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Full text of "Allgemeine illustrierte Encyklopädie der Musikgeschichte"

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Verviflliilligimg  vorbehalteu. 


Kuiislverlag  Max  Schmitz,   Leipzig- R. 


Palestriiia. 


ALLGEMEINE  ILLUSTRIERTE 

ENCYKLOPÄDIE  DER 
MUSIKGESCHICHTE 

VON 

PROF.  HERMANN   RITTER 

DOCENT    DER    MUSIKGESCHICHTE    AN    DER 
KÖNIGLICHEN  MUSIKSCHULE  I  N  WÜRZBURG 

DRITTER  BAND 


VERLAGSBUCHHANDLUNG  VON    MAX  SCHMITZ    IN 

LEIPZIG- R. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Druck  von  Otto  Regel,  Leipzig-N. 


HAROLD  B.  LEE  LIBRARY 

BRiGHAM  YOUNG  UNiVERS!T> 

PROVO,  UTAH 


Inhalt  des  III.  Bandes. 


Einleitung 3 

Die   Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien, 
hervorgerufen  durch  die  Renaissance. 

1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom  .     .      8 

2.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig. 

a)  Die  ältere  venetianische  Tonschule  (16.  Jahrhundert)     50 

b)  Die  jüngere  venetianische  Tonschule  (17.  und  18. 
Jahrhundert) 56 

3.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz  .     62 

4.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Neapel. 

a)  Komponisten    der    älteren    neapolitanischen    Ton- 
schule     75 

b)  Komponisten  der  jüngeren  neapolitanischen  Ton- 
schule    81 

5.  Bedeutende  musikalische  Theoretiker  auf  dem  Boden 
von  Italien  im  15.,  16.  und  17.  Jahrhundert    ....     87 

6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik, 
vornehmlich  in  Italien,  vom  16.  Jahrhundert  an.  (Die 
ersten  Anfänge  der  Instrumentalkomposition  in  der 
römischen  und  venetianischen  Tonschule,  die  Laute, 
die  Blasinstrumente,  die  Anfänge  der  Orgel-  und 
Klavierkomposition,  die  Geige,  sowie  die  Entwicklung 
der  »Sonate«  durch  die  höhere  Ausdrucksfähigkeit 
des  Klaviers  und  der  Geigeninstrumente)       ....     97 

7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper,  sowie  der 
italienischen  Musik  überhaupt  (Gesangs-  und  Instru- 
mentalvirtuosentum),  bis  in  das  19.  Jahrhundert    .     .129 

Bibliographie 179 


Die  Musikentwicklung  auf  dem 
Boden  von  Italien, 

hervorgerufen  durch  die  Renaissance. 


Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgeschiclite.    III. 


Einleitung. 


J_}as  Altertum  war  längst  gestorben,  in  Trümmer  geworfen 
und  begraben;  in  Vergessenheit  geraten  war  die  Zeit,  in  welcher 
Unduldsamkeit  der  Römer  die  ersten  Christen  ihrer  neuent- 
standenen Glaubensanschauungen  und  der  daraus  erwachsenen 
Lebensgewohnheiten  wegen  verfolgten,  —  da  erblicken  wir  in 
der  christlichen  Kirche  dieselbe  grausame  Unduldsamkeit.  Die 
christliche  Kirche  war  nach  und  nach  in  ihren  Dogmen  und 
Satzungen  erstarrt,  die  jede  andere  Meinung  und  vor  allem 
die  freie  Forschung  bedrohten.  Wie  nun  in  der  Natur  Er- 
starrung endliche  Auflösung  hervorruft,  so  entstand  innerhalb 
der  grofsen  Christenheit  eine  gewisse  Unzufriedenheit,  die  sich 
in  einem  neuen  Kultur  wellen  schlag,  den  wir  mit  dem  Namen 
»Renaissance«  bezeichnen,  Luft  machte.  Der  unaufhaltsam 
sich  bethätigende  Verstand,  sowie  die  der  Natur  und  dem 
wirklichen  Leben  zugewandten  Sinne  der  Menschen  wurden 
so  lange  in  ihrem  Ausdehnungsvermögen  unterdrückt,  bis  sich, 
wie  dies  beim  Dampf  der  Fall  ist,  der  bei  allzugrofsem  Drucke 
die  Wände  des  Kessels  sprengt  und  sich  befreit,  auch  hier 
eine  Befreiung  vor  sich  gehen  mufste.  Kein  Wunder  daher, 
wenn  der  Mensch  in  seinem  Verlangen  wieder  in  diejenige 
Zeit  zurückgriff,  in  welcher  nach  vielen  Seiten  hin  solche  Ideale 
im  Leben  schon  einmal  verkörpert  wurden.  Mit  seinen  Geistes- 
und Kunstschätzen  zogen  die  Menschen  das  Altertum  wieder 
aus  den  Trümmern  hervor,  und  trotz  mannigfachen  Wider- 
strebens (ein  Beispiel  in  dieser  Hinsicht  ist  der  Fanatiker 
Savonarola)  schmückte  sich  auch  die  Kirche  mit  den  Trümmern 
des  Altertums,  welches  man  nun  als  klassisi^jes,  d.  i.  vorbild- 
liches, erklärte.    Die  Zeit  der  Renaissance,  der  Wiedergebiu^t 

1* 


# 


4  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

des  antiken  Geisteslebens  mit  ihrer  schönen  Sinnhchkeit  und 
ihrer  natürliclien  Denkweise  war  entstanden  und  wurde  in  ihr 
Recht  eingesetzt.  Aus  dieser  Bewegung  erwuchs  wieder  die 
reine  Freude  am  Scliönen,  das  Aufblülien  der  Naturwissen- 
schaften, eine  neue  Philosopliie,  Ivurz  —  Sinne,  Vernunft  und 
Pliantasie  des  Menschen  wurden  mit  einem  neuen  Lebens- 
inlialte  erfüllt. 

Das  Altertum,  das  in  Griechenland  und  Rom  auf  Grund 
einer  mafsvollen  Sinnlichkeit,  gepaart  mit  mafsvoUer  Ein- 
bildungs-  oder  Vorstellungskraft,  eine  herrlich-schöne  Kultur 
hervorgerufen  hatte,  ging  durch  das  Anwachsen  einer  zügel- 
losen Sinnlichkeit  und  zügellosen  Einbildungskraft  zu  Grunde. 
Mit  Entstehung  der  christlichen  Kultur  schlug  das  menschliche 
Wesen  in  das  strikte  Gegenteil  über.  Das  Auge  erfreute  sich 
nicht  mehr  an  der  Natur,  nicht  mehr  an  der  Schönheit  des 
menschlichen  Körpers,  wie  es  das  klassische  Altertum  that. 
Was  dort  als  höchster  Vorzug  des  Menschen  galt,  wird  hier 
als  sündig  erklärt;  der  Körper,  das  Fleisch  des  Menschen 
waren  sündig,  selbst  das  Denken,  der  Verstand,  die  Vernunft 
wurden  verabscheut.  Die  einst  bewunderten  Kunstwerke  der 
nunmehr  als  heidnisch  betrachteten  Kultur  wurden  zertrümmert, 
die  Philosophen  des  Altertums,  soweit  sie  nicht  zum  Aufbau 
der  christlichen  Kirche  beitrugen,  als  Irrlehrer  hingestellt,  kurz 
gesagt:  der  Mensch  trennte  sich  von  einem  natürlichen  Leben 
und  verinnerlichte  sich  in  mafsloser  Weise.  Der  christliche 
Mensch  verbrachte  sein  Leben  in  Vorstellungen  von  einem 
anderen  Leben,  welches  mit  dem  Erdenleben  nichts  mehr  ge- 
mein hatte,  und  schuf  sich  mit  Hilfe  der  Phantasie  einen 
Himmel  und  eine  Hölle,  die  seinen  Idealen  von  einem  nach 
dem  Tode  als  wahrerkannten  Leben  entsprachen.  Die  Kirche 
war  die  Macht,  welche  die  Menschen  im  Mittelalter  ausschliefs- 
lich  beherrschte;  sie  schrieb  in  allen  Dingen  vor:  dem  einzelnen 
Individuum,  ganzen  Völkern,  sowie  Kaiser  und  Königen,  welche 
überhaupt  nur  durch  die  Kirche  zu  herrschen  vermochten. 
Die  Kirche  befriedigte  nicht  nur  die  Vorstellungskraft  der 
Menschen  jener  Zeit  im  höchsten  Mafse,  sondern  auch  den 
Sinnen  gab  sie  das,  was  sie  für  gut  hielt,  und  ebenso  fand 
sie,  da  sie  die  Denknotwendigkeit  des  Menschen  nicht  unter- 
drücken konnte,  auch  für  jene  ihren  Teil  in  der  scholastischen 
Philosophie  des  Mittelalters. 


Einleitung.  5 

Die  Kirche  und  mit  ihr  die  von  ihr  beherrschte  Menschheit 
waren  in  starre  Formen  gebracht,  und  so  war  seit  dem  Alter- 
tume  die  menschhche  Kulturbewegung  von  einer  natürhch- 
schönen  Sinnhchkeit  und  vernünftigen  Denkarbeit,  soweit  die 
Mittel  und  die  Erfahrung  jener  Zeit  es  gestatteten,  nach  dem 
Gesetze  der  Federkraft  und  des  Kontrastbedürfnisses  der 
Menschen,  in  Phantastik  und  Idealistik,  welche  aller  Natur, 
aller  Erfahrung  und  des  vernünftigen  Denkens  entsagten, 
umgeschlagen;  eine  ins  Mafslose  ausgeartete  Verinnerlichung 
und  Einbildungskraft  hatte  als  Triebfeder  menschlichen  Lebens 
die  Oberhand  gewonnen.  Kein  Wunder,  dafs  sich  die  Kirche 
in  ihrem  Fanatismus  um  ihre  Ideale  gerade  so  gebärdete,  wie 
wir  es  zur  Zeit  des  absterbenden  Altertums  gewahren.  Es 
sei  hier  nur  an  die  wundervolle  echt  menschliche  Gestalt  der 
Hypathia  in  Alexandria  erinnert! 

J.  Burckardt  wirft  in  seiner  »Geschichte  der  Renaissance« 
die  Frage  nach  dem  ersten  modernen  Menschen  auf  und  findet 
ihn  in  der  Person  des  Saracenenschülers  auf  dem  Kaiserthron 
Friedrich  IL  —  In  der  Zeit  der  fränkischen  Kaiser  von  Hein- 
rich IV.  (1056—1106)  an  bis  zum  Hohenstaufen  Friedrich  I. 
(1152—1190)  steht  das  ganze  Geistesleben  unter  dem  Einflüsse 
der  geistlich  theologischen  Welt-  und  Lebensanschauung;  diese, 
die  von  dem  französischen  Kloster  Clugny  ihren  Ausgang  ge- 
nommen hatte,  ging  darauf  hinaus,  alles  Weltliche  im  Geistes- 
leben zu  ersticken,  zu  vernichten  und  den  Menschen  schon 
auf  Erden  ganz  dem  Himmlischen  in  Gestalt  der  Kirche  dienst- 
bar zu  machen.  So  bildete  sich  allmählich  eine  kirchlich- 
asketische Welt-  und  Lebensanschauung  heraus,  die  der  ge- 
samten christlichen  Welt  jener  Zeit  ihre  Fesseln  anlegte:  von 
den  geistlichen  Kreisen  drang  sie  hinaus  in  die  Wissenschaft 
und  Philosophie,  in  denen  sie  als  Scholastik  zur  Herrschaft 
gelangte.  Auch  ins  Volk  gelangte  sie  durch  die  Geistlichen, 
die  damaligen  Träger  der  Bildung,  die  Volkslehrer;  aber  hier 
machte  sich  der  germanische  Volkscharakter  geltend,  der  für 
eine  solche  Welt-  und  Lebensanschauung  wenig  empfänglich 
ist;  und  in  diesem  Widerstreben  gegen  die  letztere  liegt  der 
Charakter  dieser  Zeit  als  einer  Übergangszeit  vom  Mittelalter 
zur  Neuzeit.  (Siehe  in  dieser  Hinsicht  Dr.  H.  Jantzens  »Dich- 
tungen«, Textproben  der  mittelhochdeutschen  Frühzeit,  heraus- 
gegeben und  mit  Einleitungen,  Inhaltsangaben  und  Wörterbuch 


6  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

versehen,  Leipzig,  G.  J.  Göschen,  154  S.,  in  denen  die  bezeich- 
netsten  Eigenschaften  der  Litteratur  dieses  Zeitalters  vor  Augen 
geführt  werden.) 

In  Italien,  wo  die  Antike  nie  ganz  verloren  gehen  konnte, 
fand  die  Anbahnung  der  Renaissance  bewulst  schon  im  14.  Jahr- 
hundert statt.  Mit  den  drei  Geistern:  Dante*),  1265— 1321,  Petrarca, 
1304—1374,  und  Boccaccio,  1313 — 1375,  brach  die  Morgenröte 
der  Wiedergeburt  und  Entfaltung  von  Wissenschaften  und 
Künsten  der  Antike  in  Italien  an.  Plaidierte  Petrarca  für  die 
Erhaltung  altrömischer  Denkmäler  und  vertiefte  sich  in  die 
Dichtungen  Virgils  sowie  der  Provengalen,  so  war  Boccaccio 
der  erste,  welcher  auf  seine  Kosten  Abschriften  der  Ilias  und 
Odyssee  aus  Griechenland  kommen  liefs.  Es  war  eine  Periode 
des  Ringens  und  Kampfes,  des  Bruches  mit  dem  Alten  auf 
dem  Gebiete  der  Wissenschaft  sowie  der  bildenden  Künste. 
Durch  das  Studium  der  altgriechischen  und  lateinischen  Si^rache 
geschah  ein  Einblick  in  das  Geistesleben  dieser  Völker,  der  die 
Wiedergeburt  ihres  Geisteslebens  und  ihrer  Künste  wünschens- 
wert erscheinen  liefs. 

Das  15.  Jahrhundert  repräsentiert  den  eigentlichen  Über- 
gang von  den  Anschauungen  des  Mittelalters  zu  ganz  neuen 
Ideen  in  Wissenschaft  und  Kunst. 

Hatten  die  Niederländer  Hubert  und  Jan  van  Eyk 
(1366—1426)  die  Malerei  in  Ölfarben  erfunden,  durch  welche 
Technik  gröfsere  Wärme  im  Kolorit  erzeugt  wurde  (Antonella 
da  Messina  vermittelte  die  Technik  des  Ölmalens,  welche  bald 
epochemachend  wurde,  von  den  Niederlanden  nach  Italien), 
so  erstand  in  Johannes  Gutenberg  (1440 — 1450)  der  Erfinder 
der  Buchdruckerkunst.  Durch  diese  beiden  Grofsthaten  vollzog 
sich  ein  gewaltiger  Umschwung  in  der  Malerei  und  in  der 
Wissenschaft.  Der  Erfindung  des  Musikdruckes  mit  beweg- 
lichen Typen  durch  Jörg  Reyser  (1481)  in  Würzburg  wurde 
bereits  früher  gedacht.  Auch  auf  dem  Gebiete  der  Architektur 
bemerken  wir  einen  Übergang  von  den  bisherigen  baulichen 
Traditionen  zum  antiken  Baustile,  insofern  als  dessen  Formen 
jetzt  zur  Geltung  gelangen.  Aus  dem  mittelalterlichen  Burgen- 
bau entwickelte  sich  der  Palastbau,  indem  man  ihn  durch  Hallen 


*)  Siehe  über  das  langsame  aber  sichere  Aufkeimen  der  Renaissance 
sowie  des  neuen  modernen  Menschen  das  Dante-Werk  von  Fr.  H.  Kraus 
(1897). 


Einleitung.  7 

und  Arkaden,  getragen  von  schlanken  korinthischen  Säulen, 
verzierte.  Die  Verwendung  antiker  Motive  zur  Ornamentik 
an  Brunnen,  Grabdenkmälern,  Thüren  und  anderen  Gegen- 
ständen lälst  so  recht  die  Rückkehr  zu  Kunstanschauungen 
des  Altertums  erkennen.  In  der  Plastik  gelangte  die  äulsere 
Gestalt  des  Menschen,  gleich  wie  in  der  antiken  Zeit,  zur 
schönsten  Darstellung,  kurz  —  dramatisches  und  individuelles 
Leben  atmeten  die  Kunst  und  Sprache  wieder. 

Dals  die  Musik  bei  diesem  Wiederaufjauchzen  des  Menschen 
nach  Schönheit  und  bei  der  Rückkehr  des  Menschen  zu  grölserer 
Natürlichkeit  nicht  zu  kurz  kam,  ist  wohl  begreiflich;  denn 
gerade  die  Musik  ist  immer  und  stets  das  Abbild,  das  Spiegel- 
bild des  Empfindun^slebens  der  jeweiligen  Zeit. 

Ist  nun  wohl  Florenz  so  recht  eigentlich  der  Ort,  wo  die 
neugewonnenen  Lebens-  und  Kunstanschauungen  besonders 
in  der  Musik  hervortraten,  so  ist  doch  auch  auf  dem  Gebiete 
der  Kirchenmusik,  die  in  Rom  ihre  Centrale  hatte,  der  Ein- 
flufs  nach  Hinneigung  zur  Schönheit  und  grölster  Natürlich- 
keit deutlich  zu  bemerken.  Auch  sie  kann  sich  des  Einflusses 
ihrer  Zeit  nicht  entziehen,  auch  sie  streift  die  alten  scholasti- 
schen Fesseln  ab,  in  welche  sie  das  Mittelalter  gebannt  hatte, 
und  zeitigt  eine  herrliche  Blüte  reinster  Kunst.  Wie  wir  be- 
reits sahen,  waren  es  die  Völker  des  Nordens,  vor  allem  die 
Niederländer  gewesen,  welche  Italien  auf  seine  musikalische 
Selbständigkeit  vorbereitet  hatten.  Besonders  einflufsreich 
sehen  wir  die  Niederländer  in  Rom  und  Venedig  werden,  in- 
dem sie  hier  die  kontrapunktische  und  polyphone  Schreibweise 
auf  dem  Gebiete  des  Kunstgesanges  im  a-capella- Stile  ent- 
wickelten, so  dafs  wir  von  einer  römischen  und  von  einer 
venetianischen  Tonschule  reden  können. 


/^ 


3DoGCp 


1.  Die  Musikentwickluns;  auf  dem  Boden  von  Rom. 


Wer  ist  als  Begründer  der  römischen  Ton  schule  anzusehen? 

Claudio  Goudimel,  wahrscheinlich  ein  Schüler  von  Josquin 
des  Pres.  Geboren  um  1511  in  Frankreich  in  der  Franche- 
Comte,  befand  sich  Goudimel  um  1540  in  Rom  als  Vorstand 
einer  Musikschule,  in  welcher  u.  a.  G.  Animuccia,  S.  Bettini, 
A.  Merulo,  G.  M.  Nanini  und  G.  Palestrina  lernten.  1555 
kehrte  Goudimel  nach  Paris  zurück,  wo  er  Inhaber  einer 
Notendruckerei  wurde,  in  welcher  er  mehrere  seiner  Ton- 
werke vervielfältigte.  1562  trat  Goudimel  zur  reformierten 
Kirche  über,  zog  sich  aber  durch  Einführung  von  frisch- 
klingenden und  natürlich  wirkenden  Volksliedermelodien  in 
den  Kirchengesang  den  Hals  der  Geistlichkeit  zu  und  wurde 
in  Lyon  in  der  Bartholomäusnacht  am  24.  August  1572  er- 
mordet. 

Goudimels  Kompositionen  weisen  einen  volkstümlich-ein- 
fachen Stil  auf.  Aufser  einigen  Sammlungen  von  fran- 
zösischen Chansons  bestehen  seine  Arbeiten  meist  aus 
kirchlichen  Ton  werken,  wie  Messen,  Motetten,  Psalmen, 
Magnifikaten  etc.  In  den  römischen  Kirchenarchiven  sind 
bis  heute  noch  gröfsere  Werke  von  Goudimel  handschrift- 
lich enthalten.  Veröffentlicht  sind  von  Goudimel  folgende 
Sammlungen:    »Liber   quartus  ecclesiasticarum  cantionum«, 

1554.  »Horatii  Flacci  odae  ad  rhythmos  musicos  redactae«, 

1555.  »La  fleurs  des  chansons  des  deux  plus  excellens 
musiciens  etc.«,  1567.  Noch  im  19.  Jahrhundert  befanden 
sich  folgende  Werke  Goudimels  beim  calvinistischen  Gottes- 
dienste im  Gebrauche:  »Les  psaumes  de  David  mis  en 
musique  ä  4  parties,  en  forme  de  motets«,  1562  und  »Les 
psaumes  de  David  mis  en  rime  fran(jaise  par  Clement  Marot 
et  Theodore  de  Beze,  mis  en  musique  ä  4  parties  etc.«,  1565. 
(Aus  der  letzteren  Sammlung  hat  auch  die  lutherische  Kirche 


1.  Die  Musikentwicklimg  auf  dem  Boden  von  Rom.  9 

einzelne  Melodien  in  ihren  Kultus  herübergenommen,  wie 
z.  B.  die  Melodien  zu  den  Chorälen  »Wenn  wir  in  höchsten 
Nöten  sein«,  »Herr  Gott,  dich  loben  wir«,  »Freu'  dich  sehr, 
o  meine  Seele«  u.  a.  m. 

Welcher  Italiener  ist  als  Vorläufer  Palestrinas  zu  nennen? 

Costanzo  Festa,  geb.  in  Florenz  im  Anfange  des  16.  Jahr- 
hunderts, gest.  als  Sänger  der  päpstlichen  Kapelle  am  10.  April 
1545.  Als  grölster  Kontrapunktiker  der  römischen  Ton- 
schule vor  Palestrina  hat  Festa  dreistimmige  Madrigale, 
Motetten,  Litaneien,  sowie  ein  schönes  Tedeum  geschrieben. 
Das  Tedeum  Festas  wird  noch  heutigen  Tages  am  Frohn- 
leichnamstage,  bei  der  Papstwahl,  sowie  bei  einer  Kardinal- 
ernennung von  der  Sixtinischen  Kapelle  in  der  Basilika  des 
Vatikan  gesungen.  Sein  Stil  hat  bereits  die  Anmut,  Würde 
und  Klarheit  der  Schreibweise  Palestrinas,  zu  dem  er  sich 
ungefähr  wie  Perugino  zu  Rafael  verhält.  Festa  trat  1517 
in  die  päpstliche  Kapelle,  als  deren  Mitglied  er  bis  zu  seinem 
Tode  verblieb. 

Welcher   Tondichter   war    der    eigentliche    Hauptrepräsentant 
der  römischen  Tonachule? 

Palestrina,  (Gfovanni  Pierluigi  da  Palestrina,  auch  Joannes 
Peteraloysius  Praenestinus  genannt),  ein  Schüler  Claudio 
Goudimels,  ist  als  das  Haupt  der  römischen  Tonschule  zu 
nennen. 

Wann  und  wo  wurde  G.  P.  da  Palestrina  geboren? 

Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina  wurde  in  Palestrina  (im 
alten  Präneste)  nahe  bei  Rom  im  Jahre  1514  oder  1524 
geboren. 

Was  knüpft   sich   an   den  Namen  Palestrina  für  die  Entwick- 
lung der  Tonkunst? 

An  den  Namen  Palestrina  knüpft  sich  für  die  Entwick- 
lung der  Tonkunst  zum  erstenmale  der  Begriff  höchster 
Entfaltung  musikalischen  Könnens  zum  Zwecke  des  Aus- 
druckes des  tiefst  Empfundenen  im  menschlichen  Innern. 
Palestrina  ist  gleich  Rafael  der  Abschlufs  einer  langvoraus- 
gegangenen Kunstentwicklung. 


10  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Wann  kam  Palestrina  nach  Rom,  um  Musik  zu  studieren? 
Palestrina  kam  im  Jahre  1540  nach  Rom,  um  in  der  Schule 
Goudimels  Musik  zu  studieren. 

Welche  SteUung  hatte  Palestrina  zunächst  in  Rom  als  Kirchen- 
musiker inne? 

Die  Stelle  eines  Maestro  de'  putti  (Lehrer  der  Knaben)  in 
der  Capeila  Giulia  im  Vatikan  vom  Jahre  1551  an;  sein 
Aufsehen  erregendes  Talent  trug  ihm  sehr  bald  den  Titel 
»Maestro  della  Capella  della  basilica  Vaticana«  ein. 

Welche  Werke  schrieb  Palestrina  in  der  Stellung  als  »Maestro 

de'  putti«  in  der  Capella  Giulia? 

Einen  Band  4-  und  5-stimmiger  Messen,  1554  veröffentlicht 
und  dem  Papst  Julius  IIL  gewidmet,  der  Palestrina  am 
13.  Januar  1555  in  das  Kollegium  der  j)äpstlichen  Sänger 
berief  und  ihn  zum  Leiter  und  Vorsteher  der  Sixtinischen 
Kapelle  machte. 

Wann  und  warum  mufste  Palestinna  aus  dem  Kollegium  der 

j)äpstlichen  Sänger  ausscheiden? 

1555  (am  30.  Juli).  Als  Grund  wird  angegeben,  dafs  PajDst 
Paul  IV.  (Caraffa ),  der  nach  Julius  III.  und  nach  Marcellus  IL 
Tode  als  Oberhaupt  der  römischen  Kirche  regierte,  keinen 
verheirateten  Sänger  in  seiner  Kapelle  leiden  konnte.  Ein 
anderer  Grund  zur  Entlassung  Palestrinas  aus  dem  Kollegium 
der  päpstlichen  Sänger  soll  das  im  Jahre  1555  heraus- 
gegebene erste  Buch  Madrigale  gewesen  sein,  welche  dem 
Tondichter  wegen  der  als  leichtfertig  erkannten  Texte  bittere 
Vorwürfe  eintrugen.  Obgleich  nun  die  Texte  durchaus  nicht 
leichtfertig  oder  gar  schlüpfrig,  sondern  in  der  herkömmlichen 
Weise,  wie  sie  bei  Madrigalen  üblich  waren,  mifsbilligte 
dieselben  Papst  Paul  IV.,  der  als  Rigorist  bekannt  war. 

Welche  Stellung  erhielt  Palestrina  als  Ersatz? 

Die  Stellung  als  Kapellmeister  an  der  Lateranischen  Hof- 
kirche (S.  Giovanni  im  Lateran)  1555  am  1.  Oktober. 

Welche  berühmten  Werke  schrieb  Palestrina  als  Kapellmeister 

an  der  Kirche  S.  Giovanni  im  Lateran? 

Das  8-stimmige  »Crux  fidelis«  und  die  »ImiDroperien«.  (Die 
Improperien   oder   Vorwürfe   enthalten   die   Klagen  Christi 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  11 

Über  das  Volk,   das   ihn   ans  Kreuz  geschlagen;    dieselben 
bewegen  sich  in  einfachen  Dreiklangsformen.) 

Welche  Anstellung  erhielt  Palestrina  nach  derjenigen  an  der 
Lateranischen  Hofkirche? 

Die   Kapellmeisterstelle   an   der   Kirche   S.  Maria  Maggiore 

im  Jahre  1561. 

Welches  kirchengeschichtliche  Ereignis  zu  Palestrinas  Zeit  er- 
hielt eine  Bedeutung  in  Bezug  auf  die  Lebensfrage  der  poly- 
phonen Tonkunst  oder  Figuralmusik? 

Das    Tridentiner    Konzil    im    Jahre    1565.      (Todesjahr   des 

Papstes  Pius  IV.) 

Welche  Forderungen  wurden  auf  dem  Tridentiner  Konzile  an 
die  Kirchenmusik,  welche  damals  im  a-capella-Stile  wurzelte, 
gestellt? 

Wiederher-  oder  Richtigstellung  des  Chorales  oder  der  alten 
Liturgie,  ferner  weniger  Verkünstelung,  gröfsere  Einfach- 
heit und  somit  bessere  Verständlichkeit  des  gesungenen 
Wortes  in  den  a-capella-Chören  der  sogenannten  Figural- 
musik. Man  beriet  in  der  22.  Sitzung  des  Konzils,  die  Musik 
bei  Messen  und  überhaupt  im  Gottesdienste  von  allem  Un- 
reinen und  Ungehörigen  zu  säubern.  In  der  21.  Sitzung 
wurde  ganz  allgemein  beraten,  acht  zu  geben  auf  die  Mifs- 
bräuche  in  der  Musik  beim  Gottesdienste.  (Viele  Tonsetzer 
komponierten  oder  kontrapunktierten  Messen  über  weltliche 
Lieder,  ein  Mifsbrauch,  der  den  Widerspruch  der  geistlichen 
Würdenträger  erregte;  diese  wandten  sich  gegen  die  kontra- 
punktischen Formen  und  gegen  die  Figuralmusik,  welche, 
wie  bekannt,  das  Ergebnis  der  Bestrebungen  während  eines 
langen  Zeitraumes  war.  Dieselbe  wäre  beinahe  den  Synodal- 
beschlüssen erlegen,  wenn  nicht  einige  Beschützer  derselben, 
besonders  der  Abgesandte  des  Kaisers  Ferdinand  I.  auf  dem 
Konzile  für  dieselbe  gesprochen  hätten.) 

Auf  welche  Weise  wurde  Palestrina  in  die  Angelegenheit  von 
der  Reform  der  Kirchenmusik  in  Bezug  auf  gröfsere  Einfach- 
heit im  Ausdrucke  hineingezogen? 

Nach  Beendigung  des  Konzils  von  1565  begann  Papst  Pius  IV. 

ein  Interesse  an  der  Reform  der  Kirchenmusik  zu  nehmen 


12  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

und  übertrug  1564  die  Ausführung  und  Überwachung  dieser 
Operation  acht  Kardinälen,  unter  denen  sich  Kardinal 
Vitellozzo  VitelU  und  Kardinal  Carlo  Borromeo  befanden. 
Kardinal  Vitellozzo  Vitelli  bestimmte  acht  Sänger  der  päpst- 
lichen Kapelle  (Antonio  Calasans,  Federigo  Lazisi,  Ludovico 
Vescovi,  Vicenzo  Vimercato,  Giov.  Antonio  Merlo,  Francesco 
des  Torres,  Francesco  Soto  und  den  Niederländer  Christian 
Haymeden)  auf  Grundlage  ihrer  Beratungen  Beschlüsse  zu 
fassen,  nach  welchen  sodann  die  Bestimmungen  für  die 
Kirchenmusik  formuliert  werden  sollten.  Beschlossen  wurde: 
keine  Messen  über  Volkslieder  zu  singen  und  zu  Motetten 
nur  autorisierte  Texte  zu  wählen.  Kardinal  Borromeo,  der 
die  Verständlichkeit  der  Texte  zur  Sprache  brachte,  kam 
auf  den  Gedanken,  Palestrina  mit  in  diese  Angelegenheit 
hineinzuziehen,  denn  es  wurde  bemerkt,  dals  dasjenige,  was 
man  a^ou  der  Musik  für  die  Kirche  fordere,  schon  in  Festas 
»Te  Deum  laudamus«  und  in  Palestrinas  »Improperien«  ge- 
löst sei.  Borromeo  liefs  Palestrina  rufen  und  legte  ihm  die 
Aufgabe,  ein  Musterwerk  für  die  Kirche  zu  schreiben,  ans 
Herz.  Palestrina  schuf  hierauf  drei  Messen,  deren  Motto,  von 
Palestrinas  Händen  am  Anfange  geschrieben,  lautet:  »Domine 
illumina  oculos  meos«.  Am  28.  April  1565  fand  im  Palaste 
des  Kardinals  Vitellozzo  Vitelli  die  Aufführung  der  drei 
Messen  statt,  wobei  die  sogenannte  Marcellusmesse  das 
meiste  Entzücken  erregte.  Kardinal  Borromeo  berichtete 
seinem  Onkel,  dem  Papste  Pius  IV.,  den  Hergang  und  so 
kam  es,  dals  jene  Messe  am  19.  Juni  1565,  bei  Gelegenheit 
der  Feier  des  Bündnisses  des  päpstlichen  Stuhles  mit  den 
Eidgenossen  der  Schweiz,  in  der  Sixtinischen  Kapelle  zur 
Aufführung  gelangte.  Borromeo  selbst  celebrierte  am  Altare, 
und  nachdem  Palestrinas  Musik  verklungen  war,  soll  Pius  IV. 
ausgerufen  haben:  »Das  sind  die  Harmonien  des  neuen 
Gesanges,  welchen  der  Apostel  Johannes  aus  dem  himm- 
lischen Jerusalem  tönen  hörte,  und  welche  uns  ein  irdischer 
Johannes  im  irdischen  Jerusalem  hören  läfst«. 

»Die  nachtridentinische  Choralreform  zu  Rom.  Ein  Bei- 
trag zur  Musikgeschichte  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.«  So 
betitelt  sich  ein  Buch  von  P.  Rafael  Molitor  (Leipzig  1901), 
das  volle  Beachtung  verdient,  da  es  auf  umfangreichen  Archiv- 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  13 

forschungen  beruht.  Der  Verfasser,  der  in  seinem  Werke  eine 
Menge  eingebürgerte  Irrtümer  berichtigt,  benutzte  das  Material 
des  spanischen  Staatsarchivs  zu  Simancas,  des  Archivs  der 
königlich  spanischen  Botschaft  beim  apostolischen  Stuhle  in 
Rom,  der  Vaticana,  des  Liceo  musicale  in  Bologna,  der  Biblio- 
theca  Angelica  und  Bibliotheca  centrale  in  Rom,  der  Bibliotheca 
nationale  und  des  Archivio  generale  di  Stato  in  Florenz,  der 
Ambrosiana  und  Brera  in  Mailand,  der  Marciana  in  Venedig, 
der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek  u.  a.  m.  Das  wert- 
volle Werk  ist  in  der  wissenschaftlichen  Beilage  der  »Germania« 
bald  nach  Erscheinen  eingehend  besprochen  worden  und  zwar 
im  Jahrgang  1901,  No.  16  ff. 

Der  erste  Band  von  P.  Molitor  befafst  sich  mit  der  Choral- 
reform unter  Gregor  XIII.  und  behandelt  zunächst  die  litur- 
gischen Reformen  des  Breviers  und  Missale,  welche  auf  An- 
regung des  Konzils  von  Trient  unter  Papst  Pius  IV.  und  Pius  V. 
zur  Ausführung  gelangten.  So  umfassend  sie  auch  waren,  so 
können  sie  doch  nicht  anders  als  eine  Restauration,  als  ein 
Wiederaufleben  der  alten  Liturgie  genannt  werden;  sie  be- 
deuten in  Wahrheit  einen  Sieg  der  Tradition.  Im  bewufsten 
Gegensatz  zu  den  modernisierenden,  zum  Teil  ganz  radikalen 
Reformen,  welche  von  selten  der  Humanisten  auf  liturgischem 
Gebiete  angestrebt  wurden,  hatten  sich  der  Papst  und  die  von 
ihm  berufenen  Kommissionen  im  Sinne  des  Tridentinums  die 
Aufgabe  gesetzt,  das  Bestehende  soviel  als  möglich  auf  seine 
ursprüngliche  Gestalt  zurückzuführen,  kein  neues  Werk  zu 
schaffen,  sondern  das,  welches  der  Vorfahren  tief  religiöser 
Sinn  aufgeführt,  zu  restaurieren,  auszubessern  und  den  ver- 
änderten Zeitverhältnissen  anzupassen.  Ganz  anders  müssen 
die  Versuche  einer  Choralreform  unter  Gregor  XIII.  und  seiner 
Nachfolger  beurteilt  werden.  Zeitlich  fallen  sie  mit  jenen  Ar- 
beiten zusammen,  welche  den  apostolischen  Stuhl  von  1565 — 1614 
beschäftigen;  ihrem  Wesen  nach  aber  sind  sie  traditionsfeind- 
lich und  stehen  aufserhalb  des  Rahmens  der  vom  Tridentinum 
ins23irierten  Reformen;  denn  obschon  in  Trient  die  kirchen- 
musikalische Reform  eigens  besprochen  und  von  mehreren  der 
anwesenden  Prälaten  ernste  Klagen  vorgebracht  wurden,  so 
begnügte  sich  das  Konzil  gleichwohl  mit  einem  allgemeinen 
Verbote,  unwürdige  Musik  im  Gotteshause  zur  Aufführung  zu 
bringen,   weitere   Mafsnahmen   den   Diöcesanoberen   und   den 


14  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Partikularsynoden  überlassend,  die  auch  alsbald  mit  regem 
Eifer  die  ihnen  gewordene  Aufgabe  im  Sinne  des  Tridentinums 
in  Angriff  nahmen,  je  nach  den  Bedürfnissen  und  Gewohn- 
heiten der  einzelnen  Sprengel  etwa  gebotene  kirchenmusika- 
lische Reformen  regelten,  einen  Neudruck  der  alten  Choral- 
melodien veranlafsten  oder  doch  für  eine  handschriftliche 
Kopierung  und  Anpassung  der  Choralbücher  an  das  neue 
Missale  Sorge  trugen. 

P.  Molitor  bespricht  in  dieser  Hinsicht  die  wichtigen  Be- 
stimmungen der  Synoden  von  Gnesen  1578,  Mailand  1582, 
Aix  1585,  Valencia  1590,  Olmütz  1591,  Breslau  1592,  Namur  1601, 
Antwerpen  1610,  der  Agende  für  Polen  1591,  des  Erlasses  des 
Bischofs  Otto  von  Augsburg  1597,  der  Synoden  von  Cambrai 
1565,  von  Besan(jon  1581,  Rheims  1564  und  1583,  der  Refor- 
mationes  generales  von  Krakau  1621  u.  a.  m.  (Siehe  S.  22  ff.) 
Eine  centrale  Leitung  der  Reform  wurde  aber  von  niemandem 
in  Vorschlag  gebracht,  noch  weniger  eine  Bearbeitung  der 
Choralmelodien. 

Dafs  aber  am  Ende  des  16.  und  am  Anfange  des  17.  Jahr- 
hunderts allerorts  fleifsig  an  der  Reform  des  Cantionales  der 
römisch-katholischen  Kirche  gearbeitet  wurde,  beweisen  die 
mannigfachen  Ausgaben  der  Liturgie  mit  Musiknoten.  Be- 
sonders zu  statten  kam  dieser  Reform  des  katholischen  Chorals 
die  Erfindung  des  Notendruckes,  der  nach  und  nach  grofse 
Fortschritte  gemacht  hatte. 

Über  die  ersten  Anfänge  der  nachtridentinischen  Choral- 
reform ist  der  Bericht  eines  römischen  Korrespondenten  am 
spanischen  Hofe  erhalten.  Von  diesem  Briefe,  der  vom 
25.  November  1577  datiert,  giebt  P.  Molitor  die  deutsche  Über- 
setzung. Der  Brief  enthält  eine  bittere,  strenge  Kritik,  einen 
Appell  an  den  Einflufs  und  die  Interessen  der  spanischen 
Krone,  durch  ein  energisches  Veto  den  Weitergang  der  be- 
gonnenen Reformen  zu  hintertreiben. 

Der  Unterschrift  nach  ist  es  Don  Fernando  de  las  Infantas, 
ein  Mann,  den  die  Geschichte  zwar  nicht  zu  den  ersten  Be- 
rühmtheiten jener  Zeit  rechnet,  der  aber  immerhin  als  Kom- 
ponist einen  Namen  hatte  und  auch  bei  König  Philipp  IL  von 
Spanien  in  besonderer  Gnade  stand  oder  wenigstens  durch 
seine  Interpellation  in  hohe  Gunst  kam.  Gregor  XIII.  hatte 
die  Errichtung  einer  Druckerei  oder  die  Vereinigung  der  schon 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom. 


15 


bestehenden  römischen  Offizinen  veranlafst  und  hierzu  selbst 
100000  Dukaten  hinterlegt.      Don   Fernando   berichtet:    »Man 


No.  1.    Titelblatt  aus  dem  Bamberger  Cantional  von  Caesar  de  Zaehariis  Cremonensi 

aus  dem  Jahre  1594. 

(Aus  der  Bibliothek  der  kgl.  Musikschule  iu  Würzburg. ) 


16  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien, 

wünscht  nämlich  in  allen  Sprachen  drucken  zu  können,  damit 
die  Bücher  der  katholischen  Kirche  —  gemeint  sind  hiermit 
wohl  zunächst  die  liturgischen,  dann  aber  auch  die  Schriften 
der  Väter  —  von  den  in  anderen  Ausgaben  verschuldeten 
Mängeln  frei  würden.  Bei  dieser  Gelegenheit  hat  es  nicht 
an  einem  schlimmen  Geiste  gefehlt,  welcher  den  Gedanken  ein- 
gab, auch  die  gregorianischen  Melodien  in  ihrem  gesamten 
Umfange  neu  zu  drucken,  und  dabei  sollten  alle  Choralbücher 
mit  einbegriffen  sein,  und  was  die  Melodien  selbst  betrifft,  viele 
Stellen  eine  Änderung  erfahren,  die,  wie  einige  glauben,  den 
Regeln  der  Tonkunst  nicht  entsprechen.  Dies  ist  jedoch  nach 
meinem  Dafürhalten  nicht  der  Fall.  Schliefslich  wurde  ohne 
weitere  Verständigung  Auftrag  zur  Ausführung  gegeben  und 
die  Angelegenheit  einem  Giovanni  da  Palestrina  und  einem 
zweiten  anvertraut,  die  beide  als  Komponisten  für  die  päpst- 
liche Kapelle  arbeiteten.  Diese  haben  mit  der  Neubearbeitung 
der  Bücher  begonnen.  Obschon  sie  vorgeben,  nur  weniges, 
das  der  Tonart  oder  dem  Accente  nicht  gerecht  wird,  ändern 
und  eine  grofse  Zahl  von  Ligaturen  zur  Vermeidung  der  Weit- 
schweifigkeit entfernen  zu  wollen,  so  läuft  das  ganze  doch 
darauf  hinaus,  dafs  sie  alles  Bestehende  zu  Grunde  richten 
und  dieses  ein  ganz  anderes  Gesicht  bekommt  als  ehedem. 

Mich  schmerzt  die  Sache  sehr,  da  ich  klar  erkenne,  wie 
sie  blind  vom  Wege  abgehen,  so  dafs  ich  mich  zu  dem  Wagnis 
verpflichtet  glaube,  mit  meinen  schwachen  Kräften  seine  Heilig- 
keit und  die  zur  Leitung  dieser  Druckgeschäfte  ernannten 
Kardinäle  aufzuklären  und  ihnen  mit  Gottes  Hilfe  verstehen 
zu  geben,  wie  vorzüglich  der  Choralgesang  der  Kirche  ist  und 
wie  unüberlegt  und  unverständig  das,  was  man  gegen  ihn  vor- 
bringt. Anstatt  die  Melodien  zu  ändern  oder  zu  kürzen,  sollte 
man  sie  vielmehr,  wie  es  auch  immer  geschehen  ist,  in  hohen 
Ehren  halten  als  das  Werk  und  die  Komposition  eines  so 
glorreichen  Heiligen,  wie  St.  Gregorius  war  und  ist;  und  im 
Besitze  solcher  Wertschätzung  befindet  sich  dieser  Gesang 
schon  viele  Jahre  und  führt  darum  auch  den  Namen  grego- 
rianischer Choral,  womit  er,  wie  ich  hoffe,  nicht  schlecht  ver- 
teidigt werden  wird,  zumal  wenn  die  Hilfe  Ew.  Majestät  hinzu- 
kommt.« Zum  Schlüsse  giebt  sich  der  Berichterstatter  der 
guten  Hoffnung  hin,  der  König  werde  »die  Angelegenheit  in 
Wahrheit  einzig  zu  Gottes  Ehre  und  des  genannten  heiligen 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom. 


17 


Ruhme  so  in  Schutz  nehmen,  dals  sie  selbst  zu  Gunsten  Ew. 
Majestät  (d.  h.  des  spanischen  Buchhandels,  der  durch  die  Aus- 
gaben Gregors  XIII.  beeinträchtigt  schien),  gereichen  möge.« 


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INTONATIO 

Scciuidiuu  Rituiii 

Bambcrp;,Cona, 

&Au?iill. 


^^=^ 


O    mi    hc   acladiiiiKiiiduin         nie  fc   Uina 


ef  nunc 


rt  fempct     et  in      fccula  kcw 


— -A  j*_ 


No.  2.    Notenbeispiel  aus  dem  Bamberger  Cantional  von  Caesar  de 
Zachariis  Cremonensi  aus  dem  Jalire  1594. 

(Alis  der  Bibliotliuk  der  kgl.   Musikschule  in  Wür/.luirg.) 

Das  päpstliche  Breve,  welches  Palestrina  und  noch  einen 
anderen  Musiker  —  die  Adresse  nennt  ihn  Annibale  Zoilo  — 
zur  Ausführung  einer  Choralreform  berief,  datiert  vom  25.  Ok- 
tober 1577,   befindet  sich  in  mehrfacher  Abschrift  unter  den 

Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgeschichte.    III.  2 


18  Die  Musikentwicldung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Akten  der  medicäischen  Druckerei  im  Archivio  di  Stato  zu 
Florenz.  P.  Molitor  hat  es  zum  Gegenstand  eingehender  Unter- 
suchungen gemacht;  insbesondere  dabei  die  Fragen  erörtert, 
welche  Absichten  Gregor  XIII.  wohl  bestimmen  mochten,  sein 
Breve  zu  erlassen ;  welchen  Sinn  und  Umfang  er  einer  Reform 
des  Chorals  zugestand.  Was  heilst  Reform?  so  fragt  der  Ver- 
fasser. Etwa  Restauration?  —  Dann  war,  wenn  wir  erwägen, 
dafs  der  Papst  und  ein  Mann  von  der  Bedeutung  Palestrinas 
sich  zu  ihr  verstanden,  dieser  Entsclilufs  eine  Approbation  der 
gregorianischen  Melodien,  wie  sie  höher  nicht  leicht  möglich 
war;  —  oder  müssen  wir  unter  Reform  eine  durchgreifende 
Umgestaltung,  eine  Verurteilung  verstehen?  —  Dann  war  über 
die  Melodien  jener  Zeit  ein  Urteil  gesprochen,  wie  es  bis  dahin 
nicht  erhört  war.  Untersagte  der  Papst  den  ferneren  Gebrauch 
der  herkömmlichen  Choralgesänge  beim  Gottesdienste,  so  war 
diesen  der  rechtliche  Boden  entzogen,  auf  dem  sie  heran- 
gewachsen. Und  hatte  der  Choral  wirklich  aufgehört,  die 
einem  Kunstwerl<:e  unentbehrlichen  Eigenschaften  zu  besitzen, 
so  war  sein  Recht  verwirkt,  der  -^ Gesang  der  Kirche«  zu  sein. 
Indes  läfst  das  Breve  einen  Zweifel  über  Veranlassung  und 
Umfang  der  vom  Papste  intendierten  Reform  nicht  aufliommen. 
Man  hatte  Gregor  XIII.  vorgestellt,  dafs  nach  Erscheinen  des 
reformierten  Breviers  und  Missale  in  den  Ghoralbüchern  Fehler 
mancherlei  Art  in  grofser  Zahl  zu  Tage  getreten  seien;  jedoch, 
niclit  Mängel  und  Abweichungen,  die  sich  im  Laufe  der  Jahr- 
liunderte  eingeschlichen,  sondern  Übelstände  allerjüngsten 
Datums,  verursacht  bei  der  vor  kurzem  notwendig  gewordenen 
Anpassung  des  Choralbuches  an  das  neue  Brevier  und  Missale. 
»Da  man  darauf  aufmerksam  geworden  ist,  dafs  die  Anti- 
phonarien, Gradualien  und  Psalterien,  deren  Choralmelodien 
beim  Gottesdienste  und  der  Feier  der  Offizinen  in  den  Kirchen 
im  Gebrauche  sind,  nach  der  vom  Trienter  Konzil  vorge- 
schriebenen Herausgabe  des  Breviers  und  Missale  (post  editum 
breviarium  et  missale)  infolge  der  Unkenntnis,  Nachlässigl<:eit 
oder  Böswilligl<:eit  der  Komponisten,  Abschreiber  und  Drucker 
voll  sind  von  einer  Unzalil  von  Barbarismen,  Unklarheiten, 
Widersprüchen  und  unnötigem  Beiwerke;  und  da  wir  von 
dem  Wunsche  beseelt  sind,  soweit  Gottes  Beistand  es  gestattet, 
dafür  Sorge  zu  tragen,  dafs  diese  Bücher  dem  genannten 
Brevier  und  Missale,  wie  es  nicht  anders  schicklich  und  passend 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  19 

ist,  entsprechen  und  zugleich  von  allem  Ballaste  entledigt,  frei 
von  den  Barbarismen  und  Unklarheiten  so  hergerichtet  würden, 
dafs  aus  ihnen  Gottes  Name  in  Ehrfurcht,  in  verständlicher 
und  frommer  Weise  könne  verherrlicht  werden:  so  haben  wir 
beschlossen.  Euch,  deren  Erfahrenheit  in  der  Tonkunst  und 
Komposition,  Ergebenheit,  Eifer  und  Gottesfürchtigkeit  so  viel- 
fach bezeugt  sind,  vor  allen  anderen  für  diese  schwierige  Auf- 
gabe zu  erwählen,  in  der  festen  Zuversicht,  dafs  Ihr  unseren 
Wunsch  A^ollauf  befriedigen  werdet. 

Zu  diesem  Zwecke  erteilen  wir  Euch  den  Auftrag,  die  Anti- 
phonarien ....  durchzusehen  und  soweit  es  Euch  gut  er- 
scheinen sollte,  zu  reinigen,  zu  verbessern  und  zu  reformieren, 
und  erteilen  Euch  zu  diesem  Behufe  hiermit  kraft  apostolischer 
Autorität  unbeschränkte  und  freie  Befugnis  und  Ermächti- 
gung. .  .  .«  Palestrina  und  Zoilo  sollten  also  sämtliche  Choral- 
bücher mit  den  fortan  für  die  Liturgie  mafsgebenden  Texten 
in  Brevier  und  Missale  in  Einklang  bringen  und  dabei  die 
aus  früheren  Accommodationsversuchen  entsprungenen  Fehler 
—  genannt  werden  Barbarismen,  Unklarheiten  in  Notation  oder 
Druck,  Widersprüche,  Überflüssiges  —  entfernen.  Dafs  diese 
Erklärung  des  Breve  die  allein  richtige  ist,  bezeugt  die  Rota- 
Entscheidung  vom  2.  Juni  1599:  »Gregor  XIII.«,  so  heilst  es 
daselbst,  »verlieh  durch  Breve  vom  25.  Oktober  1577  den 
wohlunterrichteten  Musikern  P.  A.  Pränestinus  und  A.  Zoilo 
die  Berechtigung,  die  Gradualien  ....  zu  revidieren,  zu  pur- 
gieren und  zu  reformieren  und  dieses  in  der  Art  und  Weise, 
dafs,  was  diese  Bücher  an  Überflüssigem  enthalten,  unterdrückt 
werde  und  sie  nach  Beseitigung  der  Barbarismen  und  Unklar- 
heiten, mit  dem  tridentinischen  Brevier  und  Missale,  wie  es 
recht  und  schicklich  ist,  übereinstimmen.«  Endlich  ist  uns 
bekannt,  wie  das  päj^stliche  Breve  alsbald  nach  seinem  Be- 
kanntwerden von  selten  Palestrinas  interpretiert  wurde.  Die 
Erklärung  des  Meisters  geht  einfach  und  klar  dahin,  dafs  die 
beiden  Musiker  keine  eigentlichen  Änderungen  am  Choral  vor- 
zunehmen hätten.  —  Gregor  XIII.  wollte  keine  Neuerungen 
auf  liturgischem  Gebiete.  Wie  wenig  auch  im  übrigen  die 
Regierung  dieses  Papstes  der  seines  Vorgängers  glich,  so  be- 
folgte er  doch  hinsichtlich  der  Ordnung  liturgischer  Fragen 
dieselben  Grundsätze,  für  die  Pius  V.  gearbeitet  hatte.  Einen 
sprechenden   Beweis    seiner   streng   konservativen  Gesinnung 

2* 


20  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

auf  diesem  Gebiete  gab  der  Papst  im  Breve  vom  25.  Januar 
1575,  das  den  Kitus  der  Mailänder  Kirche  »auf  ewig«  bestätigt, 
und  am  8.  Feb?niar  dieses  Jahres  schrieb  er,  es  sei  Aufgabe 
des  heiligen  Stuhles,  alles,  was  auf  Antrieb  Gottes  oder  durch 
frommen  Eifer  in  der  Liturgie  der  Kirchen  ehemals  zum  Heile 
der  Seelen  angeordnet  worden,  für  alle  Zeiten  gewissenhaft 
zu  erhalten,  und  was  immer  in  Vergessenheit  geraten,  wieder 
ins  Leben  zu  rufen.  Gregor  XIII.  liels  sich  zu  einer  Choral- 
reform bestimmen,  indes  zeigt  sein  Breve  deutlich,  welche  Ab- 
sichten ihn  dabei  leiteten,  welchen  Umfang  er  derselben  zu- 
gestand. 

Einen  anderen  Standpunkt  vertreten  nach  dem  Briefe 
D.  Fernandos  Palestrina  und  Zoilo.  Es  schien  ihnen,  als  ob 
die  alten  Gesänge  nicht  mehr  den  Anforderungen  der  Kunst 
genügten,  für  die  eine  neue  Zeit  mit  neuen  Idealen  angebrochen 
war.  Sie  erhofften  eine  Besserung  der  Melodien,  indem  sie 
dieselben  möglichst  den  Regeln  der  Kunst  anbequemten. 
Während  den  päpstlichen  Kommissionen  zur  Reform  des 
Breviers  und  Missale  als  oberstes  Kriterium  »die  Norm  und 
Regel  der  Väter«  galt,  diente  für  die  beiden  Musiker  als  Mafs- 
gabe  die  Kunst. 

Die  Kirche  hat  die  Grenzen  für  eine  Bethätigung  subjektiver 
Schaffenskraft  auf  dem  Gebiete  der  Kirchenmusik  von  jeher 
sehr  weit  gezogen.  Neben  dem  Chorale  duldet  sie  neue  Kom- 
positionen, polyphone  a-capella,  sogar  instrumentierte  Sätze. 
Umstände  der  Zeit,  des  Ortes,  Zahl  und  Fähigkeit  der  Sänger 
erfahren  hier  weitgehende  Rücksicht.  Trotzdem  ist  die  Kirche 
nie  so  weit  gegangen,  auf  ihren  Choral  zu  verzichten.  Er 
blieb  der  Gesang  des  Priesters  am  Altare  und  des  kanonischen 
Chors. 

An  und  für  sich  stand  ja  einer  Umarbeitung  des  grego- 
rianischen Chorals  kaum  etwas  im  Wege,  sobald  nur  einmal 
die  allgemeine  Überzeugung  sich  darüber  gewifs  war,  dafs 
seine  Melodien  ihrem  Zwecke  in  der  Liturgie  entweder  nicht 
oder  blofs  in  ungenügender  Weise  entsprechen;  dafs  —  unter 
dieser  Voraussetzung  —  eine  Zurückführung  auf  die  ursprüng- 
lichen Formen  damals  unmöglich  war  oder  zu  keinem  ent- 
sprechenden Resultate  führte;  dafs  endlich  die  Kunst  des 
16.  Jahrhunderts  wirklich  Besseres  an  die  Stelle  des  Alten  zu 
setzen  imstande  war.    Inwieweit  diese  eine  Choralreform  recht- 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  21 

fertigenden  Voraussetzungen  damals  zutrafen,  zeigt  uns  der 
zweite  Hauptteil,  in  dem  der  Verfasser  auf  Grund  j^ositiver  An- 
gaben ein  Bild  über  den  Zustand  des  Chorals  zur  Zeit  der 
ersten  römischen  Keformversuche  zu  entwerfen  versucht.  Be- 
sonderes Interesse  verdienen  Kapitel  2,  das  die  italienischen 
Choralnotendrucke  von  1476—1570  sehr  eingehend  und  frühere 
Spezialarbeiten  auf  diesem  Gebiete  ergänzend  bezw.  berich- 
tigend behandelt;  Kapitel  4:  die  kirchlichen  Chöre  des  16.  Jahr- 
hunderts; Kapitel  5:  die  Choralfrage  im  16.  Jahrhundert.  Letz- 
terem Kai^itel  entnehmen  wir  die  Stelle:  »Fehler  abzuleugnen, 
welche  im  Choral  des  16.  Jahrhunderts  thatsächlich  vorhanden 
waren,  oder  dieselben  auch  nur  zu  beschönigen,  haben  wir 
heute  wahrlich  keinen  Grund.  Die  Berichte,  welche  oben  mit- 
geteilt wurden,  erkennen  ein  Für  und  Wider  in  der  Choral- 
tradition an.  Aber  keiner  derselben  stellt  die  Möglichkeit  oder 
Konvenienz  einer  Restauration  in  Abrede  und  sollten  auch 
unsere  Ausführungen  lückenhaft  sein,  so  erlauben  sie  doch, 
ein  ernsthaftes  Fragezeichen  hinter  die  Behauptung  zu  setzen, 
dafs  vor  Beginn  der  römischen  Choralreform  >alles  nach  Kür- 
zung der  langen  Choralmelodien<  gerufen  hätte  und  >schon 
mehr  denn  hundert  Jahre<  hindurch  eine  Stimmung  >in  der 
Luft  gelegen  hat,  die  dem  usuellen  Gesänge  des  Mittelalters 
durchaus  ungünstig  war<.« 

Soviel  von  der  sogenannten  Reformation  oder  Regeneration 
der  katholischen  Kirchenmusik  zur  Zeit  Palestrinas. 

Warum  nannte  Palestrina  jene  bekannte  Messe  »Missa  Pajiae 

Marcelli«  ? 

Palestrina  hat  jene  Messe  in  Erinnerung  an  den  nur  21  Tage 
an  der  Regierung  gewesenen  Papst  Marcellus  genannt,  weil 
derselbe  von  der  Absicht  beseelt  war,  den  Gottesdienst  der 
römisch-katholischen  Kirche  wieder  auf  seine  echte  Feier- 
lichkeit zurückzuführen.  (Leopold  von  Ranke  sagt  vom 
Papst  Marcellus  IL:  »Marcellus  IL  stellte  die  Reformation 
der  Kirche,  von  der  die  anderen  nur  schwatzten,  wirklich 
in  seiner  eigenen  Person  dar.«) 

Wann    trat   Palestrina    zum    zweitenmale    die    Stellung    eines 

Kapellmeisters  am  St.  Peter  an? 

Im  Jahre  1571.  In  seiner  Stellung  als  Kapellmeister  am 
St.    Petersdome    trat    Palestrina    in    freundschaftliche    Be- 


22  Die  Musikentwickluug  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Ziehungen  zu  Filippo  Neri,  für  dessen  Schulet"  er  klemere 
Stücke  komponierte.  Fihppo  Neri  nannte  seine  im  Oratorium 
stattfindenden  Vorträge  aus  der  biblischen  Geschichte,  die 
er  durch  darauf  bezügliche  Gesänge  unterbrechen  liefs, 
»Azioni  sacre«,  aus  denen  sich  die  Kunstgattung  des  Ora- 
toriums (sogenannt  nach  dem  Räume,  in  welchem  die  geist- 
lichen Übungen  stattfanden)  entwickelte. 

Wo  und  wann  erschien  Palestrinas  zweites  Buch  Madrigale? 
In  Venedig  im  Jahre  1586. 

Welcher   Papst    ernannte   Palestrina    zum   Gompositore    della 
Capella  apostolica? 

Papst  Sixtus  V.,  der  Nachfolger  Gregors  XIIL,  dem  Palestrina 

drei  Messen  gewidmet  hatte. 

Welches  berühmte  Werk  verfalste  Palestrina  als  Gompositore 

della  Gapella  apostolica? 

Die  Lamentationen,  welche  er  dem  Paj^st  Sixtus  V.  widmete. 
Von  Interesse  ist  die  Dedikationsrede,  die  diesem  Werke 
voraufgeht;  sie  läfst  uns  einen  Einblick  in  Palestrinas  Ver- 
hältnisse thun:  »Heiligster  Vater!  Wenn  schon  Sorgen  aller 
Art  mit  den  Studien  sich  nicht  vereinen  lassen,  so  ganz 
besonders  diejenigen  nicht,  welche  der  Mangel  an  Vermögen 
mit  sich  bringt.  Wenn  die  Mittel  A^orhanden  sind,  die  man 
zum  Leben  nötig  hat,  —  mehr  zu  verlangen  wäre  ein  Zeichen 
von  Unmäfsigkeit  und  Unbescheidenheit  —  kann  man  sich 
der  übrigen  Sorgen  leichter  entschlagen.  Wie  drückend  ist 
es,  arbeiten  zu  müssen,  um  sich  und  den  Seinigen  einen 
standesgemäfsen  Lebensunterhalt  zu  verschaffen,  und  wie 
sehr  dies  den  Geist  vom  Studium  der  Wissenschaft  abhält, 
kann  nur  derjenige  beurteilen,  der  Erfahrung  darin  hat. 
Ich  habe  es  stets  erfahren  und  erfahre  es  augenblicklich 
am  härtesten.« 

In  welchem  Jahre  erschien  Palestrinas  Hymnen  werk  »Hymnen 
für  das  ganze  Kirchenjahr«? 
Im  Jahre  1589. 

Wem  widmete  Palestrina  das  fünfte  Buch  seiner  Messen? 
Dem  Herzog  Wilhelm  II.  von  Bayern  im  Jahre  1590. 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  23 

In  welchem  Jahre  erschienen  Palestrinas  »Offertorien  für  das 
ganze  Kirchenjahr«? 
Im  Jahre  1593. 

Wann  erfolgte  der  Tod  Palestrinas? 

Im  Jahre  1594  am  2.  Februar.  —  Filippo  Neri  reichte  Palestrina 
die  heiligen  Sterbesakramente.  Die  sterblichen  Überreste 
Palestrinas  wurden  im  St.  Peter  am  Altare  St.  Simon  und 
Juda  beigesetzt.  Sein  Grabmal  schmückt  die  Aufschrift: 
»Princeps  musicae«  (Fürst  der  Musik). 

Worin   beruht   die   Bedeutung   Palestrinas   für   die  kirchliche 
Tonkunst? 

Palestrinas  Bedeutung  für  die  kirchliche  Tonkunst  beruht 
darin,  indem  er  das  zum  herrlichen  Abschlüsse  brachte, 
was  frühere  Zeiten  durch  ihre  Bestrebungen  vorbereitet 
hatten. 

Worin  wurzelt  Palestrinas  Stil? 

Palestrinas  Stil  wurzelt  im  gregorianischen  Kirchengesange, 
hat  den  Charakter  heiliger  Würde  und  ist  frei  von  allen 
scholastischen  Fesseln  des  Mittelalters.  (Thibaut  sagt  in 
seinem  Werke  »Über  Reinheit  der  Tonkunst«,  Heidelberg 
1825,  über  Palestrinas  Stil:  »Man  pflegt  den  eigentlichen 
Kirchenstil  nach  ihm  den  Palestrinastil  zu  nennen,  obgleich 
vor  und  neben  ihm  auch  andere  in  demselben  Stil  kom- 
ponierten, z.  B.  der  Deutsche  Senfl,  der  Spanier  Morales, 
der  Flamländer  Orlando  di  Lasso  und  andere  herrliche 
Meister.  Auch  in  den  ersten  150  Jahren  nach  Palestrina 
ward  in  Italien  noch  viel  in  jenem  Stile  komponiert,  selbst 
von  Meistern,  welche  zugleich  im  Fache  der  belebten  (welt- 
lichen) Musik  arbeiteten,  wie  z.  B.  von  A.  Lotti,  von  Durante 
und  A.  Scarlatti.  Thibaut  sagt  weiter:  »Die  alten  Kirchen- 
sachen haben  alle  einen  lateinischen,  einfachen  erhabenen 
Text.  Keine  deutsche  Sprache  ist  imstande,  das  Grofse, 
Volltönende,  Ernste  dieser  lateinischen  Worte  wiederzugeben. 
Die  echte  geistliche  Musik  ist  weder  durchaus  mannigfaltig, 
noch  leidenschaftlich,  weil  ihr  Gegenstand  einfach  überirdisch 
ist.  Sie  setzt  also  ein  tiefes,  beruhigtes,  in  sich  gekehrtes, 
reines  Gemüt  und  eine  gediegene  Macht  der  Seele  voraus. 


24  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

welche  das  Erhabene  lange  imvermischt  ertragen  kann, 
und  durch  die  Inbrunst  nicht  zur  weltlichen  Leidenschaft 
hingerissen  wird.«  Thibaut,  der  an  Palestrinas  Musik  Un- 
schuld, Einfalt  und  Kraft  rühmt,  meint,  dafs  »alles  zunächst 
auf  die  lautere  Darstellung«  dieser  Werke  ankäme  und  er- 
zählt eine  Anekdote,  die  auch  hier  Platz  finden  möge:  Die 
unsterbhchen  Stücke,  welche  in  der  Karwoche  in  Rom  von 
den  päpstlichen  Sängern  vorgetragen  werden,  und  mit  Recht 
stets  von  den  gröfsten  Meistern  bewundert  sind,  wurden 
lange  Zeit  niemand  mitgeteilt.  Endhch  erhielt  sie  der  Kaiser 
Joseph  IL  vom  Papst.  Sie  wurden  gleich  darauf  in  Wien 
versucht,  aber  Joseph  IL  schrieb  dem  Papste:  »man  könne 
in  Wien  eben  nichts  daran  finden«.  Der  Papst  antwortete 
kurz:  »man  möge  sie  in  Wien  wohl  nicht  zu  singen  wissen«. 
Man  kann  Palestrina  in  Parallele  mit  Rafael  Santi  stellen. 
Eine  Parallele  zu  Rafaels  Madonnenbildern  bilden  die 
Marienlieder  Palestrinas,  welche  als  eine  eigene  Gruppe 
seiner  Kompositionen  aufzufassen  sind. 

Welche  Schöpfungen  umfassen  Palestrinas  Werke? 

8  Bände  mit  360  Motetten,  14  Bände  mit  93  authentischen 
Messen,  1  Band  Hymnen,  2  Bände  Lamentationen,  1  Band 
Magnifikat  und  2  Bände  Madrigale. 

Für  den  praktischen  Gebrauch  sind  auf  Grundlage  der  Gesamtaus- 
gabe von  Haberl,  Haller,  Mitterer  u.  a.  folgende  ausgewählte  "Werke 
Palestrinas  herausgegeben  worden : 

Missa:  Aeterna  Christi  numera  für  Alt,  Tenor,  Bariton  und  Bafs. 
Motette:  Exaudi  Domine  für  Sopran,  Alt,  Tenor  und  Bafs. 
Feria  V.   in   coena  Do  mini.     Erste    Lamentation   des   Gründonners- 
tages für  Tenor  I,  II  und  Bafs  I,  II. 
Feria  VI.  in   Par-asceve.     Zweite  Lamentation    des  Karfreitages   für 

Tenor  I,  II  und  Bafs  I,  IL 
Sabbato  Sancto.     Dritte  Lamentation  des  Karsamstages   für  Tenor  I, 

II  und  Bafs  I,  IL 
Missa:  Dies  sanctificatus  für  Sopran,  Alt,  Tenor  und  Bafs. 
In  FestoNativitatisDomini.    Motette:  Dies  sanctificatus  für  Sopran, 

Alt,  Tenor  und  Bafs. 
Motette:  Sicut  cervus  desiderat  für  Sopran,  Alt,  Tenor  und  Bafs. 
In  Festo  S.  Martini  Episc.  et  Confess.    Motette:  O  quantus  luctus 

für  Sopran,  Alt,  Tenor  und  Bafs. 
Missa:  O  sacrum  convivium  für  Sopran,  Alt,  Tenor  I,  II  und  Bafs. 
Dominica  Resurrectionis  Domini.     Offertorium  für  das  Osterfest 

für  Sopran,  Alt,  Tenor  I,  II  und  Bafs. 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  25 

In  die  Ascensionis  Domini.  Offertorium  am  Feste  Christi  Himmel- 
fahrt für  Sopran,  Alt,  Tenor  I,  II  und  BaXs. 

In  Dominica  Pentecostes.  Offertorium  am  Pfingstfeste  für  Sopran, 
Alt,  Tenor  I,  II  und  Bafs. 

Motette:  O  admirabile  commercium  für  Cantus,  Alt,  Tenor  I,  II  und 
Bafs. 

Sabbati  sancti.  3.  Lamentation  des  Karsamstages  für  Sopran  I,  II, 
Alt,  Tenor,  Bariton  und  Bafs. 

Motette:  0  bone  Jesu.    Für  Sopran  I,  II,  Alt,  Tenor  I,  II  und  Bafs. 

Improperia.    Feria  VI.  in  Parasceve  für  achtstimmigen  Doppelchor. 

Wer  ist  als  erster  Biograph  Palestrinas  zu  merken? 

Abbate  Giusepi^e  Baini,  geb.  1775  in  Rom,  gest.  daselbst 
1844  als  Kirchenkomponist  und  Musikgelehrter.  Von  ihm: 
Messen,  Motetten,  Hymnen  und  Psalmen,  sowie  ein  »Miserere«, 
welches  während  der  Karwoche  in  der  sixtinischen  Kapelle 
zur  Aufführung  gelangte.  Bekannt  ist  vor  allem  sein  zwei- 
bändiges Werk  »Memorie  storico-critiche  della  Aita  e  delle 
opere  di  Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina«  1881. 

