogma widersprechen, mufs sie sich
sagen, dafs sie sich auf einem Irrwege befindet. Sofern dieses
Credo ein äufserliches Fürwahrhalten der durch die Tradition
sanktionierten Tatsachen und Glaubenssätze bedeutet, kenn-
zeichnet es einen in der neuern Philosophie längst über-
wundenen Standpunkt; sofern es aber behauptet, dafs man
den religiösen Wahrheiten nie gerecht werden kann, wenn
384 XIV. Die erste Periode der Scholastik.
man sie nicht vorher im tiefsten Herzen erfal'st hat und auf
sich wirken läfst, hat der Anselmsche Spruch auch heute noch
seine Bedeutung., und niemand wird imstande sein, auch ein
philosophisches System nach seinem Werte richtig zu be-
urteilen, der sich nicht so tief in die Gedanken und Empfin-
dungen seines Urhebers zu versetzen und einzuleben vermag,
dafs er sich mit demselben, wenigstens vorübergehend, völlig
identifiziert, denn nur so kann er dazu gelangen, die oft nur
halb ausgesprochenen Gedanken seines Autors nach ihrer
vollen Tragweite zu würdigen.
2. Anselms Beweise für das Dasein Gottes.
Anselm führt für das Dasein Gottes zwei Beweise, den
einen im Monologium, den andern im Proslogium. Im Mono-
logium geht er aus von dem platonischen Realismus. Es gibt
Dinge, welche die Eigenschaft der Wahrheit, der Güte, der
Gröfse, des Seins an sich tragen. Diese Eigenschaften sind
an den Einzeldingen immer nur relativ, und alles Relative
hat ein Absolutes zur Voraussetzung. Folglich gibt es eine
Wahrheit an sich, ein Gutes an sich, ein Grofses an sich, ein
Sein an sich, und der Inbegriff dieser Universalia ist Gott. —
Aber selbst wenn man mit Piaton und Anselm den Univer-
salien auch Realität zugesteht, so ist ihr Inbegriff doch noch
weit entfernt von dem Begriff eines persönlichen Gottes; viel-
mehr widerspricht ein solcher der platonisch -anselmschen
Ideenlehre, denn es liegt im Wesen der Ideen, an sich
seiende Wesenheiten (auTo /.ixt' auxc, j^er se ipsum) zu sein,,
welche als solche eines Trägers .zu ihrer Stütze nicht be-
dürfen, vielmehr einen solchen ausschliefsen.
Im Proslogium, so genannt, weil Anselm nach dem Vor-
bilde der Confessiones des Augustin für seine Darstellung die
Form einer Anrede an Gott gewählt hat, argumentiert er
cap. 2 und 3 folgendermaJ'sen :
Ergo, Donmte, qui das „Also, o Herr, der du zu dem Glauben
fideiintellectmn,damilii, die Erkenntnis verleihst, verleihe mir,
ut, qiiantiim scis eocpe- dafs ich, soweit* du es für gut findest,
dire, intclligani, quia es erkennen möge, dafs du bist, wie wir
sicut credimus, et Jioc es glauben, und dafs du so bist, wie wir
4. Aiiselin von Canterburv.
385
es quod crcdimus. Et
qiiidem crcdimus, tc esse
cdiquid, quo nihil majus
coyitari possit. An ergo
non est aliqua talis na-
tura, quia „dicit insi-
piens in corde suo: Non
estDcus^' ? Sed certe idem
ipscinsipicns, cum audit
h ocipsum, quod dico,ali-
quid, quo majus nihil
cogifari potest, intelligit,
quod audit, et quod in-
telligit, in intellectu ejus
est, etiamsi nonintelligat
illud esse. Aliud est
mim, rem esse in intel-
lectu, aliud intelligere,
rem esse. Nam cumpic-
tor praecogitat quae fac-
turus est, habet quidem
in intellectu, sed non-
dum esse intelligit, quod
nondumfecit. Cum vero
jam pinxit, et habet in
intellectu, et intelligit
f'sse, quod iam fecit.
Convincitur ergo etiam
insipiens, esse vel in in-
tellectu aliquid, quo nihil
majus cogitari potest;
quia hoc cum audit, in-
telligit; et quidquid in-
telligitur,in intellectu est.
Et certe id, quo majus
cogitari nequit, non po-
test esse in intellectu solo.
Si enim vel in solo intel-
dich glauben. Wir glauben aber, dafs
du etwas bist, gröfser als welches nichts
gedacht werden kann. Oder sollte es
etwa kein Wesen dieser Art geben,
denn n die Toren sprechen in ihrem Her-
zen: es ist kein Gott»? Aber gewifs
ist, dafs eben ein solcher Tor, wenn er
diese meine Worte hört, sich unter dem,
gröfser als welches nichts gedacht
werden kann, etwas denkt, wenn er
es hört, und was er denkt, das ist in
seinem Intellekt, auch dann, wenn er
nicht einsieht, dafs es existiert. Denn
freilich ist es ein anderes, dafs etwas im
Intellekt vorhanden sei, und ein anderes,
einzusehen, dafs dasselbe in Wirklich-
keit vorhanden ist. Und wenn ein Maler
im voraus überlegt, was er malen will,
so hat er es zwar im Intellekt, weifs
aber auch, dafs das Bild, welches er
noch nicht gemalt hat, noch nicht wirk-
lich vorhanden ist ; nachdem er es aber
gemalt hat, so hat er es sowohl im In-
tellekt, als auch weifs er, dafs das Bild
existiert, welches er gemalt hat. Auch
der Tor also ist genötigt einzugestehen,
dafs wenigstens in seinem Intellekt et-
was vorhanden ist, gröfser als welches
nichts gedacht werden kann; denn in-
dem er dieses hört, versteht er es ; was
aber verstanden wird, ist im Intellekt
vorhanden. Nun kann aber das, gröfser
als welches nichts gedacht werden kann,
nicht im Intellekt allein vorhanden sein.
Denn gesetzt, dasselbe sei im Intellekt
allein vorhanden, so könnte es gedacht
werden als auch in Wirklichkeit be-
stehend, und das wäre ein gröfsereso
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii, 2.
25
38ß
XIY. Die erste Periode der Scholastik.
lectii est, pofest cogitari
-et in re, quod majus
est. Si ergo id. quo ma-
jus cogitari- iion potest,
est in solo inteJlccfu, id
ilisum, quo majus cogi-
tari von potest, est quo
majus cogitari potest;
scd certe Iwc esse non
jjotest. Existit er(/o pro-
cid dnhio aliquid, quo
majus cogitari non valet,
et in intell'ectu, et in re.
^uod utiquc sie vere
est. nt nee cogitari possit
non esse, Nam potest
■cogitari esse aliquid,
■quod non possit cogitari
non esse; quod majus
est, quam quod non esse
cogitari potest. Quare
si id, quo majus nequit
cogitari, potest cogitari
non esse, id ipsum, quo
majus cogitari nequit,
'non est id, quo majus
cogitari nequit: quod
eonvenire non potest.
Sic ergo vere est aliquid,
quo majus cogitari non
j)otest, ut nee cogitari
possit non esse: et hoc es
tu. Domine Dens noster!
Gesetzt also, dasjenige, gröfser als wel-
ches nichts gedacht werden kann, wäre
nur im Intellekt vorhanden, so würde
ehen dasjenige, gröfser als welches nichts
gedacht werden kann, ein solches sein,
gröfser als welches noch etwas gedacht
werden könnte; und das ist offenbar
unmöglich. Es mufs also unzweifelhaft
etwas existieren, gröfser als welches
nichts gedacht werden kann, und zwar
sowohl im Intellekt, als auch in Wirk-
lichkeit. Dasselbe existiert also so sicher
in Wahrheit, dafs nicht einmal gedacht
werden kann, dafs es nicht existiere. Es
kann also etwas gedacht werden, von
dem sich nicht denken läfst, dafs es
nicht existierte; und dieses ist gröfser
als das, von dem man sich denken kann,
dafs es nicht existierte. Wenn also das-
jenige, gröfser als welches nichts gedacht
werden kann, gedacht werden könnte
als nicht existierend, so würde eben das-
jenige, gröfser als welches nichts ge-
dacht werden kann, nicht dasjenige sein,
gröfser als welches nichts gedacht wer-
den kann; welches unmöglich ist. Es
ist also so gewifs wahr, dafs etwas exi-
stiert, gröfser als welches nichts ge-
dacht werden kann, dafs es nicht ein-
mal gedacht werden kann als nicht exi-
stierend: und das bist du, o Herr, unser
Gott!"
Anknüpfend an die bekannte Stelle, Psalm 14,1, in der
Vulgata 13,1 : Dixit insipiens in corde suo : non est Bens, sucht
Anselm diesem Insipiens zu beweisen, dafs er, entgegen seiner
Behauptung, an das Dasein Gottes glaubt, während der Mönch
4. Ansolm von Canterbury. 387
Oaunilo in seinem anonym erschienenen Lihcr x>'t'o insipientc
advrrsus ÄiisrJmi iti Proslogio ratiocinationcni dem Anselm
A'^orwirft, er identifiziere die Begriffe intdligi und esse in in-
tdledu, worauf wiederum Anselm in seinem Liher apologeticus
adversus respondentem p>ro iusipieide seine Behauptung zu recht-
fertigen sucht. — Die unter dem Namen des ontologischen
Beweises so berühmt gewordene Argumentation des Anselm
läfst sich zusammenfassen in die Worte: Dens est id, quo
majus cogitari nequit. Si Dens esset in intellectu solo, eo, quo
majiis cogifari nequit, niujiis cogitari posset, „Gott ist dasjenige,
gröfser als welches nichts gedacht werden kann; wäre nun
Gott allein im Intellekt vorhanden, so liefse sich noch etwas
■Gröfseres denken als das, gröfser als welches nichts gedacht
werden kann" (nämlich derselbe Gott als nicht nur im In-
tellekt, sondern auch in Wirklichkeit bestehend), welche An-
nahme einen Widerspruch enthalten, somit falsch sein würde.
— Der Fehler des Anselmschen Arguments liegt nicht darin,
-wo Gaunilo und viel.e nach demselben ihn gesucht haben,
wenn sie dem Anselm vorwerfen, er habe mit Unrecht cogitari
gleichgesetzt mit esse in intellectu; denn beide sind genau das-
selbe; sondern vielmehr, wie Kant nachgewiesen hat, darin,
■dafs Anselm das esse in re für gröfser hält als das esse in
intellectu, da doch beide vollkommen gleich grofs sind, und der
Gott in Wirklichkeit nicht um ein Haar breit gröfser ist als der
Gott in der Idee, etwa wie die Person vor dem Spiegel in allen
Einzelheiten dasselbe ist, was ihr Abbild im Spiegel zeigt,
oder, das Kantische Beispiel zu gebrauchen, wie hundert Taler
in Wirklichkeit dieselbe Summe sind wie hundert Taler in
der Idee, nur dafs diese Summe das eine Mal wirklich da ist
und das andere Mal nicht.
3. Cur Deus lionw?
In der Schrift dieses Namens sucht Anselm in das so-
genannte Mysterium der Inkarnation einzudringen und begreif-
lich zu machen, „warum Gott Mensch werden mufste", worüber
bis zu ihm die Vorstellung herrschte, dafs Gott seinen Sohn
als Lösegeld (Xuxpov, schon Matth. 20,28; Marc. 10,45) für die
Henschen, auf welche der Teufel durch den Sündenfall An-
25*
388 XIV. Die erste Periode der Scholastik.
Spruch hatte, gezahlt habe, was dann leicht auf die Vor'stellung
hinauslief, dafs Gott den Teufel überlistet habe. Diese un-
wüi'dige Vorstellung sucht Anselm dadurch zu beseitigen, dafs
er an die Stelle eines Konflikts Gottes mit dem Teufel den
Konflikt zweier Eigenschaften Gottes setzt, nämlich der Ge-
rechtigkeit, welche verlangt, dafs alle Nachkommen Adams
der Verdammnis anheimfallen, und der Barmherzigkeit,
welche die Menschen retten möchte, wenn sie das dargebotene
Sühnopfer im Glauben annehmen. Diese seit Anselm ange-
nommene Theorie ist allerdings nicht imstande, die Schwierig-
keit zu lösen. Denn wenn es eine Ungerechtigkeit ist, dem
Schuldigen zu verzeihen, so ist es nicht eine Kompensation,
sondern eine Verdoppelung der Ungerechtigkeit, wenn die Strafe
von dem Schuldigen genommen und auf einen Unschuldigen
gelegt wird.
5. Abaelard und seine Schule.
Zwischen dem Realismus des Anselm und Wilhelm von
Champeaux und dem Nominalismus des Roscellin nimmt als
Schüler der beiden letztern eine vermittelnde Stellung ein der
durch seine glänzende Dialektik und Lehrgabe, mehr noch
durch seine herben Lebensschicksale berühmt gew^ordene
Petrus Abaelardus (Abelard, Abeillard) ; geboren 1079 in dem
Dorfe Palais unweit Nantes, hörte er als wandernder Schüler
zuerst den Nominalisten Roscellin, dann zu Paris den in der
Weise seines Lehrers Anselm von Laon den Realismus ver-
tretenden Wilhelm von Champeaux. Abaelard wurde bald
sein Gegner, eröffnete zunächst eine Schule zu Melun, welche
er nach 1108 nach Paris auf den Hügel Ste. Genevieve und
1115 nach der Kathedralschule von Notre Dame verpflanzte.
Als geleierter, von angeblich tausend Studenten besuchter
Lehrer fand er Eingang in dem Hause des Kanonikus Fulbert,
wo er dessen 1101 geborene schöne und gelehrte Nichte Heloise
unterrichtete, in heftiger Liebe zu ihr entbrannte und sie nach
der Bretagne entführte, wo sie ihm einen Sohn, den Astralabius,
schenkte. Vergebens suchte er seine Ehe mit Heloise geheim-
zuhalten, um sich den Zugang zu den geistlichen Amtern nicht
zu verschliefsen. Der rachsüchtige Fulbert fand das Mittel,
5. Ahaelard uiul seine Schule. 339
ihm (nach fx Mose 23,1) die geistliche Laufbahn unmöghch
zu machen, indem er ihn bei Nacht überfallen und entmannen
liel's. Schon 1121 erwirkten seine Gegner und Neider auf der
Synode zu Soissons die Verurteilung seiner Trinitätslehre; er
mufste seinen Tracfatxs de unitatc et trimtate divina ins Feuer
werfen und wurde für kurze Zeit sogar gefangen gesetzt. Aus
der Haft befreit, verbrachte er die übrigen zwanzig Jahre
seines Lebens teils in klösterlicher Zurückgezogenheit, teils
in der. von seinen ihm zuströmenden Schülern erbauten Ein-
siedelei des Paraklet (bei Nogent-sur-Seine), welche er später,
nach Auflösung des Klosters Argenteuil, wohin sie geflüchtet
war, seiner Heloise und einigen ihrer Klosterschwestern über-
wies, während er selbst 1136 auf Drängen seiner Verehrer noch
einen letzten Versuch machte, auf Ste. Genevieve zu Paris zu
lehren. Hier erstand ihm als unerbittlicher Gegner Bernhard
von Clairvaux, welcher seine Verurteilung wegen zahlreicher
Irrlehren 1141 auf der Synode zu Sens betrieb. Abaelard
appellierte an den Papst, starb aber, durch so viele Schicksals-
schläge gebrochen, auf der Reise nach Rom 1142 in der Priorei
zu St. Marcel (bei Cluny unweit Macon). Seine Gebeine wurden
im Paraklet von Heloise gehütet und nach deren Tode (1164)
an verschiedenen Orten aufbewahrt, bis seit 1817 beide Lie-
bende in einem- berühmten Grabmale auf dem Pere-Lachaise
vereinigt ruhen.
Die Schriften des Abaelard haben bei den Menschen nicht
die liebevolle Fürsorge gefunden, auf welche die Werke eines
hervorragenden Geistes bei der Nachwelt Anspruch haben.
Manche seiner Schriften sind verloren o-esangen, von andern
besteht geringe Aussicht, sie noch irgendwo aufzufinden. Von
den erhaltenen und publizierten Werken sind die wichtigsten
der Traetaft{S de uvitate et triiritate dioiva, die nur ihrem ersten
Teile nach erhaltene Theologia, die ethische Abhandlung Scito
tc ipsum seu Ethica, der Dicdogus ivier PhilosojyJmm, Judaeum
d Christianum, die Glossulae zu Aristoteles, Porphyrius und
Boethius, sowie die dialektischen Schriften Bidlectica und das
gleichfalls erst von Cousin unter den Ouvrages inedits (1836)
veröffentlichte Sic et Nov.
In der Universalienfrage nimmt Abaelard, wie bereits be-
390 XIV. Die erste Periode der Scholastik.
merkt, eine vermittelnde Stellung zwischen dem Kealismus
des Anselm und dem Nominalismus des Roscellin ein. Die
Universalia existieren vor der Schöpfung als Gedanken in dem
Geiste Gottes, nach der Schöpfung subsistieren sie nur in den
Dingen, und zwar nicht gencralüer, sondern inäividualüery
d. h. in den durch die individuelle Existenz bedingten Spezi-
fikationen, nicht aber als reale Allgemeinheiten, da es eine
Monstrosität sein würde, eine Sache von einer Sache zu
prädizieren [rem de repraedicarl monstrum ducunt, Joh. Salisber.
Metalog. II, 17). Dennoch sind die Universalia nach Abaelard
nicht blofse voces, sondern, wie er sagt, sennones, d. h. Prädi-
kate im Urteil, welche als solche nicht an sich, sondern nur
im Subjekt subsistieren. Seine Auffassung läfst sich füglich
in der Formel ausdrücken: universalia in rebus.
Im Gegensatze zu dem Anselmschen Credo id intelUgam
mifst Abaelard der Vernunft eine mehr mafsgebende Bedeutung
zu, sofern der Glaube, wenn er nicht vorher vernunftmäfsig
begriffen worden ist, ein toter Glaube bleibt. Er sagt in der
Historia calamitatum mearum: „Ich befafste mich nun zuerst
damit, das Fundament unseres Glaubens selbst durch mensch-
liche Vernunftgründe fafslich zu machen. Zu diesem Zwecke
schrieb ich eine theologische Abhandlung «über die göttliche
Einheit und Dreiheit » für den Gebrauch meiner Schüler, die
nach vernünftigen wissenschaftlichen Gründen verlangten und
nicht blofs Worte hören, sondern sich auch etw^as dabei denken
wollten. Sie meinten, es sei vergeblich, viele Worte zu machen,
bei denen sich nichts denken lasse; man könne doch nichts
glauben, was man nicht vorher begriffen habe; es sei
lächerlich, wenn einer etwas predigen wolle, was weder er
selbst noch seine Zuhörer mit dem Verstand fassen könnten;
das seien die «blinden Blindenleiter » , von denen der Herr
spreche." Nach dieser Erklärung läfst sich im Gegensatze
zu Anselms Credo ut intelUgeim als Abaelards Prinzip auf-
stellen: Jntelligo 'tit credam.
Diesem Grundsatze entsprechend argumentiert er wie folgt:
Da Christus doch nach der Schrift der Logos ist, so folgt,
dafs der beste Logiker auöh der beste Christ ist, und Abae-
lard trägt kein Bedenken, in seinem 1121 zu Soissons durch
5. Abaelard und seine Schule. 39t
ein höchst willkürliches Verfahren zur Verbrennung verurteil-
ten Tradatus de tmitate et trinitate divina mit Vernunftgründen
in das Mysterium der Trinität einzudringen, indem er die drei
göttlichen Grundeigenschaften der Allmacht, All Weisheit und
Allgüte auf die drei Personen der Gottheit bezieht und in
dem Vater die Macht, dem Sohne die Weisheit und dem
Geiste die Güte Gottes verwirklicht findet, wodurch man ihm
allerdings nicht mit Unrecht schuld gab, in die monarchia--
nische Ketzerei des Sabellius (oben, S. 356) verfallen zu sein.
Das Wertvollste in Abaelards Philosophie dürften die in
seinem Werke Scito te ipsum ausgesprochenen ethischen Ge-
danken sein, vermögenderen er in einem Zeitalter der Opera
operata den ganzen Nachdruck nicht auf die äufsere Tat, son-
dern auf die Gesinnung legt, aus welcher sie hervorgeht;,
cap. 7 : opera omnia in se indifferentia nee nisi pro intentione-
agentis vel bona vel mala dicenda sunt. Eine Handlung ist
nur dann sündhaft, wenn sie dem eigenen sittlichen Bewufst-
sein widerspricht: non est peccatum nisi contra conscientiam
(cap. 13); stimmt sie mit ihm zusammen, so kann sie wohl
fehlerhaft, doch nicht eigentlich sündlich heifsen; tugendhaft
aber heifst sie nur dann, wenn die sittliche Gesinnung mit
der Norm des objektiven Sittengesetzes übereinstimmt, mag^
dieses den Christen als Wille Gottes oder auch schon den
Heiden als das natürliche Sittengesetz oflenbart worden sein,
welches im Christentum nur reformiert, erneuert, verschärft,,
nicht aber eigentlich verändert worden ist.
Die dem mittelalterlichen Denken wesentliche dialektische
Methode der Erwägung des Pro und Contra wurde durch nichts
sq sehr angeregt und gefördert wie durch die kecke Schrift
Sic et Non, w^elche in einem Zeitalter, wo man geneigt war, die
Autorität der Kirchenväter der Heiligen Schrift nahezu gleich-
zustellen, nur die Bibel als unbedingte Norm anerkennt, während
Abaelard mit grofser Belesenheit nicht weniger als 150 Punkte
der christlichen Dogmatik durchgeht und bei jedem derselben
entgegengesetzte Aussprüche der Kirchenväter verzeichnet.
Teils aus der Schule des Abaelard, teils wenigstens durch
ihn angeregt, entstanden die in der nächsten Zeit in grofsre
Zahl auftretenden Libri sententiarum der sogenannten Sum-
;^92 XIV. Die erste Periode der Scholastili.
misten, welche über alle Punkte der christlichen Lehre die
Aussprüche der patres ecdesiae zusammenstellten, diskutierten
und auf dialektischem Wege auszugleichen bemüht waren.
Das bedeutendste dieser Werke sind die Sententiarum lihri
qnattuor des Petrus Lombardus, eines Schülers des Abae-
lard ("f 1164), welcher in vier Büchern über Gott, die Schöpfung,
die Erlösung und die Sakramente die Hauptleliren des Christen-
tums zusammenstellte, für die Folgezeit die Grundlage der
christlichen Dogmatik darbot und viele Kommentare, unter
anderm auch den des Thomas von Aquino, hervorrief.
«
. XV. Die Philosophie der Araber.
1. Geschichtlicher Überblick.
Während die übrigen Stämme der Semiten aus Arabien
nach Norden vordrangen und (wie oben, Phil. d. Bibel, S. 29 fg.,
37 fg., 73 fg. gezeigt) als Babylonier und Assyrer, als Phoe-
niker, Hebräer und Aramäer in mannigfacher W^eise in den
Strom des W^eltlebens hineingezogen wurden, blieben die
Araber noch viele Jahrhunderte hindurch der ursprünglichen
Heimat und der durch sie bedingten Lebensweise treu, wie
sie denn auch den reinsten Typus der semitischen Rasse nach
Sprache, Charakter und äufserer Erscheinung repräsentieren.
Durch die Natur Arabiens, welches nur in den Küstenstrichen
und einzelnen Oasen eine Bebauung des Bodens lohnt, im
übrigen aber teils ganz wüste liegt, teils nur kärgliche Nah-
rung für Kamele, Schafe und Ziegen, stellenweise auch für
Rosse, bietet, waren seine Bewohner zum gröfsten Teile auf
das Nomadenleben angewiesen, waren geübt in kriegerischer
Tüchtigkeit wie im Ertragen von Entbehrungen, und blickten
mit Stolz und Geringschätzung auf eine ackerbautreibende Be-
völkerung herab. So zerüelen die Araber in eine grofse An-
zahl einzelner, teils sefshafter, teils mit ihren Zelten und
Herden umherstreifender Stämme ohne nationalen Zusammen-
hang und ohne eine andere Einheit als die, welche durch die
Gemeinschaft der Sprache und der Religionsanschauungen von
Jeher bestanden hatte. Doch war eine Stadt wie Mekka mit
1. üeschicbtliflier Überblick. 393
ihrem uralten Heiligtum, der Ka'ba, schon früh im weiten Um-
kreise für die umwohnenden Stämme ein Gegenstand der Ver-
ehrung, und hier wurde der Mann geboren, welcher berufen
war, die arabischen Stämme zu einigen und die in ihnen
schlummernden und noch unverbrauchten Kräfte zu einer weit
über die Halbinsel hinaus sich erstreckenden Wirksamkeit zu
entfesseln.
Mohammed (d. h. „der Gepriesene") wurde nach späterer
Ansetzung 570 p. C. zu Mekka geboren. Er stammte aus dem
angesehenen Geschlechte der Koraisch, verlor aber früh seine
Eltern und mufste durch Hüten von Schafen und Handels-
geschäfte sein Brot mühsam erwerben. Ob er, wie erzählt
wird, in seiner Jugend auf Handelsreisen nach Syrien ge-
langte und dort mit jüdischen und christlichen Kreisen in Be-
rührung kam, ist zweifelhaft. In seinem vierundzwanzigsten
Jahre trat er in die Dienste der reichen Witwe Chadidscha;
sie wurde, obgleich angeblich 15 Jahre älter als er, im folgen-
den Jahre seine Gattin, schenkte ihm unter andern Kindern
die Fatima, nachmalige Gattin des Chalifen 'Ali, und wurde
die erste und treueste Anhängerin seiner religiösen An-
schauungen. Diese entwickelten sich, angeblich seit seinem
vierzigsten Jahre, nach neuern Forschungen jedoch erheblich
früher, unter dem Einflüsse von Visionen und Eingebungen
zu einem strengen und starren Monotheismus, für welchen er
zunächst aufser seiner Gattin nur wenige Anhänger, seinen
Neffen und Schwiegersohn 'Ali, seinen nachmaligen Schwieger-
vater Abu Bekr, seinen Sklaven und spätem Adoptivsohn Zaid
fand, während zwar das geringe Volk sich seiner Lehre zu-
neigte, die bessern Stände aber ihn teils verlachten, teils von
seiner Anfeindung, des in Mekka herrschenden und für viele
andere Stämme tonangebenden Polytheismus eine Störung der
Handelsverbindungen ihrer Stadt befürchteten. Die daraus
entspringenden Anfeindungen und Bedrückungen veranlafsten
Mohammed schliefslich, mit seinem Anhange Mekka zu ver-
lassen und nach dem 300 Kilometer nördlich von Mekka und
mehr als dieses landeinwärts liegenden Jathrib überzusiedeln,
von wo seine Mutter stammte, und wohin er schon früher ein-
mal als Schiedsrichter zwischen streitenden Stämmen berufen
394 ^^^- I^ie Philosophie der Araber.
worden war. Das Datum dieser von den Mohammedanern die
Hedschra (d. i. Sezession) genannten Übersiedlung ist der
16. Juli 622, mit welchem die Mohammedaner ihre Zeitrechnung
(nach Mondjahren) beginnen. In Jathrib, später wohl Mohammed
zu Ehren Medina, als „die Stadt des Propheten" (medtnat
ul-nah'ij genannt, heiratete er nach dem Tode der Chadidscha
mehrere andere Weiber, unter ihnen die 'Aischa, Tochter
seines Freundes Abu Bekr. Allmählich erstarkte sein Anhang
so weit, dafs er gegen Mekka feindlich vorgehen konnte; nach
einigen teils glücklichen, teils unglücklichen Wendungen er-
reichte er zunächst 629 das Recht der Pilgerfahrt zu den Heilig-
tümern der Ka'ba, und schlief slich 630 an der Spitze seiner
Gläubigen die Übergabe der Stadt. Zum Herrscher der Stadt
geworden, zerstörte er die in der Ka'ba aufgestellten Götzen-
bilder und machte dieselbe sowie den heiligen, in ihrer Südost-
wand eingemauerten „schwarzen Stein", einen alten Fetisch^
zum Mittelpunkte der neuen Religion. Die Kapitulation Mekkas
und weitere kriegerische Erfolge Mohammeds bewirkten, dafs
alle Hauptstämme der Halbinsel sich ihm und seiner Lehre
unterwatfen. Nach Medina zurückgekehrt, empfing er von
überall her die Huldigungen der arabischen Stämme als der
Gesandte Allahs und bereitete schon einen Kriegszug gegen
das Byzantinische Reich vor, als er, von einem schweren Fieber
heimgesucht, am 8. Juni 632 in den Armen seiner Lieblings-
gattin 'Aischa starb und in deren Hütte begraben wurde, neun
Weiber als seine Witwen hinterlassend.
Nach dem Tode des Propheten wurden die ihm angeblich
vom Engel Gabriel mitgeteilten Offenbarungen teils aus münd-
licher Überlieferung, teilweise auch nach Aufzeichnungen von
Mohammeds Schreiber, durch Abu Bekr unter Mitwirkung von
'Omar aufgezeichnet und unter 'Othman definitiv redigiert.
Diese Sammlung, an Umfang noch hinter dem Neuen Testa-
ment zurückstehend, heifst der Koran [kofän, d. h. Rezitation)
und bildet das heilige Religionsbuch des Islam. Er soll in
der Urschrift von Ewigkeit her im siebenten Himmel vor-
handen gewesen und nach der gesegneten „Nacht des Rat-
schlusses" seit 611 durch den Engel Gabriel nach und nach
dem Propheten mitgeteilt worden sein. Der Koran besteht
1. (ieschiflitliclioi- Überblick. 395
aus 114, weder chronologisch noch systematisch, sondern ein-
fach (wie auch öfter in Indien geschieht) nach der abnehmen-
den Zahl der Verse geordneten Suren (Kapiteln), welche nicht
nur Glaubens- und Sittenlehren, sondern auch zivilrechtliche und
strafrechtliche, stellenweise sogar gesundheitliche Verordnungen
enthalten und vieles aus der jüdischen und christlichen Literatur,
zum Teil nicht ohne Mifsverständnisse, aufgenommen haben.
Ahnlich wie in Indien neben der Qritti zur Ergänzung die
Smriti (vgl. oben, Phil. d. Inder I, S. 57. 71) steht, bilden im
Islam die im Koran übergangenen oder undeutlich behandelten
Fragen den Gegenstand des Hadith (d. i. Tradition), von dem
es sechs als kanonisch anerkannte Sammlungen gibt, . und
welcher, da er auf Wort und Brauch, d.h. der „Sunna" des
Propheten beruht, in allen Fällen verbindlich ist, wo der Koran
nicht ausreicht. Neben den Traditionen vom Propheten umfafst
die Sunna den namentlich in Medina überlieferten Brauch der
Gemeinde und ist mafsgebend für das Verhalten der Gläubigen.
Den im Westen der islamischen Welt vertretenen Sunniten,
so benannt, weil sie die Verbindlichkeit der Sunna anerkennen,
sfehen die vorwiegend in Persien und Indien zu findenden
Schi'iten gegenüber, welche sich als die „Partei" (scMaJ des
'Ali als des allein rechtmäfsigen Nachfolgers des Propheten
bezeichnen, weiterhin in viele Sekten auseinandergegangen
sind, nur den Koran als verbindlich gelten lassen und nicht,
wie der westliche Islam, die Suprematie des Sultan anerkennen,
während sie auf einen künftigen Messias aus dem Geschlechte
des 'Ali unter dem Namen des JlahcU ihre Hoffnung setzen. Der
Gegensatz zwischen Sunniten und Schfiten hat in der christ-
lichen Welt ein gewisses Analogon in der Spaltung zwischen
der römisch-katholischen Kirche, welche neben der Schrift die
Tradition und als Oberhaupt den Papst verehrt, und dem an
Sekten reichen Protestantismus, welcher beides, Tradition und
Papsttum, ablehnt.
Im Gegensatz zum Brahmanismus und Judentum, welche
(wenigstens nach der Theorie) keine Mission betreiben können,
jener nicht, weil der Übergang aus der alle Menschen als
solche befassenden Kaste* der Tüdras zu den brahmanischen
Kasten nur auf dem ^^'ege der Seelenwanderung möghch ist.
396 ^^"- I^i^ Philosophie der Araber.
das Judentum nicht, weil eben nur die Juden das auserwählte
Volk Gottes sind, gibt es drei missionierende, die Bekehrung
aller Menschen sich zum Ziel setzende Religionen, den Buddhis-
mus, das Christentum und den Islam, nur dafs selbst der
Islam als geduldete Religionen im Abhängigkeitsverhältnis
Christentum, Judentum und Sabiertum anerkennt.
Solche Mission treibenden Religionen mufsten bestrebt
sein, für ihre Grundlehren eine möglichst kurze und allgemein
verständliche Form aufzustellen, und als solche bestehen für
den Buddhismus die vier heiligen Wahrheiten, für das
Christentum die drei Artikel des christlichen Glaubens
vmd für den Mohammedanismus die fünf Pfeiler farkw^J des
Islam. Diese, auf welchen wie auf Grundpfeilern das ganze
Gebäude der islamischen Religion ruht, sind: 1, die beiden
Grunddogmen, 2. das Gebet, 3. das Almosengeben, 4. das
Fasten und 5. die Pilgerfahrt nach Mekka.
1. Die beiden Grunddogmen lauten: „es gibt keinen
Gott aufser Allah, und Mohammed ist sein Prophet". (^Lä
iluha iUü IJäh^ tva-Muliammadun tushJu 'llah.J Im Gegensatze
zum Christentum, dessen durch indogermanische Einflüsse be-
fruchtete Erlösungslehre dem im Realismus befangenen Geiste
der Semiten nicht zusagte, läfst sich der Islam auffassen als
eine Reaktion und Rückwendung zu dem alttestamentlichen,
starren und konsequenten Monotheismus. Sein Gott Älläh
(der Name ist schon vorislamisch) ist allwissend und all-
mächtig, dabei stark anthropomorphisch aufgefafst, einerseits
als barmherzig, andererseits als zornmütig, rachsüchtig, grau-
sam und listig. Er erbarmt sich wessen er will, und ver-
härtet wen er will; er hat, wenigstens nach einigen Koran-
stellen, denen andere widersprechen, alles prädestiniert, und
dem Menschen bleibt nichts übrig, als demütig sich dem
Willen Gottes zu fügen; das Wort Islam bedeutet „Ergebung
in Gott". Als seine Organe hat Allah gute und böse Geister
(BscliinvJ, Engel und Teufel, der oberste der letztern ist der.
Satan, Ihl'is (d. i. SiaßoAoc) genannt. Aus der jüdischen und
christlichen Tradition nahm Mqhammed die Lehre von der
Auferstehung und dem jüngsten Gericht in krassester sinn-
licher Form herüber, und der Koran schwelgt an vielen Stellen
1. Gescliichtliclier rborblick. 397
in der Schilderung der schrecklichen Höllenqualen, welche den
Bösen, d. h. den Ungläubigen, bevorstehen, und der unaus-
sprechlichen Herrlichkeit des Paradieses mit seinen blühenden
Gärten, frischen Wassern, seinem Weine, der nicht berauscht,
seinen schönen schwarzäugigen Mädchen, welches alles den
Gläubigen erwartet, vor allen den, welcher im Kampfe für
Allah und seinen Propheten gefallen ist. — Während jede tiefere
Religionsauffassung in der einen oder andern Form auf Über-
windung des als Naturprinzip uns innewohnenden Egoismus
hinarbeitet, so macht der Islam gerade diesen Egoismus
zur Triebfeder des ethischen Verhaltens; er kann daher mit
Brahmanismus, Buddhismus und Christentum keinen Vergleich
aushalten und ist unter den vier w^eltbeherrschenden Religionen
weitaus die schlechteste. — Um seinen Willen den Alenschen
zu ofienbaren, hat Allah ihnen Propheten gesandt; solche sind
Adam, Noah, Abraham, Moses und Jesus, aber der letzte und
höchste Prophet ist Mohammed; er und seine Nachfolger, die
Chalifen, sind die geistlichen und zugleich weltlichen Be-
herrscher und sind berufen, die ganze Menschheit, wenn es
nicht anders geht, mit Feuer und Schwert zum Islam zu be-
kehren.
2. Das Gebet fsaläfj. Fünfmal täglich fordert der Ge-
betsrufer von dem hohen Altan des Minaret aus die Gläu-
bigen zum Gebete auf. Dann kann man sehen, wie die Muslims,
wo sie sich immer befinden mögen, auf der Strafse, im Laden
oder Bureau, auf dem Schiffe, ihren Teppich ausbreiten, auf
demselben niederknien und, das Gesicht nach Mekka gerichtet,
die vorgeschriebenen Gebetsformeln abmurmeln.
3. Das Almosengeben {zaMtJ besteht in einem von
Staats wegen auferlegten Zehnten, ursprünglich zum Besten
der Armen.
4. Das Fasten (sijämj im Monat Ramadan besteht
darin, dafs man sich, jedoch nur tagsüber, solange die Sonne
am Himmel steht, der Nahrung und des Geschlechtsgenusses ■
enthalten soll. Der Fastenbruch tritt ein, sobald der neue
Mond wirklich gesehen ist.
5. Die Pilgerfahrt nach Mekka fhaddschj war eine
Pflicht, für welche, bei der Schwierigkeit der Ausführung für
398 ^^'- P'6 Philosophie der Araber.
entfernt Wohnende, ein Ersatzmann gestellt ödes- die Kosten
für einen solchen an die Armen gegeben werden konnten.
Jeder Muslim sollte wenigstens einmal in seinem Leben die
Ka'ba in Mekka besucht haben; auf der Pilgerfahrt zu sterben,
ist das Beste, was dem Menschen zuteil werden kann.
Charakteristisch für den ür-Islam ist die völlige Einheit
von Kirche und Staat. Mohammed vereinigte in seiner Person
die geistliche und die weltliche Herrschaft; er erstrebte für
das in einzelne Stammverbände zersplitterte Arabien die Ein-
heit des (jrlaubens und zugleich die Einheit der Nation,
allerdings schwebte ihm das religiöse Ziel als eigentlicher
Zweck vor, während ihnl die nationale Einigung als das Mittel
dazu erschien. Seine Nachfolger nennen sich Chalifen, d. h,
„Stellvertreter" des Propheten. In der alten Zeit waren sie,
wie er selbst, das religiöse wie das politische Oberhaupt der
weiten, von ihnen eroberten Länder.
Da Mohammed keine männlichen Nachkommen hinterliefs,
auch keinen Nachfolger bestimmt hatte, so gelangte zunächst
sein Schwiegervater Abu Bekr (632 — 634), der Vater der
"Aischa, zur Regierung, behauptete sich mit Glück gegen die
in Arabien ausgebrochenen Aufstände und war eben im Be-
grifi', seine Heere gegen Syrien zu senden, als er schon nach
zweijähriger Regierung starb. Ihm folgte 'Omar (634 — 644),
gleichfalls ein Schwiegervater des Propheten, tatkräftig, streng
und von einfacher, patriarchalischer Lebensweise, welcher,
während er selbst in Medina am Grabe des Propheten weilte,
das Chalifenreich nicht nur innerlich organisierte, sondern auch
nach aufsen über weite Länder ausdehnte, indem seinen sieg-
reichen Feldherren, Chalid (dem „Schwerte Gottes"), Sa'd
und 'Amr, 636 Persien, 638 Syrien und 642 Ägypten leichter
Hand, vergleichbar überreifen und schon am Baume faulenden
Früchten, zur Beute fielen. Na;Ch seiner Ermordung folgte
der schwache und von seinen Verwahdten beherrschte 'Oth-
*man (644 — 656), ein Schwiegersohn des Propheten, und nach-
dem dieser von der Partei der Eiferer gestürzt und ermordet
war, wurde in Medina dem Ali (656 — 661), dem Neffen des
Propheten und Gemahl seiner Lieblingstochter Fatima, ge-
huldigt. Gegen ihn empörte sich Mu'awija, der Statthalter
1. (iescliiihtlicher f'berblick. 399
von Syrien, ein Urenkel des Omaija, eines Verwandten des
Propheten, und gründete, die Residenz nach Damaskus ver-
legend, die Dynastie der ümai jaden (661—750), unter
welchen das Chalifenreich nach der Eroberung von Karthago-
(607) über das ganze nördliche Afrika und nach dem Siege
am Wadi Bekka (711) fast über das ganze Spanien sich aus-
dehnte, bis Karl Martell durch den Sieg bei Tours und Poitiers
732 seinem weitern Vordringen nach Norden eine Grenze setzte.
Die wegen ihrer weltlichen Tendenzen den Strenggläubigen
verhafste Dynastie der Omaijaden wurde nach der blutigen
Schlacht am Flusse Zab, einem Nebenflufs des Tigris (749), ge-
stürzt, und das Chalifat ging auf die von 'Abbas, einem Oheim
des Propheten, sich herleitende Dynastie der'Abbasiden
(750 — 1258) über, welche 763 Bagdad zu ihrer Residenz aus-
bauten, und in deren Periode unter Herrschern wie Härün
al-Raschid (786—809) uijd seinen Nachfolgern die moham-
medanische Kultur in Kunst und Wissenschaft emporblühte.
Im weitern Verlauf aber verfiel die weltliche Macht der 'abba-
sidischen Herrscher, die Statthalter der einzelnen Provinzen
machten sich selbständig, urfd 1258 wurde Bagdad durch
einen Enkel des Mongolen Dschengis-Chan erobert und da-
durch der Dynastie der 'Abbasiden nach fünfhundertjährigem
Bestehen ein Ende bereitet.
Schon längst war infolge der Erschlaffung der Zentral-
gewalt in Bagdad und der Bestrebungen der Statthalter in
den einzelnen Provinzen, sich unabhängig zu machen, das
grofse Chalifenreich in eine Anzahl selbständiger Herrschaften
zerfallen; schon der jüngste Sohn Härün al-Raschids gründete
eine als Leibgarde dienende türkische Truppe; allmählich be-
ginnen diese Söldner eine politische Rolle zu spielen; ihnen
folgen türkische Horden, unter ihnen namentlich die nach
ihrem Führer Seldschuk (um das Jahr 1000) sich nennenden
türkischen Seldschuken. Ein Zweig, derselben, die Os-
manen, der im westlichen Kleinasien (in Eskischehir, dem
alten Dorylaeum) festen Fufs gefafst hatte, bedrohte mit Hilfe
der von ihnen gebildeten und w^ohlorganisierten Streitmacht
der Janitscharen das immer mehr eingeengte, schliefslich nur
noch auf Konstantinopel und seine Umgebung beschränkte
400 ^^ • Diß Philosophie der Araber.
Byzantinische Reich, bis auch dieses nach fünfzigtägigem^
hartnäckigem Kampfe am 29, Mai 1453 erstürmt und dadurch
dem Oströmischen Reiche ein Ende gemacht wurde. Bald
darauf wurden auch die Inseln des Ageischen Meeres und das
griechische Festland von den Türken erobert.
Der umgekehrte Prozefs spielte sich in Spanien ab, welches
unter der Herrschaft der Omaijaden zu grofser Blüte gelangt
war, während sich im Norden, in Asturien, Leon und Navarra,
kleine christliche Reiche bildeten. Diesen gelang es unter
fortwährenden Kämpfen, in welchen die von der Sage ver-
herrlichte Gestalt des von den Arabern Cid (d. i. Saijid, „Herr")
genannten Don Rodrigo ("f 1099 zu Valencia, sein Grab in
Burgos) hervorragt, 1236 Cordoba, 1248 Sevilla zu erobern
und dem letzten noch bestehenden Chalifat zu Granada 1492
ein Ende zu bereiten, worauf sich sein letzter König Abu
'Abdallah nach Afrika zurückzog.
2. Die Philosophie der Araber im Osten.
Indem der Islam so viele Länder von alter und hoher
Zivilisation überflutete, konnte' er sich, ungeachtet der bru-
talen Selbstgenügsamkeit, mit der er sich überall einführte,
doch dem Einflüsse ihrer überlegenen Kultur nicht entziehen,
und wenn er auch nicht in dem Mafse wie Jahrtausende vor-
her die Babylonier von den überwundenen Sumerern (oben,
Phil. d. Bibel, S. 37 fg.) oder wie Jahrhunderte vorher die
Römer von den besiegten Griechen (oben, Phil. d. Griechen,
S. 5) in geistige Abhängigkeit von den durch sie eroberten
Ländern geriet, so war es doch zu erwarten und sehr be-
greiflich, dafs die dem Byzantinischen Reiche entrissenen,
von althellenischer Bildung durchtränkten Länder, namentlich
Syrien und Ägypten, auf die bessern Elemente des Moham-
medanismus und, nachdem der erste Fanatismus verraucht
war, in den verschiedenen Zweigen der griechischen Wissen-
schaft eine mächtige Anziehung ausübten.
Zunächst war es die Wertschätzung der griechischen
Naturwissenschaft, namentlich der Medizin, durch welche be-
stimmt christliche Nestorianer und Monophysiten in Syrien
die naturwissenschaftlichen und weiterhin auch die eigentlich
2. Die Philosophie dor Araber im Osten. 4()1
philosophischen Schriften des Aristoteles und anderer aus dem
Griechischen ins Syrische und aus diesem ins Arabische,
später auch direkt aus dem Griechischen ins Arabische über-
setzten.
Diesen griechischen Einflüssen kam das schon vorher bei
den bessern Elementen des Islam bestehende Verlangen nach
wissenschaftlicher Begründung der islamischen Theologie ent-
gegen. Schon früh war im Islam, eine Richtung hervor-
getreten, welche sich des kaläm (Diskussion), d. h. der wissen-
schaftlichen Bearbeitung der islamischen Dogmen, beflissen
hatte. Ihre Anhänger hiefsen Mittaliallimiin (Besprecher, For-
scher), aus deren Kreisen die strengere Richtung der MiCta-
nla, der „sich Absondernden", hervorging, ursprünglich so
benannt, weil sie sich vom Weltleben einer asketischen Lebens-
führung zuwandten, während man später, als rationalistische
Elemente in dieser Richtung sich immer mehr geltend zu machen
anfingen, den Namen Mutaziliten so deutete, dafs er „Se-
paratisten" oder „Häretiker" bezeichnete. Ihnen traten dann
weiter die nach al-Asch^ari (873 — 935) sich nennenden Ascha-
riten entgegen, welche zum orthodoxen Dogma der islamischen
Kirche zurücklenkten und sowohl gegen die neuplatonische
Emanationslehre als auch gegen die aristotelischen An-
schauungen von der Ewigkeit der Welt und der Unverbrüch-
lichkeit der Naturgesetze im Interesse ihres die Welt nach
freiem Willen erschaffenden und ihre kausalen Zusammen-
hänge willkürlich durchbrechenden Allah scharfe Opposition
machten.
Inzwischen waren unter der Herrschaft der prachtliebenden,
die Künste und Wissenschaften befördernden Chalifen am Hofe
zu Bagdad, eines Harun al- Raschid (780 — 809) und seiner
Nachfolger, namentlich des Al-Ma'mün (813 — 833), die neu-
platonischen und aristotelischen Schriften durch arabische
Übersetzungen immer tiefer in die Kreise der islamischen
Studien eingedrungen, und es entwickelte sich im Gegensatze
zu jenen orthodoxen Strömungen und in vielfacher Anfeindung
durch dieselben eine eigentümliche Nachblüte der griechischen
Philosophie, bei welcher, ähnlich wie im Abendlande, in einer
ersten Periode (Al-Kindi, Al-Färäbi, die lautern Brüder} der
Deussex, Geschiebte der Philosophie. II, ii,2. 26
402 " ^^ • I'iP Philosophie der Araber.
Neuplatonismus und in einer zweiten (Avicenna, Al-Ghazel) der
Aristotelismus im Vordergrunde der. Bestrebungen stand, nur
dafs die Scheidung keine so strenge wie bei den christlichen
Scholastikern war, indem bei den Arabern auch in jener ersten
Periode Aristoteles als „der Philosoph" den Namen und das
Schema lieferte, in welches eingebettet die neuplatonischen
Anschauungen erschienen, wie denn namentlich zwei neu-
platonische Schriften, das Buch „de causis" und die „Theo-
logie des Aristoteles" für echt aristotelisch galten, während
auch in der zweiten Periode der durch die Augen eines Por-
phyrius und Themistius gesehene Aristotelismus sich nicht
rein, sondern in vielfacher Durchtränkung mit neuplatonischen
Elementen entwickelte. Wir wollen die Haupterscheinungen
dieser eklektischen Mischphilosophie in der chronologischen
Reihenfolge ihres Auftretens kurz überblicken.
Al-Kindi, so benannt nach dem vornehmen Adels-
geschlecht, dem er entstammt war, und gefeiert als „der
Philosoph der Araber", wurde geboren zu Basra gegen 800 p. C.
und lehrte zu Bagdad die Mathematik, welche er für die Grund-
lage aller Wissenschaft erklärte, dazu Astronomie mit Ein-
schlufs der Astrologie, Medizin und Philosophie. Von seinen
philosophischen Schriften hat sich nur wenig erhalten, aber
seine Grundanschauung von einer durchgängigen Wechsel-
wirkung und Harmonie aller Verhältnisse des Weltalls im
Gröfsten wie im Kleinsten, vermöge deren jedes einzelne Ding,
vollständig durchschaut, ein Spiegel des ganzen Universums
sein würde, läfst keinen Zweifel darüber, dafs er wesentlich
unter dem Einflüsse des Neuplatonismus steht.
