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ANATOMISCHE HEFEE
ERSTE ABTEILUNG.
ARBEITEN AUS ANATOMISCHEN INSTITUTEN.
ANATOMISCHE HEFTE,
BEITRÄGE UND REFERATE
ZUR
ANATOMIE UND ENTWICKELUNGSGESCHICHTE.
UNTER MITWIRKUNG VON FACHGENOSSEN
HERAUSGEGEBEN VON
FR. MERKEL UND R. BONNET
0. Ö. PROFESSOR DER ANATOMIE IN GÖTTINGEN 0. Ö. PROFESSOR DER ANATOMIE IN BONN.
ERSTE ABTEILUNG.
ARBEITEN AUS ANATOMISCHEN INSTITUTEN.
54. BAND (162., 163,, 164, HEFT).
MIT 49 TAFELN UND ZAHLREICHEN TEXTFIGUREN.
WIESBADEN.
VERLAG VON)JF.BERGMANN.
1917. ;
Nachdruck verboten.
Das Recht der Übersetzung in alle Sprachen, auch ins Russische und
Ungarische, vorbehalten.
Druck der Königl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. 6., Würzburg.
Inhalt.
162. Heft (ausgegeben im Juni 1916). Seite
R. Zander, Versuch der Erklärung eines Falles von seltener Lage-
abweichung des Colon descendes und des Colon sigmoideum
beim erwachsenen Menschen aus der Entwickelungsgeschichte
des Darmes. Mit 5 Figuren auf Tafel 12 . .. .... 1
Harry Sicher, Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea.
Mıt 20 Textabbildungen und 36 Figuren auf den Tafeln 3—6 51
H. Strahl, Über einen jungen menschlichen Embryo nebst Be-
merkungen zu Ü. Rabl's Gastrulationstheorie. Mit 1 Abbildung
in ext und 2. Abbildungen auf Tafel 8 Er
H. Triepel, Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus.
Chordulation. Mit 1 Textfigur und 11 Figuren auf Tafel 9/11 149
163. Heft (ausgegeben im September 1916).
Knud H. Krabbe, Histologische und embryologische Unter-
suchungen über die Zirbeldrüse des Menschen. Mit 28 Figuren
auiedenzfkafeln 12—-26:.: ...2° 02 2 ST
Th. E. Hess Thaysen, Über den Bau und die Entstehung der
Hasstra coli. Mit:15. Figuren im Text rer an
J. Sobotta, Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der
Säugetiere in den Eileiter und des Transportes durch diesen
in den Uterus. Mit 16 Figuren auf Tafel 27—34. . ... 5359
164. Heft (ausgegeben im April 1917).
Elisabeth Herzfeld, Über die Natur der am lebenden Tier
erhaltenen granulären Färbungen bei Verwendung basischer
und saurer Farbstoffe. Mit 3 Abbildungen im Text und 21 Ab-
hildungen, auf Tafel 35/367. 2.2 7a00. a re ee AA
Dr. Ruppricht, Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikular-
knorpel nebst Bemerkungen über das Os ceuboides secund.
Mit 26 Figuren auf den Tafeln 7—45 . . . 2. ..2......524
L. Grünwald, Die Nasenmuscheln des Menschen, dargestellt auf
Grund der Entwiekelung und des Vergleichs. Mit 52 Abbil-
dungen im Text und auf Tafel 46-49. . . . 2.....55
W. A. Mysberg, Über die Verbindungen zwischen dem Sitzbeine
und der Wirbelsäule bei den Säugetieren. Mit 6 Abbildungen
im Text ROTE een
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VERSUCH DER ERKLÄRUNG EINES FALLES VON SELTENER
LAGEABWEICHUNG DES COLON DESGENDENS UND DES CGOLON
SIGMOIDEUM BEIM ERWACHSENEN MENSCHEN AUS DER ENT-
WICKELUNGSGESCHICHTE DES DARMES.
VON
R. ZANDER,
KÖNIGSBERG ı. P.
Mü 5 Figuren auf Tafel 1/2.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd, H. 1).
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Friedrich Merkel
zum 5. April 1915
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Bei der Erklärung der Lage der Baucheingeweide an der
Leiche eines erwachsenen Mannes während der Präparier-
übungen im Winter 1912/1913 fand ich eine bis dahin von
mir noch nicht beobachtete Lageabweichung des Dickdarmes.
Die Durchsicht der Literatur, zu der mich die Beobachtung
veranlasste, bestätigte meine Annahme, dass es sich um ein
seltenes Vorkommnis handele. Bei der ausserordentlich grossen
Häufigkeit von Lageabweichungen des Dickdarmes war es mir
zweifelhaft, ob eine Veröffentlichung der Beobachtung von
Interesse wäre, und ich habe darum mit einer Mitteilung ge-
zögert. Schliesslich habe ich mich doch dazu entschlossen,
weil die eigentümliche Verlagerung des unteren Dickdarm-
abschnittes, die die wesentlichste Erscheinung dieses Falles
darstellt, mir nicht ohne praktisch medizinische Bedeutung
zu sein scheint, was mir auch von Chirurgen bestätigt wurde,
vor allem aber weil ich den Fall für geeignet halte, um eine
entwickelungsgeschichtliche Erklärung der abweichenden Ver-
hältnisse zu versuchen.
Nach Eröffnung der Bauchhöhle erblickte man die normal
aussehende Leber im rechten Hypochondrium und in der
Regio epigastrica, unter dem rechten Leberlappen einen Dick-
darmabschnitt, der einen kleinen oberen Teil der rechten Regio
abdominalis lateralis einnahm, den stark ausgedehnten Magen
in der gewöhnlichen Lagerung im linken Hypochondrium und
im Epigastrium und das wenig fetthaltige grosse Netz, das
bis zum kleinen Becken hinabreichte und seitlich in die Regiones
6 R. ZANDER,
abdominales laterales sich erstreckte. Nachdem das Netz em-
porgehoben war, fanden sich an der rechten Seitenwand der
Bauchhöhle und in der rechten Hälfte der Beckenhöhle mässig
geblähte Diekdarmabschnitte, während das mittlere Gebiet der
Bauchhöhle und die linke Seite der Bauch- und Beckenhöhle
von Dünndarmschlingen erfüllt waren. Sobald die Dünndarm-
schlingen herausgehoben waren, fiel zunächst der ungewöhn-
liche Verlauf der Radix mesenterii und des Dickdarmes von
der Flexura coli sinistra ab und das Fehlen des Dickdarmes
in der Regio abdominalis lateralis sinistra und in der linken
Fossa iliaca in die Augen (s. Fig. 1).
Die nähere Untersuchung ergab folgendes:
Das hufeisenförmige Duodenum hatte die übliche Lage
(vgl. Fig. 2): Seine Pars superior krümmte sich in der Höhe
des Körpers des ersten Lendenwirbels über die vordere Fläche
der rechten Niere hinweg zuerst nach oben, dann nach hinten
und rechts. Der absteigende Teil des Duodenums verlief, wie
sich nach Ablösung der Flexura coli dextra zeigte, an dem
lateralen Rande der unteren Hälfte der Niere. In der Höhe
zwischen zweitem und drittem Lendenwirbelkörper bog als-
dann das Duodenum um den unteren Nierenpol herum, zog,
medialwärts und ein wenig cranialwärts verlaufend, in der
Höhe des unteren Randes des Körpers des zweiten Lenden-
wirbels über die Mittellinie hinweg. Auf der linken Seite
der Wirbelsäule ging der Darm in stumpfem Winkel aus der
äufsteigenden in die rein quere Richtung über, die er 4 cm
weit einhielt. Darauf bog er, direkt in die entgegengesetzte
Richtung umkehrend, etwa 8 cm von der Mittelebene und
fast ebensoweit (7,5 cm) von der linken Seitenwand der Bauch-
höhle entfernt, unter ganz spitzem Winkel nach rechts zurück.
Diese Umbiegungsstelle des Dünndarms lag zwischen dem
oberen Pol der linken Niere und dem Colon transversum.
Die von hier aus in querer Richtung nach rechts zurück-
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum ete. 7
laufende Darmschlinge war mit ihrer hinteren Fläche durch
lockeres Bindegewebe an die vordere Fläche der dahinter ge-
legenen Darmschlinge befestigt. Die obere Hälfte ihrer vorderen
Fläche befand sich hinter dem Anheftungsrande des Mesocolon
transversum, die untere Hälfte unter ihm und dicht hinter
dem Peritonaeum parietale. Ihre untere Fläche grenzte eben-
falls an das Peritonaeum und sprang als Kante nach unten
zu vor. Der von Peritonaeum bedeckte Teil der Dünndarm-
schlinge bildete die dorsale Wand eines Recessus (vgl. Fig. 1-
und 3), den nach vorn das Mesocolon transversum, nach unten
eine Peritonaealfalte begrenzte, die am oberen Rande des Colon
transversum ca. 2 cm breit begann und, allmählich niedriger
werdend, schräg nach abwärts gegen die Mittellinie zu verlief
und in der Radix mesenterii verschwand. Der freie scharfe
bogenförmige Rand dieser Falte richtete seine Concavität nach
oben. Geöffnet war dieser Recessus nach rechts; sein blindes
Ende lag links, zwischen dem medialen Rand der Flexura
coli sinistra und der vorderen Fläche des oberen Nierenpoles.
Der Eingang zum Recessus hatte einen Durchmesser von
ca. 5 cm. Nachdem der ventrale Schenkel der querverlaufenden
Dünndarmschlinge, vor der Arteria und Vena mesenterica
superior hinziehend, die Mittellinie gekreuzt hatte (vgl. Fig. 2),
bog er 2 cm nach rechts von ihr nach vorn und unten um
und erhielt nun einen vollständigen Peritonaealüberzug.
Die Anheftungslinie des Mesenterium (vgl. Fig. 1) hatte
ihren oberen Fusspunkt rechts von der A. und V. mesenterica
superior an der rechten Seite des unteren Randes des Körpers
des zweiten Lendenwirbels. Sie wandte sich zunächst schräg
nach links und caudalwärts bis zur linken Seite des unteren
Randes des Körpers des dritten Lendenwirbels und bildete
dann einen flachen, nach rechts concaven Bogen, der an der
rechten Articulatio sacroilica die Linea terminalis erreichte.
Der Peritonaealüberzug der rechten Fläche des Mesenterium
8 R. ZANDER,
bog entlang der Anheftungslinie in das Peritonaeum parietale
der Rückwand um. Der Peritonaealüberzug der linken Fläche
des Mesenterium zog im obersten Abschnitt auf der Rück-
wand bis zur Radix des Mesocolon transversum und stellte
die Rückwand des vorher erwähnten Recessus dar. Es folgte
dann die dreieckige Peritonaealplatte, die von der Wurzel des
Mesenterium zum oberen Rande der Flexura coli sinistra sich
hinüberspannte und den Recessus von unten her begrenzte.
Vom unteren Rande des Körpers des dritten Lendenwirbels
ab war der Wurzel des Mesenterium der Colonabschnitt,
weicher von der Flexura coli sinistra schräg über die Rück-
wand hinweg gegen die rechte Articulatio sacroiliaca hin ver-
lief, dicht angelagert. Das Peritonaeum zog darum von der
linken Fläche des Mesenterium aus über die vordere Fläche
des Dickdarmes hinweg in das Peritonaeum parietale der
Rückwand. Das Mesenterium war demnach auf der linken
Seite niedriger als auf der rechten.
Die letzte Schlinge des Intestinum ileum stieg (vgl. Fig. 1)
vor der ventralen Fläche des Dickdarmes aus der Beckenhöhle
empor und mündete vor der Articulatio sacroiliaca dextra,
von unten nach oben und lateralwärts ziehend, in die mediale
Seite des Cäcum ein.