Wie  heifsen  die  Musikgattungen  der  Palestrinazeit  auf  kirch- 
lichem Gebiete? 

Messe,  Motette,  Psalm  (besonders  der  50.  Psalm:  Miserere), 
Madrigale  spirituale,  Hymne  (Lobgesang),  Litanei  (Kirchen- 
gebet), Antiphonie  (Wechselgesang),  Passionsmusik  nach 
Evangehen,  Magnifikat  (Marianischer  Lobgesangj,  Offer- 
torium, Lamentationen,  Improperien,  Missa  pro  defunctis 
und  Falsi  bordoni. 

Welche  Arten  von  Messen  sind  (liturgischer-  und  musikalischer- 
weise) zu  unterscheiden? 

Die  Messe  beim  Hochamte  und  die  Messe  für  die  Ver- 
storbenen (Missa  pro  defunctis  oder  Totenmesse).  Jede 
Messe  besteht  aus  sechs  Sätzen:  1.  Kyrie  eleison.  Christe 
eleison.  2.  Gloria  (Lobgesang).  3.  Credo  (Glaubensbekennt- 
nis). 4.  Sanctus  und  Ossanna  (Heihg).  5.  Benedictus  (Segens- 
spruch). 6.  Agnus  Dei  und  Dona  nobis  pacem  etc.  (»O 
Lamm  Gottes«  und  »Gieb  uns  Frieden«  u.  s.  w.) 

Was  ist  unter  Motette  (Motetto,  Motettus)  zu  verstehen? 
Unter  Motette  versteht  man  ein  kurzes,  geistliches  Chorstück 
in   a-capella- Stile;    denn    meistenteils    waren   die    Motetten 


26  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

ohne  jegliche  Begleitung.  Motettus  ist  ursprünglich  ein 
weltlicher  Gesang,  jedoch  in  kontrapunktischer  Weise  ge- 
setzt. Franko  von  Köln,  der  älteste  auf  uns  gekommene  Schrift- 
steller über  die  Mensuraltheorie  (Ende  des  12.  und  Anfang 
des  13.  Jahrhunderts),  erwähnt  als  erster  bei  Gelegenheit  des 
Diskantus  den  Motettus.  Das  Wort  selbst  stammt  von  »Mot«, 
worunter  die  provengalischen  Troubadours  einen  Vers  ver- 
standen. Geistliche  Texte  wurden  erst  sj)äter  verwandt. 
Der  Musikgelehrte  Tinctor  (Neapel)  erklärt  um  1470  die 
Motette  als  ein  Tonstück,  welches  einen  wenig  ausgedehnten 
Gesang  mit  verschiedenem,  gewöhnlich  mit  religiösem  Texte 
repräsentiert.  Am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  wurden  in 
den  höheren  Kreisen  der  italienischen  Gesellschaft  Motetten 
zur  Unterhaltung  derselben  vorgetragen.  —  (Castiglione 
erzählt  in  seinem  »Cortegiano«  scherzhaft  die  Anekdote, 
dafs  eine  im  Hause  der  Herzogin  von  Urbino  gesungene 
Motette  ohne  Eindruck  auf  die  Versammlung  vorüberging, 
bis  es  angezeigt  wurde,  dafs  dieselbe  eine  Arbeit  des  be- 
rühmten Josquin  des  Pres  gewesen  sei  und  alle  nun  natür- 
licherweise in  Entzücken  ausbrachen.) 

Was  ist  unter  »Offertorium«  zu  verstehen? 

Unter  »Offertorium«  ist  ein  Opfergebet  zu  verstehen,  und 
zwar  dasjenige,  welches  in  der  Messe  zwischen  Credo  und 
Sanctus  eingeschoben  werden  kann.  (Die  Worte  des  Offer- 
toriums  haben  meistens  Bezug  auf  die  Bedeutung  des  Tages 
oder  der  Festzeit.) 

Was  ist  unter  »Lamentationen  zu  verstehen? 

Unter  »Lamentationen«  versteht  man  Klagegesänge,  und  ganz 
besonders  sind  es  die  Klagelieder  Jeremiä,  welche  von  den 
Kirchenkomponisten  bevorzugt  wurden. 

Was  ist  unter  »Improperien«  zu  verstehen? 

Unter  »Improperien«  (von  improperium  =  Schimpf,  Be- 
schimpfung, Vorwurf)  versteht  man  jene  Gesänge,  welche 
in  Kom  am  Karfreitage  früh  bei  Anbetung  des  Kreuzes 
gesungen  wurden. 

Was  bedeutet  »Falso  bordone«  oder  »faux  bourdon«? 

»Falso  bordone«  oder  »faux  bourdon«  bedeutet  eine  Art 
des  Psalmodierens,  bei  welchem  der  eigentliche  Grundton 


1.   Die  Musikentwicklimg  auf  dem  Boden  von  Rom. 


27 


^DI  ANNIBALLE  CÖmX^*^ 

MANTOVANO    IL    PRIMO    LIBRO    DE    MADRI» 

CA  1.1     A    CINQ^VE     VOCl,     CON     VNO     DIALOGO 

A  Otto,NoiuracnteJ»LuiCompofti,&ptrAntonioGJrdjnoftampati 

&(latiinl.ucc. 


A    CIN  qj/  E 


VO  C  ! 


InVcnctia  ApprcObdi 
Antonio  (Jurdano. 


No.  3. 

Titelblatt  von  Anniballe  Coma:   Madrigal!  a  5  voci  1568. 

(In  Venetia  Appresso  di  Ant.  Gardana.) 


W'  ■  I' 


r  C ANTO 


All'lSußrisfmo  ij  fmJlmtisßmt  Sifftm  tw«  Jf  nätM». 


\1>S 


•^'•Jfc  gi       t  vM  g:r!^e'i  fo  H  »/««JSu  tupfe  /iorj     pfu  lo^  f OK  Tf(i 

f'  "  wÄ'  M^o         mir'l  mm  /ii  t'ianort      (w/f  /  irmh  t'ivnol  indei  monJi  tl»««  . 


m:S-?:- 


3-1^: 


frff    figior  cy*corttfe    ftgw  dtiie'tffer  ffito. 


Ali 


No.  4. 


Notenbeispiel  von  Anniballe  Coma:   Madrigal!  a  5  voci  1568. 
(In  Venetia  Appresso  d!  Ant.  Gardana.) 


28  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

in  der  Oberstimme  liegt,  zu  dem  die  unteren  Stimmen  in 
lauter  Sext-Accorden  fortschritten.  (Über  Falsi  bordoni, 
wie  dieselben  heute  in  den  Vespern  der  katholischen  Kirche 
gesungen  werden,  siehe:  »Vesperae  de  Epiphania  Domini  ad 
4  voce  inaequales  von  J.  B.  Molitor«,  Regensburg  1879; 
ferner  »Vesperae  de  Confessoribus  non  Pontificis«  für  ge- 
mischten Chor  von  O.  Joos,  Op.  6,  Augsburg,  A.  Böhm.) 

Wie  hielsen  die  Musikgattungen  der  Palestrinazeit  auf  aulser- 

kirchlichem  Gebiete? 

Das  weltliche  Madrigal,  die  Villanellen(Villotes,Villoten, 
Canzone  villanesche,  d.  h.  Dorf-  oder  Bauernlieder,  dem  Text 
nach  meist  frivoler  Art,  ohne  etwas  Volkstümliches  zu  be- 
sitzen. Die  Villote  alla  Neapolitana  war  von  feinerer  aber 
lasciver  Natur  und  bildete  eine  eigene  Species  unter  den 
Villoten,  welche  in  Italien  um  das  16.  Jahrhundert  eine 
grofse  Verbreitung  gefunden  hatten,  in  den  höchsten  Kreisen 
gesungen  wurden.)  Balli,  Ballati,  d.  h.  Tanzlieder,  Frot- 
toles,  d.  h.  kleine  Lieder  lustigen  und  frivolen  Inhaltes 
gleich  unseren  Gassenhauern.  (Petrucci  veröffentlichte  in  den 
Jahren  1504 — 1508  neun  Bücher  solcher  »Frottoles«,  mehr- 
stimmige Gesänge  im  einfachen  Kontrapunkte,  welche  die 
seichte  Ware  der  Musiklitteratur  jener  Zeit  in  der  auf  ser- 
kirchlichen Musik  darstellen.)  Ferner  sind  noch  zu  er- 
wähnen: die  »Macherate«  (Mäskenlieder),  Barcajuole  (Schiffer- 
lieder), Carnascioleschi  (Karnevalslieder)  und  Maggiolate 
(Mailieder);  letztere  wurden  nicht  nur  in  Italien,  sondern 
auch  in  anderen  Ländern  Europas  in  den  ersten  Tagen  des 
Maies  von  Jünglingen  zum  Tanze  um  einen  unter  dem  Fenster 
der  Geliebten  aufgepflanzten  Maibaume  gesungen. 

Was    ist    unter    »Madrigal«    (Madrigale,    Madriali)    zu   ver- 
stehen ? 

Unter  »Madrigal«  ist,  wörtlich  genommen,  ein  Schäfergedicht 
zu  verstehen;  denn  der  Name  stammt  von  »mandra«  die 
Schafherde  —  mandrano  und  mandriale  heilst  der  Schäfer. 
Sein  Geburtsort  ist  die  Provence,  von  wo  es  nach  Italien 
kam.  Casella,  der  Freund  Dantes,  wird  als  einer  der  ersten 
genannt,  welcher  Madrigale  von  Lemno  in  Pistoja  kompo- 
nierte.    Der  Inhalt  der  Madrigale  war  meist  erotischer  und 


1.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  29 

pastoraler  Natur.  Der  Begründer  der  altvenetianischen 
Tonschiile,  Adrian  Willaert,  gab  ihm  die  tj^pische  Form,  die 
es  durch  das  16.  und  17.  Jahrhundert  beibehielt,  indem  er 
es  aus  dem  noch  einfachen  und  ziemlich  unbeholfenen 
Frottole  des  Venetianer  Tonsetzers  entwickelte.  Mit  ihm  ver- 
vollkommneten seine  Landsleute  Verdelot  und  Arcadelt  das 
Madrigal.  Dasselbe  bildete  gewissermafsen  die  freie  Kunst- 
form der  weltlichen  Musik  gegenüber  der  strengen  kirch- 
lichen, die  als  Kammermusik  in  den  Kreisen  der  höheren  Ge- 
sellschaft in  damaliger  Zeit  viel  kultiviert  wurde.  Von  Italien 
seinen  Ausgang  genommen,  verbreitete  sich  das  Madrigal 
über  Deutschland  bis  nach  England,  wo  es  zu  hoher  Blüte 
gelangte.  (Siehe  über  diesen  Punkt  die  Madrigalisten  in 
England  in  Band  VI.)  Freier  und  vielgestaltiger  trat  das 
Madrigal  der  Motette  gegenüber;  denn  während  in  den  mit 
den  Madrigalen  gleichzeitigen  Kirchenkompositionen  die 
alten  Tonarten  mit  ihrer  Diatonik  herrschten,  wurde  bei  den 
Madrigalen  schon  die  Chromatik  angewendet.  Neben  den 
weltlichen  Madrigalen  gab  es  auch  geistliche  Madrigale 
(madrigale  spirituale),  jedoch  waren  die  ersteren  die  ge- 
bräuchlichsten. Das  Madrigal  war  meistens  ein  im  freien, 
d.  h.  nicht  im  strengen  Kontrapunkte  gesetztes  für  drei, 
vier  bis  sieben  Stimmen  komponiertes  Gedicht,  welches  das 
Lob  der  Naturschönheiten  und  die  Liebe  zum  Gegen  stände 
hatte.  Das  Versmafs  der  Madrigale  war  meist  jambisch,  die 
Anzahl  der  Zeilen  nicht  unter  sechs  und  nicht  über  drei- 
zehn. Von  den  damaligen  Frottolen,  Villanellen  und  Kanzo- 
netten,  welche  in  Rhythmik  und  Kontrapunktik  einfach  ge- 
halten waren,  unterschied  sich  das  Madrigal  durch  eine 
kunstvollere  Gestaltung  und  vertrat  im  Zeitalter  der  Re- 
naissance die  Stelle  des  modernen  einstimmigen  Liedes  mit 
Begleitung,  überhaupt  bildete  es  die  Kammermusik  jener 
Zeit  und  in  den  späteren  dramatischen  Werken  den  Chor. 
Man  verstand  in  jener  Zeit  unter  Madrigalstil  im  allge- 
meinen den  freien  und  anmutig  heiteren  musikalischen  Aus- 
druck gegenüber  dem  von  der  Kirche  dargebotenen;  der 
»Stylus  madrigalescus«  wurde  damals  als  dem  »Stylus 
ecclesiasticus«  entgegengesetzt  betrachtet. 

Morhof    schreibt    in    seinem    Buche    von    der    deutschen 
Sprache  und  Poesie  (1700)  Seite  586:  »Das  Madrigal  ist  zur 


30 


Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 


Musik  erfunden  und  angesehen  in  den  Singspielen,  die  fast 
durchgehende  Madrigale  sind,  und  wird  mit  stylo  recitativo 


ff^Z.    ^  §\%^ 


DI    GIOVAN     JSTÄS  Cdy 

LE  CANZON  VILLANES^CHE 

ALLA      NAPOLIT  A  N'A 


Aqi 


luatrovocir- 

Nouamcme  da  lui  compoflo  &  dato  inluce. 
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InVinegia ,  ApprcfTo  Girolamo  Scotto . 
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No.  5.     Titelblatt  von  Le  Canzon  villanesclie  alla  napolitaiia  a  4  voci. 
(In  Vinegia  appresso  Girolama  Scotto  1561.) 

exprimiert.«  —  In  Walthers  musikalischem  Lexikon  vom 
Jahre  1732  ist  auf  Seite  376  zu  lesen:  »Die  italienischen 
Schauspiele  sind  fast  durchgehends  Madrigale«.  —  Mattheson 
sagt  in  seinem  »Kapellmeister«  Seite  78:   »Der  Madrigalstil 


1.   Die  Musikentwickhmg  auf  dem  Boden  von  Rom. 


31 


gehört  sowohl  dort  (in  der  Kirche)  als  auf  der  Schaubühne 
und  in  den  Sälen  und  Zimmern  zu  Hause.     Ja,  er  will  zu 


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(In  Vinegia  appresso  Girolanio  Scotto  15G1.) 

diesen  Zeiten  fast  alles  in  allem  sein.  Oratorien,  sogenannte 
Passiones,  Selbstgespräche,  Unterredungen,  Kavaten,  Morgen- 
und  Abendmusiken  (aubades  et  serenades),  Kantaten  und 
Arien  und  insonderheit  die  Recitativen,  welche  im  Grunde 


32  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

das  eigentliche  madrigalische  Wesen  in  sich  haben,  alles 
hat  dieser  Stil  unter  seiner  Gewalt.  Ja,  die  Opern  selbst 
sind  lauter  historische  Madrigale.« 

(Neuerlich  hat  Dr.  M.  Seifert  die  sechsstimmigen  Madrigale 
von  Jan  Tollius  von  1597  bearbeitet  und  herausgegeben, 
auf  die  hier  hingewiesen  sein  soll.) 

Welche  Männer  waren  unmittelbare  Schüler  Palestrinas? 
Guidetti,  der  Palestrina  bei  der  ihm  vom  Papst  Gregor  XIII. 
aufgetragenen  Durchsicht  des  römischen  Graduals  und  Anti- 
phonars behilflich  war. 

Giov.  Andrae  Dragoni,  geb.  1516  in  Meldola,  gest.  1594 
als  Kapellmeister  am  Lateran. 

Annibale  Stabile,  war  von  1575—76  Kapellmeister  am 
Lateran,  später  an  S.  Apollinare,  von  1592  an  an  S.  Maria 
maggiore. 

Wer  war  der  persönliche  Nachfolger  in  Palestrinas  Stellung? 

Ruggiero  Giovanelli  aus  Velletri,  derselbe  wurde  am 
12.  März  1594  Kapellmeister  am  St.  Peter,  nachdem  er  zuvor 
an  den  Kirchen  S.  Luigi  de  Francesi  und  S.  Maria  dell'  anima 
in  Rom  gewirkt  hatte;  Giovanelli  ist  Komponist  von  Messen 
und  Motetten,  welche  im  Archive  der  sixtinischen  Kapelle 
aufbewahrt  sind.  (Als  Giovanelli  seine  Stellung  am  St.  Peters- 
dom angetreten  hatte,  schrieb  er  ein  Miserere,  das  stets 
aufgeführt  wurde,  bis  Allegri  mit  seinem  so  berühmt  ge- 
wordenen Miserere  dasselbe  verdrängte.) 

Welche   Männer    waren   Palestrinas   bedeutende   musikalische 
Zeitgenossen  und  Nachfolger? 

Giovanni  Maria  Nanini,  geb.  1545  in  Tivoli,  gest.  1607 
in  Rom;  derselbe  war  Schüler  Goudimels,  kam  jedoch  später 
als  Palestrina  zu  diesem.  Nanini  erhielt  unmittelbar  auf 
Palestrina  die  Kai^ellmeisterstelle  an  S.  Maria  maggiore. 
G.  M.  Nanini,  der  in  Rom  eine  Musikschule  gründete,  an  der 
auch  Palestrina  als  Lehrer  wirkte,  war  als  Musikgelehrter 
und  schaffender  Künstler  gleich  grofs.  Bedeutende  Kompo- 
sitionen Naninis  sind:  Die  Weihnachtsresponsorien  »Hodie 
nobis   coelorum   rex«    (sechsstimmig)   und    »Hodie   Christus 


1.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  33 

natus  est«  (vierstimmig);  die  Motetten  »Veni  si)onsa  Christi 
(fünfstimmig),  »Exaiidi  nos«,  »Haec  dies  quam  fecit  Domi- 
nus« (fünf stimmig)  und  ein  »Stabat  mater«.  Ferner  sind 
G.  M.  Naninis  »Lapidabant  Stephanum«  und  »Hie  est  bea- 
tissimus  Apostolus  Joliannes«  (dreistimmig)  bedeutende  kon- 
trapunktische Werke  aus  dem  Jahre  1586,  in  welchem  sich 
unter  dem  gregorianischen  Cantus  firmus  zwei  andere 
Stimmen  im  strengsten  Kontrapunkte  in  der  Quinte  und 
Oktave  bewegen.  Endhch  sind  von  G.  M.  Nanini  noch  zu 
erwähnen:  »Cantate  Domino  canticum  novum«  (zweicliörig) 
und  »O  altitudo  divitarum«.  Ein  Traktat  Naninis,  der  hand- 
schrifthch  vom  päpstlichen  Sänger  Orazio  Gritti  zu  Rom  in 
der  korsinischen  Bibliothek  erhalten  ist,  heilst:  »Regole  di 
Giov.  Maria  e  di  Bernardino  Nanini  per  fare  contrapuncte 
a  mente  sopra  il  Canto  fermo«. 

Giovanni  Bernardino  Nanini,  geb.  1560  in  Vallerano 
(der  sogenannte  jüngere  Nanini),  Bruder  des  Giovanni 
Maria  Nanini  und  Schüler  desselben,  war  Kapellmeister  an 
S.  Luigi  de  Francesi,  sowie  später  an  S.  Lorenzo  in  Damaso. 
Vielen  seiner  Chorwerken  ist  bereits  eine  grundlegende 
Orgelstimme  beigegeben  (una  cum  gravi  voce  ad  organi 
sonum  accomodata).  1612  erschien  von  ihm  eine  Sammlung 
Madrigale  »con  licenza  de  superiori«,  wie  es  auf  dem  Titel- 
blatte heilst.  Erwähnenswert  von  ihm  ist  auch  ein  zwölf- 
stimmiges Salve  regina.  G,  B.  Nanini  war  der  Lehrer  von 
Orazio  Benevoli  (gest.  1672),  des  1690  gestorbenen  Bernabei, 
sowie  AUessandro  Scarlattis,  des  Begründers  der  neapoli- 
tanischen Tonschule;  er  starb  1624  in  Rom. 

Feiice  Anerio,  geb.  1560  in  Rom,  gest.  daselbst  1630. 
Anerio  war  als  bedeutender  Tondichter  1551  Palestrinas 
Nachfolger  am  St.  Peter.  Von  ihm:  Motetten  von  vier  bis 
zwölf  Stimmen,  vierstimmige  Improperien,  ein  zwölfstimmiges 
»Dies  irae«,  ein  achtstimmiges  (zweichöriges)  Miserere,  ein 
Buch  fünfstimmiger  geistlicher  Madrigale  (1585  bei  Gardano 
erschienen),  sowie  ein  vierstimmiges  »Adoramus  te  Christe«. 

Giovanni  Francesco  Anerio,  geb.  1567  in  Rom,  gest. 
daselbst  1620.  War  ebenfalls  Kapellmeister  und  Komponist 
von  Kirchengesangsstücken.  Es  ist  zweifelhaft,  ob  er  ein 
Bruder  von  Feiice  Anerio  ist. 

Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgescliichte.    III.  3 


34  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Gregorio  Allegri,  geb.  1560  in  Rom,  gest.  daselbst  1652. 
Allegri  war  Schüler  G.  M.  Naninis,  trat  1628  als  Sänger  in 
die  päpstliche  Kapelle  und  wurde  berühmt  durch  sein  doppel- 
chöriges  Miserere,  welches  er  um  1635  als  Sänger  der  päpst- 
lichen Kapelle  komponierte.  Das  »Miserere«  ist  der  51.  Psalm, 
der  am  Mittwoch  nachmittags  um  4  Uhr  in  der  Karwoche 
in  der  päpstliclien  Kapelle  bis  auf  Leo  X.  als  einfaclie 
falso-bordonartige  Psalmodie  gesungen  wurde.  Musil^alisch- 
künstleriscli  gestalteten  das  Miserere  Komponisten  wie 
Festa  (1517)  und  viele  andere  spätere  nach  ihm,  bis 
endlich  Allegris  Miserere  alle  vorhergehenden  durch  seine 
eigentümliche  Wirkung  besiegte.  —  Ambros  sagt  über 
das  Miserere  von  Allegri:  »Der  eigentümliche  Stil  des 
Miserere  ist  wesentlich  aus  seiner  Entstehung  in  der  päpst- 
lichen Kapelle  zu  erklären«.  »Die  Traditionen  der  früheren 
Zeit  der  einfachen  Falsi  bordoni,  wie  der  Kunstkompositionen 
seiner  (Allegris)  Vorgänger  mit  abwechselnden  vier-  und 
fünfstimmigen  Stroj)hen  und  der  neunstimmigen  Schluls- 
strophe,  sind  darin  durchaus  wieder  zu  erkennen,  an  man- 
chen Stellen  wird  den  Sängern  nur  der  Accord  für  eine 
Menge  von  Textsilben  vorgeschrieben,  deren  richtige 
Accentuierung  ihnen  selbst  überlassen  bleibt,  es  sind  Falsi 
bordoni.  Andere  ähnliche  Partien,  bei  denen  die  Harmonie 
wechselt,  sind  selbstverständlich  vollständig  ausgeschrieben. 
Aber  dazwischen  treten  immer  wieder  flüssigere,  polyphone 
Stellen  ein,  mit  ausgeprägten  melodischen  Motiven,  mit  sinn- 
reicher Verkettung  einfach-schöner  Imitation.  Der  Epilog 
vereint  beide  Chöre  in  einem  neunstimmigen  Ganzen.«  — 
Wie  auf  das  Kopieren  der  in  das  Archiv  der  päpstlichen 
Kapelle  eingetragenen  und  in  derselben  gesungenen  Chor- 
werke die  Strafe  der  Exkommunikation  stand  —  ein  Verbot, 
welches  von  den  Zeiten  Ockenheims  und  Josquins  des  Pres 
bis  hinauf  auf  Baini  aufrecht  erhalten  wurde  —  so  galt  das- 
selbe auch  von  diesem  Miserere  Allegris,  welches  Mozart 
im  Jahre  1770  als  vierzehnjähriger  Knabe  nach  zweimaligen 
Hören  heimlich  in  Rom  niederschrieb. 

Was  ist  von  Allegri  als  Komponist  besonders  hervorzuheben? 

Allegri  steht  mit  einem  Fufse  in  der  alten  strengen  und 
echt  römischen  Ton  schule,  mit  dem  andern  schon  in  den  An- 


1.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  35 

fangen  einer  neueren  Zeit.  Allegri  gehört  —  dies  ist  sehr  be- 
merlvenswert  —  zu  den  ältesten  Komponisten  für  die  abso- 
lute Instrumentalmusik.  Von  ihm  sind:  Kanzonen  für 
Streichinstrumente  (Primo  Violino,  Secundo  Violino, 
Alto  della  Viola,  Basso  per  la  Viola  mit  einer  Generalbafs- 
stimme  für  Orgel),  Kanzonen  für  Violino,  Cornetto,  Liuto 
und  Theorba,  sowie  eine  »Sinfonia  Instrumentalis  a 
quattro  voci  per  la  Viola  con  Basso  per  l'Organo«.  Bei 
diesen  Kompositionen  Allegris  ist  die  Instrumentalmusik 
durchaus  noch  der  Nachhall  der  Vokalmusik;  denn  wären 
den  Noten  Textworte  unterlegt,  so  würden  sie  wie  kontra- 
punktische Vokalarbeiten  dieses  Meisters  klingen.  (Was  ist 
über  den  Generalbals,  Bassus  generalis  oder  Bassus  i3er 
l'Organo  zu  bemerken?  Diese  Stimme  bildet  die  Darlegung 
des  harmonischen  Fundamentes,  hat  stets  den  tiefsten  zu 
Grunde  liegenden  Ton  des  harmonischen  Gebäudes  und 
geht  im  Einklänge  mit  den  betreffenden  Stimmen,  wenn 
auch  eine  Mittelstimme,  z.  B.  Alto  della  Viola,  die  Grund- 
stimme bildet.  Der  Generalbafs  ist  somit  keine  neue  inte- 
grierende Stimme,  da  sie  schon  latent  in  der  jedesmaligen 
tiefsten  Stimme  ist.  Siehe  A.  Parazzi  »Della  vita  di  L.  Grossi- 
Viadana  inventore  del  basso-continuo  nel  sec.  XVI.«  Milano 
1876.) 

Tomaso  Ludovico  Vittoria,  geb.  um  1540  zu  Avila  in 
Spanien  und  gestorben  in  seinem  Vaterlande  im  Jahre  1608. 
Vittoria,  der  sehr  jung  nach  Rom  kam  und  von  den  päpst- 
lichen Sängern  Escobedo  und  Morales  Unterricht  in  der 
Komposition  erhielt,  war  Zeitgenosse  und  Freund  Palestrinas, 
der  sich  zu  ihm  verhält,  wie  Rafael  zu  Correggio.  Als 
Vorbilder  dienten  Vittoria  für  sein  Schaffen  Palestrina  und 
G.  M.  Nanini.  Von  Vittorias  Kompositionen  seien  erwähnt: 
Improperien  und  Lamentationen,  sowie  Kompositionen  über 
Texte,  die  sich  auch  bei  Palestrina  finden,  wie:  »O  magnum 
mysterium«,  »Veni  sponsa  Christi«,  »Extote  fortis  hello«, 
»Pueri  Hebraeorum«  und  die  Motette  »O  quam  gloriosum 
est«.  Zwei  Bücher,  Messen  aus  den  Jahren  1583  und  1592, 
von  denen  das  erste  Philipp  IL  von  Spanien  gewidmet  ist. 
Die  Hauptwerke  Vittorias  sind :  1.  Eine  grofse  Trauermusik 
(Officium   defunctorum  in  obitu  et  obquiis   Sacrae  impera- 

3* 


36  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

tricis);  sie  zerfällt  in  vier  Abschnitte:  a)  Missa  pro  defimctis; 
b)  Versa  est  in  luctum;  c)  Libera;  d)  Taedet  anima.  2.  Das 
im  Jahre  1581  komponierte  Magnifikat  und  3.  Das  Hymnen- 
werk auf  das  ganze  Kirchenjahr,  Gregor  XIII.  gewidmet, 
ebenfalls  aus  dem  Jahre  1581.  (Dafs  Vittoria  nicht  in  das 
päi^stliche  Sängerkollegium  aufgenommen  wurde,  in  welchem 
wir  fast  alle  bedeutenden  Musiker  jener  Zeit  erblicken,  wird 
dem  Hasse  zugeschrieben,  welchen  die  Italiener  auf  die 
Spanier  seit  der  Plünderung  Pratos  1512  und  der  Plünde- 
rung Roms  1527  hatten.  Vittoria  wurde  1573  Kapellmeister 
des  Collegium  germanicum  und  1575  Kapellmeister  von 
St.  Apollinare.) 

Francesco  Soriano,  geb.  in  Rom  1549;  er  war  Schüler  des 
Römers  Annibale  Zoilo,  der  von  1561  an  Kapellmeister  in 
St.  Giovanni  di  Laterano  und  von  1570  an  im  Kollegium  der 
päpstlichen  Sänger  war;  später  von  Nanini,  Sorianos  Aus- 
drucksweise hat  etwas  energisches  und  kraftvolles.  Von 
ihm:  die  Motetten  »Lauda  Jerusalem«  und  »Vidi  turbam 
magnum«,  der  Psalm  »Credidi  propter  quod«,  ein  Buch 
Messen  aus  dem  Jahre  1609,  eine  vierstimmige  Passions- 
musik, aus  dem  Jahre  1619  ein  Magnifikat  und  andere 
Kirchenkompositionen.  (Soriano  war  derjenige,  der  Pale- 
strinas  »Missa  Papae  Marcelli«  achtstimmig  setzte.) 

Luca  Marenzio,  geb.  1550  in  dem  zwischen  Brescia  und 
Bergamo  befindlichen  Orte  Coccaglio,  gest.  1599  in  Rom  am 
22.  August.  Luca  Marenzio,  dessen  Lehrer  Giovanni  Contini 
in  Brescia  war,  wurde  besonders  als  Komponist  von  Madri- 
galen, denen  er  die  klassische  Form  verlieh,  berühmt  und 
von  seinen  zeitgenössischen  Landsleuten  »il  piü  dolce  cigno« 
genannt.  Seine  Madrigale  erschienen  fünfstimmig  in  neun 
Büchern,  Venedig  1580 — 1589;  von  seinen  kirchlichen 
Kompositionen  seien  erwähnt:  Motetten  für  die  Texte  des 
ganzen  Jahres  aus  dem  Jahre  1588,  sowie  ein  zwölf  stimmiges 
»Ave  maris  Stella«.  Die  Madrigale  Marenzios  müssen  als 
herrliche  Blüten  der  Tonkunst  des  16.  Jahrhunderts  be- 
zeichnet werden.  Besonders  schön  sind  diejenigen,  welche 
vierstimmig  1592  in  Venedig  erschienen  und  die  1584  in 
Rom  bei  Gardano  gedruckten  geistlichen  Madrigale.  In 
Marenzios  Kunstschaffen  kündigen  sich  bereits  die  Anfänge 


1.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  37 

einer  Zeit  für  die  Tonkunst  an,  in  welchem  das  subjektive 
Empfinden  in  den  Vordergrund  tritt.    Marenzio  ist  auch  als 
einer    der    allerersten    Schöpfer    eines    Bühnenstückes    mit 
Musik  zn  nennen,  welches  er  für  die  Vermählung  Ferdinands 
von  Medici  mit  Christiane  von  Lothringen  komponierte ;  der 
Text  des  Festspieles,  welches  den  Titel  »II  Combattimento 
d'ApoUine  col  serpente«   trug,    war  von  Rinuccini  und  er- 
schien 1591  bei  G.  Vincenti  in  Venedig.     Den  Chören,   im 
Madrigalstile  gehalten,  waren  Streichinstrumente  nach  Mafs- 
gabe  der  einzelnen   Stimmtonlage  beigegeben,    welche    mit 
den  betreffenden  Stimmen   im  Einklänge  gingen  und  die- 
selben  auf  solche  Weise  verstärkten.     Marenzios  zahlreiche 
Kompositionen    wurden  auch  auf  serhalb  seines  Vaterlandes 
hochgeschätzt;  dies  ist  ersieh thch  an  den  Ausgaben,  welche 
z.  B.  in  Deutschland  angefertigt  wurden.     Auch  auf  Instru- 
mente wurden   seine  Vokalsachen  übertragen;   so  gaben  in 
Heilbronn  1614  Bernhard  Schmid  der  Jüngere  und  Johann 
Woltz    1617    Vokalkompositionen    des    Marenzio   für    Orgel 
übertragen  heraus.  In  Antwerpen  erschien  1593  von  Thalesius 
eine  Gesamtausgabe  von  Marenzios  Madrigalen.    Von  Maren- 
zios äufseren  Lebensumständen  sei  erwähnt,  dafs  ihn  der 
König    von   Polen   an   seinen   Hof  berief  und   ihn   in   den 
Ritterstand  erhob.  Des  rauhen  Klimas  wegen  kehrte  Marenzio 
1581   nach  Itahen  zurück  und  nahm  in   Rom  die   Stellung 
eines  Kapellmeisters  beim  Kardinal  Aldobrandini  an. 

Antonio  Cifra,  war  ein  Mitschüler  Allegris  bei  Nanini 
und  zunächst  im  Collegio  germanico  thätig,  sodann  Kapell- 
meister in  Loretto,  darauf  im  Lateran,  welche  Stellung  er 
1620  aufgab,  um  als  Kapellmeister  zum  Herzog  Karl  von 
Österreich  zu  gehen.  1629  kehrte  Cifra  nach  Italien  zurück, 
wo  er  bis  zu  seinem  Tode  verblieb.  Gleichwie  AUegri,  so 
wandelte  auch  Cifra  aufser  den  Wegen  im  strengen  a- 
capella-  oderPalestrinastile  die  Pfade  einerneu  anbrechenden 
Zeit  und  diese  Doppelrichtung  findet  sich  von  nun  an  mehr 
oder  weniger  bei  allen  Musikern  Italiens  bis  auf  Scarlatti. 
Aufserhalb  des  Geistes  seiner  Schöpfungen  im  strengen 
Stile,  wie  dies  die  Messe  »Conditor  ahne  siderum«  zeigt, 
stehen  schon  die  Motetten,  welche  1610  in  Rom  bei  Robletti 
herauskamen;   schon  der  Titel  ist  bezeichnend:    »Motettae, 


38  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

quae  binis,  ternis  et  qiiaternis  vocis  concinantur,  ima  cum 
basso  ad  Organum  etc.«  Von  Cifras  Kompositionen  sind 
ferner  zu  erwälmen:  Vesperae  et  Motettae  octonis  vocibus 
decantandae«  1610  in  Eom  bei  Zanetto  gedruclct;  aus  dem 
Jahre  1614:  »Scherzi  e  Arie  a  una,  due,  tre  e  quattro  voci 
per  cantar  nel  clavicembalo,  cliittarone  o  altro  simile  instro- 
mento«,  in  Venedig  erscliienen;  1619  in  Eom  bei  Soldi: 
»Eicercari  e  Canzoni  francesi  a  quattro  voci«;  1619 — 1629 
erschienen  von  Cifra  in  Venedig  dreicliörige  Motetten. 

Agostino  Agazzari,  geb.  1578  in  Siena,  gest.  1640  als 
Kapellmeister  am  Dome  von  Siena.  Von  Agazzari  ist  u.  a. 
ein  »Stabat  mater«  1611  bei  Eicciardo  Amatino  in  Venedig 
erschienen.  (Dasselbe  befindet  sich  in  Proskes  »Musica 
divina  Tom.  IV  vespertinus«  pag.  386.)  Man  vergleiche  dieses 
»Stabat  mater«  mit  dem  von  Palestrina,  um  zu  erkennen, 
wie  der  Palestrinastil  durch  den  Einflufs  des  dramatischen 
Ausdruckes  in  der  Musik  jener  Zeit  bereits  alteriert  wurde. 

Aspirilio  Pacelli,  war  1601 — 1603  Kapellmeister  am  St.  Peter 
in  Eom,  sodann  Kapellmeister  beim  Polenkönig  SigismundllL, 
unter  welchem  er  1623  in  Warschau  starb.  Pacellis  Kompo- 
sitionen gehören  ebenfalls  schon  der  Übergangsepoche  vom 
reinen  Palestrinastile  zum  späteren,  durch  die  Einmischung 
persönlichen  Empfindens  entstandenen  an.  Von  Pacelli  sind 
zu  erwähnen:  Die  Motette  zu  acht  Stimmen  »Factum  est 
Silentium«,  sowie  andere  achtstimmige  Komi^ositionen,  wie 
»Veni  sancte«,  »Cantate  Domino«  und  »Tres  sunt  qui«. 

Francesco  Foggia,  geb.  in  Eom  1604,  gest.  1688;  seine 
Lehrer  waren  Antonio  Cifra,  Bernardino  Nanini  und  Paolo 
Agostini.  Auch  Foggias  Kunstschaffen  bildet  den  Über- 
gang vom  Palestrinastile,  dem  Stile  heiliger  Würde  mit  Hin- 
weglassung  alles  persönlich  leidenschaftlichen,  zum  Kirchen- 
musikstile, der  durch  persönliches  EmjDfindungsleben  und 
durch  das  dramatische,  sogar  durch  das  theatralische  Wesen 
beherrscht  ist.  Foggias  Tod  ist  auch  das  Ende  der  grofsen 
römischen  Musikepoche.  Foggia,  der  keine  aufserkirchliche 
Musik  geschrieben  hat,  war  Kapellmeister  des  Kurfürsten 
Maximilian  in  Köln,  sodann  Kapellmeister  des  Erzherzogs 
Leopold  von  Österreich  in  Brüssel;  nach  Beendigung  dieser 


1.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  39 

Stellung  kehrte  Foggia  nach  Italien  zurück  und  zwar  als 
Kapellmeister  der  Kathedrale  inNaemi;  später  war  er  noch 
in  Rom  thätig,  zuerst  als  KaiDcllmeister  an  der  Kirche 
St.  Maria  in  Aquiro,  sodann  an  der  Basilika  St  Maria  in 
Trastevere,  bis  er  1636  Kapellmeister  im  Lateran  wurde. 
Nach  letzterer  Stellung  hat  Foggia  noch  die  Kapellmeister- 
stellen an  St  Lorenzo  in  Damaso  und  an  St  Maria  maggiore 
innegehabt  Kompositionen  von  Foggia  sind  u.  a.:  Messen 
zu  vier  bis  neun  Stimmen,  Motetten  zu  zwei  bis  fünf 
Stimmen,  Litaneien,  Offertorien  und  Psalme.  Von  seinen 
dreistimmigen  Chorwerken  sind  erwähnenswert;  »Adoramus 
Christum  regem«,  »Dominus  et  salvator  mens«,  »Ecce  para- 
tum  nobis«,  »Cara  mea«,  »Salve  Regina«. 

Wie  heilsen  die  namhaften  Meister,  welche  noch  als  Epigonen 
Palestrinas  bezeichnet  werden  müssen? 

Girolamo  Frescobaldi,  der  berühmte  römische  Organist, 
Agostino  Diruto  von  Perugia;  Matthäus  Simonelli 
(Schüler  Allegris  und  Benevolis,  zugleich  Lehrer  Corellis 
und  Sänger  der  päpstlichen  Kapelle) ;  Giov.  Maria  Casini 
aus  Florenz;  Claudio  Casciolini;  Bernardo  Pasquini 
(berühmter  Organist);  Tomaso  Bai  (gest  1714,  berühmt 
geworden  durch  ein  »Miserere«);  Giov.  Biordi  (Mitglied 
des  päpstlichen  Sängerkollegiums)  und  Ottavio  Pitoni 
(1750  als  90jähriger  gestorben).  Ferner  sind  noch  Kompo- 
nisten, welche  im  reinen  Palestrinastile  schufen,  zu  nennen: 
Pietro  Paole  Paciotte  (geb.  in  Rom  und  Kapellmeister 
am  Seminario  Romano);  der  in  Rom  lebende  Neapohtaner 
Fabricio  Dentice  (von  ihm  sind  ein  neunstimmiges 
»Miserere«  bemerkenswert,  sowie  die  1580  in  Venedig  er- 
schienenen Motetten;  Vincenzo  Galilei  rühmt  ihn  als  Lauten- 
spieler); Placido  Falconi  von  Asola  (1573  erschienen  von 
ihm  in  Venedig:  »Missae  introitus  per  totum  annum«,  sowie 
in  den  Jahren  1580—1588  in  Brescia  die  Turba,  die  Passion, 
ein  Magnifikat  und  vierstimmige  Responsorien;  Arcangelo 
Crivelli  aus  Bergamo  (seit  1583  päpstlicher  Kapellsänger 
und  1610  gest);  Prospero  Santini;  Cesare  Roilo; 
Vincenzo  de  Grandis;  Giov.  Locatello;  Tiburzius 
Massaini  (von  ihm  Motetten  zu  vier  Chören  dem  Papst 
Paul  V.  gewidmet);   Fra  Erasmo  di  Bartolo,  genannt   il 


40  Die  Musikentwickluiig  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Padre  Raimo,  geb.  1606  in  Gaeta,  gest.  1656);  Abundio 
Antonelli  (seit  1608  Kapellmeister  an  der  Lateranischen 
Basilika;  von  ihm  sind  vierchörige  Messen  und  achtstimmige 
Chöre  mit  Instrumentalbegleitung  geschrieben). 

Pierfrancesco  Valentini,  geb.  in  Rom  im  Zeitalter  Ur- 
ban  VIIL,  gest.  in  Rom  im  Jahre  1654.  Valentini  war 
Schüler  C.  M.  Naninis  und  schuf  wahre  Monstras  auf  dem 
Gebiete  des  polychorischen  Tonsatzes,  welche  uns  anmuten, 
wie  die  gleichzeitigen  Schöpfungen  auf  dem  Gebiete  der 
Architektur   und   Plastik.     Valentinis   Hauptwerk,    welches 

1645  in  Rom  in  der  Typograj)hie  von  Andreas  Phaeus  er- 
schien, hatte  den  Titel:  »Petri  Francis!  Valentini,  Romani, 
in  animas  purgatorii  propriae  et  novae  inventionis  Canon, 
quatuor  compositus  subjectis  et  viginti  vocibus,  quinque 
Choris  concinendus,  qui  ultra  dictas  viginti  voces  a  pluribus 
etiam  vocibus,  choris  et  subjectis  extendis  et  amplificare 
potest.« 

Gregorio  Ballabene,  der  schon  in  die  zweite  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  hineinragt,  schuf  eine  zwölfehörige  (acht- 
undvierzigstimmige)  Messe. 

Antonio  Maria  Abbatini  (1595 — 1677)  war  Komponist  von 
vier-  und  mehrstimmigen,  sowie  von  16-,  32-  und  48-stimrnigen 
Chorwerken.  Abbatini,  der  an  den  Kirchen  S.  Giovanni  in 
Laterano,  S.  Lorenzo  in  Damaso,  dell'  Gesü  und  S.  Maria 
maggiore  thätig  war  und  auch  als  Mitarbeiter  an  Kirchers 
»Musurgia«  bekannt  ist,  schrieb  u.  a.  Antii^honien  für  je 
12  Soprane,  12  Alte,  12  Tenöre  und  12  Bässe. 

Orazio  Benevoli  (1602 — 1672),  ein  Schüler  des  von  Bernard 
Nanini  gebildeten  Vincenzo  Ugolino,  war  anfangs  Kapell- 
meister an  S.  Luigi  de  Francesi,  von  1643 — 45  in  Wien,  von 

1646  an  Kapellmeister  an  der  Kirche  S.  Maria  maggiore  in 
Rom  und  schliefslich  bis  zu  seinem  Lebensende  Kapellmeister 
im  Vatikan.  Von  Benevolis  Kompositionen  seien  erwähnt: 
die  achtstimmigen  Messen  »in  lectulo«,  »Paradisii  porta«, 
»decantabat  i^opulus«,  die  zwölf  stimmigen  Messen  »Solam 
exspectu«,  und  »Angelus  Domini«,  ferner  die  16-stimmigen 
Messen  »in  diluvio  aquarum  multarum«,  »Missa  Tira  corda« 
und  »Si  Dens  pro  nobis«.  —  Eine  grofse  dreichörige  Messe 


1.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  41 

mit  Orgel,  Saiteninstrumenten,  2  Oboen,  4  Flöten  und  2  Kla- 
rinen schrieb  Benevoli  zu  der  am  24.  September  1628  in  Salz- 
burg stattgefundenen  Einweihung  des  neu  errichteten  Domes. 
(Die  Partitur  besitzt  das  Mozarteum  in  Salzburg.) 

Virgilio  Mazzochi,  geb.  in  Castellano,  war  1628  Kapell- 
meister im  Lateran,  von  1629  an  Kapellmeister  am  St.  Peter 
und  ist  1640  in  Rom  gestorben.  Von  ihm  aus  dem  Jahre  1628 
eine  neunstimmige  Motette,  sowie  aus  dem  Jahre  1638  zwei- 
bis  achtstimmige  Chöre  nach  Dichtungen  vom  Papste  Ur- 
ban  YIII.  (Pietro  della  Valle  berichtet  von  V.  Mazzochi,  dals 
er  bei  der  Aufführung  eines  seiner  polychoren  Werke  die 
Sänger  in  der  Kuppel  des  Petersdomes  gruppenweise  ver- 
teilt habe,  und  zwar  vom  inneren  Kuppelrande  hinauf  bis 
in  die  Laterne.) 

Domenico  Mazzochi,  der  ältere  Bruder  von  Virgilio 
Mazzochi,  schrieb  u.  a.  fünfstimmige  Madrigale  und  ist  be- 
kannt, weil  er  als  Erster  die  Zeichen  -==r  =>-  für  crescendo 
und  decrescendo  anwendete. 

Diese  letzteren  Komponisten,  welche  die  Ausläufer  der  römi- 
schen Tonschule  bilden,  und  die  mit  Recht  mit  dem  Ausdrucke 
»Poly Choristen«  bezeichnet  werden  können,  waren  einflufs- 
reich  für  die  Entwicklung  des  Tonsatzes: 

1.  Der  allgemeine  Bafs,  d.  i.  Generalbafs  (bassus  generalis), 
der  zum  Zusammenhalten  und  zum  Fundamentieren  des 
ganzen  grofsen  Tongebäudes  diente,  entstand. 

2.  Bei  den  Poiy Choristen  findet  sich  zuerst  die  Verdoppe- 
lung einer  Stimme  durch  die  Oktave. 

Als  einer  der  bedeutendsten  Tondichter  der  römischen  Ton- 
schule, welche  von  Palestrina  ihren  Ausgang  nahm,  ist 

Giuseppe  Ottavio  Pitoni  zu  bezeichnen.  Pitoni  wurde  am 
18.  März  1657  in  Rieti  geboren  und  war  schon  im  16.  Jahre 
Kapellmeister  in  Rom.  1677  erhielt  Pitoni  die  Kapellmeister- 
stelle am  San  Marco  in  Venedig,  die  er  bis  zu  seinem  letzten 
Lebensjahre  inne  hatte.  Er  starb  am  1.  Febr.  1743  in  Rom. 
Von  ihm:  Motetten,  unter  denen  das  grofsartige  »Dies  irae«, 
das  als  seine  beste  Arbeit  geschätzt  wird;  ferner  mehrere 
schöne  »Dixit«,  von  denen  das  erste  für  vier  Chöre  (sechs- 


42  Die  Musikenlwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

zehn  stimmig)  heute  noch  in  Rom  aufgeführt  wird.  Be- 
rühmte Tonwerke  Pitonis  sind  aufser  den  beiden  vorge- 
nannten Psalmen,  3— 16-stimmige  Messen  (»De  profundis«, 
»Li  pastori  montagna«,  »Mosca«),  Hymnen  u.  a.  m.  Durante 
und  Leo  sind  Pitonis  bedeutendste  Schüler  gewesen. 

Der  Mittelpunkt  des  religiösen  Kultus  ist  in  Rom  die  St. 
Peterskirche,  an  welcher  der  gröfste  Teil  der  vorhergenannten 
hauptsächlichsten  Vertreter  der  römischen  Tonschule  als  Sänger 
oder  als  Kapellmeister  wirkten.  Die  Osterwoche  sieht  nun  in 
dieser  Hauptkirche  wohl  eines  der  gröfsten  Feste  der  römisch- 
katholischen Kirche.  Es  dürfte  daher  auch  nicht  uninteressant 
sein,  an  dieser  Stelle,  am  Schlüsse  der  Besprechung  der  römischen 
Tonschule,  deren  Komponisten  durch  ihre  erhabenen  Werke 
das  feierliche  Ceremoniell  in  St.  Peter  verherrlichten  und  zum 
Teil  heute  noch  beleben,  das  Programm  der  Karwoche  mit- 
zuteilen.*) 

Am  Palmsonntag  um  9  Uhr  vormittags  begiebt  sich  der 
Papst  nach  St.  Peter  zur  Kapelle  der  Pietä,  wo  ihn  die  Kardinäle 
empfangen;  hier  zieht  er  die  päpstlichen  Kleider  an  und  wird 
auf  der  Sedia  gestatoria  (an  seinen  Seiten  die  zwei  Flabelli 
mit  den  Pfauenaugen)  von  zwölf  rot  bekleideten  Sedianti  nach 
der  Konfession  getragen;  voran  die  Prälaten  und  Kardinäle. 
Die  Kardinäle,  nach  ihrer  Rangstufe,  küssen  huldigend  die 
Hand  des  Papstes  (Obedienz);  dann  findet  die  Palm  weihe 
statt  (die  Palmen  kommen  von  San  Remo  von  der  Familie 
Bresca,  welche  von  Sixtus  V.  das  Privilegium  erhielt) ;  der  Papst 
segnet  die  Palmen,  benetzt  sie,  räuchert  sie  dreimal  und  setzt 
sich  dann;  ein  Kleriker  legt  ihm  das  Gremiale  (das  seidene 
Bischofstuch)  auf  die  Knie,  die  Kardinäle  begeben  sich  zu  ihm, 
erhalten  die  Palme,  küssen  sie  sowie  auch  die  Hand  des  Papstes; 
ihnen  folgen  der  römische  Adel,  hohe  Fremde  u.  a.  m.  Gesungen 
werden  während  der  Austeilung  die  vierstimmigen  Chöre  »Pueri 
hebraeorum  vestimenta«  von  Avila,  einem  Zeitgenossen  Pale- 
strinas  und  »Pueri  hebraeorum  portantes  ramos«  von  Pale- 
strina.  Jetzt  findet  die  grofse  Palmenprozession  in  der  Kirche 
statt;  der  Papst  mit  der  Mitra  auf  dem  Haupte  und  der  Palme 


*)  Aus  »Rom  und  die  Campagna«.  Von  Dr.  Th.  Gsell  Fels.  (Aus  der 
Sammlung  »Meyers  Reisehandbücher«.  Bibliographisches  Institut,  Leipzig 
und  Wien. 


1.   Die  Miisikentwickluno;  auf  dem  Boden  von  Rom. 


43 


in  der  Linken  wird  auf  der  Sedia  gestatoria  getragen;  die 
Prozession  begiebt  sich  in  das  Vestibül;  zwei  Sänger  im  Innern 
der  Kirche  singen  die  herrliche  Hymne  von  Theodule  d'Orleans: 
»Gloria  laus  et  honor  Deo«,  welche  die  Sänger  im  Vestibül 
im  Wechselgesang  wiederholen.  Die  Messe  wird  von  einem 
Kardinal  celebriert;  den  Passionsgesang  stimmen  drei  Priester 
(der  Tenor  erzählt,  der  Contraalto  singt  die  Ancilla,  der  Bals 


No.  7.     St.  Pe t erskir che  in  Rom. 


die  Partie  des  Christus,  die  Kapelle  die  des  Volkes).  Nach  der 
Elevation  wird  gewöhnlich  das  sechsstimmige  Benedictus  von 
Baini  gesungen.  Der  Papst  kehrt  durch  die  Kapelle  des  heiligen 
Sakramentes  zum  Vatikan  zurück. 

Ostermittwoch.  In  der  Capeila  Sixtina  nach  4  Uhr 
päpstliche  Kapelle  für  die  Tenebräfeier.  Beim  ersten  Notturno 
wird  eine  vierstimmige  Lamentation  des  Jeremias  von  Pale- 
strina  gesungen,  dann  folgt  die  zweite  und  dritte  Lamentation, 
das  zweite  und  dritte  Notturno  und  nach  dem  Benedictus  der 


44  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Landen  das  berühmte  Miserere  (der  51.  Psalm)  vierstimmig 
mit  zwei  Chören,  meist  eine  der  drei  Kompositionen:  1.  von 
Allegri  1638;  2.  von  Bai  1714;  3.  von  Baini  1821.  Das  Miserere 
wird  am  Mittwoch,  Donnerstag  und  Freitag  gesungen.  Bei 
jeder  Lamentation  (Klagelieder  Jeremiä)  werden  zwei  Kerzen 
des  dreieckigen  Kandelabers  am  Altar,  der  dreizehn  Kerzen 
enthält,  ausgelöscht,  das  einzige  letzte  Licht  wird  unter  dem 
Altar  verborgen,  dann  knieen  Papst  und  Kardinäle  nieder  und 
beten,  tiefe  Stille  herrscht  —  plötzlich  beginnen  die  wunder- 
baren Töne  des  Miserere,  in  zitternden  Anklängen  und  er- 
greifender Harmonie  die  Leiden  der  Menschheit  symbolisierend. 
Dann  folgt  ein  leises  Geräusch,  worauf  Papst  und  Kardinäle 
sich  zurückziehen.  In  der  Peterskirche  zeigt  man  unmittelbar 
nachher  von  der  Loggia  über  der  Statue  der  Veronika  unter 
der  Kuppel  herab  die  Passionsreliquien:  die  Lanze,  das  Holz 
vom  Kreuz  und  den  Veronikaschleier  mit  dem  Gesicht  des 
Heilandes. 

Ln  Hospiz  S.  Trinitä  dei  Pellegrini  wird  eine  Stunde  nach  Ave 
Maria  die  Fulswaschung  und  das  Mahl  der  armen  Pilger 
durch  die  Kongregation  der  S.  Trinitä,  der  Kardinäle,  Fürsten, 
Edelleute  angehören,  veranstaltet.  Das  Publikum  hat  freien 
Zutritt.  Zur  gleichen  Stunde  erfüllen  die  römischen  Fürstinnen 
und  Damen  dieselbe  Funktion  bei  den  Pilgerinnen. 

Gründonnerstag.  Die  Glocken  aller  Kirchen  verstummen 
bis  zum  Sonnabend  Mittag.  Im  Lateran  Ausstellung  des 
Abendmahltisches  Christi.  —  In  St.  Peter  8  Uhr  vormittags 
Weihe  der  heiligen  Öle  und  Generalkommunion  des  Kapitels. — 
Um  10  Uhr  in  der  Sixtina  päpstliche  Kapelle :  nach  dem  grego- 
rianischen Gesang,  das  achtstimmige  Motetto:  »Fratres  ego 
enim  accepi«  von  Palestrina.  Bei  der  Messe  weiht  der  Papst 
zwei  Hostien,  legt  die  eine  in  einen  Kelch  und  trägt  sie  in 
Prozession  nach  der  Capella  Paolina,  wo  sie  nachmittags 
ausgestellt  und  bis  zum  folgenden  Tage  aufbewahrt  wird.  Die 
Prozession  zieht  durch  die  Sala  regia,  die  Sänger  singen  das 
»Pange  lingua«,  in  der  Kapelle  das  vierstimmige  »Tantum  ergo« 
von  Pitoni.  Die  Gläubigen  strömen  in  die  Kapelle,  um  das 
Sakrament  anzubeten.  Die  Prozession  begleitet  den  Papst 
wieder  zurück  nach  St.  Peter.  Etwas  vor  12  Uhr  erteilt  der 
Papst,  der  in  die  geschmückte  und  überdachte  Loggia,  die 
aufsen  an  St,  Peter  auf  den  Petersplatz  hinab  schaut,  auf  der 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  45 

Sedia  gestatoria  getragen  wird,  auf  dieser  sich  erhebend  den 
dreifachen  apostolischen  Segen,  »die  solenne  Benediction« 
(man  nennt  sie  traditionell:  »urbi  et  orbi«,  »der  Stadt  und  dem 
Erdkreis«),  dann  lesen  zwei  Kardinäle  lateinisch  und  italienisch 
den  Ablafs  für  die  Menge  und  werfen  das  Breve  unter  das 
versammelte  Volk  hinab.  Der  Papst  begiebt  sich  nun  in  das 
Querschiff,  wo  um  12  Uhr  das  Mandatum  stattfindet. 

Der  Papst  vollzieht  selbst  die  Fufswaschung  (lavanda) 
an  13  Priestern  oder  Diakonen  verschiedener  Nationen  (13,  weil 
Gregor  dem  Grofsen  Christus  unter  ihnen  erschien).  Im  rechten 
Querschiff  von  St.  Peter  befindet  sich  links  die -Bank  für  die 
13  auf  einer  Erhöhung.  Hinter  ihnen  an  der  Wand  hängt 
der  Gobelinteppich  mit  dem  Abendmahl  (nach  dem  Fresko 
von  Lionardo  da  Vinci  in  S.  Michele  di  Ripa  grande  gearbeitet) ; 
rechts  ist  der  päpstliche  Thron  und  um  ihn  die  Kardinalsitze. 
Der  Papst  erhebt  sich  vom  Throne,  legt  das  Pluviale  ab,  um- 
gürtet sich  mit  einer  kleinen  weifsen  Schürze,  vor  ihm  her 
schreiten  die  Scepterträger,  ein  Ceremonienbeistand  mit  zwei 
Kardinaldiakonen;  sie  begeben  sich  auf  die  Estrade  zu  den 
Aposteln.  Diese  müssen  den  rechten  Fufs  entblöfst  haben.  Der 
Papst  kniet  vor  jedem,  setzt  jedem  denFufs  in  ein  wassergefülltes 
silbernes  Geschirr,  reibt  denselben  leicht  und  trocknet  ihn  mit 
einem  Tuche,  külst  ihn,  erhebt  sich  und  setzt  diese  Handlung 
von  einem  zum  andern  fort.  Jeder  erhält  sogleich  vom  Papst 
einen  Blumenstraufs  und  zwei  Erinnerungsmedaillen  an  die 
erhaltene  Auszeichnung,  eine  von  Gold,  die  andre  von  Silber; 
dann  kehrt  der  Papst  zum  Throne  zurück,  wäscht  sich  die 
Hände  und  spricht  das  »Pater  noster«. 

Das  ganze  Gefolge  geht  jetzt  zur  vatikanischen  Loggia,  zur 
Speisung  dieser  Stellvertreter  der  Apostel.  Dort  steht  auf 
einer  Estrade  ein  langer  Tisch  mit  glänzend  geschmückter 
und  reich  besetzter  Tafel.  Zuerst  erscheinen  Prälaten,  dann 
die  Nobelgarde,  dann  die  13  Stellvertreter  in  ihren  hohen 
weifsen  Mützen,  weifsem  Kragen  und  Flanellrock,  weifser, 
brodierter  Seitentasche  (für  die  Reste  des  Mahles)  und  mit 
einem  Blumenstraufse  in  der  Hand.  Sie  warten  auf  ihrem 
Platz,  bis  der  Papst  erscheint;  er  trägt  einen  wollenen  Rock 
und  mit  weifsem  Hermelin  ausgeschlagenen  Überwurf.  Ein 
Prälat  reicht  ihm  eine  mit  Spitzen  besetzte  Schürze;  der  Papst 
giefst   den   13    Wasser   über   die   Hände   und   hält   ihnen   ein 


46  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

silbernes  Becken  unter.  Die  Platten  werden  von  den  Prälaten 
herbeigebracht,  welche  sie  knieend  dem  Papst  überreichen. 
Dieser  stellt  sie  nach  einem  Tischgebet  vor  die  13  hin  und 
serviert  selbst  einige  Gerichte  des  reichlichen  Mahles,  schenkt 
den  Speisenden  Wein  und  Wasser  ein  und  verlälst  sie  nach 
einer  zweiten  Segnung, 

Abends  werden  in  der  Sixtina  wieder  um  4  Uhr  die  Lamen- 
tationen und  um  6  Uhr  das  Miserere  gesungen.  Die  Kapelle 
ist  jetzt  völlig  schmucklos,  Altar  und  Thron  ohne  Baldachin 
und  Verzierung,  die  Sitze  der  Kardinale  unbedeckt,  der  Altar 
um  schieiert. 

Karfreitag.  Vormittags  S^a  Uhr  päpstliche  Kai)elle  in 
der  Sixtina.  Der  Papst,  in  violetter  Stola,  rotem  Pluviale, 
silbergewirkter  Mitra,  ohne  Ring,  erscheint  mit  vorgetragenem 
schleierbehängtem  Kreuze,  legt  seine  Mitra  ab  und  betet 
knieend,  besteigt  dann  den  Thron,  wo  ihm  nur  ein  Patriarch 
assistiert.  Die  Kardinäle  tragen  Schuhschnallen  von  Stahl 
oder  Silber  und  violette  Kleidung  anstatt  purpurner.  Es  folgt 
eine  lateinische  Rede  des  Generalprokurators  der  Franziskaner 
(konventualen  Minoriten)  über  den  Tod  Christi.  Der  Cele- 
brierende  singt  die  18  Gebete  für  die  Menschen  aller  Reli- 
gionen (sie  werden  stehend  angehört,  der  Diakon  giebt  das 
Zeichen  der  Kniebeugung  nach  jedem,  ausgenommen  nach  dem 
für  die  Juden,  in  Andeutung,  dafs  sie  Christum  an  diesem 
Tage  knieend  verspotteten).  —  Bei  der  ersten  Adoration  des 
Papstes  singt  die  Kapelle  die  berühmten  »Improperia«  von 
Palestrina,  das  »Sanctus  Dens«  und  die  weitere  Liturgie.  Die 
Kardinäle  (ohne  Fufsbedeckung)  adorieren  das  Kreuz,  jeder 
Kardinal  opfert  einen  Goldthaler;  dann  folgen  die  übrigen 
hohen  Würdenträger  der  Kirche  (ihre  Gabe  erhält  der  Mon- 
signore  Sacrestano  und  die  beiden  ersten  Ceremonienmeister). 
Darauf  Prozession  zur  Capeila  Paolina:  dem  Papst  mit  den  Kar- 
dinaldiakonen folgen  die  Prälaten  »di  fiocchetti«,  die  aj^osto- 
lischen  Protonotare.  Am  Altare  der  Paolina  verrichtet  der 
Papst  ein  kurzes  Gebet,  währenddessen  der  Sakristarprälat 
vom  Kardinalgrofspönitentiar  den  Schlüssel  zur  Sepulkralurne 
erhält;  er  öffnet  das  Tabernakel,  nimmt  den  Kelch  und  über- 
giebt  ihn  durch  den  Kardinaldiakon  dem  Papst.  Die  Prozession 
kehrt  während  des  Gesanges  »Vexilla  regis  prodeunt«  nach 
der   Capeila    Sixtina    zurück.      Sowie    der    Celebrierende    die 


1.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  47 

Kapelle  verlassen  hat,  beginnt  die  Vesper.  Auf  dem  Altare 
der  Capella  Sixtina  wird  das  »wahre  Kreuz«  aufgestellt. 
Um  4^/.,  Uhr  ertönen  in  der  Capella  Sixtina  die  drei  Notturnen, 
die  vierstimmige  Lamentation,  am  Ende  das  fünfstimmige 
»Jerusalem«  von  Allegri  und  zum  drittenmal  das  »Miserere«. 
Der  Papst  geht  dann  in  ein  benachbartes  Gemach,  zieht  den 
roten  hermelinbelegten  Überwurf  und  die  päpstliche  Stola  an, 
setzt  den  Hut  auf  und  geht  mit  den  Kardinälen  und  deren 
Familien  nach  St.  Peter,  wo  abermals  von  der  Höhe  der 
Veronika-Loggia  die  heiligen  Reliquien  gezeigt  werden;  nach 
Beendigung  seines  Gebetes  vor  der  Konfession  geht  der  Papst, 
nur  von  seiner  »Familie«  begleitet,  in  den  Vatikanpalast 
zurück. 

Ostersonnabend.  Vormittags  8  Uhr  im  Lateran  Wasser-, 
Feuer-,  Weihrauch-  und  Kerzenweihe,  Gesang  der  Prophetien, 
Exorzismus  erwachsener  konvertierter  Juden,  Türken  oder 
Heiden  in  der  Sakristei  und  nachherige  Taufe  derselben  im 
Baptisterium  S.  Giovanni  durch  den  Generalvikar.  Vorzeigen 
der  Köpfe  St.  Peters  und  St.  Pauls.  Litaneien  und  Messe.  — 
Um  9  Uhr  in  der  Sixtina  päpstliche  Kapelle.  Die  Kapelle  ist 
wieder  im  Festschmuck;  Weihe  der  Osterkerze;  Gesang  des 
»Exultet«.  Beim  Vers  »Propitius  esto«  gehen  die  Admini- 
strierenden in  die  Sakristei  und  ziehen  weifse  Kleider  an,  und 
der  Celebrierende  läfst  sich  auf  seinem  Sitze  weifse  Kleider 
reichen.  Es  folgt  die  berühmte  Missa  Papae  Marelli  von 
Palestrina.  Dieselbe  Messe  wird  am  29.  Juni,  am  St.  Peter- 
und Paulstage,  gesungen.  Die  violetten  Paramente  des  Altars 
und  Thrones  werden  abgehoben,  und  silbergestickte  erscheinen 
darunter,  die  Altarkerzen  angezündet  und  auf  Bronzekandelaber 
gestellt.  Der  Papst  zieht  ein  weifses  Gewand  an,  die  Kardinäle 
nehmen  den  roten  Hut.  Beim  Beginne  des  »Gloria«  läuten 
alle  Kirchenglocken,  die  seit  dem  Gründonnerstage  verstummt 
waren. 

Am  Ostersonnabend  erteilt  der  Papst  den  zum  Osterfest 
gekommenen  Priestern  und  Fremden  Audienz.  Eine  ganze 
Galerie  des  Vatikans  ist  mit  Besuchenden  angefüllt;  neben 
Priestern,  Ausländern  mit  Frauen  und  Töchtern,  Römer  mit 
der  ganzen  Familie  (die  Damen  in  Trauerkleidern).  Die  Pala- 
frenieri  teilen  die  Anwesenden  in  zwei  Reihen,  durch  die  der 
Papst    weilsgekleidet    schreitet.     Er    spricht    zu    den   meisten 


48  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

einige  Worte,  die  der  Angeredete  knieend  anhört  (es  ist  Sitte, 
drei  Kniebeugungen  zu  machen  vor  dem  Fufskufs,  und  mit 
drei  Kniebeugungen  sich  zu  verabschieden);  das  Hauptan- 
hegen bildet  die  Bitte  um  den  Segen  des  Papstes.  Zum  Schluls 
besteigt  der  Papst  die  Estrade  und  hält  eine  Ansprache  (oft 
französisch),  erteilt  den  allgemeinen  Segen  und  entfernt  sich. 
Man  drängt  sich  dann  noch  an  ihn  heran,  Eltern  bringen 
ihre  Kinder,  man  sucht  eine  segnende  Berührung  u.  s.  w. 

Ostersonntag.  Etwas  vor  10  Uhr  verläfst  der  Papst, 
die  Tiara  auf  dem  Haupte,  auf  der  Sedia  gestatoria  die  Sala 
ducale,  zieht  mit  seinem  Gefolge  durch  die  Mittelpforte  in  die 
Peterskirche;  die  Sänger  begrüfsen  den  Papst  mit  dem  be- 
rühmten »Tu  es  Petrus«,  im  Vestibül  empfängt  das  Peters- 
kapitel den  Papst.  Der  Papst  besteigt  den  Thron  und  bedeckt 
sich  mit  der  goldenen  Mitra.  —  Obedienz.  Die  Kardinäle, 
Patriarchen,  Erzbischöfe  und  Bischöfe,  die  mitrierten  Äbte 
und  die  Pönitenziarii  von  St.  Peter  küssen  dem  Papst  nach 
ihrer  Rangfolge,  die  einen  das  Knie,  die  andern  den  Fufs. 
(Der  Papst  trägt  auf  der  Fufsbekleidung  ein  goldbrodiertes 
Kreuz,  das  geküfst  wird.  —  Bekleidung.  Der  Auditor  der 
Kota  umgürtet  den  Papst  mit  dem  Gremial,  ein  adliger  Laie 
giefst  ihm  Wasser  über  die  Hände,  und  der  Kardinalbischof 
bietet  das  Handtuch  dar.  Der  Kardinaldiakon,  der  das  Evan- 
gelium singt,  nimmt  dem  Papst  Mitra,  Pluviale,  Stola  und 
Gürtel  ab;  die  Prälaten  bringen  die  Pontifik  alkleid  er,  und  die 
Diakonen  ziehen  sie  ihm  an.  —  Messe.  Der  Papst  celebriert 
die  Messe  selbst;  er  begiebt  sich  zu  den  drei  Kardinalpriestern 
und  umarmt  jeden  zweimal,  der  Kardinaldiakon  nimmt  ihm 
die  Mitra  ab,  der  Papst  macht  das  Zeichen  des  Kreuzes  und 
beginnt  den  »Introito«.  Bei  der  Indulgentia  legt  man  ihm 
die  Manipel  über.  Die  Kapelle  singt  das  Graduale  und  »Vic- 
timae  pascali«  von  Matteo  Simon  eil  i.  Nach  beendigtem 
Credo  spricht  der  Papst  das  »Dominus  vobiscum.«  Die  Kapelle 
singt  das  schöne  Gebet  von  Feiice  Anerio.  Die  Kardinal- 
diakonen erhalten  die  Kommunion,  der  assistierende  Fürst  und 
die  Laien,  welche  das  Kapellrecht  haben,  sind  ebenfalls  zur 
Kommunion  zugelassen.  Das  Lesen  des  Evangeliums  endigt 
die  Messe.  —  Das  Presbyterial-Opfer.  Der  Papst  nimmt  die 
Tiara  und  besteigt  die  Sedia  gestatoria.  Der  Kardinalpriester 
übergiebt  dem  Papst  eine  Börse  mit  30  Juliusd'or  und  spricht: 


Das  Innere  der  Si 

Altarwand    Das  jüngste  ( : 


nischen  Kapelle. 