Noch nicht auf Al-Kindi, wohl aber auf die nach ihm zu
besprechenden islamischen Philosophen, Al-Färabi, die lautern
Brüder und Al-Ghazel, ist neben dem Neuplatonismus noch
eine andere Form des Mystizismus von Einflufs gewesen,
welche unter dem Namen des Süfismus in der mohamme-
danischen Welt eine weite Verbreitung und in den verschie-
denen Orden der Derwische ihren äufsern Ausdruck und eine
gewisse Organisation gefunden hat. Es liegt im Begriffe der
Gottheit, welche Vorstellung man auch übrigens von ihr haben
mag, dafs der edler und tiefer angelegte Mensch ein Ver-
'2. Die riiilosopliic Jcr Aralior im Osten. 40,'>
langen empfindet, sich in Gedanken mit ihr zu beschäftigen
und so zu einer immer innigem Gemeinschaft, ja schliefslich
zur völligen Einswerdung mit ihr zu gelangen. Derartige
Bestrebungen mögen auch im Islam schon früh hervorgetreten
sein und einen äufsern Ausdruck darin gefunden haben, dafs
diejenigen, %velche nach einer solchen Vergottung strebten
und naturgemäfs in dem Mafse, in welchem dies geschah,
sich von der We\i und der Anhänglichkeit an sie lossagten,
als Zeichen ihrer innern Freiheit von der Welt sich in ein
härenes Gewand aus einfacher Wolle kleideten und daher
Süfi's, d. h. „Wollträger", genannt wurden. Eine solche
Absonderung von der Welt, zuerst von Einzelnen aus eigenem
Herzensdrange angestrebt, führte naturgemäfs zu einem Zu-
sammenschlufs der Gleichgesinnten und, um dem Spott der
Weltkinder wie auch der Verfolgung durch die Orthodoxie
zu entgehen, zu einer Geheimhaltung ihrer Verbindung. Eine
mächtige Förderung konnte der Süfismus von Westen her
durch den Neuplatonismus, von Osten her durch die Vedänta-
philosophie und den Buddhismus erfahren. Welcher dieser
beiden Einflüsse, ob der griechische oder der indische, auf
die Entwicklung des Süfitums am meisten eingewirkt hat,
ist bei der innern Verwandtschaft der griechischen und indi-
schen Mystik zurzeit noch nicht sicher zu bestimmen. Da
aber manches darauf hinweist, den Ursprung des Süfismus
in Turkestan und an den westlichen Abhängen des Hindu-
kusch zu suchen, so dürfte der indische Einflufs der über-
wiegende, vielleicht der allein mafsgebende gewesen sein.
Hierfür spricht schon zunächst das Gewicht, welches im Süfis-
mus ebenso wie im Vedänta auf das Erlangen eines geeigneten
Lehrers gelegt wird, ferner auch, dafs die angestrebte Eins-
werdung ftauhkJJ mit Gott, welcher mit Vorliebe nicht als
Allah, sondern als ÄlIjaM, „die Wahrheit, die Realität", ent-
sprechend dem indischen satyam, bezeichnet wird, wie in In-
dien auf dem Wege der Erkenntnis und, wie ebendort seit
den Zeiten der Bhagavadgita, auf dem der liebenden Hingabe
erreicht wird. Zu diesem Ziele führt eine stufenweise Be-
freiung von den Fesseln der Welt, als welche Besitz, Ehre,
teilweise wohl auch Familie gelten. Der asketische Verzicht
26*
404 ^^- Di^ Philosophie der Araber.
auf diese irdischen Güter bewirkt eine innere Erleuchtung,
durch welche man schliefslich zum FancV, dem Entschwinden
oder Entwerden (vergleichbar dem brahmanischen brahma-
inrvänam, dem buddhistischen uirvanam) gelangt, bestehend
in einer Befreiung von der Aufsenwelt, von der eigenen Indi-
vidualität und schliefslich von dem Bewufstsein dieser Be-
freiung selbst. — Seit dem Jahre 800 gewann der Süfismus
vom Osten der islamischen Welt aus immer gröfsere Aus-
breitung nach Westen zu; wir finden ihn in Bagdad, sodann
in Syrien und Ägypten, und von hier aus gelangte er seit
900 p. C. über Afrika schliefslich nach Spanien, wo der um
1165 zu Murcia im südöstlichen Spanien geborene Ibn 'Arabi
als einer der gröfsten Mystiker gefeiert wird. Zu einer äufsern
Organisation und zum Teile Degeneration gelangte der Süfis-
mus in den zahlreichen Orden der Derwische. Wie tief seine
Mystik auch auf Dichter wie Dscheläl eddin Rümi (ge-
boren 1207 zu Balch) und Hafis (geboren gegen 1300 zu
Schiraz) eingewirkt hat, ist bekannt.
Al-Färäbi wurde geboren kurz vor 900, studierte und
lehrte in Bagdad, später in Aleppo und Damaskus, wo er 950
starb. Er gilt neben Al-Kindi als ,,der zweite Philosoph".
Ursprünglich stand er unter dem Einfiufs des Süfismus,
später hat er die von diesem gelehrte Gott werdung als un-
erreichbar aufgegeben und sich mit einer platonisch -plotini-
schen Gottverähnlichung begnügt. Die schon unter Al-Kindi's
Mitwirkung ins Arabische übersetzte „Theologie des Aristo-
teles" (in W^ahrheit aus einigen der schönsten Kapiteln des
Plotin bestehend) hält auch Al-Färäbi für echt aristotelisch,
und dementsprechend ist sein ganzes System, wenn man es
so nennen darf, ein seltsames Gemisch aristotelischer und
neuplatonischer Gedanken. In der Logik hält er sich an
Aristoteles; sie ist als logica docens eine selbständig für sich
bestehende Disziplin, während sie für den vtefis logiciis das
grofse Instrument ist zur Erkenntnis der Wahrheit. Die Uni-
versalia bestehen nur in den Dingen, nicht aufser ihnen, von
hahcnt esse separatum; insofern wird das Allgemeine in dem
Einzelnen durch die Sinnes Wahrnehmung perzipiert, während
andererseits das Einzelne seiner Form nach schon im Intellekt
2. Die Philosophie der Araber im Osten. 405
»
vorhanden ist. Der von Aristoteles gelehrten, mit dem Dogma
des Islam unverträglichen Ewigkeit der Welt weicht Al-Färäbi
aus und setzt an ihre Stelle eine neuplatonische Emanation,
gedacht als einen zeitlichen Prozefs. Für das Dasein Gottes
führt er den kosmologischen Beweis im Anschlufs an Aristo-
teles. Damit das Potentielle zum Aktuellen werden konnte,
war ein vorher vorhandenes Aktuelles erforderlich, und dieses
ist Gott; er ist wie bei Aristoteles reines Denken, sowie Denk-
objekt und Denksubjekt, intelligcniia, intelligihile und intelligens.
Obgleich Al-Färäbi somit den Intellekt schon in das Urw^esen
verlegt, läfst er doch in neuplatonischer Weise aus diesem
Urwesen das Intellektuelle, aus diesem das Psychische, aus
diesem die Körperwelt emanieren. Da alles aus Gott stammt,
welcher der Gute ist, so ist auch alles gut. Der Körperwelt
gehört auch noch der intdledns passivus an ; er wird zum
activus durch Einstrahlung des von aufsen • kommenden in-
idh'ctus activus, welcher somit acqvisitns [l-oi-T-oi, wie
Alexander Aphrodisiensis lehrt) und seinem Wesen nach im-
materiell und unsterblich ist. Diese neuplatonische Emana-
tionslehre verbindet Al-Färäbi mit einer an Aristoteles an-
knüpfenden physischen Emanation von zehn kosmischen
Sphärengeistern aus Gott, die mit den Engeln des Islam gleich-
gesetzt werden. Die äufserste Sphäre ist die erste Emanation
und daher die vollkommenste, der zehnte, unterste Sphären-
geist ist der Träger des" intcllectus activus, welcher aus ihm
in die Dinge hineinstrahlt.
Neben dem Aristotelismus, Neuplatonismus und Süfismus
macht sich als viertes Moment besonders der Neupythagoreis-
mus mit seinen Zahlenspielereien geltend bei der Brüderschaft
der Lautern, gewöhnlich die lautern Brüder (ichtvän el-
safäj genannt, einer um 950 in Basra gegründeten gelehrten
Gesellschaft mit politischen Hinterabsichten und dem aus-
gesprochenen Zwecke, die Philosophie mit dem Glauben zu
versöhnen, welche trotz ihrer Anfeindung durch die islamische
Orthodoxie und, obgleich ihre Schriften zu Bagdad 1160 öffent-
lich verbrannt wurden, doch mit ihrer von den gelehrten
Aristotelikern gering geschätzten Popularphilosophie in der
islamischen Welt srofse Verbreitung fanden. Aus ihrem Kreise
406 ^^- I^iß rbilosopliie der Araber.
ging eine noch heute vorhandene Enzyklopädie in 51 Ab-
schnitten hervor, welche unter den vier Gruppen der Propä-
deutik und Logik, der Physik und Anthropologie, der Psycho-
logie und der Theologie die Gesamtheit des damaligen Wissens
zusammenfafste. Die vom Islam gelehrte Weltschöpfung und
andere grobsinnliche Anschauungen des Koran werden für
Allegorien erklärt, und an ihre Stelle setzen die lautern
Brüder eine neuplatonische Emanationslehre nach neupytha-
goreischem Schema, indem sie, den neun Grundzahlen ent-
sprechend, neun Stufen der Emanation aufstellen. Aus Gott,
Allah, dem unerkennbaren Einen, emanieren als Zweites der
die Ideen in sich befassende kosmische Intellekt (vcu;), als
Drittes die Allseele ('i'ux.''l)' ^^^ Viertes eine Art materia prima,
die Ideen als räumliche, aber noch stofflose Formen enthaltend,
als Fünftes die materia sccnuda {hvj~i^% 'jayJ, die mit dem
Stoff erfüllten Formen, aber noch ohne Harmonie und Schön-
heit, als Sechstes der xccixor, die kugelförmige, in einzelne
Sphären gegliederte translunare Welt, als Siebentes die als
Naturkraft in dem sublunaren Gebiete wirkende Weltseele,
als Achtes die von der Weltseele durchdrungenen vier Ele-
mente, als Neuntes die Stufenreihe der Minerale, Pflanzen
und Tiere bis hinauf zum Menschen. — Das menschliche
Leben steht unter dem Einflufs der sieben Planeten, welche
das Schicksal nicht nur voraussagen, sondern auch bewirken.
Gute Sterne sind Venus, Jupiter und Sonne, böse Mars, Sa-
turn und Mond, gemischt aus beidem ist Merkur, der Stern
der Bildung und der Wissenschaft, welche als solche sich auf
Gutes und Böses erstreckt. In anderer Hinsicht stehen die
sieben Lebensstadien der Reihe nach unter dem Einflufs der
sieben Planeten; der Mond beherrscht das körperliche Wachs-
tum, Merkur die Ausbildung des Geistes, Venus das Liebes-
leben, die Sonne gewährt Herrschaft, Reichtum, Familie, Mars
Tapferkeit und Edelmut, Jupiter leitet die religiöse Vorberei-
tung auf das Jenseits und Saturn führt in das Jenseits hin-
über. Bricht das Leben vor der Zeit ab, so kann Belehrung
durch die Propheten diese Einflüsse ersetzen. An die indischen
ÄQramas wie an die platonischen Erziehungsstadien erinnert
die Art, wie das menschliche Leben in vier Stufen verlaufen
2. Die l'liilosophie der Araber im Osten. 407
soll: die erste, vom 15. bis 30. Jahre, soll der allgemeinen
Bildung gewidmet sein, die zweite, vom oO. bis 40., der
Philosophie, die dritte, vom. 40. bis 50., der prophetischen
Ausbildung, und in der vierten, vom öO. Jahre ab, ist der so
Gebildete über Natur, Belehrung und Gesetz erhaben. Der
Mensch ist ein Mikrokosmos, seine Seele ein Ausflufs aus der
Weltseele; die Tugend besteht in der Liebe zu Gott und zu
den Menschen, die Askese dient zur Befreiung von dem Körper
und seinen Mängeln, die Höllenstrafen werden auf die Leiden
des Lebens gedeutet; das Ziel ist, wäe im Süfismus, die Rück-
kehr der Seele in Gott. Der Tod ist die Geburt der Seele,
die Auferstehung am jüngsten Tage das Eingehen der Einzel-
seele in die Allseele und durch sie in Gott.
Avicenna film ShiaJ wurde geboren 080 unweit Bochara
in Turkestan. Schon in seiner Jugend zeichnete er sich als
Arzt durch glückliche Heilungen aus und als Philosoph durch
Abfassung einer philosophischen Enzyklopädie. Sein viel-
bewegtes Leben führte ihn zu verschiedenen staatlichen Stel-
lungen an kleinen Fürstenhöfen, während er daneben als Lehrer
der Philosophie und Medizin wirkte. Eine Zeitlang war er
Wesir des Fürsten von Hamadan (Ekbatana), trat dann in
Dienste des Fürsten von Ispahan und kehrte, nachdem durch
diesen Hamadan erobert w^ar, dorthin zurück, wo er schon
1037 starb, und wo noch heute sein Grab gezeigt wird. So
sehr auch er im übrigen in den aus Neuplatonismus und
Aristotelismus gemischten Traditionen seiner Zeit befangen
war, widersprach er doch der neuplatonischen Lehre einer
Emanation auch der Materie aus Gott, lehrte im Gegensatz
dazu mit Aristoteles die Ewigkeit von Zeit, Materie und Be-
wegung, und dieser eine Schritt ist entscheidend genug, um
ihn als den Hauptvertreter des reinem Aristotelismus im Osten
der islamischen Welt zu bezeichnen. Die Folge war eine
scharfe Scheidung der Materie als der blofsen Potentialität
von der von Gott herrührenden Aktualität des Geistes; — Aus
Gott emaniert in neuplatonischer Weise die intelligentia x^rima.
der vcü;: des Plotin, w^elcher sich durch eine Reihe sphärischer
Geister bis herab zur menschlichen Seele fortjjflanzt , welche
im Vorderhirn die Sinneswahrnehmung, im Mittelhirn die
408 ^^ • I*i^ Philosophie der Araber.
Apperzeption, im Hinterhirn das Gedächtnis bewirkt, während
der götthche aktive Intellekt ihr entweder durch Belehrung
oder auch durch Erleuchtung von oben zuteil wird. Zwar
wird nach dem Schema der Kausalität Gott als die schaffende
und erhaltende Ursache von allem, dem Geistigen, Seelischen
und auch der Materie, festgehalten, aber diese Lehre mit dem
Satze von der Ewigkeit der Materie dadurch in Einklang ge-
bracht, dafs die Kausalität zur Identität umgedeutet wird, in-
dem die Welt als Wirkung mit Gott als Ursache gleichzeitig
sein und die Kausalität nur eine innere Abhängigkeit alles
andern von Gott bedeuten soll. In betreff der Universalia lehrt
mit vielen andern auch Avicenna, dafs sie dreifach bestehen,
iivte res als Ideen im Geiste Gottes, in rebus, sofern sie in
den Dingen verwirklicht sind, und post res, sofern der mensch-
liche Geist sie durch Abstraktion aus den Dingen gewinnt.
Die ursprüngliche Betätigung des Geistes, seine inteniio prima,
besteht in der Betrachtung der Dinge, in zweiter Linie be-
schäftigt er sich vermöge der intcntio sccunda mit den Gesetzen
des eigenen Denkens, woraus die Logik hervorgeht, in welcher
Avicenna sich an Aristoteles anschliefst. — Von seifen der Ortho-
doxie wurde Avicenna bekämpft und seine Lehre verurteilt. Seine
philosophische Enzyklopädie wurde 1160 zu Bagdad zugleich
mit der der lautern Brüder auf Befehl des Chalifen verbrannt.
Schon vor diesen gewaltsamen Exekutionen waren die Be-
mühungen der Philosophen um eine rationelle Weltanschauung
auch mit den Waffen der Wissenschaft zugunsten der theo-
logischen Orthodoxie bekämpft worden. Der Mann, der im
fernen Osten theologische Rechtgläubigkeit mit philosophi-
schem Skeptizismus verband und daher hier eine ähnliche
Stellung einnahm wie Duns Scotus in der christlichen Scho-
lastik, war Al-Ghazel fAl-Gliazäli) , geboren zu Tüs an der
Nordostgrenze Persiens 1059, zu Nischabur in Philosophie und
Süfismus gebildet, 1091—95 Professor in Bagdad, dann seine
Stellung aufgebend, um auf Reisen Syrien, Jerusalem kurz
vor der Einnahme durch die Kreuzfahrer, Alexandria, Mekka
und Medina zu besuchen und dann in seine Heimatstadt zurück-
zukehren, wo er als Süfi IUI starb. Zwei auch ins Lateinische
(die erste schon vor 1200) übersetzte Hauptschriften von ihm
2. Die rbildsopliie der Arnlier im Osten. 409
sind vorhanden, in der ersten stellt er die philosophischen
Lehren im Anschlufs an Al-Faräbi und Avicenna zusammen,
wälirend er in der zweiten ihre Widerlegung zugunsten der
Orthodoxie unternimmt. Die erste Schrift „Die Zielpunkte der
Philosophen" {Maqäfid al-faläsifaj gibt eine objektive, offen-
bar mit Liebe verfal'ste Darstellung der philosophischen Haupt-
lehren, verfafst, wie Alghazel zur Beschwichtigung seines Ge-
wissens und zur Rechtfertigung vor der Welt erklärte, in der
Absicht, dieselben zu widerlegen. Diese Widerlegung lieferte
er sodann in seiner berühmten desirudio phüosophorum fTahä-
ftit al-fcdäsifaj, in welcher er namentlich die drei Hauptlehren
von der Ewigkeit der Welt, der Unverbrüchlichkeit des Kausal-
zusammenhanges und einer blofs geistigen Auferstehung der
Seele mit den von der Philosophie selbst gelieferten Wafi'en
bekämpft. Für den weitern Kreis der Gebildeten schrieb er
sein heute noch viel gelesenes Werk „Wiederbelebung der
Wissenschaften der Religion" ("J/ijä' 'idfini al-dinj. Da die
Welt nach den Aristotelikern räumlich begrenzt ist, so mufs
sie es auch zeitlich sein, mufs von Allah zu einer bestimmten
Zeit aus Nichts geschafien worden sein. Da schon der mensch-
liche Wille frei ist, so mufs es um so viel mehr der göttliche
sein, und auf dieser Freiheit Gottes beruht es, dafs er die
Kausalitätskette durch Wunder und Vorsehung im einzelnen
zu durchbrechen vermag. Seine Allwissenheit ist kein zeit-
liches Vorherwissen, bei welchem alles Künftige schon fest-
stehen würde, sondern ein zeitloses, welches die Freiheit des
göttlichen wie des menschlichen Willens nicht ausschliefsen
soll. Die Auferstehung des Leibes ist als die ümkleidung mit
einem himmlischen Leibe zu denken. Nach den Philosophen
will Gott die Welt, weil er sie als das Beste erkannt hat;
nach Alghazel erkennt Gott die Welt als das Beste, weil und
nachdem er sie gewollt hat. So verlegt er, ähnlich wie Duns
Scotus im Abendlande, den Schwerpunkt aus dem Erkennen
in das Wollen. Die intellektualistische Konstruktion der
Dogmen durch die Philosophen, auch wo sie gut gemeint sei,
schädige, wie er sagt, die Religion; diese erleide gröfsern
Schaden durch den, der sie auf fremdem Wege unterstütze,
als durch den, welcher sie auf ihrem eigenen Wege angreife.
410 XV. . Die rhilosopliie der Araber.
3. Die Philosophie der Araber im Westen.
Nach dem Sturz der Omaijaden im Osten (750) war ein
Abkömmling ihrer Dynastie, Mu'awija, nach Spanien gelangt
und hatte sich zum Emir von Andalusien mit der Hauptstadt
Cordova gemacht. Unter seinen Nachfolgern, namentheh unter
^Ahd al-RahmanIII.(912— 961)undal-HakamII.(9()l— 97(i»,
welche den Chalifentitel annahmen, entwickelte sich, wie ii\i
Osten im 9., so in Spanien im 10. Jahrhundert eine hohe
Blüte islamischer Kultur, bis die Berber 1013 Cordova er-
oberten und das spanische Chalifenreich in eine Anzahl kleinerer
Fürstentümer zertrümmerten, an deren Höfen, wie so oft in
der Weltgeschichte, erst nach dem Zerfall der politischen
Gröfse die geistige Kultur zu ihrem Höhepunkt gelangte.
Schon vorher hatte sich durch Studienreisen nach dem Osten
und durch gefeierte, von dort kommende Lehrer der Strom
östlicher Weisheit nach Spanien ergossen, wie denn bereits
al-Hakam eine Bibliothek von 400000 Bänden angelegt haben
soll. Zunächst war es die auf griechischen Vorbildern be-
ruhende Mathematik, Naturwissenschaft und Medizin, welche
auch in Spanien ihren Einzug hielt; später erst erwachte auch
das Interesse für die Philosophie, welche hier nicht wie im
Orient bedacht war, auf die religiösen Vorstellungen der Massen
reformierend zu wirken, sondern wesentlich das Privilegium
einzelner bevorzugter Geister bildete, wie solche uns in Avem-
pace, Abubacer und Averro<^'S im folgenden begegnen werden.
Avempace flhii BäddscJiaJ, geboren kurz vor 1100 zu
Saragossa am Ebro, wurde trotz den Anfeindungen der Menge
Minister des almoravidischen Statthalters in Saragossa, gin»
nach dessen Eroberung (1118) nach Sevilla, später nach Gra-
nada und schliefslich nach Fez, wo er schon 1138 starb, an-
geblich vergiftet durch einen neidischen Arzt. Von Armut
und Vereinsamung gedrückt, fühlte er sich all sein Leben lang
unglücklich. Neben Kommentaren zu Aristoteles schrieb er
als Hauptwerk die „Leitung des Einsamen'^ (Tadlnr (d-inuta-
wahhidj^ in welchem er, in nahem Anschlufs an Al-P'ärabi und
unter Ablehnung des volkstümlichen, durch Alghazel vertretenen
Glaubens, den Weg aufzeigte, um von der stofflichen, von der
.'). Die riül(tsoiiliio der Araber im Westen. 411
Form durchdrungenen Materie zum l^sychischen als einer
Mittelstufe und von ihm zum reinen, stofflosen Geiste sich zu
erheben und mit ihm eins zu werden. Die Wahrnehmung er-
klärt er für trüglich, über das Fortleben der Seele äufsert er
sich zweifelnd, ewig ist nur der mit dem höchsten Geiste sich
vereinigende Menschengeist, dem der denkende Mensch, von
der Menge sich isolierend und nur mit vereinzelten Weisen
sich zusammenschliefsend, auf dem Wege des vernunftmäfsigen
Handelns und der intellektuellen Bildung stufenweise sich an-
nähert, um in der völligen Einswerdung mit ihm die höchste
Seligkeit zu geniefsen.
In nahem Anschlufs an Avempace entwickelt und er-
w^eitert dessen Gedanken in der Form eines Romans sein
jüngerer Zeitgenosse Abu Bacer fÄbu JBekr Ihn TofailJ^
welcher, geboren um 1100 zu Guadix (Wadi Asch), einem
Städtchen Andalusiens, zuerst als Sekretär in Granada, dann
als Wesir des Abu Ja'qüb zu Fez in Marokko lebte, wo er
1185 starb. Das einzige von ihm erhaltene Werk ist ein
philosophischer Roman unter dem seltsamen Titel: „DerLebende,^
Sohn des Wachenden" fljajj Ihn JaqdhavJ, lateinisch übersetzt
unter dem Titel Fliilosoplnis mdodidadiis. Auf einer menschen-
bewohnten Insel leben zwei Philosophen, Salaman, welcher
durch Anbequemung an die Volksreligion Herrschaft über das
Volk gewinnt, und Asal, der für seinen reinern philosophischen
Gedanken kein Verständnis findet und auf eine unbewohnte-
Insel auswandert. Hier findet er den eigentlichen Helden des
Romans Hajj (den Lebenden), welcher, nicht von Menschen
erzeugt und von einer Gazelle grofsgezogen , sich, etwa wie
Robinson, eine eigene Existenzform geschaflen hat und auf
dem Wege des Nachdenkens über die Wunder der Xatur in
7 mal 7 Jahren selbständig zur höchsten Erkenntnis gelangt
ist. Von Asal erhält er Nachricht über die von Menschen
bewohnte Insel und -fährt hinüber, um dem Volke seine
philosophischen Gedanken mitzuteilen, findet aber dafür kein
Verständnis und kehrt in die Einsamkeit zurück. Der Grund-
gedanke ist derselbe wie bei Avempace: der Weise mufs der
Menge ihre mythischen Anscharuungen lassen und sich in der
Einsamkeit von Stufe zu Stufe zur Welt der Ideen und schliefs-
412 XV. Die Philosoi)bie der Araber.
}ich zur Einswerdung mit Gott erheben, welche Abu Bacer,
hierin über Avempace hinausgehend, in einer mystischen
Ekstase findet, in der die ganze vielheithche Welt verschwindet
und nur noch Gott übrig bleibt, in der Einheit mit welchem
der Weise zum Genufs der höchsten Seligkeit gelangt.
Der bedeutendste und auf die christlichen Scholastiker
einflufsreichste Interpret des Aristoteles in der islamischen
Welt war Averroes flbn TloschdJ, geboren 1126 zu Cordova
in einer richterlichen Familie, in seiner Jugend allseitig ge-
bildet im theologischen, juristischen, medizinischen und philo-
sophischen Wissen; durch seinen Lehrer, Freund und Pro-
tektor Ibn Tofail (Abubacer) wurde er schon 1153 dem Cha-
lifen Abu Ja'kub empfohlen als der berufenste Gelehrte, die
Schriften des Aristoteles zu analysieren, wirkte seit 11G9 als
Richter in Sevilla, Cordova und Marokko, gestützt durch die
Gunst des Chalifen Abu Ja'kub und seines Nachfolgers Almansor
(1184 — 1198), bis unter dem letztern der Fanatismus der Ortho-
doxen die Verweisung des Averroes in das Judenstädtchen
Elisena (Lucena) bei Cordova erwirkte, von wo er noch ein-
mal nach Marokko zurückkehrte und dort kurz darauf im
Jahre 1198 starb. Unter seinen Schriften, die grofsenteils
nur in lateinischer Übersetzung auf uns gekommen sind, ist
aufser zahlreichen Kommentaren zu den, dem Averroes nur in
arabischer Übersetzung zugänglichen Schriften des Aristoteles
am berühmtesten seine gegen des Alghazel desfruciio pltiloso-
plionmi ftaliäfut al-faläsifaj gerichtete Gegenschrift dcstrnctio
dcstructionis {tahäfid al-fahäfnfj, in welcher er, ohne schon
die Theorie von der doppelten Wahrheit zu vertreten, doch
eine scharfe Grenze zwischen dem den Bedürfnissen der Menge
entsprechenden Volksglauben und der auf unbefangenes Denken
sich gründenden philosophischen Wahrheit zieht, als deren
Inkarnation und höchster Vertreter ihm Aristoteles gilt, dessen
Auffassung durch Alghazel er für oberflächlich, sophistisch und
unhistorisch erklärt. Obgleich auch Averroes, namentlich in
seiner Theorie von den himmlischen, durch Intellekte regierten
Sphären, in den Traditionen der Araber befangen bleibt, so
vertritt er doch einen reinern. Aristotelismus, indem er mit
Bestimmtheit und ohne Abschwächung sich zu den Lehren
3. Die Philosopliie der Aral)er im Westen. 413
von der Ewigkeit der Welt, der Unvergänglichkeit der von
jeher bestehenden und potentiell schon die Formen in sich
enthaltenden Materie, der Unverbrüchlichkeit des Kausal-
zusammenhangs und der Vernichtung der individuellen Seele
durch den Tod bekennt. Unsterblich ist nach ihm nur der
eine, allen Menschen gemeinsame iritdledus activus (voü? ttcit,-
Tixcr); er verhält sich zu dem passiven, individuellen Intellekt
wie die Sonne zum Gesicht, und die Individuen nehmen nur,
sofern sie ihn besitzen, an seiner Unsterblichkeit teil, eine
Lehre, welche als die nnifas intcVccUis von christlichen Scho-
lastikern, wie Albertus Magnus und Thomas von Aquino, mit
Heftigkeit bekämpft und von dem Papste Leo X. mit dem
Anathema belegt würde.
XVI. Die Philosophie der Juden.
1. Das Schicksal der Juden im Mittelalter.
Schon früh hatten sich die Juden, infolge der traurigen
Verhältnisse im Mutterlande, in allen Teilen des grofsen Rö-
mischen Weltreiches angesiedelt, bis dann nach der Zerstörung
Jerusalems durch Titus (70 p. C.) und Niederwerfung des
letzten Aufstandes des Bar-Cochba (135 p. C.) unter Hadrian
der nationale Bestand des jüdischen Volkes, so viel davon
noch vorhanden war, völlig aufgelöst, und die Juden über alle
Länder der zivilisierten Welt zerstreut wurden. Aber sehr
merkwürdig und in der Weltgeschichte einzig dastehend ist
es, dafs die Juden darum doch nicht von der umwohnenden
Bevölkerung allmählich aufgesogen wurden und mit ihr ver-
schmolzen, sondern sich in ihrer Eigenart durch alle Jahr-
hunderte bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Der Grund
liegt wohl darin, dafs dieses Volk, seines nationalen Zusammen-
hangs beraubt, sich um so fester an das anklammerte, was
ihm davon noch übrig geblieben w^ar, an seine Sprache und
heilige Literatur, seine Religion und seine durch diese be-
dingten Lebensgewohnheiten. Immer noch sich für das aus-
erwählte Volk Gottes haltend, immer noch auf den verheifsenen
Messias hoffend, bildeten sie eine Nation unter den Nationen,
414 XVI. L)ie Philosophie der Juden.
hielten durch alle Länder hindurch mit einander zusammen
und sonderten sich nicht ohne Hochmut von der Bevölkerung
ab, unter welcher sie lebten. Die Folge war, dafs statt des
Mitleids, welches ihr Schicksal verdient hätte, statt der Grofs-
mut, mit welcher man sonst dem Fremden und Schwachen
entgegenzukommen pflegt, fast überall eine tiefergehende Ab-
neigung gegen diese fremden Eindringlinge sich bildete, welche
■durch die dem Menschen wie dem Tiere eingepflanzten Rassen-
instinkte nur noch vermehrt wurde. Hierzu kam, dafs der
Jude, im BeM^ufstsein seiner Vereinsamung und prekären Lage,
sich zu Mäfsigkeit, Fleifs und Sparsamkeit angetrieben fühlte
und so nicht selten zu einem Wohlstande gelangte, welcher
den Neid und die Begehrlichkeit der umwohnenden Bevölke-
rung erweckte.
Erträghch, trotz solcher gelegentlichen Bedrückungen, von
denen Philo Judaeus in seiner Icgatio ad Cajum ein Beispiel
bietet, war die Stellung der Juden während der ersten drei
Jahrhunderte unserer Zeitrechnung im weiten Römischen Reiche,
erträglicher jedenfalls als die der Christen, welche nicht wie die
Juden durch alte, schon von Julius Cäsar herrührende Privi-
legien in der Ausübung ihrer Religion geschützt waren. Noch
313 wurde durch das Edikt von Mailand die Rechtsgleichheit
aller Untertanen, somit auch der Juden, durch Konstantin ge-
sichert. Schwerere Zeiten aber kamen über sie, nachdem das
Christentum Staatsre]io;ion geworden war, und die auf Julian
gesetzten Hoffnungen durch dessen baldigen Tod vereitelt
wurden. Der Zusammenbruch des Weströmischen Reichen
brachte ihnen einige Erleichterung, da Ostgoten und Longo-
barden in Italien sich duldsam erwiesen, und auch die Lage
in Spanien unter den Westgoten erst nach Übertritt des Königs
Reccared vom arianischen zum katholischen Glauben eine
härtere wurde, bis 711 durch die mohammedanische Eroberung-
bessere Zeiten eintraten. Auch im Oströmischen Reiche kamen
die Bedrückungen der Juden durcli Kaiser wie Justinian I.
und Heraklius mit der Eroberung von Syrien Go8 und Ägypten
1)42 in diesen Provinzen zum Stillstand. In Babylonien waren
viele Juden seit dem babylonischen Exil ansässig geblieben
und standen während der neupersischen Zeit unter einem
1. Das Srhicksal der .IiuUn im Mittelalter. 415
Exilarchen, welchem die Anstellung der Geistlichen und Kichter
sowie die Einziehung der Abgaben oblag. Im übrigen Perser-
reiche wechselten je nach Laune der Herrscher Bedrückung
und Schonung der Juden mit einander. Es entwickelte sich
in den Lehrhäusern der Juden in Babylonien und Palästina
eine rege literarische Tätigkeit, aus welcher der Talmud in
seinen beiden- Formen, der jerusalemischen und der umfang-
reicheren babylonischen hervorging. In beiden Formen be-
steht der Talmud aus der neuhebräisch geschriebenen Mischna,
welche um 200, und der in aramäischer Sprache verfafsten
Gemara, welche um 500 p. C. zum Abschlufs kam. Die
Mischna („Fortsetzung") schliefst sich an den Pentateuch
an und enthält in sechs Abschnitten die bis dahin nur münd-
lich vorhandenen Fortentwicklungen und Ergänzungen des
mosaischen Gesetzes über Landbau, Sabbat, Ehe, Recht-
sprechung, Ritual und Reinheitsvorschriften. An sie schliefst
sich die Gemara, welche aufser Erläuterungen zur Mischna
eine reiche Sammlung gnomischer, historischer und geogfaphi-
scher Elemente befafst und sich zu einer Art Enzyklopädie
des gesamten jüdischen Wissens der damaligen Zeit gestaltet
hat. — Soweit die Juden neben der Thora auch den auf der
rabbinischen Gelehrsamkeit beruhenden Talmud anerkennen,
werden sie Rabbaniten genannt (von Bahhan, einem ver-
stärkten liahhi); ihnen entgegen stellt die Sekte der Karaiten
(von qär(V, lesen), begründet um 761 durch Anan ben David,
von welchen der Talmud verworfen wird, ähnlich wie von
den Schiiten die Sunna und von den Protestanten die Tra-
dition des katholischen Mittelalters. Als Hauptvorkämpfer des
Talmud und der jüdischen Orthodoxie verdient Erwähnung
Sa'adja al-Fajjumi, geboren in Fajjum in Ägypten um 892,
seit 928 Vorsteher der jüdischen Akademie zu Sura in Baby-
lonien. In seinem Hauptwerke ,, Glauben und Wissen" (Emunoili
"Hc-De othJ\ erieidigt er gegen jüdische und christliche Philo-
sophen die Einheit Gottes, Schöpfung aus Nichts, Freiheit des
Willens und Auferstehung des Leibes.
Seit die mohammedanischen Eroberer Persien, Syrien und
Ägypten, Nordafrika und Spanien' in Besitz genommen hatten,
sahen auch die Juden in diesen Ländern bessere Tae-e. Zwar
416 . \yT.. Die Philosophie der Juden.
hatte sieb Mohammed sehr scharf gegen dieselben ausge-
sprochen, aber das Bewufst&ein der Rassengemeinschaft, die
nahe Verwandtschaft der arabischen und hebräischen Sprache
und die Gemeinsamkeit so vieler alttestamentlicher An-
schauungen und Lehren bewirkten zwischen arabischen und
jüdischen, häufig in ihren Schriften der arabischen Sprache
sich bedienenden Denkern eine Annäherung, so dafs nament-
lich in Spanien Hand in Hand mit der Hochblüte der arabi-
schen auch eine solche der jüdischen Literatur und Philosophie
sich entwickelte, wie es denn vorwiegend jüdische, des Ara-
bischen und Lateinischen kundige Gelehrte waren , welche
aristotelische Schriften und deren Kommentare aus dem Ara-
bischen ins Lateinische übertrugen und dadurch den christ-
lichen Scholastikern zugänglich machten.
In den Reichen der Merowinger und Karolinger war die
Behandlung der Juden eine milde, aber seit dem Vertrag von
Verdun (843) wurde in dem Mafse, w4e die Selbständigkeit
der H'ferzöge erstarkte, deren Begehrlichkeit nach dem jüdischen
Besitze geweckt, und durch das Anwachsen der Macht der
mittelalterlichen Kirche das Streben der geistlichen Macht-
haber, die Juden zu bekehren, und ihre Neigung, den Pöbel
gegen sie aufzuregen, immer mehr gesteigert, so dafs die
Lage der Juden, namentlich in den Ländern des westlichen
Europas, von Jahrhundert zu Jahrhundert immer prekärer und
unerträglicher w^urde. Namentlich waren es die Kreuzzüge,
welche den religiösen Fanatismus entfachten und auch dem
Hafs gegen die Juden neue Nahrung gaben; das ^Vüten der
Pest, des „schwarzen Todes" (1348 — 1350), gab den umher-
ziehenden Flagellanten Gelegenheit, dieses Schicksal zu er-
klären als eine Strafe Gottes an dem Volke dafür, dafs es die
,, Christusmörder" unter sich geduldet hatte, und die Sank-
tionierung der Inquisition durch das lateranische Konzil (1215)
und ihre trotz dem Widerstreben des Volkes immer wieder
neu versuchte Einführung in den verschiedenen Ländern,
namentlich in Spanien unter dem Grofsinquisitor Torquemada
(seit 1483), brachte unter andern Opfern des Fanatismus auch
viele tausend Juden auf den Scheiterhaufen. Häufig beschul-
digte man sie der Brunnenvergiftung oder des Schlachtens
1. Das Schicksal der .luden im Mittelalter. 417
von Christenkindern zu rituellen Zwecken; immer wieder wur-
den sie in den einzelnen Ländern ausgewiesen und wieder
zugelassen, wenn die Fürsten in finanziellen Nöten ihrer be-
durften. So wurden die Juden namentlich 1402 aus Spanien,
1493 aus Sicilien und 1498 aus Portugal vertrieben und fanden
eine Zuflucht teils in der Türkei, teils in Holland, Polen und
andern Ländern. Auch die Reformation vermochte, trotz der
Fürsprache Luthers, ihre Lage zunächst nicht zu verbessern;
man zw-ang sie, in Ghettos zusammenzuwohnen, durch äufsere
Abzeichen wie Mantel, Hut und Bart sich von den Christen
zu unterscheiden, und erst das 19. Jahrhundert brachte nach
und nach in den verschiedenen Ländern die Emanzipation der
Juden und ihre Gleichstellung vor dem Gesetze, immer noch
mit gewissen Beschränkungen, zur Durchführung. Eine völlige
Hebung der notwendig daraus sich ergebenden Mifsstände
läfst sich nur von einer vollständigen, durch Übertritt zum
Christentum und Connubium erreichbaren Assimilation erhoffen.
2. Das Judentum unter dem Einflufs des Neuplatonismus.
Entsprechend dem Entwicklungsgang der christlichen und
islamischen Philosophie steht auch die Philosophie der Juden
im Mittelalter teils unter dem Einflüsse des Neuplatonismus,
teils und namentlich in der spätem Zeit unter dem des Aristo-
telismus.
In ersterer Hinsicht tritt uns als merkwürdigste Erschei-
nung die Geheimlehre der Kabbäla (d. h. „Überlieferung", von
qihhel, annehmen, überkommen) entgegen, von welcher zwei
Grundschriften erhalten sind, das Buch Jezirah (von jäzar,
bilden, schaffen) und das Buch Sohar (der Glanz). Über
das Alter dieser beiden Schriften gehen die Meinungen w^eit
aus einander. Nach jüdischer Anschauung soll die Jezirah
von Rabbi Akiba (135 p. C.) und der Sohar von seinem Schüler
Simeon ben Jochai verfafst worden sein, wovon jedoch an-
gesichts ihres Inhalts keine Bede sein kann. Wenn hin-
wiederum die neuere Forschung die Abfassungszeit der Jezirah
auf 900 und des Sohar auf 1200 p. C. oder später herabrückt,
so mag dies für die definitive Redaktion richtig sein, schliefst
aber nicht aus, dafs die in ihnen enthaltenen Gedanken weit
Deussen, Geschichte der Philosophie. ll,ii, 2- 27
418 XVI. Die Philosophie der Juden.
älter sind, und da beide Bücher unverkennbar unter dem Ein-
flüsse neupythagoreischer und neuplatonischer Lehren stehen,
so wird man für die erste Entstehung der in ihnen enthaltenen
Thöorien das Zeitalter annehmen dürfen , wo der Neupy tha-
goreismus und der Neuplatonismus das allgemeine Interesse
beherrschten und auch auf die Kreise der jüdischen Denker
nicht wohl ohne Einwirkung bleiben konnten, also etwa die
Zeit zwischen 200 und 600 p. C, von wo an dann diese Lehren
im Laufe der folgenden Jahrhunderte ihre weitere Ausgestal-
tung erfahren haben mögen.
Das Buch Jezirah gibt sich nach dem Schlufsabschnitt
aus für eine dem Abraham durch Gott gewordene Offenbarung.
Diese Offenbarung besteht in den „32 Wegen der Weisheit",
nämlich den 10 Grundzahlen und den 22 Buchstaben des
hebräischen Alphabets, welche alle, analog den platonischen
Ideen, als schaffende Kräfte erscheinen, durch welche Gott
sein Wesen in der Welt verwirklicht. Hierbei aber sind, wie
es scheint, zwei verschiedene Anschauungen mit einander ver-
schmolzen, eine neupythagoreische, welche in den zehn Grund-
zahlen 1 — 10, und eine jüdische, welche in den 22 Buchstaben
■des hebräischen Alphabets die Prinzipien alles Seienden er-
kennt. In ersterer. Hinsicht emanieren aus dem unerkenn-
baren und unaussprechbaren höchsten Wesen: 1. der Geist
des lebendigen Gottes; 2. der Hauch, der vom Geiste kommt;
in ihn hat er eingegraben und eingehauen die 22 Buchstaben,
die blofs einen einzigen Hauch ausmachen; 3. das Wasser,
das vom Winde kommt, eine chaotische Masse, aus welcher
sich das erdige Element absetzt; 4. das Feuer, das vom Wasser
kommt und aus welchem Gott den Thron seiner Herrlichkeit,
■die himmlischen Bäder, die Seraphim und die dienenden Engel
gemacht hat. Die folgenden sechs Zahlen 5 — 10 repräsen-
tieren die sechs Himmelsgegenden, Zenith und Nadir, Ost und
West, Süd und Nord. Es kann auffallen, dafs erst nach Ema-
nation der Elemente, Luft, Wasser mit Erde und Feuer, die
sechs Himmelsgegenden emanieren, doch läfst sich denken,
dafs zuerst die Elemente entstehen und dann nach den sechs
Richtungen zur Welt ausgespannt werden. Mit diesen neu-
pythagoreischen Anschauungen ist es aber schwer zu vereinen,
!2. Das .ludentum unter dem Einflufs des Xeuplatouismus. 419
dafs weiterhin aus den 22 Buchstaben, welche vorher der
zweiten Emanation eingebettet waren, (nach 3,4) auch Feuer,
AVasser und Haucli, und (nach 4,2) auch die sieben Kardinal-
punkte, nämlich die genannten sechs und die zentrale Gegend
abgeleitet werden. Wir möchten vermuten, dafs diese letztere
Konstruktion auf einer eigentümlich jüdischen Anschauung
beruht, nach welcher das aus den 22 Buchstaben bestehende
göttliche Schöpferwort alle Dinge hervorbringt. Entsprechend
der besondern Heiligkeit der Zahlen 3, 7 und 12 werden die
22 Buchstaben eingeteilt in die drei Mütter (Aleph, Mem,
Schin), die sieben doppelten Buchstaben (Beth und Pe, Gimmel
und Kaph, Daleth und Thav, dazu, um die Siebenzahl voll-
zumachen,' Resch) und die zwölf einfachen Buchstaben, worauf
dann allerlei Verhältnisse im Weltall wie im Menschen diesen
Kategorien der Dreiheit, Siebenheit und Zwölfheit eingeordnet
werden. Hiernach scheint die oben geäufserte Vermutung
gerechtfertigt, dafs wir in der Jezirah die Fusion einer neu-
pythagoreischen, an die zehn Grundzahlen anknüpfenden, und
einer speziell jüdischen Anschauung vor uns haben, welche
in den 22 Buchstaben das aus ihnen bestehende göttliche
Schöpferwort erkennt.
Konnte bei dem Buche Jezirah diese |Fusion aus einem
neupythagoreischen und einem jüdischen Element nur als eine
Vermutung ausgesprochen werden, so ist in betreff des zweiten
Hauptwerkes der Kabbäla, des Buches Sohar, wohl kein
Zweifel daran möglich, dafs es seine Entstehung einer Kom-
bination der neuplatonischen Emanationslehre mit der von
Philo Judaeus vertretenen Anschauung verdankt, nach welcher
zwischen der unerkennbaren, unnahbaren Gottheit und der
Welt ein Mittelwesen eingeschoben wird, welches bei Philo
aus dem Logos und den in ihm enthaltenen Ideen, im Buche
Sohar aus dem Adam Kadmon und den zehn Sephiroth be-
steht, welche sein Wesen ausmachen. An der Spitze des
Systems steht Gott als ,,der Alte der Alten, das Geheimnis
der Geheimnisse, der Verborgene der Verborgenen". Im An-
klang an das griechische axstpov wird er auch bezeichnet als
das Fai Soph, d. h. „das Unendliche".
1. Aus ihm emaniert als erstes Erzeugnis die W^elt Azilah
420 XVI. Die Philosophie der Juden.
(oläm asiläli, etwa: die Verbindungswelt oder auch Wurzel-
welt), und diese eben besteht aus dem Adam Kadmon, „dem
uranfänglichen Menschen", welcher sich zusammensetzt aus
zehn göttlichen Kräften, den vielleicht im Anklang an das
Buch Jezirah sogenannten zehn Scphirotli, welche sich zu Gott
verhalten wie die Strahlen zum Licht, und von denen jede
folgende aus der vorhergehenden emaniert. Die ersten neun
bilden drei Triaden, eine intellektuelle, liether die „Krone",
chochmäh die „Weisheit" und hinäh der „V'erstand", eine mora-
lische, chesed die „Barmherzigkeit", dm die „Gerechtigkeit",
tliip''ereth die „Schönheit", und eine fundamentale, nezach die
„Festigkeit", hod die „Herrlichkeit" und jes(jd das ,, Funda-
ment"; alle neun werden umschlossen von malhuth dem
„Eeiche" als der zehnten. In spielender Weise werden alle
zehn zu der Figur eines Menschen oder auch eines Baumes
vereinigt; auch fügt man sie zu drei Säulen zusammen, wo-
bei Krone, Schönheit und Fundament als die Säule der Mitte,
W^eisheit, Barmherzigkeit und Festigkeit als die Säule der
Gnade, und Verstand, Gericht und Herrlichkeit als die Säule
der Gerechtigkeit bezeichnet werden.
Aus dem Adam Kadmon oder der Welt Azilah emanieren
in unverkennbarer Nachahmung der plotinischen Emanations-
stufen drei weitere Welten, jede wieder aus zehn Sephiroth
bestehend, nur dafs deren Wirkung um so schwächer ist, je
ferner sie dem ersten Ursprünge stehen. Ihre Namen scheinen
aus den drei Jesaia 43,7 vorkommenden Namen für Schaffen,
Bilden und Machen entnommen zu sein.
2. Die Welt Beriah (von härü\ schaffen) umfafst die
reinen Formen der Dinge, entsprechend den platonischen Ideen.
Sie bilden gleichsam das Gewand Gottes, werden als lebende
Geister, Träger der Harmonie des Weltalls und Vorsteher der
himmlischen Sphären vorgestellt. Ihr entspricht in der Men-
schenseele der intellektuelle Teil, welcher ncscliämäh ge-
nannt wird.
3. Die Welt Jezirah (von Jäzar, bilden), gleichfalls aus
zehn Sephiroth bestehend, ist in dem Mafse, wie sie dem Ur-
sprung ferner steht, gröber als die vorhergehende, aber immer
noch immateriell. Sie bildet die ^^^ohnung von Myriaden von
2. Das Jiuleutum unter dem Eiiiflufs des Keuplatonismus. 421
Eno-eln, welche nach den zehn Sephiroth in zehn Khissen
zerfallen und den einzelnen Teilen des Universums vorstehen,
nach denen diese Klassen auch benannt werden ; im Menschen
entspricht ihr der ni'^ch (Lehenshauch).
4. Die \\"elt ""Asijjah (von ' asäh , machen) ist materiell
und vergänglich, im Menschen als nephesch (animalische Seele)
vorhanden. In ihr befinden sich auch die sieben Höllen unter
der Herrschaft des Höllenfürsten Saniäcl, dessen Name als
„Gift Gottes" gedeutet wird. Sie haben zahllose Abteilungen,
entsprechend den einzelnen Sünden, die in ihnen gebüfst werden.