Das Cäcum war 41/, cm lang und erreichte mit seinem
unteren freien Rande, der medialwärts gekehrt war, die Linea
terminalis. Es war vollkommen von Peritonaeum bekleidet.
Hinter dem Cäcum und dem unteren Abschnitt des Colon
ascendens war eine sehr umfangreiche Peritonaealtasche von
11 cm Länge und 5 cm Breite vorhanden, die bis zur Crista
iliaca emporstieg. Die Rückwand dieser Tasche bildeten zwei
an der Fascia iliaca befestigte, einander parallel verlaufende
Dickdarmschlingen, die an der Crista iliaca ineinander um-
bogen. Die vordere Wand der Peritonaealtasche bildeten medial-
wärts das Cäcum, lateralwärts eine dünne Bindegewebsplatte,
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 9
die sich vom lateralen Rande des Cäcum zum Darmbeinkamm
erstreckte und von beiden Seiten mit Peritonaeum bekleidet
war, das an dem unteren freien Rande der Platte zusammen-
kam. Diese Verbindungsplatte des Cäcum mit der Seitenwand
der Bauchhöhle endigte mit einem freien sichelförmigen Rande,
der seine Concavität nach links gerichtet hatte. Zwischen der
medialen unteren Seite des Cäcum und dem Endabschnitt
des Illeum einerseits und der vorderen Fläche des oberen
Dickdarmschenkels in der Hinterwand der Peritonaealtasche
andererseits spannte sich eine Peritonaealplatte aus, deren
linker freier Rand mit dem unteren Ende des Mesenteriums
verschmolz und ins kleine Becken hinabzog, wo er im Peri-
tonaeum parietale verschwand. Diese Peritonaealplatte stellte,
nachdem der Dickdarm vom lleum aus mit Luft aufgeblasen
war, die linke Seitenwand der Peritonaealtasche dar.
Der Processus vermiformis ging von der hinteren Wand
des Cäcum ab in der Höhe des unteren Randes des Ileum
und 11/, cm lateralwärts von ihm. Er war 5!/, cm lang
und verlief quer lateralwärts an der hinteren Fläche des
Cäcums.
Das Colon ascendens stieg in der rechten Regio abdomi-
nalis lateralis zur Leber empor, bedeckte den lateralen Rand
der rechten Niere und bog an der unteren Fläche des rechten
Leberlappens in üblicher Weise spitzwinklig in das Colon
transversum um. Das Colon ascendens war nicht von der
Rückwand der Bauchhöhle abhebbar. Seine vordere und seine
beiden seitlichen Flächen waren von Peritonaeum überzogen,
seine hintere Fläche nur soweit, als die eben beschriebene
Peritonaealtasche emporstieg, nämlich bis zur Höhe der Crista
iliaca. Die Flexura coli dextra war durch eine ausgedehnte
Peritonaealfalte, die nahezu transversal verlief, mit der unteren
Fläche des rechten Leberlappens verbunden.
Das Colon transversum zog von der Flexura dextra nach
10 R. ZANDER,
vorn und unten zur Gegend des Nabels und stieg von hier
nach links und hinten zur Regio hypochondriaca sinistra
empor, wo es durch ein kurzes Ligamentum phrenicocolicum
an das Zwerchfell befestigt war. An der Spitze der 11. Rippe,
2 em von der seitlichen Bauchwand entfernt, dicht unter dem
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vorderen-unteren Pol der Milz bog das Colon spitzwinklig nach
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unten um.
Von hier aus verlief es schräg nach unten und rechts
über die vordere Fläche der Niere, die Aorta und die vordere
Fläche des fünften Lendenwirbels zu der Stelle, wo die rechte
Articulatio sacroiliaca an die Linea terminalis anstösst. Tänien
und Haustra, die am Cäcum, Colon ascendens und Colon
transversum die gewöhnliche Ausbildung zeigten, fehlten diesem
Dickdarmabschnitt. Seine Befestigung an der Rückwand war
so innig, dass es nicht von ihr abgehoben werden konnte.
Das Peritonaeum bedeckte nur seine vordere Fläche. Beim
Aufblasen des Darmes mit Luft vom Ileum aus wölbte sich
nur die Vorderfläche dieses Darmabschnittes ein wenig her-
vor. Die Ausdehnung erfolgte retroperitonaeal.
Um das untere Ende der Radix mesenterii herum krümmte
sich sodann das Colon in nahezu rechtem Winkel und stieg,
nachdem es die Vasa iliaca externa und den M. psoas ge-
kreuzt hatte, auf der linken Seite der Rückwand der grossen
Bauchfelltasche hinter dem Cäcum und Colon ascendens schräg
nach rechts und oben über die Mitte der Fossa iliaca dextra
bis zur Crista iliaca dextra empor. Dieser aufsteigende Dick-
darmabschnitt bog in der Höhe der Crista iliaca spitzwinklig
in einen absteigenden um, der jenem parallel auf der rechten
Seite der Bauchfelltasche im lateralen Teil der Fossa iliaca
vor- und lateralwärts von dem aufsteigenden Abschnitt herab-
zog. Dicht hinter dem Ligamentum inguinale kreuzte er den
M. psoas und die Vasa iliaca externa und trat dicht hinter
der Eminentia ileopectinea über die Linea terminalis ins kleine
11
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc.
Becken. Hier lag er an der rechten Seitenwand und zog
nach hinten und medianwärts, um an der Grenze vom dritten
und vierten Kreuzbeinwirbel in das Rectum überzugehen. Die
auf der rechten Darmbeinschaufel emporsteigende linke Dick-
darmschlinge war im unteren Abschnitt auf ihrer rechten und
hinteren Fläche von Peritonaeum überzogen. Die an ihrer
hinteren Wand gelegene Abzweigung der Bauchfelltasche (vgl.
Fig. 4) breitete sich nach links aus und drang unter dem
Peritonaeum parietale bis zum Ureter vor. Die rechte ab-
steigende Diekdarmschlinge war an der Rückwand durch Binde-
gewebe fixiert und nur an der vorderen und den seitlichen
Flächen von Peritonaeum überzogen. Der Dickdarmteil, der
um die Linea terminalis sich krümmte, war an der Becken-
wand breit angeheftet. Innerhalb der Beckenhöhle besass er
ein niedriges (1 cm), sehr dickes Mesocolon.
Das Rectum war wieder fest angeheftet.
Auch dieser ganze Dickdarmabschnitt besass keine deut-
lich ausgebildeten Tänien und Haustra.
Eine ganz ungewöhnliche Ausbildung und Gestaltung
wiesen die Appendices epiploieae auf. Am Übergang des
Peritonaeum viscerale in das Peritonaeum parietale- am late-
ralen Rande des schräg absteigenden Colonteiles, an den
beiden einander zugekehrten Schenkeln des in der Peritonaeal-
tasche gelegenen Colonabschnittes und an der hinteren Seite
des Beckenabschnittes des Diekdarms sassen Appendices epi-
ploicae von lappenförmiger Gestalt, die mit quergestellter breiter
Basis von der Darmwand und dem angrenzenden Peritonaeum
parietale ausgingen und sich gegen ihren gelappten, in mehrere
Zipfel auslaufenden freien Rand hin verbreiterten. Zumeist
hatten sie die Form ungleichseitiger Vierecke, deren Basis
am kürzesten und deren eine freie Seite am längsten war.
Die Basis mass 3—4 cm, die längste Seite 6—7 cm. Einzelne
Appendices hatten dreieckige Gestalt. Ihre Zahl war beschränkt.
12 R. ZANDER,
Das von der Flexura lienalis aus schräg absteigende Stück
besass, und zwar nur in seinem unteren Abschnitt, fünf
solcher gewaltigen Appendices. Am linken Colonschenkel in
der rechten Fossa iliaca waren zwei vorhanden, am rechten
fünf.
Das Colon ascendens besass vier Appendices. Sie waren
vom medialen Rande der Taenia libera aus quer gegen die
mediale Anheftungslinie des Darmes hin, die sie indessen
nicht erreichten, angeheftet. Bei den grössten dieser Appen-
dices war die Basis 4 cm, die gegenüberliegende freie Seite
6 cm und die beiden verbindenden Seiten 4 und 8 cm lang.
Die mediale Seite des Cäcum wies eine einzige kleine Appendix
auf. Die von der hinteren Fläche des Cäcums ausgehende,
mit dem unteren Ende der Radix mesenterii verschmolzene
Peritonaealfalte trug auf ihrem freien Rande eine mittelgrosse
lappenförmige Appendix.
In der Abbildung Fig. 1 sind die Appendices epiploicae
weggelassen, um das Wesentliche des Falles möglichst deut-
lich hervortreten zu lassen.
Anzeichen von abgelaufenen entzündlichen Vorgängen an
dem Bauchfell konnten nicht nachgewiesen werden.
Das Wesentliche des vorliegenden Falles ist das ab-
weichende Verhalten des Anfangsteiles des Dünndarmes und
des Endabschnittes des Dickdarmes.
Die Pars ascendens duodeni krümmte sich nicht wie ge-
wöhnlich auf der linken Seite der Vasa mesenterica superiora
nach vorn zur Flexura duodenojejunalis, sondern setzte sich
in eine Darmschlinge fort, die in transversaler Richtung gegen
die Flexura coli sinistra hin verlief und alsdann bis rechts von
den Vasa mesenterica superiora zurückverlief, um dort sich
nach vorn zu wenden und den vollständigen Peritonaealüber-
zug zu erhalten. Als Anfang des Jejunum bezeichnet die be-
schreibende Anatomie die Stelle des Dünndarmes, wo er ein
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 13
freies Mesenterium erhält. Es kann keinem Zweifel unter-
liegen, dass in dem vorliegenden Falle der Anfang des
Jejunums nicht an der Stelle, wo das Mesenterium beginnt,
gelegen war, sondern da, wo die Pars ascendens duodeni
aus der aufsteigenden Richtung links von der Wirbelsäule
in die transversale umbog. Es handelte sich also um eine
abnorme Schlingenbildung des Jejunum innerhalb des retro-
peritonaealen Bindegewebes.
Die eigentümliche Gestaltung der Anheftungslinie des
Mesenteriums ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass
ihr oberer Fusspunkt nach rechts verschoben war.
Die Lage der Dünndarmschlingen konnte leider nicht sicher
festgestellt werden. Es wurde zu spät auf sie geachtet, weil
die Abweichungen erst nach dem Herausheben der Dünndarm-
schlingen bemerkt worden waren.
Die Deutung der Befunde am Diekdarm bot keine Schwierig-
keit. Cäcum, Colon ascendens und Colon transversum wiesen
die gewöhnlichen Verhältnisse auf. Der Dickdarmabschnitt,
der von der Flexura coli sinistra aus nach der rechten Arti-
culatio sacroiliaca zog, war nur als abnorm verlaufendes Colon
descendens aufzufassen. Die beiden Diekdarmschlingen, welche
hinter dem Cäcum und Colon ascendens in der rechten Darm-
beinschaufel lagen und der Darmteil, der über die rechte Linea
terminalis in die Beckenhöhle hinabstieg, waren nur als Colon
sigmoideum zu deuten.
Von Besonderheiten des Peritonaeums war vor allem die
ungewöhnlich umfangreiche Taschenbildung hinter dem Cäcum
und Colon ascendens (siehe oben S. 8) beachtenswert. Es
handelte sich offenbar um einen ganz ausserordentlich weiten
Recessus retrocaecalis, der sich in einen Recessus retrocolicus
fortsetzte. Diese Bezeichnungen sind von Broesiket) vor-
2) Broesike, G., Über intraabdominale (retroperitoneale) Hernien und
Bauchfelltaschen nebst einer Darstellung der Entwickelung peritonealer For-
mationen. Berlin 1891. p. 62.