3ht .  von  Michelangelo. 


Kuuslvcrlag   Max  Schmitz,    Lcipzig-R. 


1.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Rom.  49 

»AUerheiligster  Vater,  das  Kapitel  und  die  Kanoniker  der 
Basilika  bieten  Euch  das  gewohnte  Opfer  für  die  Messe  dar, 
die  ihr  eben  sänget«.  —  Die  Verehrung  der  Reliquien. 
Der  Zug  begiebt  sich  in  die  Mitte  der  Kirche  vor  die  Kon- 
fession, ein  Kanoniker  erscheint  in  der  Veronika-Loggia  und 
zeigt  die  Eeliquien.  Nach  der  Veneration  begiebt  sich  der 
Zug  zur  vatikanischen  Loggia,  die  sich  gegen  den  Petersplatz 
öffnet.  Der  Papst  erteilt  auf  seinem  Zuge  feierlich  den  Segen 
an  die  Umstehenden.  —  Der  allgemeine  päpstliche  Segen. 
Die  Loggia  an  der  Fassade  ist  mit  Tüchern  reich  geschmückt. 
In  den  Fenstern  der  Portiken  und  am  P\ifse  des  Obelisken 
stehen  Stühle  zum  Ausleihen,  von  wo  aus  man  den  Paj^st 
sehen  kann.  Das  Volk  drängt  sich  auf  die  Treppe,  um  den 
Obelisken  und  längs  der  Kolonnaden.  Vor  der  Benediktion 
erscheint  in  der  Loggia  das  päpstliche  Kreuz  und  die  päpst- 
lichen Insignien  (die  Tiaren  und  Mitren),  die  auf  den  Balkon 
niedergelegt  werden;  dann  tritt  der  Papst  bis  zur  Brüstung 
vor,  die  Glocken  verstummen,  die  Fontänen  versiegen,  auf 
dem  ungeheuren  vollgedrängten  Platze  ist  alles  still,  die  Menge 
kniet  nieder,  der  Papst  erhebt  feierlich  die  Hände  und  mit 
lauter  Stimme  segnet  er  dreimal  die  Gläubigen.  Im  Augen- 
blick des  letzten  Amen  werden  alle  Glocken  von  St.  Peter  ge- 
läutet. Das  Volk  ruft:  Evviva!  und  schwenkt  die  Tücher. 
Der  Papst  überschaut  die  Menge,  erhebt  sich  noch  einmal 
und  erteilt  den  zweiten  stillen  Segen.  Ein  Kardinaldiakon 
verliest  lateinisch  die  Ablafsformel  für  die  Anwesenden,  ein 
zweiter  liest  sie  italienisch;  Kopien  der  Formel  werden  auf 
den  Platz  hinunteroeworfen. 


^4^^ 


Ritter,  Encyklopädie  der  Mnsikgescliichto.  III. 


Cf3[t3Ct3Cf:iCf3Ct3[f3C^Cj3[:f:3[:?3[t3^ 


2.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig. 


a)  Vertreter  der  älteren  venetianischen  Tonschule. 

(16.  Jahrhundert.) 

Welcher   niederländische   Tonsetzer   wird    als  Begründer   der 
älteren  venetianischen  Tonschule  angesehen? 

Adrian  Willaert,  geb.  1480  oder  1490  in  Brügge,  gest.  am 
7.  Dezember  1562  in  Venedig.  Willaert  wurde,  nachdem  er 
in  Paris  eine  Zeit  lang  Rechtswissenschaft  studiert  hatte, 
Schüler  des  Kapellmeisters  Franz  I.  Mouton,  der  wiederum 
ein  Schüler  von  Josquin  des  Pres  gewesen  war.  Wie  viele 
andere  seiner  Landsleute  (z.  B.  Philipp  Verdelot,  Jakob 
Arkadelt,  Claude  Goudimel,  Cyprian  van  Pore,  van  Boes 
und  Berchem)  wanderte  auch  Adrian  Willaert  zu  weiterer 
musikalischen  Ausbildung  nach  Italien.  1516  erblicken  wir 
ihn  in  Rom  zur  Zeit  Leo  X.,  und  bald  darauf  als  Kai3ell- 
meister  Ludwig  IL,  Königs  von  Ungarn  und  Böhmen,  der 
1526  in  der  Schlacht  bei  Mohacz  fiel.  Noch  in  diesem  Jahre 
ging  Willaert  nach  Venedig,  wo  er  bereits  im  Jahre  1527 
die  Anstellung  eines  ersten  Kapellmeisters  am  San  Markus- 
dome erhielt,  anfangs  mit  70,  später  mit  200  Dukaten  Ge- 
halt. Der  Doge  Andrea  Gritti  war  es  gewesen,  der  Willaerts 
Anstellung  bewirkt  hatte.  Willaert,  der  als  Komponist,  Lehrer 
und  Theoretiker  auf  dem  Boden  von  Venedig  eine  grofse 
Thätigkeit  entfaltete,  besuchte  seine  nordische  Heimat  noch 
zweimal  und  zwar  1542  und  1556.  Leider  konnte  er  in  den 
letzten  Jahren  seines  Lebens  nicht  mehr  amtlich  thätig  sein, 
da  er  von  schwerer  Krankheit  befallen  wurde.  Von  zahlreichen 
Verehren  und  Schülern  betrauert,  starb  Willaert  im  Jahre  1590. 
Seine  Kompositionen  bestehen  aus  Motetten,  Psalmen,  Vespern 
und  Madrigalen.  Ganz  besonders  ist  es  das  Madrigal, 
das  von  Willaert  seinen  Ausgangspunkt  nimmt. 
Willaerts    Kompositionen,   die    lediglich    im    a-capella- Stile 


2.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig.  51 

geschaffen,  also  vokaler  Natur  sind,  zeichnen  sich  durch 
reiche  Harmonie,  schöne  Melodik  und  interessante  Rhythmik 
aus.  Willaert  schrieb  bereits  für  mehr  als  vier  Stimmen. 
Seine  Wechselchöre  (doppelchörige  Hymnen),  wozu  die 
Markuskirche  durch  ilire  zwei  Emporen  mit  Orgeln  Gelegen- 
heit bot,  trugen  Willaert  so  hohen  Euhm  ein,  dals  man  von 
denselben  als  von  einem  »aurum  potabile«  (trinkbarem  Golde 
in  Tönen)  redete.  Bei  Willaert  ist  bereits  ein  Übergang 
von  den  die  katholische  Liturgie  beeinflussenden  Kirchen- 
tonarten zu  den  modernen  Tonarten  zu  bemerken.  Der 
neue  Stil  der  Kirchenmusik,  der  in  der  venetianischen  Ton- 
schule erblüht,  ist  wohl  nicht  nur  dem  Einflüsse  Willaerts 
zu  verdanken,  sondern  wie  dieses  selbst  das  Produkt  der 
Verhältnisse,  Zustände,  der  Geistesrichtung,  der  Lebens- 
auffassung, überhaupt  der  Entwicklung  des  gesamten  sozialen 
und  staatlichen  Lebens  der  Republik  Venedig. 

Worin  unterscheiden  sich  im  allgemeinen  die  Ausdrucksweisen 
auf  dem  Gebiete  der  Tonkunst  der  römischen  und  der  vene- 
tianischen Tonschule? 

Ist  die  Ausdrucksweise  der  römischen  Tonschule  (Palestrina- 
stil)  eine  tiefinnerliche,  so  recht  der  Ausflufs  von  erhabenen 
Empfindungen  und  heiliger  Andacht,  wie  sie  uns  aus  den 
Bildern  Peruginos  und  Rafaels  (Madonnenbilder  und  heilige 
Cäcilia)  entgegentritt,  so  ist  der  Stil  der  Venetianer  glanz- 
voll, prächtig;  der  Hauptschwerpunkt  liegt,  wie  bei  Venedigs 
Malern,  in  der  koloristischen  Wirkung.  Sinnlicher  Reiz  waltet 
in  den  Kompositionen  der  Venetianer  Tonkünstler  gegenüber 
dem  sinnigen  und  mehr  innerlichen  Wesen  der  Schöpfungen 
der  gleichzeitigen  römischen  Tonschule  vor.  —  Ein  wichtiger 
Umstand  in  der  Verschiedenheit  venetianischer  Chorwerke 
von  denen  der  römischen  Tonschule  war,  äufserlich  be- 
trachtet, schon  durch  die  beiden  Gotteshäuser  St.  Peter  in 
Rom  und  San  Marco  in  Venedig  bedungen:  Gab  die  päpst- 
liche Sängerkapelle  in  Rom  (Sixtina)  nur  dem  a-capella- 
Gesange  Raum,  so  war  durch  die  beiden  die  Apsis  des 
Markusdomes  begrenzenden  Emporen,  auf  denen  zugleich 
zwei  Orgeln  Aufstellung  finden  konnten,  schon  durch  die 
Architektur  für  die  bequeme  Aufstellung  von  zwei  Chören 
gesorgt.     (Daher   auch  Willaerts  zweichörige  Psalmen,   Mo- 

4* 


52  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

tetten,  Hymnen  und  anderen  zweichörigen  Kirchenkompo- 
sitionen.) 

Wie  liiefs  der  Schüler  und  Nachfolger  Willaerts  am  Markus- 
dome in  Venedig? 

Cyprian  van  Rore,  geb.  1516  in  Mecheln  (Niederlande), 
gest.  1565  in  Parma.  Van  Rore,  der  schon  in  jungen  Jahren 
nach  Venedig  kam,  wurde  zunächst  als  Sänger  des  Chores 
an  San  Marco  angestellt  und  war  als  solcher  Schüler  seines 
grofsen  Landsmannes  Adrian  Willaert.  Nachdem  Cyprian 
van  Rore  auf  kurze  Zeit  Dienste  beim  Herzog  Herkules  II. 
von  Ferrara  gethan  hatte,  kehrte  er  nach  dessen  Tode  1559 
nach  Venedig  zurück,  wo  er  1563  an  die  Stelle  Willaerts  als 
Kapellmeister  an  San  Marco  kam.  Dieses  Amt  vertauschte 
er  bald  mit  der  Kapellmeisterstelle  beim  Herzog  Farnese 
in  Parma,  wo  er  1565  starb.  Von  ihm:  mehrere  Sammlungen 
Madrigale,  vier-  bis  achtstimmige  Motetten,  vier-  bis  sechs- 
stimmige Messen,  Psalmen,  Magnifikate,  Passionsmusiken 
u.  a.  m.  Bei  Cyprian  van  Rore,  durch  den  Willaerts  Be- 
strebungen eine  Weiterentwicklung  fanden,  ist  schon  eine 
gesteigerte  Ausdrucksweise  zu  verzeichnen,  indem  er  es 
war,  der  schon  von  chromatischen  Intervallen  Gebrauch 
machte  und  so  eine  Harmonik  herbeiführte,  die  der  strengen 
Kompositionsweise  in  den  Kirchentonarten  widersprach.  Die 
Deklamation  seiner  Texte  ist  die  für  damalige  Zeit  denkbar 
natürlichste,  indem  er  sich,  wenn  es  anging,  nach  dem  pro- 
sodischen  Mafse  des  Wortes  richtete. 

Wer  war  der  Nachfolger  Cyprians  van  Rore  als  Kapellmeister 

am  St.  Markusdome  in  Venedig? 

Giuseppe  Zarlino,  aus  dem  südlich  von  Venedig  gelegenen 
Chioggia  gebürtig  (von  1517—1589).  Zarlino  war  Schüler 
von  Willaert  und  nicht  allein  ein  tüchtiger  ausübender 
Musiker,  sondern  auch  ein  bedeutender  Musikgelehrter,  so- 
wie auch  dem  Studium  der  Philosophie,  Mathematik,  Chemie 
und  Astronomie  ergeben.  Zarlino,  ursprünglich  für  den 
geistlichen  Stand  bestimmt,  erhielt  1537  die  niederen  Weihen. 
Der  Holländer  Swelink  sowie  der  Florentiner  Vincenzo  Galilei 
waren  Schüler  Zarlinos,  Von  Zarlino:  1558  »Institutione 
harmoniche< ,  1562  fünf  Bücher  »Dimonstrationi  harmoniche«, 


2.  Die  Musik entwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig:. 


53 


dem  Dogen  Liiigi  Mocenigo  gewidmet,  1588  acht  Bücher 
»Monumenti  miisicah«.  1574  als  Heinrich  III.  von  Valois 
auf  einer  Reise  von  Polen  nach  Frankreich  über  Venedig 
kam,  wurde  er  auf  dem  Bucintoro  durch  lateinische  Gesänge, 
von  Zarlino  komponiert,  begrüfst.  Zarlinos  Zeitgenossen 
bezeichneten  diese  Musik    als   »musiche  bellissime  in  versi 


Xo.  8.     St.  Markusdoni  in  Venedig. 

latini« ;  aufserdem  fand  bei  dieser  Gelegenheit  eine  Fest- 
musik von  Zarlino  im  San  Marco,  sowie  im  grolsen  Rats- 
saale des  Dogenpalastes  die  Aufführung  des  »Orfeo«,  mit 
Musik  A^on  Zarlino  statt.  Von  Zarlino  ward  auch  eine 
Messe  komponiert,  die  1577  nach  dem  Erlöschen  der  grolsen 
Pest,  der  u.  a.  auch  Tizian  zum  Opfer  fiel,  aufgeführt  wurde. 

Wie  hiefsen  die  Organisten  an  den  Orgeln  von  San  Marco  in 
Venedig  in  der  letzten  Zeit  der  Wirksamkeit  Zarlinos? 

Annibale    Padovan© ,    Claudio    Älerulo    sowie    Andrea    und 

Giovanni  Gabrieli. 


54  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Andrea  Gabriel!  (auch  genannt  Andrea  del  Canareggio), 
geb.  1510  in  Venedig,  war  Schüler  Willaerts.  Andrea  Gabriel! 
trat  1536  als  Sänger  in  den  Chor  von  San  Marco,  in  welcher 
Stellung  er  bis  1566  verblieb.  Von  1566  bis  zu  seinem  Tode 
1586  bekleidete  er  als  Nachfolger  Merulos  die  Stelle  eines 
zweiten  Organisten  am  Dome.  Von  ihm:  »Psalm!  j)oeniten- 
tiales«,  Venedig  1583,  Motetten,  Madrigale,  sowie  Orgelkom- 
positionen mit  Instrumentalbegleitung.  Auch  komponierte 
er,  gleichwie  Zarlino,  eine  Festmusik  zu  Ehren  der  An- 
wesenheit Heinrich  III.  von  Frankreich:  eine  acht-  und  eine 
zwölfstimmige  Kantate.  Ein  bedeutender  Schüler  Andrea 
Gabrielis  war  der  deutsche  Tonsetzer  Leo  Hasler. 

Claudio  Merulo,  geb.  1532  in  Correggio,  weshalb  er  auch 
öfters  Claudio  da  Correggio  genannt  wird.  Vom  Jahre  1557 
an  wirkt  Merulo  als  zweiter,  von  1566  an  als  erster  Organist 
am  San  Marco,  nachdem  Annibale  Padovano  aus  dieser 
Stellung  geschieden  war.  Im  Vereine  mit  dem  vorher- 
genannten Andrea  Gabrieli  versah  Merulo  bis  zum  Jahre  1584 
den  Organistendienst  am  Markusdome  in  Venedig,  als  ihn  der 
Herzog  Ranuccio  Farnese  als  Organist  an  die  Kirche  der 
Steccata  berief.  Bis  zu  seinem  Lebensende,  4.  Mai  1604, 
entfaltete  Claudio  Merulo  in  Parma  eine  grolse  Thätigkeit 
als  Orgelvirtuos  und  Komponist.  Von  ihm:  »Missae  et 
Litaniae«  8 — 12  vocum  (1609  erschienen),  Motetten,  »Sacri 
concenti«,  3 — 5-stimmige  Madrigale,  die  mit  zu  den  schönsten 
dieser  Kunstgattung  gehören.  Claudio  Merulo,  der  sowohl 
als  Organist,  als  auch  als  Vokalkomponist  eine  Berühmtheit 
seiner  Zeit  war,  gehört  zu  den  Poly Choristen  der  altvene- 
tianischen  Tonschule.  Auch  er  komponierte,  gleichwie  Zarlino 
und  A.  Gabrieli  zum  Empfange  des  Königs  Heinrich  III. 
von  Frankreich  Festkantaten.  (Aus  dieser  Thatsache  ist 
ersichtlich,  wie  die  Tonsetzer  Venedigs  ihre  Kunst  bereits 
in  den  Dienst  der  öffentlichen  politischen  Vorgänge  stellten, 
gleichwie  es  z.  B.  der  Maler  Paolo  Veronese  that,  indem  er 
zur  Verherrlichung  seiner  Landsleute  die  Seeschlacht  gegen 
die  Türken  bei  Lepanto  [7.  Oktober  1571]  malte.  Schon  in 
solchen  Thatsachen  ist  der  Unterschied  in  der  Anwendung 
der  Künste  auf  dem  Boden  Roms  und  Venedigs  zu  er- 
blicken.   Während  in  Rom,  mit  ganz  geringen  Ausnahmen 


2.  Die  Musikentwicklung'  auf  dem  Boden  von  Venedig.  55 

die  Kunst  ausschlielslich  geistlichen  Zwecken  dienstbar  war, 
wurde  sie  in  Venedig  bereits  dem  politischen  und  aulser- 
kirchlichen  Leben  geweiht.) 

Baldassaro  Donato,  geb.  in  Venedig  1545,  gest.  als  Kapell- 
meister am  San  Marco  1603,  schlielst  sich  den  Vorhergehen- 
den als  Komponist  bedeutender  Vokalwerke  an. 

Giovanni  Gabrieli,  geb.  1557  in  Venedig,  gest.  daselbst 
am  12.  August  1613,  wohl  der  Bedeutendste  und  Hervor- 
ragendste unter  den  Komponisten  der  altvenetianischen 
Tonschule.  G.  Gabrieli  war  im  Gesänge,  im  Orgelspiele, 
sowie  in  der  Komposition  mit  dem  Nürnberger  Leo  Hasler 
Schüler  seines  Onkels  A.  Gabrieli.  Von  1585  an  wirkte  G.  Ga- 
brieli am  Markusdome  als  Organist.  Besonders  bemerkens- 
wert sind  G.  Gabrielis  Beziehungen  zu  Deutschland: 

1.  Zum  Hause  Fugger  in  Augsburg.  (Georg  Fugger  war 
Gesandter  Kaiser  Rudolf  IL  in  Venedig.) 

2.  Zum  Herzog  Albrecht  V.  von  Bayern  und  dessen  Söhnen. 
(Durch  Albrecht  V.  von  Bayern  war  Orlando  di  Lasso 
nach  München  berufen  worden.) 

3.  Die  Deutschen  Heinrich  Schütz  (Vorläufer  des  grofsen 
J.  S.  Bach)  und  Michael  Praetorius  waren  Schüler  G.  Ga- 
brielis. 

Giovanni  schrieb  grofsartige  und  tiefempfundene  Chorwerke, 
denen  er  bereits  ein  Orchester  hinzufügte,  das  aus  Cornetti, 
Geigeninstrumenten  und  Posaunen  bestand.  Die  bedeutend- 
sten derselben  sind  die  Symphoniae  sacrae,  7-,  8-,  10-,  12-, 
14-,  15-  et  16-tam  vocibus  quam  instrumentis.  Venetia  1597, 
sowie  die  6— 19-stimmigen  Motetten.  Nürnberg  1619.  Durch 
solche  Werke  wurde  selbstverständlich  die  Prachtentfaltung 
der  Musik  auf  dem  Boden  von  Venedig  aufserordentlich 
gesteigert.  Von  den  Vokalkompositionen  G.  Gabrielis  sind 
noch  Psalme,  einzelne  Sätze  aus  Messen,  sowie  einige  Mag- 
nifikate  zu  erwähnen.  Besonders  schön  sind:  »O  Domine 
Jesu  Christe«  und  der  55.  Psalm  »Exaudi  deus  orationem 
meam«.  Die  Instrumentalsätze  G.  Gabrielis  (Ricercari  für 
Orgel,  Sonaten  für  Blas-  und  Streichinstrumente,  sowie  die 
Symphoniae  sacrae,  welche  er  Fugger  in  Augsburg  widmete) 
lassen  uns  diesen  Tondichter  neben  Allegri  als  einer  der 


56  2.   Die  Musikeiitwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

frühesten  Komponisten  auf  dem  Gebiete  der  Instriimental- 
musilc  erkennen,  obwohl  der  Schwerpunl<:t  seines  Schaffens 
in  die  Volvahnusilc  fällt.  Aus  seinen  Instrumentalsätzen, 
von  denen  J.  W.  v.  Wasielewski  einige  in  seinem  Werke 
»Instrumentalsätze  vom  Ende  des  16.  bis  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts, Bonn  1874,  mitteilt,  ersieht  man,  wie  sehr  noch 
die  Instrumentalmusik  jener  Zeit  der  Nachhall  der  Vokal- 
musik war.  (Einige  dieser  Instrumentalsätze  wurden  auf- 
geführt gelegentlich  der  Vermählung  Venedigs  mit  dem 
Meere  durch  den  Dogen.  [1796  fand  die  letzte  derartige 
feierliche  Ceremonie  auf  dem  »Bucintoro«  statt;  von  diesem 
Prachtschiffe  warf  der  Doge  den  Ring  in  die  Fluten  mit 
den  Worten:  »Desponsamas  te  mare  in  Signum  veri  per- 
petuique  Domini.«])  Von  den  italienischen  Schülern  G.  Ga- 
brielis  sei  hier  besonders  A.  Grani  genannt  und  als  Zeit- 
genossen und  als  solche  Vertreter  der  älteren  venetianischen 
Tonschule  Leo  Leoni,  geb.  1560,  Kapellmeister  an  der 
Kathedrale  von  Vicenza  und  Giovanni  Croce,  geb.  1560 
in  Chioggia,  gest.  1610  in  Venedig.  Croce  war  Schüler 
Zarlinos  und  Nachfolger  B.  Donatos  als  Kapellmeister  an 
San  Marco. 

b)  Vertreter  der  jüngeren  venetianischen  Tonschule. 
(17.  und  Anfang  des  18.  Jahrhundert.) 

Wer   waren    die  Vertreter   der   jüngeren  venetianischen  Ton- 
schule? 

Giovanni  Legrenzi,  geb.  1625  in  Clusone  bei  Bergamo, 
war  anfangs  Organist  an  der  Kirche  Santa  Maria  Maggiore 
in  Bergamo,  sodann  Kapellmeister  des  Kirchenchores  in 
Ferrara,  kam  1664  nach  Venedig,  wo  er  von  1672 — 1685  die 
Stellung  eines  Direktors  des  Konservatoriums  dei  mendicanti 
bekleidete,  welche  er  1685  mit  der  Kapellmeisterstellung  am 
San  Marco  vertauschte.  Legrenzi  starb  1690  in  Venedig. 
Von  ihm:  eine  grofse  Anzahl  schöner  Messen,  Motetten, 
Psalmen  und  andere  Kirchenwerke.  Das  Orchester  am  San 
Marco  bestand  unter  Legrenzi  bereits  aus  34  Mitgliedern: 
11  kleine  und  8  grofse  Geigen,  2  Viole  da  braccio,  2  Viole 
da  gamba,  4  Theorben  (Bafslauten),  2  Cornetti,  1  Fagott 
und   3  Tromboni  (Posaunen).     Charakteristisch    an   diesem 


2.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig.  57 

Orchester  gegenüber  dem  der  Altvenetianer  war  die  grölsere 
Anzahl  der  Streichinstrumente.  Legrenzi,  der  Lehrer  von 
Antonio  Lotti  war,  ist  noch  als  Komponist  von  musikdrama- 
tischen Werken  (ernsten  und  komischen  Opern)  zu  ver- 
zeichnen, in  welcher  Hinsicht  er  von  der  toskanischen 
Musikbewegung  beeinflulst  wurde.  Unter  seinen  Opern 
sind  hervorzuheben:  »Creso«,  »Pertinace«,  »Eteocle  e  Po- 
linice« und  »Achille  in  Sirio«. 

Antonio  Lotti,  geb.  1G67,   wahrscheinlich   als   Sohn  eines 
Venetianers,    der   als    Kapellmeister    im    Dienste    des    Kur- 
fürsten  von  Hannover   stand;    gest.   am  5.  Januar  1740  in 
Venedig    als  Kapellmeister  an    San  Marco.     Seine   musika- 
lische Ausbildung  erhielt  Lotti   am  Conservatorio  dei  men- 
dicanti,    wo    Legrenzi    sein    Lehrer    war.      Von    1717—1719 
wirkte    Lotti    als    Kapellmeister    an    der    vom    Kurfürsten 
August  dem  Starken  begründeten  italienischen  Oper  in  Dres- 
den,  nach  Venedig  zurückgekehrt  von  1720  bis  zu  seinem 
Tode  an   San  Marco.      Antonio  Lotti   ist   der  bedeutendste 
Vertreter  der  jüngeren  venetianischen  Tonschule   und  war 
fruchtbar  als  Kirchen-,  Madrigal-  und  Opernkomponist.   Seine 
Werke  zeichnen  sich  durch  schönes  Melos,  durch  Einfach- 
heit im  Stile  sowie  durch  Charakteristik  im  Ausdrucke  aus 
und  bezeugen  bereits  eine  freiere   Behandlung  des  instru- 
mentalen Apparates,  als  bisher.    Li  Bezug  auf  die  Oper  ist 
Lotti  von  der  Florentiner  Bewegung  beeinflufst.     1705  er- 
schienen von  Lotti  in  Venedig  »Duetti,  Terzetti  e  Madrigali, 
consacrati  alla  C.  R.  Maestä  di  Giuseppe  I  imperatore  etc.« 
Berühmt  sind  die  im   a-capella- Stile  komponierten   »Bene- 
dictus  deus  Israel«,  das  »Miserere«,  der  dreistimmige  Frauen- 
chor   mit    Streich(iuartettbegleitung    »Laudate    pueri«,    eine 
Messe    für    Männerchor,    Psalm    112    für    Männerchor,    die 
Motette  »Vere  languores  nostros«,  das  sechs-  und  achtstim- 
niige    »Crucifixus«,    das    vierstimmige    »Sanctus    Dominus«, 
die  vier-  und   fünfstimmigen  Madrigale,   die   zwölf  »Duetti 
di   Camera«,   Magnifikate,   Kyries  und  mehrere  Credos  mit 
Instrumentalbegleitung.      Von    Lottis    Opern    seien    hervor- 
gehoben:   »Achille  placato«,   »Isaccio  Tiranno«,   »Porsenna«, 
»II  Polidoro«,  »Costantino«  und  »Alessandro  severo«.    Seine 
Intermezzi  sind  zum  Teil  noch  nicht  veröffentlicht. 


58  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Hervorragende  Schüler  A.  Lottis:  Giovanni  Battista 
Pescetti,  Antonio  Alberti,  Benedetto  Marcello,  Bal- 
dassaro  Galuppi,  M.  Gasparini  und  Lottis  zweiter  Nach- 
folger am  San  Marco  G.  Saratelli  aus  Padua. 

Berühmte  musikalische  Zeitgenossen  Lottis:  der  Violin- 
spieler Tomaso  Albin oni,  geb.  1674  in  Venedig,  gest.  1745 
daselbst;  Komponist  von  Violin-  und  Listrumentalkompo- 
sitionen,  sowie  von  Kirchensachen  und  49  Opern.  Antonio 
Vivaldi,  geb.  1670  in  Venedig,  gest.  1743  daselbst.  Vivaldi, 
der  Priester  war,  schrieb  aulser  Geigensachen,  Kirchenkom- 
positionen und  28  Opern;  er  wirkte  längere  Zeit  als  Kapell- 
meister des  Landgrafen  von  Hessen -Darmstadt.  Vivaldi, 
selbst  ein  tüchtiger  Violinvirtuose,  schrieb  Sonaten  und 
mehrere  Konzerte  für  die  Geige,  in  welchen  er  die  von  Torelli 
angebahnte  Form  weiterentwickelte,  so  dafs  sie  mustergültig 
wurde. 

Unter  den  grofsen  Tondichtern  der  jüngeren  venetiani- 
schen  Tonschule  sind  noch  ganz  besonders  erwähnenswert 
Antonio  Caldara,  Benedetto  Marcello  und  Baldassaro 
Galuppi. 

Antonio  Caldara,  geb.  1678  in  Venedig,  gest.  28.  De- 
zember 1763  in  Wien,  wirkte  vier  Jahre  in  Mantua  und 
war  bis  1738  unter  Fux  Vicekapellmeister  am  Hofe  Karl  VI. 
in  Wien.  Von  ihm:  Kantaten,  Hymnen,  Messen  und  Mo- 
tetten, welche  sich  durch  schöne  kontrapunktische  Arbeit 
auszeichnen;  ferner  Sologesänge  mit  Begleitung  des  Clavi- 
cembalo,  zwei-,  drei-  und  vierstimmige  Kantaten  a-capella 
sowie  mit  Begleitung  von  Streichinstrumenten,  ein  16-stim- 
miges  »Crucifixus«,  die  Oratorien  »Die  Bekehrung  König 
Chlodwigs  von  Frankreich«,  »Der  Triumph  der  Unschuld«, 
»Der  Triumph  der  Liebe«,  »Tobia«,  »David«,  »La  passione 
di  Gesü  Christo«,  »Morte  e  sepoltura  di  Christo«  und  69 
Opern. 

Benedetto  Marcello,  geb.  1686  in  Venedig,  gest.  1739  da- 
selbst. Marcello,  der  Schüler  Gasj)arinis  und  Lottis  gewesen 
ist,  war  eigentlich  nicht  Berufsmusiker,  sondern  Staatsmann; 
er  safs  als  solcher  im  Rate  der  Vierzig  und  war  Providetor 
von  Pola,  sowie  Schatzmeister  von  Pola.    Er  starb  als  Schatz- 


2.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig.  59 

meister  in  Brescia  am  24.  Juli  1739.  Marcello  komponierte 
Kirchen-  und  Kammermusik,  sowie  einige  wenige  musik- 
dramatische Werke;  auch  als  Dichter  und  Musikschriftsteller 
war  er  thätig.  Von  ihm  sind  Solokantaten,  Kanzonen,  zwei- 
iind  dreistimmige  Arien,  Konzerte  und  Sonaten  für  ver- 
schiedene Instrumente,  sowie  das  Oratorium  »Judith<'  er- 
wähnenswert. Das  Hauptwerk  Marcellos  ist  das  Psalmenwerk 
»Estro  Poetico  armonico.  Parafrasi  sopra  i  primi  venti- 
cinque  salmi.  Poesia  di  Giralamo  Ascanio  Giustiniani-.  Venezia 
Domenic.  Lovise  1724.  Weitere  25  Psalmen  von  Marcello 
erschienen  in  den  Jahren  1726  und  1727.  Diese  50  Psalmen 
umfassen  zwei  Bände,  die  mehrere  Auflagen  erlebten.  Be- 
sonders interessant  und  charakteristisch  sind  die  Vorreden, 
welche  diesem  Psalmenwerke  voranstehen.  Aufser  Andeu- 
tungen über  hebräische  und  griechische  Musik  stellt  Mar- 
cello die  Forderung  auf,  das  Wort  überall  zu  seinem  Piechte 
kommen  zu  lassen,  unnütze  Koloraturen  und  Wiederholungen 
fortzulassen;  er  giebt  geradezu  der  Melodie  vor  der  Har- 
monie und  vor  dem  Kontrapunkte  den  Vorzug.  Die  Psalmen 
sind  für  eine,  zwei,  drei  und  vier  Stimmen  geschrieben,  denen 
eine  bezifferte  Orgel-  oder  Clavicembalostimme  unterliegt; 
einige  sind  mit  obligatem  Violoncello,  andere  mit  zwei  be- 
gleitenden Altviolen.  Von  Marcello,  der  wohl  als  einer  der  be- 
deutendsten Musiker  der  jüngeren  venetianischen  Tonschule 
zu  verzeichnen  ist,  verflacht  sich  auf  dem  Boden  Venedigs, 
sowie  überhaupt  Italiens  die  polyphone  Musik,  die  Allein- 
herrschaft des  melodischen  Elementes  nimmt  ihren  Anfang 
und  das  Virtuosentum  im  Gesänge  sowie  auf  den  Instru- 
menten steht  schon  vor  den  Thüren  der  Kirchen,  Säle  und 
Theater.  B.  Marcellos  Kompositionen  bestehen  aufser  den 
bereits  genannten  in  Madrigalen,  Messen,  Misereres,  den 
Oratorien  »Giuditta«  und  >Gioas«  in  Intermezzis  den  Kan- 
taten »Timoteo«,  »Cassandra«,  »La  stravaganzi«,  »L'addio 
di  Ettore«,  »Clori  e  Dalisio  ,  den  Oi^ern  »Calisto  in  Orsa«, 
»Arianna«,   >La  fede  riconnosciuto«  u.  a.  m. 

Baldassaro  Galuppi,  geb.  18.  Oktober  1706  auf  der  Insel 
Burano  bei  Venedig,  gest.  im  Januar  1784  in  Venedig.  Ga- 
luppi, der  auch  unter  dem  Namen  Buranello  bekannt  ist, 
war  Kirchen-  und   Opernkomponist.     Seine  Ausbildung  er- 


60  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

hielt  Galupi^i  auf  dem  Conservatorio  degli  inciirabili  in 
Venedig  unter  Lotti.  Schon  bald  trat  er  als  Komponist 
komischer  Oj)ern  auf,  auf  welchem  Gebiete  er  sich  später 
besonders  auszeichnete  und  Mozart  als  Vorbild  diente.  In 
London,  wo  er  von  1741  an  weilte,  führte  er  die  Opern  »Pene- 
lope«,  »Scipione  in  Cartagine«,  »Enrico«  und  »Tirbace«  mit 
grofsem  Erfolge  auf.  Im  Jahre  1762  sehen  wir  Galuppi  die 
Nachfolge  G.  Saratellis  als  Kaj^ellmeister  am  San  Marco  in 
Venedig  antreten.  Bis  1765  wirkte  er  als  solcher,  um  einem 
Eufe  als  Hofkapellmeister  nach  St.  Petersburg  Folge  zu 
leisten.  Hier  war  er  für  die  Einführung  italienischer  Kirchen- 
musik thätig  und  schrieb  seine  beiden  bedeutendsten  Opern 
»Dido  abandonata«  und  »Ifigenia  in  Tauride«,  welche  aufser- 
gewöhnlichen  Erfolg  hatten.  Im  Jahre  1768  nach  Venedig 
zurückgekehrt,  wirkte  er  wie  früher  als  Kapellmeister  an 
San  Marco  bis  zu  seinem  Lebensende.  Sein  grofses  Ver- 
mögen vermachte  er  den  Armen  der  Stadt  Venedig. 

Galuppis  Stil  ist  frisch  und  natürlich,  die  Melodie  steht 
im  Vordergrunde,  aber  dieselbe  ist,  wie  es  ja  den  Italienern 
eigen,  von  hinreifsender  Gewalt.  Gegen  70  Opern  sind  A^on 
ihm  geschrieben  neben  Motetten,  Psalmen  und  Messen,  die 
aber  bereits  die  frühere  Einfachheit  aufgeben  und  sich  im 
Stile  der  Ausdrucksweise  der  Oper  nähern.  Von  seinen 
komischen  Opern  seien  erwähnt:  »II  mondo  alla  rovescia«, 
»II  cavaliere  delle  piume«,  welche  überall  und  häufig  auf- 
geführt wurden.  Von  Galupi^is  ernsten  Opern  sind  aufser 
den  bereits  genannten  noch  zu  bemerken:  »Adriano  in 
Siria«,  »Antigona«,  »Attalo«,  »II  Demofoonte«,  »Melita«, 
»Montezuma«  und  »Olimpiade«. 

Die  jüngere  venetianische  Tonschule  steht  bereits  schon 
stark  unter  dem  Einflufs  der  Musikbewegung,  welche  von 
Florenz  und  Neapel  ihren  Ausgang  nahm  und  ist  durch 
jene  eigentlich  erst  motiviert.  Nur  der  einheitlichen  Dar- 
stellung der  Musikentwicklung  Venedigs  wegen  sei  diese 
Vorwegnahme  gestattet.  Diejenige  Stadt  Italiens,  in  welcher 
sich  so  recht  eigentlich  der  Einflufs  der  Renaissance  auf 
die  Musik  geltend  machte,  ist  Florenz;  hier  wurde  am  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  eine  spezielle  und  neue  Kunstgattung^ 
ein  echtes  Kind  der  Renaissance  —  die  Ojoer  —  das  Musik- 


2.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig.  61 

drama,  die  opera  in  musica  geschaffen.  Die  Wiedergeburt 
des  antiken  Geisteslebens  in  Kunst  und  Wissenschaft  hatte 
diesen  neuen  Musikstil  zur  Folge;  derselbe  erwuchs  nicht 
aus  der  Polyphonie  des  Mittelalters,  sondern  aus  der  Mo- 
nodie, dem  Einzelgesang,  der  i^ersönlichen  musikalischen 
Redeweise,  welche  von  nun  an  gegenüber  dem  Überwuchern 
des  Kontrapunktes  in  der  Musik  in  Italien  herrschend  wurde. 
Der  modern-subjektive  Ausdruck  in  der  Musik  gewinnt 
gegenüber  dem  mittelalterlich -objektiven  Ausdrucke  die 
Oberhand  in  der  Musik.  Dies  soll  in  den  nächsten  Kapiteln 
behandelt  werden. 


ria. 


3.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz. 


Welcher   Musikstil    wird    in    der    toskanischen   Tonschiüe   be- 
gründet? 

Der  musikdramatische  Stil,  der  sich  im  stylo  parlante,  stylo 
representativo  —  im  Recitativ  kennzeichnet. 

Welche  Daten  sind  bezeichnend  für  den   Stand  des  geistigen 
Lebens  in  Toskana  seit  Beginn  der  Renaissance? 

1.  Auf  dem  Gebiete  der  Architektur  in  Florenz  im  15.  Jahr- 
hundert: Brunellesco  (Kupj)elbau  des  Florentiner  Doms) ; 
BenedettoMajano;MichelozzoMichelozzi;Cronaca 
und  Leon  Battista  Alberti. 

2.  Auf  dem  Gebiete  der  Plastil<::  Nicolo  Pisano  verkündet 
im  13.  Jahrhundert  schon  inmitten  der  herrschenden 
gotischen  Stilepoche  das  Wesen  der  antil^en  Plastik.  — 
Donatello  huldigt  einem  starken  Naturalismus,  und  seine 
Gestalten  stehen  im  schroffen  Gegensatze  zu  den  antilcen 
sowie  zu  den  bisher  mittelalterhchen.  —  Giovanni  Pisano 
(Sohn  Nicolas)  wendet  sich  wieder  dem  mittelalterlichen 
Stile  in  der  Plastik  zu. —  In  Luca  della  Robbias  Dar- 
stellungen zeigt  sich  der  antike  Geist  für  Plastik,  der 
schliefslich  bei  Lorenzo  Ghiberti  (Thüren  des  Baptiste- 
riums)  im  schönsten  und  herrlichsten  Lichte  erscheint. 

3.  Auf  dem  Gebiete  der  Malerei:  Während  Cimabue  und 
dessen  Schüler  Giotto  im  streng  mittelalterlichen  Stile 
schaffen,  ist  Masaccio  denselben  entgegengesetzt  durch 
lebensvollere  Darstellung  der  Wirklichkeit;  ebenso  stellen 
Orcagna,  Signorelli,  FraAngelica,Fra  Bartolomeo, 
Filippo  Lippi  und  Benezzo  Gozzoli  ihre  Gestalten 
dramatisch  bewegt  dar  (der  eine  mehr,  der  andere  weniger) 
und  wenden  sich  auf  solche  Weise  dem  Natürlichen  und 
Lebensvollen  zu. 


3.  Die  Musikentwickluiig  auf  dem  Boden  von  Florenz.  03 

4.  Auf  dem  Gebiete  des  Denkens  und  Empfindens,  welches 
durch  die  Wortsprache  zum  Ausdruck  gelangt:  Dante, 
der  grofse  Kritiker  seiner  eigenen  Zeit.  Petrarca,  der 
Begründer  wissenschafthcher  Philologie  und  Archäologie. 
Boccaccio,  der  als  Erster  eine  unumwundene  Aussprache 
der  natürhchen  Empfindungen  und  Pvegungen  führt,  frei 
von  allem  ängstlichen  und  mönchischen  Wesen  des  Mittel- 
alters. —  Es  seien  an  dieser  Stelle  auch  noch  der  grofsen 
Männer,  die  in  und  um  Florenz  geboren  wurden,  gedacht, 
wie  des  Leonardo  da  Vinci  (Schüler  von  Verochio)  und 
des  Bildhauers  Sansovino,  ganz  besonders  aber  des 
Meisters  Michelangelo,  als  bedeutendster  aller  italieni- 
schen bildenden  Künstler  nach  Seite  des  energischen  und 
dramatischen  Ausdruckes. 

5.  Die  Universalität  des  Geisteslebens  bedeutender  florentiner 
Künstler:  Giotto,  Leonardo  da  Vinci  und  Michel- 
angelo waren  Architekt,  Bildhauer  und  Maler  in  einer 
Person.  —  Architekten  und  Bildhauer  zugleich  waren 
Filippo  Brunellesco,  Giovanni  Pisano,  Jacopo 
Sansovino  und  Benedetto  da  Majano.  Kunsthisto- 
riker, Architekt  und  Maler  in  einer  Person  war  Giorgio 
Varsari.  In  Orcagna  erblicken  wir  zugleich  den  Maler 
und  Bildhauer,  sowie  in  Benvenuto  Cellini  den  Bild- 
hauer und  berühmtesten  Goldschmied  seiner  Zeit.  Aus 
den  Sonetten  Michelangelos  ersteht  dieser  Meister  als 
beachtenswerter  Dichter  und  Leonardo  da  Vinci  zeigt 
sich  durch  seine  Proportionslehre  als  tüchtiger  Gelehrter; 
beide  grofsen  Männer  waren  bei  all  ihrem  Kunstschaffen 
noch  ausübend  in  der  Musik,  und  es  ist  Thatsache,  dafs 
Leonardo  da  Vinci  bei  Ludovico  Sforza  ursprünglich  als 
Improvisator  und  Lautenspieler  angestellt  war.  (Galileo 
Galilei,  derjenige  Mann,  der  die  bisherigen  Anschauungen 
vom  Universum  ins  Schwanken  brachte,  und  das  Wort 
»Und  sie  bewegt  sich  doch!«  gesprochen  haben  soll,  war 
ebenfalls  Florentiner.) 

Welche  Daten  sind  aus  dem  politischen  und  staatlichen  Leben 
von  Florenz  zu  merken? 

300  jährige  Periode  der  Republik  vom  Anfange  des  13.  Jahr- 
hunderts.     Fehden    pohtischer,    religiöser    und    städtischer 


64  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Parteien.  Befehdungen  der  Uberti  und  Buondelmonti.  Kaiser 
Friedrich  II.  begünstigte  die  Uberti  und  es  entbrannte  vom 
Jalire  1246  ein  Kampf  der  Guelfen  und  Ghibellinen  (der 
Kaiserhehen  und  PäpstKchen  oder  wie  es  damals  hiefs:  der 
Neri  und  Bianchi).  Dantes  Verbannung  aus  seiner  Vater- 
stadt Florenz,  weil  er  sich  zur  Partei  des  römisch-deutschen 
Kaisers  hielt.  Erste  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts:  Florenz 
unter  Despotie  Walthers  von  Brienne,  des  Herzogs  von 
Athen.  Vertreibung  desselben.  Siege  der  Stadt  Florenz 
über  Nachbarstädte  (Pisa  u.  a.),  welche  neidisch  auf  die 
Machtentfaltung  von  Florenz  blickten.  Seit  1378  tritt  die 
demokratisch  gesinnte  Familie  der  Mediceer  in  den  Vorder- 
grund und  gewinnt  für  das  gesamte  Kulturleben  in  Florenz 
Bedeutung.  Unter  Cosmos  und  Loren zo  von  Medici 
findet  die  höchste  Kunstblüte  in  Florenz  statt.  Unter  Cos- 
mos waren  thätig  und  mit  ihm  befreundet:  Brunellesco, 
Donatello,  Michelozzi,  Masaccio  und  Fra  Fiesole.  Unter 
Lorenzo  schufen:  Signorelli,  Palajuolo  und  der  noch  junge 
Michelangelo.  Cosmos  von  Medici  war  der  Gründer  der 
sogenannten  platonischen  Akademie  und  griechische  Gelehrte, 
welche  aus  Konstantinopel  vor  den  Türken  geflohen  waren, 
lebten  unter  Protektion  der  Mediceer  in  Florenz.  Lorenzo 
von  Medici  war  Reorganisator  der  Universität  Pisa  und 
beide  —  Lorenzo  und  Cosmos  —  förderten  alles,  was  zum 
Humanismus  der  damaligen  Zeit  gehörte,  als:  Philosophie, 
Geschichtsforschung  und  alle  Künste.  (Zieht  man  aus  allen 
Bestreben  im  florentinischen  Geistesleben  ein  allgemeines 
Resultat,  so  ergiebt  sich  dasselbe  als:  Bruch  mit  den  her- 
gebrachten mittelalterlichen  Anschauungen,  Befreiung  des 
Menschen  von  dogmatischen  Vorurteilen  auf  allen  Gebieten.) 
Charakteristisch  für  das  Sich-Aufbäumen  des  sterbenden 
Mittelalters  gegen  solche  Entwicklungen  ist  die  Gestalt  des 
fanatischen  aber  edlen  Savanarola,  der  auf  dem  Markte 
von  Florenz  sein  bekanntes  Auto  da  fe  von  allem  Möglichen 
aus  Kunst  und  Wissenschaft,  —  Schriften,  Dichtungen, 
darunter  auch  die  des  Boccaccio,  weltliche  Musikhefte,  Luxus- 
gegenstände, schöne  Gewänder,  antike  Statuen,  Musikinstru- 
mente —  veranstaltete.  Der  Einflufs  der  Renaissance,  welche 
von  Florenz  selbst  ihren  Ausgang  nahm,  macht  sich  auf 
allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens,  und  zwar  in  der  Eman- 


3.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz.  65 

cipation  der  Anschauungen  vom  bisher  Überkommenen 
geltend. 

Wie  äulsert  sich  der  Einfhifs  der  Renaissance  —  der  durch 
jene  Zeit  gehende  Zug  eines  neuen  Geisteslebens  auf  dem 
Gebiete  der  Tonkunst? 

Die  Forderung,  Rückkehr  zur  Natur!  welche  der  Zug  der 
Zeit  an  die  Künste,  wie  Skulptur  und  Malerei  stellte  (eifrig 
bemühten  sich  die  bildenden  Künstler  in  der  Renaissance- 
zeit, Anatomie  zu  studieren,  um  die  menschliche  Gestalt  in 
ihrer  natürlichen  Schönheit  und  Treue  wiederzugeben),  trat 
auch  an  die  Musik  heran;  sie  hiefs:  Streben  nach  natür- 
licher, wirklicher,  dramatischer  Wirkung  —  musikalische 
Rhetorik  und  dramatisches  Pathos,  natürliche  Vereinigung 
von  Wort-  und  Tonsprache.  Kampf  gegen  den  Kontra- 
punkt und  das  aus  diesem  Kampfe  entstehende 
Musikdrama  waren  die  Haupterscheinungen.  (Florenz 
war  somit  der  erste  Ort  in  Italien,  an  welchem  das  Zeit- 
alter der  Renaissance  auf  die  Musik  einflufsreich  wird.  In 
Florenz  hatten  die  Niederländer  keinen  bedeutenden  Einflufs 
ausgeübt;  es  herrschten  dort  hauptsächlich  die  Anschau- 
ungen, welche  die  Wiedergeburt  der  Antike  und  das  Streben, 
den  Dualismus  zweier  Weltkulturen  in  einen  Monismus  auf- 
gehen zu  lassen,  hervorrief,  von  der  Mitte  des  13.  bis  zur 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts.) 

Wo  ist  der  Ursprung  der  Schaubühne  oder  des  Theaters,  auf 
welchem  sich  das  Musikdrama  darstellte,  zu  suchen? 

Bei  den  Griechen  und  Römern  des  Altertums  sowie  im 
Mittelalter,  und  zwar  in  den  Schaustücken  dieser  Zeit,  so- 
wohl auf  dem  Boden  der  Kirche,  als  auch  aufserhalb  der- 
selben. 

Wo  sind  die  ersten  Spuren  einer  Anteilnahme  der  Musik  bei 
scenischen  Darbietungen  zu  beobachten? 

In  den  Mysterien,  Passionen  und  Moralitäten,  sowie  in  den 
Schaustücken  und  Masken  spielen,  welche  im  Mittelalter  und 
in  der  Frührenaissancezeit  an  einzelnen  Höfen  aufgeführt 
wurden.  (Die  Musik  bestand,  wie  in  den  Oratorien  des 
Filippo    Neri,    meist   in    sogenannten    Intermezzi    —    mehr- 

Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgeschichte.   III.  5 


66  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

stimmigen  Chören,  Madrigalen,  welche  die  Schaustellung 
gleich  Zwischenakten  unterbrachen;  vom  Sologesang  war 
noch  keine  Rede.  Als  Beispiele  seien  hier  die  Aufführungen 
von  Willaerts  »Orfeo«  bei  Anwesenheit  Heinrich  HL  in 
Venedig  erwähnt.  Wie  in  seiner  »Dido«,  so  bestand  auch 
im  »Orfeo«  die  Musik  aus  fünf  stimmigen  Chören  und  war 
im  Grunde  nichts  weiter,  als  jenes  Duett  von  Orlando  di 
Lasso,  das  den  Streit  zweier  Personen  um  den  Wein  im 
Keller  durch  fünfstimmige  kontrapunktisch  gesetzte  Chöre 
ausdrückte.  —  Ferner  sei  noch  als  Beispiel  für  die  Be- 
schaffenheit der  bisherigen  musikalisch -dramatischen  Auf- 
führungen, Maskeraden  oder  Intermezzi  das  Festspiel  aus 
dem  Jahre  1597  gelegentlich  der  Vermählung  des  Grofs- 
herzogs  Francesco  L  von  Toskana  mit  der  Venetianerin 
Bianca  Capello  erwähnt,  wie  dieselben  schon  seit  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  üblich  waren.  Es  war  dieses 
Festspiel  eigentlich  eine  Maskerade,  unterbrochen  durch 
Madrigale,  die  darum  auch   »Intermezzi«   genannt  wurden. 

WiQ  hiefsen  diejenigen  Männer,  welche  als  Vorkämpfer  des 
musikdramatischen  Stiles  und  des  monodischen  Ausdruckes 
in  der  Musik  zu  bezeichnen  sind? 

Giovanni  Bardi,  Vincenzo  Galilei,  Pietro  Strozzi,  Emilio  del 
Cavalieri,  Giulio  Caccini,  Jacopo  Peri  und  der  Dichter  Otta- 
viano  Rinuccini. 

Was  gab  die  Anregung  zu  den  Musikreformen,  welche  im 
Hause  des  Grafen  Bardi  in  Florenz  diskutiert  wurden? 

Das  Studium  des  Plato  und  des  Aristoteles.  Das  Losungs- 
wort, welches  Bardi  auf  Grundlage  des  dritten  Buches  der 
Platonischen  Republik  austeilte,  hiefs:  Musik  ist  eine  Ver- 
bindung von  Wort,  Harmonie  und  Rhythmus,  ohne  den 
Vers  und  das  Wort  zu  verderben. 

Wie  heifsen  die  schriftlichen  Quellen  für  jene  Musikreform, 
welche  mit  dem  Ende  des  16.  und  mit  dem  Anfange  des 
17.  Jahrhunderts  anhob? 

1.  Vorrede  zur  Oper  »Euridice«  von  Giulio  Caccini  1600. 

2.  Vorrede  zur  Oper  »Euridice«  von  Jacopo  Peri  1600. 


3.   Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz.  67 

3.  Vorrede  zum  geistlich-musikdramatischen  Werke  (Ora- 
torium) »deir  anima  e  del  corpo«  von  Emilio  del 
Cavalieri  1600. 

4.  Vorrede  zur  Sammkmg  monodischer  Gesänge  »le  nuove 
musiche«  von  Giulio  Caccini.  (In  dieser  Vorrede  nennt 
Caccini  den  Kontrapunkt  geradezu  den  »Zerfleisch er 
der  Poesie«.  Musik  ist  für  ihn  nichts  als  Tonsprache 
und  Ehythmus,  aber  so,  dals  dem  Worte  die  erste  Stelle 
gebührt,  nicht  etwa  dem  Tone.  Der  Schwerpunkt  der 
neuen  Bestrebungen  wurde  auf  die  Betonung  und  richtige 
Deklamation  des  Wortes  im  dramatischen  Zusammen- 
hange gelegt.) 

5.  Dialogo  della  musica  antica  e  moderna  von  Vin- 
cenzo  Galilei  (Bardi  gewidmet)  1581  und  1602.  (In 
dieser  Schrift  behandelt  Galilei  die  Musik  als  Ausdruck 
des  inneren  Empfindens  und  straft  die  Musik,  welche 
nicht  den  Bewegungen  der  Seele  dient,  mit  Verachtung. 
Am  Schlüsse  sagt  Galilei:  »Hat  doch  selbst  das  Tier  eine 
Stimme,  um  auszudrücken,  ob  ihm  wohl  oder  wehe  ist«.) 

6.  Vorrede  zur  Oper  »Dafne«   von  Marco  Gagliano  1609. 

7.  »Pinakotheka«  und  die  »Dialoge«  von  G.  V.  Eossi 
(Janus  Micias  Erytraeus). 

8.  De  praestantia  musica  veteris  libri  tres,  totidem  dialogis 
comprehensi  etc.  von  G.  B.  Doni  1647. 

Wie    hiefsen    die    ersten    Versuche    in    dem    neugewonnenen 
Musikstile? 

Klage  des  Ugolino  (aus  Dantes  Hölle)  für  eine  Sing- 
stimme mit  einem  Konzerte  von  Violen  (Melodia  a  voce 
sola  sopra  un  Concerto  di  Viole),  sowie  die  Lamentationen 
desJeremias,in  ähnlicher  Weise  behandelt,  von  Vincenzo 
Galilei.  Intermedii  e  Concerti  per  la  comedia  rappresen- 
tata  in  Firenze  nelle  nozze  del  sereniss.  Don  Fernando 
Medici  e  Madame  Christiana  di  Loreno,  von  Giovanni 
Bardi  1591.  Ferner  wirkten  auf  serordentlich  anregend  auf 
die  Komponisten  der  damaligen  Zeit  die  monodischen  Ge- 
sänge, welche  Giulio  Caccini  in  seinem  Werke  »Le  nuove 
musiche«  herausgab.  (Siehe  auch  noch:  Domenico 
Brunetti  aus  Bologna:  »Euterpe«  1606;  Jacopo  Peri:  »Le 

5* 


68  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

varie  musiche«  1609;  Radesca  da  Foggia  aus  Turin: 
»Canzonette,  Madrigali,  Arie«  1610;  Antonio  Brunelli  aus 
Pisa:  »Scherzi,  Arie,  Canzonette,  Madrigali«  1616.  In  Venedig 
schufen  durch  den  neuen  Musikstil  beeinflulst:  Giralomo 
Fornaci  [»Amorosi  respini«],  Francesco  Capello  und 
Girolamo  Marinoni.  In  Rom:  Dur  ante  [Arie  divote], 
Hieronymus  Kapsberger  [Lateinische  Poesien  des  Papstes 
Urban  VIII.].) 

Wo  finden  sich  in  der  Musikgeschichte  anderweitig  Spuren 
zum  Musikdramatischen? 

1.  Bei  Orlando  di  Lasso,  der  z.  B.  einen  Dialog  kom- 
ponierte, in  welchem  sich  Herr  und  Diener  (allerdings  in 
kontrapunktisch  gehaltenen  fünistimmigen  Chören)  um 
den  Wein  im  Keller  unterhalten.     (Siehe  Seite  66.) 

2.  Orazio  Vecchi  aus  dem  Modenesischen  komponierte 
Musik  zu  der  Komödie  »l'Anfiparnasso«. 

Welches  Haus  wurde,  nachdem  der  Graf  Bardi  vom  Papst 
Clemens  VIII.  als  »Maestro  di  camera«  nach  Rom  berufen 
war,  die  Heimstätte  der  neuen  musikalischen  Bewegung  in 
Florenz  ? 

Das  Haus  des  Jacopo  Corsi.  (In  diesem  Hause  wurde  1594 
das  erste  musikdramatische  Werk,  Rinuccinis  »Dafne«  mit 
Musik  von  Jacopo  Peri  aufgeführt.) 

Wie  wurde  die  erste  Oper,  oder  das  Schäferspiel  »Dafne«  von 
Jacopo  Peri  begleitet? 

Mit  einem  Clavicembalo  und  einer  Laute. 

Welche  namhaften  Opern  folgten  der  Oper  »Dafne«? 

»Orfeo«  und  »Euridice«  von  Caccini  und  Peri,  sowie  »La 
disperazione  di  Filano«  von  E.  de  Cavaliere. 

Wie  war  die  Musik  dieser  anfänglichen  Opern  eigentlich  be- 
schaffen? 

Die  Musik  der  ersten  Opern  bestand  aus  Recitativen,  und 
zwar  aus  Secco-Recitativen  (d.  h.  aus  nur  mit  einem  General- 
basse versehenen  musikalischen  Deklamationen),  sowie  aus 
instrumentierten  Recitativen. 


3.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz.  69 

Wann  wurde  »Orfeo«  und  »Euridice«  mit  Musik  von  Caccini 
und  Peri  zum  erstenmale  in  Florenz  aufgeführt? 

Im  Jahre  1600. 

Welches  geistliche  Drama  (Oratorium)  kam  in  demselben  Jahre 
(1600)  in  Rom  zur  Aufführung? 

»Dell'anima  e  del  corpo«  von  Emilio  de  Cavalieri. 

Was  war  durch  die  Bestrebungen  in  Florenz  am  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  erreicht? 

Der  lebensvolle  Ausdruck  des  innen  Emi^fundenen  durch 
die  persönliche  musikalische  Redeweise  —  der  Sologesang 
oder  die  Monodie. 

Welcher  Faktor  fehlte  aber  noch  zur  Entstehung  einer  wahren 
musikdramatischen  Kunst? 

Die  freie  Ausdrucksweise  der  Instrumentalmusik,  welche 
sich  erst  aus  den  Banden  der  Vokalmusik,  deren  Nachhall 
sie  gewesen  war,  befreien  mufste. 

Welcher  Komponist  war  es,  der  mit  vollem  Bewufstsein  das 
weiter  entwickelte,  was  auf  dem  Boden  von  Florenz  durch 
Peri  und  Caccini  begründet  war? 

Claudio  Monteverde,  geb.  1568  in  Cremona,  gest.  1643 
in  Venedig.  (Monteverde  erhebt  die  italienische  Oper  über 
die  ersten  schwachen  Anfänge.) 

Wie  heifsen  die  epochemachenden  Opern  Monteverdes? 
»Arianna«  und  »Orfeo«. 

Wann  entstand  Monteverdes  »Arianna«  (Ariadne)? 

Im  Jahre  1607  auf  Grundlage  der  Dichtung  von  Rinuccini. 
(Die  Oper  wurde  zum  erstenmale  zur  Hochzeitsfeier  eines 
Sohnes  des  Herzogs  Vincenzo  Gonzago  mit  der  Infantin 
von  Savoyen  in  Mantua  aufgeführt.) 

Wann  entstand  Monteverdes  »Orfeo«? 
Im  Jahre  1608. 


70  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Was  unterscheidet  die  Opern  Monteverdes  von  denen  seiner 

Vorgänger? 

Monteverdes  Opern  hatten  bereits  Sinfonien,  welche  damals 
und  später  noch  die  Einleitungsmusik  der  Oper  bezeich- 
neten, ebenfalls  Kitornelle  und  Zwischenspiele  für  Orchester, 
ferner  kleine  Duette,  sodann  die  Anfänge  des  ariosen  Stiles, 
vor  allem  aber  war  es  Monteverde  stets  um  dramatische 
Wahrheit  zu  thun.  Monteverde  ist  der  Begründer  des  pathe- 
tischen Stiles  in  der  italienischen  Oper. 

Wie  heifsen  Monteverdes  bahnbrechende  Neuerungen? 

1.  Der  Bruch  mit  den  alten  Tonarten,  die  bekanntlich  melo- 
discher Natur  waren. 

2.  Freies  Einsetzen  der  Dissonanz. 

3.  Erstmaliges    Anwenden    des    übermäfsigen    Dreiklanges 
und  des  verminderten  Septimenaccordes. 

4.  Anwendung    des   Tremolo    und   Pizzicato   der    Streichin- 
strumente, 

5.  Definitive  Unterscheidung  zwischen  piano  und  forte. 

Welche    Instrumente   bildeten    den    Schwerpunkt    des   Monte- 

verdeschen  Orchesters? 

Die  Streichinstrumente,  welche  er  den  Holz-  und  Blechblas- 
instrumenten gegenüberstellte. 

Welcher  Art  verläuft  die  Jugend  Monteverdes? 

Monteverde  trat  als  Violaspieler  in  die  Kapelle  des  Herzogs 
von  Mantua,  studierte  bei  Ingegneri  Komposition  und  trat 
sehr  bald  als  Komponist  von  Messen  und  Madrigalen, 
welche  Bewunderung  erregten,  an  die  Öffentlichkeit. 

Wie  heifsen  die  übrigen  Opern  Monteverdes  aufser  »Arianna« 

und  »Orfeo«? 

»Proserpina  rapita«,  »Adone«,  »Le  nozze  di  Enea  e  Lavinia« 
und  »L'incoronazione  di  Popea«  (die  letzte  Schöpfung  Monte- 
verdes). 

Welche  Lebensstellung  bekleidete  Monteverde? 

Monteverde  bekleidete  die  Stellung  eines  Kapellmeisters  an 
San  Marco  in  Venedig  vom  Jahre  1613  an.   (In  dieser  Stellung 


Aus  Monteverdes  „Ariadne" 

(Mantua  1608). 

Erste  Strophe  des  Klagegesanges  der  verlassenen 

Ariadne. 

NB.  Es  ist  dies  das  einzige  Bruchstück,  welches  aus  dieser  verloren  ge- 
gangenen Oper  Monteverdes  erhalten  geblieben  ist,  das  uns  diesen  Ton- 
dichter als  Begründer  des  pathetischen  Stiles  der  italienischen  Oper  zeigt. 


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3.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz.  71 

auf  dem  Boden  von  Venedig  entfaltete  Monteverde  seine 
Hauj)tthätigkeit,  unterstützt  durch  seinen  Gönner  —  den 
Senator  Moeenigo,  in  dessen  Palaste  1624  Monteverdes  »II 
combattimento  di  Tancredi  e  Clorendi«  aus  Tassos  »be- 
freitem Jerusalem«  mit  Aktion  zur  Aufführung  gelangte. 
Die  von  Giulio  Strozzi  gedichtete  »Proserpina  rapita«  wurde 
zur  Hochzeitsfeier  der  Tochter  des  Senators  Moeenigo  auf- 
geführt.) 

Wodurch  ist  der  Senator  Moeenigo  (Monteverdes  Gönner)  be- 
sonders noch  erwähnenswert? 

Weil  er  es  war,  der  im  Jahre  1637  das  erste  öffentliche  Opern- 
theater auf  dem  Boden  Venedigs  errichtete.  (Dies  erste 
Theater  war  ein  Privatunternehmen,  dem  mehrere  folgten, 
so  dafs  es  bis  1699  in  Venedig  bereits  11  Opern theater 
gab,  die  ihre  Namen  nach  den  Kirchen  erhielten,  in  deren 
Nähe  sie  errichtet  wurden,  z.  B.  II  Teatro  di  S.  Cassiano, 
Teatro  di  S.  Giovanni  Paolo,  Teatro  S.  S.  Apostoli,  Teatro 
di  S.  Mose  u.  s.  w.) 

Wie  heifsen  einige  Komponisten  und  Dichter  von  Opern, 
welche  zur  Eröffnung  der  genannten  Bühnen  in  Venedig  zur 
Aufführung  gelangten? 

1641.    Giulio  Strozzi,  Dichter  und  Komponist  von  »Pinta 

pazza«. 
1649.  Marcanton  Cesti,   Komponist  der  von  G.  A.  Cicog- 

nini  gedichteten  »Orontea«. 
1651.  Cavalli,    Komponist   des   von   Faustini   gedichteten 

»rOristeo«. 
1661.   Castrovillari,  Komponist  des  von  Artale  gedicht- 

teten  »La  Pasife«. 
1670.   Pasticcio,    Komponist   der   von  G.  B.  Rodetto  ge- 
dichteten »Adelaida«. 

1677.  Domenico    Freschi,    Komponist    der    von    Aureli 
gedichteten  »Elena  rapita  da  Paride«. 

1678.  Pallavicini,    Komponist  des   von   Corradi   gedich- 
teten »Vespasiano«. 

1699.   Piagnetta,    Komponist   des   von   Rossi   gedichteten 
»Paolo  Emilio«. 


72  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

1699.   Riiggiero,   Komponist   des  von  Marchi  gedichteten 
»l'ingannator  ingannato«. 

Wann  wurde  in  Florenz  das  erste  grolse  Theater  für  das  all- 
gemeine Publikum  eröffnet? 

Im  Jahre  1652  (es  war  dies  das  »Pergola-Theater«). 

In  welche  Zeit  fällt  die  Gründung  einer  Opernbühne  auf  dem 
Boden  von  Neapel? 

In   die   zweite   Hälfte   des    16.    Jahrhunderts;    diese   Bühne 

trug  den  Namen  »Florentiner  Bühne«. 

Welcher  Art  sind  die  Einflüsse  der  Florentiner  Bestrebungen 

auf  die  übrige  musikalische  Welt? 

In  Italien  machten  sich  zunächst  die  Bestrebungen  der 
Florentiner  geltend:  auf  Rom  durch  Bardi,  Caccini,  Cavalieri 
(geb.  um  1550  in  Rom)  und  Carissimi;  auf  Parma  und  Bologna 
durch  Peris  »Dafne«  und  »Euridice«;  auf  Mantua,  Venedig 
und  Bologna  durch  Peri,  Monteverde  und  Cavalli;  auf 
Neapel  durch  Cavallis  »Giasone«. 

Nach  Frankreich  (Paris)  wurde  durch  Cavalli  und  Floren- 
tiner Operisten,  welche  Mazarin  unter  Louis  XIII.  berief, 
der  Einflufs  der  Florentiner  Bestrebungen  getragen.  (Auf- 
führung von  Cavallis  Oper  »Xerxes«  zur  Vermählung 
Louis  XIV.)  LuUy,  der  Florentiner  und  Schüler  Cavallis 
war,  befestigt  die  Florentiner  Bestrebungen  auf  dem  Boden 
von  Paris  und  wird  auf  solche  Weise  Begründer  der  franzö- 
sischen Oper.  Lully  war  es,  der  auch  das  komische  Ele- 
ment in  die  französische  Oper  einführte  (von  ihm  ist  aufser 
den  Opern  auch  Musik,  Pantomimen  und  Tänze  zu  Molieres 
Komödien  »Monsieur  de  Pourceaugnac«,  »le  Bourgeois 
gentilhomme«  und  »l'amour  medecin«  geschaffen  worden). 
Nach  Deutschland  trug  Heinrich  Schütz  als  erster  den 
musikdramatischen  Stil  Italiens,  indem  er  1627  in  Torgau 
die  Oper  »Dafne«  (nach  der  Rinuccinischen  Dichtung  von 
Opitz  bearbeitet)  komponierte  und  zur  Aufführung  brachte. 

Welche  Männer  sind  aufser  Caccini,  Peri  und  Monteverde  als 
Fortentwickler  des  neuen  Musikstiles  zu  nennen? 