Das Buch Sohar lehrt die Präexistenz der Seele, ihre Wan-
derung durch verschiedene Leiber und endliche Rückkehr zu
dem göttlichen Urwesen. Auch dies entspricht den neuplato-
nischen Anschauungen, und so werden wir nicht fehlgehen,
wenn wir die Kabbala' bezeichnen als einen in jüdischer Ein-
kleidung erscheinenden Neuplatonismus , verknüpft mit der
philonischen Lehre von einem Mittelwesen zwischen Gott und
Welt, als welches, wie bemerkt, bei Philo Judaeus der stoische
Logos erscheint, welcher die platonischen Ideen in ähnlicher
A\'eise enthält wie der jüdische Adam Kadmon die zehn
Sephiroth. — Wenn sonach die im Buche Sohar überlieferten
Gedanken nach unserer oben geäufserten Meinung in die Zeit
zurückgehen dürften, wo Philosophie und Christentum, und so
wohl auch das Judentum, sich dem Einflufs der neuplatoni-
schen Emanationslehre nicht entziehen konnten, so ist doch
die Form, in der uns diese Gedanken erhalten sind, eine er-
heblich spätere, und die endgültige Redaktion des Sohar kann
nicht vor 1200 stattgefunden haben, da nicht nur mit den
hebräischen Konsonanten, sondern auch mit den erst später,
etwa 570 p. G., beigefügten Vokalzeichen allerlei mystische
Spielereien getrieben werden, da ferner der Eroberung Jerusa-
lems durch die Kreuzfahrer und Wiedereroberung durch die
Sarazenen gedacht wird und sogar ein Verszitat aus dem
Gedichte Kether malJndh (die Krone des Reiches) von Salomon
ben Gebirol vorkommt.
Nahe verwandt mit den Anschauungen der Kabbäla ist
die Emanationslehre dieses Salomon ben Gebirol «(1020 —
1070), der von den christlichen Scholastikern Avicehron oder
422 X\l. Die Philosophie der Juden.
Avencebrol genannt und für einen arabischen Philosophen
gehalten wurde. Er war geboren zu Malaga, erhielt seine
Erziehung zu Saragossa und schrieb aufser Gedichten ein
philosophisches Werk „Die Quelle des Lebens", ursprünglich
arabisch geschrieben, später unter dem Titel Jleqor chajjini
ins Hebräische und als Föns vitae ins Lateinische übersetzt.
Mit dem Neuplatonismus läfst Avicebron die drei Welten,
die geistige Welt der Ideen, die psychische und die körper-
liche Welt, emanieren, schiebt aber zwischen diese drei Welten
und Gott nicht mit Philo den begrifflichen Logos oder mit
der Kabbäla den Urmenschen, sondern den göttlichen
Willen ein, welchem die Welt der Ideen immanent ist, so
dafs der jüdische Philosoph der wahren Erkenntnis sehr nahe
kommt, nach welcher der weltschaffende Wille, um in Raum
und Zeit zu erscheinen, sich ihren Verhältnissen anpafst und
dadurch zu der ganzen Reihe der Ideen wird, die, selbst noch
raumlos, doch schon raumartige Gebilde sind, woraus sich
auch die von Plotin (Enn. II, 4,4) vertretene und von Avi-
cebron übernommene Lehre von einer doppelten Materie er-
klären dürfte, einer körperlichen, aus welcher die Sinnenwelt
besteht, und einer intelligiblen, die man schon der Ideenwelt
zuschreiben mufs. Alle jene Welten aber emanieren aus dem
göttlichen Willen, welcher eben die Quelle des Lebens, der
Meqor cJiajjim ist, die wir nur auf intuitivem Wege und durch
Ekstase zu erkennen vermögen.
3. Das Judentum unter dem Einflufs des Aristotelismus.
Da das jüdische Dogma ebensowenig wie das christliche
und islamische imstande war, dem denkenden Menschengeiste
einen befriedigenden Aufschlufs über die Rätsel des Daseins
zu gewähren, so ist es begreiflich, wie auch das Judentum,
nach beiden Richtungen tastend, eine Anlehnung einerseits
an den Neuplatonismus, andererseits an die Philosophie des
Aristoteles suchte, wiewohl die Geschlossenheit und Starrheit
der jüdischen Dogmatik beiden Versuchen besondere Schwierig-
keiten in den Weg stellte. War es beim Neuplatonismus die
Emanationslehre, welche sich mit der Schöpfungsgeschichte
der Bibel nur durch kühne allegorische Umdeutungen der
3, Das Judentum unter dem Kiiiriufs des Aristotelismns. 423
biblischen Texte in Einklang bringen liefs, so standen dem
Eindringen der Philosophie des Aristoteles besonders die von
ihm vertretenen Lehren von der Ewigkeit der Welt und der
Unverbrüchlichkeit des Kausalzusammenhanges, gegenüber
einer zeitlichen Schöpfung aus Nichts und einem Durch-
brechen der Naturordnung durch göttliche Wunder, hindernd
entgegen.
Dieser Widerstand gegen die griechische, speziell die
aristotelische Philosophie tritt besonders deutlich hervor in
dem berühmten Kusari, dem Werke des jüdischen Dichters
und Philosophen Jehuda-ha-Levi, welcher, geboren um
1185 p. C. in Kastilien, den Beruf eines Arztes ergriff, aber
in ihm weniger Befriedigung fand als in der dichterischen
und philosophischen Verherrlichung des jüdischen Glaubens.
Von Sehnsucht nach dem Heiligen Lande erfüllt, segelte ha-
Levi, schon über fünfzig Jahre alt, nach dem Orient, gelangte
nach Ägypten und über Arabien nach Palästina, wo sich seine
Spur verliert. Man weifs nicht, wann und wo er gestorben
ist. Sein ursprünglich arabisch geschriebenes und zweimal
ins Hebräische übersetztes Hauptwerk Kusari stellt dar, wie
der König des Landes Kusar, durch Träume beunruhigt, sich
zunächst an einen aristotelischen Philosophen und, als dessen
Belehrung ihm keine Befriedigung gewährt, an einen christ-
lichen und islamischen Lehrer wendet, welche beide durch
die ihnen gemeinsame Basis den König auf das Judentum
hinweisen. Nun wendet er sich an einen jüdischen Meister^
welcher ihn über die Schöpfung aus Nichts, die Freiheit des
Willens und die Auferstehung belehrt und die durchgängige
Übereinstimmung dieser offenbarten Wahrheiten mit der
menschlichen Vernunft nachzuweisen unternimmt.
Diese und andere Versuche, dem jüdischen Dogma den
Vorzug vor der griechischen Philosophie zu vindizieren, konn-
ten, namentlich bei dem engen Zusammenhange der arabischen
und jüdischen Wissenschaft in Spanien, das Eindringen des
Aristoteles in die Kreise jüdischer Denker nicht hindern, und
als bedeutendster Vertreter dieser Bestrebungen ist, nach
minder wichtigen Vorgängern, zu nennen Mose ben Mai-
mün, bei den christlichen Scholastikern als Moses Maimo-
424 XVI. Die Philosophie der Juden.
nides bekannt und in verdientem Ansehen stehend. Er wurde
geboren 1135 zu Cordova, siedelte nach Eroberung von Cordova
1 148 durch die Almohaden mit seiner Famihe, nach einem vor-
übergehenden Aufenthalt in verschiedenen spanischen Städten,
nach Fez und, als auch dort die Bedrückungen nicht auf-
hörten, über Palästina nach Altkairo über, wo er Leibarzt des
Sultans Saladin war und als Vorsteher der jüdischen Gemeinde
1204 im Alter von (39 Jahren starb. Sein bewegtes Leben
hinderte ihn nicht daran, sich ein vielseitiges Wissen und
eine umfassende Kenntnis der arabischen Philosophen anzu-
eignen, wiewohl er die Schriften des Averroes, seines nächsten
Geistesverwandten, erst in seinen letzten Lebensjahren kennen
lernte. Sein Hauptwerk ist aufser biblischen und talmudi-
schen Studien der „Leiter der Verwirrten", ursprünglich
arabisch geschrieben als Ddlälat al-Ilä'irin, später ins He-
bräische als 3Ioreh han-Nehuchim und ins Lateinische unter
dem Titel Doctor perplexorum übersetzt. — Unter den ,, Ver-
wirrten", an welche das Hauptwerk des Maimonides sich wendet,
sind diejenigen zu verstehen, welche durch Vernunftforschung
den Glauben verloren haben. Zu ihm will Maimonides sie
zurückführen, indem er das Gebiet abzugrenzen sucht, in
welchem Aristoteles sein zuverlässigster Führer ist, von dem-
jenigen, welches nur durch die Offenbarung des Alten Testa-
ments uns erschlossen wird. Widersprechen Moses und die
Propheten den Vernunftforderungen, so müssen die Erzählungen
der Bibel allegorisch gedeutet werden, ein Verfahren, welches
von den Anhängern des Maimonides so weit getrieben wurde,
dafs sie unter Abraham die [J.op9')] und unter Sarah die uXr^
verstanden. Nach Maimonides ist Gott schlechterdings un-
erkennbar, ebenso erhaben über alle ihm beigelegten Voll-
kommenheiten wie über die Unvollkommenheiten; je weniger
wir von ihm zu wissen glauben, desto besser haben wir ihn
erkannt, er ist unkörperlich, unwandelbar, ohne Potentialität,
nur reine Aktualität. Die Ewigkeit der Welt hält Maimonides
für nicht hinreichend erwiesen und bleibt bei der Schöpfung
aus Nichts, auch der Materie, stehen, wiewohl er eine gewisse
Hinneigung zu der platonischen Anschauung verrät, welche
Gott zum Demiurgen, d. h. Bearbeiter einer schon vorhandenen,
3. Das Judentum uuter tlcm Eintiul's des Aristotelisuui:^. 425
schlechthin formlosen Materie macht. Ungeachtet der All-
wissenheit Gottes hält unser Philosoph an der Freiheit des
Willens fest; Gott, meint er, kenne die Wahl, ohne sie doch
zu lenken. Die Unsterblichkeit und jenseitige Vergeltung,
sogar die Auferstehung des Leibes hält er fest, erklärt aber
dieses letztere Dogma für undiskutierbar. Übrigens soll man
nicht aus Furcht und Hoffnung das Gute tun, sondern nur
um des Guten willen und aus Liebe zu Gott. In der Ethik
schliefst er sich eng an Aristoteles an, unterscheidet mit ihm
die ethischen Tugenden, welche in dem Innehalten der rechten
Mitte bestehen, und die von ihm höher geschätzten diano-
etischen Tugenden; unter allen Pflichten ist das Forschen
nach der \\"ahrheit die höchste.
Noch bei Lebzeiten des Maimonides, viel mehr aber noch
nach seinem Tode wurde seine Lehre von den Verfechtern
der jüdischen Orthodoxie heftig angefeindet, ja, sie riefen
gegen dieselbe sogar die christliche Inquisition zur Hilfe, er-
reichten aber dadurch gerade das Gegenteil, indem der den
Juden eigene esprit de corps sich regte, so dafs sie durch
alle kommenden Jahrhunderte bis auf die Gegenwart hin den
Maimonides als einen der Ihrigen betrachteten und hochhielten.
Eine Nachwirkung des Maimonides bestand darin, dafs
in der Folge die Schriften arabischer Aristoteliker von den
Judeh ins Lateinische übersetzt und dadurch den christlichen
Scholastikern zugänglich gemacht wurden, bis es ihnen end-
lich gelang, sich die Schriften des Aristoteles und seiner Schule
auch in direkten, immer noch unvollkommenen Übersetzungen
der o;riechischen Orio-inale zu verschaften.
XVII. Die Hochblüte der Scholastik.
, 1. Wachsende Autorität des Aristoteles.
Nachdem das frühere Mittelalter nur die logischen Schriften
des Aristoteles, und von ihnen auch nur einen Teil, nament-
lich die catcgoriac und de interpretatione nebst der Isagoge
des Porphyrius, besessen hatte, wurden seit 1150 nach und
nach die sämtlichen Schriften des Aristoteles nebst ihren
426 XVII. Die Hochblüte der Scholastik.
arabischen Kommentatoren durch Übersetzungen aus dem
Arabischen ins Lateinische bekannt, vielfach durch Vermitt-
lung spanischer und provengalischer, des Arabischen kundiger
Juden. So wurden namentlich um 1150 p. C. auf Befehl des
Erzbischofs Raymund von Toledo durch den Juden Hispalensis
(Avendear) und durch Dominicus Gundisalvi die metaphysi-
schen und physischen Hauptschriften des Aristoteles und ihrer
arabischen Erklärer aus dem Arabischen mit Hilfe des Kasti-
lischen ins Lateinische übersetzt. Ebenso liefs Kaiser Fried-
rich n. mit Hilfe von Juden aristotelische Schriften aus dem
Arabischen ins Lateinische übersetzen, so dafs man um 1210
den ganzen Aristoteles in arabisch-lateinischen Übersetzungen
lesen konnte. Bald liefs man sich hieran nicht mehr genügen,
und seit der Errichtung des lateinischen Kaisertums in Kon-
stantinopel um 1204 gelang es nach und nach den Scholastikern,
namentlich infolge der Bemühungen des Albertus Magnus und
Thomas von Aquino, sich die Werke des Aristoteles in latei-
nischen, direkt aus dem Griechischen hergestellten Über-
setzungen zu verschaffen. Besondere Verdienste erwarben sich
hierbei Robert Greathead (f 1253 als Bischof von Lincoln),
welcher Griechen aus ünteritalien veranlafste, aristotelische
Schriften zu übersetzen, und Wilhelm von Moerbecke ("f 1281
als Erzbischof von Korinth), welcher auf Veranlassung des
Thomas von Aquino 1260 — 1270 die Schriften des Aristoteles
ins Lateinische übertrug. Inzwischen hatte sich der Wider-
stand der Kirche, wie gegen den Pantheismus und die Ema-
nationslehre des Neuplatonismus, so auch gegen das Ein-
dringen des Aristoteles in die christliche Scholastik erhoben.
Man nahm nicht nur Anstofs an seiner mit dem kirchlichen
Dogma unverträglichen Lehre von der Ewigkeit der Welt,
sondern man beschuldigte ihn auch des Pantheismus, wodurch
er in die Ketzerei des zu Paris im Sinne des Erigena lehren-
den Amalrich von Bena (f 1206) und der Amalricaner ver-
wickelt und zugleich mit [diesen auf der Synode zu Paris
1209 und auf dem lateranischen Konzil 1215 verurteilt und
seine Schriften verboten wurden. Im gleichen Sinne wurde
auf einer Provinzialsynode zu Paris 1210 das Studium der
aristotelischen Naturlehre verboten: ncc libri Aristotclis de
1. Wacbseiide Autorität des Aristoteles. 427
naiiuali iiliilosophia nee eommevia legantur Parisiis imhliee vcl
sccreto. Dasselbe Verbot wurde in den durch den päpstlichen
Legaten sanktionierten Statuten der Pariser Universität von
1215 erneuert, wogegen allerdings die Professoren von Tou-
louse 1229 protestierten; schon oben (S. 378) wurde erwähnt,
dafs durch eine Bulle des Papstes üonorius 1225 die Ver-
brennung aller Exemplare der Schrift des Erigena De divisione
naturae angeordnet worden war. Der Grund, aus welchem
diese Bekämpfung des Pantheismus auch den Aristoteles traf,
lag neben den pantheistisch gefärbten Kommentaren seiner
Schriften hauptsächlich darin, dafs zwei pantheistische Ab-
handlungen, die sogenannte Theologia Aristotelis und das Buch
De causis für echte Schriften des Aristoteles gehalten wurden,
♦ sehr mit Unrecht, da beide neuplatonische Produkte sind; die
Theologie des Aristoteles ist, wie nach ihrer Herausgabe
und Übersetzung durch Dieterici (1882 und 1883j sehr bald
erkannt wurde, im wesentlichen nur die Übersetzung einiger
der schönsten Abschnitte der Enneaden des Plotinos, und das
Buch De cansis besteht zum gröfsten Teile in wörtlichen Aus-
zügen aus der Institutio theologica des Proklus.
Noch ehe Männer wie Albertus Magnus und Thomas von
Aquino mit ihrer Sachkenntnis und Autorität die Unechtheit
dieser beiden Schriften erwiesen, fing man allgemein an zu
erkennen, dafs die echten Schriften des Aristoteles einen
wesentlich andern, abgesehen von seiner Lehre der Ewigkeit
der Welt, mit dem kirchlichen Dogma nicht unverträglichen
Geist atmeten, wie denn schon 1231 Papst Gregor IX. befahl,
die lihri Aristotelis erst dann zu gebrauchen, wenn sie ge-
prüft und von jedem Verdacht gereinigt worden seien. Mit
Eifer wandte man sich nun dem Studium der echten aristo-
telischen Schriften zu, und schon 1254 w^urde das Studium
der afistotehschen Physik und Metaphysik offiziell dem Studien-
kreise der Pariser Universität eingegliedert. Inzwischen war
das Ansehen des Aristoteles hoch und immer höher gestiegen,
man bezeichnete ihn geradezu als einen Pracciirsor Christi i)i
natiiralihus , wodurch er zu der seltsamen Ehre gelangte, mit
Johannes dem Täufer als dem Praecnrsor Christi in gratuitis
in Parallele gestellt zu werden, und ein Albertus Magnus be-
428 XYll. Die Hochblüte der Scholastik.
trachtet ihn als den höchsten Gipfel aller menschlichen Weis-
heit: natura Jiunc hominem posuit quasi rcyulam vcrifatis, in
qua summam inteJlecfus htimani 2)erfectionem denionstravit,
während auch Dante ihn als den niaesfro di color die sanno
bezeichnet.
2. Leben und Werke des Albertus Magnus und Thomas von Aquino.
Die Anerkennung der aristotelischen Philosophie als der
Regel und Norm für alle durch die menschliche Vernunft er-
reichbaren Wahrheiten und als der nicht mehr überbietbaren
Summe aller weltlichen Weisheit , wie sie sich unter den er-
wähnten Kämpfen mit der kirchlichen Orthodoxie endlich durch-
gesetzt hatte, führte zu einer Weltherrschaft dieses Philo-
sophen über das geistige Leben der Menschheit, wie sie in'
der Geschichte der Philosophie ohne Beispiel dasteht, wie sie
der Kulmination der mittelalterlichen Scholastik im 13. Jahr-
hundert die Grundlage darbot und in ihren Nachwirkungen
nahezu vier Jahrhunderte hindurch bestand, bis erst um das
Jahr 1600 der Sturz des Aristoteles aus der Höhe auch den
Sturz Aer ganzen Scholastik besiegelte.
Diese Hochblüte der mittelalterlichen Scholastik und da-
mit die so lange ersehnte und endlich, wie man glaubte, glück-
lich erreichte Versöhnung von Glauben und Wissen, Offen-
barung und Vernunft, war nach dem weniger erheblichen
Vorgang anderer, welche, wie namentlich Alexander von
Haies (geboren zu Glocester, gestorben 1245 zu Paris), welcher
in seiner S^inima thcologiae den Aristoteles nur zum weitern
Ausbau seines theologischen Systems benutzt hatte, das Ver-
dienst zweier, ihr ganzes Jahrhundert überragender und als
Lehrer und Schüler eng verbundener Männer, des Deutschen
Albertus Magnus und des Italieners Thomas Aquinas, als
deren Blütezeit wir die Jahre 1230 und 1260 festhalten können.
Ihre Lehrsysteme sind so nahe verwandt, dafs es zweckmäfsig
erscheint, sie zu einer gemeinsamen Darstellung zu verknüpfen,
nachdem wir vorher über das Leben und die Schriften dieser
beiden denkwürdigsten Erscheinungen der mittelalterlichen
Scholastik das Nötigste in der Kürze beigebracht haben
werden.
2. Leben und ^yerke des Albertus ]\Iagnus und Thomas von Aquino. 429
Albertus, aus dem edlen Geschlecht derer von Bollstedt,
wurde geboren 1193 zu Lauingen an der Donau unterhalb
Ulm, wo er in dem elterlichen Schlosse die erste Erziehung
erhielt. Unter Leitung eines Oheims zog er, 19 Jahre alt,
nach Padua, um die artcs liberales zu studieren, und hier be-
stimmten ihn die Predigten des Ordensgenerals Jordanus zum
Eintritt in den Dominikanerorden. Er wurde zu seiner weitern
Ausbildung in der Theologie an die berühmte Universität Bo-
logna und einige Jahre darauf nach Köln geschickt, um an
der dortigen Ordensschule die urtes liberales zu lehren, sowie
über Aristoteles, die Bibel und die Sententiarum libri Vor-
lesungen zu halten. Von Köln, als seinem bleibenden Aufent-
haltsort, wurde er vielfach bei Begründung neuer Dominikaner-
schulen zu Hildesheim, Strafsburg, Freiburg i. B. und Regens-
burg verwendet, lehrte auch in Paris, wohin er geschickt war,
um im Kloster St. Jacques die Studien zu organisieren, und
mufste seine Vorträge oft im Freien halten, da kein Gebäude
grofs genug war, die Zahl der Zuhörer zu fassen. Unter nicht
weniger grofsem Zulaufe lehrte er seit 1248 als Regens und
Primarius lector wieder zu Köln, während der Volksmund ihm
wiegen seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse übernatür-
liche Kräfte andichtete. Er wurde 1254 zum Orden sprovinzial
ernannt, organisierte als solcher die wissenschaftlichen Studien
in den ihm unterstellten Klöstern, kam als Magister Palatii
nach Italien, wo er zu Anagni (zwischen Rom und Neapel)
vor dem Papste die Sache der Bettelorden verteidigte, und
wurde 1260 vom Papste Alexander IV., trotz seines Wider-
strebens, zum Bischof von Regensburg ernannt, von wo er
drei Jahre später als nunmehr Siebzigjähriger sich in sein
geliebtes Kloster zu Köln zurückzog. Hier verbrachte er,
als Boctor universalis , in wissenschaftlicher Arbeit und von
seinen Zeitgenossen geehrt, den Abend seines Lebens, bis er
1280 im Alter von 87 Jahren starb. Neben seinem praktischen
Wirken, der Organisation der Klöster, dem Schlichten von
Streitigkeiten zwischen dem Erzbischof von Köln und der
Bürgerschaft usw. entfaltete Albertus Magnus eine erstaunliche,
auf alle Zweige des damaligen Wissens sich erstreckende
literarische Tätigkeit. Seine zu Lyon 1651 herausgegebenen
430 XVII. Die Hücliblüte der Scholastik.
Schriften füllen 21 Foliobände, von denen Band 1 — 6 Kom-
mentare zu den logischen, physischen, metaphysischen, psycho-
logischen und ethischen Schriften des Aristoteles, wie auch die
Abhandlnng De Unit afe intelledus contra Äverroem, Band 7 — 11
exegetische Schriften über die Psalmen, Propheten, Evangelien,
Band 12 Predigten, Band 13 den Kommentar zum Areopagita,
Band 14 — IG zu den Sentenzen, Band 17 — 18 die Summa tJico-
lof/iae, Band 19 — 21 vermischte Schriften enthalten. Von seinen
philosophischen Anschauungen wird unten die Rede sein.
Thomas Aquinas wurde geboren 1225 auf dem Schlosse
Roccasecca bei Aquino zwischen Rom und Neapel als ein
jüngerer Sohn des Grafen Landulf, eines Verwandten der
hohenstaufischen Kaiserfamilie. Mit fünf Jahren wurde er den
Benediktinern auf dem benachbarten Monte Cassino zur Er-
ziehung übergeben, bezog, frühreif, schon mit elf Jahren die
Universität zu Neapel, liefs sich dort, erst sechzehn Jahre alt,
gegen den Wunsch seiner Familie für den Dominikanerorden
gewinnen und wurde von diesem, um ihn dem Einflufs der
Familie zu entziehen, nach Paris geschickt, aber unterwegs in
Oberitalien von seinen beiden im Lager des Kaisers weilenden
Brüdern abgefangen und in die Heimat zurückgeführt. Hier
in Verwahrung gehalten, widerstand er den durch seine Brüder
an ihn herangebrachten Versuchungen, entkam mit Hilfe seiner
Schw^estern nach Neapel, wo er das Mönchsgelübde ablegte
und von den Dominikanern nach Köln zu Albertus Magnus
geschickt wurde, der seine grofsen Gaben erkannte, ihn
1245 — 1248 mit sich nach Paris nahm und nach ihrer ge-
meinsamen Rückkehr nach Köln ihn zum JSIagistcr studiorum
ernannte. Als solcher wurde er nach Paris berufen, ver-
teidigte zusammen mit seinem Lehrer in Italien die Bettel-
orden und wirkte, nach Paris zurückgekehrt, dort bis 1261
als hochgefeierter Lehrer, ohne von der Milde und Demut ab-
zugehen, welche in dem ihm beigelegten Ehrennamen eines
Doctor angelicus einen passenden Ausdruck fand. Vom Papste
1261 nach Rom berufen, lehnte er die ihm zugedachten kirch-
lichen Auszeichnungen standhaft ab, kehrte nochmals für zwei
Jahre nach Paris zurück und folgte sodann dem Rufe seines
Ordens zur Übernahme eines Lehramtes in Neapel, wo er mit
"2. Leben und Werke des Albertus Magnus und Tboiuas von Atiuino. 431
den höchsten Ehrenbezeigungen empfangen wurde. Nicht
lange darauf wurde er, schon krank und schwach, 1274 zur
Beschickung des Kirchenkonzils von Lyon erwählt, starb aber
auf der Reise dorthin, ehe er noch Rom erreicht hatte, im
Zisterzienserkloster zu Fossanuova. Albertus Magnus, welcher
seinen Schüler überlebte, erklärte ihn für ein „Licht der Kirche",
und diese ehrte sein Andenken dadurch, dafs er von Papst
Johann XXIL im Jahre 1322 heilig gesprochen wurde. — Die
^^'erke des Thomas sind oft herausgegeben worden, zuerst
Rom 1570, dann Venedig 1594 in 17 Foliobänden, in folgender
Anordnung: Band 1 — 5 enthalten die Kommentare zu aristote-
lischen Schriften über Logik, Physik, Psychologie und Ethik,
Band 6 — 7 den Kommentar ad Fetri Lonibardi sententias. Band 8
Quuestioves disputatae über verschiedene philosophische The-
mata, Band 9 die Summa contra gentiles, Band 10 — 12 die Summa
iheologiae, Band 13 — 16 Kommentare zu Büchern des Alten und
Neuen Testaments und Band 17 das Compendinm fheologiae und
andere Opuscula. — Die Hauptschriften des Thomas sind in
historischer Reihenfolge 1. Commentarius ad Pefri Lomhardi
seyitentiarum Jihros quattuor, welcher die theologischen Streit-
fragen behandelt, 2. die vier Bücher De vcrifate fidei catholicae
contra gentiles, welche die theologischen Dogmen durch die
Vernunft begründen und gegen nichtchristliche Systeme ver-
teidigen, und 3. die unvollendet gebliebene Ä^rw^na thcologiae, eine
systematische Darstellung der gesamten christlichen Dogmatik.
3. Das Lelirsystem des Albertus Magnus und Thomas von Aquino.
Albertus Magnus und Thomas von Aquino, als Lehrer
und Schüler mit einander eng verbunden, sind die Schöpfer
eines grofsen, in seiner Art imposanten theologisch-philosophi-
schen Lehrsystems, durch welches man die lange gesuchte
und sehnsüchtig erstrebte endgültige Versöhnung der Bedürf-
nisse des religiösen Gemüts mit den unabweisbaren Forde-
rungen der Vernunft und Wissenschaft erreicht zu haben
glaubte. Dafs dieser Glaube an ein dauerndes Bündnis zwischen
Theologie und Philosophie eitel gewesen war, sollten für die
Einsichtigen schon das nächste, für alle, nicht Verblendete,
die ihm folgenden Jahrhunderte beweisen, — dafs aber das
432 XVII. Die Hochblüte der Scholastik.
damals und noch so oft in der Folge vergeblich erstrebte Ziel
nur und allein erreichbar ist auf dem Wege des Kantischen,
erst von Schopenhauer in seiner vollen Bedeutung erkannten
und in seine Konsequenzen fortentwickelten Idealismus mög-
lich ist, welcher innerhalb der empirischen Realität den im
Materialismus kulminierenden Naturwissenschaften freie Hand
läfst, und doch im Reiche der Dinge an sich Freiheit, Un-
sterblichkeit und eine göttliche Welt als wissenschaftlich be-
gründet nachweist, das glauben wir in dem ersten, der Philo-
sophie der Bibel gewidmeten Teile dieses Bandes zur Evidenz
gezeigt zu haben.
Albert und Thomas zeigen in ihren Lehren eine so durch-
gängige Verwandtschaft, verhalten sich so sehr zu einander
als der bahnbrechende Begründer und der abschliefsende
Vollender eines einheitlichen Lehrsystems, dafs wir die meisten
Lehren in ermüdender Weise zweimal vortragen müfsten,
wollten wir, wie es gewöhnlich geschieht, jeden dieser Männer
für sich behandeln, was besonders bei Albert wegen der Un-
geschlossenheit seiner Anschauungen kein in sich zusammen-
stimmendes Bild ergeben würde. Wir ziehen es daher vor,
die Lehrmeinungen des Albert und Thomas in der abgeklärtem
Form zu behandeln, welche ihnen erst Thomas von Aquino
gegeben hat, werden die Abweichungen des Albert vcn diesem
vollendeten Ganzen gehörigen Orts hervorheben, vergessen
aber dabei nie, dafs der deutsche Forscher dieses System in
allen seinen Teilen durch seine Bearbeitung der aristotelischen
Philosophie begründet hat, und dafs ohne einen Albertus
Magnus ein Thomas von Aquino unmöglich gewesen sein
würde. Wir werden dieses gröfste Lehrsystem des Mittel-
alters in sechs Punkten behandeln, welche über 1. die Quellen,
2. die Universalienfrage, 3. die Theologie, 4. die Kosmologie,
5. die Psychologie und 6, die Ethik die wesentlichsten Lehren
des Albertus und Thomas vorführen sollen.
1. Die Quellen des Systems. Ofienbarung und Ver-
nunft, d. h. im Sinne unserer beiden Meister, Bibel und Aristo-
teles sind die beiden (Quellen, aus denen alle Weisheit ihnen
zufliefst. Der Wahlspruch des Anselm: crech vi intdligam-,
gilt auch ftir sie, aber in anderm Sinne als bei Anselm und
3. Das Lehrsystcni des Albertus Magnus und Thomas von Aquino. 433
seinen Zeitgenossen. Waren sie bemüht gewesen, das ganze
Dogma des Christentums Vernunft mäfsig zu konstruieren, so
werden von Albert und Thomas gewisse sogenannte Mysterien
des Christentums, namentlich die Trinität, die Inkarnation
und die Auferstehung des Fleisches, als nur durch die Offen-
barung erweisbar, der philosophischen Forschung entzogen;
sie sind übervernünftig, jedoch auch nicht widervernünftig,
man kann von ihnen nur beweisen, dafs sie den Anforderungen
der Vernunft nicht widersprechen.
2. Die Universalienfrage. Der alte Streit zwischen
Realismus und Xominalismus ward von unsern beiden Philo-
sophen in dem Sinne geschlichtet, dafs sie den Universalien
eine dreifache Existenz zusprechen; sie sind universalia coite
res als die schöpferischen Gedanken im Geiste Gottes, nni-
versalki in rebus, sofern diese Gedanken in den erschaffenen
Dingen als deren formae suhstantiaJcs oder quidditates ihre
Verwirklichung gefunden haben, und sie sind universalia post
res, sofern sie vom denkenden Menschengeiste aus den An-
schauungen auf dem Wege der Abstraktion als die Begriffe
herausgezogen werden.
3. Die Theologie. Nicht das Mysterium der Trinität,
wohl aber die mit ihr zusammen bestehende Einheit Gottes
kann aus der Vernunft, d. h. aus dem Aristoteles bewiesen
werden, dessen Begriff von Gott als dem Inbegriff aller reinen
Formen von dem biblischen allerdings noch sehr weit entfernt
ist. Immerhin war das aristotelische Argument, dafs alles
Werden ein Übergang vom potentiellen zum aktuellen Sein ist,
ein solcher Übergang aber nur möglich ist durch ein vorher-
bestehendes aktuelles Sein, für unsere beiden Philosophen
brauchbar. Sie führen daher unter Ablehnung des Anselm-
schen ontologischen Beweises, gegen welchen ihr gesunder
Sinn, wie auch das Fehlen dieses Beweises bei Aristoteles
Bedenken erhebt, den Beweis für das Dasein Gottes nur
a posteriori, d. h. durch das kosmologische Argument, welches
dann namentlich von Thomas nach mehreren Seiten aus-
einandergelegt wird : es müsse einen ersten Beweger geben,
die Kette der Ursachen und Wirkungen könne, wäe er meint,
nicht ins Unendliche zurückgehen, und das Zufällige, worunter
Deussex, Geschichte der Philosophie. II.ii, 2. • 28
434 XVII. Die Hochblüte der Scholastik.
er das empirisch Existierende versteht, erfordere als seine
Ursache ein „schlechthin notwendiges" Wesen, — ein ün-
be^riff, da Notwendigsein nichts anderes bedeutet als aus
einem bestimmten Grunde folgen, somit nie etwas schlechthin
notwendig sein kann. Hieran schliefst Thomas das physico-
Üieologische Argument; das unbewufst zweckmäfsige Wirken in
der Xatur kann er sich nicht anders erklären als durch die An-
nahme eines planmäfsig und nach Zwecken wirkenden W^elt-
schöpfers, welcher auch das Böse und das Übel zuläfst, weil
•er es im Dienste des Guten zu verwenden weifs. Schon für
Thomas ist Gott das ens perfeciissimum . der Inbegriff aller
Vollkommenheiten, nicht aber der Inbegriff aller Eealität, weil
diese Vorstellung zur Auffassung Gottes als forma universalis
im Sinne des Aristoteles oder auch als einer maieria iiniver-
salis, in beiden Fällen aber zur Ketzerei des Pantheismus
führen würde.
4. Kosmologie. Da Aristoteles die mit der biblischen
Schöpfurigslehre unvereinbare Ewigkeit der AVeit lehrt, so
mufste hier von ihm abgegangen und zu einer dem Piaton
sich nähernden Anschauung gegriffen werden, nach welcher
die Welt in einem bestimmten Zeitpunkte entstanden- sein, mit
diesem Zeitpunkte aber auch die Zeit selbst angefangen haben
soll. Der Anfanglosigkeit der Zeit setzt schon Albert das
feine Argument entgegen, dafs bei dieser Annahme der gegen-
wärtige Augenblick nie hätte herankommen können, da eine
unendliche Vergangenheit nie zu Ende gehen konnte. Ein
Unendliches kann allerdings, wie Kant zeigt, nie als ein fertiges
Ganzes gegeben, es kann nur aufgegeben sein, und be-
deutet nicht einen regrcssus in infinitum. sondern nur in indeßni-
tum. Schon bei Thomas findet sich der Leibnizische Gedanke,
dafs Gott unter allen möglichen Welten die beste ausgewählt
habe. Die völlige Abhängigkeit dieser Welt von Gott folgt
für ihn aus seinem Gottesbegriffe, aber die zeitliche Schöpfung
ex nihilo hält er nur aus der Offenbarung, nicht der Philo-
sophie für erweisbar, doch soll, wie er meint, auch das Gegen-
teil sich philosophisch nicht erweisen lassen. In der Ansicht
vom Weltgebäude folgt Thomas der aristotelischen, durch
Ptolemäus modifizierten Theorie, welche ihm durch Boethius
3. T>as I.t'hrsysttMii dos Albertus Majinus und Thomas von Aqiiiiio. 435
oder andere bekannt sein konnte. Um die im Mittelpunkt
festliegende Erde drehen sich die Planeten und der Fixstern-
liimmel, angetrieben durch bewegende Kräfte, ob aber diese
■durch Gott oder durch die Engel als suhstantiae separatae im
Gange gehalten werden, läfst er unentschieden. Die Engel
sind von Gott vor der \\'elt als stofFlose Wesen erschaffen;
da ihnen die Materie als das principiuin individuationis fehlt,
so sind sie nicht eigentlich individua, sondern jeder eine species
für sich: ü'if sunt spceics, qiiot sni/t hnlividua; ihre Wohnung
ist die neunte und letzte Sphäre, das inimuni mohile und das
Empyreum.
5. Psychologie. In der Psychologie bot unsern Scho-
lastikern Aristoteles eine höchst willkommene, wenn auch zu
modifizierende, Grundlage, Ihre psychischen Vermögen sind
nur die Übersetzungen der von Aristoteles angenommenen.
Aristoteles: i Albert und Thomas:
-, , . f TCO'.-rir'.xc-r I ■ ^ 77 , f activus
Mensch: vG'jr< ^ , uiteUectus {
' 1 T.oCi:ri~v/.oi 1 [ passivus.
Tier: | { != ^^J-'^"^'' . ^
IXTV/CV, X.'.vr^T'.XCV
vis sensitiva, 1
appctitiva. motiva \
^ L_ /
Pflanze: tc ~^zT.z':/,i'K \
■^ ~ : r~7 ^
vis nutritiva.
Mit Aristoteles bezeichnen unsere Scholastiker die niedern
Seelenkräfte als die Entelechie des Leibes, weichen aber darin
von ihm ab, dafs sie behaupten, diese niedern, uns mit den
Tieren und Pflanzen gemeinsamen Kräfte bedürften des Leibes
nur um zu wirken, nicht aber um zu existieren, und ^zeigen
hierin einen anerkennenswerten Fortschritt über den Aristoteles
hinaus, welcher Anschauen und Denken gewaltsam auseinander-
gerissen hatte, nur die Vernunft für unsterblich erklärte und
die Funktionen des Anschauens, auf welchen alles Denken be-
ruht, sowie die des Willens, in denen der eigentliche Kern
der Seele liegt, im Tode der Vergänglichkeit hatte anheim-
fallen lassen. Im Gegensatz zu ihm erklären unsere Philo-
sophen die ganze Seele für unsterblich, Albert, vermöge ihrer
Gemeinschaft mit Gott, Thomas, weil sie immateriell und
daher unzerstörbar sei. Der Schwierigkeit, dafs dann auch.
28*
436 XVII. Die Hochblüte der Scholastik.
die Tierseelen unsterblich sein müfsten, begegnet Thomas
durch die Behauptung, dafs im Gegensatz zu ihnen heim
Menschen die niedern Seelenkräfte durch den Zutritt des In-
tellekts eine Art Umwandlung erfahren und dadui;ch an seiner
Unsterblichkeit teilnehmen; sie bilden den Embryo, worauf
dann der Intellekt von aufsen, wie schon Aristoteles sagte,
d. h. durch göttliche Schöpferkraft, wie Thomas dies erklärt^
hinzutritt und die niedern Kräfte an seiner unsterblichen Natur
teilnehmen läfst. Der Intellekt gewinnt die seinem Wesen
verwandten formae suhstantialcs nur durch Abstraktion aus
der sie enthaltenden Anschauung, es gibt keine angeborenen
Ideen, so wenig wie es eine Präexistenz der Seele gab, ehe
sie von Gott in jedem Individuum geschaffen wurde. Gott ist
nach Thomas gleichsam die Sonne, der Intdlcdus activus das
von ihr ausgehende Licht, der lutclledns passivus das Auge,
welches dieses Licht empfängt.
Hatte Averroes nur dem einen, allen Menschen gemein-
samen intdlcctus activus die Unsterblichkeit vindiziert und
damit, wenn auch verschleiert, die individuelle Unsterblichkeit
aufgehoben, so erklären unsere Philosophen dieses für einen
error ahsiirdus, wie Albert, einen error iinlccentior. wie Thomas
sagt; Albert setzt in seiner auf Befehl des Papstes Alexander IV.
'1255 verfafsten Abhandlung De unitate intcUectus contra Äver-
roistas den 30 Argumenten des Averroes 36 Gegenargumente
entgegen, und Thomas zeigt, wie nach der Theorie des Aver-
roes alle Menschen dasselbe denken müfsten , und wie mit
der individuellen Vernünftigkeit auch der individuelle Wille
und mit ihm die Moralität in die Brüche gehen müfste.
6. Ethik. Die erheblichste Differenz zwischen unsern
beiden Meistern liegt in ihrer Behandlung des Problems der
Willensfreiheit. Nach Albertus ist der Wille des Menschen
frei, und es liegt nur an ihm, sich für das Gute oder das
Böse zu entscheiden. Zwar ist die menschliche Natur durch
den Sündenfall der ersten Eltern verderbt, aber einen gött-
lichen Funken fscintillaj hat sie sich bewahrt, welcher öuvtt,-
pTjCic, „die Bewahrung", mifsbräuchlich auch c•y>hr^^'^^clc von
den Scholastikern genannt und vom Gewissen fcotiscientiaj
zu unterscheiden ist; das Gewissen ist der Richter in uns
3. Das Lelirsystem des Albertus Magnus und Thomas von Aquino. 4o7
über Gutem und Bösem, die s!/)itcresis ist die Kraft, die uns
geblieben ist, das Gute zu vollbringen und das Böse zu meiden.
Die Vermutung, dafs cuvTVjpvjC!.? ein verlesenes a\J^dhr^alZ sei,
ist daher nicht annehmbar. In Alberts Tugendlehre tritt die
für das Verfahren der Scholastik charakteristische, äufser-
liche, mechanische Zusammenklitterung des griechischen und
biblischen Denkens besonders grell hervor, sofern er an die
vier Kardinal tugenden der Alten, Weisheit, Tapferkeit, Mäfsig-
keit und Gerechtigkeit, die drei sogenannten christlichen
Tugenden, Glaube, Liebe und Hoffnung, einfach anhängt;
erstere sind virtntes acquisitac. können auch durch eigene An-
strengung erworben werden, letztere virtutes infusae und
werden durch den Heiligen Geist uns eingeflöfst. Von dieser
stattlichen Siebenzahl können wir nur zwei als echte Tugenden
anerkennen, denn Weisheit, Tapferkeit und Mäfsigkeit, so
schätzbar sie sind, können zum Guten, aber auch zum Bösen
verwendet werden, der Glaube als ein Fürwahrhalten ohne
zureichende Begründung ist eher das Gegenteil einer Tugend,
und die Hoffnung ist ein Kind des Egoismus, dessen Be-
zähmuno; und schliefsliche Vernichtuno; das Ziel aller wahren
lielisrion ist. Es bleiben also als echte Tugenden nur übrig
die Gerechtigkeit, welche den Egoismus so weit bändigt,
dal's er sich enthält, den Andern zu schädigen, und die Liebe
(dxazT]), welche eigene Opfer bringt, um dem Andern in seiner
Kot zu helfen und zur völligen Entsagung ohne äufsern
Zweck als dem Gipfel aller Tugend hinüberleitet. — Kompli-
zierter als die Ethik des Albertus ist, nicht zu ihrem Vorteile,
die des Thomas von Aquino; auch er übernimmt die Zu-,
sammenaddierung der vier heidnischen und drei christlichen
Tugenden zur Siebenzahl, zieht aber die aristotelische Unter-
scheidung der ethischen, die rechte Mitte haltenden Tugenden
von den höherstehenden dianoetischen mit herein, wozu bei
ihm noch die plotinische Unterscheidung von bürgerlichen,
reinigenden und vollendenden Tugenden fvirtutcs politicae,
purgatoriae und exemplaresj hinzukommt. Das Endziel des
Menschen besteht in der Gottähnlichkeit, die Gottähnlichkeit
in der Vollkommenheit, und diese bewirkt die wahre Glück-
seligkeit. Jedes Wesen strebt nach Glückseligkeit notwendiger-
438 XYII. Die Hochblüte der Scliulastik.
weise und wird zum Handeln durch diejenigen Motive deter-
miniert, welche ihm dazu die zweckmäfsigsten zu sein scheinen.
So auch der Mensch, nur dafs er vermöge der Vernunft das
Bewufstsein hat, |nach dem stärksten Motiv mit Notwendig-
keit zu handeln, und in diesem Bewufstsein liegt seine Frei-
heit. So wird der schöne Name der Freiheit gerettet, während
Thomas im Grunde dem vxyn den arabischen Philosophen über-
kommenen Determinismus huldigt.
i. Die Scholastik in poetischer Verklärung-.
Wenn wir von Indien und dem fernem Osten absehen,
deren Kultur ihren besondern Weg gegangen ist, so lassen
sich in der Entwicklung des Abendlandes ganz im allgemeinen
vier Hauptperioden unterscheiden, die griechisch-römische
Welt, das Mittelalter, die Renaissance und die Neuzeit. Jedes
dieser Zeitalter hat nicht nur seine eigentümliche Philosophie
hervorgebracht, sondern die gütige Natur hat auch jedem
derselben einen alle andern überragenden Dichtergenius ge-
schenkt, welcher, wie es im Hamlet heifst, der Natur ihren
Spiegel vorzuhalten und „dem Jahrhundert und Körper der
Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen" bestimmt war,
der antiken Zeit den Homer, welcher, schon an ihrer Ein-
gangspforte wie eine Leuchte aufgerichtet, sie bis zum Ende
hin überstrahlt und mit seinem Geiste erfüllt, dem Mittelalter
den Dante, in dessen Dichtung sich der ganze Geist der
Scholastik mit den durch sie der Menschheit angelegten gei-
stigen Fesseln widerspiegelt, der Renaissance den Shake-
speare, in welchem der Mensch diese Fesseln abgeworfen
hat und wieder, wie im Altertum, der Natur und ihren Reali-
täten rein gegenübersteht, und der Neuzeit unsern Goethe,
der in seinen mannigfachen Dichtungen die vielverzweigten
Interessen der modernen Welt wie in einem Brennpunkte zu-
sammenfafst. In diesem Sinne verdient nach Besprechung
der Hochblüte der Scholastik die unmittelbar nach ihr um
1300 p. C. auftretende Gestalt des Dante eine kurze Erwähnung.
Dante (eigentlich Durmüc) Alighieri wurde geboren zu
Florenz 1265. Auf seine ideale Jugendliebe, die der Neun-
jährige zu der um ein Jahr Jüngern Beatrice fafste, bezieht
4. Die Scholastik in poetischer Veikläruiig. 4;;9
sich seine Dichtung La vita nnova: dafs er eine gelehrte Bil-
dung erhielt oder sich selbsttätig aneignete, ergibt sich, wenn
es auch nicht sicher überliefert ist, aus seinem Hauptwerke.
Er wurde 1300 als Prior in den Rat der Stadt Florenz se-
wählt und, da er zu der Partei der Weifsen hielt, 1302 von
Karl von Valois unter Androhung der Todesstrafe verbannt.
Er verliefs seine Vaterstadt, um sie nie wiederzusehen, irrte
seitdem oft in kümmerlichen Verhältnissen in Italien umher,
hielt sich vorübergehend in Verona, vielleicht auch in Bologna
und Padua auf und fand in den letzten Jahren seines Lebens
eine Zuflucht in Ravenna, wo er 1321 gestorben ist.
Das grofse Hauptwerk Dantes, von ihm selbst, weil der
Ausgang ein glücklicher ist, nach dem Brauch der damaligen
Zeit Conimed/'a, von der bewundernden Nachwelt La diviva
Commech'a genannt, wurde von ihm der Hauptsache nach in
seinen letzten Lebensjahren, 1313 — 1321, verfafst, ist in der
kunstvollen Form von Terzinen gedichtet und behandelt aufser
dem einleitenden Canto in drei Teilen, Inferno, Purgatorw und
Paradiso, zu je 33 Canti, eine Vision, in welcher der Dichter
durch die drei Gebiete der Hölle, des Fegefeuers und des
Paradieses geführt wird.
Mitten auf seinem Lebenswege findet er sich verirrt in
einem dunklen Walde, beängstigt durch drei Tiere, einen
buntgefleckten Panther (lomaj, einen Löwen und eine Wölfin,
welche ursprünglich wohl die Sinnlichkeit, Gewalttätigkeit
und Habgier als die den Menschen in der Jugend, im Mannes-
alter und im Greisenalter anhaftenden Hauptlaster versinn-
bildlichen, daneben auch auf Florenz, Frankreich und das
Papsttum gedeutet worden sind und vielleicht gedeutet werden
können. Da erscheint ihm der Schatten des Dichters Virgil
und bietet sich als Führer an, um ihn durch die Reiche des
Inferno und Purgatorio zu geleiten, während er als Heide das
Paradiso nicht betreten darf und die Führung durch dieses
der Jugendgeliebten des Dichters, Beatrice, überläfst.
Beide Dichter, der antike und der mittelalterliche, steigen
zunächst durch Treppen und Schluchten in das Inferno herab,
welches sich trichterförmig von der Oberfläche der Erde bis
zu deren Mittelpunkt in neun ringsherum laufenden und immer
440 XVII- I'ie Hochblüte der Scholastik.
enger werdenden Kreisen vertieft. Hier begegnen ihnen von
der Oberfläche zum Mittelpunkt hin immer ärgere Sünder, im
Vorhof diejenigen, welche auf der Erde ohne Ehre und ohne
Schande gelebt haben, dann in den neun Kreisen nach unten
zu die edlen Geister des Heidentums, welche die Taufe nicht
empfangen haben, die ^^'ollüstigen und Schlemmer, die Gei-
zigen und Verschwender, die Zornigen und Rachsüchtigen,
die Epikureer und Ketzer, die Gewalttätigen, die Lügner, Be-
trüger und zuletzt die Verräter an Freunden und Wohltätern,
unter ihnen Judas Ischarioth, Brutus und Cassius, welche von
den Kinnbacken des Lucifer zermalmt werden.
Von Lucifer, welcher den Mittelpunkt der Erde einnimmt,
steigen Virgil und Dante, dem Lauf eines Bächleins folgend,
in der dem Inferno entgegengesetzten Erdhalbkugel zur Ober-
fläche empor, wo sie ein Greis, Cato von Utica, als Wächter
des Einganges zum Purgatorio empfängt. Dieses erhebt sich
als ein steiler Bergkegel in sieben durch Treppen verbundenen
Terrassen, auf denen die Sünden der Hochmütigen, Neidischen,
Zornigen, Lässigen, Geizigen, Verschwender, Schwelger und
Weltlichgesinnten gebüfst werden. Den Gipfel des Läuterungs-
l3erges bildet das irdische Paradies.