14 R. ZANDER,
geschlagen und wohl allgemein übernommen worden. Freilich
soll nach Broesike dieser Recessus zwischen Cäcum und
Colon ascendens und der hinteren Bauchwand gelegen sein,
während in meinem Falle die Schlingen aes Colon sigmoideum
die Rückwand bildeten. Doch ist dieser Zustand offenbar ein
secundärer.
Die Verbindungsplatte der lateralen Wand des Cäcum und
Colon ascendens mit der lateralen Bauchwand entspricht wohl
der Bildung, die Broesike als Ligamentum oder als Plica
parietocaecalis bzw. parietocolica bezeichnet hat, und für die
jetzt die Bezeichnung Plica caecalıs in Gebrauch ist.
Die Falte, in welche die Verbindungsplatte zwischen Cäcum
und Ileum und Colon sigmoideum nach unten ausging, ist wohl
mit der von Broesiket) als Plica angularıs und von Jon-
nesco als Plica mesenterico parietalis bezeichneten Bildung
zu identifizieren.
Schwieriger zu deuten waren die Falte und der Recessus
rechts von der Flexura coli sinistra (vgl. oben S. 7). Ich
möchte die Peritonaealfalte zwischen der Radix mesenterii
und dem oberen Rande des linken Endes des Colon trans-
versum mit Rücksicht auf ihre Lage als Plica mesenterico-
colica bezeichnen. Möglicherweise entspricht sie der Plica
inframesocolica transversa Broesikes. Broesike?) schlug
diesen Namen für eine Falte vor, „welche die untere Fläche
des Mesocolon transversum mit der Flexur und der Wurzel-
linie des Mesojejunum verbindet‘ und die vordere Wand einer
von ihm 6 mal beobachteten Bauchfelltasche von respektabler
Grösse bildet. Diese Tasche war in drei Fällen gänzlich rechts
von der Flexura duodenojejunalis gelegen und hätte somit
ohne weiteres als Recessus duodenojejunalis dexter bezeichnet
werden können, wenn sich nicht in den drei anderen Fällen
das blinde Ende noch oberhalb der Flexur zwischen die letztere
und das Mesocolon transversum beträchtlich nach links hin-
übergeschoben hätte. Aus diesem und aus genetischen Gründen
schlug Broesike für diese Tasche die Bezeichnung Re-
cessus intermesocolicus transversus vor, weil sie sich gewisser-
massen von rechts nach links in die Wurzel des Mesocolon
transversum hineinschiebt und in transversaler Richtung ver-
läuft. Die Eingangsöffnung dieser Tasche ist somit rechts,
ihr blindes Ende links gelegen. Ihre obere bzw. hintere Wand
wurde von dem Mesocolon transversum und dem Pankreas,
die untere Wand von dem oberen Abschnitt der Pars ascendens
duodenı und der Flexura duodenojejunalis gebildet. ‚Das
blinde Ende des Recessus erstreckte sich in drei Fällen bis vor
die Vorderfläche der linken Niere.“ In allen von Broesike
beobachteten Fällen lag die Flexura duodenojejunalis sehr weit
links. „In einem von diesen Fällen zog der Darm von der
weit nach hinten gelegenen Flexur zunächst in transversaler
Richtung nach rechts bis an die Wirbelsäule, um erst dort
ein Mesenterium zu bekommen, somit nach der landläufigen
Terminologie in das Jejunum überzugehen. An dieses trans-
versale Übergangsstück zwischen Duodenum und Jejunum in-
serierte sich alsdann erst die Plica inframesoeolica.‘“ Offen-
bar entspricht mein Fall dieser zuletzt angeführten Beobachtung
Broesikes. Da von einer Verlagerung des Duodenums nichts
erwähnt wird, so ist wohl anzunehmen, dass die vonBroesike
als Flexura duodenojejunalis gedeutete Umbiegung des Dünn-
darmes wie in meinem Falle eine Umbiegung des Jejunums
darstellte. Ich trage nicht Bedenken, den von mir beobachteten
Recessus den von Broesike als Recessus intermesocolicus
transversus bezeichneten Peritonaealtaschen zuzurechnen.
Broesike konnte in keinem der sechs Fälle „peritonitische
Residuen oder sonstige Adhäsionen‘“ konstatieren, was auch
für meine Beobachtung zutrifft (vgl. oben S. 12).
16 R. ZANDER,
Die transversale Peritonaealfalte zwischen Flexura coli
dextra und unterer Fläche des rechten Leberlappens in meinem
Falle (vgl. oben $. 9) konnte ebenfalls nicht auf entzünd-
liche Vorgänge zurückbezogen werden und wurde von mir
als ungewöhnlich grosses Ligamentum hepatocolicum auf-
gefasst.
Die Untersuchung der Blutgefässe des Darmkanales in
meinem Falle ergab nichts Besonderes, ist aber mit Rücksicht
auf die ungewöhnliche Lagerung des Dickdarmes nicht ohne
Interesse.
Die A. und V. mesenterica superior traten, wie oben
(S. 7) gezeigt wurde, auf der linken Seite des oberen Endes
der Radix mesenterii hervor. Die A. ileocolica und die
A. colica dextra entsprangen aus einem gemeinsamen Stamm,
die A. colica media verhielt sich wie gewöhnlich.
Die A. mesenterica inferior (vgl. Fig. 5) gab bald nach
ihrem Austritt aus der Aorta die unter spitzem Winkel zurück-
verlaufende A. colica sinistra ab. Diese zog in leicht welligem
Verlauf gegen die Flexura coli sinistra, bog hier nach rechts
um und verband sich mit der A. colica media. Auf dieser
Strecke gab sie mehrere starke Zweige an das Colon descendens
ab. Einer dieser Zweige lieferte einen rücklaufenden Seiten-
zweig, der am rechten Rande des Colon descendens verlief
und sich mit einem aufsteigenden Zweige der linken A. sig-
moidea verband. Dieses Gefäss könnte als Ramus descendens
der A. colica sinistra aufgefasst werden.
Von der Rückseite der A. mesenterica inferior ging die
A. haemorrhoidalis superior hervor; ihr Stamm wandte sich
leicht nach links und teilte sich in eine linke und eine rechte
A. sigmoidea.
Die linke A. sigmoidea zog rechts von der A. haemor-
rhoidalis superior nach unten, gab links einen starken Ast
ab, der zum rechten Rande des Colon descendens zog, längs
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum ete. 17
desselben emporstieg und in den Ramus descendens der
A. colica sinistra überging. Das Endstück der linken A. sig-
moidea teilte sich dicht oberhalb der Umbiegung des Colon
descendens in den Colonschenkel des Colon sigmoideum in
einen linken Zweig, der zum Colon descendens zog, und in
einen rechten, der in der hinteren Wand des Colonschenkels
emporstieg.
Die rechte A. sigmoidea zog cranialwärts von der linken
auf das Colon ascendens zu und verlief dann, hinter dem
Colonschenkel hinweg, zum Rectumschenkel des Colon sig-
moideum, hinter dessen Rückwand sie sich in einen aufsteigen-
den und in einen absteigenden Zweig teilte.
Die A. haemorrhoidalis superior zog in direkter Fort-
setzung des Anfangsstückes der A. mesenterica inferior nach
unten, anfangs gedeckt von der A. mesenterica inferior, dann
links von der linken A. sigmoidea, hinter der Rückenfläche
des Colon descendens ein wenig links von der Articulatio
sacroiliaca in die Beckenhöhle. Dicht unterhalb der Linea
terminalis gab sie nach rechts einen Zweig zum Rectumschenkel
des Colon sigmoideum ab und zog dann zum Rectum hinab.
Die Venen verliefen. entsprechend den Arterien.
Die Annahme, dass in meinem Falle eine Hernia retro-
caecalis vorliege, zu der ich beim ersten Anblick kam, erwies
sich bei näherer Betrachtung des Präparates als unhaltbar.
Die Weite des Einganges des Recessus retrocaecalis und die
Anordnung des Peritonaeums sprachen dagegen. Ausserdem
zeigte sich, dass beim Aufblasen des Dickdarmes mit Luft
vom Ileum aus das Cäcum und die beiden Schenkel des Colon
sigmoideum trotz stärkster Ausdehnung doch nicht am Ein-
gang des Recessus eine Einschnürung erfuhren. Es handelt
sich, wie ich unten zeigen will, wahrscheinlich nicht um ein
Eindringen des Colon sigmoideum in den Recessus, sondern
um Vorlagerung des herabwachsenden Cäcum und Colon
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162, Heft (54. Bd. H. 1). 2
18 R. ZANDER,
ascendens vor das in der rechten Fossa ilıaca fixierte Colon
sigmoideum.
Eine Beobachtung, die mit der meinen vollkommen hin-
sichtlich des Verhaltens des Dickdarmes übereinstimmt, habe
ich in der Literatur nicht finden können. Dagegen gibt es
einige Mitteilungen, in denen das Fehlen des Colon in der
linken Regio abdominalis lateralis und Fossa iliaca beschrieben
wird, was von praktisch medizinischer Bedeutung ist.
Hamdy und Sorour!) berichteten 1909 über ‘einen
Fall, in dem das Colon descendens ebenfalls von der Flexura
coli sinistra an schief nach unten und medianwärts fast in
gerader Linie zur lleocäcalvereinigung zog. Das Colon des-
cendens berührte dabei zunächst das Endstück des Duo-
denums?), dann die Radıx mesenterii und unten das Ende
des Ileum und den Processus vermiformis und war nur an
seiner vorderen Fläche von Peritonaeum bedeckt. Das stark
ausgedehnte Colon sigmoideum bildete eine an der rechten
Seite der Bauchhöhle gelegene umgekehrt U-förmige Schlinge,
die das Cäcum vollkommen verdeckte. Die Wurzel des Meso-
colon sigmoideum war in Berührung mit dem Cäcum. Zwischen
beiden war eine tiefe schmale Spalte, die von dem Processus
vermiformis eingenommen und zum Teil von einer Peritonaeal-
falte bedeckt wurde, die vom Mesocolon sigmoideum zur
vorderen Fläche des Ileum und Cäcum zog. Die ganze linke
Bauchseite enthielt unterhalb der Ebene der Nieren keinen
Diekdarm, sondern nur Dünndarmschlingen.
Aus der kurzen Beschreibung des Falles, die durch eine
schematische Abbildung vervollständigt wird, lässt sich ent-
nehmen, dass das Verhalten des Colon descendens dem in
!) Mahmud Hamdy and Mustafa Fahmy Sorour, On a Case of
Displacement of the Descending Colon. Journal of Anatomy and Physiology
Vol. 43. 1909. p. 242—243. 1 Fig.
®) Nach der Zeichnung die Flexura duodenojejunalis.
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 19
meiner Beobachtung vollkommen entspricht, während die Lage-
beziehungen des Colon sigmoideum und des Cäcum) umge-
kehrte sind: in dem Falle von Hamdy und Sorour lag das
Colon sigmoideum ventralwärts vom Cäcum und Colon as-
cendens, in meinem Falle dorsalwärts.
Sehr ähnliche Verhältnisse schildert wahrscheinlich eine
Mitteilung von P. Aglavet), die mir leider im Original nicht
zugängig war und von der ich auch kein Referat aufzufinden
vermochte.
. Cruveilhier?) beschreibt in seinem Lehrbuch der Ana-
tomie als „sehr bemerkenswerte Anomalie“ folgenden Fall:
Bei einer Person, deren Colon ascendens und transversum
normale Anordnung zeigten, zog das Colon descendens statt
senkrecht nach unten schräg von oben nach unten und von
links nach rechts und senkte sich in die Dicke des Anheftungs-
randes des Mesenteriums ein, wobei es vor der Portio trans-
versa des Duodenum verlief. Darauf legte es sich an das
Cäcum an, um sich dann ins kleine Becken zu senken.