1.  Francesco   Cavalli,   eigentlich   Caletto   geheifsen,  geb. 
1600  in  Crema  im  Venezianischen,  gest.  1676  in  Venedig 


3.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz.  73 

als  Kapellmeister  und  Organist  am  San  Marco  in  Venedig. 
Von  ihm  die  Opern:  »Le  nozzi  di  Teti  e  di  Peleo«, 
1639  in  Venedig  aufgeführt  und  »Giasone«,  welche  er 
für  Neapel  schrieb.  Cavalli,  der  von  Mazarin  nach  Paris 
berufen  wurde,  um  daselbst  Opernaufführungen  zu  leiten, 
führte  zur  Vermählungsfeier  Louis  XIV.  seine  Oper 
»Xerxes«  auf.  Aufser  den  schon  genannten  Opern  von 
Cavalli  sind  noch  erwähnenswert:  1640  »Gli  amori 
d'Apolline  e  di  Dafne«  und  »La  Didone«.  Im  Jahre 
1651  wurde  Cavallis  »Giasone«  in  Florenz  aufgeführt, 
der  dadurch  bemerkenswert  ist,  weil  in  ihm  Stücke  mit 
dem  Worte  »Aria«  überschrieben  sind;  überhaupt  ist 
Cavalli  einer  der  ersten,  welche  anstatt  der  bis  dahin 
ausschliefslich  gebräuchlichen  Recitative  und  Chöre  Arien 
(Soli  und  Duette)  in  der  Oper  einführte. 

Cavalli,  Sohn  eines  Kirchenkapellmeisters  in  Crema, 
der  sich  unter  Monteverde  in  Venedig  künstlerisch  ent- 
wickelte, wo  er  als  Sänger,  von  1640  als  Kapellmeister 
am  San  Marco  wirkte,  ging,  was  Charakterzeichnung  der 
Personen  anbetrifft,  weit  über  seinen  Lehrer  hinaus.  Die 
Musik  ist  bei  ihm  schon  ganz  natürliche  Sprache  der 
allerfeinsten  Regungen  des  Menschen  geworden;  die  Un- 
gelenkigkeit  des  monodischen  Gesanges  ist  bei  ihm  schon 
vollständig  gebrochen,  seine  Deklamation  ist  natürlich 
und  sprachgemäfs ;  dies  beweisen  die  weiblichen  Vers- 
ausgänge, die  nicht,  wie  bei  seinen  Vorgängern  noch  oft 
langgedehnt  und  sprachwidrig  deklamiert  sind.  Von 
Cavalli  wurden  in  Venedig  von  1639 — 1665  34  Opern  zur 
Aufführung  gebracht;  er  ist  mit  dem  Römer  Carissimi 
der  Schöpfer  des  schwungvollen  Recitatives,  welches 
beide  auf  serordentlich  weit  entwickelten. 
2.  Giacomo  Carissimi,  geb.  1604  in  Marino,  in  der  Nähe 
Roms,  gest.  1674  in  Rom  als  Kapellmeister  an  St.  Apolli- 
nare.  Er  entwickelte  mit  Cavalli,  obgleich  beide  unab- 
hängig von  einander  waren,  das  Recitativ  mit  abwechseln- 
der Kantilene,  verband  die  Motette  mit  der  Instrumental- 
musik und  wurde  so  eigentlich  Oratorienkomponist. 
Carissimi  wandte  den  neuen  Stil  auf  die  Kantate  und  auf 
das  Oratorium  an  (Cantata  di  camera).  Das  Orchester 
Carissimis  bestand  bei  seinen  Oratorien  aus  zwei  Violinen, 


74  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz. 

Bals  und  Orgel  oder  Clavicembalo,  bei  seinen  Kantaten 
nur  aus  Bafs  und  Clavicembalo.  Carissimi,  der  das  Werk 
»ars  cantandi«  verfalste,  schrieb  aulser  »Concerti  sacri«, 
Motetten  und  Messen  (5 — 12 stimmige),  die  Oratorien  »Das 
jüngste  Gericht«,  »Salomos  Urteil«  und  »Jephta«. 
3.  Marc' Antonio  Cesti,  geb.  1625  in  Arezzo,  gest.  1670  in 
Venedig,  war  Schüler  von  Carissimi  und  wie  dieser  und 
Cavalli  Fortentwickler  des  musikdramatischen  Stiles,  in- 
dem er  ebenfalls  den  ariosen  Stil  in  die  Oper  einführte. 
Aufser  Madrigalen  und  Kantaten  schrieb  Cesti  die  Opern: 
»Orontea«  1649,  »Cesare  amante«,  »Argene«,  »La  schiava 
fortunata«,  »Porno  d'ora«,  »La  Dori«  u.  a.  m.  Cesti  kompo- 
nierte meist  für  venetianische  Bühnen. 

Welche   Opernkomponisten   Italiens   sind    zwischen   1660   und 

1700  noch  erwähnenswert? 

Pagliardi  und  Teobaldo  Gatti  aus  Florenz,  Frances- 
chini, Sibelli,  Monari,  Tosi,  Attilio  Ariosti  aus  Bo- 
logna, Melani  aus  Pistoja,  Tomasi  aus  Commachio,  Baz- 
zani  aus  Parma,  Grossi  im  Toskanischen  geboren,  Eovet- 
tino  aus  Venedig,  Molinari  aus  Murano,  Partenio  aus 
dem  Friaul  gebürtig  und  am  Ende  des  17.,  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  der  Florentiner  Francesco  Conti  (von 
ihm  wurde  1722  mit  grofsem  Beifall  in  Hamburg  die  Oper 
»Don  Quixote  in  der  Sierra  Morena«  gegeben). 


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4.  Die  Musikentmcklung  auf  dem  Boden  von  Neapel. 


a)  Komponisten  der  älteren  neapolitanischen 
Tonschule. 

Welcher   niederländische   Musiker   und  Musikgelehrter   weilte 
im  15.  Jahrhundert  auf  dem  Boden  von  Neapel? 

Tinctor;  derselbe  gründete  in  Neapel,  gleichwie  Goudimel 
in  Rom  und  Willaert  in  Venedig,  eine  Musikschule,  welche 
aber  nicht  den  Aufschwung  nahm,  noch  einen  charakte- 
ristischen Stil  hervorbrachte,  wie  dies  in  Eom  und  Venedig 
der  Fall  war.  Tinctor,  der  sich  am  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts wieder  in  die  Niederlande  zurückwandte,  widmete 
1477  dem  Könige  von  Neapel  einen  Traktat  über  den  Kon- 
trapunkt. 

Welcher  bedeutende  Musiker  tritt  uns  um  die  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts in  Neapel  entgegen? 

Alessandro  Stradella,  geb.  1645  in  Neapel,  gest.  1681  in 
Genua.  (Stradella  wurde  ermordet.)  Auf  Stradella,  der 
seine  musikalische  Ausbildung  in  Venedig  erhalten  hatte, 
war  ebenfalls  der  neugefundene  musikdramatische  Stil 
einflulsreich  geworden.  Stradella,  der  als  ausgezeichneter 
Sänger,  Violin-  und  Harfen  virtuose  gerühmt  wird,  kompo- 
nierte für  die  Kirche  und  für  die  Opernbühne.  Von  ihm: 
Madrigale,  Hymnen,  Kantaten  und  Motetten  für  eine  oder 
zwei  Stimmen,  sowie  für  Chor  mit  und  ohne  Instrumental- 
begleitung. 1676  schuf  Stradella  das  Oratorium  »Susanna« 
für  Solo,  Chor  und  Streichinstrumente;  ein  anderes  Ora- 
torium ist  »Esther«.  Musikdramatische  Werke  oder  Opern 
von  Stradella  sind:  »Circe«,  »Dämon«,  »Horatius  Codes«, 
»La  forza  dell'Amor  Paterno«,  welch  letztere  er  1678  für 
Genua  schrieb,  sowie  andere  dramatische  Handlungen,  für 
den  Hof  von  Ferrara  komponiert.    (Stradellas  hinterlassene 


76  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Werke  sind  in  den  Bibliotheken  von  Neapel,  Modena  und 
Venedig  zu  finden.) 

Welcher  Mann  ist  der  Hauptvertreter  des  Musiklebens  auf  dem 
Boden  von  Neapel? 

Alessandro  Scarlatti  (Vater  des  berühmten  Klavierspielers 
und  Klavierkomponisten  Domenico  Scarlatti.)  Alessandro 
Scarlatti  wurde  1649  in  Trapani  auf  Sicilien  geboren  und 
starb  1725  in  Neapel,  wo  er  in  der  Kapelle  der  heil.  Cäcilia 
der  Kirche  vom  Monte  santo  begraben  liegt.  A.  Scarlatti 
hatte  sowohl  in  der  Schule  G.  B.  Naninis  gelernt,  als  auch 
unter  Carissimi  in  Rom  studiert.  Nach  beendigter  Studien- 
zeit durchreiste  Scarlatti  sein  Vaterland;  sah  Bologna, 
Venedig,  sowie  Deutschland,  wo  er  in  Wien  und  München 
verweilte.  Nach  seiner  Bückkehr  wurde  er  Kapellmeister 
der  sich  in  Neapel  aufhaltenden  Königin  Christine  von 
Schweden,  welche  als  Gönnerin  Scarlattis  1688  starb.  Hierauf 
erhielt  Scarlatti  die  Stellung  eines  Kapellmeisters  beim 
König  von  Neapel  und  war  aufserdem  thätig  als  Lehrer 
der  Komposition  an  den  Konservatorien  von  San  Onofrio, 
dei  Poveri  di  Gesü  Christo  and  Loreto.  Über  1000  Werke 
werden  dem  Allessandro  Scarlatti  zugeschrieben,  darunter 
200  Messen,  Psalme,  Madrigale,  Serenaden,  Solfeggien  in 
Duettform,  Kantaten  für  eine  Solostimme  mit  einem  unter- 
legtem Basse,  Oratorien  und  Opern.  Von  den  Oratorien 
Scarlattis  seien  erwähnt:  »Die  sieben  Schmerzen  Maria«, 
»Das  Opfer  Abrahams«,  »Filippo  Neri«,  »Das  Martyrium  der 
heil.  Theodosia«  und  »Die  Empfängnis  der  seligsten  Jung- 
frau«. Von  den  Kirchenkompositionen  Scarlattis:  »Missa 
quatuor  vocum  ad  canones«,  fünf  stimmige  Messe  mit  Or- 
chester, die  zweichörige  (zehnstimmige)  Pastoralmesse, 
ein  vierstimmiges  Requiem,  »Ave  Maria  coelorum«  für 
zwei  Soprane  mit  Orgel,  mehrere  Misereres,  sowie  sein  be- 
rühmtes »Tu  es  Petrus«,  welches  doppelchörig  ist.  1680 
wurde  eine  der  ersten  Opern  Scarlattis  »l'Onesta  dell'amore« 
vom  Florentiner  Theater  in  Neapel  aufgeführt;  1693  in  Rom 
»Teodora«,  welche  mit  der  für  Venedig  komponierten  Oper 
»II  Trionfo  della  liberta«  1707  in  letzterer  Stadt  ebenfalls 
in  Scene  ging;  1709  in  Rom  »II  martirio  di  santa  Cecilia«; 
1715    »Tigrane«,   1716    »Carlo    Re   d'AUemagne«,   beide   für 


4.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Neapel.  77 

Neapel  komponiert.  Dals  sich  Scarlatti  auch  wissenschaft- 
lich in  seiner  Kunst  bethätigte,  beweist  seine  Schrift  »Dis- 
corso  di  musica  soj^ra  un  caso  particolare  in  arte«.  Als 
Komponist  ist  A.  Scarlatti  noch  erwähnenswert  in  seinen 
zwei  Büchern  Toccaten  für  Orgel  sowie  für  Clavicembalo, 
die  manches  neue  und  epochemachende  enthalten. 

Worin    besteht    zunächst    A.    Scarlattis    epochemachende    Be- 
deutung? 

Darin,  indem  Scarlatti  das,  was  Carissimi  und  andere  Kom- 
ponisten angebahnt  hatten,  weiterentwickelte  —  nämlich  die 
Arie.  Wohl  gewahren  wir  schon  bei  Cavalli  den  Ausdruck 
»Aria«  über  einigen  melodischen  Partien,  auch  treten  melo- 
dische Episoden  bei  Peri,  Caccini  und  Monteverde  auf,  aber 
zu  einer  bestimmten  Form,  wie  bei  Scarlatti,  hatte  sich  das 
Arioso  nicht  gestaltet.  Scarlatti  war  es  demnach,  der  die 
eigentliche  Kantilene  in  die  Oper  brachte.  War  bei  den 
Florentinern  der  musikalische  Sprechgesang  als  der  richtige 
Ausdruck  für  das  musikdramatische  Kunstwerk  erkannt 
und  hauptsächlich  die  Bedeutung  des  Wortes  in  den  Vorder- 
grund gestellt,  so  wurde  in  der  von  A.  Scarlatti  begründeten 
Oper  die  Melodie  —  die  Cantilene  Herrscherin.  Somit  ist 
A.  Scarlatti  als  Mitbegründer  der  eigentlichen  italienischen 
Oper  zu  betrachten,  in  welcher  das  melodische  Element 
vorherrschend  geworden  ist 

Wie  ist  die  »Arie«  Scarlattis  beschaffen? 

Scarlattis  »Arie«  besteht  aus  einem  Hauptsatze,  Mittelsatze 
und  der  Wiederholung  des  Hauptsatzes.  (Diese  Grundform 
der  Arie  erhielt  sich  als  mafsgebendes  Schema  über  hundert 
Jahre;  siehe  die  italienischen  Komponisten  Händel,  Gluck, 
Haydn  und  Mozart.) 

Worin  besteht  die  weitere  Bedeutung  A.  Scarlattis? 

In  der  Weiterausbildung  der  Fuge  und  des  doppelten 
Kontrapunktes,  sowie  in  der  Begründung  der  italienischen 
Ouvertüre.  (A.  Scarlatti  formte  dieselbe  der  französischen 
entgegengesetzt,  indem  er  zwischen  zwei  schnelle  Sätze 
einen  langsamen  als  Mittelsatz  schob.  Mozart  schrieb  in  dieser 
Form  z.  B.  die  Ouvertüre  zur  Oper  »Entführung  aus  dem 
Serail«.) 


78  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Welche  Instrumente  bildeten  das  Orchester  Scarlattis? 

Streichinstrumente  bildeten  das  Fundament;  von  Blasinstru- 
menten sind  meist  Flöten,  Oboen  und  Trompeten  angewandt. 
(Beispiele  sind  die  Orchesterpartitur  zu  »Filippo  Neri« : 
Violinen,  Altviolen,  Violoncelli,  Kontrabässe,  Flöten,  Oboen 
und  Trompeten;  ferner  schrieb  er  zur  Oper  »Eraclea«: 
Violinen,  Altviolen,  Violoncelli,  Kontrabässe,  Flöten,  Oboen 
und  Trompeten.  A.  Scarlatti  war  auch  wohl  einer  der  ersten, 
welcher  die  Violinen  in  1.  und  2.  teilt.) 

Wo  findet  sich  ein  Verzeichnis  der  Werke  A.  Scarlattis? 
In  der  »Biographie  universelle  des  musiciens«  von  Fetis. 

Ein  Bildnis  A.  Scarlattis  befindet  sich  nach  einem  Ölbilde,  von  Soli- 
merie  gestochen,  in  »Biografia  degli  nomini  illustri  di  regno  di  Napoli<, 
Napoli  1819. 

Wie  hiefsen  die  berühmten  Musiker,   auf  welche  A.  Scarlatti 

einflufsreich  geworden  ist? 

Durante,  Logroscino  und  sein  Sohn  Domenico  Scar- 
latti; auch  Porpora  wird  von  einigen  als  Schüler  A.  Scar- 
lattis genannt,  sowie  der  Deutsche  Adolf  Hasse,  der  ein- 
flufsreich auf  Graun  und  Naumann  wurde.  Händel 
studierte  A.  Scarlattis  Werke  in  Rom. 

Wodurch    ist    Domenico    Scarlatti    musikgeschichtlich    be- 
deutend ? 

Durch  die  Begründung  des  selbständigen  Klavierstiles,  so- 
wie durch  seine  Behandlung  des  Sonatensatzes  für  Klavier. 
(Domenico  Scarlatti  setzte  an  die  Stelle  des  alten  ausschliefs- 
lich  polyj)honen  Motetten  Stiles  den  freien,  klaviermäfsigen, 
homoj^honen  zwischen  Dur-  und  Molltonarten  wechselnden 
Tonsatz.)  Domenico  Scarlatti,  der  1683  in  Neapel  ge- 
boren wurde,  war  Schüler  seines  Vaters,  später  Gasparinis 
in  Rom  und  der  gröfste  Klaviervirtuose  seiner  Zeit,  als 
welcher  er  in  Rom,  Neaj^el,  Venedig,  London,  Lissabon  und 
Madrid  auftrat.  Aufser  als  Komponist  für  Klavier  wirkte 
D.  Scarlatti  auch  als  Opern-  und  Kirchenkomponist.  Von 
1715 — 1719  fungierte  D.  Scarlatti  als  Kapellmeister  im 
Vatikan,  dann  wurde  er  an  die  italienische  Oper  nach 
London  als  Cembalist  berufen.  In  London  brachte  D.  Scar- 
latti seine  Oper  »Narcisso«  zur  Aufführung,  ging  1721  nach 


4.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Neapel.  79 

Lissabon,  1725  auf  kurze  Zeit  nach  Rom  und  Neapel.  Von 
1729  an  lebte  Scarlatti  bis  zu  seinem  Tode  (1757)  in  Madrid, 
wo  er  Lehrer  der  Königin  wurde. 

Wie  heilsen  die  übrigen  Tondichter  der  älteren  neapolitaner 
Tonschule  ? 

Gaetano  Greco,  Emanuele  Astorga,  Francesco  Du- 
rante,  Leonardo  Leo,  Francesco  Teo,  Nicolo  Lo- 
groscino  und  Nicolo  Porpora. 

Wann  und  wo  wurde  Gaetano  Greco  geboren? 

Greco,  der  ein  bedeutender  Kontrapunktist  seiner  Zeit  war, 
wurde  1680  in  Neapel  geboren. 

Wie  heilsen  die  Daten  den  Komponisten  und   Sänger  Ema- 
nuele Astorga  betreffend? 

Astorga  wurde  1681  in  Palermo  geboren  und  starb  1736  in 
Prag  in  einem  Kloster.  Astorga,  der  seinen  Namen  nach 
einem  Kloster  trägt,  in  welchem  er  erzogen,  that  sich  als 
Sänger  und  Komponist  1704  am  Hofe  von  Parma  hervor; 
1705  unternahm  er  eine  Reise  durch  Europa;  1726  soll  in 
Breslau  sein  Pastorale  »Dafne«  zur  Aufführung  gelangt 
sein.  Berühmt  machte  ihn  sein  »Stabat  mater«.  (Über 
Astorgas  Leidensgeschichte  siehe  Rochlitz  »Für  Freunde 
der  Tonkunst«.) 

Was  ist  vom  Komponisten  Francesco  Dur  ante  zu  bemerken? 

Francesco  Dur  ante  win^de  1684  in  Fratta  maggiore  im 
Neapolitanischen  geboren  und  starb  1755  in  Neapel.  Durante 
studierte  bei  Aless.  Scarlatti  und  Greco  in  NeajDcl,  sowie  bei 
Pasquini  und  Pitoni  in  Rom  und  wurde  1742  Lehrer  am 
Konservatorium  von  Loreto  in  Neapel.  Hauptsächlich  schuf 
Durante  für  die  Kirche,  denn  nur  ein  einziges  Stück 
ist  aus  seiner  Jugend  für  die  Bühne  zu  verzeichnen.  Von 
Durante  sind  zu  verzeichnen:  viele  Messen  (darunter  eine 
Missa  alla  Palestrina),  Psalme,  Antiphone,  Hymnen,  Motetten 
und  Litaneien.  Die  meisten  Sachen  komponierte  Durante 
im  a-capella-Stil.  Mit  Instrumentation  sind  sein  achtstim- 
miges »Dixit«  und  seine  1751  für  Rom  komponierten  Lamen- 
tationen, letztere  mit  einer  Begleitung  von  Violinen,  Violen 


80  Die  Musikentwickliing  auf  dem  Boden  von  Italien. 

und  Hörnern.  Die  Instrumentation  Durantes  weist  schon 
auf  ein  treffliches  Instrumentenensemble  hin,  wie  z.  B.  die 
Zusammenstellung  von  Streichinstrumenten,  Oboen,  Flöten, 
Fagotte,  Hörner  und  Trompeten  beweist.  Durantes  Einflufs 
als  Lehrer  war  ein  sehr  bedeutender. 

Wer  war  Leonardo  Leo? 

Leonardo  Leo  wurde  im  Neapolitanischen  1694  geboren 
und  starb  in  Neapel  1746;  er  war  Schüler  Alessandro  Scar- 
lattis  in  Neapel  und  Schüler  Pitonis  in  Rom,  und  wirkte  an 
den  Neapolitaner  Konservatorien  della  Pieti  und  San  Onofrio. 
Leo  ist  Komponist  von  40  Opern,  welche  in  der  Zeit  von 
1716  — 1743  entstanden;  aufser  diesen  Opern  schrieb  er 
mehrere  Oratorien  und  Kirchensachen.  Unter  seinen  Kirchen- 
sachen, die  meist  mit  reicher  Instrumentation  versehen  sind, 
ragt  ein  achtstimmiges  Miserere  im  a-capella- Stile  hervor. 

Wer  waren  die  drei  letzten  Meister  der  älteren  neapolitanischen 
Musikbewegung  ? 

Francesco  Feo,  geb.  1699  in  Neaj^el,  war  Schüler  Domenico 
Gizzis  und  Pitonis  in  Rom  und  als  Gesangsmeister  sowie 
als  Komponist  von  Opern  und  Kirchensachen  hervorragend. 
1725  schrieb  er  für  Rom  die  Oper  »Impermestra«.  (Über 
seine  Kirchenkompositionen  siehe  in  Reichardts  »Kunst- 
magazin«.) 

Nicolo  Logroscino,  1700  — 1763;  Schüler  Scarlattis  und 
hervorragender  Opernkomponist.  Die  ausgeprägte  Seite 
seines  Schaffens  ist  die  komische  Oper,  d.  h.  die  opera 
buffa  —  der  opera  seria  entgegengesetzt.  Dies  ist  der 
Grund,  weshalb  Logroscino  auch  der  Vater  der  komischen 
Oper  genannt  wird. 

Nicolo  Porpora,  geb.  1685  in  Neapel  und  Schüler  daselbst 
von  Aless.  Scarlatti  am  Konservatorium  S.  Maria  di  Loreto. 
Porporas  Ruhm  war  gleich  grofs  sowohl  als  Komponist  für 
Opern-  und  Kirchensachen  als  auch  als  Gesangslehrer. 
(Unter  seinen  Schülern  befinden  sich  die  gröfsten  Sänger 
und  Sängerinnen  des  18.  Jahrhunderts,  wie  Broschi  [Farinelli], 
Caffarelli,  Senesino,  die  Tosi,  Bordoni  sowie  der  Deutsche 
Anton  Hubert,  nach  PorjDora  »Porporino«  genannt.)   Porpora 


4.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Neapel.  81 

weilte,  nachdem  er  am  Neapeler  Konservatorium  gewirkt 
hatte,  längere  Zeit  in  Wien  (1725),  in  Dresden  (1729)  und  in 
London,  wo  er  bis  1736  lebte.  Von  1754  an  weilte  Porpora  als 
Gesangslehrer  in  Wien,  wo  Haydn  von  ihm  lernte.  Später 
wirkte  Porpora  wieder  in  Neapel  als  Kapellmeister  an  der 
Kathedrale  und  am  Konservatorium  San  Onofrio  und  starb 
hier  1767.  Porjjoras  zahlreiche  Kompositionen  bestehen  aus 
Messen,  Oratorien,  Psalmen  und  anderen  Kirchensachen; 
ferner  ungefähr  50  Opern.  Kantaten  für  eine  Singstimme 
sowie  zwölf  Violinsonaten  sind  als  Beispiele  des  »schönen 
Stiles«  der  neapolitanischen  Tonschule  zu  erwähnen. 

b)  Komponisten  der  jüngeren  neapolitanischen 

Tonschule. 

Wie  heifsen  die  Vertreter  der  jüngeren  neapolitanischen  Ton- 
schule? 

Giovanni  Battista  Pergolese,  geb.  1710  in  Jesi,  gest.  1736 
in  Puzzuoli  bei  Neapel.  Pergolese  war  Komponist  von 
Opern-  und  Kirchensachen  und  auf  dem  Konservatorium 
dei  Poveri  in  Neapel  unter  Greco  und  Durante  gebildet 
worden.  Berühmt  wurde  Pergolese  durch  sein  dramatisches 
Intermezzo,  1731  für  Neapel  geschrieben,  »La  Serva  padrona« 
und  durch  sein  »Stabat  mater«.  Von  seinen  Opern  seien 
aufser  der  genannten  noch  erwähnt:  das  geistliche  Drama 
»S.  Guglielmo  d'Aquitania«,  »II  frate  inamorato«,  »II  prigio- 
niere  superbo«  und  »Lirietta  e  Tracollo«.  Schöne  Melodik 
und  graziöse  Begleitung  derselben  durch  das  Orchester 
sind  Eigentümlichkeiten  Pergoleses. 

Leonardo  Vinci,  geb.  1690  im  Neapolitanischen,  war  Schüler 
unter  Greco  am  Konservatorium  dei  Poveri  in  Neapel.  Vincis 
Hauptschaffenszeit  fällt  in  die  Jahre  von  1719 — 1730,  seine 
bekanntesten  Opern  sind  »Iphigenia  in  Tauride«,  »Didone 
abandonata«,  »Siroe  oder  Farnace«  und  »Elpidio«. 
Nicolo  Jomelli,  geb.  1714  in  Aversa  im  Königreich  Neapel, 
gest.  1774  bei  Aversa  auf  seinem  Landsitze;  war  Schüler 
von  Durante,  Porta,  Mancini  und  Feo,  auch  Leonardo  Leo 
soll  Jomellis  Lehrer  gewesen  sein.  Jomelli  ist  Komponist 
von  Kirchen  werken  und  Opern.  1740  wurde  Jomelli  als 
Opernkomponist  nach  Rom  berufen,    1741   wandte   er   sich 

Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgeschichte.    III.  6 


82  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

nach  Bologna,  um  beim  Padre  Martini  Studien  zu  machen, 
sodann  lebte  er  abwechselnd  in  Neapel,  Rom  und  Venedig. 
1745  erhielt  er  die  Stellung  eines  päpstlichen  Kapellmeisters, 
und  wirkte  von  1754  an  als  Oberkapellmeister  des  Herzogs 
Karl  von  Württemberg  in  Stuttgart.  1768  kehrte  Jomelli 
in  sein  Vaterland  zurück.  An  Opern  sind  zu  nennen:  »Ar- 
taserse«,  »Ifigenia  in  Aulide«,  »Cajo  Mario«,  »Eumene«, 
»Merope«,  »Odoardo«,  »Demetrio«,  »Armida«  und  »Demo- 
fonte«.  Von  Kirchensachen,  welche  aber  meist  ein  theatra- 
lisches GejDräge  tragen,  seien  bemerkt:  ein  achtstimmiges 
»Laudate«,  ein  »Benedictus«,  ein  Eequiem,  ein  Passionsora- 
torium, sowie  ein  kurz  vor  seinem  Tode  beendetes  Miserere. 
Jomelli  ist  besonders  bemerkenswert  durch  die  Einführung 
der  ungleichen  Stärkegrade,  in  dem  er  seine  Zuhörer  durch 
die  gelungene  Ausführung  eines  crescendo  mit  nachfolgen- 
dem diminuendo  entzückte. 

Nicolo  Piccini,  geb.  1728  in  Bari  bei  Neapel  und  gest. 
1800  in  Passy  bei  Paris;  besonders  bekannt  durch  den 
epochemachenden  Prinzipienstreit  auf  dem  Gebiete  der  Oper 
mit  Gluck  in  Paris.  Piccini  studierte  unter  Durantes  und 
Leos  Leitung  in  Neapel  und  errang  mit  seinen  ersten  Opern 
»Olimpiado«,  »Alessandro  nell'  Indie«,  »Radomisto«  u.  a.  m. 
einen  grolsartigen  Erfolg,  der  seinen  Ruhm  in  Italien, 
Deutschland,  Frankreich  sowie  in  Petersburg  begründete. 
1773  begab  sich  Piccini,  von  der  Königin  Marie  Antoinette 
von  Frankreich  eingeladen,  nach  Paris,  woselbst  er  die 
italienische  Musik  zu  hohen  Ehren  brachte;  seine  Opern 
»Roland«,  »Atys«  und  »Phaon«  errangen  grofsen  Beifall, 
der  jedoch  1779  durch  Glucks  »Iphigenie  in  Tauris«  ge- 
brochen wurde.  Nicht  nur  Gluck  sondern  auch  sein  Lands- 
mann Sacchini  bereitete  ihm  Niederlagen,  und  als  ihn  die 
Revolution  1790  um  seine  Stellung  brachte,  kehrte  er  nach 
Neapel  zurück,  erlitt  sodann  wegen  seiner  revolutionären 
Gesinnung  eine  vierjährige  Gefangenschaft,  aus  der  er, 
durch  Vermittelung  des  französischen  Gesandten  befreit, 
1798  nach  Paris  zurückkehrte,  woselbst  er  mit  Bewunderung 
empfangen  wurde.  Kummer,  Not  und  Krankheit  waren  sein 
Los  in  den  letzten  Lebensjahren.  Im  Jahre  1800  schuf 
Buonaparte  für  Piccini  eine  Inspektorstelle  am  Konser- 
vatorium der  Musik  in  Paris,   aber  der  Tod  ereilte  ihn  im 


4.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Neapel.  83 

72.  Lebensjahre.  Piccini  hat  gegen  150  Opern  geschrieben,  von 
denen  noch  zu  nennen  sind:  »Cecchina<,  »Didon«,  »Iphigenie 
en  Tauride«,  »Penelope«,  »Griselda«  und  »II  serva  padrone«. 

Pietro  Guglielmi,  geb.  1727  in  Massa  Carrara,  gest.  1804 
in  Rom;  studierte  in  Neapel  am  Konservatorium  diSanLoreto 
unter  Durante  und  ist  als  Komponist  von  beinahe  80  Opern, 
Oratorien,  Kirchen-  und  Instrumentalsachen  von  Bedeutung. 
Guglielmi  trat  zuerst  im  Jahre  1755  mit  einer  komischen 
Oper  vor  die  Öffentlichkeit,  lebte  sodann  in  Venedig,  von 
wo  aus  er  1762  als  kurfürstlicher  Kapellmeister  nach  Dresden 
berufen  wurde.  1772  wandte  er  sich  nach  kurzem  Aufent- 
halte in  Braunschweig  nach  London;  1777  kehrte  er  nach 
Neapel  zurück  und  wurde  1793  als  päpstlicher  Kapellmeister 
nach  Rom  berufen,  wo  er  1804  starb.  Von  seinen  etwa 
200  Werken  sind  60  komische  Opern  zu  verzeichnen,  unter 
denen  »I  due  gemelli«,  »I  fratelli«,  »La  bella  pescatrice« 
und  »La  pastorella  nobile«  erwähnenswert  sind.  Von  den 
Oratorien  ist  »Debora  e  Sisare«  bemerkenswert,  aufserdem 
seine  Serenaden,  Intermezzi,  Klavier-  und  Gesangswerke. 

Antonio  Maria  Gasparo  Sacchini,  geb.  1734  in  Puzzuoli 
im  Neapolitanischen,  gest.  1786  in  Paris,  studierte  auf  dem 
Konservatorium  für  Musik  San  Onofrio  in  Neapel  unter 
Durante  Komposition,  unter  Forenza  Violinspiel,  und  ist 
als  Opern-,  Oratorien-,  Kirchen-  und  Instrumentalkom- 
ponist von  Bedeutung.  Aufser  Messen,  Streichtrios,  Streich- 
quartetten, Sonaten  und  den  Oratorien  »Esther«,  »St. Philipp«, 
»Die  Makkabäer«,  »Jephta«  und  »Ruths  Hochzeit«  seien 
Sacchinis  folgende  Oper  erwähnt:  »Alessandro  nell'  Indie«, 
(diese  Oper  trug  ihm  den  Ruf  eines  Konservatoriumsdirektors 
in  Venedig  1769  ein),  »II  Cid«,  »Lucio  Nero«,  »Chimene«, 
»Dardanus«  und  »Oedipe  ä  Colone«.  Sacchini  hielt  sich 
aufser  in  Italien  in  Deutschland  (Stuttgart,  München), 
Holland  und  England  auf.  Von  1782  an  war  Sacchini 
Komponist  der  grofsen  Oper  in  Paris.  Fetis  erklärt  Sacchinis 
Oper  »Oedipus  auf  Kolonos«  für  dessen  bedeutendstes  Werk. 
Sacchini  ist  von  Piccini  und  von  Gluck  in  gewissem  Sinne 
beeinflufst  worden. 

Tomaso  Traetta,  geb.  1727;  schrieb  u.  a.  1750  für  das 
Theater  S.  Carlo  in  Neapel  die  Oper  »La  Farnace«,  sowie 

6* 


84  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

für  das  Teatro  d' Aliberti  in  Eom  die  Oper  »Ezio«.  Traetta  trat 
in  die  Dienste  des  Hofes  von  Parma,  wurde  Kapellmeister  am 
Konservatorium  d'Ospedaletto  in  Venedig,  wandte  sich  nach 
St.  Petersburg,  ging  von  dort  nach  London,  wo  er  1779  starb. 

Giovanni  Paisiello,  geb.  1741  in  Tarent,  gest.  nach  einem 
rühm-  und  glanzreichen  Leben,  in  drückender  Lage  und 
verbittert,  1816  in  Neapel.  Paisiello  erhielt  am  Konserva- 
torium San  Onofrio  in  Neapel  unter  Durante,  sodann  unter 
Contumacci  seine  Ausbildung  und  reifte  zu  einem  der  her- 
vorragendsten Opernkomponisten  der  neapolitanischen  Schule 
heran.  1776  wirkte  Paisiello  als  Opernkomponist  in  St.  Peters- 
burg während  acht  Jahre,  in  welcher  Zeit  u.  a.  die  Opern 
»La  serva  padrona«,  »II  Barbiere  di  Seviglia«,  »Achille  in 
Giro«  und  »La  finta  amante«  entstanden.  Von  der  Kaiserin 
Katharina  mit  Reichtümern  überhäuft,  kehrte  Paisiello  nach 
Italien  zurück.  Während  eines  kurzen  Aufenthaltes  in  Wien 
schrieb  er  die  komische  Oper  »II  re  Teodoro«,  sodann  als 
Kapellmeister  der  königlichen  Hofkapelle  nach  Neapel  be- 
rufen, schrieb  er  »La  Molinara«,  »II  Zingari  in  fiera«  und 
»Nina«.  1799  floh  Paisiello  mit  seinem  Fürsten  beim  Aus- 
bruche der  Revolution  nach  Sicilien,  wurde  A'erdächtigt,  an 
den  Umwälzungen  beteiligt  gewesen  zu  sein  und  wandte 
sich  deshalb  fort  und  zwar  nach  Paris,  wohin  er  1802  von 
Napoleon  berufen  wurde.  Bis  1804  wirkte  Paisiello  auf  dem 
Boden  von  Paris,  wo  heftige  Kämpfe  mit  Gherubini  und 
Mehul  ihm  den  Aufenthalt  unangenehm  machten.  Er  ging 
nach  Neapel  zurück,  wo  er  Direktor  des  neugestalteten 
Konservatoriums  wurde;  aber  durch  Verdächtigungen  seiner 
Person  beim  bourbonischen  Königshause  verlor  er  Stellung 
und  Pension  und  starb,  74  Jahre  alt,  in  trüben  Verhältnissen 
in  Neapel.  Aufser  Kirchenwerken  schuf  Paisiello  gegen 
150  Opern.  Aufser  den  bereits  genannten  sind  noch  her- 
vorzuheben: »La  grotta  di  Trofonio«,  »La  pazza  per  amore«^ 
»Proserpina«,  »Das  Mädchen  von  Frascati«  und  »Die  ein- 
gebildeten Philosophen«.  Neben  den  Opern  schrieb  Paisiello 
Balletts,  Kantaten,  zwölf  Symphonien,  d.  h.  Ouvertüren,  ein 
Tedeum,  das  Oratorium  »La  j^assione  di  Gesü  Ghristo«, 
Streichquartette  und  Klavierstücke.  (Schüler  Paisiellos  war 
der  Gesangsmeister  Nicolo  Vaccaj,  geb.  1791  in  Tolentino.) 


4.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Neapel.  85 

Domenico  C im a rosa,  geb.  1749  in  A versa  im  Neapoli- 
tanischen, gest.  1801  in  Neapel;  studierte  am  Konservatorium 
Santa  ^Maria  di  Loreto  von  1761—1772  unter  Sacchini  und 
Piccini,  ging  1774  nach  Eom,  wo  er  für  den  Karneval  die 
Oper  »Italiana  in  Londra«  schrieb.  Während  des  sechs- 
jährigen Aufenthaltes  in  Eom  schrieb  Cimarosa  20  Opern, 
von  1780 — 1787  u.  a.  »Ballerina  am  ante«,  »Olimpiade«  und 
»II  sacrificio  d'Abramo^  ging  auf  Einladung  der  Kaiserin 
Katharina  nach  Rufsland,  kehrte  aber  1792  aus  Gesundheits- 
rücksichten nach  Italien  zurück.  Auf  der  Heimreise  schrieb  er 
in  Wien  die  bekannte  Oper  »II  matrimonio  secreto«.  1793 
in  Neapel  zum  königlichen  Kapellmeister  ernannt,  wurde  er 
durch  Intriguen  und  durch  Neider  als  Revolutionär  verdäch- 
tigt, in  den  Kerker  geworfen,  wo  er  1801  verschied.  Von 
seinen  Opern,  unter  denen  die  komischen  die  gelungensten 
waren,  seien  noch  erwähnt:  »Artemisia«,  »Gli  Orazi  e  gli 
Curiazi«,  »Artaserse«  und  »La  Semiramide«. 

Valentino  Fioravanti,  geb.  1768  in  Neapel,  gest.  1837 
auf  Capua.  Von  ihm,  der  mehrere  Jahre  päpstlicher  Kapell- 
meister war,  sind  viele  komische  Opern  geschrieben,  u.  a. 
»Die  Dorfsängerin«. 

Welche  namhaften  Opernkomponisten  entwachsen  aufser  den 
bereits  genannten  dem  Boden  Neapels  in  der  zweiten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts? 

Christofero  Caresana,  geb.  1655;  Giuseppe  Porsile, 
geb.  1672;  Francesco  Mancini,  geb.  1674;  Carlo  Con- 
tumacci;  Domenico  Sarti,  geb.  1678;  David  Perez 
(Spanier);  Francesco  Ciampi;  Giuseppe  di  Majo,  geb. 
1698,  sowie  dessen  Sohn  Ciccio  di  Majo,  geb.  1745;  Pietro 
Domenico  Paradies  (Schüler  Porporas);  der  Malteser 
Avossa;  Pasquale  Caffaro;  Tomaso  Carapella;  Ales- 
sandro  Speranza,  geb.  1728;  Fedele  Fenaroli,  geb.  1732; 
Nicolo  Sala  und  Terradellus  (Schüler  Durantes). 

Was  war  durch  die  Bestrebungen,  wie  sie  auf  dem  Gebiete 
der  Oper  dem  Boden  Neapels  entstammen,  für  die  Musikent- 
wicklung entschieden? 

Die  Weltherrschaft  der  Oper  und  deren  Stil  auf  allen  Ge- 
bieten   der    Tonkunst;   sogar    der   Opernstil    wurde    in    die 


86  4.  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Kirchenmusik  hineingetragen  und  erst  im  19.  Jahrhundert 
aus  derselben  durch  die  Bestrebungen  des  »Cäcilianismus« 
(Fr.  X.  Witt)  wieder  entfernt.  Wie  seit  A.  Scarlattis  Zeit 
Neapel  als  der  Ort  des  Musil^studiums  für  einen  jungen 
Musiker  galt,  so  wurde  durch  die  neapolitanische  Tonschule 
die  italienische  Oper,  Ende  des  17.,  im  18.  und  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  herrschend,  durch  Deutschland, 
Frankreich,  England,  RuCsland  und  Skandinavien  getragen. 
Die  Neapolitaner  sind  als  Ausbildner  der  sogenannten 
Arienform  sowie  des  vielstimmigen  Finales  anzusehen.  Vor 
allem  hatte  die  Melodie  die  Herrschaft  über  alle  anderen 
Faktoren,  welche  die  Musik  ausmachen,  angetreten.  So  ist 
in  dieser  Oper,  wie  sie  auf  dem  Boden  von  Neapel  entstand, 
nur  wenig  mehr  von  den  Bestrebungen,  wie  sie  auf  dem 
Boden  von  Florenz  in  Bezug  auf  das  »Drama  mit  Musik« 
entstanden,  zu  erblicken.  Dies  war  erst  Gluck  im  18.  Jahr- 
hundert und  Richard  Wagner  im  19.  Jahrhundert  vorbe- 
halten. An  ein  »Musikdrama«  wurde  bei  der  nunmehr  ent- 
standenen »Oper«,  welche  ganz  andere  Wege  ging,  gar 
nicht  gedacht.  Der  Gesang,  die  Melodie  (nicht  das  Wort 
oder  die  Handlung)  waren  nunmehr  die  Hauptsache  des 
musikalischen  Kunstwerkes  auf  der  Bühne,  welches  den 
Namen  »Oper«  erhielt.  Die  italienische  Oper,  welche  die 
dramatische  und  lebensvolle  Entwicklung  der  einzelnen 
Charaktere  einbüfste,  wurde  schlief slich  nur  noch  eine  Zu- 
sammenstellung von  Gesangsnummern,  die  meist  durch 
die  Anzahl  von  Stimmen,  aus  welchen  sie  bestanden, 
unterschieden  waren,  und  nur  Arien  und  Kantilenen,  in 
denen  Sänger  sich  als  Virtuosen  zeigen  konnten,  bildeten 
in  den  italienischen,  sowie  in  den  von  anderen  Nationali- 
täten nach  italienischem  Muster  oder  in  italienischer  Manier 
komponierten  Opern,  das  Hauptinteresse.  Ein  wichtiges 
Moment  aber  ist  die  an  der  Hand  der  italienischen  Gesangs- 
virtuosität, wie  sie  sich  in  der  Oper  entwickelte,  die  Aus- 
bildung der  Instrumentaltechnik.  Vor  allem  war  es  die 
Violine,  die  von  der  Sopranstimme,  wie  sie  in  der  Oper  ver- 
wendet wurde,  lernte.  Dies  wurde  auch  entscheidend  für 
die  übrigen  Instrumente,  die  bisher  in  ihrer  Anwendung 
nur  der  Nachhall  der  Vokalmusik  gewesen  waren. 


^^'^^S'^^S'^^ 


5.  Bedeutende  musikalische  Theoretiker  auf  dem  Boden 
von  Itahen  im  15.,  16.  und  17.  Jahrhundert. 


Johannes  Tinctor,  auch  Tinctoris  genannt.  (Nach  Edmund 
Vanderstraeten  m  dessen  »La  Musique  aux  Pays-Bas«  ist 
der  ursprünghche  Name  dieses  Niederländers  »Jean  de 
Vaerweres«,  weshalb  bei  der  Latinisierung  häufig  der  Genetiv 
»Tinctoris«  auftritt,  um  das  »de«  oder  niederländische  »van« 
auszudrücken.)  Nach  Johannes  Trithemius  in  dessen  »Cata- 
logum  illustrium  vivorum«  ist  Tinctor  in  der  brabantischen 
Stadt  Nivelles  gegen  1435  geboren,  nach  Vanderstraeten  in 
Poperinghe  (West-Flandern)  im  Jahre  1446  und  gest.  1511 
als  Kanonikus  in  seinem  Vaterlande.  Der  Niederländer 
Tinctor  ist  Begründer  der  ersten  öffentlichen  Musikschule 
in  Italien  auf  dem  Boden  von  Neapel;  es  geschah  diese 
Gründung  auf  Anlafs  des  Königs  von  Neapel  und  Sicilien, 
Ferdinand  von  Aragonien,  bei  welchem  Tinctor  als  Capellanus 
oder  Kaj^ellmeister  in  Neapel  wirkte.  Als  Komponist  exi- 
stieren von  ihm  zwölf  dreistimmige  Motetten  und  ein  »Deo 
gratias«  für  fünf  Stimmen  mit  Zugrundelegung  einer  gre- 
gorianischen Kirchenmelodie.  Als  Musikschriftsteller  hat 
Tinctor  für  das  Studium  der  mittelalterlichen  Musik  hoch- 
bedeutende Werke  verfafst.  Vor  allem  sei  sein  musikalisches 
Lexikon  »Terminorum  musicae  Diffinitorum«  genannt,  wel- 
ches er  Beatrix  von  Aragonien,  Königin  von  Ungarn,  wid- 
mete; in  demselben  sind  sämtliche  im  15.  Jahrhundert 
gebräuchlichen  musikalisch-technischen  Ausdrücke  erklärt. 
Dieses  wichtige  Werk,  von  dem  Forkel  ein  Exemplar  in 
der  Herzoglichen  Bibliothek  in  Gotha  und  Burney  eines  in 
der  Bibliothek  zu  Paris  auffand,  ist  nicht  nur  das  erste 
Werk  seinesgleichen,  sondern  auch  wohl  das  älteste  im 
Druck  erschienene  Buch  über  Musik.  H.  Bellermann  über- 
setzte dasselbe  ins  Deutsche.    Padre  Martini  führt  in  dem 


88  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Autoren-Verzeichnisse  seiner  »Storia  della  miisica«  (3  Bände 
1757 — 81)  folgende  musiktheoretischen  Werke  Tinctors  an: 
1)    »Tractatus  musicae«.     2)    »Explanatio   manus«.     3)    »De 
tonorum  natura  ac  proprietate«   (am  6.  Nov.  1476  beendet). 
4)  »De  notis  ac  pausis«.    5)  »De  regulis,  valore,  imperfectione 
et  alternatione  notarum«.     6)  »De  arte  contrapuncti«  (1477 
beendet  und  dem  Könige  von  Neapel  gewidmet).    Nach  An- 
gabe von  J.  Trithemius  kommen  noch  hinzu:  7)  »De  origine 
musicae«   und   8)   »Epistolae  complures«.     Von  Wichtigkeit 
ist  besonders  Tinctores  Werk  »Proportionale  musices«,  wel- 
ches  in   drei   Büchern  von  den   Mensuralnoten  handelt.  — 
Zum  Schlüsse  sei  hier  noch  der  Artikel  von  Trithemius  aus 
dessen   »Catalogum  illustrium  vivorum«    über  Tinctor   mit- 
geteilt: »Johannes  Tinctor  aus  Brabant,  geboren  in  der  Stadt 
Nivelles    und    an    der    Kirche    derselben    Stadt    Canonicus, 
beider  Rechte  Doktor,  ehedem  Oberkapellmeister  und  Kantor 
des   Königs   Ferdinand    von   Neapel,    hochgelehrt   in  jeder 
Beziehung,  ein  grolser  Mathematiker,  ausgezeichneter  Musi- 
kus, von  feinem  Geist  und  gewandter  Beredsamkeit,  schrieb 
und  schreibt  viele  vortreffliche  Werke,  wodurch  er  sich  bei 
der  Mitwelt  nützlich,  bei  der  Nachwelt  berühmt  macht.    Von 
diesem  habe  ich  nur  folgende  gefunden:  in  der  Musik  drei 
Bücher   über   den   Kontrapunkt,   dann   ein   Buch   über  die 
Töne,  endlich  ein  Buch  über  den  Ursprung  der  Musik.     Er 
hat    ferner    eine    Anzahl    ausgezeichneter    Briefe    an    ver- 
schiedene   geschrieben,    er    hat    eine   Darstellung   gemacht, 
worin    er    alle    alten    Musiker    zusammenfafst    und    Jesum 
Christum    als   den   gröfsten  Sänger   genannt   hat.     Er  lebt 
noch  in  Italien,  wo  er  über  verschiedenes  schreibt,  in  einem 
Alter    von   ungefähr   60  Jahren.  —  Geschrieben   unter    der 
Regierung  des  Königs  Maximilian  im  Jahre  des  Herrn  1495, 
im  dreizehnten  Indiktionsjahre«  (d.  h.  vor  dem  1.  Sept.  1495). 

Heinrich  Glarean,  eigentlich  Heinrich  Loris  (Loritus  a 
Glarea  oder  auch  Glareanus)  genannt,  war  1488  im  Kanton 
Glarus  in  der  Schweiz  geboren  und  starb  am  28.  Mai  1563 
in  Freiburg  i.  Br.,  wo  er  öffentliche  Vorträge  über  Litteratur 
und  Geschichte  hielt.  Seine  praktische  und  theoretische 
Ausbildung  erhielt  er  von  Johann  Cochläus.  Seit  1515  lehrte 
Glarean  in  Basel  Mathematik,  von  Erasmus  nach  Paris  be- 


5.  Bedeutende  musikalische  Theoretiker.  89 

rufen,  hielt  er  daselbst  Vorlesungen  über  Philosophie  und 
schöne  Wissenschaften,  kehrte  sodann  nach  Basel  zurück, 
von  wo  ihn  1529  die  religiösen  Unruhen  nach  Freiburg  i.  Br. 
vertrieben,  in  welcher  Stadt  er  bis  zu  seinem  Tode  lebte 
und  wirkte.  Von  ihm:  »Isagoge  in  musicien«  (Basel  1516), 
welches  Werk  von  der  Solmisation,  Mutation,  von  den  Inter- 
vallen und  den  Tonarten  handelt.  Epochemachend  wirkte 
Glarean  aber  durch  sein  Buch  »Dodecachordon«  (Basel  1547). 
In  dem  «Dodecachordon«  stellt  Heinrich  Glarean 
als  erster  die  Lehre  von  den  zwölf  Tonarten  auf, 
gegenüber  den  bisher  ausschliefslich  gebräuchlichen 
acht  Kirchentönen,  wodurch  bekanntlich  ein  grofser 
Schritt  in  der  Musikentwicklung  weiter  gethan 
wurde.  Das  Werk,  welches  in  drei  Bücher  zerfällt,  be- 
handelt im  ersten  die  Lehre  von  den  acht  Kirchentönen, 
auf  welche  sich  damals  die  meisten  Komi^ositionen  be- 
schränkten; im  zweiten  Bande  stellt  Glarean  durch  Hinzu- 
nahme von  C  Jonisch  und  A  Äolisch  seine  zwölf  Oktaven- 
gattungen auf,  und  im  dritten  Bande  wendet  er  selbige  auf 
die  Harmonie  und  auf  die  Mensuraltheorie  an.  In  diesem 
Werke,  von  dem  ein  Auszug  «Musica  epitome  ex  Glareani 
Dodecachordo«  (Freiburg  1577)  erschien,  sind  Kompositions- 
beispiele von  Ockenheim,  Hobrecht,  Josquim  des  Pres  ent- 
halten. Schliefslich  sei  von  Glareanus  noch  dessen  Ausgabe 
der  Werke  des  Boethius,  die  aber  erst  1570  veröffentlicht 
wurde,  zu  erwähnen. 

Gleichwie    Glarean   ist    als    Musiktheoretiker   dieser    Zeit 
hochbedeutend : 

Giuseppe  Zarlino,  geb.  1517  in  Chioggia,  gest.  am  4.  Febr. 
1590  in  Venedig.  Obwohl  für  den  geistlichen  Stand  be- 
stimmt, hat  Zarlino,  der  seine  Erziehung  in  einem  Kloster 
in  Chioggia  genofs,  nicht  nur  theologischen,  philosophischen, 
astronomischen,  philologischen,  sondern  vor  allem  musi- 
kalischen Studien  obgelegen.  Zarlino  wirkte  vom  Jahre  1565 
an  als  Kapellmeister  an  San  Marco  in  Venedig  und  hat 
mehr  noch  wie  als  Komponist  als  Musiktheoretiker  eine 
ganz  hervorragende  Bedeutung  für  die  Musikentwicklung. 
Von  seinen  Kompositionen  seien  erwähnt:  Drei  Sammlungen 
Vokalkomi^ositionen,    die    geistlichen     Inhaltes    sind    und 


90  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

zwischen  1549 — 1563  erschienen.  (Jetzt  nebst  einer  1551  bis 
1556  in  Nürnberg  veröffenthchten  Sammkmg  im  Besitze  der 
Königl.  BibHothek  in  München.)  Ferner  die  durch  seinen 
Schüler  Philipp  Jnsbert  (Usbert)  in  Venedig  1566  bei  Franz 
Rampazzoto  unter  dem  Titel  »Modulationes  sex  vocurn« 
herausgegebene  Sammlung,  deren  Gesänge  als  erklärende 
Beispiele  zu  Zarlinos  »Institutionen«  dienen  sollten,  wie  das 
an  die  Prokuratoren  von  San  Marco  gerichtete  Vorwort 
besagt.  Auch  verherrlichte  Zarlino  die  am  7.  Oktober  1571 
in  Venedig  stattgehabte  Feier  des  Seesieges  der  Venetianer 
über  die  Türken  bei  Lepanto  musikalisch.  Schlielslich  ist 
noch  der  im  Madrigalstile  jener  Zeit  musikalisch  illustrierten 
Tragödie  »Orfeo«  von  Zarlino  zu  gedenken,  welche  zu 
Ehren  der  Anwesenheit  Heinrich  III.  in  Venedig  zur  Auf- 
führung gelangte. 

Mehr  aber  als  Zarlinos  Vokalkompositionen,  die  den 
strengen  Tonsetzer  offenbaren,  sind  seine  musiktheoretischen 
Werke  von  Bedeutung.  Geradezu  bahnbrechend  wurde  das 
in  drei  Teile  zerfallende  Werk  »Istituzioni  harmoniche« 
(Venezia  1558,  zweite  Auflage  1562,  dritte  Auflage  1573). 
Diese  hervorragende  Arbeit  Zarlinos  behandelt  den  Ursprung 
und  die  Aufgabe  der  Musik,  ferner  die  Natur  der  Intervalle, 
die  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Zahlenverhältnisse  und  die 
Tongeschlechter. 

Den  Institutionen  folgte  im  Jahre  1571  »Dimostratione 
harmoniche,  divise  in  cinque  ragionamenti  etc.«  Dieses 
Werk  ist  deshalb  von  Bedeutung,  weil  in  demselben  Zar- 
lino das  nach  ihm  benannte  reine  diatonische  Ton- 
system aufstellte  und  die  gleichschwebende  Tempera- 
tur aufstellte,  welche  als  Grund  und  Boden  der  modernen 
Musik  anzusehen  ist.  Zarlino  zerstörte  das  Pj'thagoräische 
System  von  den  Tonverhältnissen,  nach  welchem  man  in 
Quinten  stimmte  und  in  einer  Folge  von  zwölf  Quinten  von 
C  ausgegangen  ein  His  erhielt,  das  um  das  kleine  Intervall 
73  :  74  höher  ist  als  C.  Nach  abwärts  erhielt  man  Deses, 
welches  um  den  gleichen  Tonabstand  tiefer  ist  (73  :  74)  als  C. 
Durch  Zarlinos  diatonisches  System  wurde  auch  das  komi^li- 
zierte  Verhältnis  der  Terz  zum  Grundtone,  die  deswegen 
seither  mit  Recht  als  Dissonanz  galt,  aufgehoben  und  auf 
solche    Weise    der    Ausbildung    der   mehrstimmigen   Musik 


5.  Bedeutende  musikalische  Theoretiker.  91 

aiilserordentlicher  Vorschub  geleistet.  Von  mm  an  und  in 
aller  Folge  erscheint  die  Terz  als  Konsonanz.  Auf  Grund- 
lage des  Vergleiches  der  Tonreihen  des  Didymus  und  des 
Ptolomäus  und  des  schon  diesen  altgriechischen  Theoretikern 
bekannt  gewesenen  Unterschiedes  zwischen  dem  grolsen 
und  kleinen  Ganztone,  schuf  Zarlino  einfacherere  Zahlen- 
verhältnisse der  einzelnen  Töne  zum  Grundtone,  die  heute 
noch  ihre  Gültigkeit  besitzen. 

Altes  Zahlen  Verhältnis  der  Töne: 


C    D       E      F     G 

A 

B 

H 

c 

Schwingungszahlen:    1     '7s     ^^Ui    ^Is    '^U 

'^L. 

16' 

/n 

213 ; 

/l2S 

2 

Intervall:                      «/s    'U   '''Uis  7s     7s 

7s 

2 

•'«/, 

Zarlinos  Zahlen  Verhältnis  der  Töne: 

C     D       E      F     G 

A 

B 

H 

c 

Schwingungszahlen:    1     ^/g      7*     ^/s    72 

7. 

16/ 

19 

15/ 

/s 

2 

Intervall:  9/,   -%  ^«/,,    7^   ^%  \  ^7i5 

Das  dritte  Hauptwerk  Zarlinos  erschien  1588  in  Venedig 
unter  dem  Titel:  »Sopplementi  musicale  etc.«  bei  Fran- 
cesco de'  Franceschi  und  wurde  zu  dem  Zwecke  verfafst, 
die  Angriffe,  welche  Zarlinos  Berechnungsweise  der  Inter- 
valle erlitt,  zu  zerstreuen.  Namentlich  richtete  es  sich  gegen 
seines  Schülers  Vincenzo  Galileis  Werk:  »Dialoga  della 
musica  antica  e  deUa  moderna«.  Zwei  weitere  Schriften 
Zarlinos,  die  aber  bis  jetzt  nicht  aufgefunden  wurden,  deren 
er  aber  in  seinem  »Sopplementi«  Erwähnung  thut,  sind:  »De 
re  musica«  und  »Melopeo  o  musico  perfetto«.  Eine  im 
Korridor  des  Dogenpalastes  von  Venedig  aufgestellte  Büste 
von  Zarlino,  nach  einer  bei  Lebzeiten  geprägten  Medaille, 
ehrt  das  Andenken  dieses  grofsen  Mannes,  der  in  der 
Gruft  der  Kirche  San  Lorenzo  begraben  liegt. 

Anknüpfend  an  die  von  Zarlino  aufgestellte  gleich- 
schwebende Temperatur  oder  temperierte  Stimmung 
und  das  mit  ihr  eingeführte  moderne  System  der  Dur-  und 
Moll-Tonart  mufs  gesagt  werden,  dafs  durch  dieselbe  erst  die 
Musik  entwicklungsfähig  gemacht  worden  ist  im  Gegensatz 
zur  absolut  reinen  Stimmung.  Wir  musizieren  nun  aber 
nicht  nach  physikalischen  Gesetzen,  sondern  nach  ästhe- 
tischen.    Die  Wissenschaft   hat   für   jeden  Ton  die  Anzahl 


92  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

seiner  Schwingungen  in  der  Sekunde  festgestellt,  und  man 
wird  darnach  z.  B.  den  Ton  as  als  höheren,  gis  als  tieferen 
erklären.  Nun  ist  aber  im  musikalisch-ästhetischen  Hören  as, 
wenn  es  als  Leiteton  nach  unten  gebraucht  wird,  der  tiefere 
und  gis,  wenn  es  als  Leite  ton  nach  oben  angewendet  wird, 
der  höhere  Ton.  Der  Ton,  physikalisch  betrachtet,  ist  etwas 
absolut  Alleinstehendes,  musikalisch  gehört,  ist  er  dieses 
nicht.  Man  braucht  nur  eine  Melodie  verschieden  zu  har- 
monisieren, um  zu  dieser  Erkenntnis  zu  kommen;  die  Töne 
der  Melodie  erscheinen  dem  Ohre  bei  verschiedener  Har- 
monisation in  ganz  anderer  Weise.  Die  Absicht  der  abso- 
luten (physikalisch  reinen)  Stimmung  ist  eine  ganz  andere 
als  die  musikalisch-ästhetische.  Für  jene  hat  jeder  Ton 
seine  bestimmten  Schwingungen,  für  diese  ist  er  bald  Grund- 
ton, Leiteton  nach  oben  oder  nach  unten  und  erhält  erst 
eine  ästhetische  Bedeutung.  Wir  müfsten,  wollten  wir  ge- 
nau sein,  unsere  Oktave  in  vielmehr  Tonintervalle  als  in  12 
teilen,  wenn  wir  nicht  musikalisch  richtig  hören  würden 
auf  Grundlage  der  temperierten  Stimmung.  Musikalisch 
hören  ist  eben  ein  kultiviertes  Hören.  Die  Orientalen  haben 
für  die  Teilung  der  Oktave  in  Halbe-,  Viertel-,  Drittel-  und 
Fünftel-Töne  das  arabisch-persische  Tonsystem  nach  den 
Grundsätzen  des  Abdul  Kadir,  des  berühmten  persischen 
Theoretikers  im  14.  Jahrhundert,  wie  es  Prof.  Dr.  Riemann 
in  seiner  »Populären  Darstellung  der  Akustik«,  Braun- 
schweig 1896,  Seite  119  u.  120  mitteilt.  Die  Oktave  ist  hier 
durch  die  folgenden  18  Tonstufen  gegeben:  C -Des -Des - 
D;  aber  DwD-Es-E^E-F-Ges-G^G-As-A^A-B- 
H-cc.  Wo  das  Zeichen -zwischen  zwei  Tönen  steht,  be- 
trägt die  Stufe  ein  pythagoreisches  Limma  -'"'^j^is  und  wo 
das  Zeichen  ^  steht,  beträgt  sie  nur  ein  Komma  ^' /§„.  Das 
Limma  beträgt  nahehin  ^Z^,  das  Komma  ^5  des  natürlichen 
Halbtones  ^^is-  Streichquartettisten,  Bläser  und  Chorsänger 
bringen  nun  bei  unserer  heutigen  temperierten  Stimmung 
diese  feinen  Abstufungen  der  Töne  (je  nachdem  sie  Grund- 
töne und  Leitetöne  sind)  klar  zu  Gehör  und  Fr.  Th.  Vischer 
hat  Recht,  wenn  er  sagt:  »Niemand  rede  von  wahrer  Bil- 
dung, der  ungebildete  Sinne  hat.  Wie  aber  ist  das  Sehen, 
das  geistige,  nicht  blofs  das  mechanische  bei  uns  vernach- 
lässigt.  Wer  von  uns  versteht  die  Kunst  des  freien,  klaren. 


5.  Bedeutende  musikalische  Theoretiker.  93 

absoluten  Sehens?  Zahllos  sind  die  Beispiele,  die  man  als 
Beweis  dieses  unkultivierten  Sehens  anführen  könnte.  Wie 
sieht  der  Laie,  wie  sieht  dagegen  der  Künstler!«  —  Das- 
selbe kann  auch  vom  Hören  gesagt  werden.  Wie  hört  der 
Laie  und  wie  hört  der  Künstler,  Um  künstlerisch  hören  zu 
lernen,  ist  es  notwendig,  Harmonie-  und  Modulationslehre 
zu  studieren,  und  die  mannigfachen  verwandtschaftlichen 
Beziehungen  der  Accorde  verschiedener,  selbst  der  ent- 
ferntesten Tonarten  kennen  zu  lernen.  Das  temperierte 
Tonsystem  allein  ist  hierzu  befähigt  und  —  das  ist  eine 
Schöpfung  Zarlinos. 

Giovanni  Maria  Artusi,  Kanonikus  von  San  Salvatore  in 
Bologna,  wirkte  am  Ende  des  16.  und  am  Anfange  des 
17.  Jahrhunderts.  In  seinem  Werke  »L'arte  del  contrapunto 
etc.<^  (Venezia  1589)  finden  sich  zum  ersten  Male  die  Regeln 
vom  Generalbasse  und  vom  Kontrapunkte  zusammengetragen 
und  ausführlich  dargelegt.  Das  zweite  wichtige  Werk  ist  be- 
titelt: »L'Artusi,  overo  delli  imperfettione  della  moderna 
musica,  raggionamenti  dui,  nei  quali  si  ragiona  di  molto 
cose  utili  e  necessarie  ai  moderni  comj^ositori«  (Venezia 
1600)  und  enthält  die  Beschreibung  der  damals  gebräuch- 
lichen Musikinstrumente,  behandelt  die  damals  streitigen 
Punkte  der  Harmonielehre  und  eifert  gegen  die  Neuerungen 
Claudio  Monteverdes  in  der  Musik. 

Tigrini,  lebte  als  Stifts-  oder  Domherr  in  Arezzo  in  der 
zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts;  sein  musikalisches 
Lehrbuch  hatte  den  Titel:  »Compendio  della  musica, 
nel  quäle  brevemente  si  tratta  dell'  arte  di  contrapunto. 
Diviso  in  quattro  libri«.  (Venezia  1588,  appresso  Ricciardo 
Amadino  in  4^  136  Seiten.  Zweite  Ausgabe,  Venedig  1602.) 
Auch  gab  Tigrini  ein  Buch  Madrigale  heraus:  >I1  primo 
libro  de  Madrigali  a  6  vocci«.  (Venezia,  app.  Angelo  Gar- 
dano  1582,  in  4«  obl.) 

Fra  Ludovico  Zacconi,  geb.  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  in 
Pesaro.  Als  Augustinermönch  war  er  Chordirektor  dieses 
Klosters  und  trat  1593  als  Sänger  in  die  Kapelle  des  Erz- 
herzogs Karl  von  Österreich,  sowie  1595  in  gleicher  Eigen- 
schaft in  die  Kapelle  des  Kurfürsten  von  Bayern,  von  wo 


94  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

er  nach  Venedig  zurückgekehrt  semsoll.  Sein  Werk  »Pra- 
tica  di  Miisica«,  Parte  L,  Venezia  1592,  Parte  IL,  Venezia 
1622,  gehört  mit  zu  den  trefflichsten  Quellen  werken  aus 
dieser  Zeit.  Es  behandelt  die  Anfangsgründe  der  Musik, 
giebt  bestimmte  Regeln  der  musikalischen  Komposition,  den 
jeweiligen  Stand  und  die  Fortschritte  der  Musik,  sowie  die 
Beschreibung  der  damals  gebräuchlichen  Instrumente.  (U.  a. 
giebt  Zacconi  die  ganze  Tonleiter  der  Violine  von  g — b- 
an,  wonach  also  ein  Lagenspiel  auf  diesem  Streichinstru- 
mente in  jener  Zeit  ausgeschlossen  war.) 

Francesco  Patrizzi  (Ende  des  15.  und  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts), Bischof  von  Gaeta,  nach  den  einen  in  Siena,  nach 
anderen  in  Cherso  (Dalmatien)  1529  geboren,  gest.  1580. 
Von  ihm:  »Arithmetica,  Geometria,  Musica  et  Astronomia«, 
sowie  das  Buch  »De  Regno  et  Regis  institutione  libri  IX« 
(Paris  1580),  welches  im  15.  Kapitel  von  der  Musik,  deren 
Nützlichkeit  und  Einflufs  auf  die  moralische  Erziehung 
handelt.  Patrizzi  stellt  sich  noch  vollständig  auf  den  alt- 
griechischen Standpunkt  in  Bezug  auf  Tonverhältnisse. 

Ercole  Bottrigari,  geb.  1531  in  Bologna,  gest.  daselbst  am 
30.  Sept.  1612.  Von  ihm,  als  Gegner  der  philosophischen 
und  musikalischen  Prinzipien  des  Aristoxenos,  eine  Streit- 
schrift gegen  Francesco  Patrizzi:  »II  Patrizzio,  ovvero  de' 
tetracordi  armonici  di  Aristosseno  etc.«  (Bologna  1583); 
ferner:  »II  desiderio,  ovvero  de'  concerti  di  varii  stromenti 
musicali  etc.<  (Venezia  1594),  welche  er  unter  dem  Pseudo- 
nym Alemanno  Benelli  herausgab.  Aufserdem  finden  sich 
handschriftlich  von  Bottrigari  Übersetzungen  altgriechischer 
Musikschriftsteller  ins  Italienische  vor.  Siehe  »Teatro  d'huo- 
mini  letterati«  (P.  IL  p.  171),  sowie  >Tevo  nel  musico  testore« 
(P.  L  C.  20,  p.  28). 

Franchino  Gaforio  (auch  Franchinus  Gafurius,  Gafori  oder 
Gaforus  genannt),  war  in  Lodi  am  14.  Januar  1451  geboren 
und  am  25.  Juni  1522  als  Lehrer  der  Chorknaben  und  als 
Domsänger  in  Mailand  gestorben.  In  Mantua  und  Verona 
machte  er  nach  erhaltener  Priesterweihe  seine  musiktheo- 
retischen Studien  und  begab  sich  nach  Genua,  sowie  nach 
Neapel,  wo  er  mit  J.  Tinctor,  Gull.  Garnerius,  Beruh.  Hycaert 


5.  Bedeutende  musikalische  Theoretiker.  95 

verkehrte  und  mit  Filippo  Bononio  (Philippus  von  Caserta) 
öffentliche  Disputationen  über  Musik  abhielt.  Nach  Lodi 
zurückgekehrt,  erhielt  er  von  dort  aus  die  Stellung  eines 
Chordirektors  in  Monticello,  wirkte  sodann  als  Kirchen- 
sänger und  Musiklehrer  in  Bergamo,  bis  er  1484  seinen 
letzten  Posten  als  Domsänger  und  Lehrer  der  Chorknaben 
am  Dom  zu  Mailand  bezog.  Von  ihm:  1.  »Clarissimi  et 
praestantissimi  musici  Franchini  Gafori  Laudensis  theoricum 
opus  musicum  disciplinae«  (Napoli  1480).  Umgearbeitet  er- 
schien dieses  Werk  in  Mailand  1492  und  enthält  Abhand- 
lungen über  die  griechische  Tonalität,  sowie  über  die  Gui- 
donische Solmisation.  2.  »Pratica  musica  sive  musicae 
actiones  in  4  libris«  (Milano  1496).  Spätere  Ausgaben  er- 
schienen 1502  u.  1512.  Dieses  Werk  behandelt  den  Cantus 
planus,  die  Notation,  den  Kontrapunkt,  die  Proportion,  das 
Tempus  u.  a.  m.*)  3.  »Angelicum  ac  divinum  opus  musice 
Fr.  Gafurii  Land.,  regii  musici  ecclesiasque  Mediolanensis 
phonasci:  materna  lingua  scriptum  etc.«  (Milano  1508). 
4.  »Fr.  Gafurii  Laud.,  reg.  mus.  publice  profitentis  delubrique 
Mediolanensis  phonasci:  de  harmonia  musicorum  instru- 
mentorum  opus  etc.«  (Milano  1518).  5.  »Apologia  Fr.  Gafurii 
adversus  Joannem  Spatarium  et  complices  musico  Bono- 
nienses«  (1520). 