Weiter darf Virgil als Träger der irdischen W^eisheit nicht
folgen, und Beatrice als Vertreterin der göttlichen Offenbarung
übernimmt es, unsern Dichter höher und höher hinauf durch
die neun den Erdball umkreisenden Sphären von Mond, Merkur,
Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn, Tierkreis, Fixstern-
himmel und prinmm mohilc bis zum Empyreum unter mannig-
fachen scholastischen Belehrungen zu geleiten. Hier ver-
schwindet Beatrice, und der heilige Bernhard übernimmt es,
dem Dichter in einer mystischen Vision die Anschauung der
Gottheit zu gewähren. Auf der ganzen Wanderung durch die
drei Reiche der Hölle, des Fegefeuers und des Paradieses be-
gegnen dem Dichter bekannte, oft erst kürzlich verstorbene
Persönlichkeiten, im Gespräche mit welchen die entarteten
Zustände des Staates und der Kirche aufgedeckt werden,
während namentlich im dritten Teil mannigfache theologische
und philosophische Fragen im Sinne der Scholastik aufgeworfen
und beantwortet werden, immer noch durchsetzt mit Rück--
4. Dio Scholastik in iioetisclier Verkläiung. 441
blicken auf die politischen Verhältnisse von Staat und Kirche
und ihre Verkommenheit. Die dogmatischen Belehrungen
schliel'sen sich am nächsten an Thomas von Aquino, daneben
auch an Albertus und frühere an. So werden bei der durch
die neun Sphären immer höher hinauf führenden Reise in den
vier ersten Sphären von Mond, Merkur, Venus und Sonne die
Gesetze der Bewegung des Weltalls, die Wirksamkeit der
Himmelskörper, der Zustand der Himmelsbewohner, die Frei-
heit des Willens, das Verdienst und seine himmlische Be-
lohnung, der Fall des Menschen, die Gründung der Kirche
als Rettungsanstalt, die Erlösung durch Christus und der Zu-
stand der Seligen nach der Auferstehung des Leibes behandelt.
Hieran schliefst sich in der Sphäre des Mars eine Besprechung
der Zustände in Florenz, in der des Jupiter und Saturn werden
die Erwerbung des Heils und die Prädestination, in der des
Fixsternhimmels die drei theologischen Tugenden, Glaube,
Liebe und Hofihung, in dem primiim mobile die Erschaflung
und der Fall der Engel, im Empyreum die Prädestination in
Hinsicht auf die als Kinder Gestorbenen behandelt, bis schliefs-
lich die Mysterien der Trinität und Inkarnation nicht durch
Belehrung, sondern durch unmittelbare Anschauung in Bildern
mitsreteilt werden.
XVHI. Auflehnungen gegen das Prinzip der
Scholastik.
]. YorbemerkungOD.
In dem grofsen, von Albert begründeten, von Thomas zur
Vo'llendung gebrachten theologisch -philosophischen System
glaubte man, und glauben kurzsichtige Gemüter noch heute,
die so lange vergeblich ersehnte und endlich mühsam erreichte
Versöhnung zwischen den Ansprüchen der Wissenschaft und
den Forderungen des religiösen Gemüts gefunden zu haben.
Eine solche Versöhnung mufs möglich sein, da die Natur nur
eine und mit sich einstimmig ist, somit auch die Wahrheiten
sich nie widersprechen können, aber erreichbar ist diese Ver-
söhnung nur auf dem einen Wege des indisch -platonisch-
442 XYIII. Aoflelinungen gegen das Prinzip der Scholastik.
kantischen Idealismus, welcher die Welt für blofse Mäyä,
sl'SoAa, Erscheinung erklärt, ohne welche Erkenntnis wir un-
weigerlich dem vollständigen Materialismus verfallen: out
Kayitiamsmus. a>if Matcrkdismus. Von dieser Erkenntnis war
allerdings das Mittelalter noch weit entfernt, und so konnte
das von ihm gestiftete Bündnis zwischen religiöser und philo-
sophischer Wahrheit oder, richtiger gesagt, zwischen Bibel
und Aristoteles keinen Bestand haben, und kaum waren Albert
und Thomas vom Schauplatze abgetreten, als sich schon nach
drei Richtungen hin die Symptome des Verfalls der Scholastik
ankündigten, indem das Prinzip, auf welchem sie sich auf-
baut, von verschiedenen Seiten, erstlich durch die Willens-
lehre des Duns Scotus, sodann durch die Mystik des Meister
Eckhart und endlich durch die von William von Occam ge-
wagte Erneuerung des Nominalismus durchlöchert und unter-
miniert wurde.
1. Die Scholastik war nichts weniger als vernunftfeind-
^ich; sie verlangte den Glauben, aber sie wollte auch erkennen,
was sie glaubte : credo ut inteUigam war ihr ^^'ahlspruch, den
sie in ihrer ersten Periode vollständig, in ihrer zweiten mit
Ausschlufs der sogenannten Mysterien geltend machte, und
auch von diesen glaubte sie beweisen zu können, dafs sie
wenigstens nicht vernunftwidrig seien. Diese ganze Basis,
auf welcher das System des Thomas aufgebaut war, wurde
erschüttert durch das Auftreten des Franziskanermönches
Duns Scotus, welcher schon im tiefen Mittelalter den Satz
aussprach: volnntas est super ior intellectu. und erklärte, dafs
es nicht darauf ankomme, die göttlichen Dinge mit dem In-
tellekt zu erfassen, sondern vielmehr darauf, den eigenen
Willen dem göttlichen, in der Kirche verkörperten Willen zu
unterwerfen.
2. Der Neuplatonismus, welcher bestrebt gewesen war,
auf ekstatischem Wege eine unmittelbare Einswerdung mit
Gott zu erreichen, war zwar von der Kirche verworfen und
unterdrückt worden, glimmte aber wie ein heimliches Feuer
unter der Asche fort und brach in hellen Flammen wieder
aus in der schimsten Erscheinung der mittelalterlichen Philo-
sophie, in der Mystik des Meister Eckhart, welche zwar
1. Vorbemorkungen. 44o
auch auf intellektuellein ^^'ege, aber in ganz anderer Weise
als Albert und Thomas alles irdische Sein in seiner Nichtig-
keit zu erkennen und sich über dasselbe unmittelbar zu dem
Gefühl der völligen Einheit mit Gott zu erheben suchte. „Freut
euch mit mir, Herr,"' sagte zu Eckhart seine geistige Tochter,
„ich bin Gott geworden ! "
3. Nachdem der Nominalismus infolge des unseligen Ein-
falles des Kanonikus Roseellin, ihn auch auf die Trinität an-
zuwenden (oben S. 381 fg.j, um allen Kredit gekommen M-ar,
herrschte die folgenden Jahrhunderte hindurch der Realismus,
und er ist für die Methode der Forschung im Mittelalter ebenso
wesentlich, wie es für unsere Forschung der Nominalismus ist.
Wir gehen in unserer Wissenschaft von dem in der An-
schauung vorliegenden Tatsächlichen aus, beobachten das-
selbe, fassen diese Beobachtungen zusammen und gelangen,
auf induktivem Wege aufsteigend, zu speziellen und durch
sie zu allgemeinen Sätzen und Begriffen, welche für uns nur
Wert und Bedeutung haben, sofern sie den in der Natur ge-
gebenen Inhalt zusammenfassen. Diese uns so selbstverständ-
lich erscheinende Methode war, bis auf wenige Ausnahmen,
dem Mittelalter abhanden gekommen; von Autoritäten ge-
gängelt, war der menschliche Geist in eine Krankheit ver-
fallen, welche man als Naturblindheit bezeichnen könnte. Wer
das hieraus entspringende Verfahren aus der Anschauung
kennen lernen möchte, braucht nur nach Indien zu gehen,
welches in geistiger Hinsicht noch heute auf dem Standpunkt
des Mittelalters steht; man trifft dort scharfsinnige und ge-
lehrte Männer, welche jedoch unfähig sind, die Sache selbst
ins Auge zu fassen, vielmehr immer ausgehen von den alten
geheiligten Autoritäten, um an der Hand ihrer Aussprüche
alles Einzelne zu entwickeln. Sie stellen eine Frage auf
fvishayaj , über welche sich ein Zweifel fsarnrai/aj erhebt, es
wird Meinung fpürvapalshaj und Gegenmeinung futtara-
pül\sliaj erwogen, die erstere in ihrer Unhaltbarkeit nach-
gewiesen, die letztere als Resultat (siddhäniaj festgehalten und
in ihrer Erstreckung fsafigaffj, d. h. in den Konsequenzen,
welche ihr anhängen, verfolgt. Überraschend ähnlich war die
Methode bei uns im Mittelalter. In den allgemeinen Sätzen,
444 XVIII. Aiit'lehnungen gegen das l'rinzip der Scholastik.
wie sie in Bibel und Aristoteles fertig vorlagen, glaubte man
den Inbegriff aller Wahrheit zu besitzen und aus ihnen durch
Aufstellung des Pro und Contra, Widerlegung des einen und
Festhalten des andern alles Einzelne mittels des syllogistischen
Verfahrens entwickeln zu können. Diese ganze Methode ruht
auf der Voraussetzung, dafs die allgemeinen Sätze und Begriffe
(die universalia) ursprünglicher sind als das aus ihnen abzu-
leitende Einzelne (die /tö), somit auf einem dem mittelalter-
lichen Denken in Fleisch und Blut übergegangenen Realismus.
Dieser ganzen, im Realismus wurzelnden Methode des Mittel-
alters wurde der Boden entzogen, wenn man es wagen durfte,
den geächteten Nominalismus wieder in seine Rechte einzu-
setzen, wie dies, nach dem minder erheblichen Vorgange an-
derer, durch den Engländer William von Occam geschah,
nachdem soeben noch die syllogistische Methode des Mittel-
alters in Albert und Thomas ihre höchste Vollendung er-
reicht hatte.
2. Die Willenslehre des Duns Scotus.
Der Ruhm des durch Männer wie Albert und Thomas
vertretenen Dominikanerordens erregte die Eifersucht des an-
dern Bettelordens, der Franziskaner, welche sich in mancherlei
Bemängelungen der thomistischen Lehre kundgab. Alle diese
Gegensätze fanden ihre Zusammenfassung und ihren schärfsten
Ausdruck in dem Leben und Wirken eines nicht weniger als
jene beiden Dominikaner aufserordentlichen Mannes, des Jo-
hannes Duns Scotus, nach den Beinamen zu schliefsen, aus
Dunston in England oder Duns in Schottland oder Dun in
Irland (Scotia major) stammend. Da er schon 1308 starb
und nach einigen nur 42, nach andern gar nur 37 Jahre alt
geworden ist, so würde sein Geburtsjahr auf 1265 oder 1274,
das Todesjahr des Thomas, anzusetzen sein, dessen System
durch Duns zwar nicht den Todesstofs, aber doch eine starke
Erschütterung seiner Grundlagen erlitten hat. Seine Erziehung
erfuhr Duns in Oxford, soll sich besonders auch, ähnlich wie
später Descartes, für die Mathematik interessiert haben, trat
in den Franziskanerorden ein, wurde, erst 23 Jahre alt, also
mutmafslich 1297, Professor der Theologie in Oxford, von wo
•J. IHp ^VitlensloIlre des Diins Scotus. 445
sich der Ruhm seiner Lehrtätigkeit als des Doctor .whfüis,
wie ihn seine Anhänger nannten, so schnell auf dem Kontinent
verbreitete, dafs er 1301 als Lehrer nach Paris berufen und
von dort 1308 von seinem Orden nach Köln geschickt wurde,
wo er jedoch noch in demselben Jahre starb. Ungeachtet
seines kurzen Lebens hat er eine ganze Reihe von Schriften
verfafst, welche in der Gesamtausgabe, Lyon 1639, nicht
weniger als 12 Foliobände füllen, von denen Band 1 Gram-
matisches und Logisches, Band 2 Untersuchungen zur Physik
und Psychologie des Aristoteles, Band 3 metaphysische und
andere Abhandlungen, Band 4 Expositionen über die Meta-
physik des Aristoteles, Band 5 — 10 den grofsen Kommentar
zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, Band 1 1 die Repor-
tata Parisiensia, Band 12 die Quaestiones quodlibetales enthält.
Duns Scotus nimmt in der christlichen Scholastik .eine
ähnliche Stelle ein wie Al-Ghazel in der arabischen Philosophie.
, Wie dieser verbindet er orthodoxe Strenggläubigkeit mit einem
weitgehenden philosophischen Skeptizismus, wodurch er sich
in einen durchgehenden Gegensatz gegen Thomas stellt. Zwar
in der Frage der Universalia lehrt auch er, dafs sie ante res
im Geiste Gottes, in rebvs als die formae snbstanfiales oder
quiddHates und post res als Begriffe bestehen, bestreitet aber,
dafs die Materie das priticipinm individuatiotns sei, und ver-
langt, damit aus der quiddüas das Individuum werde, noch
ein besonderes zu ihr hinzutretendes formales Prinzip, von
seinen Nachfolgern die haeccciias genannt, wie er denn über-
haupt erst im Individuum das Vollkommene und das Ziel der
Schöpfung sieht, wodurch er sich schon in merklicher W>ise
einer nominalistischen Auffassung annähert. Dem Aristoteles
steht er freier als Thomas gegenüber und hat nicht so sehr
wie dieser das Interesse, ihn mit der Bibel zusammenzubiegen,
wodurch er in vielen Punkten den Aristoteles richtiger auf-
fafst, als es dem Thomas möglich war. Versteigt er sich
doch sogar in den Reportata Parisiensia zu der Behauptung,
dafs ein Satz philosophisch wahr und doch theologisch falsch
sein könne, wodurch er dann schon in bedenklicher Weise an
die spätere Lehre von der doppelten Wahrheit anstreift. In
der Theologie hält er streng an allem fest, nicht nur was die
446 XVUI. Auflehnungen gegen das Prinzip der Scholastik.
Bibel, sondern auch was die Kirche in Konzihen und päpst-
lichen Dekretahen lehrt, wie er denn sogar ein eiiriger Ver-
fechter der Absurdität der conceptio immaculata ist. Während
Albert und Thomas den Avicebron bekämpfen, schliefst sich
Duns in mehr als einem Punkte an dessen Föns vitae an:
„cgo autem ad positionem Avicembronis redco^'-. Dafs er eif-
riger Gegner der Juden ist, hindert ihn dabei nicht, da er
den Avicebron für einen arabischen Philosophen hält. Wie
dieser mit dem Neuplatonismus, so nimmt Duns mit ihrti an,
dafs auch schon die Ideen eine Art Materie haben müssen,
ohne Zweifel in dem richtigen Gefühl, dafs, wie schon öfter
hervorgehoben wur^e, die Ideen zwar raumlos, aber doch
schon raumartige Gebilde sind, eine Zwitterstellung, welche
daraus entspringt, dafs das raumlose Ding an sich, der Wille,
um in Raum und Zeit zu erscheinen, sich ihnen anpafst, in-
dem er sich zu räumlichen und zeitlichen Formen gliedert,
worin eben das Wiesen der Ideen besteht. Der Föns vitae ^
(Mekor cJiajjimJ, die Quelle, aus der alles Leben fliefst, ist
nach Avicebron. wie oben (S. 422) gezeigt wurde, der gött-
liche Wille, und diese Lehre dürfte wohl die Anregung
dafür gegeben haben, dafs Duns Scotus schon im dunkeln
Mittelalter und im Gegensatz zu Thomas die grofse Wahr-
heit aussprach und psychologisch wie metaphysisch durch-
führte: vohwtas est superior intelleciu. Während Thomas dem
Intellekt den Primat über den Willen zuerkennt, der sich mit
Notwendigkeit unter den vom Intellekt dargebotenen Vor-
stellungen für diejenige entscheidet, welche der Verstand für
die beste hält, eine Lehre, deren unvermeidliche Folgen De-
terminismus und Prädestination sind, so ist nach Duns der
Wille das Primäre, steht den Vorstellungen des Intellekts
frei gegenüber und entscheidet sich für die eine oder andere
nach eigener Wahl. Da der Mensch die imago Bei ist, so
kann von den psychologischen Verhältnissen des Menschen
via emincutiae auf das Wesen Gottes geschlossen werden,
welcher im übrigen nicht mit Anselm a priori, sondern nur
a posteriori aus den Werken der Schöpfung, und auch aus
■ihnen nur annäherungsweise erkannt werden kann. Seine All-
macht sowie die Schöpfung aus Nichts und die unsterblich-
2. Die NVillonslehrc de^ Duns iScotus. 447
keit sind philosophisch nicht erweisbar und müssen geglaubt
werden. \\'ohl aber dürfen wir annehmen, dafs die psychi-
schen Eigenschaften. Wille und Intellekt, in eminentem Sinne
auch der Gottheit zukommen, und dafs auch bei ihr das Pri-
märe der Wille sei. Gott hat, wie Duns sagt, die Welt nicht
gewollt, weil sie die beste ist, sondern sie ist die beste, weil
Gott sie gewollt hat. Daher sind die Schöpfung wie auch das
ganze Erlösungswerk Christi von Gottes Wille, richtiger ge-
sagt, von seiner Willkür abhängig, und Christi Tod hat nicht
durch sich selbst die Welt erlöst, sondern nur, weil Gott ihn
als Genugtuung für die Sünden der Menschen acceptiert hat
(Acceptilationstheorie). Ebenso steht es mit dem ethischen
Werte der menschlichen Handlungen. Es gibt keine perseitas
honi, das Gute ist nicht ^icr se, d.h. an sich gut, sondern
nur weil Gott es gewollt hat, und hätte Gott den Mord oder
«in anderes Verbrechen gewollt, so würde damit dieses Ver-
brechen eben das Gute sein. Die höchste Aufgabe des Men-
schen ist nicht die Erkenntnis, sondern die Unterwerfung des
eigenen Willens unter den göttlichen, welches für Duns das-
selbe bedeutet wie die gehorsame Unterwerfung unter die
Autorität der Kirche.
Eine interessante Parallele läfst sich zwischen Duns Scotus
und Kant ziehen. Beide halten die Vernunft für unzulänglich,
das Göttliche zu erkennen, sind im Theoretischen Skeptiker,
und beide weisen uns auf das Praktische als dasjenige Gebiet
hin, auf welchem wir die höchsten Aufschlüsse gewinnen
können. Hier liegt aber auch der Unterschied. Nach Kant
ist das positiv Gegebene die Pflicht, und Religion ist An-
erkennung unserer Pflichten als göttlicher Gebote; nach Kant
ist eine Sache von Gott geboten, weil sie Pfhcht ist, nach
Duns Scotus ist sie Pflicht, weil sie von Gott geboten ist,
Kant gründet das Traditionelle auf das real Gegebene, Scotus
das real Gegebene auf das Traditionelle.
3. Die Mystik des Meister Eckhart.
Gleich einer Oase in der Wüste erscheint inmitten der
zwar nicht uninteressanten, aber doch, im Grunde unfrucht-
baren Scholastik die deutsche Mystik des Meister Eckhart
448 XYIII. Auflelumngen gegen das Prinzip der Scholastik.
und seiner Nachfolger, und wenn sich auch hier die Fäden
nicht verkennen lassen, welche vom Neuplatonismus, von
Dionysius Areopagita und Scotus Erigena zu Meister Eckhart
hinüberleiten, so beruhen dessen Gedanken doch im wesent-
lichen auf echter, ursprünglicher, intuitiver Erkenntnis, nur
dafs diese bei ihm oft genug durch die Einkleidung in die
hergebrachten Formen verdunkelt und entstellt wird,
Meister Eckhart, wie ihn seine Zeitgenossen, Bruder
Eckhart, wie er sich gelegentlich in seinen Predigten nennt,
wurde als Johannes Eckhart um 1260 zu Hochheim bei Gotha
aus ritterlichem Stande geboren, studierte in Köln und später
in Paris, trat in den Dominikanerorden ein, war um loW
Prior zu Erfurt, wurde 1302 in Rom vom Papste Bonifacius YIIT.
zum Doktor der Theologie, 1304 zum Ordensprovinzial für Sach-
sen ernannt und 1307 als Generalvikar beauftragt, die Klöster
seines Ordens in Böhmen zu reformieren. Im Jahre 1311
finden wir ihn als Magister legens in Paris, in der folgenden
Zeit soll er lehrend und predigend an verschiedenen Orten
Deutschlands, namentlich 1316 als General vikar des Ordens-
meisters zu Strafsburg, später als Prior zu Frankfurt am Main
gewirkt haben, bis er 1325 seinen dauernden Aufenthalt in
Köln nahm, wo er eine grofse Anzahl von Schülern, unter
ihnen Johannes Tauler und Heinrich Suso, um sich ver-
sammelte. Schon vorher wegen Irrlehren in Frankfurt ver-
dächtigt und in Venedig verurteilt, wurde er 1326 durch den
Erzbischof von Köln, Heinrich von Virneburg, vor ein geist-
liches Gericht gestellt und am 13. Februar 1327 gezwungen,
in der Dominikanerkirche zu Köln einen bedingten Widerruf
zu leisten mit den Worten: „Ich, Magister Eckhart, Doktor
der heiligen Theologie, beteuere vor allen, indem ich Gott als
Zeugen anrufe, dafs ich jeden Irrtum im Glauben und jede
Unziemlichkeit im W^andel allezeit, soweit es mir möglich
war, verabscheut habe, weil Verirrungen dieser Art mit dem
Stande meiner Doktorwürde und meines Ordens unvereinbar
waren und sind. Sollte daher sich irgendein Irrtum in dem
gegen mich Vorgebrachten finden, was ich geschrieben, ge-
sagt oder gepredigt habe, sei es offen oder insgeheim, wo
und wann es gewesen sein mag, direkt oder indirekt, aus
3. Die Mystik des [Meister Eckliart. 449
maiiffolhafter oder verwerflicher Einsicht, so widerrufe ich es
hier ausdriickhch und öftenthch vor allen und jedem von euch,
die ihr für jetzt eingesetzt seid, indem ich es hinfüro ange-
sehen wissen will als nicht gesprochen oder geschrieben." —
Zugleich appellierte er an den päpstlichen Stuhl, starb aber
noch in demselben Jahre und ehe die Entscheidung der Kurie
eintraf. Zwei Jahre darauf wurden durch die päpstliche Bulle In
coena Domini 28 Sätze Eckharts teils als ketzerisch, teils als
mifsverständlich verurteilt. — Ungeachtet dieser Verdammung
durch die römische Kirche erwies sich Meister Eckharts Lehre
in weiten Kreisen des deutschen Volkes als lebendig fort-
wirkend. In erster Linie trugen dazu zwei persönliche Schüler
des Meisters bei, Johannes Tauler (1300 — 1361), welcher
als berühmter Prediger in Strafsburg tätig war, und Heinrich
Suso (1300 — 1365) aus Konstanz, der besonders auch als
Dichter für die Verbreitung der Gedanken Eckharts wirkte.
Noch mehr trug dazu ein anonymes Büchlein bei, welches
im 14. Jahrhundert im Frankfurter Hochstift entstanden ist,
von Luther entdeckt, sehr hochgeschätzt und unter dem Titel
,,Theologia deutsch" herausgegeben wurde. Von Vertretern
dieser Richtung im Auslande mag es genügen, den nach
seinem Heimatsdorfe Ruisbroek bei Brüssel Johann Ruis-
broeck (1293 — 1381) genannten Prior des Klosters Grünthal
bei Brüssel zu erwähnen. Bei allen diesen erscheinen Eck-
harts Lehren unter Abschwächung ihrer kühnsten Wendungen
in einer der praktischen Erbauung dienenden, aber keine
innere Fortbildung zeigenden Form.
Von den in lateinischer Sprache verfafsten Schriften Eck-
harts, welche ein mehr scholastisches Gepräge tragen, ist
einiges, namentlich aus dem Opus tripartitum, wieder auf-
gefunden worden. Viel wichtiger sind seine deutschen Schrif-
ten, von denen eine Sammlung, bestehend aus 110 Predigten
und 18 Traktaten nebst angehängten Sprüchen und Positionen,
von Pfeiffer (Leipzig 1857) herausgegeben ist, nach dessen
Seiten und Zeilen wir zitieren. Ist auch vieles in dieser
Sammlung von zweifelhafter Echtheit, so stammt es doch aus
Eckharts Schule und kann bei Darstellung seiner Lehre ohne
Bedenken verwendet werden.
Deussen,' Geschichte der Philosophie. II.ii, 2. 29
450 XVI] 1. Auflehnunsen gegen das Prinzip der Scholastik.
Meister Eckhart unterscheidet die Gottheit oder die un-
genaturte Natur von Gott als der genaturten Natur. Die
erstere, die ungenaturte Natur, ist schlechthin einfach, reines
Sein, ohne Unterschiede, ohne jede Bestimmung, ohne Persön-
lichkeit, ohne Wirken: „f/m gotheit wirl'et nihf, si enliut niht
20. ivirJcenne, in ir ist kein irerc^^ (S. 181,10). Sie ist die ein-
zige Realität, und alles in der Welt ist nur real, soweit jenes
reine Sein in ihm vorhanden ist, welches das Wesen der
Gottheit ausmacht, Sie ist unerkennbar, denn in ihr ist weder
Subjekt noch Objekt. Um sich zu offenbaren, tritt sie in
Subjekt und Objekt aus einander, in die jipwTTj stsjücttjc, wie
die Neuplatoniker sagen, in Vater und Sohn, wie Eckhart im
Anschlufs an die christliche Trinitätslehre sich ausdrückt.
Hiermit geht die Gottheit über in Gott, die ungenaturte Natur
wird zur genaturten; der Vater ist das Subjekt; das Objekt,
in welchem er sein ganzes Wesen „ausspricht", ist das gött-
liche Wort, ist der Sohn; und das Band, welches beide ver-
bindet, die Minne zwischen Vater und Sohn, ist der Geist.
In dem Sohn hat der Vater sein ganzes Wesen ausgesprochen,
er ist der Inbegriff aller Realität, und alles, was an den Dingen
real ist, das ist in dem Sohne und mit dem Sohne von Gott
ausgesprochen worden: „Da^ ewige tvort ist daz wort des vater
lind ist sin einhorn sun, unser Herre Jesus Kristus. In dem
liät er ges2)roche)f alle crcatüren äne anevang und cwe ende'"''
(76,26). Die ganze Welt ist nur Gott und aufser ihm nichts:
„f/er cd die tvelf ncme mit gote, der enhete niht nie denne oh er
gof allei)w liete'-'- (136,28). Dieses Aussprechen Gottes in seinem
Sohne und in allen Kreaturen ist eine in dem Wesen Gottes
T3egründete Notwendigkeit, ist daher kein zeitlicher Akt, son-
dern ist so ewig wie Gott selbst; sein Wesen, und mit ihm
das Wiesen aller Dinge, ist ewige Gegenwart: ,^Das nu, da
got die icelt inne machte, daz ist alse nähe dirre zit, als daz
iii(, da ich iezuo inne spriche'-'- (268,18). Wie die zeitliche Aus-
spannung, sind auch die räumliche Ausbreitung und die durch
sie bedingten individuellen Wesen aufser Gott ein blofses
Nichts : ,J)er got siht, der ernennet, das alle creatiire niht sirtt'"'-
{222,oo). In allen Dingen wird Gott offenbar, aber in einer
Weise, welche mit Nichtigkeit behaftet ist. Gott ist Geist,
3. Die Mystik des Meister Eckhart. 451
und daher sind alle nichtgeistigen Wesen nur seine Fufs-
stapfen; anders die Seele des Menschen, welche sein Eben-
bild, welche er selbst ist. Den drei göttlichen Personen ent-
sprechen im Menschen drei Seelenvermögen, das Erkennen,
das Zürnen und das Wollen, welchen, ähnlich wie bei Piaton,
drei Haupttugenden entsprechen, nur dafs Eckhart dafür die
drei christlichen Tugenden, Glaube, Hoffnung und Minne, ein-
setzt. Aufser und über diesen Seelenkräften steht aber noch
ein Anderes, welches den eigentlichen Kern der Seele bildet
und in welchem das göttliche Ebenbild enthalten ist, das
Funkle in der Seele, welches auch der Geist oder das Gemüt
der Seele heifst, „und ist so lauter, vmd so hoch, und so edel
in sich selber, dafs darin keine Kreatur sein mag, sondern
nur Gott allein wohnt darin mit seiner blofsen göttlichen
Natur". Dieses Fünklein macht das eigentliche Wesen der
Seele oder, wie Eckhart sagt, das Haupt der Seele aus: Daz
fiivheJi, daz ist diu veriiiiftikeit, daz ist daz houbct der sele;
daz heizet der man der sele und ist alse mere alse ein fünJcelin
yötlicher näture und ein götlich Hellt, ein sein und ein mgetrucket
bilde götUeher näture (109,12). Der funke der sele ist ein lieht
götl'icher glicheit , daz sich alle zit uf got neiget (480,32). Diu
sele heizit iiuch ein Vaiihen (Funken) götUcher oder himlischer
näture und daz flieget sich icol zuo den worteti, daz diu sele
von näti(re ze dem himele geliocre (246,14, vgl, 405,24). —
Zu den drei Seelenkräften verhält sich dieses Fünklein wie
zu der genaturten Natur die ungenaturte, wie zu Vater, Sohn
und Geist die Gottheit: daz ist der funke, der ist gote als
nähe, daz er ist ein einig ein ungescheiden unde daz bilde in
sich treit aller crcaturen sunder bilde und über bilde (286,18).
Sivenne aber cdliu bilde der sele abgescheiden werdent unde si
alleine schouivet daz einig ein, so rindet daz blöze ivesen der
svlc daz blöze formelose wesen gotlicher einkeit, daz da ist
ein überivcsende ivesen, lidende, ligende in ime selben (318,12).
Die völlige Einheit und Wesensidentität dieses innersten
Grundes der Seele mit dem eigentlichen Wesen der Gott-
heit ist der Grundgedanke, wie der indischen und neuplato-
nischen, so auch der Eckhartschen Metaphysik und findet
in ihr seinen schönsten Ausdruck: Du solt alzemäle entsinken
29*
452 XVIII. Auflehnungen gegen das Prinzip der Scholastik.
d/ner dhiesheit iinde solt zerfliczen in s'tne smesheit unde sol diu
din in sineni mm ein min iverden alsc gmdich, das du mit ime
verstandest eioicliche sine umiewordenc istiJceit ande sine ungencndc
nUäheit (319,18). Dieses Bewurstsein der Identität der Seele
mit der ungenaturten Gottheit bezeichnet Eckhart als die Ge-
burt des Sohnes Gottes in uns: dar nach, so volget, das s/n
wesen unde sin suhstancie tinde sin nätiire nun ist. Und tum
denne- sin suhstancie, sin ivesen und sin nätüre min ist, so hin
ich der sun gotes (40,17). Dieses Bewufstsein, der Sohn Gottes
zu sein, hängt von mehreren Bedingungen ab; die erste ist^
dafs man sich von aller Sünde lossage, denn sie ist es, welche
uns von Gott trennt; die zweite besteht in der „Abgeschieden-
heit", man soll sich abscheiden von allen irdischen Dingen
und zuletzt auch von sich selbst. Es genügt nicht, dals man
seinen Willen dem göttlichen unterwerfe, Gottes Wille mufs
xielmehr zu unserm eigenen W^illen werden. Wenn des Men-
schen W^ille Gottes Wille wird, so ist das gut; wenn aber
Gottes Wille des Menschen Wille wird, so ist das besser:
dort fügt sich der Mensch nur, hier dagegen wird Gott in ihm
geboren. Eine weitere Bedingung dieser Vergottung ist die voll-
ständige Gelassenheit; der Alensch mufs sich selbst tot werden,
damit nur Gott in ihm lebt; dann kann er mit Schwester
Katrei von Strafsburg, der geistigen Tochter Eckharts, wie
schon oben erwähnt wurde, sagen: hcrre, vreirct iuch mit mir,
ich hin got worden! (465,1). Zu diesem Zustande gelangt die
Seele zwar unter Mithilfe der Gnade, aber doch vermöge der
ihr unverlorenen Freiheit des Willens; sie ist zwischen Welt
und Gott, zwischen Zeit und Ewigkeit gestellt und entscheidet
sich frei für das Eine oder Andere. Dennoch warnt Eckhart,
namentlich in der Predigt IX über Martha und Maria, vor einem
untätigen Quietismus; nicht das Handeln sollen wir aufgeben,
sondern das Handeln aus persönlichem Interesse; tugendhaft
handeln heifst zwecklos handeln, wie Eckhart in Überein-
stimmung mit der Bhagavadgitä sagt. Hierdurch wird die
Läuterung der Seele von allem Irdischen erreicht, um derent-
willen sie in den Leib gekommen ist und welche erst nach
dem Tode vollständig verwirklicht werden kann, worauf dann
die Seele mit dem göttlichen Urgründe eins sein wird, ohne
3. Die Mystik des Meister Eckhart. 453
dabei doch ihre Ichheit zu verlieren, weil diese Ichheit eben
dasjenige ist, was von jeher das Göttliche in ihr und damit
den Kern und das eigentlichste Wesen der Seele ausmachte.
4. Die Erneuerung des Noniinalismus.
Bibel und Aristoteles waren die Quellen, aus denen die
Scholastik ihre Weisheit schöpfte. Sie enthielten in allge-
meinen Sätzen die metaphysischen und physischen Grund-
wahrheiten, aus denen alle besondern Wahrheiten mittels des
oben (S. 443 fg.) dargelegten syllogistischen Verfahrens gleich-
sam herausgemolken wurden. Diese ganze Methode wurzelte
in der Überzeugung, dafs die allgemeinen Sätze und Begriffe
der schöpferische und tragende Grund für alle Einzelwahr-
heiten seien, dafs das Allgemeine ursprünglicher, „seiner
Natur nach früher" (izgÖTipo-} c;t-jav.) sei, wie Aristoteles sagt,
als das Einzelne, mithin im Realismus. Diese ganze Grund-
anschauung und mit ihr die auf ihr errichteten mittelalter-
lichen Lehrgebäude waren gefährdet, wenn es dem Nominalis-
mus gelang, sich durchzusetzen, welcher gerade umgekehrt
das Einzelne für das eigentlich Wesentliche und Ursprüng-
liche, alles Allgemeine aber für blofs sekundär, durch Ab-
straktion aus dem Einzelnen gewonnen, für blofse tcrinini,
Signa, praedicata, nomina, flatus vocis usw. erklärte. In diesem
Sinne kann man die Erneuerung des Nominalismus als das
deutlichste Anzeichen für den bevorstehenden Zusammenbruch
der Scholastik und den Anbruch einer neuen Periode in dem
geistigen Leben der Menschheit bezeichnen, einer Periode,
welche allen Autoritätsglauben von sich warf, nur noch auf
die Aussagen der äufsern und Innern Natur der Dinge lauschte
und nominalistisch alle Begriffe für sekundär, für ein blofses
Mittel ansah und noch heute ansieht, um den von der äufsern
und innern Wirklichkeit gebotenen Inhalt leichter zu über-
sehen und bequemer zu handhaben.
Dieser grofse Fortschritt erfolgte nicht auf einmal, sondern
erst nachdem mancherlei Vorzeichen angekündigt hatten, dafs
die Zeit für ihn reif war. Als ein solches ist das Auftreten des
Engländers Roger Baconzu betrachten, welcher allen begriff-
lichen Deduktionen der Scholastik gegenüber auf die Erfahrung
454 XVIII. Auflehnungen gegen das Prinzip der Scholastik.
als die allein echte Quelle des Wissens hinwies und schon im
tiefen Mittelalter den grofsen Satz aussprach: sine experientia
nihil sufficienter sclri potest. Er wurde geboren 1214 zu llchester
in Somersetshire, studierte zu Oxford das Trivium, dann zu
Paris das Quadrivium, sowie Medizin, Jura und Theologie,
kehrte als Doktor nach Oxford zurück und trat in den Fran-
ziskanerorden ein, dem er durch seine naturwissenschaftlichen
Neigungen verdächtig wurde und mancherlei Anfeindungen
erfahren mufste. So ist es vielleicht als Strafe aufzufassen,
dafs er zehn Jahre (1257 — 12()7} in eine Art Exil nach Frank-
reich geschickt wurde, wo er unter vielen Opfern und Ent-
behrungen sein opus mujus, minus und ttrtium für den ihm
gewogenen Papst Clemens IV. verfafste, nach dessen Tode er^
nach Oxford zurückgekehrt, magischer Künste beschuldigt
und, wie lange ist unbekannt, in Kerkerhaft gehalten wurde.
Er starb 1294, ohne bei seinen Zeitgenossen die gebührende
Anerkennung gefunden zu haben, obgleich er neben der äufsern,
auf Beol)achtung der Natur gerichteten Erfahrung eine innere
auf Erleuchtung und Inspiration beruhende Erfahrung unter-
schied, welche in sieben Stufen (vergleichbar den Stufen des
indischen Yoga) auf der sechsten zu dem Frieden Gottes,
welcher höher ist als alle Vernunft, und auf der siebenten zu
einem Zustande der Ekstase emporführte.
Nach diesen und andern Vorgängern, welche auf die äufsere
und innere Anschauung als die Quelle aller echten Erkenntnis
mehr oder weniger deutlich hingewiesen hatten, wagte es, wie
der ihm beigelegte Name als venerahilis incvpior beweist, der
Engländer William, nach seinem Heimatsdorfe in der Graf-
schaft Surrey William von Occam genannt, den Nominalis-
mus zu erneuern. Sein Geburtsjahr ist unbekannt; er studierte
zu Oxford unter Duns Scotus, trat in den Franziskanerorden
ein, lehrte später in Paris, wurde aber, weil er die weltliche
Herrschaft des Papstes heftig bekämpfte, von dem damals in
Avignon residierenden Papste gefangen genommen, entkam
1328 aus Avignon und flüchtete nach München zu dem gleich-
falls mit der Kurie zerfallenen Kaiser Ludwig dem Bayer
(1314 — 1347), zu dem er gesagt haben soll: in me defcndas
gladio, ego te defendam calamo, und wo er auch nach der
4. Die Erneuerunjj; des >«'ominalisnuis. 455'
wahrscheinlichem Annahme im selben Jahre wie sein kaiser-
licher Beschützer 1347 gestorben ist. Seine Bedeutung für die
Geschichte der Philosophie liegt nicht sowohl in seinen zahl-
reichen und eingehenden logischen Untersuchungen, als viel-
mehr in seiner Begründung des Nominalismus durch den Satz^
dafs nur das Einzelwesen, nicht aber das von ihm ausgesagte
Allgemeine Realität habe, da man nicht vielerlei annehmen
dürfe, wo man mit einem auskommen könne: entia iion sunt
multiplicanda praeter necessitatem. Er zeigt, wie die Annahme
von imivcrsalihus ante res eine ganze Reihe von absurden
Folgerungen nach sich ziehe: wären die Universalien Sachen,
so könnten sie als solche doch nicht von Sachen prädiziert
werden , das Einzelding könne doch nicht ein Aggregat un-
endlich vieler Communia sein, jedes Commune würde eines
und zugleich, als in den Dingen vervielfältigt, vieles sein, es
gebe nur ein uhi und quando, keine iibüas und quandeifds,
nur qiianta und qualia, keine quantitas und qnalitas; die aristo-
telische Kategorienlehre sei eine Einteilung der Worte, nicht
der Sachen, und auch im Geiste Gottes seien die Universalia,
ebenso wie im Menschengeiste, nur sofern sie in den Dingen
verwirklicht seien und aus diesen abstrahiert würden. Ein
Hauptargument, wenigstens ein solches, welches auf die Zeit-
genossen am meisten Eindruck machen mochte, war dabei,
dafs bei der Annahme von Universalien Gott die Dinge nach
diesen geschaffen haben müsse, somit die Schöpfung aus Nichts,
dieses der Kirche so teure Dogma, unhaltbar sein würde. —
üccam ist sich wohl bewufst, dafs sein Nominalismus, wie es
bei Roscellin eingetreten war, dem Dogma der Trinität ge-
fährlich werden könne, aber er weifs sich hier und überall
dadurch aus der Sache zu ziehen, dafs er, ebenso wie schon
sein Lehrer Duns Scotus und nur noch viel schärfer als dieser,
die theologischen AYahrheiten von den philosophischen unter-
scheidet und den Satz unverhohlen ausspricht, dafs etwas
theologisch wahr und doch philosophisch falsch sein könne,
womit in entschiedener und für die Folgezeit verhängnisvoller
Weise das Tischtuch zwischen Theologie und Philosophie
durchschnitten war. Die kirchlichen Dogmen sind nach ihm
teils unbeweisbar, wie Gottes Existenz und seine Eigenschaften,
45(5 XYllI. Auflelinuiigeii gegen das Prinzip der Scholastik.
teils sogar der Vernunft widersprechend, wie dies bei der
Trinität, Schöpfung, Inkarnation und Transsubstantiation der
Fall sei. Aber diese Dogmen seien auch gar nicht dazu da,
um verstanden, sondern um geglaubt zu werden. Noch ent-
schiedener als Duns fordert Occam Unterwerfung des eigenen,
auch nach seiner Lehre freien Willens unter den Willen Gottes,
d. h. der Kirche, lehrt mit ihm, dafs eine Sache nicht gott-
gewollt, weil gut, sondern gut, weil gottgewollt sei, und er-
klärt sogar, dafs er bereit sei, alles zu widerlegen, was er be-
hauptet habe, sobald die Kirche es gebiete'. Wenn man seinen
Kampf gegen das Papsttum bedenkt, so ist es schwer, an die
Aufrichtigkeit dieser Erklärung zu glauben.
Es ist begreiflich, dafs 1339 das Lehren nach Occams
Büchern an der Pariser Universität verboten, und dafs eben-
daselbst im Jahre darauf der Nominalismus als eine der Kirchen-
lehre widerstreitende Doktrin in aller Form verworfen wurde,
es ist aber ebenso begreiflich, dafs nicht nur Franziskaner,
sondern auch Dominikaner und Augustiner, ungeachtet des
heftigen Widerstandes der Thomisten und Scotisten, in grofser
Anzahl dem die folgenden Jahrhunderte beherrschenden No-
minalismus zufielen, und dafs es ein vergebliches Beginnen
war, wenn 1473 durch ein Edikt Ludwigs XL alle Lehrer der
Pariser Universität eidlich auf den Realismus verpflichtet
wurden, wie denn schon 1481 der Nominalismus wieder frei-
gegeben werden mufste.
Unter den zahlreichen Schülern des Occam nennen wir
nur noch den vielbesprochenen Johannes Buridanus (1327
Rektor der Pariser Universität), dessen logisches Compendium
supra Summulas scherzhaft auch pons asinorwn „Eselsbrücke"
genannt wurde, während sich der berühmte Esel des Buridan
in seinen Schriften noch nicht hat finden lassen. Nur theo-
logisch, so soll Buridan gelehrt haben, ist der Wille frei,
philosophisch hingegen mufs er mit Notwendigkeit nach dem-
jenigen Motiv handeln, welches für ihn das stärkste ist, und
gesetzt den Fall , dafs ein Esel zwischen einem Bündel Heu
und einem Eimer Wasser stünde, und dafs Hunger und Durst
ihn vollkommen gleich stark nach beiden Seiten zögen, so
müfste der Esel eher verhungern und verdursten, als dafs er
4. Die Erneuerung des Nominalismus. 457
sich dem Heu oder Wasser zuwendete. Der oft gemachte
Witz, dafs man eben ein Esel sein müsse, um so zu handeln,
weicht der sehr ernsten Frage aus; die wahre Lösung besteht
darin, dafs zwar bei voller Gleichheit der Motive eine Ent-
scheidung für das eine oder andere unmöglich sein würde,
dafs aber ein solches Gleichgewicht wie bei einer schweben-
den Wage nur für einen Augenblick möglich ist, indem wäh-
rend der Wahlentscheidung der nie stillstehende Wechsel der
Innern Zustände sehr bald das Übergewicht des einen Motivs
über das andere herbeiführen würde. — Das Zusammenbestehen
der empirischen Notwendigkeit und der in ihr zum Durchbruch
gelangenden metaphysischen Freiheit, welche sich dem
Schema des empirischen Handelns so weit anpassen mufs, dafs
auch dieser Durchbruch als ein Akt der Notwendigkeit er-
scheint, setzt voraus die Kantische Unterscheidung des Dinges
an sich von der dem Gesetz der Kausalität unterworfenen Er-
scheinung und war daher für die Zeit des Mittelalters und
noch weit über dasselbe hinaus ein unlösbares Problem.
XIX. Der Zusammenbruch der Scholastik.
1. Allsremeine Übersicht.
Die Erkenntnis, dafs alles begriffliche Wissen sekundär
ist, dafs die einzige Quelle aller echten Erkenntnis die un-
ermefslich um uns her sich ausbreitende und unergründlich
in unserm Innern sich ankündigende Natur der Dinge ist, und
dafs auf diesen beiden Gebieten der äufsern und Innern Wirk-
^ lichkeit die grofsen«Probleme liegen, welche dem forschenden
Menschengeist aufgegeben sind, — diese grofse Einsicht war
dem im Autoritätsglauben befangenen Mittelalter ganz ab-
handen gekommen, und der erste Schritt zu ihr war die Er-
schütterung der bis dahin herrschenden Autoritäten, wie sie
durch die Erneuerung und immer weitere Ausbreitung des
Nominalismus vorbereitet wurde. Von dieser Erneuerung des
Nominalismus als dem ersten Anzeichen, dafs für die Menschheit
ein neues Weltalter im Anzüge war, bis zur völligen Befreiung
458 XIX. Der Ziisammenbrucli der Scholastik.
von allem Autoritätsglauben, wie sie die Bedingung eines
fruchtbaren philosophischen Fortschreitens ist, war noch ein
langer, durch drei, ja im gewissen Sinne durch fünf Jahr-
hunderte sich erstreckender Weg, dessen Hauptwendepunkte
wir hier kurz verzeichnen wollen.
Der erste Schritt zur Befreiung des menschlichen Geistes
von den Fesseln, welche das Mittelalter ihm angelegt hatte,
bestand darin, dafs man von demjenigen Aristoteles, wie er,
gesehen durch das Medium arabischer Kommentare und mit
ihrer Hilfe erlangter Übersetzungen, erschien, zurückging auf
den echten Aristoteles, und nicht nur auf ihn, sondern auch
auf die andern Denkmäler des griechischen Altertums, vor
allem auf den Piaton und den in seinem Fahrwasser segelnden
Neuplatonismus, und dieser Rückgang war die grofse Tat der
Renaissance, der „Wiedergeburt" des klassischen Altertums
mit dem in seinen Gestalten verwirklichten Ideal einer edeln,
freien, nur auf sich selbst gegründeten Menschlichkeit, welche
das Vorbild wurde für den Humanismus, der als Losungs-
wort des Tages von 1400 — 1600 das geistige Leben der abend-
ländischen Völker durchdrang und beherrschte,
Hand in Hand mit der Renaissance vollzog sich in dieser
Periode auch eine LTmwandlung auf theologischem Gebiete.
Wie die Renaissance auf die Schriften des klassischen Alter-
tums, so ging die Reformation auf die biblischen Urkunden
zurück, schob den ganzen Wust mittelalterlicher Traditionen
und Einrichtungen beiseite und wollte sich in Lehre und Leben
nur auf das reine Gotteswort gründen, wie n^ian es in den
Büchern des Alten und Neuen Testaments zu besitzen glaubte.
Dem Aristoteles war Luther nicht freundlich gesinnt; er er-
klärte ihn für „eine gottlose Wehr der Papisten". Als aber
die Reformatoren daran gingen, in protestantischem Sinne
Kirche und Schule zu reorganisieren, und Melanchthon es unter-
nahm, die erforderlichen Lehrbücher für die Schulen herzu-
stellen, da wurde er inne, dafs ein Schatz von Weisheit, wie
man ihn in den Schriften der Alten besafs, sich nicht ohne
grofsen Schaden beiseite schieben lasse, und er mufste er-
klären: „curcre mouumcntis Aristoidi'i »on posstonub", worauf
dann mit Luthers Zustimmung; ein gemäfsigter Aristotelismus
1. Allgemoiiie Übersicht. 45**
in den protestantischen höhern und niedern Schulen herrschend
Wieb, während in kathohschen Kreisen der Thomismus nach
wie vor als Grundlage festgehalten wurde, namentlich in Italien
und Spanien, wo der Jesuit Suarez (geboren zu Granada 1548,
gestorben 1GI7 zu Lissabon] in seinen 5i Disjuitationcs meta-
physicae ein vortreffliches Kompendium der Scholastik kurz
vor deren Abtreten vom Schauplatze der philosophischen
Forschung lieferte.
Die weitere Aufgabe fiel dann der Philosophie zu; sie be-
stand darin, von den antiken und biblischen Autoritäten zurück-
• zugehen auf die äufsere und innere ^^'irklichkeit selbst als die
letzte Quelle, aus welcher ein Piaton und Aristoteles und
ebensosehr ein Jesus und Paulus ihre Oßenbarungen ge-
schöpft hatten. Jetzt erst war der Boden gewonnen, auf dem
ein vorurteilsfreies und fruchtbares Arbeiten auf physischem
und metaphysischem Gebiete möglich war, und das letzte Er-
gebnis dieser Arbeit bestand einerseits in der Erkenntnis, dafs
die ganze materielle Welt nur Erscheinung, nur die Aus-
breitung eines an sich raumlosen und zeitlosen Inhalts in den
uns a priori innewohnenden Anschauungsformen des Eaumes
und der Zeit ist, und andererseits in der durch keine Versuche
des Empirismus, so oft sie angestellt wurden und noch weiter
angestellt werden mögen, zu erschütternden Gewifsheit, dafs
das moralische Phänomen, der kategorische Imperativ und was
mit ihm zusammenhängt, aus den Gesetzen der Erscheinungs-
welt schlechterdings unerklärbar ist und als eine „himmlische
Stimme" (wie Kant sagt] Zeugnis ablegt von einer über welt-
lichen, dem Intellekt weislich verschlossenen und nur auf dem
Wege des moralischen Handelns annäherungsweise erreich-
baren göttlichen Ordnung der Dinge.