Cruveilhier meint, dass hier das Colon sigmoideum fehlte
und das Rectum sich an das Colon descendens unmittelbar
anschloss.
Dieser Fall und der meinige haben den schiefen Verlauf
des Colon sigmoideum gemein.
Einen weiteren Fall von Schrägverlauf des Colon des-
cendens von der linken Flexura coli an hat Toldt?) be-
obachtet. An einer Leiche, deren Leber, Magen und Duo-
denum sich normal verhielten, zeigte der ungewöhnlich kurze
!) Aglave, P., Presence simultande de l’S iliaque et du coecum dans la
fosse iliaque droite adherente entre eux et A la fosse iliaque. Bull. et mem.
Soc. anat. Paris. Juillet 1906.
2, Cruveilhier, J., Trait d’anatomie descriptive. IIe Edit. Paris 1843
Tome 3. p. 348.
®) Toldt, C., Die Darmgekröse und Netze im gesetzmässigen und im
gesetzwidrigen Zustand. Mit 8 Tafeln. Denkschriften der Wiener Akademie
der Wissenschaften. Math.-nat. Klasse. 56. Bd. p. 1-46 ($. 43). Wien 1889.
9*
20 R. ZANDER,
Dickdarm folgende Lage: Der Blinddarm war unmittelbar unter
dem rechten Leberlappen an das Duodenum und an das Perito-
naeum parietale vor der rechten Niere angeheftet. Das untere
Ende des lleum, das in der rechten Darmbeinschaufel fest-
geheftet war, stieg von da bogenförmig zum Cäcum empor.
Der dem Colon ascendens entsprechende Dickdarmteil zog an
der unteren Fläche der Leber schräg aufwärts zur Mittellinie.
Sein Gekröse war an die vordere Fläche des Duodenalgekröses
angewachsen. Das Colon transversum erstreckte sich mit
freiem Gekröse von der Mittellinie nach links und oben .bis
zu der an normaler Stelle gelegenen Flexura coli sinistra. Von
dieser aus zog das Colon descendens schief nach unten gegen
die Wirbelsäule, lagerte sich dann vor derselben dicht an
die Haftlinie des Dünndarmgekröses und stieg mit diesem innig
verschmolzen bis an das Promontorium herab, wo es rechts
von der Mittellinie in das Colon sigmoideum überging. Im
Bereiche des Colon descendens war ein Mesocolon nicht dar-
stellbar. Die beiden Schlingen des Colon sigmoideum lagen
im Becken. Sie waren durch eine kurze Bauchfellbrücke der-
art unter sich verbunden, dass sie mit ihrem eigenen freien
Gekröse eine tiefe - trichterförmige Bucht begrenzten. Die
A. mesenterica inferior entsprang an normaler Stelle, zog aber
in der Mittellinie vor der Aorta gerade nach unten und gab
an der Teilungsstelle der Aorta die A. colica. sinistra ab und
zerfiel bald darauf in zwei Zweige für das Colon sigmoideum
und für das Rectum. Die A. colica sinistra zerfiel sehr bald
in einen aufsteigenden und absteigenden Ast, die senkrecht
neben der Mittellinie und unmittelbar am Colon descendens
verliefen, dem sie eine Reihe von Zweigen lieferten.
Toldt führte ausser dieser eigenen Beobachtung zwei
von Valleix und von Mascarel beschriebene Fälle an,
in denen das Colon descendens neben dem Colon ascendens
auf der rechten Bauchseite lag.
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 21
Valleix!)fand an der Leiche eines 8 Tage alten kräftigen
Knaben mit doppelter Hasenscharte das Cäcum in der rechten
Leistengegend an dem Mesenterium des Dünndarms hängend.
Von da stieg der Dickdarm etwas in die Höhe und bog dann
nach links um. Sobald er die Mittellinie erreicht hatte, bog
er um und verlief wieder nach rechts zurück und ging dann
unter mehrfacher Schlingenbildung in das auf der rechten
Seite gelegene Colon sigmoideum über. Die Milz fehlte und
die Leber war transponiert.
Die Beobachtung von Mascarel?) wurde an der Leiche
einer 51 Jahre alten Frau erhoben. Das Colon transversum
wandte sich in der Gegend der Gallenblase mit einer Schlinge
nach rechts zurück, so dass das. Colon descendens auf der
rechten Seite parallel dem Colon ascendens zu liegen kam.
Das Colon sigmoideum lag neben dem Cäcum und das Rectum
befand sich am gewöhnlichen Platz. Die Dünndärme nehmen
die linke Lenden- und Darmbeingegend ein.
Das Gemeinsame der Beobachtungen von Hamdy und
Sorour, Cruveilhier, Toldt, Valleix und Mas-
care] und meiner Beobachtung ıst das Fehlen von Dickdarm
in der Regio ilıaca und abdominalis lateralis sinistra. Dass
diesem Umstande eine gewisse praktische Bedeutung zukommt,
ist klar. Handelt es sich doch gerade um das Gebiet, in dem
am häufigsten der Anus praeternaturalis angelegt zu werden
pflegt.
Die Erklärung für das Zustandekommen dieser Verlage-
rung des Colon descendens und des Colon sigmoideum nach
rechts ist nicht für alle sechs Beobachtungen die gleiche.
Die beiden Fälle von Valleix und Mascarel unter-
} !) Valleix, Bulletins de la societe anatomique de Paris 9e ann&e (1834).
Editio II. Paris 1852. p. 264 (zitiert nach Toldt).
?) Mascarel, Bulletins de la societe anatomique de Paris. 15e annde
(1840) p. 215 (zitiert nach Toldt).
22 R. ZANDER,
scheiden sich von den vier anderen dadurch, dass die Um-
biegungsstelle des querverlaufenden Colon in das absteigende
nicht links, sondern rechts von der Mittellinie sich fand.
Die aus dem dorsalen Abschnitt des cranialen Schenkels
der primären Darmschlinge entstehenden Schlingen des Je-
junum schieben sich nach links und hinten unter Leber und
Magen und drängen dabei die Flexur und das Colon des-
cendens mit ihrem Mesocolon nach links. Schon in der zweiten
Hälfte des vierten Embryonalmonates, meistens jedoch erst
im Beginn des fünften kommt es dann zu einer Verwachsung
zwischen der ursprünglichen linken Fläche des Colon des-
cendens und dem Peritonaeum parietale an der Stelle, wo
Niere und Nebenniere sich am stärksten vorwölben.
Wenn nun in den Beobachtungen von Valleix und
Mascarel das Colon transversum in der Mittellinie bzw.
in der Gegend der Gallenblase umbog und nach rechts ver-
lief, so kann dies nur dadurch zustande gekommen sein, dass
die Verlagerung in umgekehrter Richtung stattgefunden hat.
Veranlasst könnte das sein durch eine abweichende Bildung
der Leber oder durch eine ungewöhnliche Lagerung der Dünn-
darmschlingen. Im Falle Valleix ist im Referat von Toldt
ausdrücklich angegeben, dass die Leber ‚transponiert‘ war.
Ob Valleix nähere Angaben über die Transposition der
Leber gemacht hat, weiss ich nicht, weil die Arbeit mir nicht
zugänglich war. Aus dem Referat über den Fall Mascarel
kann ich wegen der Unvollständigkeit des Sektionsbefundes
mir kein Urteil über die Entstehungsweise der Abweichungen
bilden. Auch diese Arbeit konnte ich nicht im Original ein-
sehen.
In den vier von Cruveilhier, Toldt, Hamdy' und
Sorour und mir "beobachteten Fällen ist der überein-
stimmende Befund der schräge Verlauf des Colon descendens.
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 23
Nach den Angaben von Toldt!), die ich auf Grund
von neuerdings ausgeführten Untersuchungen an einer Reihe
menschlicher Feten vom vierten Entwickelungsmonat ab in
allen wesentlichen Punkten durchaus bestätigen kann, schreitet
die Verwachsung des Colon descendens vom Anfang des
fünften Monats an nach unten zu fort. Gewöhnlich ist das
Mesocolon descendens im sechsten Monat noch vom unteren
Nierenpole ab frei und verschmilzt mit dem Peritonaeum parie-
tale bis zum Ende der Fetalzeit mehr oder weniger weit unter
dem Darmbeinkamm hinab.
Die Entstehungszeit der Schräglagerung des Colon des-
cendens ist hiernach auf die Entwickelungszeit vom Anfang
des fünften Monats ab zu verlegen. Die veranlassende Ursache
kann wohl nur ein Zug an dem unteren Ende des Colon
descendens nach rechts oder seine Verdrängung aus der linken
Fossa iliaca sein.
Eine solche Zugwirkung wird nun durch den von mir
beobachteten Fall in überzeugender Weise demonstriert. Auf
der rechten Darmbeinschaufel waren die beiden Schenkel des
Colon sigmoideum fixiert. Das Colon descendens, das an
beiden Enden, oben an der Flexura coli sinistra, unten durch
Vermittelung des cranialen Schenkels des Colon sigmoideum
an der rechten Fossa iliaca befestigt war, musste, sobald
diese beiden Stellen infolge des Längenwachstums auseinander-
rückten, in Schrägstellung geraten, falls das Längenwachstum
vor der Verwachsung des Colon descendens mit der Rücken-
fläche der Bauchwand eintrat, also vor dem sechsten Ent-
wickelungsmonat.
Die Voraussetzung, dass zu diesem Zeitpunkt auch die
abnorme Befestigung des Scheitels des Colon sigmoideum in
1) Toldt, C., Bau und Wachstumsveränderungen der Gekröse des mensch-
lichen Darmkanales. Denkschriften der Wiener Akademie der Wissenschaften.
Mathem.-naturw. Klasse, 41. Bd. 1979. 56 Seiten. 2 Tafeln.
24 R. ZANDER,
der Fossa iliaca dextra schon vorlag, widerspricht nicht tat-
sächlichen Verhältnissen.
Seit Winslow!t) zuerst darauf aufmerksam gemacht hat,
dass die Schlinge des Colon sigmoideum bis auf die rechte
Seite des Beckens reichen kann, und seit Meckels?) An-
gabe, dass sie bisweilen mit dem Cäcum verwachsen ge-
funden werde, ist immer wieder und wieder in anatomischen
Handbüchern und Sonderarbeiten auf dieses Vorkommnis hin-
gewiesen worden. Engel?°) fand unter 100 Leichen die
Schlinge des Colon sigmoideum sechsmal vor dem Blinddarm.
Gysi®), der vor kurzem an 100 Leichen Erwachsener das
Colon sigmoideum untersuchte, beobachtete diese Lagerung
niemals. Ich selbst habe seit 35 Jahren auf Lageabweichungen
des Colon sigmoideum mein Augenmerk gehabt. Im Beginn
meiner anatomischen Tätigkeit erlebte ich bei einer mir nahe-
stehenden Person den unglücklichen Ausgang einer Darm-
operation, der darauf zurückzuführen war, dass eine Lage-
anomalie des Colon sigmoideum nicht richtig erkannt worden
war. Seitdem habe ich bei der Erläuterung der Lage der
Baucheingeweide meine Schüler stets auf die wechselvolle
Lage und Gestaltung des Colon sigmoideum und seine zahl-
reichen Varietäten mit Rücksicht auf ihre praktische Bedeu-
tung hingewiesen. Meine Beobachtungen beziehen sich auf
mehr als 1000 Leichen Erwachsener. Leider kann ich keine
zahlenmässigen Angaben über meine Befunde machen, weil
!) Jaques-Benigne Winslow, Expositions anatomiques de la struc-
ture du corps humain. Nouvelle edition. Amsterdam 1752. p. 341.
®2) Meckel, J. F., Handbuch der menschlichen Anatomie. 4. Bd, Halle
und Berlin 1820. p. 287.