Vincenzo  Galilei,  geb.  um  1540  in  Florenz,  mit  Girolamo 
Mei  ein  eifriger  Verfechter  einer  Wiederherstellung  der 
Musik  nach  altgriechischen  Prinzipien,  war  guter  Sänger 
und  Lautenspieler  und  hatte  seine  Musikstudien  bei  Zarlino 
gemacht,  gegen  dessen  streng  kontrapunktisches  Harmonie- 
system er  sich  in  folgendem  Werke  wandte:  »Discorso 
intorno  all'  opere  di  Zarlino«  (Firenze  1581).  Dieser  Ab- 
handlung folgte:  »Dialogo  della  musica  antica  e  moderna, 
in  sua  difesa,  contra  Giuseppe  Zarlino«  (Firenze  1581,  1602). 
Das  erste  Buch,  das  Galileis  Namen  begründete,  hiefs:  »II 
Fronimo,  dialogo  so^^ra  l'arte  del  bene  intavolare  e  retta- 
mente,  suonare  la  musica  negli  strömen ti  artificiale,  si  di 
corde  come  di  fiato  et  in  particolare  nel  liuto«  (Venezia 
1569,  1583). 


*)  In  der  Proskeschen  Sammlung  befindet  sich  von  beiden  Werken 
eine  Ausgabe,  betitelt:  »Musica  utriusque  cantus  practica«  (Brixen  1497). 


96  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Galileo  Galilei,  geb.  18.  Febr.  1564  in  Pisa,  gest.  8.  Jan.  1642 
in  Florenz,  gab  in  seinem  Werke  »Discorsi  e  dimostrazioni 
matematiche«  (Firenze  1638)  Aufschliils  über  die  Schwin- 
gungen der  Saiten,  über  die  Natur  und  die  Verhältnisse  der 
Töne,  über  die  Fortpflanzung  des  Schalles  u.  a.  m.  Das 
Werk  befindet  sich  auch  in  2  Bänden  seiner  gesammelten 
Schriften  (Bologna  1655). 

Michele  Angelo  Galilei,  geb.  im  Anfange  des  17.  Jahrhunderts 
als  Verwandter  der  beiden  Vorgenannten,  war  Lautenspieler. 
Ihm  wird  die  in  Ingolstadt  1620  erschienene  Lautentabu- 
latur  zugeschrieben. 


Cf3Cf3(:^Cj3Cf3[t]Cf3Cf3[t3Cj3Cj3Cf3Cf3 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik, 
vornehmlich  in  Italien,  vom  16.  Jahrhundert  an. 

(Die  ersten  Anfänge  der  Instrumentalkomposition  in  der  römischen  und 
venetianischen  Tonschule,  die  Laute,  die  Blasinstrumente,  die  Anfänge  der 
Orgel- und  Klavierkomposition,  die  Geige,  sowie  die  Entwicklung  der  »Sonate« 
durch  die  höhere  Ausdrucksfähigkeit  des  Klaviers  und  der  Geigen- 
instrumente.) 


Wie  erscheint  die  Instrumentalmusik,  soweit  sie  als  Kunst  in 
Betracht  kommt,  in  ihren  ersten  Anfängen? 

Als  vollständiger  Nachhall  der  Vokalmusik.  —  Man  schrieb 
für  Musikinstrumente,  deren  Bau  und  Ausdrucksfähigkeit 
sich  vom  frühen  Mittelalter  bis  hinauf  in  die  Renaissance- 
zeit nach  und  nach  entwickelt  hatte,  gerade  so  wie  für  die 
menschlichen  Stimmen.  Bewiesen  wird  dies  durch  eine 
Menge  von  Musikstücken  aus  dem  Bereiche  der  absoluten 
Instrumentalmusik  jener  Zeit,  in  welcher  sie  sich  noch  in 
den  ersten  Anfängen  befand.  (Siehe  hierüber  die  Musik- 
beilagen zu  W.  J.  V.  Wasielewskis  Büchern  »Die  Violine  im 
17.  Jahrhundert«  und  »Geschichte  der  Instrumentalmusik 
im  16.  Jahrhundert«.)  Was  vorher  an  Instrumentalmusik 
existierte,  diente  keineswegs  einem  höheren  künstlerischen 
Ausdrucke.  Meist  sind  es  Tänze  und  Märsche,  sowie  schlichte 
Begleitungen  zu  Liedern  und  Gesängen,  die  uns  entgegen- 
treten. Um  auf  künstlerische  Bedeutung  Anspruch  zu 
machen,  mufste  die  Instrumentalmusik  bei  der  durch  die 
Völker  des  Nordens  (Niederländer)  und  Italiener  zur  Kunst 
erhobenen  mehrstimmigen  Vokalmusik  erst  in  die  Schule 
gehen. 

Bei  welchen  Komponisten  der  römischen  Tonschule  finden  sich 
die  ersten  Versuche  der  ersten  selbständigen  Instrumental- 
komposition ? 

Bei  Gregorio  Allegri  und  bei  Antonio  Cifra. 

Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgescliiclite.   III.  7 


98  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Gregorio  Allegri  ist  durch  seine  Kanzonen  für  Streich- 
instrumente (Primo  VioHno,  Secondo  Violino,  Alto  della  Viola, 
Basso  per  la  Viola  mit  einer  Generalbalsstimme  für  Orgel), 
durch  seine  Kanzonen  für  Violino,  Cornetto  (Zinken),  Liuto 
e  Teorba,  sowie  durch  die  »Sinfonia  Instrumentalis  a  quattro 
voci  per  la  Viola  con  basso  per  l'Organo«  als  einer  der 
ersten  Komj)onisten  selbständiger  Instrumentalmusik  zu  be- 
trachten. Ebenfalls  Antonio  Cifra  mit  seinen  1614  in 
Venedig  erschienenen  »Scherzi  e  Aria  a  una,  due,  tre  e 
quattro  voci  per  cantar  nel  clavicembalo,  chittarone  o  altro 
simile  instrumento«,  sowie  mit  dem  1619  bei  Soldi  in  Eom 
veröffentlichten  »Ricercari  e  Canzoni  francesi  a  quattro 
voci«. 

Bei  welchen  Komponisten  der  venetianischen  Tonschule  finden 
sich  die  ersten  selbständigen  Instrumentalkompositionen? 
Bei   Giovanni   Gabrieli  (1557 — 1613)  und  bei  Florentio 
Maschera  (Ende  des  16.  Jahrhunderts). 

Giovanni  Gabrieli  schrieb  Ricercari  für  Orgel,  sowie 
Sonaten  für  Blas-  und  Streichinstrumente,  und  fügte  seinen 
drei-  und  vierstimmigen  Chorwerken  ein  begleitendes  Or- 
chester, bestehend  aus  Geigeninstrumenten,  Cornetti  (Zinken) 
und  Posaunen  hinzu.  Besonders  erwähnenswert  sind  G. 
Gabrielis  »Symphoniae  sacrae«.  Die  ersten  Beispiele  der 
sich  aus  den  Banden  der  Vokalmusik  loslösenden  Instru- 
mentalmusik bilden  die  Kanzonen  von  Florentio  Maschera, 
der  als  Organist  am  Dome  zu  Brescia  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts wirkte.  (Siehe  die  in  Bonn  a.  Rh.  von  W.  J.  v. 
Wasielewski  herausgegebenen  Instrumentalsätze  des  16.  bis 
Ende  des  17.  Jahrhunderts.) 

Wer  ist  aus  der  toskanischen  Musikbewegung  zu  erwähnen, 
der  als  erster  die  ihm  zu  Gebote  stehenden  Musikinstrumente 
nach  ihrem  Charakter  und  nach  ihrem  technischen  Vermögen 
verwendete? 

Claudio  Monteverde  (1568—1643);  er  erfand  z.  B.  für  die 
Streichinstrumente  die  Effekte  des  Tremolo  und  Pizzikato. 

Wie  hiefsen  die  Musikinstrumente,  welche  im  16.,  17.  und  18. 
Jahrhundert  auf  dem  Boden  von  Italien  vorzugsweise  als 
selbständige  musikalische  Ausdrucksmittel  benützt  wurden? 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 


99 


Die  Laute  (Liuto),  die  Orgel  (Organo),  das  Klavier  (Clavi- 
cembalo)  und  die  verschiedenen  Geigeninstrumente,  welche 
unter  dem  Gemeinnamen  »Viola«  zusammenzufassen  sind; 
hauptsächhch  errang  sich  aber  die  kleine  Viola  (Violino 
oder   Geige)   durch   die   Vollkommenheit   ihres   Baues   und 


No.  9.    Titelblatt  einer  Lautenschule  vom  Jahre  1523. 

durch  die  aus  diesem  resultierende  Wirkung  eine  bevorzugte 
Stellung. 

Welche  Stellung  nahm  die  Laute  im  Musikleben  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  sowohl  in  ItaUen,  als  auch  in  Frankreich, 
Deutschland  und  England  ein? 

Die  Laute  hatte  bis  zu  jener  Zeit,  in  welcher  das  Klavier 
oder  Pianoforte  zu  einer  grölseren  Ausdrucksfähigkeit  ge- 

7* 


100  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

langte,  eine  ähnliche  Stellung  im  Musikleben  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts,  wie  dieses  Instrument  im  19.  Jahrhundert. 
Dals  die  Laute  in  der  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  sogar 
in  den  Kirchenmusiken  Roms  verwendet  wurde,  wird  durch 
die  Ausgaben  des  Franzosen  Maugars,  der  sich  von  1638 
bis  1639  in  Rom  aufhielt,  bestätigt,  indem  er  sagt:  »Was 
die  Instrumentalmusik  betrifft,  so  bestand  dieselbe  aus  einer 
Orgel,  einem  grofsen  Klavier  (>grand  Clavessin<),  einer 
Lyra,  zwei  oder  drei  Violinen  und  zwei  oder  drei  grofsen 
Lauten  (Archiluths)«. 

Die  Laute  —  das  Wort  stammt  vom  arabischen  L'eud  oder 
el'eud  —  d.h.Holz,  und  zwar  Ahornholz  (italienisch:  liuto,  fran- 
zösisch: luth,  lateinisch:  testudo),  reicht  bis  ins  Altertum  zu- 
rück, denn  schon  bei  den  Ägyptern  treten  uns  lautenähnliche 
Instrumente  entgegen.  Dieselbe  war  nicht  nur  ein  Haupt- 
instrument in  den  Orchestern  des  Renaissancezeitalters,  son- 
dern auch  das  Musikinstrument  der  Familie  und  der  gesell- 
schaftlichen Kreise,  kam  aber  mit  Vervollkommnung  des 
Klaviers  und  der  Streichinstrumente  am  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts aufser  Gebrauch.  Wir  erblicken  im  Verlaufe  der  Ge- 
schichte Lauten  mit  4 — 24  Saiten  bezogen,  sowie  kleine  und 
grofse  Lauten.  Der  Resonanzkörper  (Bauch  oder  auch  Korpus 
genannt)  ist  nicht,  wie  jener  der  Guitarre,  flach,  sondern  gleich 
dem  einer  Schildkrötenschale  oder  einer  halbierten  Mandel 
gewölbt,  aus  schmalen  und  dünnen  Spänen  zusammengesetzt, 
mit  einem  langen,  breiten  Hals  versehen,  an  dem  ein  Wirbel- 
kasten befindlich,  der  meistens  im  stumpfen  Winkel  zurück- 
gebogen. Die  Resonanzdecke  der  Laute  war  mit  einem 
runden  Schalloche  versehen.  Bezogen  war  die  Laute  bis 
zur  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  mit  Messing-  und 
Darmsaiten;  sodann  kam  es  auf,  für  die  tieferen  Saiten  der 
Laute,  sowie  überhaupt  der  Saiteninstrumente  mit  Metall- 
draht übersi^onnene  Darmsaiten  zu  nehmen.  (J.  J.  Rousseau 
nennt  in  seinem  Buche  »Traite  de  la  Viole«,  1687,  Sainte 
Colombe  als  den  Erfinder  der  übersponnenen  Saiten.)  Was 
die  Zahl  der  Saiten  anlangte,  so  war  diese  bei  den  Lauten 
verschieden.  Es  gab,  wie  bereits  bemerkt,  Lauten  mit  4  bis 
24  Saiten.  Sebastian  Virdung  rät  in  seiner  »Musica  getutscht« 
(siehe  diese  oder  die  betreffende  Stelle  über  Besaitung  der 
Laute   in  Wasielewskis   »Geschichte  der  Instrumentalmusik 


6.   Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 


101 


des  16.  Jahrhunderts«  S.  32  und  33)  zur  Laute  mit  elf  Saiten. 
Die  Notation  für  die  Laute  hiefs  »Lautentabulatur  ,  und  als 
Erfinder  der  ersten  Tabulaturschrift  der  Laute  wird  der 
Nürnberger  Tonkünstler  Conrad  Paumann  genannt.  (Siehe 
Chrysanders  Jahrbücher  für  Musik.  Bd.  IL)  Das  System 
der  Lautentabulatur  bestand  aus  sechs  Linien, 
und  besafs  weder  Versetzungszeichen  noch 
Schlüssel;  nur  die  Taktart  mufste  angegeben 
werden.  (Siehe  das  Lautenbuch  von  Hans 
Neusiedler,  1535,  die  Lauten-  und  Geigen- 
schule von  Hans  Judenkunig,  1523.  Virdungs 
»Musica  getutscht«,  Basel  1511,  Martin  Agri- 
colas  »Musica  Instrumentalis <',  Wittenberg  1528, 
M.  A.  Galileis  >^Lautentabulatur«,  Ingolstadt 
1620  u.  a.  m.)  Aufser  der  gewöhnlichen  kleinen 
Laute  gab  es,  wie  vorher  bemerkt,  noch  eine 
gröfsere  Laute  —  Bafslaute,  Theorbe,  Chitar- 
rone  oder  Archiliuto,  französisch  Archiluth 
genannt;  dieselbe  soll  von  Bardella  in  Italien 
erfunden  worden  sein.  Ein  Werk  über  die 
Tabulatur  der  Theorbe  oder  Bafslaute  schrieb 
1680  der  Bologneser  Alessandro  Piccini.  Die 
Theorbe  hatte  meistens  acht  oder  zehn  stär- 
kere und  bedeutend  längere,  fast  doppelt  so 
lange  Saiten  als  die  Laute,  auf  serhalb  des 
Griffbrettes;  diese  Bafssaiten  waren  zwei- 
chörig,  d.  h.  doppelt  (zwei  im  Einklänge  ge- 
stimmte Saiten),  bildeten  die  Grundstimme 
und  dienten  für  den  Wechsel  der  Tonarten 
und  wurden,  während  die  linke  Hand  auf 
dem  Griff  breite  arbeitete,  mit  der  rechten 
Hand  angeschlagen,  weshalb  der  Ausdruck 
»Lautenschläger«  entstand.  Die  auf  dem  Griff- 
brette liegenden  Saiten  waren  meist  einchörig  und  wechselten 
in  der  Zahl,  am  meisten  zwischen  sechs  und  acht.  Der  Re- 
sonanzkörper der  Theorbe  war  dem  der  Laute  durchaus 
gleich,  nur  war  der  Hals,  der  tiefen  Saiten  wegen,  viel 
länger.  Man  bediente  sich  der  Bafslaute  sowohl  in  der 
Kirchen-  als  auch  in  der  Opernmusik,  um  in  Accorden  zu 
begleiten  oder,  wie  man  sich  ausdrückte,  den  Generalbafs 


% 


No.  10. 

BaTslaute  oder 

Theorbe. 


102  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

darauf  zu  spielen.  (Michael  Praetorius  sagt  im  zweiten 
Teile  seines  »Syntagma  musicum«:  »Die  Theorbe  ist  allein 
dahin  gerichtet,  dals  ein  Diskant  oder  Tenor  viva  voce, 
gleich  wie  zu  der  Viol  de  Bastarda,  dareingesungen  werde«.) 

Als  älteste  Lautenmacher  auf  dem  Boden  von  Italien  sind 
bekannt:  Lucas  Malher,  1415,  in  Bologna  und  Max  Unver- 
dorben in  Venedig.  Aus  dem  16.  und  17.  Jahrhundert  werden 
als  tüchtige  Lautenmacher  die  Mitglieder  der  Familie  Tieffen- 
b  ruck  er  (Duiffobruggar)  in  Venedig  genannt. 

Als  berühmte  Lauten  virtuosen  sind  zu  merken:  Galilei, 
Gauthier,  Gerle,  Paumann,  Hofer,  Kohaut,  Lauffensteiner,  Logi, 
Marion  de  Lorme,  Martin,  Pelagratzky,  Reggio,  Roy,  Scheidler, 
Schindler,  Setzkorn,  Straube,  Weifs,  Walter  und  Ernst  Gottl. 
Baron.  Der  letztere  war  königlich  preulsischer  Kammer- 
musikus, am  17.  Februar  1696  in  Breslau  geboren,  am  26.  August 
1760  in  Berlin  gestorben  und  bekannt  durch  eiiie  sehr  schätzens- 
werte Anleitung  zum  Lautenspiele.     (Nürnberg  1727.) 

Aufser  der  Theorbe  sind  als  Abarten  der  Laute  zu  nennen: 
die  Mandora,  Mandoline,  Pandure,  Pandurine  und  Guitarre, 
wiewohl  letztere  wohl  eher  von  der  alten  Zither,  Kithara, 
Chitarra  herzuleiten  ist,  aus  dem  Morgenlande  zuerst  nach 
Spanien  kam,  wo  sie  heimisch  wurde,  und  sich  dann  in  Frank- 
reich, Italien  und  Deutschland  einbürgerte.  Ihre  Stimmung 
ist  e  a  d^  g^  h^  e^  Wie  es  eine  Bafslaute  giebt,  so  giebt  es 
auch  eine  Bafsguitarre.  Unter  Mandora  wird  eine  kleine  Art 
von  Laute  verstanden,  wie  auch  die  Pandure  oder  Pandora 
eine  kleine  Laute  ist.  Auch  die  noch  heute  gebräuchliche 
Mandoline  ist  ein  lautenartiges  Instrument,  deren  Saiten  mit 
einem  Piektrum  in  Schwingung  versetzt  werden.  Man  unter- 
scheidet die  neapolitanische  und  die  mailändische  Mandoline. 
Die  erstere  hat  meistens  vier  doppelchörige  Saiten  gg,  dd\  aa^ 
und  ee^,  die  letztere  fünf  doppelchörige  Saiten  gg,  cc\  ee\  aa^ 
und  dd^.  (Heute  bedient  man  sich  meistenteils  einchörig  be- 
zogener Mandolinen,  die  man,  wie  die  Violine,  in  g  d^  a^  und  e^ 
stimmt.)  —  Die  Stimmung  der  Laute  war  nach  Seb.  Vir  düng 
(1511): 


6.   Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 


103 


Nach  Martin  Agricola  (1528): 


9t 


Die  drei  tiefsten  Saiten  hielsen  von  unten  nach  oben:  der 
»Grolsbrummer«,  »Mittelbrummer«  und  »Kleinbrummer«,  die 
übrigen:  die  »Grofssangsaite«,  die  »Kleinsangsaite«  und  die 
»Quintsaite«.  Wie  aus  beifolgendem  Notenbeispiele  ersichtlich, 
stimmte  bei  Martin  Agricola  die  Laute  einen  ganzen  Ton  tiefer. 

Nach  Virdung  wurden  die  einzelnen  Griffe  der  Laute  auf 
folgende  Weise  bezeichnet: 


Groasprummer. 

Mittelprummer. 

Clainprommer. 

Gross  sancksait. 

ciain  sancksait. 

Quintsait. 

i  (A) 

1    (d) 

2  (g) 

3(h) 

4(e) 

5(ä) 

21  (b) 

a  (dis) 

b  (gis) 

c  (c) 

b  (f) 

c  (b) 

f  (h) 

f  (e) 

9(a) 

k  (eis) 

i(fi^) 

f  (h) 

£(c) 

I(f) 

m  (b) 

n  (d) 

o(g) 

P  (c) 

03  (eis) 

q  (fis) 

r  (h) 

f  (dTs) 

t  (gTs) 

D  (eis) 

X(d) 

s(g) 

Y  (c) 

3(e) 

3(ä) 

9  (ä) 

2Ia  (dis) 

aa  (gis) 

bb  (eis) 

cc  (f) 

bb  (b) 

ec  (dis) 

vff  (e) 

ff  (a) 

99  (d) 

kk  (fis) 

it  (h) 

ff  (e) 

ü{Y) 

Wo   finden   sich   Beispiele   von   selbständigen   Kompositionen 

für  die  Laute? 

Beispiele  A^on  selbständigen  Kompositionen  für  die  Laute 
finden  sich  in  den  von  O.  Petrucci  1507  und  1508  in  Venedig 
herausgegebenen  vier  Lautenbüchern.  Das  vierte  Buch, 
welches   als  Autor   den  Mailänder  Lautenisten  Dalza  hat, 


104 


Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien, 


enthält  Calaten  (italienische  Tänze  im  -/^  Takt),  Padovanen 
(Tänze  gravitätischen  Charakters),  sowie  arrangierte  Frottoles 
mit  Vor-  und  Nachspielen.  (Ein  Exemplar  dieses  Lauten- 
buches befindet  sich  in  der  Brüsseler  Bibliothek.)  —  Als 
Beispiel,  wie  man  im  16.  Jahrhundert  die  Laute  als  Be- 
gieitungsinstrument  zum  Gesänge  behandelte,  mögen  die 
70  Frottoles  von  Francisi  Bossinensi  gelten,  welche  1509 
bei    O.    Petrucci    in    Venedig   erschienen    unter    dem    Titel 

»Tenori  e  contrabassi 
intabulati  col'  Soprano 
in  canto  figurato  per 
cantar  e  sonar  col  liuto 
IIb.  I<.    (Es    sind  dies 

dreistimmige  Ton- 
stücke, von  denen  die 
obere  Stimme  gesun- 
gen wurde,  Tenor  und 
Bals  aber  auf  der  Laute 
gespielt  wurden.)  Dafs 
es  üblich  war,  den  Ge- 
sangstücken Vor-  und 
Nachspiele  beizugeben, 
zeigen  Dalzas  »Ricer- 
cari«,  welche  hier  eben 
nur  die  Bedeutung  von 
Vor-  und  Nachspielen 
haben,  und  nicht,  wie 
es  später  der  Fall  war,  fugenartig  gestaltete  Tonsätze. 
Ricercari,  welche  als  Vor-  und  Nachspiele  zu  begreifen 
sind,  finden  sich  in  Francesco  da  Milans  »Intabula- 
tura  di  Liuto  etc.«  1536.  —  Aus  der  zweiten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  sind  Lautenwerke  zu  erwähnen,  die  Tänze 
von  geringem  musikalischen  Werte  enthalten.  Als  Beispiel 
hierfür  sei  Fabrizio  Garosas  Tanzschule  angeführt.  (II 
Ballerino.  Venetia,  apresso  Franscesco  Ziletti,  1581.)  Diese 
Tanzweisen  bildeten  ihrer  Zeit  die  Modewaren  der  Tanz- 
musik und  wurden  in  der  Tanzpraxis  verwendet.  Von 
künstlerischem  Interesse  ist  das  Lautenbuch  von  Vincenzo 
Galilei  aus  dem  Jahre  1584  mit  eingestreuten  Lautensätzen; 
dieselben    sind   teils  arrangierte  Gesangswerke  von  Lasso, 


No.  12. 


Zwei  Lauten. 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 


105 


Animuccia,  Ferabosco,  Cypriano  de  Rore,  Morales,  Willaert 
IL  a.  m.,  teils  Ricercari  eigener  Komposition  Galileis,  welche 
meist  als  Vor-  und  Nachspiele  dienten.  (Siehe  Nr.  15  der 
Musikbeilagen  zu  W.  J.  v.  Wasielewskis  »Die  Geschichte  der 
Instrumentalmusik  im  16.  Jahrhundert«.) 

Welche  Musikinstrumente  er- 
blicken wir  im  16.  Jahrhundert 
aulser  Lauten  und  Theorben 
vorzugsweise  im  Orchester? 
Cornetto  (Zinken),  Clarino 
(Naturtrompete) ,  Trombone 
(Posaune),  Fagotto,  Flauto 
und  Violen  (Geigen).  Die  Ur- 
form der  »Cornetti«  oder 
»Zinken«  war  das  einfache 
Hörn  einer  Ziege  oder  Kuh.  Dieses  Instrument,  welches  im 
18.  Jahrhundert  ausstarb,  war  vielfach  noch  in  den  Händen  der 
Stadttürmer  und  Stadtpfeifer.  Eine  Abart  des  Zinken  war 
das  »Porzeil«,  mit  welchem  einst  von  den  Festungen  Alarm- 
signale gegeben  wurden.  Um  den  Zinken  als  Bafsinstrument 
zu  bauen  und  die  Länge  auf  praktische  Weise  zu  verkürzen, 


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A 

IIPIPIII^^                                  '•■■ 

1 

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1 

Üt: 

1 

No.  13. 
Primitive  Orgel  mit  Luftschieber. 


No.  14.     Orgel  mit  Blasebälgen,  als  Magrepha  schon  im  Talmud  erwähnt. 

wurde  derselbe  als  Schlange  gebaut,  daher  der  Name  »Ser- 
pent«.  Auch  die  Oboe  existierte  schon  im  16.  Jahrhundert, 
obwohl  sie  erst  im  18.  Jahrhundert  mit  der  Klarinette  in 
eigentlichen  Gebrauch  kam.  Die  Oboe  wurde  die  Verdrän- 
gerin  der  Schalmei,  welche  vor  ihr  üblich  war, 

Folgende  Verse   notierte   ich   von   einem   alten   Bilde  im 
bayrischen  Nationalmuseum   zu   München.      Das   Bild,   das 


106 


Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 


einen  Hautboisten  darstellte,   schien  aus  dem  Anfange  des 
18.  Jahrhunderts  zu  sein: 

»Weg  bäurische  Schallmey!    Mein  Klang  mufs  dich  vertreiben 

ich  dien  auf  beede  recht  in  Krieg  und  Friedens  Zeit. 

Der  Kirche  und  bey  Hof,  da  du  mufst  ferne  bleiben. 

Mir  wird  der  Reben  Saft,  dir  Hefen  Bier  bereit 

du  bleibest  auf  dem  Dorf,  ich  wohn  in  Schlofs  und  Städten 

Dich  ziert  ein  Pfennig  Band  und  mich  die  goldne  Ketten.« 

Um  das  Jahr  1720  soll  die  Oboe  in  Aufnahme  gekommen 
sein  und  die  Gebrüder  Besozzi  werden  als  die  ersten  ge- 
nannt, welche  die  Oboe  als  selbständiges  Ausdrucksmittel 
benützten,  indem  sie  1735  in  Paris  auf  derselben  Konzerte 
bliesen.  Im  Orchester  findet  sich  die  Oboe  zuerst  ange- 
wendet in  der  grofsen  dreichörigen  Salzburger  Messe  »Orazio 
Benevolis«,  welche  einen  instrumentalen  Aufwand  von  Orgel, 
Saiteninstrumenten,  zwei  Oboen,  vier  Flöten  und  zwei  Cla- 
rinen  (Zinken)  aufweist.  Bekanntlich  wurde  diese  Messe 
1628  zum  erstenmale  im  Salzburger  Dome  aufgeführt. 

Als  Gegensatz  zur 
Diskantoboe  ist  der  fast 
drei  Meter  lange  »Kon- 
trabafs  -  Pommer«        zu 

nennen.  Überhaupt 
baute  man  oboeartige 
Instrumente  im  16.  Jahr- 
hundert in  verschiede- 
nen Gröfsen,  und  zwar 
nach  Mafsgabe  der 
menschlichen  Stimmen : 
für  Diskant,  Alt,  Tenor 
und  Bafs,  um  sie  gleich 
den  Streichinstrumenten 
oder  Cornetti  zum  Ver- 
stärken der  mehrstim- 
migen Kirchenchöre  zu 
benützen.  —  (Als  Er- 
finder der  »Klarinette« 
ist  Joh.  Christoph 
Denn  er,  Blasinstru- 
No.  15.  Altgriechische  Wasserorgel.  meuteumacher  lu  Nüm- 


6.   Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 

berg,  geb.  1655  in  Leip- 
zig, gest.  1707  in  Nürn- 
berg, zu  nennen.  Nach 
einigen  Angaben  ist 
1690,  nach  anderen  1700 
dasErfindiingsjahr  der 
Klarinette.  Das  mit  der 
Klarinette  verwandte 
»Bassethorn«  soll  1770 
in  Passau  erfunden 
worden  sein,  jedoch  ist 
der  Name  des  Erfin- 
ders leider  unbekannt 
geblieben.) 


107 


Wen  nennt  die  Geschichte 
der  Musikinstrumente  als 
Erfinder   des   »Fagotts«? 


No.  16. 

Abbildung  einer  Orgel  aus  dem  Stuttgarter 

Psalmenbuche,  von  Bischof  Elfeg  960  gebaut. 


Kanonikus  Alfranio  aus  Ferrara,  der  das  Fagott  um  das 
Jahr  1539  herstellte.  Das  italienische  Wort  »Fagotto«  heifst 
zu  deutsch  »Bündel«.    (Siehe   das    »Dolcian«    des  16.  Jahr- 


No.  17.    Tragbare  Orgel. 


hunderts.)    Bekanntlich  war  Karl  Almenraeder  ein  wesent- 
licher Verbesserer  des  Fagotts,  wie  aus  seiner  Abhandlung 


108 


Die  Musikentwicklune  auf  dem  Boden  von  Italien. 


Über    die    Verbesserung     dieses    Instrumentes    (Mainz)    er- 
sichtlich  ist.    —   Die   Erfindung   des   Kontrafagotts   gehört 

erst   dem    19.   Jahr- 
hundert an. 


Welche  Tasteninstru- 
mente weisen  das  16, 
und  17.  Jahrhundert 
auf? 

Die  Orgel  und  das 
Klavier.  Das  Kla- 
vier tritt  unter  den 
Namen  Cla^icordi- 
um,  Clavicymbalum,  Claviciterium  und  Yirginal  auf.  Seine 
Vervollkommnung  war,  wie  die  der  Orgel,  aber  erst  einer 
späteren  Zeit  vorbehalten.    Die  Orgel,  die  erst  jetzt  beginnt 


No.  18.    Schnarrwerk. 


Beispiel  der  Tabulaturschrift  für  die  Orgel: 


4=t 


a        f    g       a  b  c  a 

Ach  gott  vom  Hymel 

sieh  darein. 


=ö=t=t 


bebe     cbag     fe|befg    agfegf^ 
a  b  a 

I  D 


g  f  9  a  f 

Gabe       b 
D  D 


b     a    g       a  g  f  g 
b  b 

G    D    G 


^ 


-ä—^ 


In  moderne  Xotenschrift  übertragen; 


EQfczp 


rfe?- 


^— gr 


-<9— S^ 


im^ 


V    Ä 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 


109 


ein  künstlerisch  verwendbares  Instrument  zu  werden,  wies 
zwei  Arten    auf:    portative   und   positive,   d.  i.   tragbare 


—  be 

X!   OS 


und  feststehende.  Aus  kleinen  Anfängen  (ihr  lagen  die 
Pauspfeife  und  der  Dudelsack  als  Ur-Instrumente  zu  Grunde) 
hatte  sie  sich  im  Verlaufe  der  Zeit  entwickelt.  (Siehe  die 
Abbildungen  13-18.) 


110  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Welcher  Notation  bediente  man  sich  sowohl  in  Italien  als  auch 
in  Frankreich  für  die  Tonstücke  der  Orgel,  sowie  für  die 
anderen  Tasteninstrumente ? 

Man  bediente  sich  der  bisher  gebräuchlichen  Mensuralnoten- 
schrift, während  sich  in  Deutschland  eine  eigene  Tabulatur- 
oder  Buchstabenschrift  herausbildete,  die  stellenweise  auch 
auf  die  Notierung  A^on  Yokalkompositionen  und  Stücke 
anderer  Musikinstrumente  angewendet  wurde. 


Hervorragende  Vertreter   des   Orgelspiels,   sowie   der 

Orgelkomposition     auf     dem     Boden     von    Italien    im 

16.  und  17.  Jahrhundert. 

Claudio  Merulo,  1563—1604,  geb.  in  Correggio;  war  von 
1557  an  Organist  an  San  Marco  in  Venedig  und  Komponist 
vieler  Orgelstücke,  unter  welchen  seine  1598  und  1604  A^er- 
öff entlichten  Toccaten*)  hervorzuheben  sind.  Ambros  be- 
merkt von  Merulo,  dafs  er  derjenige  gewesen  sei,  welcher 
»die  Orgelkunst  in  Italien  aus  dem  Zustande  der  Halbent- 
wicklung, in  welcher  sie  sich  damals  befunden  hatte,  erlöst 
habe«.  —  Die  Organisten  Italiens  behaupten  jetzt  den  Rang 
wirklicher  Künstler,  während  die  deutschen  »Orgelschläger« 
dieser  derben  Bezeichnung  entsprechend  noch  lange  eben 
nur  das,  allerdings  auch  respektable  Bild  braver  Handwerker 
und  schlichter  Diener  der  Kirche  darboten. 

Ottavio  Bariola  war  Orgelspieler  in  Mailand  an  der  Kirche 
Madonna  di  S.  Celso.  Von  ihm  erschienen  im  Jahre  1585 
nach  Merulos  Art  »Ricercate  per  suonar  d'organe«  und  1594 

*)  Über  »Toccata«  siehe  bei  W.  J.  v.  Wasielewski,  Seite  146  und  147  des 
Buches  »Geschichte  der  Instrumentalmusik  des  16.  Jahrhunderts«.  —  Michael 
Praetorius  sagt  in  seinem  Buche  :  Syntagma  musicum«,  Tom.  III,  part.  I, 
S.  25,  die  Toccata  sei  »ein  Präambulum  oder  Präludium,  welches  der  Or- 
ganist, wenn  er  erstlich  uff  die  Orgel  oder  Clavicembalum  greift,  ehe  er 
ein  Mutet  oder  Fugen  anfehet,  aus  seinem  Kopfe  vorher  fantasiert,  mit 
schlechten  entzelnen  Griffen  und  Coloraturen  u.  s.  w.  Sie  werden  aber 
von  den  Italis  meines  erachtens,  daher  mit  Namen  Toccata  also  genennet, 
weil  Toccare  heifst  längere,  attingere,  und  Toccate,  tactus.  So  sagen  auch 
die  Italiener:  Toccato  un  poco ,  das  heifst:  beschlagt  das  Instrument  oder 
begreifft  das  Ciavier  ein  wenig.« 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik.  111 

vier  Bücher  »Capricci  ovvero  Canzoni«  für  Orgel.  (Ricercata 
war  ein  Tonstück,  gewöhnlich  ein  Klavier-  oder  Orgelprä- 
ludium in  fantasieartiger  oder  toccatenmäfsiger  Form.) 

Andrea  und  Giovanni  Gabrieli  waren  im  16.  Jahrhundert 
Organisten  an  San  Marco  in  Venedig.  1594  erschien  bei 
Angelo  Gardano  in  Venedig  »Intonazioni  d'Organo  di  Andrea 
Gabrieli  e  di  Giovanni  suo  nipote  Organiste  della  Sereniss. 
Sig.  di  Venetia  etc.«.  (Intonationen  in  allen  Tonarten,  sowie 
Toccaten  bilden  den  Inhalt  dieses  Sammelwerkes  von  Orgel- 
stücken. Wasielewski  sagt:  »Die  Intonationen  sind  Prälu- 
dien, jedenfalls  bestimmt  zur  Einleitung  gröfserer  bei  kirch- 
lichen Funktionen  zu  Gehör  gebrachter  Tonwerke.  Ihrem 
Zwecke  entsprechend,  haben  sie  nur  geringen  Umfang«.) 

Aufser  Merulo  sowie  Andrea  und  Giovanni  Gabrieli  sind 
als  Organisten  an  den  beiden  Markusorgeln  im  Verlaufe  des 
16.  und  17.  Jahrhunderts  bemerkenswert: 

Francesco  Cavalli,  Giambattista  Volpe-Rovettino,  Pier 
Andrea  Ziani  (auch  Giuseppe  Guammi  genannt),  Giam- 
paolo  Savii  (1612),  Giambattista  Grillo  (1619),  Carlo 
Fillago  (1623),  Giambattista  Berti  (1624)  und  Massimi- 
liano  Neri. 

Einer   der   bedeutendsten    Orgelvirtuosen   seiner  Zeit  war 

Girolamo  Diruta  aus  Perugia.  Von  Diruta,  der  Schüler 
Merulos  und  Organist  in  Gobbio,  sowie  später  in  Chioggia 
war,  erschien  1593  in  Venedig  das  in  Dialogform  verfafste 
Buch  »II  Transilvano«,  welches  von  der  wahren  Kunst  Orgel 
und  Cembalo  zu  spielen  handelte.  (»Sopra  il  vero  modo  di 
sonar  organi  e  stromento  a  penna«.) 

Paolo  Quaglioti  in  Rom  um  1600—1610,  war  sowohl  als 
Orgel-  wie  auch  als  Cembalospieler  von  Bedeutung.  Ferner 
sind  zu  nennen:  Luzzascho  Luzzaschi  in  Ferrara  um 
die  zweite  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts.  Gabrielo  Fattorini 
aus  Faenza  um  1600. 

Florentio  Maschera  aus  Cremona,  Ende  des  16.  Jahrhun- 
derts Organist  in  Brescia  und  Komponist  von  >  Canzoni 
francesi«  (kleine  fugierte  Sätze)  für  Orgel.  Bernardino 
Borghesi,    um    1590    Organist    in    Mailand.      Alexandre 


112  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Milleville,  geb.  in  Paris,  gest.  1589  als  Organist  und  Kapell- 
meister am  Dome  zu  Ferrara.  Frangois  Milleville,  geb. 
in  Ferrara  als  Sohn  des  Vorigen,  bedeutender  Orgelvirtuose, 
und  als  solcher  Lehrer  von  Ercole  Pasquini  aus  Ferrara 
(bis  1614  Organist  an  St.  Peter  in  Kom),  sowie  von  Gira- 
lomo  Frescobaldi,  der  als  der  gröfste  Orgelmeister  da- 
maliger Zeit  auf  dem  Boden  von  Italien  bezeichnet  werden 
mufs.  Frescobaldi  entfaltete  seine  Hauptthätigkeit  in  Rom; 
schon  mit  27  Jahren  war  er  Organist  an  St.  Peter,  woselbst 
bei  seinem  ersten  Auftreten  viele  tausend  Zuhörer  zugegen 
gewesen  sein  sollen.  Bedeutungsvoll  sind  Frescobaldis 
Toccaten  für  Orgel.  Überhaupt  nimmt  dieser  grofse  römische 
Musiker  in  der  musikalischen  Formenentwicklung  einen  her- 
vorragenden Platz  ein,  indem  er  an  die  Stelle  der  Fuga 
reale  die  Fuga  di  tuono  setzt.  »Das  Gesetz  musikalischer 
Formenentwicklung  zeigt  sich  nicht  leicht  irgendwo  deut- 
licher, als  wenn  man  den  Weg  etwa  von  Andrea  Gabrielis 
kurzen  Präludien  in  einzelnen  Kirchentonarten  über  Merulos 
Toccaten  zu  jenen  Frescobaldis  (und  von  da  weiter  zu 
J.  S.  Bach)  nimmt.«  Weiter  sagt  Ambros:  »Die  Fugen- 
themen Frescobaldis  haben  noch  nicht  die  Mannigfaltigkeit 
wie  bei  Seb.  Bach,  wo  sie  selbst  meist  schon  ein  ganz  be- 
stimmtes Charakterbild  von  Freude,  Wehmut,  Schmerz, 
Scherz,  düsterem  Brüten,  heiterem  Gaukeln  u.  s.  w.  geben 
—  aber  sie  haben  Physiognomie  und  insgemein  einen  Zug 
von  Energie  u.  s.  w.«  »Vergleicht  man  die  Armut  der 
früheren  Orgelkomponisten  mit  diesem  Reichtum,  so  be- 
greift man  das  Erstaunen  der  Zeitgenossen  über  die  wunder- 
gleiche Erscheinung.«  Die  vollständig  zu  ganz  festbestimmter 
Form  ausgebildete  Fuge  mit  ihren  nach  einem  unverrück- 
baren Kunstgesetz  gemodelten  »Beantwortungen«,  ihren 
Widerschlägen,  Divertitimenti  u.  s.  w.,  wie  wir  sie  in  höchster 
Vollendung  und  mit  dem  bedeutendsten  Inhalt  bei  J.  S.  Bach 
antreffen,  dürfen  wir  bei  Frescobaldi*)  noch  nicht  suchen. 
Frescobaldi  ist  wahrscheinlich  1580  in  Rom  geboren,  und 
wahrscheinlich  zwischen  1650  und  1654  daselbst  gestorben. 


*)  Fr.  X.  Haberl  hat  eine  Sammlung  von  68  Orgelsätzen  aus  den  ge- 
druckten Werken  Frescobaldis  herausgegeben,  in  welchen  des  Tondichters 
hervorragende  Bedeutung  für  klare  und  durchsichtige  Stimmführung,  so- 
wie für  harmonische  und  modulatorische  Folgerichtigkeit  zu  Tage  treten. 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik.  113 

Als  Virtuose  gröfser  wie  als  Komponist  schrieb  er  Kanzonen, 
Hymnen,  Madrigale,  Motetten,  Magnifikate,  sowie  Toccaten 
und  Ricercari  für  Orgel.  Von  seinen  Schülern  ist  hervor- 
ragend : 

Joh.  Jak.  Froberger,  geb.  1635  in  Halle,  gest.  1667  in  Heri- 
court.  Von  PYoberger  sind  Ricercari,  Partiten  und  Tanz- 
stücke verfalst,  die  in  Mainz  1695  unter  folgendem  Titel 
erschienen:  >Diversi  curiose  varissime  partite  di  Toccate, 
Ricercate,  Capricci  e  Fantasie  per  gli  amatori  di  cembalo, 
organi  ed  instrumenti«. 

Es  bedurfte  mehr  als  zweier  Menschenalter  und  der  rast- 
losen Arbeit  deutscher,  tüchtiger  Organisten,  welche  im  Ver- 
gleiche zu  ihren  Vorgängern,  den  Koloristen*),  wie  Riesen 
dastehen,  ehe  es  mit  der  Fuge  soweit  kam.  Ambros  sagt 
von  Frescobaldi:  »Mit  dem  Namen  Frescobaldi  beginnt  die 
grofse  klassische  Zeit  des  Orgelspiels  —  er  ist  nicht  blofs 
für  seine  Zeit,  sondern  für  alle  Folgezeiten  eine  imponie- 
rende Erscheinung  —  und  wenn  seine  Nachfolger  Froberger 
u.  a.  m.  ihn  an  Glätte  überbieten,  an  Grofsheit  kommt  ihm 
keiner  gleich  —  bis  man  in  der  Fortentwicklung  der  Kunst 
auf  den  Namen  Bach  stölst«. 

Andere  aus  dieser  Epoche  zu  erwähnende  Organisten  von 
Ruf  sind:  Adriano  Banchieri,  geb.  in  Bologna;  Giovanni 
Battista  Fasolo  aus  Asti,  Franziskanermönch  eines  Klosters 
in  Palermo  und  Verfasser  des  1645  in  Venedig  erschienenen 
»Annale  organistico«.  Bernardo  Pasquini,  geb.  1637  im 
Toskanischen,  Organist  an  S.  Maria  maggiore  in  Rom  und 
Lehrer  vieler  Wiener  Organisten,  die  ihm  Leopold  I.  als 
Schüler  zusandte. 

Wie  heilst  der  bedeutende  und  epochemachende  Klaviersi^ieler 
Italiens  am  Ende  des  17.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts? 


*)  Siehe  »Die  Koloristen  ,  Beitrag  zur  Geschichte  des  Orgelspiels  von 
A.  G.  Ritter,  Allgem.  Mus.-Zeitung.  Jahrg.  1869.  Nr.  38  ff.  Vergleiche  auch 
die  Arbeiten  Frescobaldis  mit  denen  deutscher  sogenannter  Koloristen« 
wie  E.  N.  Ammerbach,  Bernhard  Schmid  der  ältere  und  der  jüngere,  Jakob 
Paix,  Johann  Woltz  u.  a.  m. 

Ritter,  Encj'klopädie  der  Musikgeschichte.    III.  8 


114  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Domenico  Scarlatti*)  (1683—1757).  Derselbe  muls  neben 
Johann  Kuhnau**)  (geb.  1660  in  Geysing  und  Vorgänger 
J.  S.  Bachs  als  Thomaskantor)  als  Förderer  und  Bildner 
des  Sonatenstiles  in  Italien  gelten. 

Was  unterscheidet  Domenico  Scarlattis  Sonatensätze  von  den 
Instrumentalsätzen  der  vorhergegangenen  und  gleichzeitigen 
Komponisten  ? 

Domenico  Scarlattis  Sonatensätze  haben  stellenweise  schon 
zwei  zu  einander  kontrastierende  Haui^tthemen,  sowie  einen 
Mittelsatz  in  der  Dominanttonart,  vollständig  unabhängig 
vom  Hauj^tsatze,  während  doch  die  fugenartigen  Instru- 
mentalsätze der  vorhergegangenen  und  gleichzeitigen  Kom- 
ponisten nur  ein  einziges  Thema  und  Motiv,  welches  durch- 
geführt oder  verarbeitet  wird,  aufweisen. 

Neben  D.  Scarlatti  ist  Giuseppe  Sarti,  geb.  1729  in 
Faenza,  gest.  1802  in  Berlin,  als  italienischer  Klaviersonatist 
zu  erwähnen;  von  ihm  wurden  sechs  Sonaten  für  Clavi- 
cembalo  in  London  veröffentlicht. 

Welches    Instrument    bildet    die    Urform    des    Klaviers    oder 

Clavichords? 

Das  Hackbrett,  welches  als  Psalter  schon  im  Altertum  er- 
scheint, bereits  schon  im  9.  Jahrhundert  in  St.  Gallen  als 
Musikinstrument  benutzt  wurde.  Dieses  Instrument,  welches 
einen  scharfen,  durchdringenden  Ton  besafs,  wurde  mit  zwei 
Klöppeln  bearbeitet,  die  jedoch  im  Piano  mit  Filz  über- 
zogen wurden. 

Das  Hackbrett,  das  sich  nunmehr  ins  Gebirge  zurückge- 
zogen hat,  wo  es  noch  zu  Tanzgelegenheiten  benützt  wird, 
erwähnt  noch  Ottomar  Luscinus  1536  in  seiner  »Musurgia«, 
obwohl  in  wegwerfender  Weise.  Jedoch  sehen  wir  es  im 
15.  Jahrhundert  noch  häufig  auf  Zeichnungen  und  Bildern 
in  den  Händen  der  Menschen. 


*)  Siehe  diesen  Tondichter  in  der  neapohtanischen  Tonschule,  sowie 
die  von  H.  v.  Bülow  herausgegebenen  Klavierkompositionen  D.  Scarlattis. 
**)  Mit  Kuhnau  war  die  Klaviersonate  in  jetziger  Form  nahezu  fest- 
gestellt. Siehe  das  Werk  »Joh.  Kuhnaus  neue  Klavierübung  anderer  Teil, 
das  ist:  Sieben  Partten  (Partiten  oder  Suiten)  aus  dem  Re,  Mi,  Fa  oder 
Tertia  minore  eines  jedweden  Toni  benebst  einer  Sonata  aus  dem  B,  denen 
Liebhaber  zu  gar  besonderem  Vergnügen  aufgesetzt<.    Leipzig  1695. 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik.  115 

Im  Verlaufe  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  entstand  das 
Clavichord  (seine  Erfindung  wird  Guido  von  Arezzo  zu- 
geschrieben); diese  erste  Klavierform  hielt  sich  bis  in  die 
Zeit  des  18.  Jahrhunderts.  Es  gab  portative  und  positive 
(tragbare  und  auf  Füfse  gestellte)  Clavichorde.  Die  ältesten 
Clavichorde  bilden  einen  rechteckigen  Kasten  ohne  Füfse. 
Der  Mechanismus  ist  der  denkbar  einfachste.     Die  Tasten- 


No.  20.    Hackbrett. 

hebel  ruhen  in  der  Mitte  auf  einem  Stifte  und  schlagen  im 
hinteren  Ende  mit  einer  Messingzunge  an  die  darüber  ge- 
spannten Metallsaiten  (wir  sehen  also,  dafs  beim  Clavichordum 
die  Klöppel  des  uralten  Hackbrettes  durch  Metallzungen  er- 
setzt wurden,  welche  am  Ende  des  Tastenhebels  angebracht 


No.  21.    Das  älteste  Klavier. 

waren  und  die  Saiten  in  Schwingung  versetzten) ;  die  Messing- 
zunge wurde  Tangente  genannt,  weil  sie  die  Saite  rührte. 
Aus  diesem  Grunde  finden  wir  das  Clavichord  auch  häufig 
als  »Tangentenklavier«  bezeichnet.  Die  ältesten  Clavichorde 
waren  »gebunden«,  d.  h.  mit  »Bünden«  (kleinen  Stegen) 
wie  sie  die  Laute  aufwies,  die  Guitarre  und  Zither  noch 
heute    aufweisen,    versehen,    wodurch    nämlich    zwei    oder 

8* 


116  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

drei  benachbarte  Töne  auf  einer  Saite  erzeugt  werden 
konnten.  Daher  kam  es,  dals  das  alte  Clavichord  viel 
mehr  Tasten  als  Saiten  besafs.  Die  bundfreien  Clavichorde, 
bei  denen  jede  Taste  ihre  Saite  hatte,  erfand  der  Orga- 
nist Daniel  Faber  in  Crailsheim  1725.  Sebastian  Virdung 
berichtet  in  seiner  »Musica  getutscht«  (Fasel  1511)  schon 
von  einer  Dämpfung  des  Fortklingens  der  Töne  beim  Clavi- 
chord. Dieselbe  bestand  nach  Virdungs  eigenen  Worten 
aus  »Zötlein  von  dem  Wullentuch,  die  in  die  Köre  der  saiten 
geflochten  seyndt,  das  nymt  den  saiten  das  kösseln  oder 
die  grobe  onfreuntliche  hallung  oder  thönung,  das  dieselben 
nit  länger  klingen  .  .  .«  Was  nun  den  Ton  des  Clavichords 
betrifft,  so  war  derselbe  nur  klein,  aber  er  gestattete  ein 
Singen  und  Schattierungen.  Der  Nürnberger  Hans  Heyden 
sagt  von  ihm:  Und  ob  wol  der  Text  mit  Worten  sich  nicht 
aussprechen  lest,  so  kan  doch  der  Instrumentist  sein  Sensum 
zu  erkennen  geben,  ob  traurige  oder  fröliche  Gedanken  in 
ihme  sind,  nachdem  er  das  Ciavier  frech  oder  lind  angreifft«. 
Noch  Philii^p  Emanuel  Bach  schätzte  das  Clavichord,  wie 
dies  folgender  Ausspruch  beweist:  »Spielt  man  beständig 
auf  dem  Flügel  (Kielflügel),  so  gewöhnt  man  sich  an,  in 
einer  Farbe  zu  spielen,  und  der  unterschiedene  Anschlag, 
welchen  blofs  ein  guter  Clavichordspieler  auf  dem  Flügel 
herausbringen  kann,  bleibt  verborgen« .  Bekanntlich  bediente 
sich  Mozart  noch  eines  Clavichords,  denn  das  häufig  fälsch- 
lich als  Spinett  bezeichnete  Keiseklavier  Mozarts  war  ein 
Clavichord,  das  auch  ein  Lieblingsinstrument  J.  S.  Bachs 
war.  Dr.  Oskar  Fleischer  sagt  von  diesem  Instrumente  in 
dem  Kataloge  der  Berliner  königlichen  Instrumentensamm- 
lung: »Giebt  sich  das  Ohr,  von  den  massigen  Klängen 
moderner  Musikinstrumente  abstrahierend,  diesem  naiven 
Klange  hin,  so  wird  es  ihn  bald  sehr  reizvoll  finden.  Es 
ist  in  hervorragendem  Mafse  geeignet,  die  Aufmerksamkeit 
des  Hörers  aufs  äufserste  anzuspannen.  Während  der  volle 
Ton  unserer  Hammerklaviere  sich  durchaus  an  die  Sinne 
wendet,  kann  man  den  Klang  eines  guten  Clavichords  als 
einen  durchgeistigten  bezeichnen.« 

Über  den  Tonumfang  des  Clavichords  berichtet  uns  Seb. 
Virdung  (1511),  indem  er  sagt,  man  habe  zuvor  an  den 
Clavichorden  nur  die  Töne 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik.  117 

GAHcdefgabhcdeFgäbhcde 

gehabt,  also  die  Giiidonische  Tonleiter;  dann  aber  habe  man 
noch  mehrere  Schlüssel  (claves  [Tasten])  für  die  chromati- 
schen Töne  hinzugefügt,  so  dafs  man  deren  38,  nämhch: 

F   G   Gis   A   B   H   c   eis   d   dis   e   f   fis   g   gis   a   b   h 
ccisddiseffisggisäbhccisdliseTfisg 
anwendete. 

Praetorius  (1629)  berichtet  uns  von  Clavichorden  mit 
einem  Tonumfange  von  vier  Oktaven  und  zwar  von  C  bis  c 
in  chromatischer  Tonfolge;  auch  berichtet  er  von  einem 
enharmonischen  Clavichorde,  welches  er  in  Prag  sah;  das- 
selbe gab  z.  B.  die  Töne  eis  und  des,  dis  und  es,  jeden  ge- 
sondert an  und  hatte  77  Tasten. 

Eine  andere  Variante  des  Klaviers  in  alter  Zeit  war  das 
Spinett,  auch  SiDinettino  genannt,  das  entweder  von  dem 
angeblichen  Erfinder  Spinetti  oder  von  >spina<^  (Dorn) 
seinen  Namen  hat.  Auf  dem  Ende  des  Tastenhebels  sitzt 
beim  Spinett  lose  eine  Docke,  ein  flaches  Holzstäbchen,  aus 
welchem  seithch  ein  spitzer,  elastischer  Dorn  (die  spina) 
hervorsteht.  Beim  Anschlag  der  Taste  springt  die  Docke 
in  gerader  Richtung  in  die  Höhe  und  der  Dorn,  gewöhnlich 
aus  einem  Kiele  von  einer  Rabenfeder  geschnitten,  pizzikiert 
die  Saite.  Der  Klang  des  Spinettes  war  stärker,  wie  der 
des  Clavichordes,  aber  schwirrend  und  summend. 

Ein  Fortschritt  über  das  Spinett  erfolgte  durch  das  Clavi- 
cymbalum  (französisch:  Clavecin,  italienisch:  Cembalo,  eng- 
lisch: Harpsichord)  auch  Claviciterium  genannt,  bei  denen 
statt  der  Metallzungen  Federkiele  (meist  waren  es  Raben- 
kiele am  Tastenhebel)  die  Saiten  erkhngen  machten.  Das 
Claviciterium  hatte  statt  metallener  Saiten  Darmsaiten.  Beim 
Clavicymbalo  sind  die  Saiten  in  der  Richtung  der  Tasten 
gespannt  und  es  ist  daher,  nach  Art  der  modernen  Flügel, 
die  Klaviatur  an  der  Schmalseite  des  Kastens,  während  sie 
sich  beim  Clavichord  an  der  Längsseite  desselben  befand. 
Virginale,  ein  besonderer  Ausdruck  für  eine  Art  Clavichord 
und  Harpsichord,  waren  vornehmlich  in  England  gebräuch- 
lich;   war  das  Virginal  ein  Portativ,    so  dafs  man   es  zum 


118  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Gebrauche  beliebig  auf  eiueu  Tisch  stellen  konnte,  so  hatte 
das  Harpsichord  bereits  Gestell  und  Füfse. 

Alle  diese  alten  Klaviersysteme  verdrängte  das  sogenannte 
Hammerklavier,  als  dessen  Erfinder  Bartolo  Cristofori 
(in  Florenz  um  1720  lebend)  genannt  wird.  Übrigens  streiten 
sich  die  drei  Nationen,  Italien,  Frankreich  und  Deutschland, 
um  die  Ehre  der  Erfindung  des  Hammermechanismus  am 
Klaviere.  In  Italien  war  es  Bartolo  Cristofori,  in  Frank- 
reich Mharius  um  1716  in  Paris,  und  in  Deutschland  Christoph 
Gottlieb  Schrötter  um  1717  in  Nordhausen.  Grofsen  Teil  an 
der  Vervollkommnung  und  Verbreitung  der  Hammermechanik 
am  Klavier  hatte  der  berühmte  Gottfried  Silbermann.  Es 
ist  bekannt,  dafs  bereits  Domenico  Scarlatti  für  das  Hammer- 
klavier schrieb,  das  sehr  bald  den  Namen  Pianoforte  d^ian' 
e  forte)  erhielt,  weil  man  durch  den  Hammeranschlag  nach 
Belieben  schwach  (piano)  und  stark  (forte)  spielen  konnte. 
Wir  erblicken  nun  anfangs  den  Hammermechanismus  noch 
recht  primitiv:  nackte,  noch  nicht  belederte  Holzhämmer 
ohne  sogenannte  Auslösung,  d.  h.  der  Hammer  fuhr  nur 
vermöge  seiner  Elastizität  nach  dem  Anschlage  in  seine 
Ruhelage  zurück.  Das  Klavier  wies  fünf  Oktaven  auf  und 
als  Dämpfung  diente  ein  Lederstreifen,  der  durch  einen 
Registerzug  unter  die  Saiten  geführt  wurde.  Den  Hammer- 
mechanismus mit  Auslösung,  d.  h.  jener  Mechanismus,  der 
den  Hammer  befähigte,  indem  er  kaum  die  Saite  berührt 
hatte,  »ausgelöst«  zu  werden,  so  dafs  er  sofort  in  seine 
Ruhelage  zurückkehrte,  wandte  wohl  als  erster  der  Augs- 
burger Stein  an.  Dieser  Mechanismus  war  der  Vorläufer 
der  sogenannten  Wiener  Mechanik.  Bei  der  Steinschen 
Mechanik  war  der  Hammer  nach  vorne,  den  Tasten  zu- 
gekehrt, im  Gegensatz  zur  späteren  englischen  Mechanik, 
welche  den  Hammer  vorne  hebt,  so  dafs  er  hinten,  von  der 
Taste  abgewendet,  die  Saite  trifft.  Mozart  schreibt  in  seinem 
an  den  Vater  gerichteten  Briefe  über  die  Stein -Klaviere: 
»Seine  Instrumente  haben  besonders  das  vor  anderen  eigen, 
dafs  sie  mit  Auslösung  gemacht  sind,  da  giebt  sich  der 
Hundertste  nicht  damit  ab;  aber  ohne  Auslösung  ist  es 
halt  nicht  möglich,  dafs  ein  Pianoforte  nicht  schebere  oder 
nachklinge.    Seine  Hämmerl,  wenn  man  die  Claves  anspielt. 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik.  119 

fallen  in  dem  Augenblick,  da  sie  an  die  Saiten  hinaiif- 
springen,  wieder  herab  .  .  .« 

Der  erste  Klaviermacher,  der  die  Hammermechanik  be- 
sonders i^raktisch  verwertete,  war  Gottfried  Silbermann,  in 
Freiberg  in  Sachsen  um  1721  lebend,  und  von  dem  Preufsen- 
könige  Friedrich  dem  Grofsen  durch  Geld  unterstützt.  (Nun 
nahmen  sich  Frankreich  und  England  ganz  besonders  der 
Verbesserung  des  Pianoforte  an,  und  was  man  heutzutage 
englische  Mechanik  nennt,  hat  seinen  Ursprung  in  den 
ersten  Silbermannschen  Instrumenten.  Die  Deutschen  ver- 
lielsen  nämlich  nach  dem  Tode  Silbermanns  die  von  ihm 
angewandte  Mechanik  und  erfanden  die  sogenannte  deutsche 
Mechanik,  während  die  Silbermannsche  durch  einen  seiner 
Schüler,  namens  Zumpe,  nach  England  gelangte  und  sich 
dort  als  englische  Mechanik  ausbildete.  Der  Unterschied 
beruht  hauptsächlich  in  der  Art  der  Befestigung  des 
Hammers:  bei  der  deutschen  Mechanik  ruht  er  auf  der 
verlängerten  Taste  selbst,  bei  der  englischen  dagegen  hat 
er  seinen  Sitz  auf  einer  besonderen  Leiste.) 

Eine  bedeutende  Entwicklungsphase  für  die  Instrumental- 
musik, ganz  besonders  für  die  Streichinstrumente,  bildet 
die  Zeit  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.  Wir  sehen  im 
16.  Jahrhundert  die  Glieder  der  heute  gebräuchlichen 
Streichinstrumentengruppe  auf  Grundlage  der  menschlichen 
Stimmen  (Sopran,  Alt,  Tenor  und  Bafs)  erwachsen  und  Ton- 
stücke für  dieselben  entstehen,  die  den  Namen  » Sonata <^ 
tragen,  aufgefafst  als  ein  der  »Canzona«  oder  »Cantata« 
entgegengesetztes  Musikstück,  so  genannt,  weil  sie  nicht 
gesungen,  sondern  von  Instrumenten  ausgeführt  wurden. 
Die  Entwickler  der  Sonate  als  Kunstform  im  Gegensatz 
zur  anfänglichen  »Sonate^,  als  ein  dem  Gesangstücke  ent- 
gegengesetztes Instrumentalstück,  waren  vornehmlich  die 
grofsen  Geiger  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  auf  dem  Boden 
von  Italien.  Vor  allem  entwickelte  sich  die  Ausdrucksfähig- 
keit der  kleinen  Viola  (Violino  oder  Soprangeige)  auf  Grund- 
lage ihres  Baues  und  ihrer  Konstruktion,  während  das 
Klavier  eigentlich  erst  im  19.  Jahrhundert  seine  volle  Aus- 
drucksfähigkeit erlangte.  (Die  Tonkunst,  welche  im  Mittel- 
alter vorzugsweise  der  Kirche  dienstbar  war,  gipfelte  in  der 
Vokalmusik,  jedoch  nach  und  nach  bildete  sich  der  Gebrauch 


120  Die  MusikentwicMung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

heraus,  Chöre  durch  Streichinstrumente,  welche  man  den 
einzelnen  Stimmen  beigab,  zu  unterstützen,  d.  h.  die  ein- 
zelnen Chorstimmen  zu  verstärken.  Aus  diesem  Anlasse 
wurden  nach  Malsgabe  der  Tonlage  einer  jeden  Stimme 
Streichinstrumente  konstruiert,  von  welchen  jedes  im  Unisono 
[Einklang]  mit  der  Stimme  ging,  welcher  es  beigegeben  war. 
Martin  Agricola  berichtet  in  seiner  Schrift  »Musica  instru- 
mentalis«  [Wittenberg  1528]  über  Bogeninstrumente  und 
teilt  dieselben  ein  in  Diskant-,  Alt-,  Tenor-  und  Balsgeigen. 
Diese  Einteilung  weist  deutlich  darauf  hin,  wie  anfangs  die 
Instrumentalmusik  der  Nachhall  der  Vokalmusik  war.  Durch 
die  Worte  >buone  da  cantare  e  suonare<s  welche  sich  häufig 
auf  den  Titeln  der  damaligen  Musikstücke  befinden,  wurde 
deutlich  ausgedrückt,  dafs  die  Kanzonen  sowohl  gesungen, 
als  auch  von  Instrumenten  gespielt  werden  konnten.  Von 
hier  an  ist  nun  wahrzunehmen,  vor  allem  durch  das  Auf- 
kommen der  italienischen  Oper,  wie  sich  die  Instrumental- 
musik allmählich  aus  den  Banden  der  Vokalmusik  befreit 
zu  immer  grölser  werdender  Selbständigkeit.) 

Welcher  Allgemeinname  war  für  die  Streichinstrumente  ge- 
bräuchlich geworden? 

Der  Name  »Viola«.  (Aus  Viola  entstand  das  Diminutivum 
»Violino«  für  die  kleine  Geige,  ebenfalls  das  Augmentativum 
»Violono«^  für  die  Bafsgeige,  sowie  endlich  das  von  Violono 
abgeleitete  DiminutiA^um  » Violoncello <^  für  kleine  Bafsgeige. 

In  welche  zwei  Hauptgattungen  zerfielen  im  16.  und  17.  Jahr- 
hundert, je  nach  Gröfse  und  Art,  die  Violen  oder  Geigen- 
instrumente? 

In  Armgeigen  (Viola  da  braccio)  und  in  Kniegeigen  (Viola 
da  gamba).  Eine  bestimmte  Form  der  Viola  oder  Geige 
war  jedoch  in  dieser  Zeit  noch  nicht  feststehend;  die  Phan- 
tasie der  Geigenbauer  erzeugte  die  wunderlichsten  Formen. 
In  Virdungs  »Musica  getutscht«,  Basel  1511,  wird  eine  drei- 
saitige Geige  erwähnt;  dieselbe  hat  noch  mandolinartige 
Form  (die  Form  des  orientalischen  Rebek)  und  halbmond- 
förmige Schallöcher.  Sodann  spricht  er  von  »Welschen 
Geigen«  mit  vier  Saiten  bezogen,  welche  er  in  Diskant-,  Alt-, 
Tenor-  und  Bafsgeigen  einteilt. 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 


121 


Wann  kam  bei  der  Geige  die  gewölbte  Resonanzdecke,  sowie 
der  gewölbte  Steg  auf,  so  dals  es  möglich  war,  jede  Saite 
einzeln  zu  behandeln? 

Jm  Anfange  des  16.  Jahrhunderts.  (Überhaupt  war  es  unter 
all  den  vielen  Violen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  die  kleine 
Viola  [Violine  oder  Soprangeige]  die  sich  eine  ganz  be- 
sondere Stellung  errang.  In  dem  Werke  »Scintille  di  musica« 
von  Giov.  M.  Lafranco  [Brescia  1533]  erscheint  wohl  zum 
erstenmale  der  Ausdruck  »Violino«,  und  dieses  Instrument 


No.  22. 
Diskantgeige 


No.  24. 
Tenoi'geige. 


No.  25. 
BaTsgeige. 


ist  es,  das  von  der  menschlichen  Sopranstimme,  die  an  der 
Hand  des  Kunstgesanges  im  Madrigale  und  in  der  Oper 
eine  aufserordentliche  Fertigkeit  entfaltete,  lernte  und  um- 
gekehrt die  Sopranstimme  wieder  von  der  Geige.) 

Wodurch  wurde  die  Herrschaft  und  das  Zu-Ansehen-kommen 

der  »Violine«  bedingt? 

Durch  den  sympathischen  Ton  derselben,  der  wiederum 
seinen  Grund  in  ihren  Konstruktionsverhältnissen  hatte. 
(Während  die  meisten  der  damaligen  Violen  einen  spitigen, 
nasalen  Klangcharakter  hatten,  zeigte  die  kleine  Viola,  die 
Violine,  eine  freie  und  offene  Kundgebung  des  Tones,  gleich 
der  schönen  menschlichen  Stimme.) 


122  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Wie  heilst  derjenige  Geigenbauer,  welcher  der  Viohne  die  noch 
heute  gebräucliliche  Konstruktion  und  Form  gab? 