Bis zu diesem letzten Ziele aller philosophischen Erkenntnis
war allerdings von dem Punkte aus, zu dem wir gelangt sind,
noch ein weiter Weg, und ehe wir in der Geschichte der
neuern Philosophie den Fortgang der Menschheit in ihrem
gewaltigen Ringen um die ewige Wahrheit verfolgen können,
wird es unsere nächste Aufgabe sein, den Zusammenbruch
der Scholastik zu betrachten, wie er sich zwischen 1400 und
1500 durch die Erneuerung des Piatonismus, sowie zwischen
460 XIX. Der Zusammenbnuii der Scholastik.
1500 und 1600 durch den Sturz des Aristoteles aus der von
ihm so lange eingenommenen Höhe vollendete.
2. Die Erneiierung: dos Platonisimis.
Die Liebe zu den Werken des klassischen Altertums,
welche in Italien nie ganz erloschen war, flammte, genährt
durch Dichter wie Dante (1265 — 1321), Petrarca (1304—1374)
und Boccaccio (1313 — 1375), sowie durch den wachsenden
Wohlstand der Städte aufs neue auf, während gleichzeitig im
Osten das Byzantinische Kaiserreich durch die Eroberung der
Türken immer enger eingeschnürt wurde und mit der Er- *
stürmung von Konstantinopel 1453 ganz zugrunde ging. Schon
vor diesem Ereignis, und noch mehr nach ihm, hatten sich
griechische Gelehrte, getrieben durch die Not der Zeiten, nach
Italien geflüchtet und hatten dorthin die Kenntnis der griechi-
schen Sprache und Literatur, namentlich auch der platonischen
Schriften gebracht, welche, vermöge ihrer metaphysischen
Tiefe, ihres Kopf und Herz ergreifenden Inhalts und nicht am
wenigsten vermöge ihrer künstlerischen Form, alsbald an-
fingen, den Schriften des Aristoteles in der Gunst der Zeit-
genossen den Rang abzulaufen. Es entspann sich von 1400
bis 1500 p. 0. zunächst in Italien, dann aber auch nach den
nördlichen Ländern übergreifend, ein heftiger Kampf zwischen
Piatonikern wie Plethon, Bessarion, Marsilius Ficinus, und
Aristotelikern wie Gennadios, Georg von Trapezunt und Theo-
dorus Gaza, ein Kampf, welcher mehr und mehr zugunsten des
Piaton ausschlug, und von dem wir hier nur die wichtigsten
Momente verzeichnen wollen.
Georgios Gemistos Plethon, welcher seinen Beinamen
r^a'-CTTo?, etwa „der (mit Gelehrsamkeit) Vollgepfropfte'', in das
ungefähr gleichbedeutende, an ITAdcTwv anklingende Hatj^ov
umwandelte, war geboren 1355 zu Konstantinopel, kam als
begeisterter Apostel Piatons nach Italien und fand seit 1438
Aufnahme in der Republik Florenz, wo das ursprünglich dem
Kaufmannsstand angehörige, durch seinen Reichtum und sein
Eintreten für die Interessen der untern Klassen zu höchstem
Ansehen gelangte Geschlecht der Mediceer, namentlich unter
Cosmo de' Medici (1389 — 14^)4) und seinem Enkel Lorenzo
2. Die KriiL'uenuig des Piatonismus. 4t'»l
(1448 — 1492), ohne die äursern Formen der Republik anzu-
tasten, ähnlich wie vordem Perikles zu Athen, eine Allein-
herrschaft ausübte. Durch die Vorträge des Plethon für den
Platonismus gewonnen, stiftete Cosmo 1440 zu Florenz die
platonische Akademie, eine freie Vereinigung zum Studium
des Piaton, später unter Marsilius Ficinus als Vorsteher, und
gründete 1444 die Bibliotheca Laurentiana mit ihrer un-
schätzbaren Handschriftensammlung. Plethon schrieb neben
einer durch den Patriarchen Gennadios verdammten und daher
nur teilweise erhaltenen Nctj-ov c-j7Ypa9i] eine 1440 verfafste
Abhandlung: llipl a)v "Apcc-oTSATjC TTpc; lIXaxova hioLd^igzzoi.'., in
welcher er, über die vom Christentum abweichenden Lehren
von der Präexistenz, Weltseele und Gestirnseelen wie auch
über die neuplatonische Lehre einer zeitlosen Weltschöpfung
leichter hinweggehend, die Einwendungen des Aristoteles gegen
die platonische Ideenlehre verwarf und die Ideenlehre des
Piaton mit Einschlufs der von ihm nicht deutlich davon unter-
schiedenen neuplatonischen Fassung als seine Überzeugung
vertrat und mit feuriger Beredsamkeit verteidigte.
Gegen Plethon und seine dem Heidentum zuneigenden,
auch die Entartung der Mönchsorden bekämpfenden Schriften
erhob sich Georgios Gennadios (seit 1453 unter Sultan
Mohammed Patriarch in Konstantinopel) in seiner Schrift:
xaTa Töv Hatj'Tovcc axopLöv iiz 'ApiCTo-SAS!,, in welcher er den
aristotelischen Standpunkt verteidigte, wie er denn auch andere
Schriften im Sinne des Aristotelismus teils verfafste, teils aus
dem Lateinischen ins Griechische übersetzte.
Ein anderer Gegner erstand dem Plethon in Georgios
von Trapezunt (geboren 1396), welcher 1464 in seiner Schrift
Comparatio Flatovis et Aristotclis die platonischen und noch
mehr neuplatonischen Anschauungen als unchristlich verwarf,
den Plethon beschuldigte, als ein zweiter Mohammed eine neue
Religion stiften zu wollen, und dem Aristoteles unter heftiger
Polemik gegen den Platonismus den Vorzug gab.
Ihm antwortete wiederum Johannes (oder Basilius)
Bessarion (geboren 1403 zu Trapezunt), welcher mit dem Kaiser
Johannes VII. Palaeologus nach Italien gekommen war, um
1439 die nur kurzlebige Glaubensunion zu Florenz zu stiften,
462 XIX. Der Zusammenbruch der Scholastik.
mit seinem Lehrer Plethon die Verehrung für Piaton teilte,
später zum Kardinal der römischen Kirche erhohen wurde und
von einem Kreise anderer Gelehrter umgeben zu sein pflegte.
Er lebte zu Bologna, Rom, Venedig, dem er seine Hand-
schriftensammlung vermachte, und starb 1472 zu Ravenna.
Gegen Georgios von Trapezunt richtete sich die 14G9 er-
schienene Schrift des Bessarion Advcrsus calunmiatoreni PJa-
ion/'s, welche sich jedoch, wie überhaupt das Auftreten dieses
Mannes, durch mafsvolles Verhalten auszeichnete.
Dieser von beiden Seiten mit Leidenschaft geführte Streit
hatte zur Folge ein eifriges Studium sowohl der platonischen
als der aristotelischen Schriften. Unter den Aristotelikern
verdient besondere Erwähnung Theodorus Gaza (Sööhtygoc.
6 l'a^'?;r), geboren um 1400 zu Thessalonich, welcher nach Er-
oberung seiner Vaterstadt 1430 nach Italien gekommen war
und als Professor der griechischen Sprache und Literatur zu
Ferrara, daneben auch zu Rom, Neapel und in Kalabrien wirkte.
Er war ein Gegner des Plethon, doch aber mit Bessarion be-
freundet und hat neben eigenen Arbeiten über den Unterschied
des Piaton und Aristoteles verschiedene Schriften des Aristo-
teles und Theophrast, namentlich aus dem Gebiete der Natur-
wissenschaften, ins Lateinische übersetzt.
Alle diese Männer übertraf, wenn auch nicht an Bedeutung,
so doch an nachhaltiger Wirksamkeit, Marsilius Ficinus,
geboren 1433 zu Florenz, wo sein Yater Leibarzt des Cosmo
de' Medici war. Er studierte zunächst in Bologna Medizin,
dann in Florenz die griechischen Klassiker, hing mit höchster
Liebe und Verehrung an Piaton wie an einem Propheten und
wurde von Cosmo zum ersten Vorsteher der platonischen Aka-
demie ernannt. Er hat das grofse Verdienst, die Werke des
Piaton wie auch die des nicht weniger von ihm verehrten
Plotin ins Lateinische übersetzt und dadurch allgemein zu-
gänglich gemacht zu haben. Daneben verfafste er eine TJuo-
logia Platopica, in welcher er, ähnlich wie die Scholastiker
den Aristoteles, vielmehr den Piaton als Befestigungsmittel
des christlichen Glaubens behandelt und besonders die indivi-
duelle Unsterblichkeit gegen Averroisten und Alexandristen
verteidiste.
o. Der Sturz des Aristoteles. 463
3. Der Sturz des Aristoteles.
Die Frage nach der individuellen Unsterblichkeit war es
denn auch, welche zwischen 1500 und 1600 den Sturz des
Aristoteles aus der Höhe, welche er fast vier Jahrhunderte
lang eingenommen hatte, vollendete. Aristoteles lehrt, wie
"bekannt, dafs die Seele nur die Entelechie des Körpers, und
dafs eine Seele ohne Körper so viel sei wie ein Gehen ohne
Tüfse. Unsterblich am Menschen ist nur der aktive Intellekt
(voOr TCot,7]T!.x6c), welcher von aufsen (^ijpa^sv) in den Menschen
hereinkommt und im Grunde nichts anderes ist als die Ge-
samtheit des begrifflichen Wesens der Dinge. Hieran knüpfte
sich bei den Anhängern des Aristoteles die Frage, ob der
Meister eine individuelle Unsterblichkeit lehre oder nicht, und
diese Frage brach zu einem hitzigen Streite aus zwischen den
Alexandristen, welche mit dem Kommentator Alexander von
Aphrodisias (200 p. C.) in antiker Naivität erklärten, dafs eine
individuelle Unsterblichkeit aus dem Aristoteles nicht ableitbar
sei, und mit den Averroisten, welche mit dem arabischen
Kommentator Averroes (oben S. 412} im Grunde dasselbe be-
haupteten, nur dafs die Negation der Unsterblichkeit des In-
dividuums durch die Behauptung, dafs der allen gemeinsame
mtellectus activus unsterblich sei, theologisch bemäntelt wurde
und eine Versöhnung mit dem christlichen Dogma möglich zu
machen schien. Beide Parteien hatten, namentlich in Italien,
ihre eifrigen Vertreter, und Marsilius Ficinus behauptet sogar
in seiner Vorrede zur Übersetzung des Plotin, dafs die ganze
AVeit von diesem Streite widerhalle: Totus ferc terrarum orbis
a Peripatcticis occupatus iv chias pJnrimwu scctas divisus est,
Alexandrinam et Averroicam. Uli quidem intellectum nostrum
esse mortalem existimant, In vero itrricum esse conteudimt, ntrique
reUtjionem omnem funditus aeqne tollunt. Diese Behauptung,
dafs die aristotelische Seelenlehre die christliche Religion von
Grund aus aufhebe, war es denn auch, welche im Fortgange
des Streites den Glauben an Aristoteles in der damaligen Zeit
vollständig erschütterte.
Wie in Florenz der neu erstandene Piatonismus, so herrschte
an der Universität zu Padua der sogar von der Kirche geduldete
Averroismus, vertreten durch den Theatiner Nicoletto Vernias,
464 XIX. Der Zusammenbruch der Scholastik.
als ihm der 14(32 zu Mantua geborene Petras Pomponatius,
seit 1495 zu Padua lehrend, als ein Vorfechter des Alexandrismus
entgegentrat. Später wirkte er für seine Auffassung in Ferrara
und Bologna, wo er 1524 starb. In seinem berühmten tractntns de
imniortalitate ainmae (1516 zu Bologna und trotz, oder vielmehr
wegen ihrer Verbrennung durch den Dogen noch oft an andern
Orten erschienen) sowie in der Schrift de fato^ lihero arhürio et
praedestinatione (Bologna 1520) erklärte er, dafs die Unsterb-
lichkeit der Seele, philosopliisch betrachtet, unhaltbar und das
moralische Handeln nur dann rein sei, wenn es sich nicht auf
Furcht und Hoffnung einer Vergeltung nach dem Tode gründe,
dafs aber gleichwohl die Unsterblichkeit auf Autorität der
Kirche geglaubt werden müsse. Diese Antinomie erweiterte
sich bei ihm zu der offen bekannten Theorie einer doppelten
Wahrheit: philosophisch sei die Seele sterblich, theologisch
unsterblich, philosophisch sei der Wille unfrei, theologisch frei,
philosophisch gebe es keine Wunder, theologisch müfsten sie
anerkannt werden. Diese Lehre von einer doppelten Wahr-
heit wurde nicht nur von der Kirche verworfen, sondern wider-
strebt auch so sehr dem menschlichen Bewufstsein, dafs man
sich wundern mufs, wie sie überhaupt so viel Anklang finden
konnte. Und doch liegt ihr vielleicht schon ein dunkles Be-
wufstsein zugrunde von dem Gegensatze empirischer und meta-
physischer Wahrheit. Empirisch ist der Mensch den Gesetzen
des Raumes, der Zeit und der Kausalität unterworfen, somit
sterblich und unfrei, metaphysisch hingegen, als Ding an sich,
ist er zeitlos und insofern ohne Anfang und Ende, und kausali-
tätlos, folglich frei, und das Hervortreten dieser Freiheit in
dem moralischen Handeln ist als eine Durchbrechung der Natur-
ordnung, somit in der Sprachweise der Kirche als ein Wunder
zu betrachten. Über die Möglichkeit aber des Zusammen-
bestehens dieses kontradiktorischen Gegensatzes wird uns erst
die Entwicklung der neuern Philosophie einen, wie wir hoffen,
vollbefriedigenden Aufschlufs gewähren.
Während der Alexandrismus des Pomponatius sogar am
päpstlichen Hofe bei dem dort herrschenden und mit Sitten-
losigkeit gepaarten Unglauben seine Gönner fand, veranlafste
doch Papst Leo X. eine Widerlegung der Schrift des Fompo-
o. Der Sturz des Aristoteles. 4(55
i)afw.<; de inintortalitnfe aiif'niac durch Augustinus Niphus,
welcher, geboren 1473, als Vertreter eines gemäfsigten, An-
schlufs an die Kirchenlehre suchenden Averroismus zu Pisa,
Bologna, Rom, Salerno und Padua bis zu seinem 1546 er-
folgenden Tode lehrte. Aufser seiner Widerlegungsschrift
gegen Pomponatius, welcher ihm in seinem Defensorium contra
yi2)h/tm (Bologna 1519) antwortete, hat er sich durch Kom-
mentare zum Aristoteles wie auch durch die Herausgabe der
Schriften des Averroes verdient gemacht. Eine Mittelstellung
zwischen Pomponatius und Niphus nahm, als Schüler beider
Simon Porta (1496 — 1554) ein, sowie dessen Schüler An-
dreas Caesalpinus (geboren zu Arezzo 1519, gestorben zu Pisa
1603), welcher als Leibarzt des Papstes Clemens VIII. in seinen
Quaestwnes Pcripatdicoe (1471) und seiner Daemomim investi-
gatio peripateiica (1583) eine Annäherung des Averroismus an
das Christentum suchte, jedoch mit seiner Auffassung Gottes
als der unerkennbaren, weder endlichen noch unendlichen,
weder bewegten noch ruhenden anima universalis zu sehr an
das Schreckgespenst des Pantheismus streifte, als dafs der
Averroismus auch in dieser Form für die Kirche annehmbar
gewesen wäre.
Noch weniger war es der Alexandrismus, dessen Konse-
quenzen deutlich hervortraten in LucilioVanini, welcher,
geboren zu Neapel 1585, in seinen Schriften: Ampliitlicütrum
aetcrnae providcntiae (Lugdunum 1615) und seinen vier Büchern:
De admirandis naturae, reyinac deaeque mortalium, arcanis,
.,über die wunderbaren Geheimnisse der Natur, der Königin
und Göttin der Sterblichen" (Paris 161G) unter der Maske der
Unterwürfigkeit unter das Kirchendogma mit feuriger Bered-
samkeit einen reinen Naturalismus und eine Naturvergötterung
vertrat, gegen welche die Kirche ihr kräftigstes Argument,
den Scheiterhaufen, anwendete. Er wurde, obgleich er wider-
rufen hatte, 1619 zu Toulouse verbrannt.
So hatte sich denn um 1600 der Aristotelismus als Stütze
des christlichen Glaubens in seinen beiden Formen, der pan-
theistischen des Averroes und der naturalistischen des Alexan-
der Aphrodisiensis, für die Kirche unannehmbar gemacht, und
damit war, wenn wir von dem künstlich neubelebten Thomismus
Deussen, Geschichte der Philosophie. II. ii, 2. 3()
-466 XIX. Der Zusammenbruch der Scholastik.
absehen, die Rolle des Aristoteles als eines Trägers der philo-
sophischen Wahrheit ausgespielt, während er als eine der
gröfsten Erscheinungen in der Geschichte der Philosophie seine
Bedeutung bis zur Gegenwart behauptet hat und auch in Zu-
kunft behaupten wird.
XX. Der Tagesanbruch der neuern Philosophie.
1. Ausblick.
Hand in Hand mit dem Verfall der mittelalterlichen Scho-
lastik gingen die ersten Symptome eines Er^jt-achens der Mensch-
heit aus dem Winterschlafe des Mittelalters, Symptome, in
welchen sich der Geist einer neuen Epoche ankündigt, der
Epoche der neuern Philosophie, deren Aufgabe keine andere
sein kann als diese, dafs der forschende Menschengeist, un-
mittelbar und frei von dem Nebel heiliger und profaner Tra-
ditionen, die äufsere und innere Natur der Dinge ins Auge
fal'st und beide Seiten der Betrachtung bis in die letzten Tiefen,
bis. zu dem Punkte verfolgt, wo sich beide zusammenschliefsen
zu der Einheit der ewigen Wahrheit, soweit diese, ungeachtet
gewisser natürlicher Schranken, welche jedoch als solche er-
kannt und in Abrechnung gebracht werden können, erreich-
bar ist.
Von diesem hohen Ziele sind die ersten Versuche einer
selbständigen Gedankenbildung, wie sie zwischen 1400 und
1600 auftreten, noch weit entfernt. Einerseits bleiben diese
Versuche noch stark in den Traditionen des klassischen Alter-
tums und der Kirche befangen, wie man dies sogleich bei
Nicolaus Cusanus, der ersten Erscheinung, die uns hier ent-
gegentritt, beobachten kann, andererseits strebt der Menschen-
geist im neu erwachten Bewufstsein seiner Kraft weit über
alles Erreichbare hinaus und verliert sich neben grofsen,
schöpferischen, die Zukunft antizipierenden Gedanken in phan-
tastische Gebilde, welche jene Gedanken verdunkeln und fürs
erste eine fruchtbare Fortentwicklung derselben verhindern,
so dafs die neuere Philosophie andere Anknüpfungspunkte
suchen mufste als die genialen aber unabgeklärten und sich
1. Ausblick. . 4r,7
Überstürzenden Versuche, die uns im folgenden begegnen
werden.
Angeregt und unterstützt wurden diese Versuche durch
eine Reihe äufserer Ereignisse, welche sich gegen Ende des
Mittelalters zusammendrängten und den geistigen Horizont ins
Ungemessene erweiterten. Schon die Kreuzzüge hatten dem
Abendlande eine neue AVeit erschlossen, und mehr noch als
sie trugen verschiedene Erfindungen und Entdeckungen dazu
bei, die Weltanschauung des Zeitalters von Grund aus um-
zugestalten. Schon die Erfindung, oder vielleicht richtiger das
Bekanntwerden des Schiefspulvers um 1350 darf hier erwähnt
werden, da sie das Ende des Rittertums und damit eine Um-
gestaltung des mittelalterlichen Ständewesens herbeiführte,
welche dann zu den politischen und sozialen Theorien eines
Machiavelli, Hobbes, Grotius u. a. Anlafs bot. Wich-
tiger sollte noch die Erfindung des Kompasses (etwa um 1310)
werden, mit dessen Hilfe die Entdeckung Amerikas durch
Columbus (1492), des Seeweges nach Ostindien durch Vasco
de Gama (1498) und die erste Umsegelung der Erde unter
Magalhäes (1519 — 1522) gelang, während, die Erfindung der
Buchdruckerkunst durch Gutenberg und seine Gehilfen (1450)
■es ermöglichte, die neuen Aufschlüsse und Gedanken bis in
Kreise zu tragen, welche bis dahin von dem höhern geistigen
Leben nur wenig berührt worden waren. Mit Eifer bemäch-
tigte sich die Naturwissenschaft des neuen, von allen Seiten
ihr zufliefsenden Stoffes, und aus ihrem Kreise war bei weitem
das wichtigste Ereignis die Erneuerung der schon dem Alter-
tum bekannten, aber durch die Autorität des Aristoteles
A'erdrängten Lehre von der täglichen Bewegung der Erde
um ihre Achse und ihrer jährlichen Umkreisung der Sonne
durch Nicolaus 'Kopernik US und die Fortbildung dieser Lehre
durch Giordano Bruno. Neben Bruno waren es zwei andere
grofse Männer, Jacob Böhme und Bacon vo.n Verulam,
-welche alle drei um das Jahr 1600 gleichsam die Wiege der
neuern Philosophie umstanden, den gärenden, stürmisch vor-
wärts drängenden Geist der neuen Zeit in ganz verschiedener
A\'eise -zum Ausdruck brachten,* ohne dafs einer von ihnen auf
«den Ehrentitel eines Vaters der neuern Philosophie Anspruch
30*
468 ^^- I^ci' Tiigcsanbrucli der neuem riiilosuphie.
machen könnte, daher wir es zweckmäfsiger finden, ihnen
nicht als Urhebern eines neuen, sondern als bedeutsamen Ab-
schlufs eines erst mit ihnen definitiv zu Grabe getragenen
Zeitalters ihre Stellung anzuweisen.
2. Xicolaiis Ciisanus.
Nicolas Chrypffs wurde geboren 1401 als Sohn eines
Bauern und Fischers, dessen Haus noch jetzt einen Krebs als
Wappen zeigt, zu Cues, einem Städtchen an der Mosel (gegen-
über Berncastel), welches noch heute die Bibliothek seines
nach ihm sich Nicolaus Cusanus nennenden grofsen Sohnes
sowie ein von ihm gestiftetes Hospital besitzt. Er wurde auf
Kosten eines vornehmen Gönners, des Grafen Ulrich von
Manderscheid, zu Dementer in Holland bei den Brüdern des
gemeinsamen Lebens (Fratres communis vitae, aus deren
Schule auch Thomas a Kempis und Erasmus Rotterdamus
hervorgegangen ist) erzogen , studierte zu Padua die Rechte,
wandte sich aber später der Theologie zu, wirkte eine Zeit-
lang als Dekan zu Coblenz und Archidiakonus zu Lüttich und
wurde 1432 vom päpstlichen Legaten zum Konzil zu Basel
eingeladen, wo er zunächst für das Konzil als höchste kirch-
liche Autorität eintrat, dann aber, als dasselbe mit dem Papst
zerfiel, sich auf Seite des Papstes stellte. Er wurde vom
Papst Eugen IV. zu verschiedenen Missionen in Konstantinopel,
Frankreich und auf den deutschen Reichstagen benutzt, wirkte
besonders 1447 zum Abschlufs des Frankfurter Konkordats
mit und wurde 1448, obgleich ein Deutscher, von Nicolaus V.
zum Kardinal der römischen Kirche erhoben. Als päpstlicher
Legat wurde er 1452 mit einer Visitation der Klöster in Deutsch-
land und Holland betraut. Schon zwei Jahre vorher war er
zum Bischof von Brixen' ernannt worden, wurde aber dadurch
in einen langwierigen Streit mit der österreichischen Staats-
gewalt verwickelt, welcher 1460 sogar zu seiner vorüber-
gehenden Gefangennehmung führte. Um den Frieden wieder-
herzustellen, begab sich Cusanus nach Rom, wurde während
der Abwesenheit des Papstes zum yovcrnatore von Rom er-
nannt und begleitete später Pius II. nach Umbrien, wo er
1464 zu Todi drei Tage vor dem Papste selbst starb. — Unter
2. Nicolaus Cusaims. 409
den zahlreichen Schriften des Cusanus, welche sich auf theo-
logische und philosophische Fragen, mathematische Probleme,
die Verbesserung des Kalenders und anderes beziehen, sind
für die Philosophie am wichtigsten die 1440 erschienenen drei
Bücher de docta ignorautia und die ihnen folgenden zwei
Bücher de conjecturis, in welchen Cusanus alles menschliche
Wissen über Gott für blofse Vermutungen erklärt und die
höchste Weisheit in der Erkenntnis unseres Nichtwissens
findet. Es gibt nach ihm drei Erkenntniskräfte, den sensus,
welcher uns die Sinnenwelt vermittelt, die 7'atio, welche das
von den Sinnen gelieferte Material urteilend, bejahend und
verneinend, verbindend und trennend zu Gegensätzen aus-
einanderlegt, und den intcllectus, der uns in ein Gebiet erhebt,
in welchem alle diese Gegensätze zur Einheit zusammenfallen.
Wie zwischen einer Sehne von konstanter Länge und ihrem
Kreisbogen ein Gegensatz besteht, welcher sich verringert in
dem Mafse, wie der Radius des Kreises wächst, und völlig
schwindet, wenn wir den Radius als unendlich annehmen, so
findet in dem unendlichen göttlichen Wesen die coincidcnfia
contradictorlorum, das Zusammenfallen aller Gegensätze zur Ein-
heit statt. Im Anschlufs an den Areopagiten, an Erigena und
Meister Eckhart lehrt der Cusaner, dafs Gott die Einheit aller
Gegensätze bildet; er ist daher weder seiend noch nicht-
seiend, weder unendlich noch endlich, weder ruhend noch be-
wegt, und ebensosehr unendlich grofs wie er unendlich klein
und in allem Kleinsten enthalten ist. Gott ist somit überall
und in jedem Teile ganz gegenwärtig, und der Mensch braucht
nur sich selbst zu erkennen, um den Grund alles Seins zu
erfassen. Gott ist der Inbegriff aller vier aristotelischen
Prinzipien, er ist die reine Form, der Zweck, die bewegende
Kraft und zugleich der Stoff in allem Seienden, er ist die
complicatio, deren explicatio diese ganze Welt ist. Mit diesen
pantheistischen Anschauungen weifs Cusanus die kirchliche
Trinitätslehre in der Weise zu verbinden, dafs ihm, ähnlich
wie bei Meister Eckhart, der Vater das intelUgens , der Sohn
das intelligihiJe, und der Geist das Band zwischen beiden, das
int eiligere, ist. Hängen in diesen Punkten die Anschauungen
des Cusaners von der christlichen, neuplatonischen, auch neu-
470 XX. Der Tagesanbrucli der neuem riiilosophie.
pythagoreischen Tradition ab, so antizipiert er mit einem fast
prophetischen BHck Ansichten, deren Begründung und wissen-
schaftliche Verwertung einer weit spätem Zeit vorbehahen
bheb; sofern er vor Kopernikus eine Achsendrehung der Erde^
vor Bruno die räumhche und zeithche Unendhchkeit des Uni-
versums annimmt, vor Leibniz jedes Einzelding als einen
Spiegel des Universums betrachtet und vor Kant die Un-
sterblichkeit auf die uns obliegende und nur in unendlichem
Fortschritt erreichbare Aufgabe der Selbstvervollkommnung
gründet.
3. Das Xatiirwissen im Zeitalter der Kenaissancc.
Die Kenntnis der Natur führt zur Herrgchaft über die
Natur; beide aber haben, wie wir wissen, ihre Schranken,
und diese Schranken zu verkennen, war in der Zeit der neu
aufkommenden Naturforschung ein für viele Erscheinungen
dieser Zeit bezeichnendes Merkmal. Man glaubte, alle Ge-
heimnisse der Natur zu durchdringen, alle ihre Kräfte in den
Dienst des Menschen zwingen zu können, und hieraus ent-
sprang ein trübes Gemisch von Wissenschaft und Aberglauben,
von echter Naturerkenntnis und phantastischer Erweiterung
derselben durch theologische, neuplatonische und kabbalistische
Spekulationen. Neben der Chemie, welche bestrebt war, die
Stoffe der Natur zu erkennen und zu analysieren, stand die
A Ichemi e mit ihrem Suchen nach dem Stein der Weisen,
durch den es unter anderm möglich sein sollte, jeden Stoff
und so namentlich das Gold in seine vermeintlichen Bestand-
teile zu zerlegen, um es dann aus diesen in beliebigen Mengen
gewinnen zu können; zu der Astronomie, welche die Ge-
stirne und die Gesetze ihres Umlaufes zu erforschen suchte,
*
gesellte sich die Astrologie, welche aus dem Stande der
Planeten das Schicksal der Menschen herauslesen zu können
wähnte, und die zunehmende Kenntnis der Naturkräfte und
ihrer Verwertung für das menschliche Leben verband sich mit
der Wahnvorstellung von Naturgeistern, welche man durch
magische Künste sich dienstbar machen zu können glaubte.
Als Typus dieser weitverbreiteten Mischung von Wissen-
schaft und Phantasterei mag der philosophierende Arzt und
3. Das Naturwissen im Zeitalter der Renaissance. 4 ( T
Chemiker Philippiis Aureolus Theophrastus Bombastus
von Hohenheim dienen, welcher, eine hybride Erscheinung
wie er selbst war, seinen Namen in das hybride, halb grie-
chische, halb lateinische Paracehtis umwandelte. Er wurde
geboren 1493 zu Maria -Einsiedeln im Kanton Schwyz; die
von seinem Vater überkommenen chemischen und medizini-
schen Kenntnisse erweiterte er auf ausgedehnten Reisen,
machte sich durch glückliche Kuren bekannt und erhielt 1526
einen Lehrstuhl der Medizin in Basel, wo er eine grofse Zahl
von Anhängern um sich sammelte und die Schriften des von
ihm bekämpften Galenus und Avicenna öffentlich verbrannte.
Ein Konflikt mit dem Magistrat der Stadt veranlafste ihn 1528,
Basel zu verlassen, worauf er im Elsafs, in der Schweiz und
in Süddeutschland ein abenteuerliches Leben führte, bis er
schon 1541 zu Salzburg, wahrscheinlich durch Mörderhand,
den Tod fand. In seinen in barbarischem Latein abgefafsten
Schriften unterscheidet er scharf zwdschen der göttlichen Offen-
barung, welche uns durch die Theologie übermittelt wird, und
der Selbstoffenbarung, welche die Natur uns gewährt. Der
Makrokosmos in seinen drei Teilen, der irdischen, siderischen
und himmlischen Welt, ist ein grofses, lebenerfülltes Ganzes;
seine höchste Entwicklung findet er im Menschen als dem
Mikrokosmos, welcher nach seinen drei Teilen als corpus ^
Spiritus und anima aus den drei Jeilen der Welt stammt,^
und von welchem das Verständnis der ganzen Natur auszu-
gehen hat und sich zu Philosophie, Astronomie und Theo-
logie entwickelt. Neben dem. irdischen Körper besitzt der
Mensch einen aus den Gestirnen stammenden Astralkörper
fspiritusj und eine ihm von Gott eingeflöfste Seele fanimaj.
Wie der Leib von den irdischen Elementen, so ernährt sich
der astralische Körper mittels der imagi.natio von der sideri-
schen Welt; er überdauert den Leib, kann daher nach dem
Tode noch erscheinen, ist aber nicht unsterblich wie die Seele,
sondern geht wieder in der siderischen Welt auf. Die Ele-
mente sind nicht einfach, sondern bestehen aus drei Bestand-
teilen, welche Paracelsus als Mercurius, Sal und Sulphur
bezeichnet. Die Krankheiten sind nach ihm selbständige or-
ganische Wesen, womit er die moderne Bakterientheorie ge-
472 XX. Der Tagesanbruch der neueru Philosophie.
wissermafsen antizipiert. Eifrig ist er bemüht, eine Universal-
medizin für alle Krankheiten zu finden, und ist bei seinen
Analysen zu manchen chemischen Entdeckungen gelangt.
Auch das Prinzip der Homöopathie schimmert durch in seiner
Lehre, dafs man die schädlichen Wirkungen nicht durch das
Entgegengesetzte, das Kalte nicht durch das Warme, das
Trockne nicht durch das Feuchte, sondern durch wohltätige
Einwirkung desselben Prinzips bekämpfen müsse, welches die
Krankheit veranlafste.
Ein ähnliches Gemisch von Forschergeist und Aberglauben
begegnet uns bei Hieronymus Cardanus, geboren 1501 in
der Lombardei, welcher als Mathematiker, Philosoph und Arzt
in Pavia und andern Orten wirkte und 1576 in Rom starb.
Seine beiden Hauptschriften sind: de siibtüitate in 21 und de
varietate rerum in 17 Büchern. Wenn sein Gegner Julius
Caesar Scaliger von ihm sagt, euni in quibusdam interdum
plus Jiominc saperc, in phiriuiis minns quovis puero intelliffere,
so bezieht sich letzteres auf die Befangenheit des Cardanus
in neuplatonischen und neupythagoreischen, mit allerlei kin-
dischem Aberglauben untermischten Phantasien, ersteres
darauf, dafs Cardanus, wie vor ihm Cusanus und nach ihm
Bruno, über die vier aristotelischen Prinzipien hinwegging zu
einer hylozoistischen Anschauung, vermöge deren eine allver-
breitete, mit Wärme und Licht identische Weltseele die an
sich kalten und passiven Elemente, Erde, Wasser und Luft,
durchdringt und belebt. Die Menschen teilte Cardanus in
drei Klassen, solche welche dccipiunhir, solche welche decipiimt
und solche welche neqiie decipiurüur neque decipiunt; die letz-
tern sind die Weisen, welche Cardanus vom Volke streng
gesondert wissen will. Das Volk soll man nicht durch Wissen-
schaft aufregen, es mufs durch strenge Strafen in Unterwürfig-
keit unter den Gesetzen der Kirche und des Staates erhalten
werden. Der Ruhm des Cardanus als Mathematiker wird da-
durch geschmälert, dafs er in der Arithmetik fremde Er-
findungen sich aneignete und als die seinigen veröffentlichte.
Um die Belebung des Interesses für Naturwissenschaften
machte sich besonders verdient der Philosoph, Mathematiker
und Naturforscher Beruh ardinus Telesius, geboren 1508
3. Das Naturwissen im Zeitalter der Renaissance. 47)5
zu Cosenza in Süditalien, naturwissenschaftlich gebildet zu
Padua und Rom, welcher sich als Gegner des Aristoteles er-
klärte in seiner Schrift De naUira verum juxta propria prin-
cipia, nach deren Erscheinen 1566 er als Lehrer nach Neapel
berufen wurde. Hier begründete er eine naturforschende Ge-
sellschaft, die Academia Tclesiana oder Consentina, welche das
Vorbild vieler ähnlicher Gesellschaften wurde und im Ver-
gleich mit der platonischen Akademie zu Florenz deutliches
Zeugnis ablegt für den Fortschritt des Zeitalters in dem seit
deren Gründung verflossenen Jahrhundert. Im Prinzip ver-
langt Telesius Erforschung der Natur und, will das begrifl-
liche Wissen nur gelten lassen, sofern es sich an ihr bewährt,
ist aber selbst noch keineswegs frei von theoretischen Kon-
struktionen. Es gibt nach ihm zwei Prinzipien, die Wärme,
auf welcher Bewegung und Ausdehnung, und die Kälte, auf
der Ruhe und Zusammenziehung der Körper beruhen; sie sind
als Himmel und Erde auseinandergetreten und lieoren in be-
ständigem Kampfe mit einander. Von der Wärme stammt
im Menschen der spiritus, welcher als ein feiner Stoff den
ganzen Körper durchdringt, womit bei Telesius die Theorie
von einer unsterblichen, von Gott gegebenen anima nur lose
zusammenhängt. Der Grundtrieb des Menschen ist die Selbst-
erhaltung; was sie befördert, bewirkt Freude und Liebe, was
sie hemmt, Leiden und Hafs, womit Telesius den Grund-
gedanken der Aflektenlehre des Spinoza antizipiert. Unter
fortwährender Polemik gegen Aristoteles sucht er aus dem
Selbsterhaltungstriebe alle Haupttugenden, sapicufia, soUerfia,
fortittiäo und henign/fa.^:, abzuleiten.
Von unvergleichlich viel gröfserm Einflufs als alle diese
Versuche, von einem Einflufs, welcher sich nicht nur auf die
Naturwissenschaften erstreckte, sondern eine L'mgestaltung
der gesamten philosophischen Weltanschauung zur Folge hatte,
ist das Werk geworden, mit welchem nach langem Zögern
erst am Ende seines Lebens Nicolaus Kopernikus, dem
Drängen seiner Freunde nachgebend, an die Öffentlichkeit
trat. Er wurde geboren 1473 als Sohn eines Grofshändlers
in Thorn, studierte in Krakau Theologie, sodann seit 1497 zu
Bologna die Rechte, Mathematik und Astronomie, während er
474 ^^- ^^^' Tagesanbruch der neuern Philosophie.
gleichzeitig schon zum Kanonikus zu Frauenburg in Ostpreufsen.
ernannt worden war. Im Jubiläumsjahr 1500 hielt er in Rom
Vorträge über Astronomie und Mathematik und erwarb 1505
zu Ferrara die Würde eines Doktors des kanonischen Rechts.
Von 1506 bis 1512 weilte er zu Heilsberg in Ostpreufsen, wo
er die Grundzüge seines nachmaligen Lebenswerkes entwarf,
und lebte weiterhin, als schon berühmter Mann mit verschie-
denen Missionen betraut, zu Frauenburg, Allenstein, Königs-
berg und an andern Orten. Auf das Drängen des in Witten-
berg die Mathematik lehrenden Professors Rheticus, welcher
ihn 1539 zu Frauenburg besucht hatte, um sein astronomisches
System kennen zu lernen, entschlofs Kopernikus sich endlich,
sein Lebenswerk: de revohttionilms orhium coelestium lihri VI
mit einer Widmung, an den Papst Paul IIL durch Rheticus
und Oslander 1543 zu Nürnberg veröffenthchen zu lassen,
nachdem es, wie Kopernikus in dieser Widmung erklärt, vier-
mal neun Jahre bei ihm geruht hatte. Er starb nach eben
vollendetem siebzigsten Jahre 1543 gleichzeitig mit dem Er-
scheinen seines W^erkes und liegt in der Domkirche zu Frauen-
burg begraben. Während die katholische Kirche dem Werke
infolge seiner Widmung an den Papst noch eine Zeitlang wohl-
wollend gegenüberstand (erst 1616 wurde es auf den Index
librorum prohibitorum gesetzt), erkannten Luther und Melanch-
thon sogleich seine Gefährlichkeit für das christliche Dogma
und sprachen sich mit Entschiedenheit gegen die in ihm vor-
getragene und bewiesene Theorie aus. Zwar hatte Kopernikus
sich darauf beschränkt, nur die tägliche Rotation der Erde
um ihre Achse und ihre jährliche Revolution um die Sonne
zu beweisen, während man den Fixsternhimmel nach wie vor
als eine die Sonne vmd ihre Planeten umschliefsende Hohl-
kugel betrachtete, aber es war eine weitere Konsequenz der
kopernikanischen Anschauung, auch in allen Fixsternen zahl-
lose, frei im Raum schwebende Sonnen zu erkennen, wodurch
der bis dahin geträumte Himmel weggenommen und an seine
Stelle der nach allen Richtungen unendliche Raum gesetzt
wurde. Diese Konsequenz zu ziehen, war einem ungewöhn-
lich kühnen, sich frei über die Vorurteile des Zeitalters hin-
wegsetzenden Geiste möglich, welcher denn auch diese Kühn-
3. Das Maturwisson im Zfitaltor der IJenaissance. 475
heit mit dem Tode gebüfst liat. . Mit ihm haben wir uns
zunächst zu beschäftigen.
4. Giordano Bruno.
Die Lehre von der Unendhchkeit des Raumes, welche
schon Xicolaus Cusanus als eine Vermutung ausgesprochen
hatte, die man ihm hingehen liefs, wurde, in Anknüpfung an
die Entdeckung des Kopernikus, als feste Überzeugung mit
stürmischer, rücksichtsloser Beredsamkeit verkündigt durch
Giotdano Bruno, welcher dadurch den definitiven Abschlul's
der ganzen aristotelisch-mittelalterlichen Weltanschauung her-
beiführte. Er war geboren 1548 als Sohn eines Soldaten zu
Nola in Campanien, erhielt seine erste Jugendbildung in dem
benachbarten Neapel und trat, seinen Taufnamen Filippo mit
dem Klosternamen Giordano vertauschend, 15 Jahre alt, in
den Dominikanerorden ein, welchem er 13 Jahre angehörte,
während deren er die Lehren seines Landsmanns Thomas
von Aquino, aber auch die freiem Anschauungen des Cusanus,
Telesius und Kopernikus näher kennen lernte, die es ihm un-
möglich machten, länger dem Dominikanerorden anzugehören.
Er entfloh 1576 aus dem Kloster, vertauschte die Mönchs-
kutte mit Hut und Degen und suchte seitdem 15 Jahre hin-
durch im Auslande, in der Schweiz, Frankreich, England und
Deutschland, für seine Lehre zu wirken, indem seine Vorträge
sich daneben auf rhetorische und allgemein philosophische
Themata, namentlich auch auf die lullische Kunst erstreckten,
die von Raimundus Lullus (1235 — 1315) erfundene Ars magint,
vermöge deren man durch Anordnung der philosophischen
Begrifie in sieben konzentrischen Kreisen und mittels einer
durch Drehung der Kreise erlangten Kombination dieser Be-
griffe alle möglichen philosophischen Fragen lösen zu könijen
wähnte. Mit diesem Lehrprogramm grofser philosophischer
Wahrheiten und phantastischer Wahnvorstellungen ausge-
rüstet, begab sich Bruno nach seiner Flucht aus dem Kloster
und kurzem Aufenthalt in Oberitalien zunächst 1577 nach
Genf, wo er jedoch bald in Streit mit dem Genfer Philosophen
De la Faye geriet und sich im Herbst desselben Jahres nach
Toulouse begab. Hier erwarb er die Doktorwürde und lehrte
476 ^^- Der Ta£fOsanbriKh der neuem Philosophie.
zwei Jahre lang als Professor der Philosophie; dann begab
er sich nach Paris, wo ihm ein ordentlicher Lehrstuhl für
Philosophie zuteil geworden wäre, wenn er sich hätte ent-
schliefsen können, die Messe zu besuchen. liier veröffentlichte
er sein, die Schwächen des Geizes, Aberglaubens und der Be-
schränktheit der Menschen verspottendes Lustspiel II Canüelajo,
„der Lichtzieher", aus welchem, wie manche annehmen, die
Gedanken über die Relativität alles Übels und die L'nzerstör-
barkeit der Materie von Shakespeare in seinem Hamlet her-
übergenommen sein sollen. Gestützt auf die Gunst hoch-
stehender Freunde, begab sich Bruno 1583 nach England, wo
er nach einem vergeblichen Versuche, zu Oxford für seine
Lehren zu wirken, zu London in dem Hause des französischen
Gesandten Michel de Castelnau gastliche Aufnahme fand und
einige seiner Hauptschriften, namentlich La ccna de Je ceveri
(das Aschermittwochsmahl), sowie die beiden grundlegenden
Werke De la causa principio et iino und De Vivfiuiio nnivcrso
et mondi nebst der allegorischen Spottdichtung Spaccio de Ja
hcstia trionfante („Vertreibung der triumphierenden Bestie'",
nämlich des Grofsen Bären aus der Gesellschaft der Fixsterne)
und der Schrift De gfJ/eroici furori veröffentlichte. Aus unbe-
kannten Gründen kehrte Bruno 1585 nach Paris zurück, wo er
1586 bei einer dreitägigen, gegen die Physik des Aristoteles
gerichteten Disputation präsidierte. Im Juli desselben Jahres
finden wir ihn in Marburg, von wo er sich, da ihm die Er-
laubnis, Vorlesungen zu halten, verweigert worden war, nach
dem duldsamem Wittenberg begab, ohne auch dort während
seines anderthalbjährigen Aufenthalts dauernden Anklang zu
finden. Ebenso erging es ihm in Prao- und Helmstedt, worauf
er sich nach Frankfurt begab und dort wenigstens einige
seiner Schriften, namentlich De triplici mintmo et nicnsara
und De nitmero et ßgiira sowie einige für seine Lehre wich-
tige Gedichte 1590 veröffentlichen konnte. Im ganzen empfing
man überall den kühnen Abenteurer mit scheuem Mifstrauen
und war froh, ihn wieder loszuwerden. Nach vorübergehendem
Aufenthalt in Zürich folgte er 1501 der Einladung des vene-
tianischen Edelmanns Mocenigo nach Venedig, der von ihm
die geheimen Künste der Magie zu erlernen •hofi'te und, als
4. Giordaiiü Bruno. 477
er 5?ich in dieser Erwartung getäuscht sah, so niederträchtig
war, seinen Gast an die Inquisition 7ai verraten. Durch die
Gefangennahme wurde die von Ihuno begonnene Ausarbeitung
einer systematischen Darstellung seiner Lehre unterbrochen,
und es war vielleicht nicht am wenigsten das bei edlen Na-
turen so starke Verlangen, eigene, neue Gedanken aufzu-
zeichnen und der Nachwelt zu erhalten, welches ihn ver-
anlafste, vor der Inquisition den geforderten Widerruf zu
leisten und dadurch seine Freiheit wiederzuerlangen. Er
täuschte sich, Kom forderte seine Auslieferung, und nach Rom
wurde er zu Anfang des Jahres 1593 gebracht und dort in
siebenjähriger Kerkerhaft behalten. Immer wieder hoffte man,
aufser dem Bekenntnis seiner christlichen Gesinnuns;. welches
er schon in Venedig abgelegt hatte, auch einen Widerruf
seiner philosophischen Überzeugungen von ihm zu erzwingen,
und hierzu konnte sich Bruno nicht entschlief sen und zog es
vor, als Märtyrer für die Wahrheit zu sterben. Als ihm das
Todesurteil verkündigt wurde, sagte er zu seinen Richtern:
,Jhr möget mit gröfserer Furcht das Urteil fällen als ich es
empfange." Hierauf wurde er der weltlichen Gerichtsbarkeit
übergeben mit der üblichen ^Mahnung, ihn schonend und citra
.■sanguinis effttsioneni zu behandeln, und am 17. Februar auf der
Piazza Campofiore, an der Stelle, wo jetzt sein Denkmal steht,
verbrannt. Schopenhauer sagt bei Erwähnung von Brunos
Schrift Della causa: „Das zarte, geistige, denkende Wesen,
als welches er uns aus dieser seiner Schrift entgegentritt,
denke man sich unter den Händen roher, wütender Pfaffen
als seiner Richter und Henker, und danke der Zeit, die ein
helleres und milderes Jahrhundert herbeiführte, so dafs die
Nachwelt, deren Fluch jene teuflischen Fanatiker treffen sollte,
jetzt schon die Mitwelt ist," Dieses Urteil ist nicht in jedem
Sinne zutreffend. Wohl mag es unter Brunos Richtern solche
gegeben haben, bei denen weltliche Herrschsucht und fana-
tische Beschränktheit das treibende Motiv war, gewdfs aber
auch solche, w^elche durch die neue Lehre die Religion und
Moralität, diese teuersten Güter der Menschheit, gefährdet
glaubten und es für ihre bittere Pflicht hielten, kein Opfer
zu scheuen, um »jene höchsten Güter unangetastet zu erhalten.
478 XX. Der Tagesanbruch der neuern Pliilosophie.
Die Religion schien unrettbar verloren, wenn Leliren wie di(^
von Bruno vertretenen nicht mit allen Mitteln unterdrückt
wurden, und der Weg, um der A\'issenschaft freien Lauf zu
lassen und dabei dennoch die Religion aufrechtzuhalten, war
für das Zeitalter Brunos noch nicht zu linden, und Jahrhunderte
sollten noch vergehen, bis er endlich gefunden wurde.
Eine Darstellung der Hauptlehren Brunos knüpft am besten
in Kosmologie, Metaphysik und Psychologie an seine drei
wichtigsten Schriften an, deren wohlgewählte Titel schon die
Grundgedanken seiner Weltanschauung andeuten.
1. An Wichtigkeit für die Umgestaltung der mittelalter-
lichen Weltanschauung steht allen andern Schriften Brunos
voran diejenige, in welcher er die Gedanken des Cusanus und
Kopernikus aufnimmt und weiterbildet. Sie führt den Titel.