®) Engel, Einige Bemerkungen über Lageverhältnisse der Baucheinge-
weide im gesunden Zustande. Wien. med. Wochenschr. VII. Jahrgang 1857.
Nr. 30, 32, 33, 35, 37, 39, 41. p. 573.
*) Gysi, H., Variationen und Anomalien in der Lage und dem Verlauf
des Colon pelvicam. Arch. f. Anat. u. Physiolog., Anat. Abt. Jahrg. 1914.
p. 157—188. 4 Tafeln.
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 1.
Omentum majus
emporgeschlagen
‚olon transversum,
emporgeschlagen
Jejunum Jejunum
Recessus Flexura coli sin.
A. coliea media
—_ Ansatzstelle des
Mesenterium
A. colica dextra ___ — A. colica sinistra
Colon ascendens
A. ileocolica Colon descendens
A. sigmoidea A. haemor-
-rhoidales sup.
A. sigmoidea
Caecum
Eingang zum
Recessus retro-
caecalis
Plica caecalis —
Ileum
- Fossa iliaca
Rektumschenkel /
des Colon /
sigmoideum
Rektum
Colonschenkel des
Colon sigmoideum
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden,
ER
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft -(54. Bd,, H. 1),
Fig. 2.
Pankreas
Duodenum __
erste Schlinge
” des Jejunum
>...
erste freie Schlinge
= A. mesenterica sup.
des Jejunum
- V. mesenterica sup.
IS e
Pars ascendens duodeni
ea
Pankreas __ y2 Ä
6 5
Dorsaler Schenkel der _
ersten Jejunumschlinge Mesocolon
Fig. 3. Ventraler Schenkel der _——
ersten Jejunumschlinge
”
-
Recessus intermesoeoliens —
transversus
Caecum
f
Proc. vermiformis — — _ Teum 3
Fig. 4.
Rektunischenke] 2 2
des Colon sigmoid. — Colonschenkel
des Colon sigmoid.
A. mesenterica superior
— R, ascendens
a. col. sinist.
A. mesenterica inf. — 2 SE
— A. colica sinistra
Colon descendens
R. descendens
a. col. siuist.
Aa. sigmoideae A. haemorrhoidalis sup.
Colonschenkel
des Colon sigmoid.
Rektumschenkel des
Colon sigmoid. >
Fig. 5.
Rektum ——
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden
Tafel 2.
Plica mesenterica-mesocoliea
— .. Colon transversum
N Flex. coli sinist.
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Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 25
ich über sie keine Notizen besitze; aber aus der Erinnerung
kann ich angeben, dass ich einige Male den Scheitel des
Colon sigmoideum in Berührung mit dem Blinddarm oder in
der rechten Fossa iliaca, aber doch immerhin sehr selten;
gefunden habe.
Cruveilhier!) warf wohl zuerst die Frage auf, ob
diese Lage des Colon sigmoideum als zufälliges Vorkommnis
oder als eine von der Entwickelungszeit her sich erhaltende
Bildung anzusehen sei. Diese Frage schien im letzten Sinne
entschieden zu sein durch die Behauptung des Pariser Chirurgen
Huguier, der bei Neugeborenen die Flexur, wenn auch
nicht ganz konstant, so doch jedenfalls so häufig in der
rechten Fossa iliaca fand, dass er die Anlegung eines Anus
praeternaturalis bei Atresia anı in der rechten und nicht in
der linken Leistengegend empfahl. Die Diskussion der fran-
zösischen Chirurgen über diese Angelegenheit am 25. I. und
1. Il. 1859 in der Acad&mie Imperiale de Medecine ?2) und
am 25. Ill. und 2. IV. 1862 in der Societe de la Chirurgie
de Paris °®), die zu keiner Entscheidung führte, hatte zur
Folge, dass die Anatomen sich mit der Frage beschäftigten.
Aber auch diese Untersuchungen, die bis in die neueste Zeit
reichen, haben eine endgültige Entscheidung nicht gebracht.
Sappey*) fand die Schlinge des Colon sigmoideum in der
rechten Darmbeinschaufel Smal bei 14 reifen Feten, Stoce-
quart°} bei Kindern bis zum 7. Lebensjahre unter 20 Fällen
!) Cruveilhier, J., Traite d’anatomie deseriptive. IIe Edit. Tome 3.
p- 342. Paris 1843.
2) Bulletin de l’Acad&mie Imperiale de Medeeine 1859. Tome 24. Nr. IX.
p. 435.
®) Gazette des höpitaux 1862. p. 156 und 171.
*) Sappey, Ph. C., Traite d’anatomie descriptive. IIIe Edit. Paris 1879
p- 269.
®) Stocquart, Note sur l’anatomie de 1’S iliaque et du rectum dans
l’enfance. Journal de medecine, de chirurgie et de pharmacie. Bruxelles 1880.
p. 948.
26 R. ZANDER,
1Omal, v. Samson!) bei 23 Kindern bis zu einem halben
Jahre in allen Fällen. Jonnesco?°) erklärte die Lage für
die häufigste bei Neugeborenen. Bourcart?) dagegen fand
sie bei 295 Neugeborenen nur 59mal und Gysi®) bei 100
älteren Feten nur 4mal. Nach meinen eigenen langjährigen
Beobachtungen, die sich auf viele Hunderte von älteren Feten
und Neugeborenen beziehen, scheint diese Lagerung keines-
wegs häufig zu sein. Da ich mir keine Notizen von diesen
Beobachtungen gemacht hatte, so habe ich in den letzten
Wochen an 25 Neugeborenen, ausgetragenen Kindern und vor-
zeitig geborenen, das Colon sigmoideum untersucht und 6 mal
die fragliche Lagerung in der rechten Fossa ilıaca gefunden.
Selbstverständlich sind aber so kleine Untersuchungsreihen,
bei denen der Zufall eine grosse Rolle spielt, ganz ungeeignet,
um über die relative Häufigkeit Auskunft zu geben.
Für die Beurteilung meines oben mitgeteilten Falles ist
aber das Vorkommen dieser Lagerung des Colons sigmoideum
sowohl beim Erwachsenen als auch bei Neugeborenen und
älteren Früchten nicht von Bedeutung. Die schräge Lage des
Colon descendens kann durch die Fixierung des Colon sig-
moideum in der rechten Darmbeinschaufel nur dann ver-
anlasst worden sein, wenn diese Fixierung bereits zu einer
Zeit bestand, wo das Colon descendens noch ein freies Mesen-
terium besass, also im sechsten Entwickelungsmonat oder
vorher.
!) Samson, S. v., Einiges über den Darm, insbesondere die Flexura
sigmoidea. Arch. f, klinische Chirurgie. 44. Bd. 1892. p. 146—221 und p. 386
bis 409. 2 Tafeln und Holzschnitte (p. 177).
®2) Jonnesco, T., Tube digestif, in R. Poirier. Traite d’anatomie
humaine. Tome 4. Ie Fasc. Paris 1895.
®) Bourcart, De la situation de l’S iliague chez le nouveau-ne dans
ses rapports avec l’ötablissement d’un anus artificiel. Thöse de Paris 1863.
FEN
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 27
In Toldts!) Arbeiten, die sich auf Entwickelung des
Darmes beziehen, findet sich keine Angabe über das Vor-
dringen des Colon sigmoideum in die rechte Fossa iliaca.
v. Samson?) gab an, dass bei einem 10 cm langen
Fetus das Colon sigmoideum über den Beckeneingang hin-
weg „nach rechts gerichtet‘‘ war, so dass also der Darm in
die rechte Körperhälfte hineinragte und von rechts her ins
Becken trat. „Bei zwei weiteren Feten von 13 und 14 cm
Länge war die Lage des Darmes wie im vorigen Fall.“ Bei
einem 22 cm langen Fetus reichte der Darm wiederum in
die rechte Körperhälfte hinüber und stieg von rechts ins
Becken.
Jonnesco?°) fand bei drei Embryonen von 18,3, 23,7
und 26 cm Länge folgende Lagerung des Colon sigmoideum,
die er als die häufigste für die mittlere Entwickelungsperiode
(periode de transition) ansieht: Das zukünftige Colon pelvinum
geht aus von der Crista iliaca, durchzieht die linke Fossa
iliaca, verläuft oberhalb des Beckeneinganges nach rechts von
der Mittellinie bis nahe an die rechte Fossa iliaca und wendet
sich dann dorsal- und medialwärts und dringt in das Becken
ein. Kurz, es bildet eine grosse Schlinge, die den Becken-
eingang abschliesst und dessen vordere Convexität die vordere
Bauchwand berührt. Bei einem Embryo von 32,5 cm Länge
fand er ausserdem folgendes: Das zukünftige Colon pelvinum
beschreibt zwei Schlingen, eine erste in der linken Fossa
iliaca, zieht dann über den Beckeneingang hinweg nach der
rechten Fossa iliaca, wo es eine zweite Schlinge bildet und
dann ins Becken tritt, an dessen rechter Seite es herabsteigt.
Andere Angaben über die Lagerung des Colon sigmoideum
bei jüngeren Feten kenne ich nicht.
!) Denkschriften der Wiener Akademie 1879 und 1889 s. oben I. c.
2) le, p. 174/175:
°) Jonneseo, Th., Le cölon pelvien pendant la vie intrauterine. Thöse
de Paris 1892. p. 30.
28 R. ZANDER,
Um mir ein eigenes Urteil zu bilden, habe ich an 50 Feten
von 10-27 cm Körperlänge, die einem Alter von 4 bis
6 Monaten entsprechen, neuerdings das Colon sigmoideum
untersucht und bin dabei zu folgendem Ergebnis gelangt:
Wenn man vom Rectum ausgehend das Colon sigmoideum
verfolgte, so stieg sein Endstück in 32 Fällen genau in der
Mittellinie oder dicht neben ihr senkrecht empor und ver-
band sich nach kurzem Verlauf in der Nähe des Becken-
eingangs (in 12 Fällen) oder mehr oder weniger weit darüber
(in 20 Fällen) mit dem Colon descendens durch ein gerades
oder nach oben concaves oder convexes oder durch ein un-
regelmässig gewundenes Querstück. In 6 Fällen zog das Colon
sigmoideum vom Rectum aus in schräger Richtung nach links
zum Colon descendens empor. 12mal beobachtete ich, dass
sich das Endstück des Colon sigmoideum vom Rectum aus
nach rechts wandte. In 8 Fällen stieg es mehr oder weniger
weit über den Beckeneingang empor und verband sich dann
durch ein verschieden gekrümmtes Zwischenstück mit dem
Colon descendens. Nur in 4 Fällen stellte das Colon sig-
moideum eine horizontal über dem Beckeneingang gelegene
Darmschlinge dar, deren Scheitel bis zur rechten Fossa iliaca
reichte. Die betreffenden Feten waren 10, 14, 20 und 20 cm
lang. Bei dem 14 cm langen und bei einem der 20 cm
langen Feten lag die Darmschleife unmittelbar über dem Becken-
eingang, in den beiden anderen Fällen eine Strecke darüber
in der Höhe der Crista iliaca.
Auf Grund dieser Beobachtungen darf angenommen werden,
dass die Lagerung des Scheitels des Colon sigmoideum in
der rechten Darmbeinschaufel bei vier- bis sechsmonatlichen
Feten vorkommt. Gysi hat die Ansicht geäussert!), dass
diese „Variation“ (die er nur bei 4 von 100 älteren Feten.
a1. e.’p. 179,
Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 29
und Neugeborenen fand) dadurch entstehe, dass der Scheitel
einer ursprünglich nach oben ragenden Colonschlinge durch
die Füllung mit Meconium und durch stärkeres Wachstum
allmählich an der Radix mesenterii entlang nach unten rechts
geschoben werde, bis er an den freien Rand des Mesenteriums
kam, diesen überschritt, und so in die Fossa iliaca dextra
gelangte. Ich kann dieser Ansicht insofern nicht zustimmen,
als die Mitwirkung des Meconium für so junge Stadien, wie
ich sie beobachtet habe, nicht in Frage kommt. Das Meconium
dringt erst während der letzten Fetalmonate auch in den Dick-
darm ein (Bromant)); der Scheitel des Colon sigmoideum
wird aber bereits bei 4—6 Monate alten Feten in der rechten
Darmbeinschaufel angetroffen.