Gaspard  Duiff  obruggar,  geb.  in  Wälsclitirol  im  Jahre  1467, 
gest.  1530  in  Lyon.  Duiffobruggar,  der  eigentlich  Tieffen- 
brucker  hiels  und  seinen  Namen  nur  italienisierte,  lebte  als 
berühmter  Lauten-  und  Geigenmacher  in  Bologna,  von  wo 
er  durch  König  Franz  I.  im  Jahre  1510  mit  Leonardo  da 
Vinci  und  Andrea  del  Sarto  an  dessen  Hof  nach  Paris  be- 
rufen wurde.  Aus  diesem  Jahre  datiert  auch  die  älteste 
seiner  Geigen.  (Siehe  Friedr.  Niederheitmann  -Cremona, 
eine  Charakteristik  des  italienischen  Geigenbaues«  [Leipzig 
1877],  an  welcher  die  halbmondförmigen  Schallöcher  in 
/-Löcher  umgestaltet  sind.  Die  Geige  ist  mit  vier  Saiten 
bezogen,  die  Resonanzdecke  gewölbt,  ebenso  der  Steg,  so 
dafs  jede  Saite  einzeln  behandelt  werden  konnte.  In  den 
Boden  dieser  Geige  ist  die  französische  Königskrone  ein- 
gelegt, unter  der  sich  zwei  verschlungene  F  befinden. 
[Frangois  de  France].  Man  hat  allen  Grund  anzunehmen, 
dals  die  beiden  /-Löcher  der  Geige,  welche  zu  beiden  Seiten 
des  Steges  in  die  Eesonanzdecke  eingeschnitten  sind,  eben- 
falls in  der  Courtoisie  flu'  König  Franz  von  Frankreich 
seitens  Duiffobruggars  ihren  Ursprung  haben.) 

Wie   hiefsen   die   berühmtesten   Meister   des  Geigenbaues  auf 
dem  Boden  von  Italien? 

Gaspard  da  Salo,  zweite  Hälfte  des  16.  ,Jahrhunderts. 

Giovanni  Paolo  Maggini  aus  Brescia,  1590 — 1640, 

Andreas  Amati,  sowie  dessen  Söhne  Hieronymus  Amati, 
gest.  1638,  und  Antonio  Amati,  geb.  1550,  welche  in  Cre- 
mona  arbeiteten. 

Antonio  Stradivari  (1644—1737),  war  Schüler  des  Antonio 
Amati  und  lebte  in  Cremona. 

Giuseppe  Guarnerio,  1683—1745,  war  Brudersohn  von 
Andrea  Guarnerio,  welcher  Schüler  von  Nicolai  Amati 
war  und  von  1650—1695  schuf;  ferner  ist  noch  als  hervor- 
ragender Meister  Pietro  Guarnerio  zu  nennen. 

Francesco  Ruggeri  aus  Cremona,  Joannes  Baptista 
Guadagnini  aus  Mailand  und  Jannario  Gagliano,  der 


6.   Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik. 


123 


sich  Alumnus  Antonii   Stradivarii  nannte,  A'ervollständigen 
die   Keihe    der   berühmtesten    altitahenischen   Geigenbauer. 

Der  gröfste  Meister  des  altitahenischen  Geigenbaues,  sowie 
wohl  überhaupt  des  Geigenbaues  ist  unstreitig  Antonio 
Stradivari.  (Deut- 
scher Abkunft,  aber  in 
Italien  geboren,  sind 
als  berühmte  Meister 
des  Geigenbaues  zu 
nennen:  Platner  und 
Techler,  beide  Schü- 
ler von  Stradivari.) 
Man  unterscheidet  drei 
Epochen  seines  Schaf- 
fens. Die  Geigen  der 
ersten  Ejjoche  sind 
denen  der  Amatis  noch 
sehr  ähnlich.  (Die  Vio- 
line der  Amatis  sind 
kleineren  Formates. 
Die  Instrumente  von 
Andrea,  Antonio  und 
Hieronymus  Amati  be- 
sitzen einen  kleinen 
und  weichen  Ton.  Die 
Decke  dieser  Geigen 
ist  in  der  Mitte  sehr 
hoch  gewölbt.  Die  Gei- 
gen der  Brüder  Anto- 
nio und  Hieronymus 
Amati  sind  ebenfalls 
hoch  gewölbt  und  ha- 
ben an  den  Rändern 
eine  förmliche  Hohl- 
kehle. Ihnen  gleichen  die  Jakob  Stainerschen  Violinen.  Als 
die  besten  Amati-Geigen  sind  .  die  von  Nicolai  Amati  be- 
kannt; ihr  Ton  ist  grölser  und  glänzender  als  der  der 
übrigen  Amati-Geigen.  Die  Instrumente  sind  an  dem  dick 
aufgetragenen,  goldig  glänzenden  Lack  und  an  einer  kleinen 


No.  26.    Geige  von  Stradivari. 


124  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Schnecke  kenntlich.)  Die  Geigen  der  zweiten  Epoche  haben 
schon  gröfseres  Format,  fhichgewölbtere  Decke  und  röthchen 
Lack.  Die  besten  Stradivari-Geigen  stammen  aber  aus  der 
dritten  Epoche;  sie  haben  eine  noch  flachere  Wölbung,  als 
seine  früheren  Geigen  aufweisen,  sowie  ein  noch  etwas 
gr()fseres  Format.  Die  Ausfiihrung  dieser  Geigen  ist  tadellos 
und  es  ist  in  ihnen  das  schönste,  was  die  Geigenbaukunst 
geliefert  hat,  geschaffen  worden.  Der  Ton  ist  grofs,  dabei 
edel  und  weich. 

Diese  Männer  und  ihre  Schüler  waren  es,  welche  in  der 
kleinen  Viola  —  der  Violine  —  ein  Streichinstrument  von 
so  ausgezeichneten  allgemeinen  Eigenschaften  schufen,  dafs 
es  in  Bezug  auf  Konstruktion  und  Tonkundgebung  vor- 
bildlich für  alle  übrigen  werden  mufste.  Kein  Wunder 
daher,  wenn  wir  von  nun  an  die  Violine  eine  solche  Herr- 
schaft im  Musikleben  ausüben  sehen. 

Welche  Gegend  Italiens  ist  es  vornehmlich,  und  wie  heifsen 
die  Städte  Italiens,  wo  die  Entwicklung  des  Geigenbaues,  des 
Geigenspieles  und  der  Geigensonate  stattfindet? 

Vorzugsweise  ist  es  der  Norden  Italiens,  die  Gegend  am 
Südabhango  der  Alpen,  und  besonderen  Anteil  an  dieser 
Entwicklung  der  klassischen  Instrumentalmusik  haben  die 
folgenden  Städte  Oberitaliens:  Bologna,  Venedig,  Cremona, 
Brescia,  Turin,  Mailand,  Bergamo,  Verona,  Treviso,  Mantua, 
Padua,  Pirano,  Pisa,  Lucca,  Livorno  und  Genua. 

In  welchen  Werken  treten  uns  die  Anfänge  der  Geigentechnik 

entgegen? 

In  den  Werken  von  Biagio  Marini  aus  Brescia,  gest.  1660 
in  Padua  und  von  Garlo  Farina,  geb.  1570  in  Mantua. 
(Von  Marini  erschien  1620  in  Venedig  ein  Solostück  für 
Violine,  betitelt  Pomanesca  per  Violino  e  Basso«,  von  Farina 
erschienen  vierstimmige  Instrumentalsätze  mit  einer  kon- 
zertierenden ersten  Violine,  unter  denen  ein  »(Capriccio  stra- 
vagante«  charakteristisch  für  die  Anfänge  der  Geigentechnik 
erscheint;  dasselbe  bildet  in  primitiver  Weise  ein  Beispiel 
von  Tonmalerei,  zu  welcher  die  Technik  der  Violine  das 
Mittel  bietet.  Das  Werk  ist  vom  Jahre  1627  datiert,  als 
Farina  in  kursächsischem  Dienst  stand  und  ergeht  sich  in 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik.  125 

Spielereien  auf  der  Violine,  wie  im  Nachahmen  des  Hiinde- 
gebelles,  des  Gackerns  der  Henne  und  anderer  Dinge.  Farina 
war  wohl  einer  der  ersten,  die  Doppelgriffe  auf  der  Geige 
anwendeten  und  Marini  einer  der  ersten,  die  Triller  und 
Vorschläge  für  die  Geige  schrieben.) 

Tarquinio  Merula  ist  erwähnenswert  als  derjenige,  der 
die  G-Saite  der  Violine  verwendet;  bei  ihm,  bei  Battista 
Fontana  aus  Brescia,  gest.  1630,  sowie  bei  Filippo  Vitali 
aus  Florenz,  wird  für  ein  Violinstück  der  Ausdruck  »Sonata<^ 
gebraucht,  der  seither  stets  mit  dem  Ausdruck  »Canzona« 
alterierte. 

Wann  verliert  sich  der  Ausdruck  »Kanzone«  für  ein  Instru- 
mentalstück, und  wann  wird  für  Instrumentalsätze,  speziell  für 
Geigensätze  der  Name  »Sonate«  gebräuchlich? 

Von  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  an. 

Welche  beiden  Arten  von  Sonaten  unterschied  man  anfangs? 
Die   »Sonata  da  Chiesa«  und  die   »Sonata  da  Camera«. 

Wodurch  unterschieden  sich  die   »Sonata  da  Chiesa^   und  die 
»Sonata  da  Camera«? 

Die  »»Sonata  da  Camera«  enthielt  meistens  Instrumental- 
sätze auf  Grundlage  bestimmter  Tanzformen  damaliger  Zeit, 
denen  sich  Präludien  und  Ariosos  anschlössen,  während  die 
»»Sonata  da  Chiesa«,  ihrem  Zwecke  in  der  Kirche  entsprechend, 
aus  ernsten,  kontrapunktierten  und  fugierten  Sätzen  bestand. 

Wer  tritt  uns  auf  dem  Boden  von  Venedig  unter  den  Ent- 
wicklern der  Instrumentalmusik  als  einer  der  ersten  entgegen? 

Giovanni  Legrenzi,  geb.  1625  in  Clusone  in  der  Nähe 
von  Bergamo,  gest.  1690  als  Kapellmeister  an  S.  Marco  in 
Venedig.  (Ed.  Naumann  sagt  von  Legrenzi:  »Er  erhob  die 
>Sonate<  zu  einem  auf  das  Klassische  gerichteten  Tonsatze, 
und  eroberte  ihr  jenen  vornehmen  Platz,  auf  welchem  sie 
sich  noch  bis  zum  heutigen  Tage  behaui)tet,  da  ja  die  Sin- 
fonie, die  Ouvertüre,  das  klassische  Konzertstück  und  die 
gesamte  Kammermusik  nur  verschiedene  Gattungen  der 
Sonate  sind.) 


126  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Wie   heilsen   die   übrigen    Geiger   und   Sonatisten  Italiens  im 
17.  und  18.  Jahrhundert? 

Giovanni  Battista  Vitali,  geb.  1644  in  Cremona,  gest. 
1692,  war  Ausbildner  der  weltlichen  Sonate  im  edlen  Stile. 

Giovanni  Battista  Bassani,  1657 — 1716.  Bassani,  der 
Lehrer  des  grolsen  Corelli,  prägt  der  weltlichen  Sonate,  wie 
G.  B.  Vitali  durch  Anlehnung  derselben  an  die  Sonata  da 
Chiesa,  den  Stempel  des  Erhabenen  auf;  in  seinen  Sonaten 
zeigen  sich  bereits  Spuren  motivischer  Durcharbeitung.  Die 
Reihenfolge  der  Sätze  einer  Sonate  bilden  z.  B.  Balletto, 
Corrente,  Giga  und  Sarabanda. 

Giuseppe  Torelli,  geb.  1650  in  Verona,  gest.  1708.  Torelli 
schrieb  die  ersten  im  Sonatenstil  komponierten  Konzerte 
für  Violine,  und  ist  durch  die  Anwendung  von  Doppelgriffen 
und  Arpeggien  bemerkenswert. 

Tomaso  Antonio  Vitali,  geb.  1650  in  Bologna,  gest.  im 
ersten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts.  Seiner  bekannten 
Ciaconna  fiu"  die  Violine  liegt  die  Form  der  Variation  zu 
Grunde;  dieselbe  ist  sicherlich  das  Vorbild  zum  Bachschen 
Violinsatze  gleichen  Namens  geworden. 

Antonio  Veracini,  geb.  in  Florenz.  Bei  ihm  wie  bei 
Torelli  verlieren  sich  die  Tänze  aus  der  »Sonata  da  camera« ; 
seine  Sonaten  bestehen  meist  aus  zwei  getragenen  und  zwei 
bewegten  Sätzen. 

Arcangelo  Corelli,  geb.  1653  in  Fusignano  bei  Bologna, 
gest.  in  Rom  1713.  Corelh  besuchte  1692  Paris  und  1680 
Deutschland,  wo  er  beim  Kurfürsten  von  Bayern  in  den 
Dienst  trat.  Corelli,  dessen  Lehrer  Bassani,  war  Begründer 
des  klassischen  Violinspieles  und  wirkte  vornehmlich  auf 
dem  Boden  von  Rom,  weshalb  die  von  ihm  ausgegangene 
Schule  auch  die  römische  genannt  wird.  Corelli,  der  ein- 
flufsreich  auf  Ph.  Em.  Bach  wirkte,  schrieb  »Concerti  grossi« 
für  7 — 9  Streichinstrumente,  sowie  60  Sonaten  für  Violine 
mit  Bafs.  Von  diesen  Sonaten  sind  zu  erwähnen:  »12  Suo- 
nate  a  violino  e  violone  o  cembalo  da  Arcangelo  Corelli  da 
Fusignano,  Op.  5«,  Roma  1700;  »12  Suonate  a  tre  due  violini 
e  violone  col  basso  per  l'organo«,  Bologna  1690. 


6.  Die  Entwicklung  der  absoluten  Instrumentalmusik.  127 

Wer   war    der  Pionier   für    das   Violoncellospiel,   als   welcher 
Corelli  für  die  Geige  in  Italien  zu  gelten  hat? 
Francisello,  gest.  1750  in  Neapel. 

Wie  heifsen  die  mittel-  und  unmittelbaren  Schüler  Corellis? 
Giovanni  Battista  Somis  aus  Piemont,  1673 — 1763,  war 
Begründer  einer  Geigenschule  in  Turin. 
Francesco  Geminiani,  geb.  in  Lucca  1680,  gest.  1762. 
Geminiani  war  Konzertmeister  in  Neapel,  ging  1714  nach 
London,  1748  nach  Paris,  woselbst  er  viele  seiner  Werke 
veröffentlichte,  1755  wandte  sich  Geminiani  nach  London, 
und  starb  1763  in  Dublin;  von  ihm  ist  eine  Anleitung  zum 
Violinspiele  geschrieben. 

Pietro  Locatelli,  geb.  1693  in  Bergamo,  gest.  1764.  Von 
ihm  ist  aufser  zahlreichen  Violinsonaten  das  Werk  »L'arte 
del  violino«  verfafst. 

Giuseppe  Tartini,  geb.  1692  in  Istrien,  gest.  1770  in  Padua, 
Wie  Corelli  im  17.  Jahrhundert,  so  leuchtet  Tartini  im  18. 
Jahrhundert  als  Geiger  und  Komponist  für  sein  Instrument. 
Seine  musikalische  Ausbildung  erhielt  Tartini  in  einem 
Kloster  von  Assisi,  während  als  Violinspieler  Antonio  Vera- 
cini  auf  ihn  einwirkte,  den  er  zum  erstenmale  in  Venedig 
hörte.  Tartini  führte  bis  zum  Jahre  1728,  als  er  in  Padua 
eine  Geigenschule  gründete,  ein  bewegtes  Leben,  und  schuf 
gegen  200  Werke,  Variationen,  Konzerte,  Sonaten  für  Violine, 
sowie  die  Unterrichtswerke  »Schule  der  Bogenführung«  und 
»Schule  der  Verzierungen«.  Tartinis  Bedeutung  auf  musik- 
wissenschaftlichem Gebiete  liegt  besonders  noch  in  seiner 
Entdeckung  der  Theorie  der  Kombinationstöne,  wovon  seine 
Werke  »Trattato  di  musica«  1754,  sowie  »De'  principii  dell' 
armonia  musicale  contenuta  nel  diatonica  genere«,  PadoA^a 
1767,  Zeugnis  ablegen.  Von  seinen  Schülern  sind  hervor- 
zuheben: Die  Italiener  Pugnani,  geb.  1727  in  Turin,  gest. 
daselbst  1803,  Bini,  Nardini,  Ferrari  und  Meneghini; 
die  Deutschen  Joh.  Gottlieb  Graun  und  Joh.  Gottlieb 
Naumann,  sowie  die  Franzosen  Pagin  und  Lahousaye. 

Der  Lieblingsschüler  Tartinis  war  Pietro  Nardini,  geb. 
1725  in  Livorno,  gest.  1793  in  Florenz.  Bei  ihm  und  Tartini 
macht  sich,  wie  bei  Dominico  Scarlatti,  in  den  Sonatensätzen 


128  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

ein  dem  Hauptthema  gegenübergestelltes  zweites  Thema 
bemerkbar.  Von  Nardini  ist  auch  eine  schöne  Sonate  für 
Altviola  zu  erwähnen. 

Giovanni  Battista  Viotti,  geb.  1753  in  Fontanette,  war 
Schüler  von  Pugnani,  und  starb  1824  in  London.  Muster- 
gültig sind  Viottis  Konzerte  für  Violine,  sowie  seine  Kom- 
positionen für  zwei  Violinen.  Ein  bedeutender  Schüler 
Viottis  war  der  Franzose  Baillot,  der  im  Vereine  mit  Rode 
und  Kreutzer  auf  dem  Boden  von  Paris  wirkte.  Viotti  ist 
nicht  nur  einer  der  bedeutendsten  Geiger  Italiens  gewesen, 
sondern  auch  der  Begründer  und  das  Haupt  jener  grofsen 
Geigerschule,  aus  der  Künstler  wie  Pierre  Baillot,  Ro- 
dolf  Kreutzer,  Wilhelm  Pixis,  Pierre  Rode  und  Phi- 
lippe Lafont  hervorgegangen  sind.  Die  Geiger  de  Beriot 
und  Vieuxtemps  sind  ebenfalls  noch  auf  Viotti  zurückzu- 
führen. 

Wie  heifsen  aufser  den  genannten  noch  einige  Italiener,  welche 
sich  auf  dem  Boden  von  Italien,  sowie  durch  ihren  Einflufs 
auf  Frankreich,  England  und  Deutschland  um  die  Ausbil- 
dung des  Violinspieles,  sowie  des  Sonatenstiles  verdient  ge- 
macht haben? 

Der  Florentiner  Valentini,  um  1695;  Lolli,  geb.  in  Ber- 
gamo 1730,  gest.  1802  in  Neapel;  Mestrino,  geb.  1748  in 
Neapel,  gest.  1790  in  Paris;  Brunnetti  aus  Pisa,  1753—1807; 
Polledro,  geb.  1776  bei  Turin;  der  Bologneser  Campag- 
noli,  1751—1827;  Giov.  Samartini,  der  zwischen  1704  und 
1774  in  Mailand  lebte,  Luigi  Boche rini,  geb.  1743  in  Lucca, 
gest.  1806  in  Madrid,  sowie  Alessandro  Rolla,  geb.  1757 
in  Pavia,  gest.  1841  in  Mailand,  war  berühmter  Violin-  und 
Violavirtuose  seiner  Zeit;  von  1782  an  Kammervirtuose  des 
Herzogs  von  Parma  und  von  1802  an  Orchesterdirigent  des 
Scalatheaters  in  Mailand,  wo  er  aufserdem  noch  als  Solist 
in  der  Kapelle  Eugen  Beauharnais'  und  als  Professor  am 
Konservatorium  wirkte.  Von  ihm  zahlreiche  Kompositionen 
für  Violine,  sowie  für  Viola  (Etüden,  Konzerte,  Duos,  Trios 
und  Quartette).  Rolla  war  kurze  Zeit  Paganinis  Lehrer 
im  Violinspiele. 


^ 


7.   Die  Weltherrschaft  der  itahenischen  Oper,  sowie 

der  itahenischen  Musik  überhaupt. 
Gesangs-  und  Instriimentalvirtuosentiim  bis  ins  19.  Jahrhundert. 


Mit  der  Oper,  als  deren  Entstehungsorte  Florenz  (Opera 
seria)  und  Neapel  (Opera  buffa)  anzusehen  sind,  sowie  mit 
dem  Virtuosentume  im  Gesänge,  das  sich  auf  die  Instrumental- 
musik übertrug,  trat  die  italienische  Musik  ihren  Triumphzug 
durch  die  Welt  an.  Besonders  war  es  die  komische  Oper,  die 
Opera  buffa  der  Italiener,  die  im  18.  Jalirhundert  mit  Sturm- 
schritten die  civihsierte  Welt  eroberte.  Dies  war  auch  der 
Grund,  weshalb  im  18.  Jahrhundert  die  sich  in  den  strengen 
Formen  der  Kammermusilv  (musica  di  camera)  bewegenden 
Tonsetzer  nicht  in  dem  Mafse  zur  Geltung  kamen  als  die 
Opernkomponisten  und  die  durch  ihre  Kehlfertiglveit  glänzenden 
Gesangsvirtuosen,  weil  ihre  Musilv  nur  einem  kleineren  Kreise 
zugänglich  war,  während  die  Oper  und  das  Virtuosentum  alle 
Kreise  interessierte. 

Wer   ist   als    eigentlicher   Begründer   der   Opera   buffa  anzu- 
sehen? 

Nicolo  Logroscino  (1700 — 1763),  in  Neapel  geboren,  starb 
er  daselbst,  nachdem  er  von  1747  in  Palermo  als  Lehrer 
am  Conservatorio  dei  figliuoli  dispersi  gewirkt  hatte.  Bis 
zum  Auftreten  Piccinis  (1747)  glänzte  er  ausschlielslich  als 
Stern  am  Himmel  der  italienischen  Oper.  Von  ihm:  »II 
governatore«,  »II  vechio  marito«,  »Tanto  bene,  tanto  male«, 
die  Opera  seria     Giunio  Bruto«  u.  a.  m. 

Welche  Komponisten  treten  neben  Logroscino  in  der  komischen 
Oper  mit  Erfolg  auf? 

Leonardo   Leo,   geb.  1694   in   San  Vito   degli  Schiavi   im 

Königreich  Neapel,  gest.  1746  in  Neapel. 

Ritter,  Encyklopädie  dei'  Musikgeschichte.  III.  9 


130  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien, 

Francesco  Conti,  geb.  1681  in  Florenz,  gest.  1732  in  Wien. 

Giov.  Batt.  Pergolese,  geb.  1710  in  Jesi  bei  Ancona,  gest. 
1736  in  Puzzuoli  bei  Neapel. 

Leonardo  Leo  studierte  am  Konservatorium  della  Pietä  de' 
Turchini  in  Neapel,  kam  nach  Rom,  wo  er  sich  unter  Pitoni 
mit  Kontrapunkt  beschäftigte  und  kehrte  nach  Neapel  zu- 
rück, wo  er  als  zweiter  Kapellmeister  am  Konservatorium 
della  Pietä  de'  Turchini,  1716  als  Organist  der  kgl.  Kapelle 
und  1717  als  Kapellmeister  der  Kirche  Santa  Maria  della 
Solitaria  wirkte.  1719  fand  die  Aufführung  der  ersten  Oper 
Leos  »Sofonisbe«  unter  grofsem  Erfolge  statt.  Als  letzte  Stel- 
lung bekleidete  Leo  die  Direktorstelle  des  Konservatoriums 
San  Onofrio  in  Neapel  und  verpflanzte  von  hier  aus,  durch 
seine  Schüler  Pergolese,  Jomelli,  Piccini,  Sacchini,  Hasse, 
Traetta,  Fornelli  u.  a.  m.,  die  Traditionen  der  neapolitanischen 
Tonschule  über  ganz  Europa.  Leo  war  der  bedeutendste 
Repräsentant  der  neapolitanischen  Tonschule  in  der  ersten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts,  und  war  nicht  nur  auf  allen 
Gebieten  der  Komposition  thätig,  sondern  war  auch  ein 
tüchtiger  Lehrer  und  Virtuose  auf  der  Orgel  und  dem 
Violoncello,  das  er  als  erster  der  Viola  di  gamba  gegen- 
über zu  einer  herrschenden  Stellung  verhalf.  Auch  war 
Leo  der  erste,  der  sich  in  der  komischen  Oper  der  Form 
des  Rondos  bediente.  Von  seinen  40  Opern  seien  aufser 
der  Erstlingsoper  »Sofonisbe«  erwähnt:  die  komischen 
Opern  »II  cioe«  (»Das  heilst«),  »Olimpiade«,  »La  clemenza 
di  Tito«,  »Demofonte«  mit  der  berühmten  Arie  »Misero 
Pargetto«,  welche  Piccini  als  das  bedeutendste  des  drama- 
tischen Ausdruckes  jener  Zeit  bezeichnete.  Ferner  »Andro- 
mache«,  »Alessandro  in  Persia«,  »Giro  riconosciuto«  und 
»Achille  in  Sciro«.  60  Intermezzi,  Serenaden,  Kantaten  und 
Pastorales  fiu^  die  Bühne,  die  Oratorien  »Santa  Elena  al 
calvario«  und  »La  morte  d' Abele«.  Für  die  Kirche  schrieb 
Leo  vier  Kantaten,  fünf  Messen,  eine  im  Palestrinastile,  die 
anderen  drei  mit  Orchester,  ein  Tedeum,  ein  Miserere  für 
acht  Stimmen  a-capella,  ein  vierstimmiges  mit  Orgel,  zwei 
Magnifikate,  Responsorien,  Motetten,  Lamentationen,  ein  Tan- 
tum ergo,  Allelujahs,  ein  Ave  Maria  für  Sopran,  Streich- 
instrumente und  Orgel.    Zwei  Bücher,  Orgelfugen,  Toccaten 


7.  Die  "Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  131 

für  Klavier  und  sechs  Violoncellokonzerte,  sechs  Bücher 
Solfeggien  für  alle  Stimmlagen,  zwei  Bücher  Partimenti 
(bezifferte  Bässe  zum  Aussetzen)  und  eine  Manuskript  ge- 
bliebene Musiklehre  (Principi  di  musica)  vervollständigen 
das  grofse  und  umfangreiche  Schaffen  Leos. 

Francesco  Conti,  der  1703  als  Theorbenspieler  in  die 
kaiserl.  Hofkapelle  kam,  wurde,  nachdem  er  Kammerkompo- 
nist und  Vice-Hofkapellmeister  geworden  war,  zum  Hofkapell- 
meister ernannt.  Von  ihm,  aufser  zahlreichen  Kantaten  und 
Motetten,  Opern  im  Stile  Alessandro  Scarlattis  »Clotilda« 
(1709  auch  in  London  aufgeführt),  »Alba  Cornelia«,  »I  Satiri 
in  Arcadia«,  »Ciro«,  »Tesseo  in  Creta«,  »Alessandro  in 
Sidone«,  »Penelope«,  »Mose  preservato«,  »Griselda«  u.  a.  m. 
Den  Haupterfolg  hatte  aber  seine  komische  Oper  »Don 
Chichotto«  (»Don  Quixote«),  die  1721  auch  in  Hamburg  ge- 
geben wurde  und  als  Muster  dieser  Art  in  jener  Zeit  galt. 
Von  den  weltlichen  Kantaten  befindet  sich  eine  unter  dem 
Titel  »L'Istro«  als  Manuskript  in  der  kgl.  Bibliothek  in 
Dresden. 

Giovanni  Battista  Pergolese  war  Schüler  des  Conser- 
vatorio  dei  poveri  di  Gesü  Christo  in  Neapel,  wo  ihn  Dan. 
Mattei  auf  der  Violine,  Durante  und  Feo  in  der  Komposition 
unterrichteten.  Er  schrieb  ernste  und  komische  Opern, 
Kirchen  werke,  sowie  eine  Reihe  Streichtrios,  letztere  auf 
Bestellung  des  Prinzen  von  Stegiiano.  Sein  erstes  erfolg- 
reiches Werk  war  das  geistliche  Drama  »S.  Guglielmo 
d'Aquilania«,  dem  eine  grofse  Messe  für  zwei  Chöre  und 
Orchester  folgte,  welche  er  im  Auftrage  der  Stadt  Neapel 
verfafst  hatte  und  die  als  Dankgottesdienst  nach  einem 
glücklich  überstandenen  Erdbeben  in  Neapel  in  der  Kirche 
S.  Maria  della  Stella  zum  erstenmale  zur  Aufführung  ge- 
langte. Aufserdem  sind  von  Pergolese  für  die  Kirche  noch 
ein  »Dixit<,  ein  »Laudate«,  ein  »Salve  regina«,  sowie  das 
berühmt  gewordene  »Stabat  mater«  geschrieben  worden, 
welches  letztere  Werk  kurz  vor  seinem  Tode  entstand. 
Aufser  der  Kantate  »Orfeo«  seien  noch  die  Opern  »II 
prigioniere  superbo«  und  »Lirietta  e  Tracolla«  erwähnt. 

Der  Ruf  Pergoleses  wurde  aber  so  recht  eigentlich  durch 
die  beiden  komischen  Opern   »La  serva  padrona«  und  »Lo 

9* 


132  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

fratre  innamorata«  begründet;  sie  waren  es,  die  ihren  Autor 
zu  einem  entscheidenden  Siege  verhalfen,  weil  in  ihnen 
die  Grazie  der  Melodie  waltete.  Ebenso  war  das  Orchester 
reicher  und  stimmungsvoller  als  bei  anderen  behandelt. 
Diese  Faktoren  waren  es,  welche  die  Oper  »La  serva 
padrona«  in  Paris  zu  einem  derartigen  Erfolge  verhalfen, 
dals  sie  anderen  Werken,  wie  z.  B.  Arbeiten  Lullys  und 
Kameaus  den  Eang  streitig  machte  und  einen  förmlichen 
Streit  auf  dem  Boden  von  Paris  zwischen  den  Vertretern 
der  italienischen  komischen  Oper  und  den  Vertretern  der 
nationalen  Oper  Frankreichs  hervorrief  —  den  Streit  der 
Buffonisten  und  Antibuffonisten. 

Welcher  Philosoph  ergriff  lebhaft  Partei  für  die  Angelegen- 
heit Pergoleses? 

Jean  Jacques  Rousseau.  Derselbe  stellte  sich  auf  die 
Seite  der  italienischen  Oper,  im  Gegensatz  zu  Rameau  und 
den  bereits  verstorbenen  LuUy. 

Welche    beiden   Parteien    standen    sich   hier   im   ästhetischen 
Prinzipienstreite  gegenüber? 

Melodisten  und  Rhetoriker,  oder  Melodie  und  Sprech- 
gesang. (Merkwürdig  ist  es  und  wohl  zu  beachten,  dafs 
Rousseau,  als  die  Bestrebungen  des  toskanischen  Musik- 
dramas in  Rameaus  Werken  anfingen,  maniriert  zu  werden, 
sich  den  lebensfrischen  italienischen  Buffonisten  zuwandte, 
und  als  Gluck  die  wiederum  zur  Schablone  gewordene 
italienische  Oper  regenerierte,  im  Streite  der  Gluckisten 
und  Piccinisten  schlief slich  auf  Seiten  Glucks  trat.) 

Woran   krankte   die    Opera    seria   oder   die    ernste  Oper   der 
Italiener  zur  Zeit  Pergoleses? 

Am  hohlen  Pathos;  es  war  derselbe  hohle  Pathos,  wie 
dieses  an  den  meisten  Bildwerken  der  Barockzeit  wahrzu- 
nehmen ist.  Die  Natürlichkeit  des  Ausdruckes  war  einem 
unnatürlichen,  verkünstelten  gewichen  und  dies  war  der 
Grund,  weshalb  die  urgesunde  Komik  und  die  aus  dem 
frischen  Quell  des  Lebens  geschöpften  Werke  Pergoleses  und 
seiner  Anhänger  sowie  Nachfolger  so  fascinierend  wirkten. 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  133 

Wer  ist  als  Nachfolger  Pergoleses   auf  dem   Gebiete  der  ko- 
mischen Oper  Italiens  zu  betrachten? 

Nicolo  Jomelli,  geboren  1714  in  Aversa  im  Neapoli- 
tanischen, gestorben  1774  in  Aversa.  Aufser  seinen  vierzig 
Kirchen  werken,  worunter  ein  »Laudate«,  ein  »Benedictus«, 
ein  »Requiem«,  ein  »Passionsoratorium«  und  ein  »Miserere« 
bemerkenswert  sind,  schrieb  Jomelli  eine  Reihe  ernster 
und  komischer  Opern,  deren  letztere  sich  ganz  besonderen 
Erfolges  erfreuten.  Ihre  Namen  sind:  »L'Amore  in 
maschera«,  »La  Critica«  und  »II  Matrimonio  per  Con- 
cor so«.  Seine  musikalischen  Studien  machte  Jomelli  am 
Konservatorium  in  Neapel  unter  Porta,  Mancini  und  Leo, 
und  trat  bald  als  Komponist  von  Opern  und  Kantaten  an 
die  Öffentlichkeit.  1740  wurde  er  nach  Rom  berufen,  wo 
er  mehrere  beifällig  aufgenommene  Opern  schrieb.  1741 
wandte  sich  Jomelli  nach  Bologna,  um  noch  beim  Padre 
Martini  sich  im  strengen  Kontrapunkte  zu  üben.  Abwechselnd 
lebte  er  sodann  in  Rom  und  Neapel,  indem  er  für  dortige 
Theater  Opern  verfafste.  In  Rom  wurde  er  auf  sein  acht- 
stimmiges »Laudate«  hin  zum  päpstlichen  Kapellmeister  er- 
nannt. 1754  erhielt  er  die  Berufung  als  Hofkapellmeister 
des  Herzogs  Karl  von  Württemberg  nach  Stuttgart,  wo  er 
gegen  20  Opern  und  mehrere  Kirchenwerke  schuf  und  die 
Hoftheaterkapelle  auf  eine  ungeahnte  Höhe  der  Vollendung 
brachte.  1768  kehrte  Jomelli  nach  Italien  zurück,  wo  er 
bis  zu  seinem  Tode  in  Abgeschiedenheit  lebte.  Von  seinen 
Opern  sind  aufser  den  schon  genannten  epochemachenden 
drei  komischen  Opern  die  grofsen  Opern  »Ifigenio«,  »Cajo 
Mario«,  »Eumene«,  »Merope«,  »Odoardo  ,  »Demetrio«  und 
»Artaserse«  zu  nennen.  Jomellis  Kirchenkompositionen 
sind  durch  all  zu  vieles  theatralisches  Koloraturenwerk  — 
ganz  im  Geiste  des  damals  herrschenden  Schnörkelstiles  — 
unkirchlich,  und  dem  edlen  Stile  des  Palestrinas  strikte 
entgegengesetzt. 

Was  ist  an  der  Person  Jomellis  psychologisch  interessant? 
Jomelli,  der  nur  sich  und  seine  Werke   zu  kennen  schien, 
war   eitel  und  sehr  reizbar  gegen  jede  Bemängelung  und 
Kritik  seiner  Schöpfungen.    Diese  Leidenschaft,  welche  aus 
Eifersucht    und    Neid    hervorzugehen    schien,    spitzte    sich 


134  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

bei  Jomelli  ins  Ungeheure  zu,  so  dafs  sogar  der  an  dem 
portugiesischen  Opernkomponisten  Tardellus  verübte  Mord 
ihm  zur  Last  gelegt  wurde.  (Leider  handelte  es  sich  in 
der  ganzen  Zeit  der  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper, 
die  es  mehr  auf  oberflächliche  Unterhaltung  absah  und 
das  Virtuosentum  zur  Gefolge  hatte  —  nicht  mehr  um  die 
Kunst  als  solche,  sondern  um  Kunstfertigkeiten  zur  Ver- 
herrlichung des  eigenen  Ichs.) 

Wie  Pergolese  der  italienischen  komischen  Oper  die 
Weltherrschaft  errang,  so  verschaffte  Jomelli  der  italie- 
nischen ernsten  oder  pathetischen  Oper  die  Anerken- 
nung vor  aller  Welt.  Das  Dreigestirn  am  Himmel  der  italie- 
nischen Oper  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  welches  die  All- 
macht der  italienischen  Oper  aufrecht  erhielt,  bestand  in 
Piccini,  Paisiello  und  Cimarosa.  Doch  bevor  diese  be- 
handelt werden,  seien  noch  folgende  Komponisten  der  italie- 
nischen Oper  erwähnt: 

Pietro  Guglielmi,  geb.  1727  in  Massa  Carrara,  gest.  1804 
in  Rom.  Guglielmi  studierte  am  Conservatorium  di  San 
Loretto  in  Neapel  unter  Durante  und  hatte  die  Freude, 
nachdem  er  in  Turin  seine  erste  Oper  mit  grofsem  Erfolge 
aufgeführt  hatte,  an  allen  Bühnen  Italiens  seine  Werke  ge- 
geben zu  sehen.  1762  wurde  er  als  kurfürstlicher  Kapell- 
meister nach  Dresden  berufen,  von  wo  er  nach  Braun- 
schweig und  sodann  nach  London  übersiedelte.  1777  kehrte 
er  nach  Neapel  zurück,  wo  Cimarosas  Stern  aufgegangen 
war.  1793  als  päpstlicher  Kapellmeister  nach  Rom  berufen, 
war  er  als  Dirigent  und  Komponist  in  dieser  Stellung  bis 
zu  seinem  Tode  thätig.  Guglielmi  war  lange  Zeit  hindurch 
der  Modekomponist  auf  dem  Gebiete  der  komischen  Oper, 
von  denen  zu  nennen  sind:  »I  capricci  d'una  Marchesa«, 
»I  due  Soldati«,  »II  carnavale  de  Venezia«,  »I  Viaggiatori 
ridicoli«,  »Due  Nozze  ed  un  Sol  Marito«,  »La  Quakera  spiri- 
tosa«,  »La  lanterna  di  Diogenio«,  »I  due  gemelli«,  »I  fra- 
telli«,   »La  bella  peccatrice«,   »La  pastorella  nobile«  u.  a.  m. 

Giuseppe  Sarti,  geb.  28. Dezember  1729  in  Faenza  (Kirchen- 
staat), gest.  28.  Juli  1802  in  Berlin  auf  der  Durchreise  von 
St.  Petersburg,  war  Schüler  von  Padre  Martini  in  Bologna. 
Seine  erste  Oper  »Pompeo  in  Armenia«,  die  er  mit  22  Jahren 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  135 

schrieb,  begründete  seinen  Ruf,  so  dafs  er  bereits  1756  als 
königlicher  Kapellmeister  in  Kopenhagen  wirkte.  Sarti 
schrieb  aulser  42  Opern  auch  Kirchenkompositionen,  von 
denen  drei  Messen  und  eine  Kyrie-Fuge  Berühmtheit  er- 
langten. Von  Kopenhagen  nach  Italien  zurückgekehrt, 
wandte  er  sich  1769  nach  London,  das  er  1770  wieder  ver- 
liels,  um  die  Direktorstelle  am  Konservatorium  Ospedaletto 
in  Venedig  anzutreten.  1779  sehen  wir  Sarti  als  Domkapell- 
meister in  Mailand,  welche  Stellung  er  1784  aufgab,  um  sich 
nach  einem  kurzen  Aufenthalte  in  Wien  nach  Rufsland  zu 
begeben,  wohin  er  in  St.  Petersburg  als  Hofmusikdirektor 
der  Kaiserin  Katharina  II.  berufen  wurde.  Durch  Intriguen 
in  Ungnade  gefallen,  trat  Sarti  in  den  Dienst  Potemkins, 
nach  dessem  Tode  er  bei  der  Kaiserin  wieder  zu  Gnaden 
kam.  1802  verliefs  Sarti  Rufsland,  um  in  Italien  Erholung 
zu  suchen,  wurde  aber  in  Berlin  vom  Tode  ereilt.  Von 
seinen  Opern  sind  hervorzuheben:  »Le  gelosie  villane«, 
»Le  nozze  di  Dorina«,  »Armida  e  Rinaldo«,  sowie  seine 
vom  gröfsten  Erfolge  gekrönte  komische  Oper:  »Fra  due 
litiganti«  (»Im  Trüben  ist  gut  fischen«).  Aus  dieser  Oper, 
welche  sehr  häufig  in  Wien  gegeben  wurde,  nahm  Mozart 
in  das  zweite  Finale  seines  »Don  Juan«  ein  Thema  auf. 
(»Come  un  agnello«.)  —  Auch  als  Mann  der  Wissenschaft 
hat  sich  Sarti  hervorgethan  und  zwar  durch  die  Erfindung 
eines  Apparates,  der  zur  Ermittelung  der  Schwingungs- 
zahlen der  Töne  diente.  Die  Petersburger  Akademie  der 
Wissenschaften  ernannte   Sarti  hierfür  zu  ihrem  Mitgliede. 

Neben  Sarti  ist  als  Komponist  auf  dem  Gebiete  der  komi- 
schen Oper  zu  nennen: 

Antonio  S alier i,  geb.  19.  August  1750  in  Legnano  im 
Venetianischen,  gest.  7.  Mai  1825  in  Wien,  erhielt  seine 
musikalische  Ausbildung  von  seinem  Bruder,  einem  Schüler 
Tartinis,  und  ging  nach  Venedig,  um  daselbst  seine  Studien 
weiter  fortzusetzen.  Hier  nahm  ihn  der  Wiener  Kammer- 
kapellmeister G.  Gafsmann  an  Kindes  Statt  an.  1766  fand 
Salieris  Übersiedelung  nach  Wien  statt,  wo  er  bis  zu  seinem 
Lebensende  rastlos  wirkte.  Die  gröfste  Popularität  erlangten 
Salieris  komische  Opern:  »Le  Donna  letterate«  (1770),  sowie 
die  im  Auftrage  Kaiser  Josefs  geschriebene  Oper  »Der  Rauch- 


136  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

fangk ehrer«.  Ferner  sind  von  seinen  40  Opern  zu  nennen: 
»II  Talismane«,  II  Ricco  d'un  giorno«,  »Falstaff«,  die  Ballett- 
oper »Don  Chisciotte«  (»Don  Quixote«),  die  im  Auftrage  der 
Pariser  Akademie  geschriebene  und  in  Paris  1784  mit  grolsem 
Erfolge  aufgeführte  Oper  »Les  Danaides«,  »Tarare«  und 
»Les  Horaces«.  Tarare  erlangte  in  der  späteren  Umarbeitung 
als  »Axus  und  Ormus«  europäischen  Ruf  und  vermochte  es 
1788  in  Wien  Mozarts  »Don  Juan«  in  den  Schatten  zu  stellen, 
ohne  auch  nur  annähernd  dessen  Tiefe  zu  besitzen.  Ferner 
seien  noch  erwähnt:  »Armida«,  »La  Semiramide«,  zwölf 
Oratorien,  Kantaten,  Ouvertüren,  Kammermusikwerke  und 
Balletts.  Salieri,  der  seine  musikalische  Laufbahn  in  Wien 
als  Mitglied  der  kaiserlichen  Kapelle  begann,  endete  dieselbe 
als  Hofkapellmeister,  welche  Ernennung  ihm  1789  zu  teil 
wurde.  Seine  erste  Oi3er  »Le  Donna  letterate«  trug  ihm 
die  Zuneigung  und  Freundschaft  Glucks  ein,  und  bekannt 
ist,  dafs  Beethoven  mit  Salieri  verkehrte  und  Schubert 
Schüler  des  italienischen  Maestro  war.  Zu  Mozart  stellte 
sich  Salieri  in  das  Verhältnis  eines  Rivalen. 

Wie  hiefs  das  glänzende  Dreigestirn  in  der  zweiten  Hälfte  des 

18.  Jahrhunderts  am  Opernhimmel  Italiens? 
Piccini,  Paisiello  und  Cimarosa. 

Nicolo  Piccini,  geb.  1728  in  Bari  bei  Neapel,  gest.  7.  Mai 
1800  in  Passy  bei  Paris,  war  Schüler  des  Konservatoriums 
San  Onofrio  in  Neapel,  als  welcher  er  bereits  mit  vierzehn 
Jahren  eintrat,  und  erlangte  eine  musikgeschichtliche  Be- 
deutung nicht  nur  als  Komponist  von  komischen  und  ernsten 
Opern,  sondern  durch  den  bekannten  Prinzipienstreit  mit 
Gluck,  der  als  Wettkampf  der  Gluckisten  und  Piccinisten 
auf  dem  Boden  von  Paris  zu  Gunsten  Glucks  ausgefochten 
wurde.  Leo  und  Durante  waren  in  Neapel  zwölf  Jahre 
lang  die  Lehrer  Piccinis,  der  seine  dramatische  Laufbahn 
mit  der  komischen  Oper  »Le  Donne  dispettose«  begann. 
Unter  seinen  komischen  Opern  fand  »Cecchina«  wohl  den 
meisten  Beifall.  Die  Opern  »Olympiade«,  »Alessandro  nell' 
Indie«  und  »Radomista«  begründeten  Piccinis  Ruf  nicht 
nur  in  Italien,  sondern  auch  in  Deutschland,  Frankreich 
und  Rufsland.  1773  wurde  Piccini  von  der  Königin  Maria 
Antoinette  nach  Paris  berufen,  um  daselbst  nicht  nur  seine 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  137 

älteren  Opern,  sondern  auch  die  neueren  »Roland«,  »Atys« 
und  »Phaon«  zur  Aufführung  zu  bringen,  was  unter  gröfstem 
Beifalle  von  selten  des  Hofes  und  des  Publikums  geschah. 
Wie  bereits  bei  Pergolese  gesagt,  hatte  sich  in  Paris  eine 
Partei  gebildet,  welche  gegen  die  französischen  Opernkom- 
ponisten die  italienischen  auf  den  Schild  hob.  Hier  ist  nun 
der  Keimpunkt  des  grofsen  Streites  der  Piccinisten  und 
Gluckisten,  der  in  Paris  entbrannte,  gelegen.  Es  war  ein 
Kampf  der  ausschlielslichen  Melodienoper,  wie  sie  die  Italiener 
schufen,  und  des  dramatischen  Kunstwerkes  als  solchen  auf 
dem  Gebiete  der  Oper,  wie  sie  Gluck  aufbrachte.  In  selbst- 
loser Weise  erklärte  sich  Piccini  nach  Aufführung  der 
Gluckschen  »Iphigenie  in  Tauris«  (1779)  für  besiegt.  Aber 
nicht  nur  Gluck,  sondern  auch  Sacchini  überflügelte  Piccini, 
dem  1790  die  Revolution  das  Amt  beim  Hofe  raubte.  Wegen 
revolutionärer  Gesinnung  wurde  Piccini  zu  vier  Jahren  Ge- 
fängnis verurteilt,  und  kam  erst  1798  nach  Paris  zurück,  wo 
er  durch  seelische  Aufregungen  aufgerieben,  in  Krankheit 
verfiel.  Napoleon  hatte  1800  für  ihn  noch  eine  Inspektor- 
stelle am  Konservatorium  geschaffen,  aber  schon  im  Mai 
dieses  Jahres  verschied  Piccini  nach  einem  rühm-  und 
sorgenvollen  Leben.  Ungefähr  150  Opern  hat  Piccini  ge- 
schrieben, von  denen  hier  noch  »Zenobia«,  »Didon«,  »Iphigenie 
en  Tauride«,  »Penelope«,  »Griselda«  und  »II  serva  padrone« 
verzeichnet  werden  mögen,  als  solche,  die  durch  ihren  Melo- 
dienreichtum in  den  Arien,  in  dem  Aufbau  ihres  Finales 
und  in  der  charakteristischen  Behandlung  des  Orchesters 
vom  Publikum  besonders  bevorzugt  wurden. 

Giovanni  Paisiello,  geb.  9.  Mai  1741  in  Tarent  auf  Sicilien, 
gest.  5.  Juni  1816  in  Neapel.  Äufsere  Lebensverhältnisse: 
Paisiello  studierte  am  Konservatorium  San  Onofrio  in  Neapel, 
an  welcher  Anstalt  er  selber  später  Lehrer  wurde.  Nach 
Erfolgen  mit  Kirchen  werken,  Intermezzi,  komischen  und 
ernsten  Opern,  die  des  Melodienreichtums  wegen  geschätzt 
wurden,  erhielt  Paisiello  1776  einen  Ruf  nach  St.  Petersburg, 
woselbst  er  acht  Jahre  verblieb.  Mit  Auszeichnungen  und 
Reichtümern  überhäuft,  kehrte  er  1784  in  die  Heimat  zurück, 
und  zwar  nach  Neapel  als  Dirigent  der  königlichen  Kapelle, 
trotzdem  er  wieder  nach  St.  Petersburg  und  1788  auch  an 


138  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

den  Hof  Friedrich  Wilhelm  II.  nach  Berlin  berufen  wurde. 
Beim  Ausbruche  der  politischen  Unruhen  1799  floh  er  mit 
dem  König  von  Neapel  nach  Sicilien  und  nahm,  dem  Ver- 
dacht zu  entgehen,  an  der  Revolution  Teil  genommen  zu 
haben,  den  an  ihn  ergangenen  Ruf  Napoleons  nach  Paris 
an,  wo  er  von  1802—1804  wirkte.  Durch  die  Rivalität  mit 
Cherubini  und  Mehul  veranlafst,  verliefs  er  Paris,  um  wieder 
in  seine  alte  Stellung  nach  Neapel  zurückzukehren.  Durch 
den  Verdacht,  dem  bourbonischen  Königshause  verbunden 
zu  sein,  verlor  Paisiello  seine  Stellung  und  somit  auch  seine 
Pension,  so  dafs  er  sogar  in  Not  geriet.  Bedrängt  und  ver- 
bittert durch  die  Abnahme  seines  Ruhmes  —  denn  Rossini 
fing  an,  alle  Opernkomponisten  zu  verdunkeln  —  siechte  er 
im  74.  Jahre  seines  Lebens  hin.  Sein  Schaffen:  Paisiello 
schuf  aufser  Kirchenwerken  94  Opern.  Aus  dieser  Fülle 
seien  genannt:  »La  serva  padrona«,  »La  Madama  umorista«, 
»Le  Virtuose  ridicule«,  »L'amore  in  bello«,  »II  Marchese 
Tulipano«,  sowie  »II  Barbiere  di  Seviglia«  als  diejenigen 
komischen  Opern,  die  von  grofsem  Erfolge  begleitet  waren. 
Sein  »Barbier«  wurde  für  den  Rossinischen  vorbildlich. 
Andere  Opern  sind:  »La  finta  amante«,  »La  Molinara«, 
»I  Zingari  in  fiera«,  »Nina«,  »Je  re  Teodoro«,  »Achille  in 
Sciro«,  »La  grotta  di  Trionfo«,  »La  pazza  per  amore«  und 
»Proserpina«.  Daneben  sind  von  Paisiello  noch  zwölf  Sin- 
fonien, wie  die  Ouvertüren  der  italienischen  Komponisten 
genannt  wurden,  zu  nennen,  ferner  ein  Tedeum,  das  Ora- 
torium »La  passione  di  Gesü  Christo«,  Quartette  und  Klavier- 
stücke. —  Paisiellos  künstlerische  Bedeutung:  Schönheit  der 
musikalischen  Linie,  der  Melodie,  dabei  komisch-dramatische 
Wirkungen  und  Steigerung  der  einzelnen  Akte  in  den  bis 
dahin  unbekannten  vielstimmigen  Finales,  sowie  charakte- 
ristische Behandlung  des  Orchesters  besonders  in  den  Blas- 
instrumenten. 

Domenico  Cimarosa,  geb.  17.  Dezember  1749  (bei  Gerber, 
Czerny,  Fetis  und  Jahn  fällt  das  Geburtsjahr  Cimarosas 
zwischen  1749,  1754  und  1755;  Canovas  Büste  trägt  die 
Jahreszahl  1755)  in  A  versa  (Königreich  Neapel),  gest. 
11.  Januar  1811  in  Venedig.  Äufsere  Lebensumstände: 
Cimarosa  besuchte  in  Neapel  die  Armenschule.   Der  Organist 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienschen  Oper.  139 

des  Minoritenklosters,  Pater  Poleano,  entdeckte  die  aiilser- 
ordentlichen  musikalischen  Anlagen,  bereitete  ihn  fürs  Kon- 
servatorium vor,  an  welchem  er  (es  war  am  Konservatorium 
Santa  Maria  di  Loreto)  eine  Freistelle  erhielt  und  von 
1761 — 1772  unter  Sacchinis  und  Piccinis  Leitung  studierte. 
1774  wandte  er  sich  nach  Kom,  wo  er  bis  1780  verweilte 
und  die  beifällig  aufgenommene  Oper  »Italiano  in  Londra« 
schuf.  1787  berief  ihn  Kaiserin  Katharina  IL  nach  St.  Peters- 
burg, welche  Stadt  er  1792  aus  Gesundheitsrücksichten  wieder 
verlassen  mufste.  Er  wandte  sich  nach  Wien,  wo  er  die 
berühmte  komische  Oper  »II  matrimonio  segreto«  (»Die 
heimliche  Ehe«)  komponierte.  Als  Cimarosa  in  Neapel  als 
königlicher  Kapellmeister  weilte,  hatten  ihn  Neider,  sowie 
sogar  Paisiello,  als  Revolutionär  angeklagt.  Cimarosa,  der 
seine  Begeisterung  bei  der  Occupation  Neapels  durch  Napo- 
leon offen  zeigte,  wurde  gefangen  genommen  und  zum  Tode 
verurteilt.  Auf  Fürsprache  entliels  man  den  Tondichter 
nach  vierjähriger  Gefangenschaft  und  wies  ihn  aus  Neapel. 
Cimarosa,  der  Venedig  aufsuchte,  komponierte  hier  trotz 
aller  Mühsal  und  Bedrängnis  noch  die  Oper  »Artemisia«, 
sowie  eine  Messe,  und  starb  im  47. Lebensjahre  im  Jahre  1811. 
Sein  künstlerisches  Schaffen  bestand  hauptsächlich  in  komi- 
schen Opern.  Das  erste  Werk,  welches  die  Aufmerksamkeit 
auf  Cimarosa  lenkte,  war  »Le  Stravaganze  del  Conte«  im 
Jahre  1772.  In  Rom  war  es  1774  »La  Italiana  in  Londra«, 
welche  mit  grofsem  Erfolge  aufgeführt  wurde.  Weitere 
Opern;  »Ballerina  amante«,  »Olimpiade«,  »II  sacrificio 
d'Abramo«,  »Artemisia«,  »Gli  Orazj  e  gli  Curiazj«,  »Ataserse« 
und  »Semiramide«.  Doch  sein  eigentliches  Meisterwerk  ist 
und  bleibt  die  reizende  Oper  »II  matrimonio  segreto«  (»Die 
heimliche  Ehe«),  die  als  Prototyp  einer  echten  komischen 
Oper  gelten  mufs.  Mit  Cimarosa,  der  ein  Vertreter  des  so- 
genannten »schönen  Stiles«,  wie  ihn  die  neapolitanische  Ton- 
schule ausgebildet  hatte,  war,  haben  wir  den  Höhepunkt  der 
komischen  Oper  erreicht. 

Nach  Cimarosas  ist  noch  als  tüchtiger  Vertreter  der  komi- 
schen Oper  zu  nennen: 

Valentino  Fioravanti,  geb.  1770  in  Rom,  gest.  1837  in 
Capua;   derselbe  erhielt  seine  musikalische  Ausbildung  am 


140  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Conservatorio  della  pietä  in  Neapel,  und  wirkte  in  Turin, 
Lissabon,  in  Neapel  und  seit  1816  als  Kai^ellmeister  an 
St.  Peter  in  Rom.  Viele  Lieder,  Motetten,  Messen,  Offertorien 
und  andere  Werke  sind  aufser  seinen  Opern  von  ihm  ge- 
schaffen worden.  Von  seinen  komischen  Opern  sind  her- 
vorzuheben: »Virtuosi  ambulanti«,  »Cantatrice  villane«,  »II 
Furbo  contra  il  Furbo«,  »Gli  Amanti  comici«,  »L'Avaro«, 
»La  Sposa  di  due  mariti«  und  »Le  Aventure  di  Bertoldino«, 
sowie  die  ernste  Oper  »Das  Urteil  des  Paris«.  —  Sein  Sohn 
Vincenzo  Fioravanti  (geb.  1810  in  Neapel,  gest.  1877), 
möge  hier  genannt  werden  als  Verfasser  folgender  komi- 
schen Opern,  die  aber  denen  des  Vaters  nicht  gleichstehen: 
»I  due  caporali«,  »Un  matrimonio  in  prigione«  u.  a.  m. 

Welcher  Komponist  liefert  das  charakteristische  Beisi^iel  der 
Verflachung  des  Stiles  der  italienischen  komischen  Oper? 

Vincenzo  Martin,  aus  Valencia  gebürtig,  aber  vollständig 
in  der  italienischen  Tonschule  erzogen.  Seine  Oper  »Cosa 
rara«  wurde  in  Wien  anfangs  sogar  Mozarts  »Figaro«  vor- 
gezogen. (Mozarts  Rache  im  zweiten  Finale  des  »Don  Juan« 
ist  bekannt.) 

Waren  die  angeführten  italienischen  Meister  der  komischen 
Oper  des  18.  Jahrhunderts  auch  gleichbedeutend  auf  dem  Ge- 
biete der  tragischen,  pathetischen  oder  ernsten  Oper? 

Nein;  Weitschweifigkeit  und  Hohlheit  herrscht  sogar  viel- 
fach in  ihren  Werken,  wie  dies  z.  B.  »Cleopatra«  und 
»Artaserse«  von  Cimarosa,  ferner  »Das  Urteil  des  Paris« 
von  Fioravanti  zur  Genüge  darthun.  Selbst  Pergolese  ist 
in  seinen  ernsten  Opern  »Olimpiade«  und  »Adriano  in  Siria« 
nicht  besser,  als  jene.  Überhaupt  verliert  sich  im  Laufe  der 
Zeit  in  der  neapolitanischen  Musikentwicklung  jene  Gediegen- 
heit, welche  im  Anfange  derselben  ganz  besonders  die  Werke 
Stradellas  und  Alessandro  Scarlattis  auszeichnete.  Den 
Schlufs  dieser  ganzen  Entwicklung,  die  aber  bereits  in 
oberflächliches  Virtuosentum  übergegangen  war,  bilden  Kom- 
ponisten wie  Nicolo  Porpora  und  Nicola  Antonio 
Zingarelli. 

Nicolo  Porpora,  geb.  19.  August  1686  in  Neapel,  gest.  1767 
daselbst,  war  Schüler  am  Konservatorium  S.  Maria  di  Loreto 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  141 

in  Neapel  unter  Alessandro  Scarlatti.  Nachdem  er  an  diesem 
Konservatorium  als  Lehrer  gewirkt  hatte,  begab  sich  Porpora 
nach  Wien  (1725),  nach  Dresden  (1729),  wo  er  als  Kapell- 
meister fungierte,  sodann  nach  London  (von  1729—1736). 
Von  1754  an  sehen  wir  ihn  wieder  auf  dem  Boden  von  Wien, 
wo  Haydn  von  ihm  lernte,  bis  er  kurz  vor  seinem  Tode 
nach  Neapel  zurückkehrte,  um  als  Kapellmeister  an  der 
Kathedrale  sowie  am  Konservatorium  zu  wirken.  Von  ihm 
sind  gegen  50  Opern  geschrieben,  Messen,  Oratorien  und 
Psalmen,  ferner  zwölf  Violinsonaten,  die  wertvolle  Beiträge 
zur  Litteratur  dieses  Instrumentes  bilden  und  viele  Kantaten 
für  eine  Singstimme,  die  sich  durch  schöne  Behandlung  des 
Recitatives  auszeichneten.  Porporas  Hauptbedeutung  hegt  in 
seiner  Thätigkeit  als  Gesangspädagoge,  als  welcher  er  viele 
bedeutende  Sänger  und  Sängerinnen  ausbildete.  Broschi 
(Farinelli),  Caffarelli,  Senesino,  die  Tosi  und  Bordoni  waren 
z.  B.  aus  seiner  Gesangschule  hervorgegangen. 

Nicola  Antonio  Zingarelli,  geb.  4.  April  1752  in  Neapel, 
gest.  5.  Mai  1837  daselbst,  ist  wohl  als  der  letzte  Komponist 
der  grofsen  neapolitanischen  Ton  schule,  welche  von  A.  Scar- 
latti begründet  wurde,  zu  bezeichnen.  Zingarelh  war  Schüler 
des  Konservatoriums  S.  Maria  di  Loreto  in  Neapel,  fungierte 
an  demselben  mehrere  Jahre  als  Lehrer  des  Violinspieles. 
Seine  Gönnerin,  die  Herzogin  von  Castelpergamo,  gab  ihm 
Gelegenheit,  eine  Reihe  von  Opern  zu  schreiben,  von  denen 
»Giulietta  e  Romeo«  in  Mailand  mit  Erfolg  aufgeführt  wurde. 
Für  Paris  schrieb  er  die  Oper  »Antigone«,  die  jedoch  wenig 
Erfolg  hatte.  Von  1792  an  Domkapellmeister  in  Mailand,  von 
1794  an  als  solcher  in  Loreto  thätig,  wurde  Zingarelh  1804 
zum  päpstlichen  Kapellmeister  in  Rom  ernannt,  wo  er  bis 
zum  Jahre  1811  verblieb.  Als  sich  Zingarelli  in  diesem 
Jahre  weigerte  das  Tedeum  zur  Feier  der  Geburt  des  Königs 
von  Rom  (Herzog  von  Reichstadt)  zu  dirigieren,  wurde  er 
verhaftet,  anfangs  nach  Civita  Vecchia,  sodann  nach  Paris 
gebracht,  wo  Napoleon  ihn  jedoch  begnadigte.  Im  Jahre  1812 
übernahm  Zingarelh  die  Direktion  des  Konservatoriums  San 
Sebastiano  in  Neapel  und  entfaltete  eine  grofse  Lehrthätig- 
keit,  aus  welcher  die  Schüler  Bellini,  Donizetti,  Mercadante, 
sowie   die    Sänger   Lablache,    Tamburini    und   Duprez  ent- 


142  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

sprossen.  Von  1816  an  wirkte  Zingarelli  auch  noch  als  Kapell- 
meister am  Dome  zu  Neapel.  Von  seinen  41  Opern  seien 
erwähnt:  »Giulietta  e  Romeo«,  »Francesca  da  Rimini«, 
»Montezuma«,  »II  Conte  Ugolino«.  Das  Oratorium  »La  di- 
struzione  de  Gerusalemme«,  Kantaten,  sowie  ein  vierstimmiges 
Miserere  a-capella  sind  von  seinen  mehreren  hundert  Kirchen- 
werken hervorzuheben.  Wie  Porpora,  war  auch  Zingarelli 
einer  der  berühmtesten  Gesangslehrer  seiner  Zeit,  in  welcher 
der  »bei  canto«  alles  war. 

Anmerkung.     Wer  sich  an   einzelnen  Gesängen   der  Altitaliener  er- 
freuen will,  dem  seien  folgende  Musikalien  empfohlen: 

1.  Echo  d' Italic    (Les  maitres   Italiens  des  17.  et  18.  Siecles),  Paris. 

2.  Acht  Arien  und  Gesänge  älterer  Tonmeister  mit  Begleitung  des 
Klaviers,  herausgegeben  von  Carl  Bank.    Leipzig. 

3.  Zwei  altitalienische  Lieder  aus  dem  Anfange  des  18.  Jahrhunderts. 
Nr.  1.  Quel  sospiri  (Alt);  Nr.  2.  Mia  dolce  sposa  (Sopran),  heraus- 
gegeben von  Hermann  Ritter.    Berlin. 

4.  Zwei  altitalienische  Gesänge:  Nr.  1.  Canzonetta  von  Salvator  Rosa 
(1615—1673),  Nr.  2.  Aria  von  Nicolo  Porpora  (1686—1767),  heraus- 
gegeben von  Wilh.  Kienzl.    Kassel. 

Wie  heilst  der  bedeutende  Musikgelehrte  und  Kontrapunktist 

im  18.  Jahrhundert  in  Italien? 

Giovanni  ßattista  Martini  (schlichtweg  Padre  Martini 
genannt),  geb.  25.  April  1706  in  Bologna,  gest.  3.  Oktober 
1784  daselbst.  Martini,  der  1721  in  den  Franziskanerorden 
trat,  unterhielt  in  Bologna  eine  Musikschule,  aus  der  viele 
hervorragende  Musiker  hervorgingen.  Mehr  als  seine  Kom- 
positionen, die  in  Klavier-  und  Orgelwerken,  sowie  in  Ora- 
torien und  Intermezzi  bestehen,  bedeuten  seine  Schriften 
über  Musik,  von  denen  als  die  hauptsächlichsten  zu  nennen 
sind:  »Storia  della  musica«,  3  Bde.,  1757 — 1781,  »Esemplare 
ossia  saggio  fundamentale  pratice  di  contrapunto«,  2  Bde., 
1774—1775. 

Wer  waren  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  die 
eigentlichen  italienischen  Komponisten  der  ernsten  Oper? 
Aufser  dem  bereits  genanntenPiccini(1756 — 1812):  Sacchini 
(1734—1786),  Righini  (1756—1812)  und  Paer  (1771—1839). 
Mit  den  letzten  beiden  schliefst  die  Reihe  der  hervorragen- 
den Komponisten  der  Opera  seria  im  18.  Jahrhundert. 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  143 

Antonio  Maria  Gasparo  Sacchini,  geb.  23.  Juli  1734  in 
Puzzuoli  bei  Neapel,  gest.  7.  Oktober  1786  in  Paris,  bildete 
sich  am  Konservatorium  San  Onofrio  in  Neapel  bei  Durante 
und  Forenza  in  der  Komposition  und  im  Violinspiele  aus. 
Nachdem  er  durch  einige  kleine  Opern  im  neapohtanischen 
Dialekte  bekannt  geworden,  siedelte  er  nach  Rom  über,  wo 
er  seinen  »Alessandro  nell'  Indie«  schrieb  und  hierdurch  die 
Stellung  eines  Direktors  am  Konservatorium  der  Musik  in 
Venedig  erlangte.  Hier  wirkte  er  als  Komponist  und  her- 
vorragender Gesangslehrer.  Nachdem  er  auf  einer  Reise 
durch  Deutschland  in  München  und  Stuttgart  geweilt  hatte, 
siedelte  er  nach  London  über,  wo  er  zehn  Jahre  verblieb 
und  die  Opern  »II  Cid-  und  »Lucio  Vero«  schuf.  Von 
London  wandte  sich  Sacchini  nach  Paris,  wo  er  mit  den 
Opern  »II  gran  Cid<',  »Chimene«,  »Dardanus«  und  »Oedipe 
ä  Colone  <  erfolgreich  auftrat.  Von  seinen  50  Opern  seien 
noch  »Olimpiade«,  »Montezuma«,  »Mitridate«  und  »Renaud« 
erwähnt.  Aufser  kleineren  Kirchenwerken  schuf  Sacchini 
die  Oratorien  »Esther<,  »St.  Philipp<,  »Die  Makkabäer«, 
»Jephta«,  »Ruths  Hochzeit«,  Messen,  sowie  Trios,  Quartetten, 
Sonaten  und  andere  Instrumentalwerke,  die  alle  im  Stile  des 
»bei  canto«  der  neapolitanischen  Schule  wurzeln. 

Vincenzo  Righini,  geb.  22.  Januar  1756  in  Bologna,  gest. 
19.  August  1812  daselbst,  bildete  sich  am  Konservatorium 
seiner  Vaterstadt  anfangs  als  Sänger  aus,  und  wandte  sich 
nach  Verlust  seiner  Stimme  unter  Padre  Martinis  Leitung 
der  Komposition  zu.  1776  ging  er  nach  Prag,  wo  er  mit 
mehreren  seiner  Opern  Erfolg  hatte,  gleichwie  in  Wien, 
wohin  er  1779  einen  Ruf  an  die  Italienische  Oper  erhielt. 
1788  trat  Righini  beim  Kurfürsten  von  Mainz  in  den  Dienst, 
und  ging  1793  als  Kapellmeister  der  Italienischen  Oper  nach 
Berlin,  wo  er  bis  1806,  als  durch  die  Kriegsunruhen  die 
Itahenische  Oper  aufgelöst  wurde,  verblieb.  Nach  Italien 
zurückgekehrt,  starb  Righini  1812  in  seiner  Vaterstadt.  Aufser 
Messen,  Motetten  und  einem  Tedeum  sind  von  Righini  folgende 
Opern  als  seine  Hauptwerke  erwähnenswert:  »Tigrane«, 
»Aleide  al  Bivio«,  »Enea  nel  Lazios  »Armida«  und  »Atlanta«. 

Fernando  Paer,  geb.  1.  Juni  1771  in  Parma,  gest.  3.  Mai 
1839   in   Paris,   erhielt   seine   musikalische   Ausbildung   am 


144  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Konservatorium  in  Neapel,  später  bei  Ghiretti,  einem  Violin- 
spieler der  Kapelle  des  Herzogs  von  Parma,  und  schrieb  be- 
reits mit  16  Jahren  zwei  Opern,  die  seinen  Ruf  in  Italien 
derart  verbreiteten,  dals  er  die  Kapellmeisterstelle  beim 
Herzog  von  Parma  erhielt.  Bis  1797  hatte  Paer  schon  mehr 
als  zwanzig  Opern  geschrieben.  Mit  seiner  Frau  (einer  ge- 
borenen Ricordi),  die  Sängerin  war,  folgte  er  einem  Rufe 
als  Kapellmeister  an  das  Nationaltheater  nach  Wien.  Hier 
schrieb  er  seine  berühmte  Oper  »Camilla«,  die  durch  Mozart 
beeinflulst  erscheint  und  seinen  Ruf  als  Opernkomj)onist 
auch  in  Deutschland  befestigte.  1801  ging  Paer  nach  Dresden 
als  Hofkapellmeister  an  Naumanns  Stelle,  und  unternahm 
von  hier  aus  mehrere  Reisen  nach  Italien  und  Wien,  um 
daselbst  seine  neugeschaffenen  Opern  aufzuführen.  1807 
wurde  Paer  von  Napoleon  I.  als  Kapellmeister  nach  Paris 
berufen,  wo  er  später  auch  als  Leiter  der  Italienischen  Oper 
an  Spontinis  Stelle  wirkte.  Aufser  »Camilla«  sind  von 
Paerschen  Opern  zu  erwähnen:  die  1811  in  Parma  vollendete 
Oper  »Agnese«,  »Le  maitre  de  chapelle«  (1824  für  Paris  ge- 
schrieben), »Sargino«,  »Griselda«,  »Leonora,  ossia  l'amore 
conjugale«  (Beethoven  antwortete  Paer,  als  dieser  jenen 
nach  Anhören  seiner  Oper  »Leonora«  fragte,  wie  ihm  die- 
selbe gefallen  habe:  »Das  ist  ein  Opernstoff  für  mich!« 
Beethoven  schuf  daraufhin  den  »Fidelio«),  »Achille«,  »Dido«, 
»Cinna«,  »I  Molinari«  und  »Une  Caprice  de  Femme«. 