Dr Viufxnito, n)HV(rso et »loiuli , „Über das Unendliche, das
Universum und die Welten", erschien London (angeblich in
Venedig) 1584 und besteht aus fünf Dialogen, in welchen
Bruno den grofsen Schritt vollzieht, das bis dahin als ein
festes Gewölbe, an welchem die Fixsterne befestigt sind, an-
o;esehene Firmament aufzulösen und an die Stelle des Himmels
den unendlichen "Raum zu setzen, in. welchem die Fixsterne
als zahllose Sonnen frei schweben und in ihrer Gesamtheit
das Universum bilden. Für einen Gott, wie ihn die christ-
liche Religion lehrt, war in diesem neuen Weltbilde kein Platz
mehr, und von Bruno bis Kant hatte jeder, der sich nicht
mit vagen und unklaren Vorstellungen begnügte, nur die Wahl,
entweder die Religion seiner wissenschaftlichen L'berzeugung
oder seine wissenschaftliche Überzeugung der Religion zum
Opfer zu bringen. Erst der von Kant begründete Idealismus
bewies,' dafs der ganze unendliche und daher kein Dasein
aufser ihm zulassende Raum mit allem seinem Inhalte nur
Erscheinung, nur ein subjektives Phänomen, gleichsam ein
Traum ist, welcher beim Erwachen schwindet und der wahren
Realität Platz macht.
2. Die metaphysischen Ansichten Brunos werden nament-
lich entwickelt in der zweiten Hauptschrift: De Ja causa, pri)!-
cipio ei loio, „Über die Ursache, das Prinzip und das Eine"
(gleichfalls London 1584). Im Gegensatz zu dör aristotelischen
4. GionUmo 15runo. 479
Vielheit von Prinzipien als Materie, Form, Beweger und Zweck
schliefst sich Bruno näher an die Auffassung der Stoiker an ;
wie sie lehrt auch er, dafs es nur ein Prinzip der Welt gebe,
welches zugleich -Materie und Form des Universums, zugleich
Potentialität und Aktualität sei; nur logisch unterscheiden
wir die Möglichkeit von der Wirklichkeit; in Gott, wie Bruno
sein Weltprinzip nennt, fallen beide zusammen, er ist, wie
unser Philosoph in Übereinstimmung mit dem Cusaner sagt,
■die coiiicideniia contradictorlornm: er ist weder grofs noch
klein, ist das Gröfseste, weil allumfassend, und das Kleinste,
weil in allem gegenwärtig, nicht zerteilt, sondern in jedem
Einzelnen ganz, wie der Ton, der einen Raum erfüllt, in jedem
Teile desselben ganz gehört wird; er ist infinito, immobile,
impartihile, senza differensa di tntio d xjcnie, py-incipio et prin-
cipiato; potentiell ist er der unendliche, allverbreitete Äther,
aktuell die diesen Äther beseelende, alldurchdringende und
allbelebende Weltseele, beide sind überall so untrennbar ver-
bunden, wie das Vermögen etwas zu machen von dem Ver-
mögen gemacht zu werden sich nicht trennen läfst; alle Formen
sind der Möglichkeit nach schon in der Materie vorhanden.
Durch diese Identifikation des Äthers mit der Weltseele sucht
Bruno auf physischem Wege zu gewinnen, was nur meta-
physisch erreichbar ist, die Einheit alles Seienden, zu der sich
alle Emzeldinge verhalten wie zu der Substanz ihre Acciden-
tien; Gott ist ihm die implicatio , deren explicutio die ganze
A\ elt ist, alle Einzeldinge sind, wie er sagt, nur seine circon-
stavzie. „So ist denn also das. Universum ein Einiges, Un-
endliches, Unbewegliches. Ein Einiges ist die absolute Mög-
lichkeit, ein Einiges die Wirklichkeit; ein Einiges die Form
oder Seele, ein Einiges die Materie oder der Körper; ein
Einiges die Ursache ; ein Einiges das Wesen, ein Einiges das
Gröfste und Beste, das nicht soll begriffen werden können,
und deshalb Unbegrenzbare und Unbeschränkbare und inso-
fern Unbegrenzte und Unbeschränkte, und folglich Unbeweg-
liche. Dies bewegt sich nicht räumlich, weil es nichts aufser
sich hat, wohin es sich begeben könnte, in Anbetracht dessen,
dafs es selber alles ist. Es wird nicht erzeugt, denn es ist
kein anderes Sein, wonach es sich sehnen oder es erwarten
480 ^^- 1^61" Tagesanbruch der neuern Philosophie.
könnte; hat es doch selber alles Sein. Es vergeht nicht;
denn es gibt nichts anderes, worin es sich verwandeln könnte, —
ist es doch selber alles. Es kann nicht ab- noch zunehmen, —
ist es doch ein Unendliches, und wie nichts zu ihm hinzu-
kommen kann, so kann auch nichts von ihm weggenommen
werden." (De la causa, fünfter Dialog, Eingang.)
. 3. Über die psychologischen Anschauungen Brunos giijt
das zu Frankfurt 1590 erschienene (in lateinischen Hexametern
in der Weise des Lukrez nebst beigefügten Anmerkungen in
Prosa verfafste) Lehrgedicht De triplici minimo Aufschlufs.
Hatte schon Nicolaus Cusanus gelehrt, dafs die Teilung des
Körpers nicht bis ins Unendliche fortgehen könne, so nimmt
Bruno positiv an, dafs der letzte Grund für alles Grofse ein
Minimum sein müsse, wie die Eins der letzte Grund aller
Zahlen sei. Es gibt aber, wie er lehrt, ein dreifaches Mini-
mum, ein Münmmn mathcmaticum, physicum und mctapliysicimi,
aus welchem alles, was Gröfse hat, zu begreifen ist; a) das
minimmn mathcmaticum ist der Punkt, nicht als termiru(s\
sondern als prima pars gedacht, welcher, wenn er bewegt
wird, die Linie erzeugt, und ebenso erzeugt diese, wenn be-
wegt, die Fläche, diese das Dreidimensionale, so dafs alles
Ausgedehnte nur Entfaltung des Punktes ist; b) das mininmm
physicum ist das Atom, aus welchem im Anschlufs an Demo-
krit und Lukrez Bruno sich denkt, dafs alles Körperliche be-
stehe ; aus dieser Annahme sucht er eine Reihe physikalischer
Erscheinungen, wie die Berührung der Körper, ihre Zunahme
und die Tatsache, dafs es nicht zwei gleiche Dinge gebe, ab-
zuleiten, wie er denn auch die Zunahme der W arme oder des
Lichtes nur aus dem stetigen Zuwachse eines miriimum caloris
und liiminis erklären zu können glaubt; c) das minimmn meta-
physicum ist die Seele oder Monade, ein Name, welcher im
weitern Sinne allen drei Minimis, in speziellem Sinne der Seele
zukommt, welche als Weltseele einerseits das ganze Universum
durchdringt, andererseits auch in jeder Pflanze, jedem Tiere
wohnt, nur dafs sie in ihnen durch die physikalische Natur
der Pflanzen und Tiere eingeschränkt wird, ihrem Wesen nach
aber in allen dieselbe bleibt, wie denn auch Bruno von einem
Aufsteigen der Tierseelen zu Menschenseelen redet, was eine
4. Giordano Bruno. 481 ■
Art Seelenwandenmg voraussetzt. Was die Weltseele in jedem
Augenblicke voll und ganz ist, das vollzieht sich in der Einzel-
seele in zeitlicher Entwicklung durch die ganze , Reihe von
Zuständen,, welche sie während des Lebens durchläuft. Die
Unsterblichkeit der Seele lasse sich, sagt er, weder bei der
pythagoreischen Auffassung derselben als eine Harmonie, noch
bei der aristotelischen als einer Entelechie aufrechthalten,
wohl aber, wenn man, wie Bruno annimmt, den Tod nur als
•Cofitr actio, die Geburt als Eocpavsio des unvergänglichen
Seelenwesens auffafst. Diesen tiefsinnigen Intuitionen fehlt
nur die Kantische Erkenntnis von der Idealität des Raumes
und der Zeit, um zu der Wahrheit vorzudringen, dafs die als
Dins; an sich raumlose und zeitlose Seele im Räume als der
Leib mit allen seinen Organen, in der Zeit als das Leben
mit allen Zuständen, welche es durchläuft, zur Erscheinung
kommt. — Für die ethischen Anschauungen Brunos kann man
an seinen Spaccio de la hestia irionfantc, „die Austreibung der
triumphierenden Bestie", erinnern, einen burlesken Roman, in
welchem Jupiter im Rate der Götter beschliefst, die bisher
bestehenden und auf heidnische Laster hindeutenden Namen
der einzelnen Sternbilder zu beseitigen und an ihre Stelle die
Namen von Tugenden, wie Wahrheit, Klugheit, Gesetzlich-
keit usw., zu setzen, damit die Menschen durch den Anblick
derselben angeregt werden, ihnen nachzueifern. Im ganzen
kann man kein hervorragendes Interesse für einzelne ethische
Probleme bei einer Natur wie der Brunos erwarten, welcher,
wie dies besonders in seiner mit Anmerkungen begleiteten
Gedichtsammlung De gV eroici furori, „über die heroischen
Affekte*^', hervortritt, alles Irdische in seiner Begeisterung
für das Ewige für gering und nichtig erachtete und sich in
ungestillter Sehnsucht nach dem Einen, Ewigen, Unendlichen
verzehrte.
5. Jakob Böhme.
In ganz anderm Sinne als durch Giordano Bruno kündigte
sich der Geist der neuen Zeit in Jakob Böhme an, einem
Denker, welcher berufen gewesen wäre, das Werk der nach
Luthers Tode stagnierenden und in der altlutherischen Ortho-
doxie verknöchernden Reformation weiter- und zu Ende zu.
Deussen, Geschichte der Philosophie. II, ii, 2. 31
482 ^X- ^^^' Tagesanbruch der neuem Philosophie.
führen, wäre nicht der Flug seines Genius von aufsen durch
den Widerstand der orthodoxen Geisthchkeit und von innen
durch die ihm mangelnde wissenschaftliche Vorbildung allzusehr
gehemmt und niedergehalten worden. Mehr vielleicht als bei
irgendeinem andern Philosophen alter und neuer Zeit mufs
man daher bei Böhme die von uns in der allgemeinen Ein-
leitung besprochene Unterscheidung des originellen Elements
von dem traditionellen, des Kerns von der Schale, beachten,
eines Kerns intuitiv erfalster ewiger Wahrheit, welcher bei'
ihm eingehüllt ist in eine dicke Schale halb verstandener und
mifsverstandener, aus der Bibel und allerlei theosophischen
Schriften zusammengelesener Traditionen. Wir haben es ver-
sucht, in einer besondern Abhandlung (Jakob Böhme, über
sein Leben und seine Philosophie, 2. Aufl., Leipzig 1911) diese
Scheidung durchzuführen, und nehmen das Wesentliche von
dort im folgenden herüber.
Jakob Böhme wurde geboren 1575 im Dorfe Alt-Seiden-
iDerg, zwei Stunden südlich von Görlitz an der böhmischen
Grenze, als Sohn einfacher, doch wohlgesessener Bauersleute.
Da er von gesunder, aber schwächlicher Konstitution war,
wurde er zum Schusterhandwerk bestimmt, bestand vom 14.
bis zum 17. Jahre in dem benachbarten Städtchen Seidenberg
die Lehrzeit und ging vom 18. bis 24. Jahre auf Wander-
schaft, welche ihn, man weifs nicht wie weit, im Lande
herumführte, bis er 1599 zu Görlitz die Meisterschaft erwarb,
sich ebendaselbst vermählte und weiterhin als Vater von vier
Söhnen und einigen Töchtern sein Handwxrk nebst einem
Schuhladen, seit 1610 in einem eigenen Hause jenseits der
Neifse, betrieb und, seit 1613 als Händler mit W^ollwaren bis
nach Prag hin umherziehend, bis zu seinem am 17. November
1624 erfolgten Tode ein frommes und friedfertiges, aber keines-
Avegs friedliches Leben führte.
Schon in der Jugend stellten sich seiner lebhaften Phan-
tasie innere Erlebnisse als äufsere Erscheinungen dar. So
will er, als Kind auf der Landskrone das Vieh hütend, in
altem Gemäuer einen Schatz gesehen haben und mit Abscheu
vor demselben geflohen sein , und ein Unbekannter soll ihn
als Lehrling im Schuhladen aufgesucht, ihn bei Namen ge-
5. Jakob Böhme. 483
iiannt und ihm seine künftige Gröfse, aber auch die ihn er-
Avartenden Leiden geweissagt haben. Einem Freunde vertraute
er, dafs er einmal während der Wanderschaft „mit götthchem
Lichte umflossen und sieben Tage lang in höchster göttlicher
Beschaulichkeit und Freudenreich gestanden habe". Während
seiner Wanderjahre wird er neben dem stets eifrig betriebenen
Studium der Bibel durch Lektüre oder mündliche Mitteilung
auch Bekanntschaft gemacht haben mit den Gedanken eines
Paracelsus (oben S. 471), Caspar Schwenkfeld (1490 — 1561),
Valentin Weigel (1533 — 1594) und anderer theosophischer
Mystiker. Er selbst sagt (Aurora cap. 10, Werke 2,96), dafs
er „vieler hoher Meister Schriften gelesen", jedoch nur „einen
lialbtoten Geist" in ihnen gefunden habe, und in seiner Schrift
g;egen Tilken 2,53 (Werke 7,98) erklärt er: „Ich habe meine
Wissenschaft nicht von Wahn oder Meinungen wie ihr: son-
dern ich habe eine lebendige Wissenschaft in der Beschaulich-
keit und Empfindlichkeit", d. h. in den Wahrnehmungen der
Aufsenwelt und des eigenen Innern, und hierbei beschäftigte
ihn vor allem die Frage nach dem Ursprung des Bösen, wo-
bei ihm, wie er selbst sagt, der Teufel heidnische (d. h. pan-
theistische) Gedanken einflöfste, und er in schwere innere
Xämpfe verfiel. Auf das Jahr 1600 bezieht sich, was er in
der Aurora cap. 19 erzählt: „Als ich aber in meinem angesetz-
ten Eifer so hart wider Gott und alle Höllenpforten stürmte, . . .
.so ist alsbald nach etlichen harten Stürmen mein Geist durch
die Höllenpforte 'bis in die innerste Geburt der Gottheit durch-
gedrungen und allda mit Liebe umfangen worden wie ein
Bräutigam seine liebe Braut umfängt." In demselben Jahre
(1600) soll Böhme auch (wie sein Freund und Biograph Franken-
berg berichtet) durch den Anblick eines von der Sonne be-
schienenen Zinngefäfses „zu dem innersten Grunde oder Centro
der geheimen Natur eingeführet" worden sein. Im Hinblick
auf diese Stellen hat man den Grundgedanken der Böhmeschen
Philosophie nicht mit Unrecht als einen pantheistisch- dua-
listischen bezeichnet, pantheistisch, sofern nach ihm alles,
mithin auch das Böse, in Gott liegen mufs, dualistisch,
sofern, wie die Sonne als Quelle des Lichts nur durch das
iin sich dunkle Zinngefäfs sichtbar wird, so auch das Wesen
31*
484 ^^- 1^^^' Tajnresanbruch der iieireni Fliilosojjhie.
Gottes nur durch ein in Gott selbst liegendes Widergöttlicjies
zur Offenbarung gelangen kann. Gedanken dieser Art waren
es, welche Jakob Böhme, wie er selbst sagt, zwölf Jahre,,
nämlich von 1600 bis 1612, mit sich herumtrug. Er berichtet
darüber im 12. Sendbriefe (Werke 7,400): „In solchem meinem
gar entsetzlichen Suchen und Begehren . . . ist mir die Pforte
geöffnet worden, dafs ich in einer Viertelstunde mehr gesehen
und gewufst habe, als wenn ich wäre viel Jahre auf hohen
Schulen gewesen . . . Und fiel mir zuhand also stark in mein
Gemüt, mir solches für ein Memorial aufzuschreiben; wiewohl
ich es in meinem äufsern Menschen gar schwer ergreifen und
in die Feder bringen konnte . . . bis es mich hernach überfiel
als ein Platzregen: was der trifft, das trifi't er. Also ging es-
mir auch : was ich konnte ergreifen, in das Aufsere zu bringen,
das schrieb ich auf." So entstand 1612 ein Werk, welches
Böhme „Morgenröte im Aufgang." nannte und dem seine
Freunde den Titel „Aurora^- gaben. Das Buch zirkulierte in
Abschriften, und so kam es in die Hände des Oberpfarrer&
Kichter, eines fanatischen Lutheraners, welcher beschlofs, an
dem ihm schon längst mifsliebigen Handwerker ein Exempel
zu statuieren. War doch am Schlüsse der Aurora sogar zu
lesen: „Es habe gleich Petrus oder Paulus anders geschrieben,,
so sehet doch auf den Grund, auf's Herz. Wenn ihr nur
das Herz gehaschet, so habt ihr Grund genug."
Schon am Sonntag den 2-1. Juli 1613 (wie der jedenfalls,
stark ausgeschmückte Bericht des Dr. Wiesn>sr erzählt) mufs
es gewiesen sein, dafs der Oberpfarrer Richter von der Kanzel
in Gegenwart des Jakob Böhme diesen namhaft machte, als
gefährlichen Ketzer brandmarkte und seine Ausw^eisung aus
der Stadt forderte, darliit nicht die Strafe der Rotte Korah
über die ganze Stadt komme. Dafs Böhme damals wirklich
ausgewiesen worden sei, wie der Bericht behauptet, ist nicht
anzunehmen. Wohl aber wurde am Freitag den 23. Juli Böhme
aufs Rathaus beschieden, um sich zu verantworten. Auch der
Hauptpastor wurde vorgeladen, weigerte sich aber, wie Wiesner
berichtet, zu kommen: „Was er auf ihrem Gerichts- oder Rat-
hause zu tun habe? Was er zu sagen habe, das sage er an
Gottes Statt von der Kanzel, da sei sein Ratstuhl; w;as er da
5. .lakob Höhme. 485
gesagt habe, dorn sollteti"' sie iiaclikomnien , .und. deti^ leicfit-i
fertigen, losen, verwegenen Ketzer der Stadt verweisen, auf
dafs er nicht mehr dem heihgen Predigtamt widerstehe und
die Strafe Korahs über die ganze Stadt bringe." iTjer die
Verhandhmg auf dem liathause berichtet das noch vorhandene
Tagebuch des Bürgermeisters Bartholomäus Scultötüs :' „dafs
Anno 1G13, Juli 26, Freitags, Jakob Böhme, ein Schiister
zwisclien den Thoren hinter dem Spitalschmiede, wäre aufs Rat-
haus gefördert und um seinen enthusiastischen Glaübeiti ge-
fragt, darüber in Haft gesetzet, und alsobald sein geschrieben
Buch in Quarto-Folio durch den Stadtdiener aus seinem Hause
abgeholet, darauf aus dem Gefängnis er wieder erlassen und
ermahnet worden, von. solchen Sachen abzustehen. — Item;
-dafs den 30. Juli, Dienstags, Jakob Böhme, ein Schuster, von
denen Prädikanten in des Primarii Wohnung fürgefordert und
in seiner Konfession mit Ernst examiniert worden. — Item;
dafs zuvor, als den 28. Juli, Sonntags (da das Evangelium
von falschen Propheten), der Primarius, Gregorius Richter,
•eine scharfe Predigt wider den Schuster J. B. getan."
Über den Verlauf des im Tagebuche des Scultetus er-
wähnten Examens vor der versammelten Geistlichkeit (am
30. Juli 1613) berichtet Böhme selbst in einem elf Jahre später
abgefafsten Verantwortungsschreiben an den Rat vom 3. April
1624 (Werke 7,325): „Als ich mich aber vorm Ministerio
gegen ihn [den Primarius] verantwortet und angezeiget meiiieri
■Grund, so ist mir vom Herrn Primario auferlegt worden, nicht
mehr also zu schreiben; welches ich ja bewilligt, den Weg
<jottes aber, was er mit mir thun wollen, habe ich dazumal
noch nicht verstanden. Hingegen hat mir der Herr Primarius
samt den andern Prädikanten zugesagt, hinfüro auf der Kanzel
zu schweigen, welches aber nicht geschehen ist, sondern hat
mich die ganze Zeit schmählich gelästert und mir öfters Dinge
zugemessen, deren ich garnicht schuldig bin, und also die
ganze Stadt lästernd und irre gemacht, dafs ich samt meinem
Weibe und Kindern habe müssen ein Schauspiel, Eule und
Narr unter ihnen sein. Ich habe ferner all mein Schreiben
und Reden von solcher Hoheit und Erkenntnis göttlicher Dinge,
auf sein Verbot, viel Jahre [nämlich 1613— 1618] bleiben
486 XX. Der Tagesanbruch der neuern Thilosophie.
lassen und gehoffet, es werde des Schmähens einmal ein Ende
sein, welches aber nicht geschehen, sondern immerdar ärger
worden ist."
Diese fortgesetzten Verfolgungen hatten, wie zu erwarten
war, die Wirkung, dafs die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
auf den philosophierenden Handwerker gelenkt wurde. Manche,
die von der herrschenden starren Orthodoxie unbefriedigt waren
und sich Sektierern wie Schwenkfeld oder Weigel zuneigtenr
Naturforscher und Arzte in Görlitz un4 benachbarten Städten,
Landedelleute und Zollbeamte der Umgegend wurden seine
Freunde und machten ihm Vorstellungen darüber, dafs er das
Pfund, welches er empfangen habe, nicht vergraben dürfe, dafs
man Gott mehr gehorchen solle als den Menschen usw. Hierzu
kam der zunehmende innere Drang, das was in ihm gärte»-
klar zu gestalten, und so griff er, nach etwa fünfjähriger
Unterbrechung, wieder zur Feder und verfafste in den noch
übrigen sechs Jahren seines Lebens eine ganze Reihe von
teilweise sehr umfangreichen Schriften, wie das Buch „von
den drei Prinzipien" (1619), ,,vom dreifachen Leben
des Menschen" (1620), „Signatura rerum" (1622), .das
„Mysterium magnum" (1623) und viele andere. Solange
diese Schriften nur abschriftlich unter Freunden von Hand zu
Hand gegeben wurden, mochten die Widersacher wenig davon
erfahren, als aber gegen Ende des Jahres 1623 Böhmes Freund,.
Sigmund von Schweinitz, drei kleine Erbauungsschriften
Böhmes: „von wahrer Bufse", „von wahrer Gelassenheit" und
^,vom übersinnlichen Leben" unter dem Titel .,Weg zu Christo"
drucken liefs, brach der Sturm von neuem los. Zu den
Schmähungen von der Kanzel gesellten sich diesmal poetische
Ergüsse des Hauptpastors in lateinischen Versen, deren einige
in meinem Jakob Böhme S. 21 fg. mitgeteilt worden sind. Auch
die Geistlichkeit in Liegnitzj^wurde von Gregorius Richter auf-
gestachelt, mit ihm beim Rat in Görlitz über den Ketzer Klage
zu führen, und so wurde Böhme am 26. März 1624 abermals
vor den Rat beschieden. Das denkwürdige Protokoll der
Sitzung ist noch erhalten. Es lautet: „Jochen Böhme, der
Schuster und verwirrte Enthusiast oder Phantast spricht, er
habe das Buch -zum ewigen Leben» angefertigt, habe aber
ö. Jakob Böhme. 487
solches nicht drucken lassen, sondern es habe einer vomt
Adel, Hans Sigismund von Schweinhaus, es drucken lassen. —
Ist vom Rat verwarnet worden, seinen Stab ferner zu setzen
oder, in Entstehung der Güte [d. h. wenn er nicht gutwillig
folgt], soll solches Ihrer Kurfürstl, Gnaden berichtet werden.
— Darauf er sich erklärt, er wolle ehesten Tages sich weg-
machen." Der Hauptpastor triumphierte, aber Böhme dachte
nicht daran, zu weichen. Wufste er doch, dafs er in Dresden,,
der damaligen Hauptstadt des Landes, einen Rückhalt hatte,
wo sein Büchlein, wie er selbst mitteilt, freundlich aufge-
nommen worden war. Zunächst verfafste er eine noch er-
haltene „schriftliche Verantwortung an E. Ehrbaren Rat zu
Görlitz wider des Primarii Lästerung, Lügen und Verfolgung
über das gedruckte Büchlein von der Bufse", — welche jedoch
vom Rate nicht angenommen wurde, weil „der Primarius es
verwehrte" [Werke 7,538]. Übrigens fuhr er fort, gegen
Böhmen zu poltern; Böhme schreibt darüber, 2. April 1624:
„Ich füge dem Junker, dafs gestern der pharisäische Teufel
ganz los worden sei, und mich samt meinem Büchlein zuia
ärgsten verdammet, und das Büchlein zum Feuer geurteilet,,
auch mich mit schweren Lastern bezüchtiget, als einen Ver-
ächter der Kirche und Sakramente, auch gesagt, ich saufe
mich alle Tage in Branntw^ein sow^ohl Bier und andern Wein
voll und sei ein Hollunke, welches alles nicht wahr ist und
er selber ein trunken Mann ist." (Werke 7,536.)
Am 9. Mai folgte Böhme einer Einladung nach Dresden,
wo er zwei Monate als Gast im Hause des kurfürstlichen Hof-
arztes Hinkelmann weilte und in Hof kreisen und bei der höhern
Geistlichkeit freundliches Entgegenkommen fand, während in
Görlitz der Streit weiter tobte: „Mein Weib (schreibt Böhme
aus Dresden am 13. Juni) darf keine Fensterladen deswegen
machen lassen; wollen sie diese einwerfen, das mögen sie thun;
so siehet man des Hohepriesters Früchte . . . Will mir der
Hohepriester das Haus stürmen, das lasse man ihn nur thun,
auf dafs es doch in allen Landen kundig werde, was für ein
Aufrührer er ist; es wird ihm und den Seinigen gar zu grofsen
Ehren kommen; es soll auch vor des Churfürsten Räten ge-
rühmet w^erden, dafs er mir durch seine getreuen Diener hat
■4g'8 XX- I^ci" Tagesanbruch der ueuern Philosophie.
das Haus angetastet und die Fenster eingeworfen." (Werke
7,5.63.)
tjegen Ende des Dresdener Aufenthalts ward auf Ver-
anstalten des Kurfürsten von drei Professoren der Theologie
und mehreren andern Gelehrten mit Böhme ein Colloquium ab-
gehalten. Das vom Kurfürsten verlangte Urteil ging daliin,
„dafs Kurfürstliche Durchlaucht Geduld haben wolle, bis der
Geist des Mannes sich deutlicher erldären werde; sie könnten
ihn nicht verstehen, hofften aber, er werde sich hinfüro klärer
vernehmen lassen, alsdann wollten und könnten sie urteilen,
jetzo aber noch nicht.'"
Nachdem Böhme zu Dresden „in pace dimittieret", an-
ö-eblich auch vom Kurfürsten selbst in allen Gnaden ab-
gefertigt worden, kehrte er in die Heimat zurück, folgte aber
bald darauf einer Einladung des Herrn von Schweinitz, auf
dessen Landgut er die Ausarbeitung seiner letzten Schrift (der
„177 theosophischen Fragen") begann.
Unterdessen war der alte Feind unseres Philosophen, Gre-
gorius Richter, am 14. August verstorben. Aber auch Böhme
sollte ihn nur wenige Monate überleben. Noch bei Herrn von
Schweinitz überfiel ihn eine tödliche Unterleibskrankheit. Schwer
leidend kehrte er am 7. November nach Hause zurück, wo ihm
sein Freund und Hausarzt keine Hoffnung auf Genesung geben
konnte. Er begehrte das ! Abendmahl zu nehmen; [es wurde
ihm erst gereicht, nachdem er eine Reihe von Fragen be-
friedigend beantwortet hatte.
„In der Nacht auf Sonntag den 17. November glaubte er,
eine liebliche Musik zu vernehmen und hiefs die Türe öilhen,
um sie deutlicher zu hören. Gegen sechs Uhr morgens nahm
«r Abschied von Weib und Söhnen, segnete sie und sprach:
Nun fahr' ich hin ins Paradies! Dann hiefs er seinen Sohn,
ihn umwenden, erseufzte tief und entschlief also sanft und
"Still von dieser W^elt."
Die Geistlichen verweigerten ihm ein kirchliches Begräb-
nis, bis auf Befehl des gerade anwesenden Landvogtes der
Lausitz der zweite Geistliche sich bequemen mufste, die Be-
erdigung zu vollziehen. Er begann seine Predigt mit der Er-
klärung, er wolle lieber zwanzig Meilen gegangen sein, als
5. Jakob Bülime. 439
diesem Manne die Leichenpredigt halten. Den erbetenen Text
verwarf er und predigte über die Worte: „Es ist den Men-
schen gesetzt, einmal zu sterben, darnach aber das Gericht.'"
■ Das Kreuz auf seinem Grabe wurde von Pöbelhand zer-
stört. Jetzt bezeichnet ein Porphyrblock die Stätte, wo dei"
Philosophus Teutonicus ruht.
Schon oben unterschieden wir in Jakob Böhmes Lehre
-einen unvergänglichen Kern echter intuitiver Weisheit und
eine aus allerlei biblischen, neuplatonisch-mystischen und theo-
sophischen Elementen zusammengewobene Schale, welche diesen
Kern einhüllt. Wir wollen versuchen, beide nach Mögliclikeit
auseinanderzulegen.
1. Tkis origineUe EJcment in Böhmes Lclirc.
Die Grundanschauung unseres Philosophen ist, wie schon
bemerkt, eine pantheistische, so jedoch, dafs zur Erklärung
des Bösen, welche ihn vor allem beschäftigt, diesem Pan-
theismus ein Dualismus eingewoben ist.
„Es dürfte wohl mancher sagen, was wäre das für ein
Gott, dessen Leib, Wesen und Kraft im Feuer, Luft, Wasser
und Erde bestände? Siehe, du unbegreiflicher Mensch, ich
will dir den rechten Grund der Gottheit zeigen. Wo dieses
ganze Wesen nicht Gott ist, so bist du nicht Gottes Bild;
wo irgend ein fremder Gott ist, so hast du kein Teil an ihm.
Denn du bist aus diesem Gott geschaffen und lebst in dem-
selben, und derselbe gibt dir stets aus "ihm Kraft, Segen,
Speise und Trank; auch stehet alle deine Wissenschaft in
diesem Gotte, und wenn du stirbest, so wirst du in diesem
Gott begraben. . . . Siehe, das ist der rechte einige Gott, aus
dem du geschaffen bist, und in dem du lebst. Wenn du die
Tiefe und die Sterne und die Erde ansiehest, so siebest du
deinen Gott, und in demselben lebest und bist du auch, und
derselbe Gott regiert dich auch, und aus demselben Gott hast
du auch deine Sinne und bist eine Kreatur aus ihm und in
ihm, sonst wärest du nichts. — Nun wirst du sagen, ich
schreibe heidnisch. Höre und siehe und merke den Unter-
schied, wie dieses alles sei, denn ich schreibe nicht heidnisch,
sondern philosophisch; ich bin auch kein Heide, sondern ich
490 ^^- Der Tagesanbruch der neuem Philosophie.
habe die Tiefe und wahre Erkenntnis des einigen grofsen
Gottes, der alles ist" (Aurora cap. 23, Werke 2,268 fg.). „Also
können wir mit nichten sagen, dals Gottes Wesen etwas
Fernes sei, das eine sonderliche Stelle oder Ort besitze oder
habe; denn der Abgrund der Natur und Kreatur ist Gott
selber" (Beschaulichkeit 3,13, Werke 6,470).
Aber, wenn alles in der Welt Gott ist, woher dann da&
Böse, von dessen Realität Böhme zu tief ergriffen ist, als dafs
er es mit dem Pantheismus zu leugnen oder wegzuerklären
vermöchte. Hier entschliefst er sich zu dem kühnen Schritte,
das Böse in Gott selbst zu verlegen und dasselbe als durch
die Selbstofienbarung Gottes in der Welt notwendig be-
dingt zu begreifen. „Der Leser soll wissen" (heifst es Theo-
sophische Fragen 3,2, Werke 6,597), „dafs im Ja und Nein
alle Dinge bestehen, es sei göttlich, teuflisch, irdisch, oder
was genannt werden mag. Das Eine, als das Ja, ist eitel
Kraft und Leben und ist die Wahrheit Gottes oder Gott selber.
Dieser wäre in sich selber unerkenntlich und wäre darinnen
keine Freude oder Erheblichkeit noch Empfindlichkeit ohne das.
Nein. Das Nein ist ein Gegenwurf des Ja oder der Wahr-
heit, auf dafs die Wahrheit offenbar und etwas sei, darinnen
ein Contrarium sei."
Wie das Licht der Sonne nur sichtbar wird durch das
dunkle Zinngefäfs, so kann sich Gott nur dadurch offenbaren,
dafs ein Gegensatz, ein Göttliches und ein Gegengöttliches in
Gott selbst vorhanden ist. Diesen Gegensatz konstruiert Böhme,
indem er ausgeht von Zorn und Liebe als den beiden, in der
heiligen Schrift offenbarten Grundeigenschaften des göttlichen
Wesens; so gelangt Böhme zu der Annahme eines Reiches des
Grimmes und der Finsternis und eines triumphierenden Freuden-
reiches Gottes,- mit andern Worten, einer Hölle und eines
Himmels, welche beide in Gott liegen.
Dieser Schritt zieht einen weitern mit Notwendigkeit nach
sich. Unmöglich kann Gott Urheber des Bösen sein, und so
sieht sich Böhme genötigt, den Schwerpunkt von Gott weg
und in die in voller Ursprünglichkeit freie Seele zu verlegen,
so dafs Gott ihm unter den Händen zu der blofsen aus-
gespannten Möglichkeit des Bösen und Guten wird, welche
5. Jakob Böhme. 491
beide zur Wirklichkeit erst werden durch die ureigene freie
Entschliefsung der Seele. So verlegt Böhme Gutes und Böses,
Gott und Teufel, Himmel und Hölle in die Seele hinein
als entgegengesetzte Möglichkeiten, zu welchen sie sich mit
völliger Freiheit entscheidet, weder durch äufsere Einwirkungen
noch durch irgendeine ihr anerschaffene Beschaffenheit irgend-
wie bestimmt oder beeinflufst, — denn das eben ist der tiefe
Sinn des Wortes Freiheit!
Diese Lösung unerhörter Schwierigkeiten wird zwar auch
von Jakob Böhme nicht in voller Klarheit dargeboten, aber er
kommt ihr, in seinen besten. Augenblicken, näher als irgendein
Philosoph vor ihm, und spricht sie gelegentlich so deutlich aus,
wie es, unter dem Einflüsse der biblischen, theistischen Tradi-
tion nur möglich war. Man vergleiche Stellen wie die folgenden.
,.Denn ein jeder Mensch ist frei und ist wie ein eigener
Gott, er mag sich in diesem Leben in Zorn oder in Licht
verwandeln" (Aurora cap. 18, AVerke 2,201).
„So der Mensch freien Willen hat, so ist Gott über ihn
nicht allmächtig, dafs er mit ihm thue was er wolle. Der freie
Wille ist aus keinem Anfange, auch aus keinem Grunde, in
nichts gefasset oder durch etwas geformt. Er ist sein selber-
eigener Urständ aus dem Worte göttlicher Kraft, aus
Gottes Liebe und Zorn. Er formet ihm in seinem eigenen
Willen selber ein Centrum zu seinem Sitze, er gebäret sich
im ersten Principio zum Feuer und Lichte. Sein rechter Ur-
ständ ist ein Nichts, da sich das Nichts ... in eine Lust zur
Beschaulichkeit einführet, und die Lust führet sich in einen
Willen, und der Wille in eine Begierde, und die Begierde in
ein Wesen" (Mysterium magnum 26,53. Werke 5,164).
„Nun lebet er in zweien, welche ihn beide ziehen und
haben wollen, als 1) im Grimmen-Quall, welches Urkund ist
die Finsternis des Abgrundes und dann 2) in der göttlichen
Kraft, welches Quall ist das Licht und göttliche Wonne in
den zersprengten Thoren der Himmel . . . Also wird der Mensch
von beiden gezogen und gehalten, aber in ihm steht das
Centrum, und hat die Wage zwischen den zwei Willen"
(Drei Prinzipien 21,22, Werke 3,280).
„So mögen wir nun zusehen und was Gutes aus uns
492 ^^- 1*61' Ttigcsanbruch der neueni l'liilosopliie.
gebären !, Denn wiiMhaben das Centrum der ■ Nätür' Tri
uns! Machen wir einen Engel aus uns, so sind wir das;
machen wir einen Teufel aus uns, so sind wir das auch"
(Menschwerdung 2,9,2, Werke 6,289;).
„Darum sehe ein jeder zu, was er thut! Es ist ein jeder
Mensch sein eigener Gott und auch sein eigener Teufel; zu
welcher Quall er sich neiget und einergiebt, die treibet und
führet ihn, derselben Werkmeister wird er" (Menschwerdung
1,5,26, Werke 6,185). ' " " - '
Ziehen wir die Summe aus diesen Ausführungen, so ge-
winnen wir als die philosophische Grundanschauung Böhmes,
wie sie, der mythischen Hülle nach Möglichkeit entkleidet, er-
scheint, die folgenden Sätze.
. Das Prinzip der Dinge, die Gottheit, ist zu denken als ein
.Wiesen, welches die Gegensätze des Guten und Bösen bereits
in sich enthält, jedoch noch nicht als Gutes und Böses, sondern
als eine Spannung entgegengesetzter, aber harmonisch zu-
sammenwirkender Kräfte. Sie sind schon das Gute und Böse,
aber nur der Möglichkeit, noch nicht der Wirklichkeit nach,
noch nicht „entzündet", wie Böhme sagt, noch nicht aktuell,
wie wir dies ausdrücken können. • Dieses mögliche Gute
und Böse, welches in Gott liegt, wird zum wirklichen
Guten und Bösen erst dadurch, dafs die Seele, aus eigener
Freiheit und Ursprünglichkeit heraus, sich für dasselbe ent-
scheidet. Die Seele ist nicht ein von Gott verschiedenes
Wesen, sondern im Grunde das göttliche Wesen selbst, sofern
es jenen möglichen Gegensatz zwischen Gut und Böse zu
einem wirklichen macht.
Mit Böhmes eigenen Worten: „Der innere Grund der Seele
ist die göttliche Natur . . . und ist weder böse noch gut;
aber ... im angezündeten Leben der Seele, da scheidet sich
derselbe Wille ... sie ist selber ihr Grund zum Bösen oder
Guten, denn sie ist das Centrum Gottes, da Gottes Liebe
und Zorn in einem Grunde unausgewickelt liegt" (Gnadenwalil
8,100, W^erke 4.56o};— „Darum ist die Seele Gottes eigen
Wesen" (Drei Prinzipien 4,19, Werke 3,27).
Darum ist auch die Wiedergeburt und Erlösung, welche
durch den Christus, der in uns lebt, gewirkt wird, nur eine
5. .lukol. IJoliuit'. 493.
Rückkehr zu unserm ureigenen göttlichen \\'esen. Böhme sagt:
„Kein Ding kann in ihm selber ruhen, es gehe denn 'wieder
in das ein, daraus es gangen ist. Das Gemüt hat sich von
der Einheit gewandt in eine Begierde zur Empfindlichkeit, zu
probieren die. Schiedlichkeit der Eigenschaften: dadurch ist in
ihm die Schiedlichkeit und Widerwillen [der Gegenwille, das
Böse] entstanden, welche nun das Gemüt beherrschen: Und
davon mag es nicht entlediget werden, es verlasse denn
dich selber in der« Begierde der Eigenschaften und
schwinge sich wieder in die allerlauterste Stille, und be-
gehre seines Wollens zu schweigen, also dafs der Wille
sich über alle Sinnlichkeit und Bildlichkeit in den ewigen
Willen des Urgrundes vertiefe, aus dem er ist anfänglich
ejitstanden, dafs er in sich nichts mehr wolle, ohne was Gott
dm'ch ihn will, — so ist er in dem tiefsten Grunde der Ein-
heit" (Mysterium magnum, Anhang 7, Werke 5,703).
2. Das iraditiouellv Element in Böhmes Lehre.
Wir haben im Vorhergehenden versucht, den Kern ursprüng-
licher, aus der Natur geschöpfter und daher auch unwider-
•legbarer Wahrheit, der in Böhmes Lehre liegt, herauszuheben,
und wollen nun nocli kurz die mythische Schale betrachten,
welche denselben umschliefst. Böhme selbst ist sich des
mythischen Charakters seiner Darstellung insofern bewufst,
als er unaufhörlich einschärft, dafs er, um der menschlichen
Schwachheit willen, als einen zeitlichen Hergang beschreibe,
was zeitlos sei, und nebeneinander stelle, was nur in einander
als eine vollkommene Einheit bestehe.
Mit diesem Vorbehalt schildert er, wie ursprünglich -nur
Gott gewesen sei, der „Ungrund", aus dem aller Grund ent-
standen, der Urständ aller Wesen und daher selbst ohne
Wesen, Natur und Eigenschaften, die ewige Stille, alles und
doch gleichwie nichts, weder Finsternis noch Licht, niemanden
offenbar, nicht einmal sich selbst. Bei Schilderung dieses
ewig Einen verknüpft Böhme die christliche Tradition von der
Trinität mit der neuplatonischen von dem Auseinandertreten
des Einen in Subjekt und Objekt (Ideen) dadurch, dafs er
Sohn und Geist zwischen den Vater (das Subjekt) und die
494 XX. Der Tagesanbruch der neuem Philosophie.
„Weisheit", in der sich sein Wesen wie im Spiegel erbHckt
(d. h. die Ideenwelt), zwischeneinschiebt. „Der erste un-
anfängliche, einige W^ille gebieret in sich einen fafs-
lichen Willen, welcher des ungründlichen Willens Sohn
ist, da sich das Nichts in sich selber zu Etw^as findet, . . .
darinnen sich der Ungrund in Grund fasset; und der Aus-
gang des ungründlichen Willens durch den gefafsten Sohn
heifset Geist; und das Ausgegangene ist die Lust, da sich
der Vater, Sohn und Geist immer siebet und findet, und heifset
Gottes Weisheit oder Beschaulichkeit" (Gnadenwahl 1,5,
Werke 4,468), „darinnen alles lieget als eine göttliche Imagi-
nation, darinnen die Ideen der Engel und Seelen sind von
Ewigkeit in göttlicher Ebenbildnis gesehen worden, nicht als
Kreaturen, sondern in einem Gegenwurf, wie sich ein Mensch
in einem Spiegel besiehet" (Schlüssel 5,19, W^erke 6,G65).
Diese der christlichen Tradition von der Trinität und der
neuplatonischen vom Subjekt- Objekt zuliebe unternommene
Konstruktion, welche Böhmen den Vorwurf der „Viereinig-
keit" zuzog (quartitatem statt quantitatem ist jedenfalls auch
in Richters Schmähgedicht, Werke 7,288, Zeile 5 zu lesen),
dient als Unterbau der Lehre von den sieben Quellgeistern
oder Qualitäten, zu welchen sich (im Anschlufs an die
sieben Geister vor Gottes Stuhl, Apokal. 1,4. 4,5) das Wesen
der Gottheit gliedert, und von denen die drei ersten Gottes
Zorn, die drei letzten Gottes Liebe repräsentieren, während
die mittlere, vierte, als das „Scheideziel" beiden Reichen, dem
des Zornes oder der Finsternis und dem der Liebe oder des
Lichtes gemeinsam ist. Zur Übersicht mag folgendes Schema
dienen :
Vater Solni — Weisheit
Geist
i. Härte 2. Fliehen H. Anjjst 4. Feuer ry. Licht «;. ISchall 7. Leiblichkeit
Reich des Grimmes und der Finsternis Das triumphierende Freudenreich Gottes
erstes Prinzip: Vater (ZoniJ zweites Prinzip: Sohn (Liebe)
drittes Prinzip: Geist (die Welt).
Diese sieben Qualitäten, auf welche Böhme als auf seine
■Grundanschauung unaufhörlich zurückkommt, um sie immer
5. Jakob Böhme. 495
-wieder und wieder zu beschreiben, sind zwar noch nicht die
Orundkräfte der wirkhchen Natur, sondern machen das aus,
was unser Philosoph „die ewige Natur in Gott" nennt, aber
natürlich mufste er die Farben, mit denen er diese ewige Natur
ausmalt, der Erfahrungswelt entnehmen, und die Schwierig-
keit, ihn zu verstehen, entspringt nur daraus, dafs er immer
neue Versuche anstellt, um die einzelnen Qualitäten und ihr
Zusammenwirken zu schildern, wodurch das Bild derselben ein
so buntes wird, dafs es mitunter kaum möglich ist, die be-
stimmte Anschauung aufzufinden, welche den Philosophen
leitete, ja mitunter fraglich wird, ob überhaupt eine solche
bei allen Variationen als feste Einheit zugrunde liegt. So
schildert er, um nur einiges hervorzuheben, die erste Qualität
als die Herbigkeit, Härte, Kälte, Anziehung, Begierlichkeit, die
zweite als Beweglichkeit, Empfindlichkeit, Süfse, Stachel,
Fliehen, die dritte entspringt aus den beiden ersten und heifst
die Angst, das Wallen, das Rad des Lebens usw. „In diesen
drei ersten Eigenschaften stehet das Fundament des Zorns
und der Hölle und alles dessen, was grimmig ist." Die vierte
Qualität ist das Feuer, der Ursprung des Lebens, die Begierde,
und ist ein Zornbrennen in bezug auf die vorhergehenden, ein
Liebebrennen in bezug auf die folgenden Qualitäten; diese,
welche ,,das ewige Freudenreich Gottes" bilden, sind fünftens
das Licht, die Liebe, sechstens der Schall, das verständige
Leben, und siebentens die (ideale) Leiblichkeit, nicht körper-
lich zu denken, aber doch wesentlich und sichtbar, die ewige,
w^esentliche Weisheit Gottes, der Inbegriff aller Formen, Farben
und Schönheit.
Die erste bis vierte Qualität heifsen das erste Prin-
zipium und entsprechen dem Vater, die vierte bis siebente,
das zweite Prinzipium genannt, entsprechen dem Sohne;
unter dem dritten Prinzipium versteht Böhme bald das
Ineinander der beiden ersten als den Heiligen Geist, bald auch
die aus den sieben Qualitäten ausgeflossene körperliche Natur-
Die Motive zu dieser ganzen Qualitätenlehre lassen sich,
bei der Buntheit der Farben, in der dieselbe schillert, nicht
leicht angeben. Nur als Vermutung möchten wir hinstellen,
dafs der Philosoph dabei geleitet wurde durch die Wahr-
4:96 XX. Der Tagesanbrucli der neueru Philosophie.
nehmung, dals in allen Dingen Gutes und Böses liege, und
dafs er das Gute in der Sichtbarkeit, Hörbarkeit, Gestaltung,,
mit einem Worte, in der intellektuellen Seite der Natur fand,
woraus er dann Licht, Schall und Leiblichkeit als die drei
letzten Qualitäten gewann, während der Eindruck der „wüten-
den Unsinnigkeit", mü der die elementaren Kräfte in der leb-
losen, unorganischen Natur gegen einander wirken, den Stoff
zu den drei ersten Qualitäten bot ; ja , wenn er (Mysterium
magnum 3,15, Werke 5,14) die Entstehung der Angstqual (der
dritten Qualität) aus den beiden ersten mit den Worten be-
schreibt: „Die Härte (die erste Qualität) ist haltend, und das
Ziehen (die zweite) ist fliehend; eines will in sich und das
andere will aus sich; da es aber nicht von einander weichen
oder sich trennen kann, so wirds in einander gleich einem
drehenden Eade, . . . und hieraus ergibt sich dann (als dritte
Qualität) eine erschreckliche Angst," — so wird hierbei wohl
jeder an die Attraktion und Repulsion erinnert, deren Ringen
gegen einander den räumlich begrenzten Körper, die Ein-
engung oder, mit Böhme zu reden, die Angst gebiert; — nur
dafs hier wie überall an diese ursprüngliche Naturanschauung
sich andere Elemente angesetzt und dieselbe schliefslich bis
zur Unkenntlichkeit entstellt hätten. Als Grundanschauung
aber bricht überall durch, dafs die eigentliche Essenz der drei
ersten, und durch sie auch der übrigen Qualitäten ein Hunger,
eine Begierde, ein Wille ist, welcher in der vierten Qualität,
im Feuer, zum Ursprung des Lebens wird, und in dem auch
d,ie Qualitäten des Licht- und Liebereiches gegründet sind:
„Der Grimm ist die Wurzel aller Dinge." — „Und so der
Wille also in Finsternis ist, so ist er in der Angst, denn er
begehret aus der Finsternis, . . . und erreget also die Feuers-
wurzel, . . . und wohnet in der zersprengten Finsternis im
Lichte, in einer lieblichen Wonne in sich selber" usw. (Drei
Prinzipien 21,18, Werke 3,279).
Die vierte Qualität, das Feuer, ist das centrurn naturae,
ist zwischen den Reichen der Finsternis und des Lichts, des
Zornes und der Liebe, des Bösen und des Guten, das „Scheide-
ziel", „die Angel, da mag sich der Wille schwingen wohin er
mll", sei es rückwärts in die finstere Welt, sei es vorwärts
5. Jakob Böhme. 497
in die Welt des Lichts und der göttlichen Liebe. „Er ist
frei, und so steht dieses beides in seiner Wahl."