Warum in meinem Falle das Colon sigmoideum in der
Fossa iliaca dextra fixiert wurde, vermag ich nicht anzu-
geben. Entzündliche Vorgänge waren, wie ich schon mehr-
mals erwähnt habe, nirgends in der Bauchhöhle nachweisbar.
Wenn man annimmt, dass diese Fixierung sogleich oder
sehr bald, nachdem das Colon sigmoideum die Fossa ıiliaca
dextra erreicht hatte, erfolgt ist, so darf die Erklärung für
das Zustandekommen der abweichenden Lage des Colon des-
cendens in meinem Falle als gelungen angesehen werden.
Zu erledigen ist noch die Frage, ob der Recessus retro-
caecalis und der Recessus retrocolicus schon vorhanden waren
als das Colon sigmoideum seine endgültige Lagerung erhielt
oder nicht. Ich halte dies für ausgeschlossen. Im ersten
Falle würde es sich um eine Hernie retrocaecalis gehandelt
haben. Dier wesentlichste Grund, den ich dagegen anzuführen
habe, ist, dass das Cäcum erst im 8. oder 9. Entwickelungs-
monat über den Darmbeinkamm hinabzurücken pflegt. In der
Zeit, in die die Ausbildung der Abnormitäten in meinem
!) Broman, Ivar, Normale und abnorme Entwickelung des Menschen.
Wiesbaden 1911. S. 344.
30 R. ZANDER, Lageabweichung des Colon descendens etc.
Falle nach den bisherigen Erörterungen zu verlegen ist, be-
findet sich das Cäcum noch vor oder höchstens unter dem
unteren Pol der rechten Niere. Es ist darum sehr wahr-
scheinlich, dass das Cäcum und das Colon ascendens ihre
endgültige Lagerung erst zu einem Zeitpunkt erreichten, als
das Colon sigmoideum bereits in der Fossa iliaca dextra fixiert
war. Die secundäre Verbindung mit dem Peritonaeum parie-
tale führte dann zur Bildung des Recessus retrocaecalis und
retrocolicus.
Die Beobachtungen von Hamdy und Sorour, von
Cruveilhier und Toldt stimmen mit meinem Falle zwar
darin überein, dass auch sie den schrägen Verlauf des Colon
descendens zeigten, doch dürfte es sehr fraglich sein, ob für
diese Abweichung die gleiche Entstehungsweise wie in meinem
Falle angenommen werden darf. Hamdy und Sorour haben
nicht mitgeteilt, ob die vor dem Cäcum gelegene Schlinge
des Colon sigmoideum fixiert war. Selbst wenn dies der Fall
gewesen wäre, so hätte diese Fixierung zu einem so späten
Zeitpunkt erfolgt sein müssen, dass ein Einfluss auf die Ver-
lagerung des Colon descendens nicht mehr in Frage kommen
konnte, nämlich erst nachdem das Cäcum in die rechte Darm-
beingrube gelangt war, also nicht vor dem 8. oder 9. Ent-
wickelungsmonat. Die sehr kurze Beschreibung des Falles
bietet keinen Anhalt für die Feststellung der Entstehungs-
ursache der Abweichungen. Das gleiche gilt für die beiden
Fälle von Cruveilhier und Toldt.
AUS DEM ERSTEN ANATOMISCHEN INSTITUT DER WIENER UNIVERSITÄT.
VORSTAND: PRÖF. DR. JULIUS TANDLER.
DIE ENTWICKELUNG DES GEBISSES
VON TALPA EUROPARA.
VON
HARRY SICHER.
Mit 20 Textabbildungen und 36 Figuren auf den Tafeln 3—6.
Lu Teen A Re
hau Kilg, 2
Einleitung.
Vielleicht in keinem Kapitel der Entwickelungsgeschichte
hat in der letzten Zeit die ontogenetische Forschung so viel
zur Beleuchtung phylogenetischer Probleme beigetragen, als
in der Odontogenese. Ich brauche hier nur an die Namen von
Röse, Leche, Kükenthal, Adloff, Bolk zu erinnern,
um die Fülle von Arbeit zu charakterisieren, die für die Lösung
dieser Fragen aufgewendet wurde. Dass bisher noch keine
Einigung erzielt wurde, liegt zum Teil natürlich an den
Schwierigkeiten der aufgeworfenen Fragen selbst, die ja fast
alle nur hypothetisch zu lösen sind.
Zum anderen Teil liegt es aber doch auch in der Methodik
gerade bei dem Studium der ontogenetischen Fragen.
Wenn man die diesbezügliche: Literatur durchsucht, so
findet man immer wieder die Beschreibung von Einzelbefunden,
das heisst die Beschreibung von Befunden an vereinzelten
Embryonalstadien einer Spezies. Meist handelt es sich um
ältere Stadien, während jüngere nicht zur Verfügung standen.
Und doch haben die Autoren nicht gezögert, solche Befunde
zur Grundlage für weitgehende phylogenetische Betrachtungen
zu machen. j
Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich der Meinung Aus-
druck gebe, dass die phylogenetische Spekulation für einige
Zeit Halt machen sollte. Jetzt wäre es an der Zeit neues
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162, Heft (54. Bd, H. 1). 3
34 HARRY SICHER,
Material zu sammeln und zuerst das kritisch zu sichten, was
bisher oft auf ungenügender Grundlage aufgebaut wurde. Erst
wenn wir an einer grösseren Zahl von Spezies, bei jeder aber
an einer möglichst geschlossenen Stadienreihe, mit allen tech-
nischen Hilfsmitteln die tatsächlichen Vorgänge einwandfrei
studiert haben, erst dann soll die phylogenetische See des
Problems wieder zur Geltung kommen.
Und diese Überlegung war es, die mich veranlasste, die
Entwickelung des Gebisses an einer Spezies möglichst syste-
matisch zu untersuchen. Es ist nicht meine Absicht — und
dies möchte ich besonders betonen —, auf Grund dieser Unter-
suchung die Zahl der phylogenetischen Theorien um eine zu
vermehren. Aber es war doch schon auf Grund dieser Unter-
suchung möglich, gewisse Punkte anderer Theorien einer Kritik
zu unterziehen und eventuell abzulehnen, wenn sie mit den
hier gefundenen Tatsachen in Widerspruch stehen.
Dass ich zu dieser Untersuchung gerade Talpa europaea
wählte, hat zunächst als äusserlichen Grund den, dass mir an
der I. anatomischen Lehrkanzel in Wien eine geschlossene
Reihe von Talpa-Embryonen zur Verfügung stand. Für die
Überlassung dieses kostbaren Materiales muss ich auch an
dieser Stelle meinem verehrten Lehrer und früheren Chef,
Herrn Professor Tandler, ebenso herzlichst danken, wie für
sein reges Interesse, das er meinen Untersuchungen entgegen-
brachte und für die vielfachen Unterstützungen, die er mir
zuteil werden liess.
War also einerseits die Quantität des Materials bei der
Wahl massgebend, so musste ich mir andererseits sagen, dass
gerade bei einem primitiven Säuger die Verhältnisse für die
Erforschung der Zahnentwickelung besonders günstig sind. —
Mit der Entwickelung des Talpa-Gebisses hatten sich zu-
dem die früheren Autoren nur in beschränktestem Masse be-
schäftigt. Wohl liegt eine ausführliche Arbeit über diesen
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 39
Gegenstand vor, die wir Kober aus dem Jahre 1882 ver-
danken, doch finden hier einerseits nur die gröbsten Verhält-
nisse an älteren Stadien Berücksichtigung, andererseits steckt
die Arbeit so voller Irrtümer, dass wir sie füglich vernach-
lässigen können. So sei nur erwähnt, dass Kober von einem
verspäteten Auftreten eines unteren Schneidezahnes spricht,
der sich von aussen zwischen den zweiten und dritten In-
cisivus einschiebt, womit er die Vermehrung der unteren
Schneidezähne gegenüber den oberen begründet. Tatsächlich
ist der neu auftretende Schneidezahn der von Anfang an vor-
handene Incisivus deciduus 3 (ld,), während der „vierte
Schneidezahn“ der Caninus ist.
Die beiden anderen Arbeiten beschäftigen sich hauptsäch-
lich mit der Dentition von Talpa. Dazu ist es notwendig, zu-
nächst einige Worte über das Gebiss des erwachsenen Tieres
zu sagen. Als Formel muss uns hier wohl die jetzt allgemein
akzeptierte Owensche Formel gelten:
Dazu ist nun folgendes zu bemerken (Tafel 3, Fig. 1):
Im Öberkiefer nehmen die Schneidezähne von vorne nach
hinten an Grösse ab. Der Caninus ist mächtig, zweiwurzelig.
Von den Prämolaren ist der erste etwas grösser als die beiden
mittleren, der vierte jedoch der grösste. Die Molaren sind
dreiwurzelig. Ihre Krone trapezförmig (Tafel 3, Fig. 2). Sie
sind vielspitzig, doch ragen zwei buccale und ein lingualer
Haupthöcker am meisten vor.
Im Unterkiefer (Tafel 3, Fig. 3) ist der Eckzahn in seiner
Form fast vollkommen schneidezahnähnlich. Der Form nach
wird der Caninus durch den mächtigen ersten Prämolaren
vertreten. Die drei anderen Prämolaren nehmen von vorne
nach hinten an Grösse zu. Die Molaren zeigen eine deutliche
3*
36 HARRY SICHER,
Unterteilung ihrer Krone in eine mesiale und eine distale
Partie, deren jede einen buccalen Haupthöcker trägt.
Das Milchgebiss wurde von Spence Bate als vollständig
beschrieben. Im Milchgebiss trägt im Unterkiefer der vierte
Zahn noch deutlicher Eckzahncharaktere. Während aber
Spence Bate im Öberkiefer und Unterkiefer einen ersten
Milchprämolaren abbildet, leugnet Woodward dessen Vor-
kommen auf Grund seiner Untersuchungen an alten Embryonen
und geworfenen Jungen.
Da wir bei der Untersuchung auch die Entwickelungs-
vorgänge im Bereiche des Vestibulum oris besprechen wollen,
sei hier kurz über sein Verhalten am erwachsenen Tiere be-
richtet. Im Oberkiefer (Tafel 3. Fig. 4) fällt vor allem eine
Falte auf, die im Vestibulum oris vorspringt und die Schneide-
zahngegend umgreift. Diese ‚Plica vestibularis“ reicht über
die Mittellinie weg und läuft mit ihrem hinteren Ende unge‘ähr
in der Eckzahngegend in den Lippenrand aus. Hinter ihr finden
wir das Vestibulum oris im engeren Sinne, vor ihr eine an
der Schnauzenunterfläche gelegene tiefe dreieckige Grube. Es
erscheint nicht ausgeschlossen, dass wir in dieser Falte eine
dem Graben angepasste Einrichtung haben, welche vielleicht
das Eindringen der Erde in den Mund verhindern soll.
Im Unterkiefer reicht das Vestibulum oris nur bis in die
Eckzahngegend nach vorne. Im Bereiche der Schneidezähne
geht die Gingiva von der Innenseite des Alveolarfortsatzes
zwischen den Zähnen hindurch direkt in die Lippenschleim-
haut über, ohne die vordere Wand des Alveolarfortsatzes zu
bekleiden.