Wie   heifsen  die  drei  Deutschen,    welche  im  18.  Jahrhundert 
im  Stile  der  Italiener  schufen? 

Johann  Adolf  Hasse  (1699—1783). 
Johann  Gottlieb  Naumann  (1741—1801). 
Heinrich  Graun  (1701—1759). 

Dieselben  sind  als  letzte  Ausläufer  der  deutsch-italienischen 
Periode  der  Tonkunst  anzusehen.  Wohl  könnte  man  diesen 
Tondichtern  noch  die  Komponisten  Peter  von  Winter 
(1754—1825),  Josef  Weigl  (1766—1843)  und  Michael  Haydn 
(1737 — 1806)  als  Vertreter  des  deutsch-italienischen  Musik- 
stiles anreihen. 

Johann  Adolf  Hasse,  geb.  25.  März  1699  in  Bergedorf 
(Hamburg),   gest.   23.   Dez.  1783   in   Venedig,   studierte   bei 


7.   Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  145 

seinem  Vater  Musik  und  trat  1719  als  Tenorist  in  die  Opern- 
truppe des  berühmten  Reinhold  Keiser  in  Hamburg  ein,  bei 
dem  er  sich  im  Gesang,  Klavierspiel  und  in  der  Kompo- 
sition vervoUlvommnete.  1722  folgte  er  einem  Rufe  als 
Sänger  an  die  Hofbühne  von  Braunschweig,  von  wo  aus 
ihn  der  Herzog  1721  zur  Ausbildung  bei  Porpora  nach 
Neapel  sandte,  um  itahenische  Gesangskunst  und  Kompo- 
sition gründlich  zu  studieren.  Sehr  bald  gewann  sich  Hasse 
hier  die  Zuneigung  und  Protektion  A.  Scarlattis,  und  ward 
mit  der  Komposition  einer  grofsen  Oper  für  das  kgl.  Theater 
in  Neapel  beauftragt,  welche  mit  grofsem  Erfolge  in  Scene 
g-hm  und  seinen  grofsen  Ruf  begründete.  Neapel,  wo  ihn 
die  Damen  den  »caro  Sassone«  nannten,  verliefs  Hasse  im 
Jahre  1727,  um  nach  Venedig  überzusiedeln.  Ein  Miserere, 
welches  Hasse  in  Venedig  schuf,  brachte  ihm  die  Ernennung 
zum  Kapellmeister  und  Professor  am  Conservatorio  degi' 
Incurabili  ein.  Im  Jahre  1728  führte  er  in  Neapel  die  Oper 
»Attalo,  re  di  Bitinia«:  auf  und  lebte  sodann  bis  1730  in 
Venedig,  wo  er  sich  mit  der  berühmten  Sängerin  Faustina 
Bordoni,  für  welche  er  die  beiden  Opern  »Dalisia  und 
»Artaserse«  schrieb,  vermählte.  Von  Venedig  aus  folgte 
Hasse  einem  Rufe  als  Oberkapellmeister  an  das  Dresdener 
Hoftheater,  wohin  auch  seine  Frau  Faustina  berufen  wurde, 
und  beide  mit  einem  Gehalte  von  12000  Thalern  Anstellung 
fanden.  Dreifsig  Jalire  schuf  Hasse  in  Dresden,  wo  er  als 
erste  Oper  »Alessandro  nell'  Indie«  schrieb.  Seit  1733  ver- 
weilte Hasse  im  Auftrage  des  Kurfürsten  Friedrich  August  IL 
in  Kunstangelegenheiten  mehrmals  in  Italien,  und  wurde 
sodann  kurze  Zeit  nach  London  von  der  italienischen  Opern- 
gesellschaft berufen,  wo  er  an  dem  bekannten  Opernkampfe 
teilnahm,  den  Händel  mit  den  Italienern  ausfocht.  Unter 
August  III.  und  dessen  Minister  Graf  Brühl  beginnt  Hasses 
unumschränkter  musikalischer  Einflufs  in  Dresden,  wo  er 
als  Kirchen-  und  Opernkomponist  nunmehr  eine  staunens- 
werte Fruchtbarkeit  entwickelte.  1745  wurde  Hasse  mit 
Friedricli  IL  von  Preufsen  bekannt,  der  ihn  vergeblich  nach 
Berhn  zu  engagieren  versuchte.  1763  wurde  das  Ehepaar 
Hasse  durch  die  Ein  Wirkungen  des  siebenjährigen  Krieges  ihrer 
Stellungen  enthoben  und  pensioniert.  Beide  lebten  von 
1763—1769  in  Wien,  dann  in  Mailand,  wo  Hasse  den  Knaben 

Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgeschichte.   III.  10 


146  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Mozart  kennen  lernte  und  den  bekannten  Ausspruch  that: 
»Dies  Kind  wird  uns  alle  vergessen  machen«.  Die  letzten 
Jahre  seines  Lebens  verbrachte  Hasse  in  Venedig,  wo  er 
im  Jahre  1783  starb,  nachdem  ihm  seine  Frau  1780  voran- 
gegangen war.  Von  seinen  ca.  100  Opern  sind  zu  nennen: 
»Artaserse«,  »Alessandro  nell'  Indie«,  »Sesostrate«,  »De- 
metrio«,  »Arminio«  und  »Ruggiero«.  Aulserdem  kompo- 
nierte Hasse  eine  grolse  Reihe  von  Kirchenmusikstücken, 
Kantaten,  Messen,  Oratorien,  Litaneien,  Miserere  und  Kyries. 

Johann  Gottlieb  Naumann,  geb.  17.  April  1741  in  Blase- 
witz bei  Dresden,  gest.  23.  Oktober  1801  in  Dresden,  studierte 
von  1758  an  bei  Tartini  in  Padua,  wo  ihn  Hasse  während 
seiner  dreijährigen  Studienzeit  unterstützte  und  ihn  sodann 
später  bei  sich  in  Venedig  aufnahm.  1761  kam  Naumann 
in  Gesellschaft  eines  jungen  Violinvirtuosen  namens  Pitscher 
bis  nach  Neai^el,  beschäftigte  sich  hier  mit  dramatischer 
Musik,  und  ging  sodann  mit  Empfehlungen  Tartinis  nach 
Bologna  zum  Padre  Martini,  um  sich  bei  demselben  im 
Kontrapunkt  zu  üben.  1764  wurde  Naumann  nach  Dresden 
als  Kirchenkomponist  berufen,  während  1765  seine  Er- 
nennung als  Kammerkomponist  erfolgte.  In  den  Jahren 
1765 — 1772  ging  Naumann  mehrere  Male  nach  Italien,  um 
sich  noch  weiter  auf  dem  Gebiete  der  Oper  umzuschauen. 
Er  schrieb  in  dieser  Zeit  für  Palermo  und  Venedig  eine 
Reihe  mit  Beifall  aufgeführter  Opern,  und  wurde  1776  zum 
kurfürstlichen  Hofkapellmeister  in  Dresden  ernannt,  wo  er 
als  solcher  1801  starb.  Aufser  21  Messen,  11  Oratorien, 
Hymnen,  Motetten  und  vielen  anderen  kleinen  Kirchen- 
werken (u.  a.  das  Klopstocksche  Vaterunser),  schrieb  Nau- 
mann gegen  20  Opern,  von  denen  »Achille  in  Sciro«,  »Soli- 
mano<,  L'Ipermnestra< ,  »L'Armida<,  >Cora<',  »Orfeo«,  -Elisa«, 
»Tutto  per  amore«,  >La  dama  soldata«,  und  >Aci  e  Galatea« 
als  die  besten  bekannt  sind. 

Karl  Heinrich  Graun,  geb.  7.  Mai  1701  in  Wahrenbrück 
(Provinz  Sachsen),  gest.  8.  August  1759  in  Berlin.  Graun, 
der  in  Dresden  die  Kreuzschule  besuchte,  an  welcher  er 
sich  zugleich  im  Gesänge  und  im  Orgelspiele  ausbildete, 
wirkte  anfangs  als  Sopranist  im  städtischen  Kirchenchore. 
1725    wurde    er   Operntenorist   in   Braunschweig   und   1726 


7.  Die  Weltherrschaft  der  itaHenischen  Oper.  147 

Vicekapellmeister  daselbst.  Hier  in  Braiinschweig  begründete 
Graun  seinen  Ruf  als  Komponist  durch  mehrere  italienische 
Opern  und  Kirchenwerke,  und  hier  war  es  auch,  wo  ihn 
Prinz  Friedrich  von  Preulsen  (der  spätere  König  Friedrich  II.) 
bat,  als  Sänger  in  die  Rheinsberger  Schlolskapelle  einzu- 
treten. Nach  seiner  Thronbesteigung  sandte  König  Fried- 
rich II.  von  Preulsen  Graun  nach  Italien,  um  die  nötigen 
Sänger  und  Sängerinnen  für  eine  italienische  Oper  zu  be- 
schaffen, und  ernannte  Graun  zum  ersten  Kapellmeister. 
In  dieser  Stellung  schrieb  nun  Graun  seine  meisten  Werke, 
und  gehörte  im  Verein  mit  Philipp  Emanuel  Bach,  Fasch, 
Kirnberger  und  Quantz  zu  den  vertrautesten  Freunden 
König  Friedrich  IL  (Über  das  Urteil  Friedrich  des  Grolsen 
über  Opernsänger  und  Schauspieler,  sowie  über  die  Theater- 
verhältnisse in  Berlin  im  18.  Jahrhundert  geben  folgende 
Äulserungen  Friedrich  des  Grofsen  Zeugnis:  »Die  Opern- 
leute« schrieb  der  König  an  seinen  Schatzmeister  Treders- 
dorf,  »Saindt  solche  Canaillenbagage,  dafs  ich  sie  Tausend- 
mahl müde  bin.  Ich  jage  sie  zum  Teufel  und  solche  Canaillen 
kriegt  man  doch  wieder,  ich  mus  Geld  zu  Canonen  aus- 
geben und  kann  nicht  so  vihl  vohr  Haselanten  verthun. 
Die  Astrua  und  Caristini  fordern  den  Abschiet,  es  ist  Teufels 
Crop,  ich  wollte,  dafs  sie  der  Teufel  alle  holte,  die  Canaillen 
bezahlt  man  zum  Plaisir,  um  nicht  Frisirerei  von  ihnen  zu 
haben.«  —  Als  Regel  schrieb  er  dem  Baron  von  Arnim, 
dem  letzten  Schauspieldirektor,  den  er  hatte,  vor:  vihr 
müsset  mit  den  Komödianten  nicht  so  viel  Komplimente 
machen,  sondern  die  sich  ungebührlich  betragen,  brav  be- 
strafen.« Auch  mit  den  Tänzern  scheint  Friedrich  der  Grofse 
seine  Not  gehabt  zu  haben,  denn  er  schreibt:  »Zulagen 
kann  ich  weder  an  Denis  geben,  noch  an  keinen  andern, 
dazu  bin  ich  weder  reich  genug,  noch  Saindt  der  mehr 
Werth.  Wenn  sie  durchaus  vor  ihr  Tractement  nicht  bleiben 
wollen,  mus  man  andere  kommen  lassen,  die  gut  Saindt 
und  vor  denselben  Preis  Capriolen  schneiden.« 

Unter  Grauns  Kirchenwerken  sind  vor  allen  das  Oratorium 
»Der  Tod  Jesu«  (Dichtung  von  Rammler)  1755  zu  nennen, 
dessen  traditionelle  Aufführung  alljährlich  in  der  Garnisons- 
kirche in  Berlin  bekannt  ist.  Ferner  das  »Tedeum«,  welches 
1756    zur   Feier    des    Prager   Friedens    geschrieben    wurde. 

10* 


148  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Aulserdem  schuf  Graun  Lieder,  Kantaten,  Konzerte,  Klavier- 
und  Orgelkompositionen,  Werke  für  Streichinstrumente,  so- 
wie die  Opern  »Rodelinde«,  »Merope«  und  >Sylla«.  —  Alles 
aber  im  herrschenden  italienischen  Musikstile,  der  sich  in 
seinen  Werken  bereits  als  echter  Barockstil  erweist. 

Wie  hiefsen  die  bedeutendsten  Sänger  und  Sängerinnen,  über- 
haupt die  berühmtesten  Gesangsvirtuosen  des  18.  Jahrhunderts 
auf  dem  Gebiete  der  italienischen  Oper? 

Die  Venezianerin  Faustina  Bordoni  (später  Hasses  Frau), 
Vittoria  Tesi,  die  berühmten  Kastraten  Carestini  und 
Senesino,  Antonio  Bernacchi,  Giovanni  Tedeschi, 
Tomaso  Guarducci,  Caffarelli,  der  Tenorist  Giovanni 
Paita,  der  Sopranist  Farinelli  und  der  berühmte  Kontra- 
Altist  Nicolini.  (Der  Opernsänger  Farinelli  war  Günstling 
von  König  Ferdinand  IV.  von  Spanien  [Sohn  Philipp  IL], 
der  an  Melancholie  litt.  Dieser  ergötzte  sich  nicht  nur  an 
den  Trillern  und  Koloraturen  Farinellis,  sondern  benützte 
den  Sänger  als  Werkzeug,  um  Stellen  im  Lande  an  Meist- 
bietende zu  verkaufen.  So  war  die  Herrschaft  der  Bour- 
bonen  in  Spanien,  wie  sie  unter  denselben  in  Neapel  auch 
nicht  besser  war.)  Ferner  die  Sängerinnen  Anna  Maria 
Strada,  Catarina  Visconti,  die  Todi,  Cuzzoni,  Fran- 
cescina,  Frasi,  Durastanti  und  Peruzzi. 

Wie   sah    es    in    der   Kirchenmusik    des    18.    Jahrhunderts    in 

Italien  aus? 

In  der  Kirchenmusik  der  Italiener  des  18.  Jahrhunderts, 
die  für  das  gesamte  Europa  mafsgebend  war,  herrschte 
derselbe  Geist,  wie  er  der  Oper  dieser  Zeit  eigen  war. 
Das  Kastraten-Lorettentum  wurde  leider  auch  in  die  Kirche 
hineingetragen.  Verschnörkelte,  sentimental  -  theatralische 
Musik  war  in  den  Kirchen  damaliger  Zeit  überall  zu  hören. 
Oberflächlich  und  voll  von  Effekthascherei,  wie  das  Wesen 
der  Opera  seria  des  18.  Jahrhunderts,  war  auch  das  Wesen 
der  Kirchenmusik  dieses  Zeitalters.  (Wie  sehr  grobe  Effekt- 
hascherei in  der  Musik  an  der  Tagesordnung  war,  zeigt 
uns  der  Italiener  Pugnani,  der  im  Anfange  des  19.  Jahr- 
hunderts in  Deutschland  seinen  »Werther«  [nach  Goethes 
Werther]  aufführte.    Dieser  »Werther«  war  ein  Tongemälde 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  149 

und  sollte  den  Hörer  ohne  Zuhilfenahme  eines  Textes  alle 
Ereignisse  und  Zustände,  die  Goethe  in  seinem  Romane 
zur  Darstellung  gebracht,  vorführen.  Die  Musik  schilderte 
alle  Beziehungen  Werthers  und  Lottens,  und  wenn  die 
Stelle  kam,  da  der  Unglückhche  seinem  Leben  ein  Ende 
macht,  nahm  Pugnani,  der  sein  Werk  selbst  dirigierte,  von 
seinem  Pulte  eine  geladene  Pistole  und  schofs  sie  ab.)  Über- 
haupt ist  die  Art  und  das  Wesen  der  Musik,  wie  sie  im 
18.  Jahrhundert  von  ItaUen  ausging  und  sich  über  ganz 
Europa  verbreitete,  aus  dem  Geistesleben  der  Menschheit 
damahger  Zeit  zu  erklären:  Erschlaffung  und  Versumpfung 
des  gesamten  staatlichen,  politischen  und  bürgerlichen  Lebens 
war  die  Signatur  dieser  Zeit. 

Mit  welchem  Ausdrucke  benennt  man  sehr  bezeichnend  den 
Stil  der  italienischen  Musik  des  18.  Jahrhunderts? 

Mit  dem  Ausdrucke  »musikahscher  Zopfstil«.  (Derselbe 
bildet  die  Decadence  itahenischer  Musik  einer  Zeit,  in  wel- 
cher monarchischer  und  klerikaler  Absolutismus  blühten. 
Aus  diesem  Sumpfe  und  dieser  Stagnation  auf  dem  Gebiete 
der  Tonkunst  rettete  sich  nur  die  reine  Instrumentalmusik, 
die  wir  auf  deutschem  Boden  sich  wunderbar  weiter  ent- 
wickeln sehen,  wie  überhaupt  Itahen  die  Oberherrschaft  im 
Reiche  der  Tonkunst  nunmehr  an  Deutschland  abtreten 
mufste.  Die  Weltanschauung  und  die  Kulturzustände  jener 
Zeit  machten  dies  zur  Bedingung.) 

Welche  zwei  itaUenischen  Tondichter  ragen  aus  dieser  Zeit 
tiefer  politischer  und  musikalischer  Verkommenheit  Italiens 
hoch  über  ihre  oberflächlichen  Zeitgenossen  empor? 

Luigi  Cherubini  und  Gasparo  Spontini;  beide  stehen 
auf  der  Grenzscheide  des  18.  und  19.  Jahrhunderts. 
Luigi  Maria  Cherubini  war  1760  in  Florenz  geboren  und 
studierte  bei  Sarti  in  Bologna  Musik;  nachdem  er  in 
Italien  seine  ersten  Opern  zur  Aufführung  gebracht  hatte, 
wandte  er  sich  1784  nach  London.  Von  London  ging  er 
1786  nach  Paris,  sodann  nach  Turin,  1787  wiederum  nach 
England  und  1788  nach  Frankreich,  wo  er  von  nun  an 
ständig  lebte  und  zwar  hauptsächlich  in  Paris.  1822  wurde 
Cherubini  zum  Direktor  des  Konservatoriums  der  Musik  in 


150 


Die  Musikentwickluno;  auf  dem  Boden  von  Italien. 


Paris  ernannt,  in 
welcher  Stellung  er 
bis  zu  seinem  Tode 
(1842)  verblieb.  Che- 
rubini war  ein  stren- 
ger, ernster  und 
gediegener  Musiker, 
wie  dies  seine  Werke 
beweisen.  Im  Stile 
gleiclien  seine  Schöi^- 
fungen  den  Hay dn- 
schen und  Mozart- 
;^«^  sehen,  welche  er  sich 
^^*^'"  Vorbilde 


zum  vorDilae  er- 
kor. Von  Cherubinis 
Opern  »Faniska«, 
» Anakreon « ,  »Me- 
dea«,  »Elisa«,  »Lodo- 
iska«,  »Abencera- 
gen«,  »Ali  Baba« 
und  »Wasserträger« 
ist  die  letzte  am  bekanntesten  geworden.  Aulser  den  ge- 
nannten Opern  schuf  Cherubini  noch  eine  Reihe  von  Kirchen- 
werken (Messen,  von  denen  die  Dmoll-Messe  bedeutend  ist, 
und  das  Requiem),  welche  als  Meisterwerke  vollauf  anzu- 
sehen sind.  Durch  sein  gediegenes  Schaffen  trug  Cherubini 
viel  zur  Hebung  und  Klärung  eines  guten  musikalischen 
Geschmackes  in  Frankreich  bei.  Ein  theoretisches  Werk 
Cherubinis  ist  sein  »Lehrbuch  der  Fuge  und  des  Kontra- 
punktes. 


No.  27.     L II  i  g  i  C  h  e  r  ii  b  i  n  i. 


Gasparo  Spontini,  geb.  in  Majolatti  bei  Jessi  am  25. 
Februar  im  Jahre  1772.  Seine  ersten  Musikstudien  machte 
er  am  Konservatorium  della  Pietä  de'  Turchini  in  NeajDel  vom 
Jahre  1791  an,  wo  Cimarosa  seine  Studien  leitete.  Nachdem 
er  mit  einigen  Opern  Erfolg  geliabt  hatte,  erhielt  er  die 
Hof  kapellmeisterstelle  in  Palermo,  welche  er  bis  1802  inne 
hatte.  1803  ging  Spontini  nach  kurzem  Aufenthalte  in 
Marseille  nach  Paris,  wo  er  von  Na^Doleon  nach  vielen  er- 
duldeten  Intriguen   und  KämjDfen  1807   zum  Kapellmeister 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper. 


151 


der  Kaiserin  Josephine  ernannt  wurde.  1807  erschien  die 
Oper  »Die  Vestahn«,  welclie  Spontini  überall  bekannt  machte. 
1809  vollendete  er  »Ferdinand  Cortez«.  Nach  dem  Sturze 
Napoleons  wurde  Spontini  von  Louis  XVIII.  zum  königl. 
Kompositeur  ernannt.  In  das  Jahr  1819  fällt  die  Kompo- 
sition der  Oper  »Olympia«  und  in  das  Jahr  1820  die  Be- 
rufung Spontinis  durch  Friedrich  Wilhelm  IIL  von  Preufsen 
als  Generalmusikdirektor.  Die  erste  Oper,  welche  Spontini 
für  Berlin  verfafste,  war  »Nurmahal  oder  das  Rosenfest 
in  Kaschmir«  (das  umgearbeitete  Festspiel  »Lalla  Rookh«). 
Es  folgten  sodann  1823  »Alcidor«,  1829  »Agnes  von  Hohen- 
staufen«.  Mit  der  Thronbesteigung  Friedrich  Wilhelm  IV. 
kam  es  zwischen  Spontini  und  der  Generalintendanz  zu 
Konflikten.  Spontini,  der  eine  litterarische  Fehde  begann, 
liefs  sich  eine  Majestätsbeleidigung  zu  Schulden  kommen, 
wegen  welcher  er  zu  neun  Monaten  Festungshaft  verur- 
teilt wurde.  Der  ^ 
Tondichter,  der  die 
Strafe  jedoch  nicht 
verbüfste,  kam  um 
seine  Entlassung  ein; 
1841  wurde  ihm  diese 
erteilt  und  Spontini 
wandte  sich  nun  1842 
nach  Paris,  besuchte 
1843  noch  einmal 
Berlin,  wo  er  mit  dem 
Orden  »pour  le  me- 
rite«  ausgezeichnet 
wurde,  und  kehrte 
1847  nach  Italien  zu- 
rück, wo  er  1851  in 
Majolatti  im  77.  Le- 
bensjahre starb.  -- 
Aufser  den  genann- 
ten Opern  »I)ir 
Vestalin« ,  » Ferdi- 
nand Cortez«,»  Olym- 
pia«, »Nurmahal«,  »Alcidor«  und  >Agnes  von  Hohenstaufen« 
schrieb  Spontini   »La  finta  filosofa«,    »Julie   ou   le   pot   de 


No.  28.     Gasparo  Spontini. 


152  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

fleiirs«,  »Milton«,  »Les  Dieux  rivaiix«,  sodann  Balletts, 
Märsche  und  viele  Gesänge.  Spontini  ist  so  recht  der 
Schöpfer  der  Effektoper,  wie  sie  später  Aiiber,  Halevy  und 
Meyerbeer  kultivierten. 

Eigentümlich  erscheint  es  jedoch,  und  es  ist  psychologisch 
interessant,  wie  Spontini  gegen  die  Geister,  die  er  doch  her- 
vorgerufen hatte,  eiferte.  Einer  seiner  Briefe,  datiert  vom 
24.  August,  aus  Marienbad  giebt  hiervon  beredtes  Zeugnis. 
Der  Brief,  der  in  französicher  Sprache  geschrieben  ist, 
lautet  in  deutscher  Übersetzung: 

»Ungeachtet  meiner  gerechten  Abneigung,  bestehen  Sie,  mein  vor- 
trefflicher Freund,  darauf,  dafs  ich  Ihnen  einmal  meine  (vielleicht  irrige 
oder  parteiische)  Meinung  sage,  über  den  gegenwärtigen  Zustand  der 
dramatischen  Musik.  Nun,  ich  will  mich  dazu  verstehen,  blofs  Ihnen  zu 
Gefallen;  aber  nur  in  wenigen  Worten,  die  ich  hinwerfe  in  süfser  Ein- 
samkeit, unter  den  romantischen  Tannenwäldern  der  melancholischen 
Umgebungen  von  Marienbad. 

Meine  Augen  schweifen  von  der  Amalienhöhe  über  dieses  liebliche 
Thal,  geschmückt  mit  reizenden  Wohnungen,  welche  malerische  Gruppen 
bilden.  Zu  meinem  Ohre  dringen  freundlich  um  6  Uhr  abends  köstliche, 
hinreifsende  Töne  der  anmutigsten  und  süfsesten  Gesänge  Mozarts, 
Haydns,  Beethovens,  Glucks,  Cherubinis,  Mehuls,  Webers,  Spohrs  u.  a., 
die  eine  geringe  Zahl  bescheidener  Naturküustler  aus  Böhmen,  besser 
für  Musik  organisiert  als  andere  Völker  (Künstler  in  den  drei  Sommer- 
monaten, Handwerker  und  Feldarbeiter  auf  ihren  Dörfern  das  übrige 
Jahr  hindurch),  auf  dem  Spaziergang  aufführen  mit  seltener,  instinkt- 
mäfsiger  Genauigkeit  des  Tones,  des  Rhythmus,  der  Bewegung,  der 
Absicht  und  Auffassung  im  Kleinsten,  endlich  mit  einem  Gefühl,  das 
mit  Staunen  mich  zu  den  sanftesten  Empfindungen  stimmt. 

Ja,  mein  Freund,  dies  ist  die  wahre  Kunst  in  der  Natur  und  die 
reine  Natur  in  der  Kunst,  welche  ehemals  die  wirklich  grofsen  Meister 
in  Deutschland  und  Italien  hervorriefen,  während  der  Jahrhunderte 
ihres  fortschreitenden  Ruhmes.  Aber  ach,  diese  kurzen  Zeiten  haben 
keine  Folge  mehr!  Die  zerstörende  Geifsel  politischer  Revolutionen 
brachte  notwendig  durch  die  Stürme  des  aus  den  Schranken  getretenen 
Menschengeistes  auch  in  die  Musik  Umwälzung.  Diese  göttliche  Kunst, 
die  freieste  unter  allen,  die  da  unmittelbar  und  plötzlich  ergreift,  ist 
vorzüglich  geneigt  und  aufregend  zu  den  Wallungen  stürmischer  Leiden- 
schaften und  krampfhafter  Gefühle,  bis  zur  Übertreibung,  dem  Übermafs, 
der  Unvernunft,  dem  Wahnsinn. 

In  diesen  wenigen  Zeilen  haben  sie  meine  Antwort.  Es  ist  meine 
Ansicht  von  der  Oi^ernmusik  des  Tages,  die  in  zwanzig  dicken  Bänden 
nicht  hinreichend  auseinanderzusetzen  wäre,  wollte  ich  alles  untersuchen 
und  nachweisen.    Und  wozu  sollte  das  auch  dienen? 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  153 

Also  eine  lyrisch-dramatische  Revolution,  eine  traurige,  demagogische 
Verirrung,  eine  völlige  Lösung  der  geselligen  Ordnung  zwischen  den 
Ideen  und  Geniuskräften  der  Menschen  in  dem  Verständnis  und  der 
Ausübung  der  Grundsätze  der  Harmonie  und  Melodie,  und  noch  mehr 
in  dem  richtigen  Gefühl  des  edeln,  grofsartigen,  pathetischen  Ausdrucks, 
aus  welchem  das  wahre  Ideal,  die  Vollendung  der  Kunst  entsteht.  Daher 
kommt  es,  dals  die  angebliche  Opernmusik  des  Tages,  bis  auf  seltene 
Ausnahmen,  fast  nichts  ist,  als  eine  verstandlose  Gewalt  (force  brutale) 
der  Effekte,  des  entsetzlichen,  zerreifsenden  Lärmens  zahlloser  Blech- 
instrumente, grofser  und  kleiner  Trommeln,  grofser  Pauken,  Cimbeln, 
Triangeln,  Lärmglocken,  Tamtam  und  Schellen,  welche  geschickte  Setzer 
ehedem  mit  Schicklichkeit  und  Mafs  anwandten  bei  Kriegsmärschen, 
Schlachten,  Turnieren  und  Ritterspielen,  sowie  in  allen  musikalischen 
Massen  der  wilden  und  barbarischen  Gattung.  Dagegen  gebrauchen  die 
lyrisch-dramatischen  Zusammenstopler  der  neuen  Machwerke  ohne  Unter- 
lafs  und  Unterscheidung  dieses  gräuliche  Getöse  dazu,  die  zarten  Herzens- 
töne junger  Verliebten,  Nymphen  und  Hirten  auszudrücken,  in  Romanzen, 
Kavatinen,  Arietten,  Recitativen,  Balladen,  Polonaisen  und  Boleros,  so 
wie  mit  diesem  Kriegstosen  fromme  Gesänge  der  Nonnen,  Mönche, 
Priester  und  Patriarchen  in  Kirchen  und  Tempeln,  Pagoden  und  Syna- 
gogen und  Moscheen  zu  begleiten.  Ihnen  gilt  es  gleich,  ob  sie  Gesänge 
des  Jubels,  Triumphes,  Sieges  vor  sich  haben,  oder  wilde  Ausrufe  auf- 
rührerischer Orgien  der  Verzweiflung  und  des  Todes. 

Und  diese  musikalisch-dramatischen  Ungeheuer,  die  oft  ohne  einen 
Schatten  von  Prosodie  oder  richtigen  Ausdruck  über  empörerische,  un- 
anständige und  unreligiöse  Texte  gesetzt  sind,  bestehen  nur  aus  über- 
häuften und  schlecht  zusammenhängenden  Verknüpfungen  gestohlener 
Modulationen  und  Harmonien  und  bekannter  Melodien  (wenn  durch 
Zufall  etwa  eine  vorkommt)  in  Verkleidungen  und  Veränderungen !  Es 
ist  eine  wahre  Freibeuterei  von  fremden  Ideen,  Situationen  und  Effekten, 
die  in  ungeheurer  Menge  und  Eile  aus  den  Dampffabriken  dieser  sein 
wollenden  Neuerer  hervorgehen.  Die  einen  durch  Unwissenheit  und 
Marktschreierei,  die  andern  erbittert  gegen  die  Natur,  welche  ihnen 
Einbildungskraft,  Gefühl  und  Geist  versagte,  alle  trachten,  ehrsüchtig 
und  schwindelnd,  sich  des  wohlerworbenen  Ruhmes  besserer  Vorgänger 
zu  bemächtigen. 

Erkennen  Sie  nicht  in  dieser  künstlerischen  Umwälzung  die  augen- 
scheinliche Nachäffung  der  Julibarrikaden  von  1830,  denen  ich  beiwohnte^ 
deren  Vorbereitung  ich  erkannte,  deren  Darstellung  ich  sah,  deren  Er- 
folg die  Welt  weifs?  Und  doch  ist  ein  grofser  Unterschied  zum  Vor- 
teil der  politischen  Barrikaden.  Diese  können  zurückkehren  zu  den 
alten  Systemen,  die  man  zu  Boden  warf,  und  sogar  weiter  gehen,  so- 
bald die  Hauptfiguren  in  dem  Schauspiele  des  Aufhebens  und  Wieder- 
einsetzens ihre  angemafste  Gewalt,  unbekümmert  um  die  Gerechtigkeit 
der  Sache,  erst  befestigt  haben.  Aber  in  der  lyrisch-dramatischen  Kunst 
ist  solche  Rückkehr  gänzlich  unmöglich  wegen  der  Unfähigkeit  der 
musikalischen  Usurpatoren,  ihren  Geist,  der  einmal  alle  Schranken  über- 
sprungen, in  das  Geleise  der  künstlerischen  Gesetze  zurückzuführen,  in 


154  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

das  Gleichgewicht,  um  Eingebungen  von  Geist  und  Gefühl  zu  empfangen, 
die  sie  nicht  besitzen;  sie  können  das  nicht  wieder  werden,  was  sie  nie 
waren,  weil  sie  ohne  die  köstlichen  Gaben  sind,  die  Gott  seinen  Er- 
korenen verlieh,  welche  die  unsterblichen  Muster  der  deutschen  und 
italienischen  Musik  hervorbrachten.  Den  Mechanismus  der  Kunst,  Kon- 
trapunkt und  Fuge  kann  man  mehr  oder  weniger  gut  erlernen;  Be- 
geisterung, Empfindung,  Genie  aber  niemals!  — 

Aus  den  Erschütterungen  der  politischen  Revolutionen  konnten,  wie 
die  Geschichte  lehrt,  geschickte  Wortführer,  Redner,  Staatsmänner, 
schlaue  abtrünnige  Diplomaten,  reiche  Finanzmänner,  berühmte  Feld- 
herrn hervorgehen,  aber  nie  entsprang  aus  dem  Umsturz  der  bürger- 
lichen und  religiösen  Ordnung  ein  geistreicher  Künstler,  Gelehrter  oder 
Dichter,  nie  ein  grofser  Maler,  Bildhauer  oder  Komponist;  auch  nicht 
ein  einziger  grofser  Name  in  den  Künsten,  die  auf  ewig  den  Ruhm  der 
beiden  bevorzugten  Völker  ausmachen  werden!  Denn  die  in  der  Musik 
bei  den  Franzosen  und  anderen  Völkern  sich  hervorthaten,  waren  Deutsche 
und  Italiener. 

Sie  erinnern  sich,  mein  Freund,  jener  schönen  Darstellung  der  er- 
habenen Iphigenia  in  Tauris,  die  ich  neulich  dem  entzückten  Berliner 
Publikum  (durch  Fräulein  Clara  Heinefetter)  bot;  nach  der  genauen 
Partitur  und  der  Überlieferung  von  Gluck  selbst,  die  mir  nach  Paris 
übersandt  wurde  von  Rey,  dem  berühmten  Leiter  des  Orchesters. 

Dieses  grofse  Meisterwerk,  samt  vielen  von  demselben  Gehalt,  ge- 
hörte einst  zu  den  Lichtgestirnen,  die  den  Horizont  der  grofsen  fran- 
zösischen Oper  bestrahlten,  damals  der  ersten  und  einzigen  in  Europa 
in  der  erhabenen  Gattung.  Lully,  ein  Italiener,  legte  den  Grundstein  zu 
diesem  Heiligtum  der  Kunst  in  Paris  unter  Ludwig  XIV. ;  Rameau  und 
seine  Nacheiferer  hielten  dasselbe  mit  einigen  Fortschritten;  aber  Gluck, 
Sacchini  und  Piccini  brachten  es  nach  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
zu  solchem  Ruhm  und  Glänze,  dafs  alles  Geschrei  der  politischen  und 
musikalischen  Revolutionen  ihn  nie  verdunkeln  wird. 

Ich  schlief se  also,  und  glaube  fest,  dafs  die  dramatische  Musik  in 
eine  der  Barbarei  nur  zu  nahe  liegende  Verderbtheit  gesunken  ist,  dafs 
in  wenigen  Jahren  die  unvergleichliche  Kunst,  welche  Geist,  Seele  und 
Herz  bewältigt,  nur  noch  Gaukler,  Marktschreier  und  Possenreifser  des 
Mittelalters  zu  Dolmetschern  haben,  dafs  man  die  goldne  Zeit  durch 
moderne  Saturnalien  und  Orgien  wieder  erneuern  wird.  Dann  wird 
das  grofse  Werk  und  Wunder  dieser  erbärmlichen  Neuerer  vollendet, 
die  niemals  etwas  neues  selbst  erfunden  (nicht  einmal  die  Orgeln, 
Kirchen,  Mönche,  Maskenbälle  in  den  Opern),  sondern  mit  blofser  Ge- 
walt, ohne  Geist,  ihre  trügerischen  Erfolge  erringen,  die  dann  in  allen 
europäischen  Blättern  in  fast  lächerlich  klingenden  Übertreibungen  ge- 
priesen, an  öffentlichen  Orten,  in  Gesellschaften,  durch  Abgesandte 
empfohlen,  durch  Tausende  von  bezahlten  Klatschern,  bei  den  Vorstel- 
lungen ihrer  Ungetüme,  ausgeschrieen  werden,  so  wie  durch  Vereine 
und  Klubs,  durch  Parteigeist,  und  man  sagt  sogar,  durch  einen  alles- 
vermögenden,  unwiderstehlichen  Talisman.  — 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  155 

Fügen  Sie  zu  diesem  Allen,  was  wahi'lich  keine  Kleinigkeit  ist,  dai's 
die  meisten  der  europäischen  Haupttheater  ohne  Erbarmen  gierigen 
Spekulanten  preisgegeben  sind,  gewöhnlich  ganz  ohne  Kunst  und  Ge- 
fühl, oder  betitelten,  die  derselben  Vorrechte  sich  bedienen,  und  zwar 
um  so  beklagenswerter,  da  sie  von  ihren  Herren,  namentlich  in  Deutsch- 
land, wahrlich  nicht  den  Auftrag  erhielten,  die  ihnen  anvertrauten  grofsen 
Summen,  statt  zur  Bekämpfung,  zur  Begünstigung  der  revolutionären 
Propaganda  des  schlechten  Geschmacks,  des  Ärgernisses  und  der  Ver- 
nichtung der  dramatischen  Kunst  zu  verwenden,  indem  sie  der  Menge 
schmeicheln,  die  so  leicht  in  den  Labyrinthen  der  Auflösung  in  Sitten 
und  Kunst  zu  verwirren  ist,  und  nur  immer  aus  vollem  Halse  nach 
Neuem  schreien,  wäre  es  auch  die  Sintflut,  der  Feuerregen  Sodoms, 
das  Erdbeben  von  Lissabon,  oder  Pest  und  Cholera. 

Dies  ist  meine  Herzensmeinung,  vortrefflicher  Freund,  die  ich  Ihnen 
ganz  unbewunden  anvertraue,  —  die  ich  nicht  laut  ausrufen,  aber  eben 
so  wenig  verbergen  würde,  wenn  man  mich  nötigte,  sie  zu  sagen. 

Leben  Sie  wohl!  ich  gehe  zunächst  nach  Franzensbrunn,  um  dort 
die  45  Tage  meiner  Kurzeit  zu  beendigen,  dann  nach  Prag,  darauf  nach 
Paris.  Auf  Wiedersehen!  Vergessen  Sie  nicht  ihren  sehr  ergebenen 
und  ganz  aufrichtigen  Freund  Spontini.« 

Wodurch    ist    die    Aufführung    von    Spontinis    »Olympia«    in 
Berhn  1821  musikgeschichtiich  bemerkenswert? 

Indem  diese  Oper  von  der  Spontini  feindhch  gesonnenen 
Partei  K.  M.  v.  Webers  »Freischütz«  gegenübergestellt  wurde, 
der  einen  vollständigen  Sieg  über  die  italienische  Oper 
errang. 

Wie  heifsen  die  epochemachenden  italienischen  OpernkomiDO- 
nisten  des  19.  Jahrhunderts? 

Grujjpe  a)  Rossini,  Bellini,  Donizetti  (Pacini,  Carafa, 
Mercadante),  Verdi,  Boito,  Ponchielli. 

Gruppe  b)  Jungitaliener  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts: 
Mascagni,  Leoncavallo,  Tasca,  Giordano, 
Feroni,  Spinelli,  Bossi,  Pizzi,  Leoni,  Puc- 
cini  u.  a.  m. 

Gioachimo  Antonio  Rossini  wurde  am  29.  Februar  1792 
in  Pesaro  geboren,  und  starb  am  14.  November  1868  in 
Passy  bei  Paris.  (Dieses  Datum  geben  fast  alle  Biographen 
Rossinis  an.  Der  Bürgermeister  von  Lugo  [Provinz  Ravenna] 
nimmt  nun  aber  für  dieses  Städtchen  die  Ehre  in  Anspruch, 
Geburtsort  des  »Schwanes  von  Pesaro«  zu  sein.  In  der 
Sitzung  vom  20.  November  1868  hat  der  Gemeinderat  dieses 


156  Die  Musikentwickluiig  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Städtchens  eine  Kommission  ernannt,  welche  die  positiven 
aktenmäfsigen  Belege  für  Lugo  sammeln  nnd  veröffentlichen 
sollte.  Der  Gemeinderat  beschlols:  1.  eine  Beileidsbezeugung 
an  Rossinis  Wittwe,  2.  die  Errichtung  eines  Standbildes  von 
Rossini  in  Lugo  und  3.  den  Ankauf  und  die  Erhaltung  des 
Geburtshauses  als  ein  bleibendes  Denkmal  für  ihren  be- 
rühmten Mitbürger  —  Rossini  selbst  erkannte  nur  Pesaro  als 
seinen  Geburtsort  an;  er  selbst  nannte  sich  humoristischer- 
weise nach  dem  »le  cj^gne  de  Pesaro«:  »Le  singe  de 
Pesaro«.)  —  Er  wurde  der  malsgebende  Komponist  der  Rich- 
tung italienischer  Opernkomposition  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts,  indem  er  es  verstand,  den  Zeitge- 
schmack des  Publikums  zu  belauschen  und  demselben  in 
ausgiebigster  Weise  Rechnung  zu  tragen.  Die  Werke  Piccinis, 
Paisiellos  und  Cimarosas  wurden  ihm  daher  zur  praktischen 
Schule,  denn  es  herrschte  in  jener  Zeit  der  Reaktion,  nach 
den  Stürmen  der  Revolution  und  den  Freiheitskriegen,  im 
grofsen  Publikum  eine  gewisse  Blasiertheit,  eine  gewisse 
sorglose  und  heiterer  Art,  das  Leben  zu  genielsen.  Diese 
Lebensanschauung  bildet  auch  die  Grundlage  des  Wesens 
Rossinischer  Musik.  —  In  der  Musik  wurde  Rossini  zuerst 
von  seinem  Vater  unterrichtet,  der  in  Pesaro  Stadttrompeter 
und  Aufseher  der  Schlächtereien  war.  Nachdem  er  sodann 
bei  Angelo  Tesei  in  Bologna  sich  zu  einem  tüchtigen  Klavier- 
Spieler  und  Sänger  entwickelt  hatte,  konnte  er  1806  schon 
als  Leiter  einer  Privatmusikgesellschaft  in  Bologna  wirken. 
Neben  Klavier  und  Gesang  hatte  Rossini  Violine  und  Hörn 
erlernt,  mehrere  kleinere  Kompositionen  geschrieben  und 
die  Lücken  seiner  allgemeinen  wissenschaftlichen  Bildung 
durch  Selbststudien  ersetzt.  1807  trat  Rossini  in  das 
Konservatorium  von  Bologna  ein,  um  bei  Mattel  Kontra- 
punkt zu  studieren,  dem  er  aber  sehr  wenig  zugesprochen 
haben  soll,  dagegen  bildete  sich  Rossini  an  Haydns  und 
Mozarts  Instrumentalwerken.  In  Bologna  schrieb  er  eine 
Kantate,  eine  Messe,  Chöre,  Arien  und  die  Oper  »Demetrio 
e  Polibio«,  welche  später  in  Rom  zur  Aufführung  gelangte. 
Zwischen  den  Jahren  1810—1813  schrieb  Rossini  Kantaten, 
sowie  eine  Reihe  komischer  und  ernster  Opern  »La  cambiale 
di  matrimonio«  (1810),  »L'inganno  felice«,  »Giro  in  Babi- 
lonias   »La  pietra  del  paragone«,   »L'occasione  fa  il  ladro 


7.    Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper. 


157 


u.  a.  m.,  welche  in  Venedig,  Mailand,  Ferrara  und  an  anderen 
Orten  in  Scene  gingen  und  zwar  mit  grofsem  Erfolge.  Ent- 
scheidend für  Rossinis  Volkstümhchkeit  wurde  aber  erst 
seine   Oper    »Tancred«,   welche  zum  erstenmale  im  Teatro 


No.  29.     Gioachiino  Antonio  Rossini. 

della  Fenice  in  Venedig  im  Jahre  1813  die  Hörer  entzückte. 
Dann  folgten  die  Opern  »Italiana  in  Algeri<s  ^Aureliano 
in  Palmira«,  »II  Turco  in  Italia«  und  ^Sigismondo«,  welche 
sich  weniger  Beifall  errangen  und  die  erste  Epoche  von 
Rossinis   Schaffen  abschliefsen.    1815   wandte   sich   Rossini 


158  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

von  dem  Impresario  Barbaja  am  San  Carlotheater  in  Neapel 
engagiert,  nach  Neapel;  er  mulste  sich  verpflichten,  für  das 
Carlotheater  alle  Jahre  eine  Oper  zu  schreiben.  Es  ent- 
standen nun  zunächst  »Elisabetta,  regina  d'Inghilterra«, 
»Torwalda  e  Dorlisca«  bis  1816  Rossinis  Hauptwerk  »II 
Barbiere  di  Seviglia«  erschien,  welche  Oper  ihn  in  die  Reihe 
der  geschätztesten  Opernkomponisten  emporhob.  Dem  »Bar- 
bier« folgten  die  Opern  »Teti  e  Peleo«  und  »Othello«,  so- 
dann 1817  »Armida«,  »Cenerentola«,  sowie  »La  gazza  ladra«, 
welche  letztere  unter  Rossinis  Leitung  während  dreier 
Monate  in  Mailand  mit  stets  wachsendem  Beifalle  gegeben 
wurde.  Zwischen  1817  und  1820  komponierte  Rossini  die 
Opern  »Mose  in  Egitto«  (1818),  »La  donna  del  lago«  (1819), 
»Moametto  IL«  (1820),  ferner  für  Rom  »Matilde  di  Shabran« 
und  »Zelmira«.  Im  Jahre  1822  heiratete  Rossini  die  Sängerin 
Colbran;  beide  folgten  dem  Impresario  Barbaja  nach  Wien, 
woselbst  Rossini  mit  seinen  Melodien  alles  berauschte.  Für 
Verona,  wohin  Rossini  von  Metternich  zur  Zeit  des  dort 
tagenden  Kongresses  eingeladen  war,  schrieb  er  die  Oper 
»Semiramide«,  und  begab  sich  dann  mit  seiner  Frau  über 
Paris  nach  London  an  die  italienische  Oper.  Nach  einem 
Jahre  kehrte  Rossini  von  London  nach  Paris  zurück,  wel- 
ches von  nun  an  sein  ständiger  Aufenthalt  wurde.  Nach 
Paers  Ausscheiden  wurde  ihm  die  Leitung  der  Pariser 
italienischen  Oper  übertragen,  jedoch  ohne  Erfolg  in  dieser 
Stellung  zu  haben,  trat  Rossini  von  derselben  zurück  um 
als  Kammerkomponist  mit  einem  Gehalte  von  20000  Franken 
in  die  Dienste  des  Königs  zu  treten.  Zur  Krönung  Karls  X. 
schrieb  Rossini  die  Oper  »II  viaggio  di  Reims«,  und  1826 
arbeitete  er  den  »Moametto  IL«  um  zur  Oper  »Le  siege  de 
Corinthe«.  1827  folgte  die  umgearbeitete  Oper  »Moise«, 
1828  »Le  comte  d'Ory«  und  1829  die  grofse  Oper  »Guillaume 
Teil«,  welche  sich  mit  seinem  »Barbier  von  Sevilla«  von 
39  Opern  auf  dem  Rej^ertoire  der  Opernbühnen  erhalten  hat. 
Mit  dem  Teil  zog  sich  Rossini  von  der  Kunstthätigkeit 
zurück,  weilte  zunächst  in  Bologna  (1829),  ging  beim  Aus- 
bruch der  Julirevolution  nach  Paris  (1830)  und  lebte 
darauf  von  1836  an  in  Abgeschiedenheit  in  Bologna,  von  wo 
aus  kleinere  Kompositionen,  wie  Lieder,  eine  Messe  und  das 
bereits  1832   angefangene,  aber  erst  später  vollendete  und 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  159 

1845  zum  erstenmale  aufgeführte  »Stabat  mater«  entstanden. 
1847  vertrieben  Rossini  die  politischen  Unruhen  aus  Bologna. 
Nachdem  er  sich  zum  zweitenmale  —  und  zwar  mit  Olympia 
PeUssier  —  vermählt  hatte,  verbrachte  er  einige  Jahre  in 
Florenz  als  Leiter  der  dortigen  Musikschule,  zog  aber  dann 
endhch  wieder  nach  Passy  bei  Paris,  woselbst  er  eine  Villa 
bewohnte,  in  der  er  1868  starb.  Rossinis  Werke  bestehen 
aus  39  Opern,  Kantaten  (unter  diesen  »Egle  e  Irene«,  »La 
Riconoscenza«  und  »II  vero  Omaggio«),  Kammermusik-  und 
Orchesterwerken,  sowie  Liedern  (»Les  Soirees  musicales«); 
ferner  sind  Arien,  Chöre,  zwei  Messen  und  das  »Stabat 
mater«  aus  dem  Schaffen  Rossinis  zu  merken.  In  seinem 
Nachlasse  fanden  sich  noch  folgende  Werke:  Stücke  für 
Klavier  und  Violine,  Violoncello,  Harmonium,  Hörn,  24  Arien, 
Lieder,  4  Duette,  14  mehrstimmige  Vokalstücke,  1  Requiem 
für  Kontra-Alt  und  ein  Trauergesang  auf  den  Tod  Meyer- 
beers. 

Wie  verhältnismäfsig  leicht  Rossini  arbeitete,  wird  uns  durch  die 
von  seinem  Freunde  Michotte  herausgegebene  Selbstbiographie  Rossinis« 
bekannt  gegeben.  Michotte  zeichnete  sich  an  jedem  Abend  des  Tages, 
den  er  mit  Rossini  verbracht  hatte,  die  Mitteilungen  des  Maestro  auf, 
auch  war  er  die  Veranlassung,  dafs  Rossinis  sterbliche  Überreste  von 
Passy  nach  Santa  Croce  in  Florenz  gebracht  wurden.  —  Es  war  im 
Winter  vor  Rossinis  Tode,  als  Rossini  gewisse  Vorurteile  des  Publikums, 
zufolge  denen  er  nach  der  Komposition  des  »Wilhelm  Teil«  die  Lust  an 
der  Kunst  verloren  hätte,  zu  widerlegen  suchte.  Dabei  kam  er  auf  den 
aufgeregten  Zustand  zu  sprechen,  in  dem  er  sich  bei  der  Komposition 
dieses  seines  Werkes  befunden.  Er  erzählte  ungefähr  folgendermafsen : 
>Wer  die  Legenden  in  Betreff  meiner  damaligen  Gleichgültigkeit  gegen 
die  Kunst  fabriziert  hat,  dem  könnt  Ihr  frei  sagen:  wenn  es  ein  Gesetz 
giebt,  zufolge  dessen  die  Komponisten  unter  Strafe  artistischer  Decadenz 
dazu  verdammt  sind,  sich  aus  Enthusiasmus  in  die  Seiten  zu  schlagen, 
so  oft  sie  einem  ihrer  früheren  Werke  gegenüberstehen,  —  so  werde 
ich  allerdings  mich  nie  jenem  Gesetze  unterwerfen.  Gott  weifs  es,  dafs 
ich  mit  Redlichkeit  und  Überzeugung  auch  dann  arbeitete,  als  ich  in 
den  ersten  Tagen  meines  Nomadentums  von  einer  Stadt  zur  anderen 
mich  schleppen  mufste,  und  ungefähr  fünf  Stücke  in  einem  Jahre  per 
Dampf  in  Italien  zu  schreiben  gezwungen  war.  Ich  schrieb  rapid,  da 
sich  meine  Phantasie  leicht  von  einem  Gegenstande  auf  den  anderen 
übertrug,  und  doch  waren  meine  Ideen  klar  und  bestimmt.  Der  Barbier 
von  Sevilla  war  die  Arbeit  von  13  Tagen.  Für  die  Komposition  meiner 
anderen  italienischen  Opern  brauchte  ich  selten  mehr  als  einen  Monat  — 
für  die  Semiramis  33  Tage.  Der  Wilhelm  Teil  kostete  mich  fünf 
Monate,  das  schien  mir  eine  lange  Zeit.     Ich  komponierte  diese  Oper 


160  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

in  Petit  Bourg,  in  der  Villa  meines  Freundes  Agnado.  Dort  gab  es  ein 
fröhliches  Leben.  Ich  betrieb  mit  Leidenschaft  Angelfischerei  —  dies 
auch  der  Grund  gewisser  Unregelmäfsigkeiten  in  jenem  Werke.  Unter 
anderem  erinnere  ich  mich,  die  ganze  Verschwörungsscene  eines  schönen 
Morgens  im  Geiste  entworfen  zu  haben,  während  ich  am  Ufer  des  Teiches 
safs  und  darauf  wartete,  dafs  der  Fisch  an  den  Haken  anbisse.  Mit 
einem  Male  bemerkte  ich,  dafs  ein  grofser  Karpfen  mir  die  Angelrute 
entrissen  hatte,  während  ich  voll  von  Arnold  und  Gefsler  war.  Ich 
habe  fast  immer  stehend  auf  einem  Schreibtische  geschrieben  und  nichts 
von  Pianoforte  war  da.  Guter  Gott  —  das  Pianoforte!  Dieses  Instru- 
ment in  unmittelbarer  Nähe  pflegt  eine  Geifsel  für  die  Musikkomponisten 
im  allgemeinen  und  für  die  Theaterkomponisten  im  besonderen  zu  sein. 
Ich  kannte  manch  einen  dieser  Unglücklichen,  die  geradezu  mit  dem 
Pianoforte  verwuchsen.  Der  brave  Knabe  Bellini  z.  B.  und  dann  — 
mein  armer  Meyerbeer,  der  geradezu  dreiviertel  seines  Lebens  am 
Klavier  verbrachte.  Und  doch  hatte  er  ja  Ideen  in  Fülle,  die  ihm  von 
selbst  kamen.  Aber  das  war  bei  ihm  so  eine  alte  Gewohnheit,  und  er 
hatte  ja  damit  angefangen,  seine  Virtuosität  am  Pianoforte  zu  bewähren. 
Er  mifstraute  stets  seinen  Inspirationen,  ehe  er  nicht  tausendmal  auf 
den  Tasten  manipuliert  und  auf  diese  Weise  einen  Laufpafs  in  gebühren- 
der Form  empfangen  hatte.  Das  hat  ihn  allerdings  nicht  verhindert, 
grofse  Arbeiten  fertigzubringen,  aber  Gott  weifs  zu  welchem  Preise.  — 
Mögen  die  Böswilligen,  die  alles  zu  wissen  vorgeben,  darüber  sagen, 
was  ihnen  gefällt.  Meyerbeer  und  ich  hatten  einander  sehr  lieb.  Das 
war  eine  wolkenlose  und  gegenseitige  Liebe,  bis  aufs  Pianoforte,  das 
ich  ihm  seit  dem  ersten  Tage,  da  wir  uns  in  Venedig  kennen  gelernt 
hatten,  stets  vorwarf.  Was  soll  ich  machen ,  sagte  er  zu  mir,  ich  habe 
Aufregungen  notwendig  —  das  Pianoforte  kitzelt  mich.  Es  ist  mir  nie 
gelungen,  ihm  begreiflich  zu  machen,  dafs  er  genug  Genie  hätte,  um 
solchen  Kitzels  entbehren  zu  können.  Es  war,  als  ob  ich  zur  Wand 
gesprochen.  Beim  Hause  Pleyel  hatte  er  sich  ein  horizontales  Pianoforte 
von  kleinem  Format,  mit  nur  wenigen  Oktaven  versehen,  machen  lassen 
und  war  er  auf  Reisen,  so  führte  er  es  stets  mit  sich.  So  schleppte 
mein  armer  Freund  durchs  ganze  Leben  ein  wahres  Folterwerkzeug  mit 
sich,  und  so  nährte  er  unbewufst  jenen  Geist  des  Mifstrauens  gegen 
seine  eigenen  Arbeiten  in  sich.  Ich  sage  und  wiederhole  es:  Hütet 
Euch  vor  dem  Pianoforte.  Mit  diesem  Instrument  komponieren,  ist 
ein  ebenso  langwieriges  Avie  ermüdendes  Ding,  und  nicht  weniger  ge- 
fährlich als  entnervend. 

Zur  näheren  Charakteristik  Rossinis  sei  folgendes  bemerkt:  Rossini 
erfreute  sich  einer  merkwürdig  seltenen  Selbsterkenntnis.  So  z.  B.  sagte 
er  einmal  zu  seinen  Freunden  über  die  Opern,  welche  zwischen  dem  »Bar- 
bier von  Sevilla  und  -Wilhelm  Teil  entstanden  waren:  >Wer  eine  davon 
gehört  hat,  kennt  sie  alle!«  —  Der  ehemalige  Lehrer  Mattei  in  Bologna 
schrieb  an  Rossini  gelegentlich  der  grofsen  Erfolge  nach  >Tancred<  und 
der  »Italienerin  in  Algier  < :  »Unglücklicher,  halt  ein,  du  entehrst  meine 
Schule!«    Rossini  antwortete  hierauf:    »Wenn  ich  nicht  mehr  gezwungen 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  161 

sein  werde,  um  des  täglichen  Brotes  halber  sechs  Opern  im  Jahre  zu 
schreiben,  werde  ich  mich  befleilsigen,  Kompositionen  zu  liefern,  die  Ihres 
Beifalles  würdig  sind<.  Sich  selber  nannte  er  »einen  armen  Melodisten  . 
(>Car  je  ne  suis  rien,  qu'un  pauvre  Melodiste!«)  —  Folgender  Brief  Rossinis 
an  einen  Herrn  Santocavale  ist  bezeichnend  für  Rossini  als  Menschen:  Da 
mir  Ihre  Liebe  für  unsern  gemeinschaftlichen  Freund  Bellini  wohl  bekannt 
ist,  so  gewährt  es  mir  ein  besonderes  Vergnügen,  Sie  zu  benachrichtigen, 
dafs  die  von  ihm  eigens  für  Paris  komponierte  Oper  >I  Puritani  einen 
brillanten  Erfolg  gehabt  hat.  Der  Komponist  und  die  Sänger  wurden  zwei- 
mal gerufen,  und  ich  darf  behaupten,  dafs  solche  Ehrenbezeugungen  in 
Paris  selten  sind  und  nur  dem  wahren  Talent  zu  teil  werden.  Sie  sehen 
meine  Prophezeiungen  sind  (ich  mufs  es  bekennen)  auf  eine  meine  Hoff- 
nungen übersteigende  Weise  in  Erfüllung  gegangen.  In  dieser  Oper  zeigen 
sich  bemerkenswerte  Fortschritte  der  Instrumentation.  Stets  habe  ich 
Bellini  anempfohlen,  sich  von  der  deutschen  Harmonie  nicht  zu  weit  ver- 
locken zu  lassen  und  jederzeit  auf  seine  glückliche  Organisation  zu  rechnen, 
um  einfache  und  des  Eindruckes  gewisse  Melodien  zu  erfinden.  Ich  er- 
suche Sie,  Bellinis  brillante  Aufnahme  meinem  guten  Caserano  mitzuteilen 
und  ihm  zu  sagen,  dafs  die  Partitur  der  Oper  I  Puritani  die  vollständigste 
sei,  die  er  bis  jetzt  komponiert  hat.  Giacomo  Rossini. «  —  Aus  diesem  Briefe 
ist  ersichtlich:  1.  Hochstehende  Geistesfreiheit,  in  dem  Rossini,  als  Künstler 
hohen  Ranges,  sich  über  die  Errungenschaften  eines  jüngeren  Künstlers 
aufrichtig  freut  und  dessen  Verdienste  öffentlich  rühmt.  Wie  oft  sind  Neid 
und  Verkleinerungssucht  Eigentümlichkeiten  der  Künstler  untereinander! 
2.  Zeigt  Rossini  in  diesem  Briefe  wie  er  über  das  Deutschtum  in  der  Musik 
denkt,  von  der  er  einmal  sagte:  »Die  Deutschen  sind  von  jeher  die  grofsen 
Harmoniker,  wir  Italiener  die  Melodiker  in  der  Tonkunst  gewesen;  seit- 
dem sie  im  Norden  aber  Mozart  hervorgebracht  haben,  sind  wir  Südländer 
auf  unsei-em  eigenen  Felde  geschlagen;  denn  dieser  Mann  erhebt  sich  über 
beide  Nationen:  er  vereinigt  mit  dem  ganzen  Zauber  der  Kantilene  Italiens 
die  ganze  Gemütstiefe  Deutschlands,  wie  sie  in  der  so  genial  und  reich 
entwickelten  Harmonie  seiner  zusammenwirkenden  Stimmen  hervortritt. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  folgende  reizende  Geschichte  erzählt,  welche 
Rossini  mit  dem  Komponisten  dalP  Argine  passierte  und  die  von  dem 
Humor  und  der  feinen  Ironie  des  Maestro  zeugt:  Ein  junger  itahenischer 
Maestro  aus  Bologna,  namens  dall' Argine*)  hatte  die  naiv  kühne  Idee,  den 
durch  Rossini  bereits  ziemlich  bekannten  und  beliebten  Barbieredi  Siviglia« 
aufs  neue  in  Musik  zu  setzen  und  so  den  genialen  Pesareser  gewissermafsen 
zu  einem  musikalischen  Zweikampfe  herauszufordern.  Was  tliut  nun  der 
junge,  pfiffige  Maestro,  der,  nebenbei  gesagt,  bisher  nur  durch  seine  musi- 
kalische Farce  »Die  beiden  Bären  (I  due  orsi  )  einen  noch  dazu  äufserst 
bescheidenen  Erfolg  errungen  hatte?  Angesichts  der  Gefahr,  in  die  ersieh 
mutwillig  gestürzt,  appelliert  er  an  Rossini  selbst,  indem  er  ihm  einen  neu- 
geborenen Barbiere  dediziert,  um  auf  diese  Weise  seine  Külinheit  mög- 
lichst zu  bemänteln.    Papa  Rossini  empfängt  das  an  ihn  gerichtete  Schreiben 


*)  Von  dair  Argine  sind  aufserdem  noch  die  Balletts  »Attea«,    Velleda«, 
»Thea«,  »Ondine  ,  »Brahma«,  »Aasvero    u.  a.  m. 

Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgeschichte.   III.  11 


162  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

des  Maestro  dall'  Argine  (vom  2.  August)  mit  gewohnter  Bonhommie  und 
beantwortet  dasselbe  in  nachfolgender  geistreich-sarkastischer  Weise:  Herr 
Maestro  dall'  Argine!  Ich  bestätige  Ihnen  den  Empfang  Ihres  sehr  ge- 
schätzten Schreibens  vom  2.  d.  M.  Obwohl  Ihr  Name  mir  nicht  ganz  un- 
bekannt ist,  da  der  glänzende  Erfolg  Ihrer  Oper  Die  beiden  Bären  auch 
bereits  bis  zu  mir  gedrungen  ist,  gewährt  es  mir  eine  wahre  Befriedigung, 
zu  sehen,  dafs  Sie,  kühner  junger  Mann  (wie  Sie  sich  selbst  nennen!!), 
mir  durch  die  beabsichtigte  Widmung  Ihrer  eben  vollendeten  Oper  einiger- 
mafsen  Ihre  Achtung  bezeigen  Avollen.  In  Ihrem  liebenswürdigen  Schreiben 
finde  ich  nur  das  Wörtchen  kühn  überflüssig;  ich  hielt  mich  wahrlich 
nicht  für  kühn ,  als  ich  nach  dem  Vater  Paisiello  das  reizende  Sujet  von 
Beaumarchais  (binnen  zwölf  Tagen)  in  Musik  setzte.  Warum  sollten  Sie 
sich  dafür  halten,  da  Sie  nach  einem  halben  Jahrhundert  und  noch  dazu 
mit  neuen  musikalischen  Formen  einen  Barbiere  schaffen  wollen?  Jener 
Paisiellos  wurde  erst  unlängst  in  einem  der  Pariser  Theater  aufgeführt 
und  zwar  mit  einem  Erfolge,  wie  ihn  dieses  geist-  und  melodienreiche 
musikalische  Kleinod  vollkommen  verdient.  Viel  wurde  bereits  und  wird 
noch  zur  Stunde  zwischen  den  Kunstfreunden  über  den  Vorzug  der  älteren 
und  neueren  Tonkunst  polemisiert.  Sie,  mein  Herr,  sollten  sich,  ich  rate 
es  Ihnen,  an  das  alte  Sprichwort  halten,  dafs  zwischen  zwei  Streitenden 
der  Dritte  am  besten  fährt.  Euer  Wohlgeboren  sind,  Sie  dürfen  davon 
überzeugt  sein,  und  ich  wünsche  es  auch  vom  ganzen  Herzen,  jener  glück- 
liche Dritte.  Möge  denn  Ihr  neuer  Barbiere,  als  ein  grofser  Bär,  im 
Vereine  mit  Ihren  bereits  komponierten  Die  beiden  Bären  ein  musika- 
lisches Triumvirat  bilden  und  Ihnen,  sowie  unserem  gemeinsamen  Vater- 
lande einen  unvergänglichen  Ruhm  sichern.  Diese  innigen  Wünsche  hegt 
für  Sie  der  greise  Pesarese,  der  sich  nennt  Rossini.  —  P.  S.  Die  Widmung 
Ihres  neuen  Werkes  nehme  ich  recht  gerne  an.  Empfangen  Sie  indessen 
dafür  meinen  verbindlichsten  Dank.    Passj^,  8.  August  1868.« 

Welche  italienischen  Opernkomponisten  wurden  in  fast  gleicher 
Weise  von  Rossini  beeinflulst? 

Mercadante,  Carafa,  Pacini  und  Battista. 

Welches  sind  die  hauptsächlichsten  Daten  aus  dem  Leben  und 
Schaffen  der  drei  Tondichter  Mercadante,  Carafa  und  Pacini? 
Saverio  Mercadante,  geb.  1798  in  Altamur a  bei  Neapel, 
studierte  unter  Zingarellis  Leitung  am  Collegio  di  musica 
di  San  Sebastiano  in  Neapel.  Nachdem  er  für  italienische 
Städte,  für  Spanien  und  für  Wien  eine  Reihe  von  Opern 
geschrieben  hatte,  wurde  er  1833  als  Kapellmeister  am 
Dome  in  Novara  angestellt,  welches  Amt  er  bis  1840  be- 
kleidete; im  Jahre  1840  zum  Direktor  des  Musikkonser- 
vatoriums in  Neapel  ernannt,  erblindete  Mercadante  1862 
und  starb  1870.    Von  seinen  Opern  haben  in  Italien  folgende 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  163 

Beliebtheit  erlangt:  »Elisa  e  Claudio«, » Anacreonte«,  »Didone«, 
»L'apoteose  d'Ercole«  und  »II  Giuramento«. 

Michele  Carafa,  geb.  1785  in  Neapel,  erhielt  seine  erste 
Musikbildung  im  Kloster  Monte  Oliveto  zu  Neapel,  später 
bei  Cherubini  in  Paris.  Nachdem  er  als  Offizier  die  Feld- 
züge, auch  den  gegen  Rulsland  mitgemacht  hatte,  lebte  er 
vom  Jahre  1827  an  ganz  seiner  Kunst  auf  dem  Boden  von 
Paris,  wo  er  1872  als  Professor  des  Conservatoire  de  musique 
starb.  Von  seinen  Opern  seien  erwähnt:  »Iphigenia  in 
Tauride«,  »Gli  due  Figaro«,  »Solitaire«,  »Jeanne  d'Arc«,  »La 
violette«,   »La  fiancee  de  Lammermoor«   und   »Masaniello«. 

Giovanni  Pacini,  geb.  1796  in  Syrakus,  erhielt  seine  musi- 
kalische Ausbildung  zunächst  in  Rom,  sodann  in  Bologna 
bei  Marchesi  und  Mattei,  später  noch  in  Venedig,  wo  er  als 
18  jähriger  Jüngling  mehrere  Kirchenkompositionen  und 
eine  Oper  erfolgreich  zu  Gehör  brachte.  Pacini,  der  1867 
als  Direktor  des  Konservatoriums  in  Viareggio  starb,  be- 
herrschte eine  Zeit  lang  mit  seinen  vielen  Opern  (ca.  60  an 
der  Zahl)  alle  Bühnen  Italiens.  Von  seinen  Opern  sind  er- 
wähnenswert: »Sappho«,  »L'ultimo  giorno  di  Pompeia«, 
»Gli  Arabi  nelle  Gallie«  und  »Bertha«. 