Diese Freiheit des Willens führt, wie dann weiter Böhme
im Anschlufs an die biblische Tradition und unter geistvoller
Umdeutung derselben entwickelt, zum Sündenfall, welcher in
einer „Abbrechung" des eigenen Willens vom göttlichen be-
steht. Dem Falle Adams geht der des Lucifer vorher. Der-
selbe war erschaffen als der schönste Engel des Himmels;
aber anstatt „seine Imagination in das Licht Gottes zu setzen"
und „in Gott zu wallen", vermafs er sich vermöge der Frei-
heit seines Willens, „über die göttliche Geburt zu triumphieren,
über Gottes Herz sich hinauszuschwingen", und hierdurch
„zog er sich selber aus der Liebe in Gottes Zorn", neigte
sich in „die finstere Welt mit dem Keiche der Phantasie",
trat aus dem Lichte heraus, wurde beschränkt auf die vier
ersten Qualitäten, welche ohne das ewige Licht „der Abgrund,
der Zorn Gottes und die Hölle" sind. „Das Fundament der
Hölle ist von Ewigkeit gewesen, aber es war nicht offenbar,
bis es erweckt war." Die Scheidung zwischen Himmel und
Hölle ist nicht als eine räumliche zu denken. „Der Himmel
ist in der Hölle und die Hölle im Himmel, und ist doch keines
dem andern offenbar" (Mysterium magnum 8,28, Werke 5,o8).
An die Stelle des verstofsenen Lucifer schafft Gott, wie
Böhme in der Auslegung der mosaischen Schöpfungsgeschichte
berichtet, den Menschen als „ein volles Gleichnis Gottes, voll-
kommener als die Engel, bestimmt über alle Dinge zu herr-
schen", wie er denn als Mikrokosmus ein Inbegriff aller Dinge
ist. „Es ist Himmel, Erde, Sterne und Elemente alles im
Menschen, dazu die Dreizahl der Gottheit, und kann nichts
genannt werden, das nicht im Menschen wäre." — „Adams
Seele war aus dem ewigen Willen, aus dem centro naturae,
da sich Licht und Finsternis scheidet. Verstehe! Es war
nicht ein zerteilter Funke, als ein Stück vom Ganzen, denn
es ist kein Stück, sondern alles ganz; wie denn in einem
jeden Punkt ein Ganzes ist" (Dreifaches Leben 6,49 — 50,
Werke 4,92).
Zwischen die Reiche des Lichts und der Finsternis war
der Mensch gestellt, sich frei zu entscheiden. „Der Wille dor
Deus^sen, Geschichte der Philosojjliie. II, ii, 2. 3'2
498 XX. Der Tagesanbruch der neuem Philosophie.
Seele ist frei, entweder in sich zu ersinken und sich nichts
zu achten, sondern als ein Zweig aus dem Baume (zu) grünen
und von Gottes Liebe (zu) essen — oder in ihrem Willen im
Teuer auiYzu)steigen und ein eigner Baum zu sein" (Vierzig
Fragen 2,2, Werke 6,51). Aber „der Wille des Lebens brach
sich von dem göttlichen Grunde ab und ging in die Empfind-
lichkeit, aus der Einheit in die Vielheit, und widerstrebte der
Einheit, als der ewigen einigen Ruhe, dem einigen Guten"
(Beschaulichkeit 2,6, Werke 6,462) ; „die seelische Scienz ver-
gaffte sich an der Kreation des geformten Wortes in seiner
Schiedlichkeit . . . und erhub sich in Lust zur Schiedlichkeit"
(Gnadenwahl 6,33, Werke 4,5LS). „Als die Lust vom Geiste
-dieser Welt in Adam gesiegt hatte, so sank er nieder in
Schlaf"; „der Schlaf deutet den Tod an und eine Über-
"windung" ; „mit dem Schlafe aber ward im Menschen die Zeit
■offenbar; er entschlief damit der englischen Welt und wachte
auf der äufsern Welt"'. Die Jungfrau, die göttliche Weisheit,
die bis dahin in ihm gewohnt hatte, entwich aus ihm, und
an Stelle derselben wurde ihm das irdische Weib gegeben,
mit der sich dann der Sündenfall vollendete und über die
ganze Menschheit erstreckte, denn „die Seelen der Menschen
sind allesamt als wären sie eine Seele" (Dreifaches Leben 16,9,
Werke 4,236). Aber auch das Heil blieb keimartig in der
Menschheit erhalten (wie Böhme durch das Alte Testament
hindurch in tiefsinnigen Allegorien durchführt), bis es in
Maria, in welche sich die ewige Jungfrau, die göttliche Weis-
heit eingelassen, als der Heiland geboren wurde.
Aber „der historische Glaube an Christus ist ein blofses
Eünklein [des Feuers], das erst mufs angezündet werden". —
^,Keiner ist ein Christ, Christus lebe und wirke denn in ihm."
— „Wenn Christus aufsteht, so stirbt Adam mit seinem
Schlangenwesen, wenn die Sonne aufgeht, so wird die Nacht
im Tage verschlungen, und ist keine Nacht mehr." — „Wer
Christum in sich hat, der ist ein Christ und mit Christo ge-
kreuzigt und gestorben und lebt in seiner Auferstehung." —
„Nicht von aufsen wird Zion zum ersten geboren, sondern
von innen; wir müssen uns selber in uns suchen und finden.
Niemand darf einer andern Stätte nachlaufen, . , . sondern in
5. Jakob Bölimp. 499
ihm selber ist die Pforte der heiligen Gottheit . . . Wo will
sicli die Seele lange hiiischwingen? Ist sie doch selber der
Quell der Ewigkeit!"
Wenn ein neuerer Theologe (Harlefs, J. Böhme und die
Alchymisten, S. 101) auf Grund derartiger Aufserungen Böhmes
behauptet, derselbe habe den Christus für uns gestrichen
und nur den Christus in uns stehen lassen, so möchten
wir nur hinzufügen, dafs man von dem ,, Christus in uns" eine
sehr unzureichende Vorstellung hat, wenn man an dem, der
ihn besitzt, noch irgend etwas vermifst.
Auf die Frage, wohin die Seele nach dem Tode fahre,
antwortet Böhme im Büchlein „vom übersinnlichen Leben":
„Sie bedarf keines Ausfahrens; sie hat Himmel und Hölle in
sich; das Reich Gottes ist inwendig in euch. — Himmel und
Hölle sind in einander, und ist je eines dem andern wie ein
nichts."
„Wo du nach deiner Selbheit und eigenem Willen nicht
wohnest, da wohnen die Engel bei dir und überall; und wo
du nach deiner Selbheit und eigenem Willen wohnest, da
wohnen die Teufel bei dir und überall" (Werke 1,143).
Wie in diesen Stellen die Nichtigkeit des Raumes, so
spricht sich die Nichtigkeit der zeitlichen Weltordnung in
-den Worten aus, welche Jakob Böhme seinen Freunden ins
Stammbuch zu schreiben pflegte (Frankenberg, Leben 26) :
„Werne Zeit ist wie Ewigkeit
Und Ewigkeit wie die Zeit,
Der ist befreit
Von allem Streit."
6. Bacoii von Yerulam.
Gleichzeitig mit Giordano Bruno und Jakob Böhme lebte
in England ein Denker, welcher weder dem Italiener an zartem
Naturgefühl noch dem Deutschen an mystischem Tiefsinn
gleichkommt, dafür aber von der hohen sozialen und politi-
schen Stellung aus, welche er einnahm, einen weiten, welt-
umspannenden Blick besafs, welcher nichts Geringeres als
/eine vollständige Neuorganisation des gesamten menschlichen
Wissens plante, und so würde Bacon von Verulam, auf der
32*
500 X^- D*^i' Tagesanbrucli der neuem Philosopliie.
Grenze zweier Zeitalter stehend, nicht an den Schlufs der
mittelalterhchen, sondern an den Anfang der neuern Philo-
sophie zu stellen sein, wäre es ihm beschieden gewesen, seine
Instcmratio magna, „die grofse Wiederherstellung" der Wissen-
schaften, welche er beabsichtigte, so auszuführen und die treff-
lichen methodischen Regeln, welche er aufstellte, selbst in
einer solchen Weise zu handhaben, dafs beides für die Ent-
wicklung der neuern Philosophie zum Anknüpfungspunkt hätte
dienen können.
Francis Bacon würde geboren am 22. Januar 1561 in
dem Städtchen St. Albans, nordwestlich von London, als
jüngerer Sohn von Nicholas Bacon, dem Grofssiegelbewahrer
flieeper of tlie gnat sealj unter Königin Elisabeth von Eng-
land. Er studierte 1573 — 1575 zu Cambridge, von wo er, von
Widerwillen gegen die Scholastik erfüllt, sich nach London
wandte, um in Gray's Inn juristischen Studien obzuliegen.
Er begleitete 1576 den englischen Gesandten nach Paris,
mufste aber zwei Jahre darauf, veranlafst durch den Tod
seines Vaters, der die materielle Sicherstellung des Jüngern
Sohnes versäumt hatte, nach London zurückkehren, wo er
auf Gray's Inn seine juristischen Studien bis 1582 vollendete
und sich sodann als unbesoldeter Eechtsanwalt niederliefs.
Bei geringen Einnahmen und hohen Ansprüchen, welche durch
seine vornehmen Verbindungen wie auch durch seine Vorliebe
für ein glänzendes Leben veranlafst wurden, hatte er lange
Jahre mit materiellen Sorgen zu kämpfen, während er als
Mitglied der Parlamente von 1584, 1586 und 1588 wie auch
durch seine 1597 herausgegebenen Essays, Moral, Ecotwmical
and Tolitical fSermonvs fiddesj sich berühmt machte. Die
Königin war ihm nicht günstig, und vergebens hatte Graf Essex
Fürsprache für ihn eingelegt, bei dessen späterer Verurteilung,
und Rechtfertigung der Königin wegen seiner Hinrichtung,
Bacon als bestellter Kronanwalt mitzuwirken sich gezwungen
sah. Nachdem 1603 Jakob L zur Regierung gekommen war,
welchen die gemeinsame Hochschätzung für Wissenschaft und
Gelehrsamkeit mit Bacon verband, besserten sich dessen Ver-
hältnisse; Titel, Würden und besoldete Amter wurden ihm
reichlich zuteil, 1617 wurde er zum Grofssiegelbewahrer, 1618
6. Bacon von Vonilam. 501
zum Grolskanzlor und Baron von Verulam (nach dem bei
St. Albans liegenden römischen Kastell Vernlamium) und 1621
zum Viscount von St. Albans ernannt, aber in demselben Jahre
noch brach das Verhängnis über ihn herein. Er wurde vor
dem Parlament angeklagt, als Oberrichter von den Parteien
und als Lordkanzler bei Verleihung von Patenten und Lizenzen
bestochen worden zu sein, in 28 Fällen für schuldig befunden,
aller seiner Amter und seines Sitzes im" Parlament für ver-
lustig erklärt, zur Einkerkerung im Tower, Solange es dem
König gefalle, und zu einer Geldstrajj von 40000 Pfd. St. ver-
urteilt. Nach wenigen Tagen wurde er aus der Haft entlassen
und von der Geldstrafe befreit. In seiner Rechtfertigungs-
schrift bekannte er sich in allen ihm zur Last gelegten Fällen
für schuldig, jedoch nur in dem Sinne, dafs er nicht litc,pcndente,
sondern erst nach Entscheidung der Streitfragen diese Ge-
schenke angenommen habe, und dafs seine Entscheidungen
durch die Aussicht auf dieselben nicht beeinflufst worden
seien; seit fünfzig Jahren, erklärte er, habe es keinen gerech-
tern Kanzler gegeben als ihn. Zu seiner Entschuldigung mag
angeführt werden, dafs er im Annehmen von Geschenken nur
einem allgemeinen Brauche folgte, sowie dafs er sich selbst
opferte, um den König zu schonen. Weniger zu ertragen ist
die kleinliche Art. mit welcher er nach allen Seiten um Barm-
herzigkeit und V^'iederherstellung flehte; sie wurde ihm zuteil,
der König A'erlieh ihm eine Pension von 1200 Pfd. St. und gab
ihm den Sitz im Oberhause zurück, ohne dafs Bacon dort
wieder erschienen wäre. Er lebte in den folgenden Jahren,
mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt, meistens auf
seinem Landsitze Gorhambury bei St, Albans, bis er am 9. April
1626 starb, wie er selbst in einem letzten Briefe erklärte, ähn-
lich wie der ältere Plinius als ein Opfer der Wissenschaft..
Allerdings handelte es sich in Bacons Fall nicht um den Aus-
bruch eines Vulkans, sondern um ein Huhn, welches Bacon
in einem Bauernhause zu Highgate bei London mit Schnee
ausgestopft hatte, um die Verzögerung der Verwesung durch
den Einflufs der Kälte zu beobachten, wobei er sich eine Er-
kältung zuzog, die seinen Tod zur Folge hatte. ,
Der auf das Praktische gerichtete, dem reinen, willens-
502 XX. Der Tagesanbrucli der neuem riiilosophie.
freien Erkennen weniger geneigte Sinn des Engländers be-
kundet sich bei Bacon darin, dafs er den Hauptwert aller
Wissenschaft in den Erfindungen sieht, zu welchen sie leitet.
Einer seiner bekanntesten Aussprüche lautet : tardum possuinus
quantum scimiis. Freilich liegt in diesem Satze, dafs mit
unserer Erkenntnis der Natur auch unsere Macht über die
Natur wächst, keine grofse Weisheit, und man könnte ver-
sucht sein, den allgemeinen Standpunkt Bacons treffender
zum Avisdruck "^zu bringen durch den umgekehrten Satz : tan-
tum scinius (ßtaniuni ijossumns, nur das ist ein echtes Wissen,
welches sich als jDraktisch brauchbar erweist, ein Gedanke,
welcher nicht nur mit Bacons Ausspruch: quod in operando
läilissimum , kl in scientia verissimum (Novum Organum 2,4),
sondern auch mit dem Goetheschen Verse:
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr"
zusammentrifft und doch trotz Bacon und Goethe und dem
heute in Mode stehenden Pragmatismus falsch ist, denn es
gibt viele Erkenntnisse, welche nicht den mindesten prakti-
schen Wert haben oder je haben werden, und trotz ihrer Un-
fruchtbarkeit von dem nach Licht, Klarheit und Wahrheit
dürstenden Menschengeiste nur um ihrer selbst willen ge-
schätzt und mit aller Kraft der Seele erstrebt werden.
Sehr verschieden von einer solchen Unfruchtbarkeit war
die Unfruchtbarkeit der Scholastik, welche dem Bacon schon
bei seinen Studien in Cambridge in ihrer ganzen Dürre und
Öde entgegengetreten war und in ihm weiterhin den Plan
entstehen liefs, eine Instauratio magna, „eine grofse Wieder-
herstellung" der Wissenschaften in Gang zu bringen. Dieses
von ihm geplante, aber nur teilweise ausgeführte Lebenswerk,
die Instauratio magna, sollte im ersten Teile eine Übersicht
sämtlicher Wissenschaften, im zweiten die rechte Methode,
im dritten das Naturwissen als vcrac inductionis supellex. im.
vierten die Interpretation der so gesammelten Materialien, im
fünften die Vorgänger auf dem Wege der Forschung und
Erfindung und im sechsten Anleitung und Winke zu neuen
Erfindungen , behandeln. Es war dem Philosophen nicht ver-
gönnt, dieses Riesenwerk zu Ende zu führen; nur der erste
G. Biicon von Venihim. 503
und zweite Teil liegen in* verschiedenen Bearbeitungen vor
nebst einer Sammlung von Vorarbeiten zum dritten Teil, näm-
lich: 1, die aus der 1(505 erschienenen Vorarbeit on tlic pro-
ficifiwc and aclvaiiccinciit of Icaniing hervorgegangene erste
Hauptschrift, De dignitute et augmentis scientiarum (London
1623), und 2. das durch Umarbeitung der 1612 erschienenen
Cogltata et visa entstandene und schon 1620 zu London ver-
öftentlichte Xovuni Orgtüion scientiarum. Die Vorarbeiten zum
dritten Teil sind enthalten in der Sijlva sglvanün, „der Samm-
lung der Sammlungen", welche eine erst nach Bacons Tode
1627 herausgegebene Sammlung mannigfaltiger Materialien,
Tatsachen und Versuche zur Naturwissenschaft in zehn Cen-
turien befafst.
1. De digiiitate et aiignientis scientiarum, „L ber den \\ ert
und die Bereicherungen der Wissenschaften". In dieser Schrift
unterwirft Bacon die Gesamtheit des menschlichen Wissens,^
den ganzen glohus intellcctualis, einer Durchmusterung, wobei
er überall die nach seiner Meinung vorhandenen Lücken, w^enn
auch nicht ausfüllt, so doch nachweist und zu ihrer Ergänzung
auffordert. Sein Einteilungsprinzip der Wissenschaften ist da-
bei ein psychologisches; den drei Seelenkräften des Gedächt-
nisses, der Phantasie und des Verstandes entsprechen die drei
Wissensgebiete der Geschichte, der Poesie und der Philo-
sophie. Die Geschichte teilt er ein in die Jiistoria cicilis
und historiu naturcdis: als Desiderata bezeichnet er eine Be-
arbeitung der Literaturgeschichte und der Geschichte der
Philosophie. In der Poesie will er mit Übergebung der
Lyrik nur die epische, dramatische und die parabolische Poesie
gelten lassen, wobei er zur Erläuterung der letztern eine alle-
gorische Deutung der Mythen von Pan, Perseus und Dionysos
versucht. Der Gegenstand der Philosophie ist ein drei-
facher: Gott, die Natur und der Mensch, entsprechend dem
dreifachen Wege, auf dem wir zur Erkenntnis gelangen : per-
cutit aiitcm Natura intellectum nostrwn raßio directo, Dens aiiteni
propter medium inaequale radio tantum refracto., ipse vero Homo
sibimef ipsi monstratur et exhihetur radio reflexo. Nach diesem
optischen Bilde soll die Natur uns unmittelbar, radio directö,
gegeben sein, wobei übersehen wird, dafs alle Erkenntnis der
504 ^^' I^ß'" Tagesanbruch der neuern Philosophie.
Natur nur durch das Medium unseres Bewufstseins zugänglich,
somit stets nur mittelbar ist, im Gegensatze zu dem uns allein
unmittelbar gegebenen Inhalt des Bewufstseins. Treffender
wird die Erkenntnis Gottes als radio refracto bezeichnet, so-
fern die Natur von Gott verschieden ist und doch vermöge
ihrer Beschaffenheit auf ihn hinweist. Wenn endlich das
Wesen des Menschen dem Intellekt nur radio reflexo sich
zeigt, so ist dies wohl so zu verstehen, dafs das Wesen des
Geistes sich in seinen Betätigungen widerspiegelt und an
ihnen sich dem Geiste offenbart. Was zunächst die Theo-
logie betrifft, so will Bacon dieselbe von der Philosophie
streng gesondert wissen. Zwar lautet einer seiner bekanntesten
Aussprüche: leves glistus in pJiilosophia movere fortasse ad
atheismufn, sed pleniores haustus ad religiösem reducere. Dieses
W^ort, soweit es bei Bacon ernst gemeint ist, kann wohl nur
so verstanden werden, dafs die Natur, obgleich sie bei ober-
flächlichem Anblick das Dasein Gottes auszuschliefsen scheint,
doch dasselbe bei genauerer Betrachtung, wenn auch nur radio
refracto, offenbart. Im übrigen will er Vernunft und Glauben
streng von einander getrennt halten ; Philosophie in der Theo-
logie führe zu Häresien, Theologie in der Philosophie zu Phan-
tasterei; wer sich an einem Spiel beteilige, müsse sich auch
den Spielregeln unterwerfen, wer einmal glaube, dürfe auch
an den Paradoxa christiana keinen Anstofs nehmen. Der
Naturphilosophie (natural pMlosophyJ geht voraus die philo-
sophia prima, welche bei Bacon nicht die Metaphysik, sondern
nur denjenigen Teil derselben bezeichnet, den man sonst Onto-
logie und Prinzipienlehre nennt. Die Naturphilosophie hat es
als Physik mit den caiisac efficientes, als Metaphysik mit den
caiisae finales zu tun; beide haben neben dem spekulativen
einen operativen Teil, der in der Physik durch Mechanik, in
der Metaphysik durch die natürliche Magie gebildet wird. Die
Psychologie hat es nicht mit dem von Gott dem Menschen
eingehauchten Geiste ^ dem spiracnlum. zu tun, sondern nur
m^t der animalischen Seele, welche Bacon in der W^eise des
Telesius für einen dünnen und warmen Körper hält, in bezug
auf welchen er namentlich eine nähere Untersuchung des Ver-
hältnisses zwischen Perception, Empfindung und Bewegung
6. Bacon von Vcnilam. ' 500
vermifst. Hieran schliefsen sich die Logik, welche Klarheit
der Erkenntnis, und die Ethik, welche die Leitung des freien
Willens zum Guten, d. h, zum individuell und zum allgemein
Nützlichen, bezweckt. Die Politik als die Wissenschaft von
der allgemeinen Wohlfalirt sollte nicht, wie bisher, von Juristen
oder Philosophen, sondern von Staatsmännern behandelt wer-
den. — Indem Bacon am Schlüsse seiner Schrift alle Desiderata
zusammenstellt, findet er den Grund für die mangelhafte Be-
arbeitung der Wissenschaften in der zu grol'sen Abhängigkeit
von den Alten; die Ehrfurcht, welche man vor ihnen hat,
sollte man unserm Zeitalter, welches alles was jene und noch
so viel mehr als sie hinter sich hat, in noch viel höherm
Mafse erweisen.
2. Das Novum Organon bezweckt, für die neue Organi-
sation der Wissenschaften eine gesunde methodische Grund-
lage zu schaffen. Hierzu müssen vor allem die dem mensch-
lichen Geiste anhaftenden Vorurteile oder, wie Bacon sagt, die
Idole beseitigt werden. Er unterscheidet vier Arten der-
selben, die idola trihus, specus. for» und tlieatri. a) Die idola
Mhiis sind diejenigen, welche dem ganzen Menschengeschlechte,
•der ganzen Tribus als solcher anhaften. Zu ihnen rechnet
Bacon vor allem die Neigung, die Naturerscheinungen teleo-
logisch zu erklären, wodurch schon er sich als mit einem
Grundgebrechen der ganzen neuern Philosophie, nämlich dem
auf Mifsverständnis beruhenden Kampf gegen die Teleologie,
behaftet zeigt. So gewifs, wie sich später zeigen ^vird, alle
Kräfte der Natur im Grunde dasselbe sind, w^as w^ir in uns
als Wille finden , so gewifs ist es , dafs dieser Wille überall
etw^as will, und dieses Etwas ist der Zweck, nach welchem
er strebt, mag derselbe nun, wie in der unorganischen Natur,
in einer Betätigung physikalischer und chemischer Kräfte zur
Verwirklichung des ihnen innewohnenden Strebens bestehen,
oder mag in der organischen Natur dieses Streben sich zu
einer Vielheit von Organen im Räume und zu einer Reihe
von Zuständen in der Zeit auseinanderlegen, welche sämtlich
zu dem gemeinsamen Zwecke der Erhaltung des Lebens un-
bewufst oder bewufst zusammenwirken; b) die idoJa specus
sind die dem Individuum, welches als solches in der dunkeln
506 ^^- I^er Tagesanbruch der neuem IMiilosopliie.
Hohle des Piaton sitzt, anhaftenden; sie sind überaus zahlreich,
und Bacon geht nicht auf eine nähere Erörterung derselben
ein; c) die idola fori sind die aus der Sprache, der Erziehung,
dem geselligen Verkehr eingesogenen Vorurteile, und d) die
idola theatri sind diejenigen Vorurteile, welche wir als Erb-
teil aus den Wissenschaften der Alten, namentlich aus der
aristotelischen Philosophie mit uns herumtragen. — Nachdem
in dieser Weise die Tenne des Geistes durch Ausfegung; der
Vorurteile gereinigt ist, erfolgt der neue Aufbau, welcher sich
lediglich auf die Erfahrung zu gründen hat; nur so gewinnt
man die vera phüosophia, qnac mimdi ipsins voces quam fide-
lissime reddit et veluti didantc mundo conscripta est, ncc quid-
quam de proprio addit, scd tantum iterat et resoiiat. Hierzu
aber mufs das durch die Erfahrung gelieferte Material bearbeitet
werden. Wir sollen nicht blofs sammeln wie die Ameisen,
noch viel weniger etwas aus uns selbst herausspinnen wie
die Spinnen, sondern wie die Bienen sammeln und aus dem
Gesammelten den Honig bereiten. Dies geschieht nicht durch
den von Aristoteles und dem Mittelalter so hochgeschätzten
Syllogismus, welcher nur den Wert hat, aus den bereits ge-
wonnenen Wahrheiten die in ihnen liegenden zu entwickeln
und dadurch zu neuen Erfmdungen zu gelangen, sondern durch
die Induktion, in welcher Bacon das grofse Instrument der
modernen Forschung richtig erkannt hat und deren durch
Aristoteles aufgestellte Theorie ihm nicht genügt, daher er
dem Organon des Aristoteles sein Novtiui Organon entgegen-
stellt. Es genügt nicht, die Beobachtungen ^vcr C'»iny<<;'>vt//o;/e»*
simplicem aneinanderzureihen, um dann sofort allgemeine Sätze
aus ihnen zu gewinnen; wie ein gerechter Richter soll man
neben den mstaiitiae, den Zeugenaussagen der Natur, auch die
negativen, ihnen entgegenstehenden Instanzen berücksichtigen,
und so z. B. bei Licht und Wärme über dem, was sie gemein-
sam haben, nicht die Fälle übersehen, in welchen sie ver-
schieden sind; man soll dabei auch die Unterschiede des
Grades beachten, wenn z. B. bei grad weiser Steigerung Licht
und Wärme nicht gleichen Schritt mit einander halten; be-
sonders aber mufs man in der Menge der vorliegenden Fälle
die Zufälligkeiten, durch welche die Natur uns gleichsam
'■). Kacoii von Verulam. 507
einen Possien spielt, von den instant iae prucro<jativaf unter-
scheiden, welche wie ein Wegweiser ffinijcrpostj zu neuen
Entdeckungen und Erfindungen hinleiten; endlich soll man
von dem Einzelnen aus nicht sofort zu allgemeinen Sätzen
hineilen, sondern bei den mittlem Sätzen verweilen, welche
in dem Mafse, in welchem sie der Xatur näherstehen, auch
an Fruchtbarkeit jene allgemeinen Wahrheiten übertreflen.
=* Das Verdienst dieser von Bacon aufgestellten Regeln
bleibt auch durch die bekannte Tatsache ungeschmälert, dafs
er selbst seine Grundsätze richtig anzuwenden noch nicht ver-
mochte und auch dann nicht vermocht haben würde, wxnn es
ihm vergönnt gewesen wäre, sein grofses sechsteiliges Werk
zu vollenden.
Von den zahlreichen übrigen Schriften des Bacon mag
es genügen, an die Sova Atlantis zu erinnern, einen Roman,
in welchem Bacon, anknüpfend an Piatons Erwähnung der
versunkenen Insel Atlantis, sein Zukunftsideal der durch
Wissenschaft und Technik zu erringenden Glückseligkeit ent-
wickelt. Er schildert, wie ein Schiff auf der Reise von Peru
nach China vom Sturm verschlagen zu der Insel Ben Salem
gelangt. Dort befindet sich in der Bornas Salonionis eine
gelehrte Gesellschaft, das Collegium operum sex dar am, über
deren Zwecke, Mittel, Organisation und Kultus der Erzähler
von einem Mitgliede derselben unterrichtet wird. Der Zweck
der Gesellschaft ist Erkenntnis der Natur und dadurch zu
erreichende Macht des Menschen über dieselbe fcoynitio caa-
sanim et motmim interioruni in natura, atque tcrniinornm iui-
perii liumani prolatio ad oninc possihilej. Zu diesem Zwecke
besitzt die Gesellschaft eine Reihe von Mitteln und Instru-
menten, bei deren Beschreibung viel Phantastisches, wie künst-
liche Erzeugung von Pflanzen und Tieren, von heilkräftigen
Lüften und Wassern, Konstruktion eines Perpetuum mobile usw.,
sich einmischt, teils aber auch Erfindungen erwähnt werden,
welche erst in einer viel späteren Zukunft gemacht worden
sind; von dieser Art sind das Teleskop fartificia, per quae
objecta valde reniota in oculos incurrant, veluti in coelo et aliis
locis remotisj, das Mikroskop fartificia et perspicilla, quibiis
Corpora mimiia et pusllla distincte et pe.rfecte cerninmsj, die
508 ^^- Der Tagesanbruch der neuem Pliilosophie.
Flugmaschine fcommoäitatcs vecüirae per aereni ' instar 'ani-
molmm alatorumj und Unterseeboote fnavcs et scapliae, qitac
siibter aquas navigare possitit et pelagi furores melius perferrej.
Mit einer Mitteilung über die Aufgaben, welche an die Mit-
glieder der Gesellschaft in der Weise verteilt sind, dafs die
einen Entdeckungsreisen in ferne Länder machen und die
andern die von ihnen gemachten Entdeckungen wissenschaft-
lich verarbeiten, sowie mit einer Schilderung der gemeinsamen
Gebete und Zeremonien, zu welchen die Mitglieder der Ge-
sellschaft verpflichtet sind, schliefst die unvollendet gebliebene
Nova Atlantis des Bacon.
7. Boschlufs.
Zum Beschlufs unserer Philosophie des Mittelalters haben
wir um das Jahr 1600 in Bruno, Böhme und Bacon drei
Männer kennen gelernt, von denen jeder in seiner besondern
Weise den Geist des neuen Zeitalters ankündigte, aber in
genialer Überstürzung dem Jahrhundert vorauseilte und Ge-
danken ausstreute, welche erst in viel späterer Zeit zur Keife
und Entwicklung gekommen sind. Eben darum hat die neuere
Philosophie von keinem dieser drei Männer ihren Ausgang
genommen, sondern von dem schlichten und nüchternen Des-
cartes, wiewohl er weder Brunos Begeisterung und Verständ-
nis für die Natur, noch Böhmes Eindringen in die tiefsten
ethischen Probleme, noch auch Bacons umfassende Übersicht
über das gesamte menschliche Wissen besafs. Dies scheint
zu beweisen, dafs auch im geistigen Leben das Gesetz gilt:
vatnra rwn facit snltiis: denn während jene drei, und viele
andere mit ihnen, grofse Gedanken der Zukunft antizipierten,
aber der Gegenwart nicht zu bieten wufsten, was sie bedurfte.
so nahm Descartes den Faden der Entwicklung da auf, wo
er wirklich lag, indem er die noch tief im Bewufstsein der
Zeit wurzelnden Lehren von einem aufserweltlichen Gott und
einer immateriellen Seele aus dem feierlichen Halbdunkel der
mittelalterlichen Systeme in das helle Sonnenlicht einer logi-
schen Zergliederung rückte und sie dadurch einer Beleuchtung
aussetzte, welche diese Hauptdogmen des Mittelalters nicht
vertragen konnten, ,und welche unaufhaltsam zu einer Fort-
7. Beschlufs. 509
entwicklung drängte. Wie auf diesem Wege der Theismus
des Mittelalters zum Pantheismus und sein Dualismus von
Leib und Seele zum Idealrealismus wurde und beide schliefs-
lich im Materialismus verschlammten, bis endlich Kant dem
von jeher in Indien wie in Griechenland die Philosophie be-
seelenden Idealismus eine feste wissenschaftliche Grundlage
gab, welche im geistigen Leben der Menschheit ein neues, zu
den höchsten Hoffnungen berechtigendes Weltalter herauf-
führte, dieses alles im einzelnen nachzuweisen ist die Haupt-
aufgabe der Geschichte der neuern Philosophie.
Deussen, Geschichte der Philosophie. II,n,2. 38
INDEX.
Die Zahlen verweisen auf die Seiten des "VTerkes.
A.
Abaelardus 388.
Abbasiden 399.
Abgeschiedenheit 452.
Abimelech, Philisterkönig 75. 76.
Abimelech, Sohn des Gideon 87.
Abner 88.
Abraham 74 fg.
dßpa^a;, Geheimname 309.
Absalom 89.
Absorption der Juden 417.
Abu Bacer 411.
Abu Bekr 393. 398.
Academia Consentina 473.
Academia Platonica 461.
Acceptiktionstheorie 447.
Achämeniden 129.
dy^7.ij.ü)i 310.
Acta Archelai 313.
Adam 263.
Adam Kadmon 419 fg.
Adapa und der Südwind 55.
Adramyttium 256.
Aelia Gapitolina 166.
Aeonen der Gnostiker 309.
Aeshma Daeva 139.
Agabus, Prophet 251.
Agag, König der Amalekiter 88.
Agrippa II. 162.
Agrippa und Berenike 253.
Ägypten, Ureinwohner 10.
Ägyptischer Einflufs auf die Hebräer
27.
Ahab 91; sein Polytheismus 105.
Almramazda 132. 136.
'Aischa 394.
Akkad 37.
Akkommodation der Offenbarung 358
Alarich 332.
Albertus Magnus 6. 429 fg.
Alcuinus 365.
Alexander der Grofse 171. 187.
Alexander von Haies 428.
Alexander Jannaeus (103 — 76) 151 fg.
Alexandrinische Theologie 317 — 321.
Alexandrinische und antiochenische
Schule 337 fg.
Alexandristen und Averroisten 463.
Al-Fajjumi 415.
Al-Färäbi 404.
Al-Ghazel 408 fg.
alhaJ^l', die Realität, satyam 403.
Ali 395. 398.
Al-Kindi 402.
Allah 396.
AUat, Todesgöttin 34.
Allmacht Jesu 275.
Allwissenheit Jesu 276.
Al-Ma'mün 401.
Almosengeben (zakät) 397.
Altlutherische Orthodoxie 481.
Alt-Seidenberg 482.
Amalricaner 426.
Ambrosius 298. 343.
Amesha-cpenta 137.
Amnon und Thamar 89.
Amos 111 fg.
Amraphel 38.
Amyitis 41.
dvaxECptxXaicoai? 322. 372. 377.
Anammelech 47.
Ananias 240.
Anaximandros 289.
Andreas Caesalpinus 465.
Angeborene Ideen 436.
Angramainyu 136. 176.
anima naturaliter Christiana 326.
Animismus 35; in Ägypten 18.
Anselm von Canterbury 382 — 388.
Anselm von Laon 388.
Anthropomorphismus 118. 285.
Antichrist 246. 323.
Antinomismus 327.
i Antiochien 250.
Index.
511
Antioclnis Epiphanes 147. 171. 187.
Autipatcr der Idiimäer 153.
Antonius 155. 330.
Ana 47.
Apokalyptik 97.
drzoy.oi-i^j-y.'jiZ 320 fg. 378.
Apokryphen 172 fg.
Apollinaris von Laodicea 336.
Apollos 246.
Apologeten 304—307.
Apostelgescliichte, historisclier Wert
235 fg.
Apostelsynode 243.
Apostolische Väter 300—304.
Aquila und Priscilla 245. 246.
Araber, Charakter 392 fg.
Aramäer 39.
Aramäisch 39.
Archelaus, Sohn des Herodes 160.
Aretas 241.
Argumenta ad hominem 184.
Aristobulos (104—103) 151.
Aristobulos II. 152 fg.
Aristoteles im Mittelalter 425 fg.
465 fg.; seine Unterscheidung des
TzpoTipov 9'jcj£t und upoTepov izgoz
f|[j.a^ 380.
Arius 328 fg.
Aschariten 401.
Ascheräh 35. 68. 110.
Aseität 124.
Askese, christliche 315.
Asmodaeus (Aeshma-Daeva) 176.
Assarhaddon (681—668) 40.
Assurbanipal (668—626) 40.
Assyrer 40.
Assyrische Gefangenschaft 40. 93,
'Abtoreth ('AcppoSi-f]) 52.
Astralkörper 471.
Astrologie 36. 46. 406.
Astronomie und Astrologie 470.
Astyages 129.
Athalja 92.
Athanasianer, Pneumatomachen, Semi-
arianer, Homoier, Anomoier 329.
Athanasius 328 fg.
Atheismus 504.
Athenagoras 306.
Atman und Mäyä 348.
Attraktion und Kepulsion 496.
Auferstehung der Toten 142 ; des
Fleisches 182; und Unsterblichkeit
183.
Auferstehungslehre des Paulus 185.
Augenzeuge in der Apostelgeschichte
235. 244. 250.
Augustinus 342 fg.
Augustinus Niphus 465.
Augusti und Caesares 332.
Augustus 158 fg. 161.
Aurora, Morgenröte im Aufgang 484.
Ausbreitung des Christentums 292 fg.
Ausrottung des Baalkultus in Israel
und Juda 109.
Ausweisungen der Juden 417.
Aiit Kantianismiis aut Materialismus
442.
Avempace 410.
Averroes 465.
Avesta 131. 133 fg.
Avicenna 407.
Avignon 454.
B.
Baalspriester 109.
Bab-el 38.
Babylonische Gefangenschaft 42. 95 fg.
Bacon von Verulam 499.
Bad der Wiedergeburt 268. 278 fg.
Bagistäna 44.
Bagoas 145.
Baktrer 129.
Bdmäh 35. 110.
Bardesanes, Gnostiker 311 fg.
Bar-Kochba 166.
Barlaam und Josaphat 305.
Barnabas 240. 241.
Barnabas, Brief des 303.
Bartholomäus 292.
Basilides, Gnostiker 308 fg.
Bathseba 89.
Baum und Früchte 232. 282.
ßSeX'JYjjLa tt]^ £pY]!J.a)C7£Co; (vgl. „Greuel
der Verwüstung") 148.
Beatrice 438 fg.
Beda Venerabilis 365.
Bekenntnis des Petrus 222.
Bei 47 fg.
33*
512
Index.
Belisar 334.
Bellt 51.
Belsazar (Nabunähid) 170. 171.
Benedict von Nursia 330.
Berber erobern Cordova 410.
Bernhard von Clairvaux 389.
Berossos 43.
Berufung auf den Kaiser 253.
Besessenheit 177.
Bessarion, Kardinal 461.
Beste aller möglichen Welten 434.
Bethlehem 195.
Bibliotheca Laurentiana 461.
Bibliothek des Assurbanipal 40. 44.
Bilderverbot 111.
Bileam 82.
Bischofsliste, römische 322.
Blinde Blindenleiter 225.
Blindgeborener 275.
Boccaccio 460.
Boethius 364. 380.
Bogomilen 315.
Böhme 208. 481 fg.
Böses in Gott 490.
Böses nur negativ 376.
Böses Prinzip neben dem guten 135.
Böses und Übel durch Gott gewirkt
122.
Bralima-nirvänam 1 86.
Brand von Rom 259.
Briefe des Paulus 234.
Brüder des gemeinsamen Lebens 408.
Bruno, Böhme, Bacon 467.
Brutus 218.
Buch des Bundes 99.
Buddha als christlicher Heiliger 305.
Buddhismus im Süfitum 403.
Bulle: In coena Domini 449.
Bundehesh 130. 132 fg.
Bundeslade 87. 89.
Buridanus, Johannes 456,
ßuio? 310.
C.
Caelestius 345.
Daligula 159. 160. 161 fg.
Qaiikara 344.
(JaoshymK:, Heiland 142. 188.
Card an US 472.
Cäsar als Wohltäter der Juden 154.
Cäsarea Philippi 214.
Cassianus 347.
Cassiodorus 364.
Cassius 155.
Cato von Utica 440.
Qatvaqtran, Weltversammlung 143.
causae frimordiales 375.
Celsus 307. 319.
Chahiri 71 fg.
Chadidscha 393.
Chalifen 398.
Chammurabi (1958—1916) 38.
Champollion, Pantheon egj'ptien 11.
Charakter der Semiten 30 fg.
Chemie und Alchemie 470.
Cheops, Chephren, Mykerinos 16.
Chiliasmus 323.
Chosroes Nuschirvän 130.
Christentum, Grundgedanke 289 fg.
Christus der Kirche 281 ; in uns und
für uns 262; idealer bei Paulus 268.
Christus in uns 498 fg.
Christuserscheinung des Paulus 238.
Christusgestalt des Paulus 240.
Chronika, Esra, Nehemia 101.
Chuen-Aten 27.
Chumbaba 62.
Chut-Aten 27.
Cid (Don Rodrigo) 400.
Cinvat, Brücke 141.
circonstanzie 479.
civitas Dei 345.
Claudius, Kaiser (41— 54)162.189.250.
Claudius Lysias 253.
Clemens Alexandrinus 318.
Clemens Romanus, erster Brief 302;
zweiter Brief 303.
coinddentia contradictoriorum 469.
479.
Columbus 467.
comiüicatio und explicatio 469.
conceptiü immaculata 446.
Confessiones 344.
Consolatio philosophiae 364.
Constantin I. 296 fg.
Constantin IL, Constans, Constantius
297 fg.
Contradictio in adjecto 186. 286. 300.
Craosha 137.
Index.
511
Crassiis plündert den Tempel 154.
credo qitia absurdum 325.
credo ut intclli<fam 38Sfg. 432 fg. 442.
Qndi und Smriti 395.
Cur Dcus homo? 387.
Cyprian 326 fg.
Cyrill. Patriarch von Alexandria 337 fg.
351.
D.
i:)acva, Dämon 134. 139.
öaiijLwv, Genius 138.
Sa'..u6viov des Sokrates 244.
Damascenus, Johannes 365.
Daniel, Buch 169 fg. 200.
Dante Alighieri 6. 218. 438 fg. 460.
jDaozhanqha, Hölle 141.
Darius (521—485) 129. 144. 171.
David 88 fg.
Deboralied 99.
De causis 403. 427.
Decianische Verfolgung 295.
De conjecturis 469.
De difimtatc et augmentis scicntiarum
503'fg.
De divisione naturae 373 fg.
De doda ignorantia 469.
De qV lieroici furori 476. 481.
De la causa principio et uno 4^76.
478 fg.
De V infinito universo et mondiAlö. 478.
Demetrius, Goldschmied 247.
De revolutiombus orbium coelestium
474.
Der Grimm ist die Wurzel aller Dinge
496.
Derwischorden 402. 404.
Descartes 344. 507.
Destructio dcstructionis 412.
Destructio pliüosoxjliorum 409.
Determinismus 231. 281. 341.
Determinismus des Paulus 266.
Determinismus des Thomas 438.
De triplici minimo 476. 480 fg.
Dens ex machina 271.
Dens ipse nescit quid Dens sit 375.
Deutero-Jesaia 97.
DeuteronomischesGeschichtswerklOO.
Deuteronomium 98.
Diadochen 130.
Stdy.ovo!. 302.
Dialektik des Gewissens 268.
SiSa^Y) Tw'j 8u)8txa dTioaxdXuv 303.
Diognet, Brief an 306.
Diokletianische Verfolgung 296.
Dionysius Areopagita 245. 355 — 362.
Doctor angelicus 430.
Doclor perpJexorum 424.
Doctor subtiJis 445.
Doctor ■universalis 429.
Doketismus 318. 338.
Donnersohn 274.
Doppelte Materie 422. 446.
Doppelte Wahrheit 412. 455. 464.
Dreifacher Sinn der Bibelworte 320.
Druj 139.
Drusilla 253.
Duns Scotus 6. 442. 444 fg.
Duns Scotus und Kant 447.
Dynastie der ägyptischen Geschichte
14.
E.
Ea 48.
Eabani 62 fg.
Ebionitismus 327.
Eckhart, Meister 6.
Edikt des Antiochus IV. 147.
Egoismus als moralische Triebfeder
397.
Egoismus und Religion 179 fg.
Ehebrecherin 208.
Einflufs der griechischen Philosophie
auf Paulus nicht anzunehmen 262.
Ekstase 260. 483.
Elamitisch 45.
clecti und auditores 314.
Elephantine, Papyrusfunde 169 fg.
Elias 91; Himmelfahrt 222; und Elisa
109.
Elihu 92.
Elisa 92.
Elohim, Ilu 37.
Elohist, der jüngere 100.
Emanationslehre 405. 406. 420.
Emanzipation der Juden 417.
Empirische und metaphysische Wahr-
heit 464.
Empirismus 459.
Engel 174. 435.
514
Index.
En Soph 419.
ens perfectissimmn 434.
entia non sunt multijilieanda praeter
necessitatem 455.
Entwicklung der paulinisclien Christo-
logie 277.
Epheserbrief 254.
EpJiod 85. 94. 111.
l-irttJxo-Koi 302.
Erbsünde 326. 346.
Ereskigal (Allat) 50. 63. 67.
Erkenntnis als Grund der Erlösung 284.
Erlösung 119.
Erlösungslebre des Cbristentums 396.
Ermüdung des antiken Geistes 291 fg.
Esagü 51.
Esel des Buridan 456.
Esra 97; und Nebemia 144. 169.
Essener 201.
Etemenanlci 51.
Eudämonismus, transscendenter 184;
als Konsequenz des Theismus 120.
eubeco? 230.
Evangelium Jobannis 191. 270 fg.
Evil-Merodacb (561—560) 42.
Exarcbat 334 fg.
expansio und contr actio 481.
extra ecclesiam nulla Salus 327.
Ewige Scböpfung 320.
Ewigkeit der Welt 407. 413.
Ezecbiel 96.
F.
Fälscbung, Begriff derselben 256.
FancV (nirvänam) 404.
Fasten (sijäm) 397.
Fatima 393.
Faustus 314.
Feldteufel und Feldgeister 35.
Felix, Prokurator 163.
Fellah 10.
Festus, Prokurator 163. 253.
Fiktionen, keine Fälschungen 356.
Firdusi 133.
Flagellanten 416.
Fleisch und Geist 279.
Fliehen bei der Gefangennahme 219.
Flutsage der Ägypter 27.
Föns vitae 422. 446.
Forum Appittm 258.
Frankenreich 333.
Fravashi 238. 177. 263.
Freiheit des Willens 123 fg. 282. 284.
286. 320. 323. 326. 341. 377. 486 fg.
446. 452. 456 fg. 490 fg. 498.
Fronto, Redner 307.
Fulbert, Kanonikus 388.
Fünf Pfeiler des Islam 396.
Fünklein der Seele 451.
Fürst dieser Welt 178.
G.
Gainas 351.
Galaterbrief 248.
Galerius 296.
Gallio, Prokonsul 245.
Gamaliel 209. 236.
Garo-nmäna 141.
Gäthä 133.
Gaumata 129.
Gaunilo, liher pro insipiente 387.
Gayo maretan, Urmensch 140.
Gehet (salät) 397.
Gemara 415.
Gemistos Plethon 460.
Gennadios, Patriarch 461.
Georgios von Trapezunt 461.
Germanische Eroberung 331
Germanische Mythologie 290.
Gesetz, seine Bedeutung nach Paulus
264; nicht gegeben, um gehalten
zu werden 267.
Gesetz der Epigonie 301.
Gesetzbuch des Ghammurabi 39; Deu-
teronomium 94; Leviticus 98; zwei-
ten Tempels 144.
Gesinnung, nicht Werke 391.
Gessius Florus (64—66) 163.
Gethsemane 195.
Geus urvan, Urstier 140.
Gewissen 264.
Gideon 87.
Gilgames-Epos 61 fg.
Giordano Bruno 475 fg.
Gischala 164.
Glapbyra 160.
Glaube 287; nach Paulus 264; und
Liebe 265.
Gleichnisse Jesu 208.
Index.
515
Gnaaeiigaben 248. 280. .
Gnosis 307—312. 317. 322 fg.
Goethe 34.
Goldenes Kalb 81.
Gordiamis 295.
Görlitz 482 fg.
Gott als cns realissiiimm 384.
Gott und Teufel 492.
Götter der Ägypter 19 fg.
Götterdj'Uastien 13 fg.
Göttermythen, babylonisclie 4G fg.
Gottesbegriff, relativ berechtigt 216;
sein tieferer Sinn 284.
Gottesidee, berechtigt 173.
Gottheit und Gott 450.
Gottschalk 372.
Gott-Schöpfer und Gott-Erlöser 307 fg.
Grabeskirche 195.
gratia operans und cooperans 346.
Greuel der Verwüstung 171.
Griechische Berichte über Ägypten 11.
Griechische Philosophie aus dem Alten
Testament entlehnt 304.
Grotefend 44. 132.
Grotius 467.
Grund und Folge 233. 282.
Gursshehr, Stern 143.
Gutenberg 467.
Gütergemeinschaft der ersten Christen
237.
H.
Imccceitas 445.
Hadith 395.
Hadrian 166.
Tläl'is 404.
Hagar und der Berg Sinai 237.
Hamlet 438. 476.
Jlara herezaiti 137. 141.
Iiarün al-Raschid 399. 401.
Ilasmonäer 148.
Hauptmann von Kapernaum 213.
Hausgötter 35.
Hebräer, sagenhafte Vorgeschichte
73—83.
Hedschra 394.
Heidenchristen 299 fg.
Ileiligkeitsgesetz 116.
Helena 296.
Heliozentrisches System 3.63,
Hellenismus der Juden 146.
Ileloise 388.
Heraklit 207.
Hermias, StaaupiJi.6? 306.
Herodes Agrippa I. 160. 161.
Herodes Antipas 159 fg.
Herodes der Grofse (40 — 4) 155. 156;
Charakter 157.
Herodes' Erben 159 fg.
Herodes (in der Bibel Philippus), Ge-
mahl der Herodias 159.
Herodias 159.
Hethiter 68.
Hexapla 319.
Hierarchie, kirchliche 323.
Hieroglyphen, phonetische, ideogra-
phische 12 fg.
Hieroglyphische, hieratische und de-
motische Schrift 10.
Himmelreich 186. 188. 202.
Hieb und das Problem der göttlichen
Gerechtigkeit 125 fg.
Hirt des Hermas 303.
Hiskia 92 fg.
Historische Bücher des Alten Testa-
ments 99 fg.
Hobbes 467.
Iioc sifjno vincas 297.
Hochzeit zu Kana 277.
Hölle 378. 421. 490. 497.
Hölle als uup xaiJtxpaiov 320.