Die Embryonen, die für die vorliegende Untersuchung be-
nützt wurden, sind sämtlich lebend in Formalin - Alkohol
(Schaffer), in Zenkerscher Flüssigkeit oder in Pikrin-
Sublimat-Eisessig konserviert. Die jüngeren waren in toto in
Frontalschnitte zerlegt, von den älteren (a—ı) habe ich die
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 37
Köpfe frontal geschnitten. Alle Serienschnitte sind 10 u dick
und wurden mit Hämalaun-Eosin gefärbt. Im folgenden gebe
ich eine Übersicht über das verwendete Material.
Übersicht über die untersuchten Embryonen.
| en | Scheitel- Kopf-
Stadium | Bezeichnung | nn | Steisslänge länge | Anmerkung
| | in mm in mm |
\ 77
I, UV? | _ | 8 —
TE _ 8 | — ee
III. — = 11 u
II UV | = 11,5 2
III _ _ 12,0 ve;
| A. 13,5 — So
VE SB: 13,5 - Sa
1% C. 13 _ 75
IV. 1D). 13:5 _ 8,5
INNE E. 13,5 —- | 85 | modelliert
V. a. 16 | 9,75 modelliert
va a 16 _ | 95 | Detailmodell
VI. b. 17,5 _ | >= ‚ modelliert
VI. b’ 17,5 _ —
VL c. 18,5 _ IT :
VIE, d. 21 —_ ' 11,5 modelliert
VI. e. 22 & 119
vn f. 23 — El? modelliert
VIH. 2. 26 — | 13,5 _|modelliert
IX. h. 28 — 14 |
X i 30 — 15 | modelliert
Die Modelle stellen immer die epithelialen Gebilde dar, so
dass man bei der Betrachtung des Modelles die in das Meso-
derm eingedrungenen epithelialen Schmelzorgane sieht.
Die Zeichnungen der Modelle sowie die der Schnitte —
letztere nach Konturzeichnung mit dem Abbeschen Apparat
— wurden von Maler Hajek hergestellt.
38 HARRY SICHER,
Beschreibung der Stadien.
IrStadrum:
Die erste Anlage der Zahnleisten findet sich an einem
Embryo von 8 mm Scheitel-Steisslänge. Am Querschnitt er-
scheint sie als eine breite, aber flache Epithelverdickung, die
ohne Grenze in das normale Mundhöhlenepithel übergeht.
Während die Mundhöhlenoberfläche keine Veränderung zeigt,
springt die Epithelverdickung gegen das Mesoderm vor, das
in diesem Stadium noch keine histologische Differenzierung
erkennen lässt. Das Epithel der Mundhöhle, das an anderen
Stellen aus einer basalen Lage von Cylinderzellen — Stratum
germinativum — und einer darübergelagerten Schichte flacher
Deckzellen besteht, hat an der Stelle der Zahnleistenanlage
eine Vermehrung der Schichten erfahren. Die basale Schicht
ist zwar noch als regelmässige Reihe cylindrischer Zellen vor-
handen, doch liegen nun über ihr eine zwei- bis dreifache
Reihe polygonaler Zellen, die erst von der Schichte der Deck-
zellen überlagert sind. Letztere haben hier den Charakter
kubischer Zellen. Das ganze Epithel ist wie an allen Stellen
durch eine mit Eosin lebhaft gefärbte, am Querschnitt lineare
strukturlose Schichte gegen das Mesoderm geschieden. Zahl-
reiche Mitosen im Epithel beweisen, dass die Vermehrung des
Zellbestandes der Zahnleiste eine lebhafte ist.
Die Epithelverdickungen der beiden Kiefer stehen einander
nicht gegenüber, vielmehr ist die Zahnleistenanlage des Ober-
kiefers beträchtlich peripherwärts verschoben. Die Zahnleiste
des Unterkiefers ist in ihrer Entwickelung hinter der des Ober-
kiefers bedeutend zurück. Dieser Umstand spricht wohl dafür,
dass die Anlage der beiden Zahnleisten nicht gleichzeitig er-
folgt ist, sondern dass die Leiste des Oberkiefers als erste
angelegt wird.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 39
II. Stadium.
Der Embryo, dessen grösste Länge mit 8 mm angegeben
ist, ist trotz des annähernd gleichen Masses in der Entwicke-
lung gegenüber dem I. Stadium ziemlich weit vorgeschritten.
Am Querschnitt hat sich die Zahnleistenanlage vor allem in-
sofern verändert, als sie schmäler, aber tiefer geworden ist
und gegen die Nachbarschaft eine schärfere Abgrenzung ge-
wonnen hat. Ihre histologische Struktur hat sich, von der
Fig. 1.
Zehn aufeinanderfolgende Schnitte durch die obere Zahnleiste eines 8mm langen
Talpa-Embryo. Die Schnitte c—h enthalten die Eckzahnanlage in Form einer
Verdickung der Zahnleiste. Vergrösserung 100 fach.
Vermehrung ihrer zelligen Elemente abgesehen, nicht verändert.
Ebensowenig ist am umgebenden Mesoderm eine Differenzierung
zu erkennen.
Die Verfolgung der Serie von dem hinteren Zahnleisten-
ende lehrt uns, dass die Differenzierung der Zahnleiste in den
distalen Partien weniger weit vorgeschritten ist als in den
mesialen. Besonders auffällig aber sind die Verhältnisse in
der Gegend, die der Stelle der Schneidezähne und Eckzähne
im Oberkiefer entspricht. Hier kann man konstatieren, dass
40 HARRY SICHER,
die Zahnleiste zunächst an der Stelle des Eckzahnes eine be-
trächtliche Verdickung aufweist, die sich, wie die Abbildung
(Textfig. 1) lehrt, über sechs Schnitte verfolgen lässt. Dass
die Zahnleiste auch im Bereiche der Incisivi bereits weiter
differenziert ist, zeigt besonders deutlich ein Schnitt, welcher
die hier fast frontal eingestellte Leiste der Länge nach trifft
(Textfig. 2). Hier finden wir jederseits der Mittellinie zwei
deutliche Verdickungen der Leiste, die nur den ersten Anlagen
der beiderseitigen Id, und Id, entsprechen können.
Wir sehen, dass es also bei Talpa schon sehr frühzeitig
zu einer Differenzierung der Zahnleiste in dem Sinne kommt,
De
Fig. 2.
Frontalschnitt durch die vordere Partie der oberen Zahnleiste eines 8 mm
langen Talpa-Embryo. Man sieht jederseits zwei Verdickungen der Leiste als
Anlagen der ersten beiden Schneidezähne. Vergrösserung 50fach.
dass an den Stellen der Zahnanlagen ein intensiveres Wachs-
tum der Leiste einsetzt. Wir sehen aber auch, dass die Diffe-
renzierung vorne beginnt und von hier im allgemeinen nach
hinten fortschreitet. Auch jetzt ist die Leiste des Oberkiefers
in ihrer Entwickelung der unteren voraus, da wir an der
letzteren noch keine weitere Differenzierung konstatieren
können.
IT. Stadaum.
Bei Embryonen von 11—12 mm Scheitel-Steiss-Länge ist
die Zahnleiste am Querschnitt zu einer zapfenförmigen Epithel-
einsenkung geworden. Das cylindrische Epithel des Stratum
germinativum ist als eine Falte in das Mesoderm eingesunken.
Zwischen den beiden Blättern der Falte finden wir die poly-
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. l). Tafel 3.
mb
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 4.
Fig. 13. Fig. 15. ; Fig. 16. Fig. 18.
Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden,
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 41
sonalen Zellen der Deckschicht, welche auch die der Mund-
höhlenoberfläche zugekehrte Einsenkung ausfüllen und aus-
gleichen. Das Epithel ist überall scharf gegen das NMiesoderm
abgegrenzt. Die Grenze bildet eine mit Eosin lebhaft rot ge-
färbte Grenzschichte. In diesem Stadium ist nunmehr auch
das Mesoderm eine Differenzierung eingegangen. Die dem
freien Schmelzleistenende anliegenden Zellen erscheinen dicht
gedrängt und umgeben die Zahnleiste in einem am (uer-
schnitte sichelförmigen Areale. Zahlreiche Mitosen in diesem
Anteile des Mesoderms deuten auf eine Zellvermehrung, doch
ist für den Anfang die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass
die Zusammendrängung mesodermaler Elemente durch das
aktiv einwachsende Epithel eine gewisse Rolle spielen könnte.
Verfolgt man die Querschnittserie, so kann man zunächst
konstatieren, dass obere und untere Zahnleiste an der Stelle
der Schneidezähne und Eckzähne deutliche Anschwellungen
zeigen, wie sie an der oberen Leiste bereits im früheren Sta-
diun, zu finden waren. Hierzu ist aber in beiden Kiefern noch
im distalen Anteil der Leisten eine Anschwellung gekommen,
welche der Topographie nach und durch den Vergleich mit
älteren Stadien als Anlage des vierten Milchprämolaren gekenn-
zeichnet ist.. Aus dem Vergleich mit späteren Entwickelungs-
stadien wird auch klar, dass dieser Zahn sein frühes onto-
genetisches Erscheinen seiner mächtigen Ausbildung verdankt.
Die Zannleiste dringt in ihrem Verlauf nicht überall in
derseiben Richtung. in das Mesoderm ein. Während sie in
ihrem hinteren Abschnitt ziemlich genau unter rechtem Winkel
vom Mundhöhlenepithel abzweigt, ist sie in ihrem vorderen
grösseren Anteil derart schräg eingestellt, dass ihr freies Ende
nach innen geneigt ist. Dieses Verhalten zeigt sowohl die obere
als die untere Leiste.
Zwei epitheliale Bildungen in der Gegend der Schneide-
zahnanlagen des Unterkiefers verdienen noch eine spezielle
42 HARRY SICHER,
Beschreibung. Verfolgt man die Serie von hinten nach vorne,
so sieht man, wie von der Zahnleiste an der Stelle des Milch-
eckzahnes eine lateral gelegene Epithelleiste abzweigt, die sich
von der Zahnleiste immer mehr entfernt. Sie zerfällt selbst
wieder nach kurzem Verlauf in zwei Leisten, eine mediale,
die eigentliche Fortsetzung der Hauptleiste, und eine laterale,
die sehr bald verflacht und verschwindet. Beiden Leisten ent-
sprechen Furchen an der Oberfläche, ein Umstand, der sie
von der Zahnleiste morphologisch unterscheidet. In diesem
eigentümlichen Leistensystem haben wir, wie spätere Stadien
zeigen, eine passagere Bildung vor uns, deren Bedeutung un-
klar ist.
Zwischen den Anlagen der inneren Schneidezähne er-
scheint an der Serie jederseits eine kurze Einstülpung des
Epithels, die durch die geringere Grösse und dichtere An-
ordnung ihrer Zellen von der Zahnleiste leicht zu differen-
zieren ist. Diese Einstülpung, die der Anlage einer Drüse
ausserordentlich ähnlich sieht, stellt die erste Anlage eines
paarigen soliden Epithelstranges dar, wie ihn Arnbach-
Christie-Linde bei Beutlern und Sorex beschrieb. Bolk
bildet ihn neuerdings bei Ovis aries ab, ohne ihn zu beschreiben.
Seine Bedeutung ist vorläufig unklar.
IV. Stadium.
Diesem Stadium gehören Embryonen von 13—13,5 mm
Länge an. Ihre Kopflänge beträgt zwischen 7,5 und 8,5 mm.
Das Stadium ist charakterisiert durch das erste Auftreten von
Fortsätzen der Zahnleiste, die wir in der folgenden Beschreibung
zunächst als Nebenleisten bezeichnen wollen. Um die Kon-
stanz dieser Gebilde zu erweisen, wurden fünf Embryonen
(A—E) desselben Entwickelungsstadiums in Frontalserien zer-
legt und untersucht. Die Zahnleisten des Oberkiefers und
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 43
Unterkiefers des Embryo E wurden bei 200 facher Vergrösserung
rekonstruiert.