Vincenzo  Battista,  NeajDolitaner  von  Geburt,  trat  1843 
mit  folgenden  Opern  an  die  Öffentlichkeit:  »Margherita 
d'Aragon«,  »Emo«,  »Irene«  und  »Alba  d'Oro«. 

Wie  heifsen  die  drei  italienischen  Opernkomponisten,  welche 
aufser  Rossini   das  Opernrepertoire  im   19.  Jahrhundert  (vor 
allem  in  der  ersten  Hälfte  desselben)  am  meisten  beherrschten  ? 
Bellini,  Donizetti  und  Verdi. 

Welches  sind  die  hauptsächlichsten  Daten  aus  Bellinis  Leben 

und  Schaffen? 

Vincenzo  Bellini  wurde  am  I.November  1801  (nach  anderen 
1802)  in  Catania  geboren,  erhielt  seine  musikalische  Aus- 
bildung bei  Tritto  und  Zingarelli  in  Neapel,  sowohl  in  Ge- 
sang als  auch  in  der  Komposition.  Nachdem  sich  Bellini 
als  Komponist  von  Solostücken  für  Flöte,  Klarinette,  Klavier, 
von  Orchestersachen,  Messen  und  Vespern  versucht  hatte, 
trat  er  in  Neapel  1824  mit  der  Oper   »Adelson  e  Salvina« 

11* 


164  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

auf,  welche  seinen  Ruf  begründete.  Es  folgte  1826  die  Oper 
»Bianca  e  Fernando«,  auf  welche  hin  er  Kapellmeister  am 
Teatro  della  Scala  in  Mailand  wurde.  1827  erschien  »II 
Pirata«,  welche  Oper  in  Mailand  einen  grofsen  Erfolg  hatte, 
1828  schuf  Bellini  »La  Straniera«,  1829  »I  Capuletti  ed  il 
Montecchi'  ( >Romeo  und  Julia  ),  1830  Zaira<,  1831  »La  So- 
nambula*,  welche  er  für  die  Pasta  in  Mailand  schrieb,  1832 
»Norma«,  1833  »Beatrice  di  Tenda«.  Bellini,  der  sich  1833 
nach  London  wandte,  um  daselbst  »Norma«  und  »Beatrice 
di  Tenda'  aufzuführen,  kehrte  nach  Paris  zurück,  um  da- 
selbst im  Jahre  1834  sein  letztes,  gröfstes  und  schönstes 
Werk  »I  Puritani«  zu  schaffen.  1835  am  24.  September 
starb  Bellini,  33  Jahre  alt,  in  Puteaux  bei  Paris. 

Welches  sind  die  hauptsächlichsten  Daten  aus  Donizettis  Leben 

und  Schaffen? 

Gaetano  Donizetti,  geb.  25.  September  1797  in  Bergamo, 
erhielt  seine  erste  musikalische  Ausbildung  bei  einem  ge- 
wissen Mayr  in  seiner  Geburtsstadt,  sodann  von  Mattei  und 
Piloti  in  Bologna.  Mehrere  Sinfonien,  Messen  und  Quartette 
zeugen  von  den  mit  Eifer  betriebenen  Musikstudien.  Um 
nicht  Jurist  zu  werden,  wurde  Donizetti  Soldat,  verliefs  je- 
doch den  Militärdienst  und  schuf  nun  als  Opernkomponist 
von  1818—1830  eine  Reihe  von  Werken,  die  mit  Erfolg  über 
die  Bühnen  Italiens  gingen.  Aber  erst  die  Zeit  von  1831  bis 
1835  ging  Donizettis  Ruf  über  die  Grenzen  Italiens  hinaus, 
vor  allem  nach  Paris  und  London.  1832  schrieb  Donizetti 
die  Oper  »L'elisire  d'amore«.  1834  wurde  Donizetti  Kapell- 
meister und  Lehrer  am  Konservatorium  zu  Neapel,  1838, 
nach  Zingarellis  Tode,  Direktor,  1839  gab  er  diese  Stellung 
auf,  um  sich  nach  Paris  zu  wenden.  Während  seines  Aufent- 
haltes in  Neapel  schrieb  Donizetti  1834  »Lucrezia  Borgia<, 
1835  »Belisario«  und  »Lucia  di  Lammermoor«.  In  Paris 
entstand  seine  berühmte  Oper  »La  fille  du  regiment«  (»Die 
Regimentstochter«).  Von  1842 — 1843  lebte  Donizetti  in  Wien, 
wo  er  zum  Hofkapellmeister  und  Kammerkomponisten  er- 
nannt wurde.  In  der  Wiener  Zeit  kamen  »Linda  di  Cha- 
mounix«  und  »Don  Pasquale«  auf  die  Bühne.  In  Paris 
schuf  er  im  Jahre  1843  »Catarino  Cornaro«  und  »Don 
Sebastiano«,   welch   letztere  Oper  er  selbst  in  Neapel  auf- 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper. 


165 


führte.  Donizetti,  der  infolge  eines  Gehirnleidens  irrsinnig 
geworden  war,  starb  in  Bergamo  am  8.  April  1848.  Im 
ganzen  hat  er  aufser  Kirchensachen,  die  geringe  Bedeutung 
besitzen,  64  Opern  geschrieben,  von  denen  hier  noch  aufser 
den  bereits  genannten  »La  Favorite«  als  eine  der  häufigst 
gegebenen  erwähnt  werden  mufs. 


No.  30.     Giuseppe  Verdi. 


Welches  sind  die  hauptsächlichsten  Daten  aus  Verdis  Leben 
und  Schaffen? 

Giuseppe  Verdi,  geb.  9.  Oktober  1814  in  Busseto,  einem 
Marktflecken  in  Parma,  gest.  27.  Januar  1901  in  Mailand, 
ist  wohl  als  der  bekannteste  und  beliebteste  italienische 
Opernkomponist  des  19.  Jahrhunderts  anzusehen.  Selten 
haben  sich  wohl  Melodien  aus  anderen  Opern  so  tief  in 
das  musikalische  Gedächtnis  des  Volkes,  namentlich  seiner 
eigenen  Landsleute,  eingegraben,  wie  diejenigen  des  Maestro 


166  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Verdi.  Auf  allen  Leierkastenwalzen  der  Welt  ist  das  Miserere 
aus  dem  »Trovatore«  eingegraben  und  nimmer  wird  der 
Name  seines  Kom^^onisten  vergessen  werden,  bis  der  letzte 
Ton  auf  der  letzten  Pfeife  der  letzten  Drehorgel  verklungen 
sein  wird.  Verdis  Tod  und  Begräbnis  gestaltete  sich  in 
Italien  zu  einer  Volksangelegenheit  —  so  lieb  hat  das  ita- 
lienische Volk  den  Schöpfer  seiner  Lieblingsmelodien.  Es 
ist  nicht  zu  leugnen,  dafs  Verdi  in  seinen  ersten  Schöpfungen 
eine  etwas  triviale  Kompositions  weise  aufweist,  die  er  später, 
besonders  in  den  letzten  Jahren,  vollständig  verlassen  hat, 
wie  dies  sein  »Othello«  und  »Falstaff«  zur  Genüge  darthun. 

Din*ch  Verdi  gelangte  im  Verein  mit  Eossini,  Bellini  und 
Donizetti  die  italienische  Oper  zur  eigentlichen  Weltherr- 
schaft. Verdi,  der  die  dramatische  Charakteristik  in  der 
italienischen  Oper  zur  Geltung  gebracht  hatte,  besafs  eine 
wahrhaft  erstaunliche  körperliche  und  geistige  Küstigkeit 
und  Leistungsfähigkeit;  zugleich  zeigt  uns  sein  dramatisches 
Schaffen  eine  so  lange  Reihe  von  Jahren  hindurch  eine 
sehr  interessante  Entwicklung  und  ein  rastloses  Höher- 
streben. Giuseppe  Verdi,  dessen  Eigentümlichkeit  es  war, 
sich  allen  Wandlungen  anzuschmiegen,  welche  die  Oper  im 
19.  Jahrhundert  durchmachte,  zeigt  in  seinen  ersten  Werken 
bis  zum  »Ernani«  sich  ganz  in  der  einseitig-nationalen  Tra- 
dition und  Manier  befangen,  läfst  in  seinen  späteren  Werken 
die  französische  Grofse  Oper  auf  sich  einwirken,  wie  er  in 
seinen  letzten  Opern  von  der  »Aida«  an,  deutlich  den  Ein- 
flufs  Richard  Wagners  zeigt.  Sein  » Falstaff j  und  sein 
»Othello«  sind  musikdramatische  Gebilde  von  hoher  Be- 
deutung. —  Verdi  wurde  als  Sohn  armer  Eltern  geboren 
und  erhielt  den  ersten  Musikunterricht  von  Provesi,  einem 
Organisten  der  Pfarrkirche  seines  Geburtsortes  Busseto. 
Schon  mit  13  Jahren  schrieb  Verdi  kleinere  Orchesterstücke, 
Kantaten,  Kirchenwerke  und  Ouvertüren,  die  eine  auf  ser- 
ordentliche musikalische  Begabung  verrieten.  Als  lOjähriger 
Jüngling  kam  er  durch  die  Munificenz  eines  wohlhabenden 
Musikfreundes  nach  Mailand,  um  seine  musikalische  Aus- 
bildung am  dortigen  Konservatorium  zu  vollenden. 

Merkwürdigerweise  wurde  dem  jungen  Verdi  alle  Be- 
fähigung zur  Musik  bei  der  Aufnahmeprüfung  abgesprochen 
und  die  Aufnahme  verweigert,  worauf  er  seine  Studien  beim 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  167 

Kapellmeister  Lavigna  fortsetzte.  Verdi  kehrte  in  seinen 
Geburtsort  zurück,  um  hier  sein  erstes  Werk,  die  Oper 
»Oberto,  conte  di  San  Bonifazio«  zu  vollenden,  dessen  erste 
Aufführung  am  17.  November  1839  in  Mailand  am  Teatro 
della  Scala  stattfand.  1840  schon  folgte  dem  Erstlingswerke 
die  Buffo-Oper  »ün  giorno  di  regno«.  1842  am  9.  März 
ging  die  grofse  Oper  »Xabuccodonosor  über  die  Bretter 
und  1843  »I  Lombardi  alla  prima  Crociata«.  (Diese  Oper  »Die 
Longobarden  im  ersten  Kreuzzuge«,  zu  welchem  der  Dichter 
Solera  den  Text  geliefert  hatte,  war  das  erste  Werk  Verdis, 
welches  auf  Censurschwierigkeiten  stiefs.  Der  damalige 
Erzbischof  von  Mailand  hatte  gehört,  dafs  hierbei  auf  der 
Scene  Prozessionen  vorkämen  und  Kirchenfahnen  herumge- 
tragen würden.  Verdi  gab  nicht  nach,  eilte  zum  Polizeimeister, 
machte  energische  Vorstellungen  und  setzte  die  Aufführung 
im  Originaltexte  durch,  nur  mit  der  Konzession,  dafs  statt 
Ave  Maria,  Salve  Maria  gesungen  wurde.  Dieselbe  Oper 
wurde  im  Jahre  1847  auch  in  Paris  unter  dem  Titel  »Jeru- 
salem« aufgeführt,  jedoch  ohne  bedeutenden  Erfolg. 

Mit  grolsem  Erfolge  fand  am  9.  März  1844  im  Teatro 
della  Fenice  in  Venedig  die  Aufführung  von  »Ernani«  statt. 
Diese  Oper,  deren  Text  von  Piavo,  gab  damals  der  Censur 
und  der  Theaterpolizei  viel  zu  schaffen.  Man  wollte  bei 
der  Obrigkeit  die  Verschwörungschöre  nicht  zulassen,  und 
das  Volk  benützte  wiederholt  einzelne  Stellen  der  neuen  Oper 
zu  antiösterreichischen  Demonstrationen.  »Ernani«,  welche 
Oper  ihren  Weg  über  fast  alle  italienischen  Bühnen  machte, 
auch  in  Wien  und  Paris  mit  bedeutendem  Erfolge  gegeben 
wurde,  fiel  in  Florenz  durch.  Die  nächste,  und  zwar  die 
siebente  Oper  Verdis  kam  in  Rom  am  3.  November  1845 
im  Teatro  Argentino  zur  Aufführung  und  hiefs  »I  due  Fos- 
cari«,  machte  jedoch  nur  wenig  Eindruck  und  kam  auch 
nicht  über  die  Grenzen  Italiens  hinaus.  Dann  folgte  »Gio- 
vanna  d'Arco«,  welche  trotz  der  bedeutenden  Sängerin 
Frezzolini  nur  einen  mäfsigen  Erfolg  hatte.  Von  dieser 
Oper  verwendete  Verdi  die  Ouvertüre  später  zur  Oper  »Die 
sicilianische  Vesper«.  Das  nächste  Werk  w^ar  die  Oper 
»Alzira«,  dieselbe  gelangte  am  12.  August  1845  in  Neaj^el 
zur  ersten  Aufführung;  ihr  folgte  »Attila«  1846  am  17.  März, 
welche  ebenfalls  gleich  wie  »Ernani«  in  Venedig  zu  politischen 


168  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Demonstrationen  benutzt  wurde,  im  allgemeinen  aber  sich 
keines  besonderen  Erfolges  zu  erfreuen  hatte.  In  London 
fiel  »Attila<  trotz  der  grofsartigen  Leistung  der  Cruvelli 
durch.  Auch  das  nächste  Werk,  die  Oper  »Macbeth«,  für 
Florenz  komponiert  und  in  der  dortigen  Pergola  zum  ersten- 
male  am  14.  März  1847  aufgeführt,  konnte  es  aufserhalb 
Italiens  zu  keinem  Erfolge  bringen,  obwohl  es  durch  den 
spanischen  Tenoristen  Palma  begeisterte  Aufnahme  fand. 
Nach  -Macbeth«  erschienen  die  »Masnadieri«  (»Die  Räuber«, 
Text  von  Maffei),  welche  unter  persönlicher  Leitung  Verdis 
am  Her  Majestys  Theatre  in  London  am  24.  Juni  1847  in 
Scene  gingen,  sind  aber,  trotzdem  die  Jennj'"  Lind  die 
Amalie,  und  Lablache  den  alten  Moor  sang,  nicht  durch- 
gedrungen. Am  25.  Oktober  1848  erschien  auf  dem  Triester 
Theater  »II  Corsaro«,  am  27.  Januar  1849  in  Rom  »Die  Schlacht 
von  Legnano«  und  am  8.  Dezember  1849  »Luisa  Miller« 
(nach  Schillers  »Kabale  und  Liebe«)  im  San  Carlo-Theater 
zu  Neapel,  welche  Oper  drei  Jahre  später  in  Paris  mit  ge- 
ringem Erfolge  gegeben  wurde.  1850  am  16.  November 
ging  in  Triest  »Stiffelio«,  ohne  besonderes  Aufsehen  zu  er- 
regen, in  Scene,  und  nun  erst  kamen  die  drei  Werke  auf, 
welche  Verdis  Weltruhm  begründeten:  »Rigoletto«  (erste 
Aufführung  in  Venedig  am  11.  März  1851),  »II  Trovatore« 
(erste  Aufführung  in  Rom  am  19.  Januar  1853)  und  die 
»Traviata«  (erste  Aufführung  in  Venedig  am  11.  Mai  1853). 
Nur  die  Traviata«  hatte  bei  ihrer  ersten  Aufführung  keinen 
Erfolg,  und  Verdi  schrieb  damals  an  einen  seiner  Freunde: 
»Die  Aufführung  der  >Traviata<  hat  gestern  stattgefunden. 
Fiasko!  Liegt  die  Schuld  an  mir  oder  an  den  Sängern? 
Die  Zeit  wird  darüber  urteilen. <  —  Am  13.  Juli  1855  er- 
schien Verdi  in  Paris  mit  der  Oper  »Die  sicilianische  Vesj^er«, 
und  am  12.  März  1857  ging  »Simone  Boccanegra«  in  Venedig 
zum  erstenmale  in  Scene.  Es  folgten  am  17.  Februar  1859 
in  Rom  »Der  Maskenball«,  sodann  am  10.  November  1862 
die  für  St.  Petersburg  komponierte  Oper  »La  forza  del 
destino«,  am  11.  Mai  1867  »Don  Carlos«  für  Paris,  und  so- 
dann am  24.  Dezember  1871  die  zur  Feier  der  Einweihung 
des  Suezkanals  geschriebene  und  in  Kairo  zum  ersten- 
mal aufgeführte  Oper  »Aida«.  In  dieser  Oper  ist  der  Ein- 
flufs  der  deutsch- romantischen  Oper  auf  Verdi  fühlbar.    Am 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper,  169 

22.  Mai  1874  ertönten  in  Mailand  znm  erstenmale  die  Klänge 
von  Verdis  »Requiem«.  Es  kann  bei  diesem  Requiem  wohl 
nicht  weiter  befremden,  dals  der  Tondichter  als  Romane 
auch  in  seinem  Gottesdienste  das  Sinnfällige  liebt,  in  der 
religiösen  Musik  Verdis  das  Opernmäfsige  vorherrscht.  Un- 
willkürlich liegt  ein  Vergleich  mit  Mozarts  und  Berlioz'  Re- 
quiem« nahe.  Hier  Natürlichkeit  und  Schönheit  in  schönster 
Vereinigung  und  mit  den  einfachsten  Mitteln  grofse  Wir- 
kungen erzielt,  dort  grofsartigen  Gedankenflug  und  tiefe 
Poesie  bei  kunstreicher  Anhäufung  kolossaler  Mittel,  bei 
Verdi  entzückender,  melodischer  und  harmonischer  Wohl- 
klang. Dem  > Requiem <  folgte  1881  die  Oper  »Othello«  und 
in  den  neunziger  Jahren  die  Oper  »Falstaff<.  Von  den 
Kammermusikwerken,  die  Verdi  geschaffen  hat,  ist  ein 
Streichquartett  besonders  bekannt  geworden. 

Verdi,  der  zwei  Mal  verehelicht  war  (das  erste  Mal  mit  der 
Tochter  seines  Wohlthäters  Barezzi,  das  zweite  Mal  mit  der 
Sängerin  Strepponi),  lebte  die  letzte  Zeit  seines  Lebens 
zum  Teil  in  Genua,  sowie  auf  seiner  Villa  in  Busseto.  In 
Mailand  schlofs  sich  sein  sangesreicher  Mund  auf  ewig,  seine 
besten  Werke  aber  ehren  sein  Andenken  auch  fernerhin 
als  Künstler,  und  seine  vielen  Wohlthaten,  die  er  schon  bei 
Lebzeiten  den  Armen  spendete,  als  Menschen.  Er  war  der 
Grofsen  einer. 

Wie  heifst  der  Lieblingsschüler  und  Freund  Verdis,  der  nicht 
nur  als  Komponist,  sondern  auch  als  Wortdichter  in  Italien 
geschätzt  ist? 

Arrigo  Boito,  geb.  24.  Februar  1842  in  Padua,  studierte 
Musik  am  Mailänder  Konservatorium  und  trat  1868  mit  der 
grofsen  Oper  >Mefistofele<  (nach  Goethes  »Faust«)  an  die 
Öffentlichkeit.  Aufser  dieser  Oper  schrieb  Boito  noch  »Ero 
e  Leandro«  und  »Nerone«,  sowie  zahlreiche  dramatische 
und  novellistische  Werke.  Erwähnenswert  ist,  dafs  Boito 
das  Textbuch  zu  Verdis  »Falstaff«  verfafst  hat. 

Welche  italienischen  Komponisten  des  19.  Jahrhunderts  wandeln 
mit  Boito  ebenfalls  die  Pfade  der  sogenannten  grofsen  Oper? 

Amilcare  Ponchielli,  Komponist  von  »Gioconda«. 

Francesco  Cortesi,  Komponist  von  »Mariulizza«. 


170  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Besonders  ist  Amilcare  Ponchielli,  geb.  1.  September  1834 
in  Paderno  Fasolaro,  eine  hochinteressante  miisikahsche  Per- 
sönhchkeit  der  neueren  Zeit  auf  dem  Boden  der  italienisclien 
Musik.  Seine  Studien  machte  derselbe  am  Mailänder  Konser- 
vatorium, wo  er  Schüler  von  Cagnoni  war.  Die  Not  der 
Verhältnisse  zwangen  ihn,  eine  Stellung  als  Musikdirektor 
der  Nationalgarde  in  Piacenza  und  sjDäter  eine  Stelle  in 
gleicher  Eigenschaft  in  Cremona  anzunehmen.  Hier  in 
Cremona  brachte  Ponchielli  seine  erste  Oper  >I  promessi 
sposi«  1856  zur  Aufführung.  Weitere  Opern  waren:  1861 
»La  Savojarda<,  »Roderico  re  de'  Goti<  1864  in  Piacenza 
aufgeführt.  Dann  folgten  La  Stella  del  monte«  und  die 
Umarbeitung  der  Oper  »I  promessi  sposi«,  welch  letztere 
Oper  einen  durchschlagenden  Erfolg  hatte.  Das  Ballett  >Le 
due  Gemelli«  1873,  »I  Lituani«  1874,  sowie  »Gioconda«  1876 
steigerten  den  Ruf  Ponchiellis  in  Bezug  auf  künstlerische 
Behandlung  der  grofsen  Oper,  so  dafs  er  mit  Recht  zu  den 
bedeutendsten  Komponisten  Italiens  gezählt  werden  mufs. 
Aufser  der  Umarbeitung  der  Oper  La  Savojarda«  unter 
dem  Titel  »Lina«,  ist  von  Ponchielli  noch  das  Scherzo 
comico  »II  Pariatore  eterno«,  die  Kantate  »A  Gaetano  Doni- 
zetti«,  eine  Trauerkantate  dem  Gedächtnis  Manzonis  gewid- 
met »II  29  Maggio«,  das  Ballett  »Clarina«,  die  »Fantasia 
militare«,  die  Romanze  »Eternamente«  für  Sopran,  mit  Be- 
gleitung des  Pianoforte  und  Violoncello  zu  nennen, 

Filippo  Marchetti,  Komponist  der  Oper  »Ruy  Blas<s 
gest.  1902. 

Alberto  Franchetti,  geb.  1860  in  Turin,  machte  seine 
Studien  in  Venedig,  München  und  Dresden,  in  letzterer  Stadt 
als  Schüler  Dräsekes.  Seine  erste  Arbeit,  eine  Sinfonie, 
wurde  in  Dresden  prämiiert.  27  Jahre  alt,  schrieb  er  seine 
erste  Oper  »Asrael«;  1892  folgte  »Cristoforo  Colombo«, 
1894  »Fior  d'Alpe«,  1895  »Signor  de  Pourcegnac«  und 
1902  »Germania«,  die  in  Mailand  zum  erstenmale  zur  Auf- 
führung gelangte  und  eine  Episode  aus  den  deutschen  Frei- 
heitskriegen behandelt. 

Durch  welchen  äufseren  Anlafs  brach  am  Ende  des  19.  Jahr- 
hunderts eine  neue  Epoche  für  die  italienische  Oj^er  an? 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper. 


171 


Durch  die  im  Jahre  1890  von  dem  Mailänder  Musik  Verleger 
Sonzogno  ausgeschriebene  Opernkonkurrenz,  aus  welcher 
als  epochemachender  Sieger  Pietro  Mascagni  mit  seiner 
Oper  »Cavalleria  rusticana<  hervorging.  Den  zweiten  Preis 
erhielt  Kuggiero  Leoncavallo  mit  seiner  Oper  »Pagliazzi« 
(Bajazzo),  1892  zum  erstenmale  aufgeführt.  Beide  Opern 
hatten  sensationellen  Erfolg  und  machten  Schule,  denn  eine 
ganze  Reihe  jun- 
ger Komponisten 
entstanden  auf 
Grund  dieser  An- 
regung. 

Pietro  Mascag- 
ni, geb.  7.  Dezem- 
ber 1863  in  Livor- 
no,    war    Schüler 

des  Mailänder 
Konservatoriums, 
sowie  von  Ponchi- 
elli  und  Saladino, 
und  wirkte  an- 
fangs als  Kapell- 
meister an  kleinen 
italienischen  Büh- 
nen, bis  er  sich  in 
Cerignola  als  Diri- 
gent des  dortigen 
Musikvereins  nie- 
derliefs.       Seinen 

Ruf  als  Opernkomponist  begründete  er  mit  der  Oper  »Ca- 
valleria  rusticana«  1890,  jedoch  stehen  die  übrigen  Opern 
»Freund  Fritz«,  »Die  Rantzau>,  >Ratcliff«  und  »Iris«  gegen 
sein  epochemachendes  Erstlingswerk  zurück.  Aufser  diesen 
Opern  sind  noch  Lieder  von  Mascagni  zu  erwähnen. 

Ruggiero  Leoncavallo,  geb.  8.  März  1858  in  Neapel, 
studierte  am  Konservatorium  in  Mailand  und  ging  nach 
Paris,  wo  er  1869  seine  erste  Oper  >»Songe  d'une  nuit  d'ete« 
schrieb.  Durch  die  Oper  »»Pagliazzi«  1892  wurde  auch  er, 
gleichwie    Mascagni,     zum    berühmten     Opernkomponisten 


No.  31.    Pietro  Mascagni. 


172  Die  Musikentwicklimg  auf  dem  Boden  von  Italien. 

gestempelt.  Seine  folgenden  Werke  »IMedici<,  sowie  -Scenes 
de  la  vie  de  Boheme <  konnten  es  jedoch  nicht  zum  Erfolge, 
wie  er  den   >Pagliazzi<   beschieden  war,  bringen. 

Wie  heifsen  die  übrigen  Jungitaliener,  welche  sich  am  Ende 
des  19.  Jahrhunderts  dem  »Verismo«  Mascagnis  und  Leon- 
cavallos  anschlössen? 

Pierantonio  Tasca  (»A  santaLucia«), Umberto  Giordano 
(»Mala  vita«),  Vincenzo  Feroni  (»Rudello«),  Nicola  Spi- 
nelli  (»Labilia«  und  »Abassoporto),Cilea(»Tilda<), Enrico 
Bossi  (»II  Veggente«),  Emilio  Pizzi  (»Editha«),  Leoni 
(»Raggio  di  Luna«),  Giacomo  Puccini  (»Boheme«;  Scenen 
aus  Henri  Murgers  »Scenes  de  la  vie  de  Boheme«). 

Die  musikalische  Charakteristik  im  Vereine  mit  der  den 
Italienern  eigenen  Melodik  ist  das  Fesselnde  an  den  Opern 
der  Jungitaliener,  deren  Stoffe  sich  zu  dem  von  denen  der 
früheren  Komponisten  durch  das  sog.  Milieu  unterscheiden. 
Es  ist  dasselbe,  welches  der  Litteraturrichtung  am  Ende 
des  19.  Jahrhunderts  zu  Grunde  liegt:  das  Volkstum  in  ve- 
ristischer  Darstellung.  Die  Tragik  des  Volkslebens,  im  Gegen- 
satze zum  Leben  im  Bereiche  der  obersten  Gesellschafts- 
klassen, bildet  den  Unterschied  im  dichterischen  Vorwurfe 
der  jüngeren  und  älteren  italienischen  Opernkomponisten. 
Verdi  selbst  hat  dieser  neuen  Richtung  in  neidloser  Weise 
ein  grofses  Lob  gespendet,  wie  es  H.  Ehrlich  1892  aus  des 
Maestros  eigenem  Munde  mitteilte:  »Nichtsdestoweniger  ist 
Mascagni  ein  sehr  grofses  Talent  und  hat  auch  eine  effektvolle 
Neuerung  gebracht:  kurze  Opern,  ohne  unnütze  Längen. 
Denn  sehen  Sie,  unsere  Fehler  waren  die  endlosen,  grofsen 
Opern,  die  einen  ganzen  Abend  füllen  mufsten.  Wir  waren 
immer  gezwungen,  daran  zu  denken,  wie  die  Musik  für  die 
vierthalb  Stunden  fertig  gebracht  werde;  also  grofse  Chöre, 
die  eigentlich  sehr  wenig  mit  der  Sache  selbst  zu  thun  hatten, 
gedehnte  Scenerien,  Soloarien  mit  allerhand  Zwischensätzen, 
das  alles  hielt  die  Handlung  auf.  Nun  kommt  einer  mit  einer 
ein-  oder  zweiaktigen  Oper  ohne  all  das  pomphafte  Zeug, 
die  Handlung  geht  rasch  von  statten;  dabei  ein  grofses, 
leicht  erfindendes  Talent;  das  war  eine  glückliche  Neue- 
rung, die  das  Publikum  mit  Begeisterung  aufnahm.« 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  173 

Wie  heifsen  die  Namen  von  italienischen  Komponisten,  welche 
dem  19,  Jahrhundert  angehören,  die  bisher  noch  nicht  genannt 
wurden  ? 

Gaetano  Gaspari,  geb.  1807  in  Bologna;  Kapellmeister 
an  St.  Petronio,  musikalischer  Theoretiker,  Musikschriftsteller 
sowie  Komponist  von  Kirchenmusikwerken. 

Michael  Costa,  geb.  1806  in  Neapel;  lebte  in  London  als 
Kapellmeister  der  italienischen  Oper.  Von  ihm:  die  Opern 
»Maloine«  und  »Don  Carlos«,  die  Oratorien  »El}^«  und  >Naa- 
mann«,  Lieder  u.  a.  m. 

Luigi  Feiice  Rossi,  geb.  1805  in  Brandizzo,  gest.  1863  in 
Turin;  war  Schüler  Zingarellis,  Musikschriftsteller  und  Kom- 
ponist zahlreicher  Kirchenmusikwerke. 

Carlo  Barbieri,  geb.  1822  in  Genua,  gest.  1867  in  Pest; 
Schüler  Mercadantes  und  Komponist  vieler  Opern. 

Adolfo  Fumagalli,  geb.  1828  in  Inzago;  Schüler  des  Mai- 
länder Konservatoriums,  Pianist  und  Komponist  von  Opern, 
Liedern  und  Klavierstücken. 

Antonio  Cagnoni,  geb.  1828  in  Godiasco.     Von  ihm:    die 
Opern  »Claudia«,   »La  tombola«,   »Un  capriccia  di  Donnas, 
.  »Papa  Martin«  und  »Der  Lastträger  von  Havre«. 

Giulio  Cottrau  (Komponist  der  Oper  »Griselda«   u.  a.  m.) 

Stefano  Gobatti,  geb.  1852  in  Bergantino,  Nachfolger  Merca- 
dantes als  Direktor  des  Konservatoriums  in  Neapel.  Von 
ihm:   die  Opern  »I  Goti«  und     Luce  . 

Wie  heifsen  die  berühmtesten   Sänger  und   Sängerinnen    der 

italienischen  Oper  des  19.  Jahrhunderts? 

Angelica  Catalani,  Maria  Felicitas  Malibran,  Sophie 
Cruvelli,  Adelina  und  Carlotta  Patti,  Manoel  Garcia, 
(Vater  der  Malibran),  Pauline  Garcia  (Viardot-Garcia), 
Pasta,  Gertrude  Elisabeth  Mara,  Marchesi,  Lablache 
u.  a.  m. 

Wie  heifst  der  grofse  Violinvirtuose  Italiens,  der  als  Begründer 
der  modernen  Violintechnik  zu  gelten  hat? 

Nicolo  Paganini,  geb.  28.  Oktober  1782  in  Genua,  gest. 
27.  Mai  1840  in  Nizza.   (Irrtümlich  wird  meistens  das  Geburts- 


174  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

jähr  Paganinis  als  1784  bezeichnet,  jedoch  der  Geburtsschein 
Paganinis,  der  sich  im  Archive  der  Pfarrei  von  San  Sal- 
vator  befindet,  lautet  wörtlich:  Anno  1782  die  28.  octobris 
Nicolaus  Paganini  [sie]  Antonii  Filii  Johannis  Baptistae  et 
Theresiae  Johannis  Bocciardo  conjugum,  natus  heri,  et  hodie 
a  praeposito  baptigatus ;  suscipientibus  Nicolas  Caruta  gen. 
Bartolome  et  Columba  Maria  Farramole  uxore«.)  Den  ersten 
Violinunterricht  erhielt  Paganini  vom  Violinisten  Costa  in 
Genua,  sowie  von  Rolla  und  Ghiretti  in  Parma.  In  der  musi- 
kalischen Komposition  unterrichtete  ihn  Paer.  Paganini  ent- 
faltete sehr  bald  eine  beispiellose  Technik  des  Violinspieles; 
verblüffende  Gewandtheit  im  mehrstimmigen  Flageolet,  im 
Pizzikatospiele  mit  den  Fingern  der  linken  Hand  und  stau- 
nenerregende Bogentechnik  bildeten  seine  speziellen  Eigen- 
tümlichkeiten. Die  Bedeutung  Paganinis  beruht  daher  auch 
darin,  die  Technik  des  Violinspieles  auf  eine  ungeahnte 
Höhe  gebracht  zu  haben.  Nach  seinen  grofsen  Konzertreisen 
welche  in  Italien,  Österreich,  Deutschland,  Frankreich  und 
England  stattfanden,  zog  sich  der  Virtuose  1835  in  seine 
Heimat  zurück,  wo  er  auf  seinem  Landgute  Gassone  bei  Genua 
lebte  und  an  einem  Brustleiden  in  Nizza  1840  starb.  Seinem 
Sohne  Achille  hinterliefs  Paganini  ein  Vermögen  von  2  Mil- 
lionen Franken ;  seine  kostbaren  acht  Violinen  hatte  er  testa- 
mentarisch den  acht  grofsen  Meistern  des  Violinspieles  Beriot, 
Ernst,  Lipinsky,  Molique,  Mayseder,  Ole  Bull,  Spohr  und 
Vieuxtemps  vermacht.  Von  Paganini,  der  auch  ein  bedeuten- 
der Guitarrevirtuose  war,  sind  folgende  Werke  zu  merken: 
24  Capricen,  12  Sonaten  für  Violine,  Guitarre  und  Violoncello, 
6  Quatuors,  die  beiden  Konzerte  für  Violine,  die  Variationen 
»Der  Hexentanz«,  »Der  Karneval  von  Venedig«,  »God  save 
the  King«,  »II  moto  perpetao«,  »II  palpiti«,  Variationen  über 
ein  Thema  aus  »Moses <   auf  der  G-Saite  u.  a.  m. 

Andere    berühmte    Instrumental  -  Virtuosen     Italiens    im 
19.  Jahrhundert  sind: 

Der  Violinvirtuose  Camillo  Sivori,  geb.  1817  in  Genua 
(Schüler  Paganinis).  Antonio  Bazzini,  geb.  1818  in  Brescia, 
Violinvirtuose.  Von  ihm  aufser  Violinsolis  Kammermusik- 
werke und  Opern,  von  denen  am  bekanntesten  die  Oper 
»liranda«   wurde.     Alfredo  Piatti,   geb.  1823   in  Bergamo 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper. 


175 


(Violoncellovirtuose),  studierte  anfangs  bei  Zanetti,  dann  bei 
Merighi  am  Mailänder  Konservatorium,  und  unternahm  von 
1838  an  umfangreiche  Konzertreisen,  die  ihn  durch  ganz  Euro- 
pa führten.    Von  1849  an  lebte  Piatti  in  London,  lehrend  und 
komponierend.    Zahlreiche  Salonkompositionen  und  Konzert- 
sachen für  Violoncello  sind  von  ihm  geschaffen  worden.  Gio- 
vanni Bottesini,  geb.  1823  in  Crema,  Komponist  und  Kon- 
trabals  -  Virtuose. 
Von  ihm :  die  Opern 
»Cristoforo  Colom- 
bo«,     »Michelange- 
lo«,  »Vinciguerra«, 
»Ah  Baba«,   sowie 
Sinfonien,  Kammer- 
musikwerke,   Kon- 
zerte   und    Lieder. 
GiulioBriccialdi, 
geb.  1818   in  Temi 
und  Carlo  Ciardi, 
geb.   1818     in   Flo- 
renz    (Flötenvirtu- 
osen).      Berühmte 
Violinvirtuosinnen 
Italiens  waren  das 

Geschwisterpaar 
Millanolla       und 
Teresina  Tua. 

Wie   heifsen  die  bei- 
den italienischen  Mu- 
siker, welche  am  Ende 
des  19.  Jahrhunderts  auf  dem  Gebiete  der  Kammer-  und  Kon- 
zertmusik ernsten  Bestrebungen  huldigen? 

Giuseppe  Buonamici  und  Giovanni  Sgambati.  Diese 
beiden  Italiener  gaben  sich  in  ihrem  Vaterlande  insofern 
ernsten  musikalischen  Bestrebungen  hin,  indem  sie  ihr  Publi- 
kum in  die  Tiefe  und  in  den  Ernst  deutsch-klassischer  Ton- 
kunst einweihten.  Sgambati,  der  seit  1871  als  Lehrer  für 
Klavier  und  Komposition  am  Konservatorium  in  Rom  lebt, 
ist  Schüler  von  Lifzt  und  war  es,  der  186(3  zum  erstenmal 


No.  32.5.Nicolo  Paganini. 


176  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

in  Italien  dessen  Dante-Sinfonie,  sowie  später  auch  Werke 
von  Richard  Wagner  zu  Gehör  brachte.  Wie  Sgambati  in 
Rom,  so  wirlit  Buonamici,  der  ein  Schüler  Hans  von  Bülows 
ist,  in  Florenz.  Seine  Konzertprogramme  weisen  neben  den 
Namen  der  älteren  deutschen  Musikklassiker  auch  die  der 
neueren  Tondichter  —  Lilzt  und  Wagner  —  auf.  Ein  ganz 
besonderes  Verdienst  hat  sich  Buonamici  erworben,  in  dem 
er  auf  dem  Boden  von  Italien  für  das  Verständnis  Joh. 
Seb.  Bachs  durch  Interpretation  Bachscher  Werke,  sowie 
dm^ch  seine  musterhafte  Bach- Ausgabe  für  Klavier  thätig  war. 

Zu  erwähnen  ist  noch  der  Abbe  Perosi  als  Komponist 
von  Oratorien  (»Die  Auferweckung  des  Lazarus«  u.  a.  m.); 
ferner  Enrico  Bossi,  der  Direktor  des  Konservatoriums  in 
Venedig,  als  Komponist  des  Oratoriums  »Canticum  canti- 
corum«,  sowie  von  wertvollen  Orgelsachen. 

In  Rom  wirkte  der  1902  verstorbene  Direktor  des  »Liceo 
di  Santa  Ceciha«,  Filippo  Marchetti,  dessen  Nachfolger  der 
Komponist  Falchi  ist.  Vor  allem  aber  entfaltet  in  der  Haupt- 
stadt Italiens  der  bereits  genannte  Giovanni  Sgambati 
eine  segensreiche  musikalische  Thätigkeit.  Derselbe  ist  in  der 
Lifztschen  Schule  gebildet  und  vereinigt  in  seiner  Person  die 
Eigenschaften  eines  Dirigenten,  Klaviervirtuosen  und  Päda- 
gogen; von  ihm  ist  1896  ein  »Requiem«  geschrieben  worden, 
das  anläfslich  der  Trauerfeierlichkeiten  für  König  Umberto 
umgearbeitet  und  erweitert  ward  und  jedenfalls  neben  Bossis 
»Canticum  canticorum«  das  bedeutendste  ist,  was  das  moderne 
Italien  auf  dem  Boden  der  Musik  hervorgebracht  hat. 

Ein  Hauptsitz  musikalischen  Lebens  in  Italien  ist  Bologna, 
wo  Giuseppe  Martucci  als  Direktor  des  Konservatoriums 
verdienstlich  wirkt.  Er  war  es,  der  gelegentlich  des  Jubiläums 
der  Universität  von  Bologna  daselbst  Wagners  »Tristan  und 
Isolde«  aufführte,  nachdem  in  Bologna  bereits  1871  Wagners 
»Lohengrin«  auf  Italiens  Boden  seine  erste  erfolgreiche  Auf- 
führung erlebt  hatte.  Mailand  besitzt  ein  Konservatorium  der 
Musik  ersten  Ranges,  in  welchem  Maestro  G.  Gallignani  als 
tüchtiger  Direktor  wirkt,  ebenfalls  Venedig  in  dem  »Liceo  Mar- 
cello«  mit  Enrico  Bossi  als  Direktor. 


7.  Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper.  177 

In  Liiigi  Torchi  besitzt  Italien  einen  hervorragenden  Kri- 
tiker und  Forscher.  In  der  »Rivista  musicale  itaUana«,  M.  I., 
anno  VIII  fasc.  primo)  schreibt  dieser  Musikgelehrte  folgen- 
des: »Itahen  ist  betreffs  der  Wiederaufnahme  der  klassisclien 
Studien  hinter  anderen  Nationen  zurückgebheben.  Soll  es 
noch  eine  eigene  Kunst  besitzen,  so  darf  diese  nicht  das  Resul- 
tat einer  Assimiherung  fremder  Tendenzen  und  Geschmacks- 
richtungen sein  —  ein  Irrtum,  dem  die  neuen  italienischen 
Komponisten  infolge  ihres  Mangels  an  Nationalgefühl  huldigen 
—  sondern  das  Resultat  echt  italienischer,  künstlerischer  Er- 
ziehung, die  zu  unverfälschten  >Manifestationen  italienischen 
Geistes  hinführt<.«  —  »Der  Staat  mufs  es  verstehen,  dafs  .die 
Grundlage  für  eine  Reorganisation  der  Musikstudien  die  end- 
liche Einführung  der  italienischen  Klassik  in  den  Konservatorien, 
die  ja  doch  Institute  italienischer  Kunst  sind,  bilden  müsse. 
Thut  der  Staat  dies  auch  nicht,  so  ist  das  ein  Zeichen,  dafs 
die  Staatslenker  ein  Problem  hervorragenden  nationalen  Inter- 
esses übersehen.« 


c-^^^^^^ 


Ritter,  Encyklopädie  der  Musikgescliichte.    III.  J2 


Bibliographie 


zu 

Band  III:  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden 

von  Italien. 


^ 


12^ 


(Alle  in  nachstehendem  Verzeichnis  aufgeführten  Schriften  sind  zu 
beziehen  durch  die  Verlagsbuchhandlung  Max  Schmitz  in  Leipzig-R.) 


Palestrina,  seine  Zeitgenossen  und  Nachfolger. 
(Schule  von  Rom.) 

Baini,  G.,  Memorie  storico-critiche  sulla  vita  e  sulle  opere  di  Giov.  Pier- 
luigi  da  Palestrina.    2  Bände.    Roma,  1828. 

Winterfeld,  C.  v.,  Johannes  Pierluigi  von  Palestrina.     Breslau,  1832. 

Kandier,  F.  S.,  Über  das  Leben  und  die  Werke  des  G.  Pierluigi  da 
Palestrina.    Nach  Giuseppe  Baini.     Leipzig,  1834. 

ThibatU,  Über  Reinheit  der  Tonkunst.  (Mit  einem  Bildnisse  Palestrinas.) 
Heidelberg,  1825. 

Naumann,  E.,  Italienische  Tondichter.    (Daraus:  Palestrina.)     Berlin,  1876. 

Bäumker,  W.,  Palestrina.  (Ein  Beitrag  zur  kirchenmusikalischen  Refor- 
mation des  16.  Jahrhunderts.)     Freiburg,  1877. 

Ambros,  A.  W.,  Geschichte  der  Musik  im  Zeitalter  der  Renaissance  von 
Palestrina  an.    4.  Band  seiner  Geschichte  der  Musik.     Leipzig,  1878. 

Schelle,  Ed.,  Die  päpstliche  Sängerschule  in  Rom,  genannt  die  sixtinische 
Kapelle.     Wien,  1872. 

Bellerniann,  H.,  Die  Mensuralnoten  und  Taktzeichen  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts.    Berlin,  1858. 

Becker,  C.  F.,  Mehrstimmige  Gesänge  berühmter  Komponisten  des  16.  Jahr- 
hunderts.   Dresden. 

Spitta,  Ph.,  Palestrina  im  16.  u.  19.  Jahrhundert.    Deutsche  Rundschau  1894. 

Waldersee,  Graf  Paul,  Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina  und  die  Gesamt- 
Ausgabe  seiner  Werke.  Nr.  52  der  Sammlung  musikalischer  Vorträge. 
Leipzig. 

Glareani,  Dodekachordon.    Basil,  per  St.  Petri.    Roma,  1547. 

Felix,  G.,  Palestrina  et  la  musique  sacrec,  1594—1894.  Av.  plusieurs 
planclies.    Desclee,  1895. 

Molitor,  Pater  Raphael,  Die  Choral-Reform  unter  Gregor  XIII.  Leipzig,  1901. 

Für  Nicht -Katholiken  seien  zum  näheren  Verständnis  der  Liturgie, 
sowie  überhaupt  des  Ritus  der  katholischen  Kirche  folgende  Werke 

zum  Studium  empfohlen: 
Kothe,  Beruh.,   Musikalisch-liturgisches  Wörterbuch  für  alle  Freunde  der 

Kirchenmusik,  insbesondere  für  Chordirigenten.     Breslau,  1890. 
Boeckeler,    Gregoriusbuch.     Wesen    und    Eigenschaften    der    katholischen 

Kirchenmusik.    Aachen. 


182  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Krabbel,  Christ.,  Prinzipien  der  Kirchenmusik.    Bonn,  1893. 

Krutschek,  Paul,  Die  Kirclienmusilv  nacli  dem  Willen  der  Kirche.  Eine 
Instruktion  für  katholische  Chordirigenten.    Regensburg,  1897. 

Schauerte,  Heinr.,  Die  Akte  der  heil.  Musik.    Paderborn,  1894. 

Schauerte,  Heinr.,  Die  natürlichen  Teile  der  heiligen  Musik.  Paderborn,  1893. 

Schauerte,  Heinr.,  Musikalischer  Kommentar  zum  Missale  Romanum.  Pader- 
born, 1893. 

Schauerte,  Heinr.,  De  musicas  sacrae  justitia.    Paderborn,  1893. 

Kirnherger,  U.  L.,  Lehr-  und  Übungsbuch  des  gregorianischen  Choral- 
gesanges.   Mit  18  Tafeln.     Freising,  1888. 

Wagner,  Peter,  Einführung  in  die  gregorianischen  Melodien.  Ein  Hand- 
buch der  Choralkunde.    Mit  13  Tabellen.    Freiburg,  1895. 

Keller,  J.  W.,  Die  acht  Psalmentöne  des  gregorianischen  Choralgesanges 
mit  Orgelbegleitung.    Aachen,  1856. 

Schmelz,  Paul,  Die  Harmonisierung  des  gregorianischen  Choralgesanges. 
Düsseldorf. 

Schmelz,  Paul,  Vortrag  des  Chorales  nach  Dom.  Pothiers  Methode.  Strafs- 
burg, 1897. 

Zur  Liturgie  und  Feier  des  katholischen  Kirchenjahres: 

Gueranger,    Dom.   Pr.,    Das    Kirchenjahr.     Übersetzt   von   Dr.    Heinrich. 

14  Bände.     1888. 
Haberl,  Dr.  Fr.  X.,  Die  Feier  der  heil.  Kar-  und  Osterwoche.    Lateinisch 

und  deutsch,  für  Gebet  und  Gesang.     Regensburg,  1892. 
Kayser,  Dr.  J.,  Beiträge  zur  Geschichte  und  Erklärung  der  ältesten  Kirchen- 
hymnen.   Band  I  1881,  Band  II  1886.    Paderborn. 
Schulte,  Dr.  Adalh.,  Die  Hymnen  des  Breviers  nebst  den  Sequenzen  des 

Missale  übersetzt  und  erklärt.    Paderborn,  1898. 
Sch7nid,  Dr.  Ändr.,   Caeremoniale  für  Priester,  Leviten,  Ministranten  und 

Sänger  zu  den  gewöhnlichen  liturgischen  Diensten.    Mit  60  Abbildungen. 

Kösel,  1897. 
Schober,   G.,  Caecermoniae  missarum   solemnium  et  pontificalium  aliaeque 

functiones  ecclesiasticae.     Regensburg,  1894. 


Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Venedig. 

Caffi,  F.,  Storia  della  musica  sacra  nella  giä  Capeila  Ducale  di  San  Marco 

dal  1378—1797.    Venezia,  1854-55. 
Nauman7i,   E.,    Das  goldene  Zeitalter  der  Tonkunst  in  Venedig.    Heft  248 

der  Sammlung  gemeinwissenschaftlicher  Vorträge.    Berlin,  1876. 
Naumann,  E.,  Italienische  Tondichter.     Berlin,  1876. 
Winterfeld,  C.  v.,  Johannes  Gabrieli  und  sein  Zeitalter.    Berlin,  1834. 
Schmid,  A.,  Ottavio  dei  Petrucci  da  Fossombrone,  der  erste  Erfinder  des 

Musiknotendruckes  mit  beweglichen  Metalltypen  und  seine  Nachfolger 

im  16.  Jahrhundert.    Wien,  1845. 

(Nach  den  neuesten  Forschungen  Prof.  Dr.  H.  Riemanns  war  Jörg  Reyser 

in  Würzburg  1481  Erfinder  der  beweglichen  Typen.) 


Bibliographie.  183 

Galvani,  L.  N.,  Die  Opern  von  Venedig  im  17.  Jalirhundert.  Mailand,  1880. 
(Dieses  Werk  berichtet  über  die  Thätigkeit  von  16  Opernunternehmungen 
dieser  Glanzzeit  Venedigs  in  der  Zeit  1637—1700,  giebt  in  drei  Anhängen 
noch  die  Geschichte  zweier  anderer  Unternehmungen,  und  aulserdem 
eine  Zusammenstellung  gedruckter  theatralischer  Werke  und  drei  In- 
haltsverzeichnisse.) 

Scudo,  R,  Chevalier  Sarti  oder  musikalische  Zustände  Venedigs  im  18. 
Jahrhundert.  Aus  dem  Französischen  übersetzt  und  mit  musikalischen 
Anmerkungen  begleitet  von  O.  Kade.    Dresden,  1858. 

Chilosotti,  O.,  Sulla  lettera-critica  di  Benedetto  Marcello  contra  Antonio 
Lotti.     Bassano,  Pozzato,  1885. 

Bigi,  Q.,  Di  Claudio  Merulo  da  Corregio,  principe  dei  contrappuntisti  e 
degli  organisti  del  16  secolo.    Parma,  1861. 

Marcello,  B.,  II  teatro  alla  moda  ossia  metodo  sicuro,  e  facile  per  ben  com- 
porre,  ed  esseguire  l'opere  italiane  in  musica  all'  uso  moderno.  Stam- 
pata  ne  Borghi  di  Belisania  per  Aldivivi  Licante.     (Satire.)    Venezia. 

Wiel,  Taddeo,  I  Teatri  musicali  Veneziani  del  settecento-    Venedig,  1897. 


Musikent Wicklung  auf  dem  Boden  von  Florenz. 

Naumann,  E.,  Italienische  Tondichter.    Berlin,  1876. 

Ärteaga,  St.,  Le  rivluzioni  del  teatro  italiano.    Venezia,   1885.    Übersetzt 

von   Forkel   unter   dem    Titel:    Geschichte    der   italienischen  Oper   von 

ihrem  ersten  Ursprung  bis  auf  die  gegenwärtige  Zeit.    Leipzig,  1789. 
Gevaert,  F.  A.,  Die  Vokalmusik  in  Italien  unter  den  Florentiner  Meistern 

von  1500 — 1630.    Neue  Berliner  Musik-Zeitung,  29.  Jahrgang. 
Caccini,  Giulio,  Vorrede  zu  seiner  Oper    Euridice«.     1600. 
Peri,  Jacopo,  Vorrede  zu  seiner  Oper  »Euridice«.     1600. 
Cavalieri,  Emilio  del,  Vorrede  zum  musikdramatischen  Werke    Del'  anima 

e  del  corpox.    1600. 
Galilei,   Vincentio,  Dialogo  della  musica  antica  e  modena.    1581  (1.  Ausg.) 

1602  (2.  Ausg.). 
Gagliano,  M.,  Vorrede  zu  seiner  Oper    Dafne«.    1609. 
Doni,  J.  B.,   Sämtliche   Schriften   in   2   Bänden   herausgegeben   von  Ant. 

Francesco  Gort.  Florenz,  1762.    Dabei  Einzelnes  von  G.  Bardi  und  Pietro 

della  Valle. 
Grandini,  A.,   Valdrighi  F.,  e  Ferrari-Moreni,  H.,  Cronistorio  dei  teatri  di 

Modena  dal  1558  al  1871.     Modena,  1873. 
Eitner,  Sommer  u.  a.  m..  Die  Oper  in  ihren  ersten  Anfängen  bis  zur  Mitte 

des  18.  Jahrhunderts.     Enthalten  in  den  Publikationen  der  Gesellschaft 

für  Musikforschung.     Berlin  und  Leipzig,  Jahrgang  I— XXL 


Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Neapel. 

Florino,   Fr.,   Cenno  storice  sulla  scuola  musicale  de  Napoli.    Napoli,  1869. 
Catalani,  Angelo,  Delle  Opere  di  Alessandro  Stradella  esistendi  nell'  archivio 

musicale  R.  Biblitheka  Palatina  di  Modena.     Modena,  1866. 
Naumann,  E.,  Italienische  Tondichter.    Berlin,  1876. 


184  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Florimo,  Fr.,   La  scuola  musicale  di  Napoli  e  i  suoi  conservatorii  eon  uno 
squardo  sulla  storia  della  musica  in  Italia.    Napoli,  1880—82.    4.  tome. 

Villarosa,  March.  di,    Memorie   dei   compositori  di  musica  del  regno  di 
Napoli.    Napoli,  1840. 

Schletterer,  H.  M.,  Giovanni  Battista  Pergolese. 
Nr.  17  der  Sammlung  musikalischer  Vorträge. 


Litteratiir  über  die  Musikinstrumente. 

Die  Entwicklung  der  Instrumentalmusik  (vornehmlich  auf  dem 
Boden  Italiens)  vom  16.  Jahrhundert  an. 

Wasielewski,  W.  J.  v.,  Geschichte  der  Instrumentalmusik  im  16.  Jahrhundert 
mit  Abbildungen  von  Instrumenten  und  Musikbeilagen.     Berlin,  1878. 

Wasielewski,  W.  J.  v..  Die  Violine  im  17.  Jahrhundert  und  die  Anfänge  der 
Instrumentalkomposition.  Die  hierzu  gehörenden  Musikbeilagen  ent- 
halten 40  Instrumentalkompositionen  aus  dem  16.  und  17.  Jahrhundert. 
Bonn,  1874. 

Baryon,  Untersuchung  der  Instrumente  der  Lauten.    Nürnberg.  1727. 

Virdnng ,    Sebastian,    Musica    getutscht.     (Deutsche    Musik.)     Basel,    1511. 
(Befindlich  in  der  kgl.  Bibliothek  zu  Berlin,  sowie  in  der  k.  k.  Hofbib- 
liothek in  Wien.) 

Faksimile-Ausgabe  von  R.  Eitner  in  den  Publikationen  der  Gesellschaft 
für  Musikforschung.    Leipzig  u.  Berlin,  Jahrgang  I — XXI. 

Agricola,  Martin,  Musica  Instrumentalis.  Erste  Ausgabe :  Wittenberg,  1529. 
Zweite  Ausgabe:  1542.  (Die  kgl.  Bibliothek  in  Berlin  besitzt  beide  Aus- 
gaben, während  die  Wiener  und  Leipziger  Bibliothek  nur  die  erste  Aus- 
gabe besitzen.) 

Lafranco,  Giov.  Maria,  Scintille,  ossia  regola  di  musica  etc.    Brescia,  1522. 

Luscinius    Ottmarus,  (Nachtgall)  Musurgia  seu  praxis  Musicae.    1536. 

Fontego,  Silvestro  Ganasi  del,  Regola  Rubertina,  che  iusegna  suonare  de 
Viola  d'arco  tastada.    Venezia,  1543. 

Zacconi,  Ludovico,  Prattica  di  musica.    Venezia,  1592. 

Praetorius,  Michael,  Sjaitagma  musicum.  2  Bände.  Der  zweite  Band  er- 
schien 1619.  —  Syntagma,  2  Teile,  v.  d.  Instrumenten,  veröffentlicht  in 
den  Publikationen  der  Gesellschaft  für  Musikforschung.  Leipzig  u.  Berlin, 
(Jahrgang  I— XXI. 

Wasielewski,   W.  J.  v..  Die  Violine  und  ihre  Meister.    Leipzig. 

Niederheitmann,  Fr.,  Cremona.  Eine  Charakteristik  der  ital.  Geigenbauer 
und  ihre  Instrumente.    Leipzig,  1877. 

Diehl,  N.  L.,  Die  Geigenmacher  der  italienischen  Schule.     Hamburg,  1876. 

Felis,  F.  J.,  Antoine  Stradivari  etc.     Paris,  1856. 

Ambros,  A.  W.,  Die  italienischen  Organisten.  (In  dessen  Geschichte  der 
Musik<.    4.  Band,  von  Seite  434ff.).     Leipzig,  1878. 

Naumann.  F.,  Die  grofsen  Geiger  und  italienische  Sonatisten.  (In  dessen 
»Italienische  Tondichter    von  Seite  351  ff.    Berlin,  1876. 

Gerle,  Hans,  Musica  teutsch.  Nürnberg,  1532.  Dieses  Werk  erschien  14 
Jahre  später  in  vermehrter  Auflage;  dasselbe  befindet  sich  in  der  kgl. 
Bibliothek  zu  Berlin. 


Bibliographie.  185 

Judenkunig,  Hatis,  Ain  schöne  künstliche  underweisung  in  diesem  Buech- 
lein  leychtlich  zu  begreiffen  den  rechten  Grund  zu  lernen  auf  der  Lautten 
und  Geigen,  mit  vleiss  gemacht  von  Hans  Judenkunig,  pirtig  von 
Schwebischen  Gmünd  Lutenist,  jetzt  zu  Wien  in  Österreich.  1525.  (Be- 
findlich in  der  kaiserlichen  Bibliothek  in  Wien.) 

Ammerbach,  Orgeltabulaturbuch.  Dasselbe  ist  dem  theoretischen  Inhalte 
nach  eine  Schule  für  die  Tasteninstrumente  des  16.  Jahrhunderts  und 
giebt  über  die  Beschaffenheit  der  Klaviatur,  über  die  in  der  Tabalatur 
vorkommenden  Schriftzeichen  (Charaktere),  über  den  Fingersatz,  über 
die  Ausführung  der  Mordanten  und  Konkordanten,  sowie  über  das 
Stimmen  eines  Instrumenten  Aufschlui's.  1571.  (Befindlich  in  der  Leip- 
ziger Stadtbibliothek.) 

Schmid,  Bernhard,  der  Ältere,  Tabulaturbuch.     Strafsburg,  1577. 

Schmid,  Bernhard,  der  Jüngere,  Tabulaturbuch.    1607. 

Wyssenbach,  Rudolph,  Tabulaturbuch  uff  die  Lauten.     1550. 

Neusiedler,  Lauteubuch.     1535. 

Schlick,  Arnold,  Tabulaturen  etlicher  Lobgesang  und  liedlen  uff  die  Orgeln 
und  lauten.     1512. 

Lyon,  CL,  Jean  Guyot  dit  Castileti  celebre  musicien  wallon  du  XVI  e  siecle 
maitre  de  chapelle  de  S.  M.  l'empereur  d'Allemagne  Ferdinand  ler,  ne 
ä  Chatelet  en  1512  Conferences.     Charleroi,  1876. 

Schlick,  Arnold,  Spiegel  der  Orgelmacher  und  Organisten.  Heidelberg,  1511. 
(Neuerdings  veröffentlicht  von  R.  Eitner  in  den  Monatsheften  für  Musik- 
geschichte.   I.  Jahrgang,  1869,  5.  u.  6.  Heft. 

Roberti,  G.,  La  capella  regia  di  Torino  1515—1870.     Torino,  1880. 

Braegelmann,  B.,  De  scala  musica  impr.  organi  et  clavichordii  ab  Euro- 
paeis usurpata.     Bonn,  1864. 

Adlung,  J.,  Musica  mechanica  organoedi;  d.  i.  gründlicher  Unterricht  von 
der  Struktur,  Gebrauch  etc.  der  Orgeln,  Clavicymbel,  Clavichordien  und 
anderen  Instrumenten.    2  Bände  mit  vielen  Abbildungen.    Berlin,  1768. 

Laute,  die,  Beschreibung,  Geschichte,  Verfertigung  der  Laute.  Mit  Kupfern. 
Enthalten  in  Krünitz'  Encyklopädie  1780. 

Fanzago,  F.,  Orazione  delle  lodi  di  Gius.  Tartini.  Con  un  breve  compendio 
della  vita  del  medesimo.    Padova,  1770. 

Rangoni,  G.  B.,  Saggio  sul  gusto  della  musica  col  carattere  de  tre  celebri 
sonatori  di  violino  Nardini,  Lolli  e  Pugnani.  Livorno,  1790.  Französisch 
und  italienisch. 

Wasieleivski,  W.  J.  v.,  Die  Violine  und  ihre  Meister.  Leipzig,  1869  und 
weitere  Auflagen. 

Die  Weltherrschaft  der  italienischen  Oper,  sowie  der  italienischen 
Musik  überhaupt,  bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts. 

Polko,  E.,  Nicolo  Paganini  trad.  par  Ravasini.     Milano,  1876. 

Schütz,  F.  C.  J.,  Leben,  Charakter  und  Kunst  des  Ritters  Nicolo  Paganini. 

Ilmenau,  1830. 
Branca,    E.,    Feiice  Romani  ed  i  piu  riputati  maestri  di  musica  del  suo 

tempo;  cenni  biogr.  ed  anedod.     Torino,  1882. 


186  Die  Musikentwicklung  auf  dem  Boden  von  Italien. 

Zanolini,  C,  Biografio  di  Giacli.  Rossini.     Bologna,  1875. 
Pougin,  A.,  Verdi.    Sa  vie  et  ses  oeuvres.     Paris. 

Dasselbe  englisch  von  J.  E.  Matthew.    London. 

Dasselbe  deutsch  von  A.  Schnitze.    Leipzig. 
Robert,  O.,  Gasparo  Luigi  Pacifico  Spontini.    Berlin. 
Schottky,  Paganinis  Leben  und  Treiben.    Prag,  1830. 

Harry,  Paganini  in  seinem  Reisewagen  und  Zimmer.    Braunschweig,  1830. 
Stendhal,  Vie  de  Rossini.    Paris,  1821.    Deutsch  von  Wendt  (Rossinis  Leben 

und  Treiben).    Leipzig,  1821. 
Pougin,  A.,  Bellini,  sa  vie  et  ses  oeuvres.    Paris,  1868. 
Azevedo,  A.,  G.  Rossini,  sa  vie  et  ses  oeuvres.    Paris,  1864. 
B7'ighenti,  R,  Della  musica  Rossiniana  e  del  suo  autore.    Bologna,  1830. 
Majer,  A.,   Discorso  sulla  origine,  progressi  e  stato  attuale  della  musica 

itahana.    Padova,  1821. 
Hayr,  G.  S.,  Biografie  di  scrittori  e  artisti  musicali  Bergamaschi  nativi  etc. 

Bergamo,  1875. 
Miisica   italiana,    La,    nel    seculo    19;    richerche   di    Eleuterio    Pantalogo. 

Firenze,  1828. 
Narducci,  F.,    Di  Benedetto  Micheli  poeta,    musico  e  pittore  romano  del 

seculo  18.     La  liberta  romana.     Roma,  1878. 
Süvestri,  L.  S.,  Della  vita  e  delle  opere  di  Giach.  Rossini.    Milano,  1874. 
Trambusti,  G.,  Storia  della  musica  e  spezialmente  delF  italiana.  Velletri,  1867. 
Zacco,   T.,    Cenni   biografici    di   illustri    scrittori   e  compositori  di  musica 

Padovani.    Padova,  1840. 
Cherubini,  L.,  Biographie  desselben,  sowie  ästhetische  Darstellung  seiner 

Werke.     Erfurt,  1810. 
Cimai'osa,  D.,  Biographie  desselben,  sowie  ästhetische  Darstellung  seiner 

Werke.     Erfurt,  1810. 
Pa'isiello,    C,  Kurze  Biographie  desselben,   sowie  ästhetische  Darstellung 

seiner  Werke.     Erfurt,  1810. 
Pellstab,    L.,    Über   mein  Verhältnis    als  Kritiker   zu  Herrn  Spontini   als 

Komponisten  und  Generalmusikdirektor  in  Berlin.    Leipzig,  1827. 
Catalani-Volabregue,  A.,  Eine  biographische  Skizze.    Kassel. 
Naumayin,  E.,  Italienische  Tondichter  von  Palestrina  bis  auf  die  Gegen- 
wart.    Berlin,  1876. 
Siebigke,  Muzio  Clementi,  nebst  einer  kurzen  Darstellung  seiner  Manier.  1801. 
Seudo,  P.,   Der   Chevalier  Sarti  oder  musikalische  Zustände  Venedigs  im 

18.  Jahrhundert.     Übersetzt   und   mit  musikalischen  Anmerkungen  be- 
gleitet von  O.  Kade.    Dresden,  1858. 
Mosel,  J.  F.  V.,  Über  das  Leben  und  die  Werke  des  Anton  Salieri.  Wien,  1827. 
Edwards,  Life  of  Rossini.     Boston. 
Edwards,  Rossini  and  his  school.    New- York,  1881. 
Lafage,  J.  A.  de,  Memoria  intorno  la  vita  e  le  opere  di  Stanislaus  Mattei. 

Bologna,  1840. 
Gaspari,  G.,  La  musica  in  Bologna.    Milano. 
Gumprecht,    O.,    Rossini.     (Siehe    dessen    musikalische    Charakterbilder.) 

Leipzig,  1869. 


Bibliographie.  187 

Manfredini,    V.,  Difesa  della  musica  moderna  e  de'  suoi  celebri  esecutori. 

Bologna,  1788. 
Kestner,   A.,    Römische  Studien.    (Über    Catalani,    Paganini,    Rossini  etc.) 

Berlin,  1850. 
Souvenir  de  F.  Blangini.    (Maitre  de  Chapelle  du  roi  de  Baviere  etc.  1797.) 

Publ.  par  M.  de  Villemarest.    Paris,  1834. 
Stendhal,  Vies  de  Haydn,  de  Mozart,  et  de  Metastase.  Nouv.  Edit.  Paris,  1854. 
Tognetti,  Fr.,  Lettere  che  servono  di  appendice  al  suo  discorso  su  i  progressi 

della  musica  in  Bologna.     Bologna,  1819. 
Kohut,  A.,  Rossini.     (Musiker-Biographien.)     Leipzig. 
Niggli,  A.,  Faustina  Bordoni-Hasse. 

Nr.  21/22  der  Sammlung  musikalischer  Vorträge.    Leipzig. 
Roeder,  M.,  Über  den  Stand  der  öffentlichen  Musikpflege  in  Italien. 

Nr.  25  der  Sammlung  musikalischer  Vorträge.     Leipzig. 
Joachim,  G.,  Von  Rossini  bis  Mascagni.    (Ein  Bild  der  italienischen  Oper 

im  19.  Jahrhundert.)     Berhn,  1893. 
Guhr,  F.  W.,  Paganinis  Kunst  die  Violine  zu  spielen.    Frankfurt  a.  M.,  1831. 
Monaldi,    G.,   Giuseppe  Verdi  und   seine  Werke.     Übersetzt  von  Holthof. 

Stuttgart  u.  Leipzig,  1898. 
Pudor,  H.,  Zur  Erklärung  der  »Cavalleria  rusticana«  (Sicilianische  Bauern- 
ehre).    Dresden. 
Perinello,  C,  Giuseppe  Verdi.    Sein  Leben  und  seine  Werke. 
Conestahile,  G.,  Vita  di  Nicolo  Paganini.     Perugia,  1851. 
Pantalago,  Bleut.,  La  musica  italiana  nel  secolo  XIX.  Richerche  filosofico- 

critiche,    Firenze,  1828. 
Ein  Rivale  Glucks  (Piccini).     Siehe  »Die  Zeit«,  Wien,  Bd.  23,  Nr.  293. 
Über  Nicolo  Paganini.     Siehe   »Le  memorie  di  Nicolo  Paganini^.     L'IUu- 

stratione  italiana,  Jahrgang  25,  Nr.  42.    1898. 
Parazzi,  A.,   Della  Vita  e  delle  opere  musicali  di  Lodovico  Grossi-Viadana, 

inventore  del  basso-continuo  nel  sec.  XVI.    Milano,  1876. 
Ott,   J.,   115  weltliche  und  einige  geistliche  Lieder  mit  deutschem,  latein., 

franz.  und  ital.  Text  zu  4,  5  u.  6  Stimmen,  gesetzt  von  den  bedeutendsten 

Meistern  des  15.  und  16.  Jahrhunderts,  gesammelt  im  Jahre  1544.    Neue 

Ausgabe  in  Partitur  mit   beigesetztem    Klavierauszuge   von  R.  Eitner, 

L.  Erk  und  C.  Kade.    Berlin,  1873—75. 
Vernarecci,   A.,   Ottaviano  de  Petrucci  da  Fossombrone,  inventore  dei  tipi 

mobili  metallici  fuse  della  musica  nel  sec.  XV.    2.  Bd.     Bologna,  1882. 
Gerinello,  C,  Giuseppe  Verdi.    Berlin,  1900. 


BR.GHAMYOUNGUN-VERSl^ 


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