Hölle und Paradies des Islam 397.
Höllenfahrt der Istar 34. 66.
Homer,Dante,Shakespeare, Goethe438.
Homöopathie 472.
Horaz 290.
Horeb (Sinai) 79. 80. 83.
Hosea 112 fg.
Humanismus 458.
Humboldt, Alexander von 8.
Huzvaresh 132.
Hyksos 16.
Hypatia 351.
Hyrkanien 145.
Hyrkanus IL 152 fg.
I.
Iblis (SLdtßoXo?) 396.
Ichheit unverlierbar 452 fg.
516
Index.
Idealschöpfung im Himmel 138 fg.
Ideenlehre widerspricht dem Theis-
mus 384.
Identität der Seele mit Gott 451 fg.
Idola tribus, specns, fori, theatri
505 fg.
Idole 36.
Idumäer 156.
Ignatius von Antiochien 302.
II Candelajo, der Licht^ieher 476.
Imäm 314.
implicatio und explicatio 479.
Indien und Iran 134.
Indische Religion als Ergänzung der
christlichen 270.
Indische und biblische Religions-
geschichte 2.
Individualität, ihr Fortbestehen 377 fg.
Inquisition 416. 425. 477 fg.
Inschrift des Königs Mesa 103 fg.
Inschriften der Achämenidenkönige
131 fg.
insijnens, der Tor, Psalm 14,1 386.
Inspiration, ihr richtiger Begriff 300 fg.
Instantiae praerogativae 507.
Instanzen, negative 506.
Instauratio magna 500. 502.
intelligens, intelUgihile, intelligere 405.
469.
intelligo ut credam 390.
Iran 128.
Iranische Religion 134; Sprachen 131;
Stämme 128 ; Weltanschauung 136 fg.
Irenaeus 322 fg.
Isaak 75 fg.
Isebel 91.
Isidorus Hispalensis 365.
Islam 396.
Istar 51.
Istar und Gilgames 62.
Jablonsky, Pantheon Aegyptiorum 11.
Jacobus gibt einen unklugen Rat 251.
Jahn 169.
Jahve 36. 69. 173 fg.
Jahvist 99.
Jakob 76 fg.
Janitscharen 399.
Jathrib (Medina) 393.
Jebus (Jerusalem) 85. 89.
Jehovist 100.
Jehu 92. 109.
Jcphta 87.
Jeremia 95.
Jerobeam 9 fg.
Jerusalem zerstört 165.
Jesaia 93. 113 fg.
Jesus, Geschichtlichkeit 189; trümmer-
hafte Überlieferung 194; Geburtsort
196; Kindheitsberichte 196; Stamm-
bäume bei Matthäus und Lucas 196;
übernatürliche Zeugung 197; pessi-
mistische Anschauungen 1 98 ; zwölf-
jährig im Tempel 198; Familie
199; Jugendbildung 199; geistiger
Horizont 199 ; Besuch in Nazareth
199; Verhältnis zur Familie 200;
Einflufs des Buches Daniel 201;
Taufe durch Johannes 202; Wirken
in Galiläa 204; ökonomische Lage
204; Umgang mit Zöllnern und
Sündern 205; Lebensfreude 205.
206; Scherzworte 205; Dürftigkeit
206; Lehren in Gleichnissen 208;
Jugendlichkeit 209 ; Exzentrizität
209; exorbitante Aussprüche und
Forderungen 210. 216. 217 ; Grund-
charakter 211; Liebe zu den Kin-
dern 211; Wundergeschichteu 211 ;
aufserordentliche Kräfte 212; Fort-
entwicklung vom Partikularismus
zum Universalismus 212 fg.; Messia-
nität 214; Bewufstsein von Gott
und von der Welt 214; Bekenntnis
beim Verhör 215 ; Versuchungsfabeln
215; Weltverachtung 216; Welt-
fremdheit 217; Urteil über Petrus
219; Welttrotz 220; Stellung zum
Ritual 221; Tempelreinigung 221;
Schicksal 221 fg. ; vorsichtiges Auf-
treten 221; letztes Abendmahl 223;
Schweigen vor dem hohen Rate
224; Worte am Kreuz 224; Justiz-
mord 225; Glaube an die Auf-
erstehung 226 fg.; Christuserschei-
nungen 227; philosophische Ele-
mente seiner Lehre 228; iranische
Index.
517
Einflüsse 230; Determinismus 231;
kategorischer Imperativ 232; bei
den Gnostikern dreifach 310. 311.
Jesus iinjnUibilis und patihilis 313.
Jesus und Kant 234.
Jesus und Pauhis, verschiedene Cha-
raktere 2(30—261.
Jezirah 417. 418 fg.
Joab 88 fg.
Johauneisches Evangelium, Abhängig-
keit von Paulus 271 fg.; universeller
Charakter 271; fünf konstruktive
Elemente 272; Verfasser 273; künst-
licher Pragmatismus 274 fg.
Johannes Chrysostomus 337.
Johannes der Täufer 201 ; sein Schick-
sal 203.
Johannes, Donnersohn 219.
Johannes Hyrkanus (135 — 104) 151.
Johannes Marcus 241. 244.
Johannes von Gischala 164.
Jonathan der Makkabäer 149.
Joseph 77.
Joseph von Arimathia 227.
Josephus, Geschichtschreiber 164. 173.
Josia (638—608) 94.
Josua 84.
Jubiläum des Römischen Reiches 295.
Judas 218; bei Johannes 278; im
vierten Evangelium 275.
Judas und Brutus 440.
Judas Makkabi 148.
Juden, ihre Geschichte 144; unter
persischer Herrschaft 144 fg.; unter
mazedonischer Herrschaft 145 fg.;
unter ägyptischer Herrschaft (301 —
198) 146; unter syrischer Herrschaft
146 fg. ; unter römischer Oberhoheit
153 fg.; ihre Privilegien 293; ihr
Schicksal im Mittelalter 413—417.
Judenchristen 299 fg.
Jüdisch-alexandrinische Philosophie 5.
Jüdischer Aufstand (66 p. C.) 163.
Judith, Buch 145.
Julianus 297 fg. 349. 414.
Jünger, ihr Unverstand 218.
Justi 133.
Justin der Märtyrer 305 fg.
Justiniau I. 334.
K.
Ka'ba 393. 394.
Kabbäla 417 fg.
xaiMt] xTiat? (Wiedergeburt) 268. 278.
Icaldm, Diskussion 401.
xaXoi XiiJi.£V£? 257.
Kambyses 120. 169.
Kamel und Nadelöhr 209.
Kamos 36. 69.
Kamos und Jahve 104 fg.
Kananäisches Weib 213.
Kangii, See 142.
Kanon der neutestamentlichen Schrif-
ten 321.
Kant 198. 234. 282. 478.
Kapernaum 199. 204. 205.
Karl der Grofse 335.
Katastrophe des assyrischen Heeres
unter Sanherib 93 fg. 113.
Kategorischer Imperativ 232. 282; bei
Paulus 267.
Katharer 315.
Katholische Kirche 300. 321—330.
Katrei von Strafsburg 452.
Keilschrift 38. 44; persische 42.
Kern und Schale bei Jakob Böhme
482.
Kern und Schale des Christentums
181 fg.
Kindermord, bethlehemitischer 196.
Kindesopfer 69. 94.
Kirche und Staat im Islam 398.
Klauda 257.
Kleanthes 236.
Knechtschaft und Kindschaft 280.
Knoten der Weltgeschichte 29.
Koheleth, Standpunkt des 127.
Kolosserbrlef 254.
Kompafs 467.
Königgesetz des Deuteronomium 98.
Konstantinopel, erobert 400. 460.
Konzilien, ökumenische 331. 350.
Konzil zu Chalkedon 338; Konstanti-
nopel 329. 336; Nicaea 329.
Kopernikus 467. 473 fg.
Koran 394 fg.
Korintherbrief, erster 248 ; zweiter 249,
Körperlichkeit Gottes 325.
Kosmologischer Beweis 405. 433 fg.
518
Index.
Kossäer 39.
Krethi und Pletlii 89.
Kreuzigung des Fleisehes 265. 283.
Kreuzzüge 467.
Krösus 42. 129.
Ktesias 43.
Kulturkreise des Mittelalters 368. 369.
Kunst, ägyptische 16.
Kusari des Jehuda ha-Levi 423.
Kyaxares 41. 129.
Kyros II. (558—529) 42. 97. 129. 144.
La eena de le ceneri 476.
La Divina Commedia 439 fg.
Lamm Gottes 275.
Lanfranc 383.
Langobardenreich 334 fg.
Lanzenstich 282.
Latein als gemeinsame Kultursprache
368 fg.
Lautere Brüder 405.
Lazarus, Krankheit und Tod 275.
Lebender, Sohn des Wachenden 411.
Lebensstadien 406 fg.
Legalität und Moralität 268.
Leitung des Einsamen 410.
lihellatici 295.
Licinius 297.
Liebe als Gebot 280.
Logos 271.
Logos der Stoiker 318.
Logos, subordiniert 323.
Aoyo? TCpoTpjTtTiy.o? 318.
Xoyo? a-n:£p[iaTt/.6?, umgedeutet 306.
Lucas-Evangelium 193. 194.
Lucian 307.
Lucilio Vanini 465.
Ludwig der Bayer 454.
Lügenprophet 122.
Lügenpropheten 109.
Luther über Aristoteles 458.
XÜTpov, Lösegeld 320. 387.
Lydia 244.
M.
Ma'at, Göttin der Wahrheit 22.
Machärüs 160. 165. 203.
Machiavelli 467.
Macht, Weisheit, Güte 391.
Magalhäes 467.
Magische Wirkung 278.
Mahdi 395.
Maketen 352,
Makrokosmos und Mikrokosmos 471.
Malta, Schiffbruch bei 258.
Manasse, König 94.
Manetho 13.
Man! (Manes, Manichaeus) 312 fg.
Manichäismus 312 — 315.
Manna 81.
Maquäsid al-faläsifa 409.
Marcianus Capeila 363 fg. 380.
Marcus-Evangelium 191. 193.
Marduk 50.
Maria 198.
Mariamme 156.
Mark Aurel 294.
Marsilius Ficinus 462.
Martianus Aristides 305.
Märtyrertum 220.
martyres 295.
Masada 165.
Mashya und Mashyäna 140.
Massensuggestion 228.
Materialismus, christlicher 365.
Materialismus des Tertullian 324 fg.
Matthathias 148.
Matthäus (Levi) 205. 207 ; Evangelium
191. 193.
Maximus Confessor 356.
viäya 379.
Mazedonischer Mann 28. 244.
Mazzehäh 35. 68. 110.
Mediceer, Cosmo und Lorenzo 460.
Medina 394.
Meister Eckhart 442 fg. 447 fg.
Mekka 393. 398.
Melqart 69.
Mena, erster ägyptischer König 14;
Zeit 15.
Mensch, alter und neuer 269.
Menschen-Sohn 188. 217.
Mercurius, Sal, Sulphur 471.
Merneptah, seit 1230 80.
Mesa, König der Moabiter 103 fg.
Messias, himmlischer 188; leidender
222. 223. •
Methode der indischen Philosophie 443.
Index.
519
Methode des Mittelalters 382. 391. 443.
Mikrokosmus 497.
Milct, Abschiedsiede in 251.
Milkom 36. 69.
Mischna 415.
Missionierende Religionen 396.
Mitani, Reich 70. 123.
Mithra 134. 137; -Kultus 130 fg.
Mocenigo 476.
Moghtasilah (vgl. Mu'tazila) 312.
Mohammed 393.
Moloch 69.
Monade 480.
Monarchianismus, dj'namischer und
modalistischer 328.
Mönchtum 330.
Monergismus 278. 279. 284.
Monergismus und Synergismus 269.
Mouolatrismus 105.
Monophysitische Streitigkeiten 335 fg.
Monotheismus 106; der Ägypter 26.
Monotheletischer Streit 340.
Monsuns in Indien 9.
Montanismus 315—317. 324.
Montanus 316.
Monte Cassino 330. 430.
Moralisches Gefühl bei den Hebräern
53.
Moralisches Phänomen 459.
Morija 75.
Mose 79fg.; seine Geschichtlichkeit 83.
Moses Maimonides 423 fg.
Moses und die Inder 275.
Mu'awija 398. 410.
Mutakallimün 401.
Mu'tazila 401.
Mylitta 51.
Mysterien, ägyptische 21.
Mysterien des Christentums 383. 433.
Nabonedos (Nabunähid) (555—539) 42,
97.
Nachwissen des Angra Mainyu 137.
Naramsin 38.
Narses 334.
Nasiräatsgelülde 251.
Nasiräer 201.
Nathan, Prophet 89
Natura non faeit saltus 220. 507.
Naturblindheit des Mittelalters 443.
Naturwissen der Renaissance 470 fg.
Naturwissenschaft und Magie 470.
Nazareth 196. 197.
Nebo, Berg 51. 82.
Nebukadnezar 41. 95. 170.
Nebupalassar 41,
Nehemia 97.
Nergal 50.
Nero 164.
Neronische Christenverfolgung 259.
294.
Nestorius 337 fg.
Neuere Philosophie 1. 466.
Neupersisch 133.
Neuplatonismus 349.
Nichtigkeit von Raum und Zeit 499.
Nihilismus 179; als Konsequenz des
Theismus 119.
Nikolaus Cusanus 468 fg.
Nilüberschwemmung 9.
Ninib (Adar) 49.
Ninive 41; zerstört 41. 95. 129.
Nirvänam 186.
Nominalismus 453.
Nordische Barbaren 298.
voü; zzoir^-ziv-öz 463.
Nova Atlantis 507.
Novmn Organon 503. 505 fg.
O.
Obelisken 20.
Occam, William von 6
Octavian 157.
Odoaker 333.
Offenbarung 114.
Offenbarung Johannis 219. 274.
Ölberg 195.
Omaijaden 399.
Omar, Kalif 131. 334. 398.
Omnis natura vult esse conservatrix
sui 225.
c[ji.ooua'.o; 320.
S[xto; viv'l/.r/.a;, w Yalilcdt 298.
Omri 91.
Oncsimos 254.
Ontologischer Beweis 384 fg. 433.
OiKra supcrerogationis 141.
520
Index.
Opfertod 287; Jesu 263.
Oppositionsschöpfung des Angra Mai-
nyu 139.
Optimismus als Konsequenz des Theis-
mus 118.
Organisation der Kirche 322.
Organisation des Römischen Reiches,
mangelhaft 331 fg.
Origenes 319 fg.
Originelles und traditionelles Element
482. 489 fg.
Osiris und Typhon 20.
Osmanen 399.
Ostgotenreich 333.
Othman 398.
P.
j^agani 298.
llatSaytoYo? zlz, Xp'.srov 318. 323.
Pairika 139.
Palästina, ein offenes Land 2 fg. ; vor
der Invasion der Hebräer 68; Er-
oberung durch die Hebräer 84 fg.
Pantaenus 318.
Pantheismus 465. 483. 489.
Pantheon der Ägypter 18 fg.
Panther, Löwe und Wölfin 439.
Papias, Zeugnisse 191.
Papsttum, Ursprung 334.
Parabeln von Königen 217.
Paracelsus 471 fg. 483.
Paradies 241; -Mythus 55 fg.
Paradoxa christiana 504.
Parsen in Indien 131.
Parther in Jerusalem 156.
Partherreich der Arsaciden 130.
Pastoralbriefe 256.
2xitres ecclesiue 300.
Patriarchen 331.
Patrimonium Peti'i 334. '
Patripassianismus 328.
Patristik 5. 299—366.
Patristik und Scholastik 367.
Paulicianer 315.
Paulus, Abstammung und Geburt 236;
Bildungsgang 236; ob er Jesum ge-
kannt 237; Christen Verfolgung 238;
Bekehrung vor Damaskus 238; seine
Beharrlichkeit 239; Aufenthalt in
Arabien 239; eigene Offenbarung
240; Flucht aus Damaskus 241; Ek-
stase 241; erste Missionsreise 242 fg.;
Predigtart 242; sieht von der Be-
schueidung ab 243; Stellung zu den
andern Aposteln 244; zweite Mis-
sionsreise 244; Predigt zu Athen
245; dritte Missionsreise 246; Tier-
kampf in Ephesus 247; Pfahl im
Fleisch 249; Verhafstheit bei den
Juden 251 ; Festigkeit und Gefügig-
keit 251; letzte Reise 256; Ver-
halten in Rom 258 ; angebliche
zweite Gefangenschaft 260; Cha-
rakterzüge 260; und die übrigen
Apostel 292.
Paulus, Dämonologie 178; und das
vierte Evangelium 270.
Päzend 132.
llTjY-f) y'iüiatix)^ 366.
Pehlevi 132.
Pelagius 345.
Pepuza 316.
Peregrinus Proteus 307.
perseitas boni 447.
Petrarca 460.
Petrus 205; Bekenntnis 214; wankel-
mütiger Charakter 220; nach Rom
292.
Petrus Lombardus 392.
Pharisäer und Saddueäer 172. 176 fg.
184.
Philemon 254.
Philipperbrief 256.
Philippi 241.
Philippus, Sohn des Herodes 159;
Tetrarch 222.
Philo Judaeus 173. 183.
pliilosophia ancilla theologiae 370.
phüosoplda prima 504.
Philosophie des Mittelalters 1.
Philosophie, Pauli Stellung zu der-
selben 262.
Philosophische Elemente in der Lehre
des Apostels Paulus 262.
Pliilosophus aidodidactus 411.
Philoxophus Teutoniciis 489.
Phul 40.
Physiko-theologischer Beweis 434.
Pia frans 227.
Index,
521
Pilgerfahrt nacli Mekka (haädsch) 397.
lliaTi; 2o9Ca 311.
Pithom und Ramses 79.
Platonische Ideen 379 fg.
Piatons Urteil vom Philosophen 218.
Piatons weltflüchtige Ethik 289 fg.
T:AT)pw[j.a 309. 310.
Plinius, Bericht über die Christen 292.
Plotin 33.
Polykarj) von Smyrna 302.
Polytheismus der Hebräer 102. 107.
Polytheistische Neigungen zur Zeit
des Jeremia 96.
Pompejus 153 fg.
Pomponatius 464.
Pontius Pilatus 190. 225.
Porphyrius, Isagoge 380 fg.
Postexistenz bedingt Präexistenz 120.
Praecursor Christi in naturalibus
427.
Prädestination 209. 269. 282.
Prädestination im Islam 396.
Prädestinationslehre woher? 266.
Prädestinationsstreit 345 — 349. 372.
Prädeterminismus 348.
Prädikamente, die fünf 380.
Präexistenz 320. 323. 421. 436.
Praefectus praetorio 258.
Pragmatismus 274. 502.
Praescienz 347. 372. 409. 425.
Praxeas 317.
Priester, ägyptische 21.
Priesterkodex 100.
Priesterliches Geschichtswerk 100.
■princi'piuin individnationis 445.
Privilegien der Juden 414.
Prokuratoren 161. 163.
Prolog des vierten Evangeliums 272.
Propheten 108—109; als Träger des
monotheistischen Gedankens 108.
Propheten des Islam 397.
Prophetenschulen 108.
-pwTY^ iTipoTf]; 450.
■ÄpOTCpOV 9'JC7£'. 453.
Protolatrismus 105.
Psammetich 17.
Pyramiden, Mastaba's, Felsengräber
und Grabgewölbe in Ägypten 15.
Psychologie des Thomas 435 fg.
Q.
Quadratus 305.
Qualitäten bei Böhme 494 fg.
quidditates 433. 445.
Quietismus 452.
K.
Rabbaniten und Karaiten 415.
Rabbi Akiba 166.
radio directo, refrado, reflexo 503 fg.
Raimundus Lullus, Ars magna 475.
Raivasstaude 140.
Ramän (Hadad) 49.
Bashnii 137.
Räubersynode zu Ephesus 338.
Realismus der Semiten 180 fg.
Realismus und Idealismus 32. 378 fg.
Realismus und Nominalismus 378—382.
Realität der Aufsenwelt 344.
Rebusraten 13.
Rechtfertigung nach Paulus 264.
Reformation 458.
Reformation des Zarathusti-a 135.
Reformversuch des Amenhotep IV. 26.
regula fidei 317. 321. 324.
Rehabeam 90 fg.
Reisejournal eines Augenzeugen 250.
Relatives setzt ein Absolutes voraus 384.
Peligio illidta 259. 293. 304.
Renaissance 458.
Renaissance und Reformation 6.
Richter in Israel 86 fg.
Richter, Oberpfarrer zu Görlitz 484 fg.
Ricimer, Suevenführer 333.
Rimmon 49.
Roger Bacon 453 fg.
Römerbrief 250.
Römischer Stuhl 333.
Roscellin 381.
Rosette, Stein von 11.
Roeth 12.
Rutinus, De prind^nis, 319.
Ruisbroeck, Johann 449.
S.
Sabellianer 391.
Sabier 396.
Salaman und Asal 411.
Salmanassar IV. (727—722) 40.
Salome Alexandra (76—67) 151. 152.
522
Index.
Salome, Tochter der Herodias 159.
Salomo 89 fg.
Salomon ben Gebirol 421 fg.
Salomos Polytheismus 105.
Samäel 421.
Samas 49.
Sanherib (705—681) 40. 93.
Säiikhya-Philosophie 373.
Sarakos 41.
Sardanapal 43.
Sardes, Eroberung von 129.
Sargon I. 38.
Sargon, Eroberer Samarias (722 — 705)
40. 93.
Sassaniden (226—636) 130.
Satan als Diener Gottes 174 fg.; als
Prinzip des Bösen 176 fg.
Satz des Widerspruchs 336.
Saul 87 fg.
Saulus-Paulus 236.
Schätzung des Quirinius 196.
Scheinbarer Egoismus des mpralischen
Handelns 349.
Scheinleib 313.
Scheiterhaufen 378. 389, 391. 405.
408. 416. 427. 465. 471. 477.
Scheol 120. 181.
Scherzworte 207.
Schia 395.
Schiefspulver 467.
Schiiten 395.
Schola Palatina 371.
Scholastik 5 fg.
Schopenhauer 283.
Schöpfungsmythus , babylonisch-
hebräischer 54.
Schutzengel 138. 177.
Schwarzer Tod 416.
Schwenkfeld 483. 486.
Scotus Erigena 371 fg.
Seelenwanderung 320. 323. 350. 481.
Seelenwanderung, angebliche in Ägyp-
ten 23.
Sein, Erkennen, Leben 344.
Sein, Weisheit, Leben 374.
Selbsterhaltungstrieb der Kirche 321.
Selbstverleugnung 233. 283. 315.
Seldschuken (Türken) 399.
Seleuciden 130.
Semipelagianer 347.
Semiramis 43.
Semiten, Hauptstämme 29 ; und Indo-
germanen 31 fg. ; ursprüngliche Hei-
mat 30; ursprüngliche Religion 35.
Senfkorn 5.
sensiis, ratio, intellectus 469.
Sephiroth 420.
Sepphoris 159. 164.
Septuaginta 146. 182.
Sergius Paulus 242.
Sermones fideles' 500.
Shakespeare 207.
Sic et Non 389. 391.
Silas (Silvanus) 244.
Simon Bar-Giora 164.
Simon der Makkabäer 150 fg.
Simon von Kyrene 309.
Simson 49. 85. 87.
Sin 48.
Sinear 37.
Sine expericntia niliil sufficienter sciri
potest 454.
Sinmuballit 38.
Sintflutsage , babylonisch - biblische
57 fg.
Sisak (943—923) 91.
Smerdis 129.
Sohar 417. 419 fg.
Sohn Gottes 215.
Soissons, Synode 381. 383.
Sokrates 198; S. und Jesus 205.
sol, radii, apices 325 fg.
Sothis (Sirius) 9.
Sothisperioden 14.
Sozialistische Tendenzen 185.
Spaccio dela bestia trionfante 476. 481.
aizzp\j.o\6yoz 236.
Sphärengeister 405. 412.
Sphinx, ägyptischer (Neb) 20.
Spiegel,Eranische Altertumskunde 135.
Spinoza 473.
Stammgötter 36.
Stammgott und andere Götter 36.
Stater im Munde des Fisches 206.
Stellvertretung 287.
Stephanus, Diakon 238; Rede des 3.
Sterndienst 36.
Stoische Anwandlungen 262.
Index.
523
Stratford on Avon 197.
2Tpw,u.aT£r? 318
ISuarez 459.
Subordinatianismus 328.
Sueton über die Christen 293.
Snetonius Tranquillus 189.
Sufismus 402 fg.
Sühn Opfer 263.
Sultan 395.
Sumerer 37 fg.
Summisten 391 fg.
Sündenfall 140. 286. 497.
Sündenfall-Mythus 56. 70. 123 fg.
Sündlosigkeit 286.
Suuna 395.
Sunniten 395.
Suso, Heinrich 448. 449.
Syllogismus und Induktion 506.
Sylva sylvarum 503.
Symbolum Apostolicum 321.
Synagogenwesen 96.
Synesios 351 fg.
Synoptikon 192. 212 fg.
a'j-JT-fipY]ac? 436,
2upTi? 257.
T.
Tacitus 189. 190.
Tacitus über die Christen 293.
Talmud 166. 415.
TDc i}.b> olV.oi cp'.XoaocpMV, ta 8'e'^w 91X0-
|i.jjwv 353.
Tantum possumus quantum scimus 502.
Tarsus in Cilicien 236.
Tat und Gesinnung 233.
Tatian, Apologet 306.
Taufe der Proselyten 201.
Taufordnung 321.
Tauler, Johannes 448. 449.
Teleologie und Mechanik 505.
Telesius 472.
Tell-el-Amarna 27; Briefe 53. 70—73.
Tempel des Salomo 90; des Serubabel
97. 144; des Herodes 158. 165.
Tempelsteuer 166. 206. 294.
terra lucida und pestifera 313.
Tertullian 324 fg.
Tertullianisten 317.
TSTpaxTÜ; 310.
Teufel, erstes Vorkommen 137.
Teufelaustreibungen 177. 212.
Thammüz 52. 63.
Theismus, philosophisch beurteilt
117 fg.; relative Berechtigung 115 fg.
Theodorich 364 fg.
Theodorus Gaza 462.
Theodosius 298.
Theologia, deutsch 449.
Theologie, bejahende und verneinende
356 fg. 374.
Theologie des Aristoteles 403. 404. 427.
Theophilus, Patriarch von Alexandrien
337. 352.
Theophilus von Antiochien 306.
ilwcj!.?. Vergottung 360.
isoToxo^, deipara 338.
Therdphhn 35. 68. 85.
Thessalonich 244. 245.
Thessalonicherbrief 246.
Thomas 292.
Thomas von Aquino 6. 430 fg.
tJmrificati 295.
Tiberias 159. 160. 199. 217.
Tierkultus in Äoypten 19.
Tiglathpilesar IL (745—727) 40. 93.
Timotheus 244.
Titus 165.
Tod als Sold der Sünde 264.
Toleranzedikt 296.
Torquemada, Grofsinquisitor 416.
Totenbuch, ägyptisches (pert mJterii)
13. 25.
Totengericht, ägyjptisches 25; durch
Qaoshyan^ 143.
Totila und Teja 334.
Traditionelles und originelles Ele-
ment 228. 263. 265.
Trajan 163.
Trajan und das Christentum 292 fg. 294.
Tres Tahernae 258.
ipißwv, Philosophenmantel 305.
Trinitätslehre 354. 359.374. 450. 494 fg.
Tritheismus 381.
Trivium und Quadrivium 363. 365* 454.
Tryphon, der Jude 306.
Tugendlehre des Thomas 437.
Turiner Königspapyrus 13.
Turmbau zu Babel 51.
Tyrannei des Begriffs 296. 477 fg.
524
Index.
U.
Ukshyat-ereta, Prophet 142.
Ukshyat-uemo, Prophet 142.
Ulfilas 333.
Umschiffnng Afrikas unter Neko 17.
universalia ante res 375. 379. 444. 455.
nnwersaUa, dreifach 408. 433.
universalia in rebus 379. 390. 404.
universalia 2^ost res 379.
Unsterblichkeit 435.
Unsterblichkeit und Moralität 179.
Unsterblichkeitskraut 65.
Urmarcus 192. 212.
Urmatthäus 192.
Urmensch (Gayo Meretan) 313.
Urusalim (Jerusalem) 72. 73.
Urväter, babylonisch -biblische 56 fg.
Utnapistim 58.
V.
Valentinianer 309 fg.
Valentinus, Gnostiker 809.
Vandalenreich 332.
Vasco de Gama 467.
vaticinia post eventum 170.
Vedänta 403.
venerahilis inceptor 454.
Venus und Adonis 52.
Verehrungsbedürfnis stärker als histo-
rische Treue 194.
Verfall der antiken Religion 292.
Verfolgungen- der Christen 293 fg.
Vergeltungslehre des Alten Testaments
124 fg. 187.
Vergottung 403. 452.
Verulamium 501.
Vespasian 164. 165.
Via Appia, 258.
Viereinigkeit, quartitas 494.
Virgil 439.
Vishtaspa, König 135.
Vita nuova 439.
Völkerwanderung 332.
Volkshumor 178.
Volkszählung durch David 176.
Voluntarismus 409. 422.
voluntas est superior intellectu 442. 446.
Vulgata 182.
W.
Wadi Bekka, Schlacht am 334. 399.
AVaffenstillstandzwischenAlturamazda
und Angra Mainyu 136 fg.
Weg zu Christo 486.
Weigel 483. 486.
AVeissagungen bei Matthäus 193.
Weltbrand 314.
Weltende nahe bevorstehend 188.
211 fg. 229. 248.
Welterlösung und Weltschöptung
285.
Weltperioden und Dichter 438.
Weltschöpfung 285 fg.
Weltüberwindung 216.
Westgotenreich 332.
"Widerruf des Meister Eckhart 449 fg.
Wiedergeburt 269. 278. 28Bfg.; W. als
Zentraldogma 231.
Wilhelm von Champeaux 388.
William von Occam 444. 454.
Worte am Kreuz 193.
Wunder 211 fg. 235.
Wunder im vierten Evangelium 277.
Wüstengürtel in Nordafrika und
Asien 8.
X.
Xerxes, Kshayärsha, Ahasverus (485 —
465) 129. 144.
Xisuthros (Chasis-Atra) 58.
Y.
Yazata 137.
Yisö — - Jesus 313.
Yoga-Stufen 454.
Z.
Zarathustra 135. 142.
Zehn Gebote, die 80. 81.
Zeitalter, vier 142.
Zeitlose Schöpfung 375.
Zeitlosigkeit Gottes 450.
Zend 132.
Zend-Avesta 130.
Zinngefäfs 483. 490.
Zuchtmeister auf Christum 264.
Verzeichnis der Bibelstellen,
welche im vorliegenden Bande erwähnt oder besprochen
werden.
Seite
1. Mose 1 118
» 1,2 54
» 1,27 117. 285
^) 1,31 119
» 2,4 99
» 2,17 55
« 2,25 56
» 3,3 55
» 3,11 56
» 3,19 120
)) 3,22 55
» 4—5 56
» 6—9 59
» 6,5 61
» 6,6 118
» 6,14 59
« 7,11 118
» 8,21 61
» 9,22 61
» 11 51
» 14 38
» 17,17 75
» 18,27 33
» 31,19 36. 69
» 31,34 36
» 41,36 63
» 43,34 ......... 78
2. Mose 2,23 80
» 3,6 184
Seite
2. Mose 9,12 122
» 10,20 122
» 11,2 80
» 12,35 80
» 14,8 122
» 19,9 80
» 20,5 275
» 20,10 206
» 20,22 80
» 20,23—23,30 99
» 32,16 81
» 34 99
» 34,28 81
3. Mose 181
» 17,7 35
» 19,2 174
» 20,10 208
» 20,26 116
» 21,8 116
» 26 121
4. Mose 12 8 280
5. Mose 2 121
» 17,14-20 98
» 28 181
» 23,8 145
» 23,18 69
» 23,25 206
» 34,10 280
Richter 3,5—6 86
526
Verzeichnis der Bibelstellen.
Seite
Richter 5 99
» 6,2—4 86
8,27 111
» 17,5 111
» 18,14 35
»• 18,14—24 69
» 18,24 35
1. Samuelis 14,47 88
» 15,33 104
» 16,14 122
» 16,16 122
» 18,10 122
» 19,13 35. 69
» 26,19 122
» 28,13 66
2. Samuelis 7,13 186
» 24,1 .... 122. 176
» 24,16 174
1. Könige 15,18 ....... 91
» 22,20—22 122
2. Könige 5,18 49
» 17,30 50
» 17,31 47
» 18,4 . 35
» 18,26 39
» 19,35 94
» 21,6 69
» 23,4—20 110
» 23,11 49
» 23,13 104
1. Chron. 21,1 176
Esra 6,7 . 144
Hieb 1—2 175
)) 19,25—26 182
» 26,12—13 54
)) 36,15 126
» 38—41 126
» 42,7 . 126
Psalm 6,6 181
» 8,5 • • 33
» 16,10 181
» 17,15 181
»22 222
Seite
Psalm 22,2 224
). 37 125
>) 44,24 118
» 49,16 182
» 73 125
» 73,26 182
» 74,13—14 54
V) 78,65 118
» 89,11 54
» 90,2 285
» 104,4 174
• » 121,6 49
» 144,4 33
Prediger 8,14 fg 127
» 9,2 fg 127
Jesaia 1,10 113
» 5,26 118
.) 6,8—10 209
» 7,18 118
» 11,6-8 187
» 13,21 35
.. 26,19 182
» 34,14 35
» 37,36 94. 174
,, 40—66 97
» 40,3 ......... 202
» 42,13 118
» 44,13 106
). 45,6—7 122: 174
» 46,1 51
» 51,9—10 54
»53 222 fg.
)) 53,7 277
» 65,5 118
Jeremia 10,23 266
» 12,1 122
» 44,17 96
» 44,17—19 52
» 50,2 51
Ezechiel 8,14 ' . . 52
» 14,14 170
» 33,v!2 . 96
» 37 181
Verzeichnis der Bibelstellen.
527
Seite i
Daniel 7,13—14 171. 187. 202. 213. 215
» 8,14 170
)) 9,27 148. 246
» 11,31 . 148. 171
» 12,2 . 183
» 12,11 171
» 12,13 183
Hosea 6,6 112. 229
» 13,14 181
Arnos 3,6 122
» 5,21—24 . . • 112
» 8,4-6 112
Micha 1,6 151
» 5,1 187. 196
» 6,6—8 114
Zephanja 1,4—6 110
Sacharja 3 126. 175
Weisheit 3,1 183
» 8,19 183
» 9,15 183
1. Makkabäer 1,57 148
6,7 148
2. Makkabcäer 7 183
Ev. Matthäi 4,12 202
» 4,17 213
5,8 184
» 5,15 209
» 5,27—30 .... 210
» 5,39 210
» 5,40 210
» 5,48 . . 116. 174. 232
» 6,3 209
» 6,34 210
» 7,3 ..... . 210
» 7,6 209
» 7,16—18 .... 232
» 8 213
» 8,11 206
» 8,11—12 .... 213
» 8,20 .... 20G. 206
» 8,22 207
» 9,13 .... 113. 229
» 9,15-17 .... 205
Seite
Ev. Matthäi 10,5 213
» 10,7 213
» 10,8 177
» 10,8—14 204
» 10,25 204
» 11,3 ...... 214
» 11,7—13 202
» 11,12 221
» 11,16-19 .• . . . 205
» 12 232
» 12,7 113. 229
» 12,33—35 .... 232
» 12,43—45 .... 178
» 13,13—14 .... 206
» 14,2 202
» 14,13 222
» 15 213
» 15,11 221
» 15,13 234
» 15,24 213
» 16,7 218
» 16,13—17 .... 214
» 16,18 219
') 16,23 177
» 16,24 .... 233. 283
» 16,27—28 .... 217
» 17,15 48
» . 17,24—27 .... 206
» 18,6 ...... 210
» 18,10 . . 137. 176. 263
» 19,12 210
» 19,21 ...... 210
» 19,24 209
» 19,26 234
» 19,28 230
» 21,21 210
» 22,2—14 208
» 22,21 207
» -22,30 184
» 22,31—32 .... 184
. » 23 ... 209. 221fg.
» 23,24 209
» 24,15 .... 148. 276
528
Verzeiclinis der Bibelstellen.
Ev. Matthäi 24,29 230
24,34 217
25,32 230
25,41 147
26,23 278
26,29 206
26,53 210
26,56 219
26,63—65 .... 215
27,25 225
27,46—50 .... 224
27,64 ...... 227
Ev. Marci 1,1 198
1,14 202
» 2,27 206
)) - 3,15 177
» 3,17 . . . ~ . 219. 274
» 3,20—35 200
» 4,11—12 208
» 4,13 218
» 6,1—5 199
» 6,3 198
» 6,8—11 204
» 6,14 202
» 6,20 ....'... 202
» 6,21 202
» 8,38—9,1 217
» 9,22 ....... 48
» 10,14 211
» 13,24 230
» 13,30 ....... 217
» 14,20 278
» 14,50 219
» 14,61—64 215
» 16,9 177
Ev. Lucae 6,20 185
. . . 210
... 202
•. . . 177
... 206
... 204
9,26—27 217
9,54 219. 274
6,29
7,24-
8,2
8,3
9,3-
-28
Seite
Ev. Lucae 10,4—11 204
» 10,18 177
» 11,24—26 178
» 13,16 177
» 13,31 222
» 14,16-24 208
» 16,19 184
» 17,10 233
» 19,40 210
» 21,24 fg 230
» 21,32 217
» 22,31 177
» 22,35 206. 206
» 22,68—71 215
» 23,43 56
» 24,21 188
Ev. Johannis 1,3 277
» 1,5 179
» 1,13 279
» 1,14 272
» 1,17—18 .... 279
;o 1,29 277
>^ 1,32-33 .... 277
» 1,48 ...... 276
» 2 277
» 2,4 274
» 2,19 277
» 2,19—21 .... 276
» 2,24—25 .... 276
» 3,3 279
» 3,6 279
» 3,10 280
» 4,18 276
» 4,21 280
» 4,34 277
» 4,52 277
» 5,4 277
» 5,24 179
» 5,28 277
» 5,28—29 .... 186
» 5,39 280
» 6,29 279
» 6,37 279
Yerzeichnis der Bibelstellen.
529
Seite
Seite
Ev. Johanuis 6,44 279
Apostelgeschichte 1,21—22 . . 198
» 6,49
. 280
»
7,22 ... 3. 79
» 6,64
. 275
»
9,3—9 ... 238
» 6,65
. 279
))
9,25 .... 241
» 6,70
. 275
»
10,37 .... 198
» 7,6
. 274
»
11,25-26 240. 261
» 7,30
. 274
»
11,30 .... 241
• » 8
. 277
»
12 .... 240
)) 8,3—]
1
. 207
»
13 .... 240
» 8,6
184. 280
»
13,9 .... 236
» 8,20
. 274
»
15,1 .... 243
» 8,44
. 179
»
16,9 . . .28. 244
» 8,36
. 280
»
16,10—17 235. 244
» 8,58
276. 280
))
17,15 .... 246
» 9
275. 277
»
17,21 .... 242
9,2
120. 275
»
17,28 .... 262
» 10,8
. . 280
»
18,27 .... 246
» 10,30
216
»
20,5-21,18 235.250
» 11
277
»
22,6-11 . . 238
» ' 11,4
275
»
23,8 .... 176
» 11,11-
-1^
t
277
»
24,27 .... 253
» 11,24
186
»
26,12—18 . . 238
» 11,42
275
»
27,1—28,31 . 235
» 11,51
277
»
28,22 .... 259
» 12,31
178
»
28,30 .... 259
» 13,26-
-2'
1
278
Römer 1,3
197
» 13,34
280
» 2,15
264. 268
» 14,6
279
178
280
279
280
178
216
» 2,29
» 3,12
« 3,20
■> 3,25
» 3,28
» 5,12
» 6,4
....•,... 268
» 14,30
264
» 15
264
» 15,5
263
» 15,15
264
» 16,11
264
» 16,33
265. 269
» 17,2
277
278
» 6,6
» 6,23
» 7,18
269
. » 18,6
264
» 19,35
273
269. 283
» 20,19
277
278
» 7,23
» 7,22-
266
» 20,22
-25 268
» 20,26
277
» 8,3
........ 267
» 21
273
277
188
» 9,16
» 9,21
» 11,36
267
» 21,17
267
Apostelgeschichte 1,6
. -262
530
Verzeichnis der Bibelstellen.
Seite
Römer 12,2 278
» 15,31 251
1. Korinther 1,16 242
» 1,20 262
» 2,10 ...... 262
» 2,14 262
» 3,19 262
» 8,6 276
» 9,20 ...... 260
>^ 11,23—26 .... 223
» 11,24 263
« 12,12 280
» 13 280
» 15 185
» 15,3—8 227
» 15,8 238
» 15,10 .■ 219
» 15,32 247
» 15,42—47 .... 185
2. Korinther 3,6 208
4,4 178
4,7 ... . 117. 281
» 5,2 263
» 5,16 .... 237. 268
» 5,17 278
» 11,5 219
)) 11,6 236
» 11,13 249
» 11,23 219
« 11,32—33 .... 241
» 12,1—5 241
« 12,7—9 249
12,11 219
Galater 1,11—12 240
» 1,14 220. 237
» 1,15 266
» 1,15—19 239
» 1,16 238
» 1,17 241
» 1,21—24 240
» 1,22 241
Seite
Galater 2 220
■ » 2,1 fg 243
» 2,2 219
» 2,9 219. 273
» 2,14 220
» 2,20 269
» 3,21 267
» 3,24 264
» 3,27 269
» 4,14 . 249
» 4,19 269
4,25 237
» 5,6 265
» 5,24 269. 283
» 6,14 269
» 6,15 268. 278
» 6,17 249
Epheser 1,1 254
» 3,9 ^. . 276
» 6,11—12 ....*.. 178
Philipper 1,23 259
» 1,25 259
» 2,12 267
» 2,12—13 255
» 2,17 259
» 2,23 259
» 2,24 259
» 3,10 259
Kolosser 1,15 276
» 2,8 262
» 3,9 269
1. Thessalonicher 3,2 .... 245
2. Thessalonicher 2,4 . . 148. 246
Titus 3,5 268. 278
1. Johannes 3,8 175
3,14 179
» 4,16 179
» 5,19 179
Hebräer 11,1 ...... 265. 285
» 11,3 285
Druck von F. A. Brockbaus in Leipzig.
Werke von Paul Deussen:
Commentatio de Piatonis Sophistae compositione ac
doctrina. (Bonn, Marcus, 1869.) Leipzig, F. A. Brockhaus. •
Geh. 1 M. 20 Pf.
Die Elemente der Metaphysik. Als Leitfaden zum Gebrauche
bei Vorlesungen, sowie zum Selbststudium zusammengestellt.
Nebst einer Yorbetrachtung über das Wesen des Idealis-
mus. Leipzig, F. A. Brockhaus. Sechste Auflage. 1919. 8.
Geh. 8 M.
Elements of Metaphysies: a Guide for Lectures, translated by C. M. Dufif.
Eondon. Macmillan & Co., 1894. 6 s.
Les elements de la metaphysique. Traduktion du Dr. Ern. Nyssens, revue
et approuvee par l'auteur. Paris, Ferrin et Cie., 1899. 4 fr.
Uli Elemeuti della Metatisiea, con introduzione di Luigi Suali. Pavia 1912.
Elements of Metaphysies, translated into Sanscrit Verses by A. Govinda
Pillai. Trivandrum (S. India) 1912.
Das System, des Vedänta nach den Brahma-Sütra's des Bäda-
räyana und dem Kommentare des Qankara über dieselben, als
ein Kompendium der Dogmatik des Brahmanismus vom Stand-
punkte des (^aiikara aus. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1883.
Zweite Auflage 1906. 8. Geh. 12 M.
The System of the Vedänta, transl. hy Charles Johnston, Chicago 1912.
Outline of the Vedanta System of Philosophy according to Shankara. Trans-
lated by J. H. Woods and C. B. Eunkle. New York, The Grafton Press. 1903. f 1 net.
Die Sütra's des Vedänta oder die Qäriraka-Mimärisa des Bäda-
rayana nebst dem vollständigen Kommentare des Qahkara. Aus
dem Sanskrit übersetzt. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1887. Geh.
18 M.
Der kategorische Imperativ. Rede. Zweite Auflage. Kiel,
Lipsius & Tischer, 1903. Geh. 50 Pf.
On the Philosophy of the Vedänta in its Relations to Occi-
dental Metaphysies, an address delivered before the Bombay Branch
of the Royal Asiatic Society, Saturday, the 25**^ February, 1893.
(Bombay 1893. One Ana.) Leipzig, F. A. Brockhaus. Geh. 10 Pf.
Zur Erinnerung an Gustav Glogau. Gedächtnisrede, ge-
halten an der Christian- Albrechts-Universität am 11. Mai 1895.
Kiel, Lipsius & Tischer, 1895. Geh. 50 Pf.
Über die Notwendigkeit, beim mathematisch-naturwissenschaft-
lichen Doktorexamen die obligatorische Prüfung in der Philo-
sophie beizubehalten. Kiel, Lipsius & Tischer, 1897. Geh. 50 Pf.
Jacob Böhme. Über sein Leben und seine Philosophie. Zweite
Auflage. Mit einer Abbildung des Jacob Böhme-Denkmals. Leipzig,
F. A. Brockhaus, 1911. Geb. 1 M. 50 Pf.
Vedänta und Piatonismus im Lichte der Kantischen Philo-
sophie. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1904. Geh. 1 M.
Sechzig TJpanishad's des Veda, aus dem Sanskrit übersetzt
und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen. Leipzig, F. A,
Brockhaus, 1897. Zweite Auflage 1905. [Vergriffen.]
Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit einem Porträt
und drei Briefen in Faksimile. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1901.
Geh. 2 M. 50 Pf.
Discours de la Methode pour bien etudier l'histoire
de la Philosophie et chercher la verite dans les
systemes. Paris, Armand Colin, 1902.
Erinnerungen an Indien. Mit einer Karte und sechzehn Ab-
bildungen. Kiel und Leipzig, Lipsius & Tischer, 1904. Geh.
5 M. Geb. 6 M.
My Indian Reminiseences, transl. by A. King, Madras 1911.
Vier philosophische Texte des Mahäbhäratam. Sanatsu-
jäta-Parvan — Bhagavadgita — Mokshadharma — Anugitä. In
Gemeinschaft mit Dr. Otto Strauss aus dem Sanskrit übersetzt.
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1906. Geh. 22 M.
Outlines of Indian Philosophy, with an Appendix on the
Philosophy of the Vedänta in its Relations to Occidental Meta-
physics. Berlin, Karl Curtius, 1907. Geh. 2 M.
Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upani-
shad's. Aus dem Sanskrit übersetzt. Leipzig, F. A. Brockhaus.
Fünfte Auflage, 1919. Geh. 7 M.
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des
Mahäbhäratam. Aus dem Sanskrit übersetzt. Leipzig, F. A.
Brockhaus, 1911. Geh. 3 M.
Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer
Berücksichtigung der Religionen. 2 Bände in 6 Abteilungen.
Leipzig, F. A. Brockhaus. Geh. 77 M.
Erster Band, erste Abteilung: Allgemeine Einleitung und Philo-
sophie des Veda bis auf die Upanishad's. 1894. Dritte
Auflage, 1915. Geh. 7 M.
Erster Band, zweite Abteilung: Die Philosophie der Upanishad's.
1899. Dritte Auflage, 1919. Geh. 16 M.
The Philosophy of the Upanishad's. Authorised English translation by Rev.
A. S. Geden. Edinhurgh, T. & T. Clark, 1906. 10s. 6d.
Erster Band, dritte Abteilung: Die nachvedische Philosophie
der Inder. Nebst einem Anhang über die Philosophie der Chinesen
und Japaner. 1908. Zweite Auflage, 1914. Geh. 16 M.
Zweiter Band, erste Abteilung: Die Philosophie der Griechen.
1911. Zweite Auflage, 1919. Geh. 13 M.
Zweiter Band, zweite Abteilung: Die biblisch-mittelalterliche
Philosophie. 1915—1919. Geh. 11 M.
1. Hälfte: Die Philosophie der Bibel. 1913. Zweite Auflage,
1919. Geh. 7 M.
Bibelns Filosofi , bemyndigad översättning av August Carr. Stockholm,
Hugo Gebers Förlag, 1916.
2. Hälfte: Die Philosophie des Mittelalters. 1915. Geh. 4 M.
Zweiter Band, dritte Abteilung: Die Neuere Philosophie von Des-
cartes bis Schopenhauer. 1917. Geh. 14 M.
Einzelausgaben des zweiten Bandes:
Erste Abteilung unter dem Titel: Die Philosophie der Griechen. Geh. 13 M.
Zweite Abteilung, erste Hälfte, unter dem Titel: Die Philosophie der Bibel.
Geb. 7 M.
Zweite Abteilung, zweite Hälfte, unter dem Titel: Die Philosophie des Mittel-
alters. Geh. 4 M.
Dritte Abteilung unter dem Titel: Die Neuere Philosophie von Descartes bis
Schopenhauer. Geh. 14 M.
Vedänta, Piaton, Kant, nebst einem Anhang über Kultur und
Weisheit der alten Inder. Wien, Verlag der Wiener Urania,
1917. Geh. 1 M. (1 K .30 h).
Faustbüchlein, ein Leitfaden zum Verständnis des Goetheschen
Faust. Wien, Verlag der Wiener Urania, 1918. Geb. 1 M.
(1 K 30 h). In Vorbereitung.
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