Betrachten wir zunächst das Modell der oberen Zahnleiste
(Tafel 3, Fig. 5), so sehen wir, dass die Anlagen aller Milch-
zähne bereits als Verdickungen des Leistenrandes deutlich ent-
wickelt sind. Die Anlagen der drei Milchschneidezähne, welche
lateral von einer leichten Vorwölbung, der ersten Anlage der
Vestibularleiste, flankiert sind, sitzen dem Mundhöhlenepithel
direkt auf, so dass wir in ihrem Bereich von einer Zahnleiste
nicht sprechen können. Sie werden von der Eckzahnanlage
bei weitem überragt. Der Eckzahn eilt in seiner Entwickelung
auch weiterhin den Nachbarzähnen voraus. Die Anlagen der
Milchprämolaren nehmen von vorne nach hinten an Grösse
rasch zu. Die Anschwellung der Leiste, welche dem ersten
Prämolaren entspricht, ist noch kaum kenntlich, die Anlage
des vierten übertrifft alle anderen an Grösse. Hinter dem
vierten Milchprämolaren setzt sich die Zahnleiste noch ein
beträchtliches Stück weit fort, um mit einer Verdickung zu
enden.
Von besonderem Interesse sind nun die beiden Fortsätze
der Zahnleiste, die wir als Nebenleisten bezeichnen wollen.
Die distale der beiden Leisten haftet an der lateralen Fläche
der Zahnleiste hinter dem vierten Prämolaren. Mit ihrem
vorderen Ende läuft sie an der distalen Fläche der Anlage
des letzten Prämolaren aus, ihr hinteres Ende verliert sich
an dem vorderen Abhang der endständigen Verdickung der
Zahnleiste. Die Nebenleiste verläuft ungefähr entsprechend der
Mitte zwischen Ansatz der Zahnleiste am Mundhöhlenepithel
und freiem Rand, dem ‚letzteren etwas genähert. Wir wollen
sie mit Rücksicht auf die folgenden Stadien als mittlere Neben-
leiste bezeichnen.
Die vordere Nebenleiste beginnt unter dem vorderen Ende
von Pd, und zieht von hier unter Pd, nach vorne, um sich
44 HARRY SICHER,
zwischen Pd, und Pd, zu verlieren. Sie ist nicht ganz ein-
heitlich entwickelt, sondern zeigt vor ihrem hinteren verdickten
Ende eine Erniedrigung, um erst unterhalb von Pd, an Höhe
zu gewinnen.
Das Modell der unteren Zahnleiste (Tafel 3, Fig. 6) zeigt
uns prinzipiell gleiche Verhältnisse. Von den Anlagen der drei
Milchschneidezähne ist die des dritten, die kleinste, ein wenig
nach lateral aus der Reihe gedrängt, ein Verhalten, das in
späteren Stadien noch deutlicher wird. Die Eckzahnanlage ist
zwar auch kräftiger entwickelt als die der Nachbarzähne, doch
ist sie bedeutend kleiner als die Anlage des oberen Eckzahnes.
So wie im Oberkiefer nehmen die Milchprämolaren distalwärts
an Grösse zu. Die Zahnleiste endet auch im Unterkiefer nicht
mit dem letzten Prämolaren, sondern setzt sich nach hinten
ein Stück weit fort, um ein wenig verdickt zu enden.
Die laterale Fläche der Leiste zeigt uns die beiden Neben-
leisten. Die mittlere Nebenleiste, die wie im Oberkiefer hinter
dem vierten Prämolaren beginnt und bis nahe an das Ende
der Zahnleiste reicht, ist hier aber mit ihrem Ansatz dem
freien Rand der Zahnleiste so weit genähert, dass man den
Eindruck gewinnt, als spalte sich die Zahnleiste nahe ihrem
freien Ende in zwei fast gleich starke Ausläufer.
Die vordere Nebenleiste ist noch nicht so deutlich ent-
wickelt als im Oberkiefer. Wir finden einen Anteil der Leiste
unterhalb des dritten Prämolaren, einen zweiten unterhalb des
vierten Prämolaren durch ein glattes Stück der lateralen Zahn-
leistenfläche getrennt.
Die Durchsicht der Serien ergibt folgendes: Der histo-
logische Charakter der Zahnleiste und der Zahnanlagen ist noch
ein primitiver. Die Schicht des Stratum germinativum lässt
sich ununterbrochen von dem Mundhöhlenepithel durch den
Querschnitt der Zahnleiste verfolgen. Die Falte, die durch
diese Schichte gebildet wird, ist von den Abkömmlingen der
Deckschichte erfüllt.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 45
Die Nebenleisten des Oberkiefers erscheinen auf dem
Querschnitt als zapfenförmige Ausstülpungen der Zahnleiste,
ihre histologische Struktur gleicht der der Hauptleiste (Tafel 3,
ie).
Im Unterkiefer lässt die mittlere Nebenleiste deutlich ihren
Ansatz nahe dem freien Zahnleistenende erkennen. Noch mehr
als nach der Betrachtung des Modells machen Haupt- und
Nebenleiste den Eindruck gleichwertiger Gebilde. Dabei ist
zu bemerken, dass die Nebenleiste an ihrem freien Ende ver-
dickt ist, so dass sie im (Querschnitt wie mit einem kurzen
Stiele der Hauptleiste aufsitzt (Tafel 3, Fig. 8).
a 4
Dt
Fig. 3.
a Schnitt entsprechend Pd,. b Schnitt entsprechend Pd,. c Schnitt ent-
sprechend Id,. Die Schnitte zeigen das verschiedene Verhalten der Vestibular-
anlage zu der Zahnleiste an Embryo E. Vergrösserung 50 fach.
Was die Entwickelung des Vestibulum oris anlangt, so
sind zunächst im Oberkiefer zwei Stellen zu unterscheiden
(Textfig. 3). Im Bereiche der Frontzähne deutet eine bereits
bei der Modellbeschreibung kurz erwähnte plumpe Leiste,
welche sich lateral vom Ansatze der Zahnleiste mit ihr in
unmittelbarem Zusammenhang in das Mesoderm vorstülpt, die
ersie Anlage der Vestibularleiste an (Textfig. 3c). Ganz anders
verhält sich der distale Abschnitt des Oberkiefers. Hier finden
wir weit lateral von der Zahnleiste eine Furche vor, die von
normalem Mundhöhlenepithel ausgekleidet ist (Textfig. 3a).
Medial ist die Furche von einer Konvexität begrenzt, welche
dem Alveolarwall entsprechen muss. Die Zahnleiste entspringt
ungefähr an der Stelle der höchsten Konvexität vom Epithel
des Alveolarwalles. Die ganze Bildung erstreckt sich über die
46 HARRY SICHER,
Gegend der letzten zwei Prämolaren. Vor dieser Gegend laufen
Furche und Wulst allmählich aus (Textfig. 3b).
Im Unterkiefer finden wir im vorderen Abschnitt jene
Epitheleinsenkungen wieder, die wir im früheren Stadium be-
schrieben haben. Lateral vom Eckzahn beginnt eine Epithel-
leiste, der an der Oberfläche eine Furche entspricht; diese
Leiste zeigt hier nicht mehr den engen Zusammenhang mit
der Zahnleiste wie im nächst jüngeren Stadium. Der lateral
verlaufende Ast dieser Leiste ist am jüngsten Embryo dieses
Stadiums (C) noch vorhanden, verstreicht jedoch bald.
Zwischen den mittleren Schneidezähnen hat sich die
Epithelknospe des früheren Stadiums zu einem kurzen distal
gerichteten Epithelstrang verlängert.
V. Stadıum.
Der diesem Stadium angehörige Embryo a besitzt eine
grösste Länge von 16 mm und eine Kopflänge von 9°/, mm.
Die Zahnanlagen des Oberkiefers und des Unterkiefers wurden
bei 200 facher Vergrösserung rekonstruiert.
Das Modell des Oberkiefers (Tafel 4, Fig. 9) zeigt uns
die wesentlichen Fortschritte gegenüber dem nächst jüngeren
Stadium. Die Schneidezähne nehmen von vorne nach hinten
an Grösse ab. Der erste und zweite zeigen an ihrer dem
Mesoderm zugekehrten Fläche bereits eine leichte Delle als
ein Zeichen dafür, dass die weitere formale Ausgestaltung des
Schmelzorganes, die zur Umfassung der Zahnpapille führt, be-
reits begonnen hat. Lateral von den beiden vorderen Incisivi
erhebt sich eine Epithelleiste, die vor dem Id, über die Mittel-
linie hinwegreicht. Es ist dies die Vestibularleiste. Wichtig
sind ihre besonders intimen Beziehungen zu den Schmelz-
organen der Schneidezähne. Diese erklären sich meiner Meinung
nach vor allem daraus, dass wir, wie schon früher erwähnt, :m
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 47
Bereiche der Schneidezähne eine Zahnleiste nicht vorfinden,
dass vielmehr die Schmelzorgane dem Mundhöhlenepithel direkt
aufsitzen. Entwickelt sich nun die Vestibularleiste hart lateral
von den Schmelzorganen, dann übertragen sich die intimen
Beziehungen, die bei anderen Spezies zwischen Vestibular- und
Zahnleiste bestehen, hier direkt auf die laterale Fläche der
Schmelzorgane. Es sieht hier so aus, als seien die Schmelz-
organe der inneren Fläche der Vestibularleiste förmlich an-
geklebt. Die Haftfläche des Schmelzorganes am Mundhöhlen-
epithel reicht auf die Vestibularleiste hinüber. Die Bilder,
welche man dadurch erhält, sind ohne Zweifel besser ver-
ständlich, wenn man sich für den Augenblick die Vestibular-
leiste entfaltet, also ein Vestibulum oris entstanden denkt; dann
ist das Epithel der Vestibularleiste wieder zum freien Mund-
höhlenepithel (des Vestibulums) geworden, zu welchem von
Anfang an die Schmelzorgane der Milchschneidezähne direkte
Beziehungen hatten.
Die mächtig entwickelte Eckzahnanlage ist in ihrer Ent-
wickelung den Schneidezähnen weit voraus und trägt an ihrer
Oberfläche bereits eine deutliche Konkavität.
Die vier Milchprämolaren zeigen von Pd, bis Pd, nicht
nur eine kontinuierliche Grössenzunahme, sondern der letzte ist
es auch, der am weitesten in der Differenzierung fortgeschritten
ist. Gerade dieser Embryo lässt den ersten Prämolaren nur
mit grösster Mühe als ganz leichte Anschwellung der Zahn-
leiste erkennen. Der vierte Milchprämolar zeigt bereits eine
deutliche Grube an seiner mesodermalen Fläche. Hinter ihm
hat sich die Zahnleiste beträchtlich weiter verlängert und trägt
die Anlage des ersten bleibenden Molaren in Form einer plumpen
mächtigen Verdickung.
Die beiden Nebenleisten des jüngeren Stadiums haben an
diesen Embryo den Höhepunkt ihrer Entwickelung erreicht.
Die vordere Nebenleiste besetzt die laterale Zahnleistenfläche
48 HARRY SICHER,
in der Reeion der beiden hinteren Prämolaren, zwischen dem
Mundhöhlenepithel und den Schmelzorganen gelegen. Ihr
vorderes und hinteres Ende laufen allmählich aus. Knapp vor
ihrem hinteren Ende — hinter dem Schmelzorgan des vierten
Prämolaren — beginnt nahe dem freien Zahnleistenende die
mittlere Nebenleiste. Sie verläuft entlang der labialen Fläche
der Zahnleiste distalwärts bis über die Mitte des Schmelz-
organes von M, hinaus.
Die Zahnanlagen des Unterkiefers sind in ihrer Entwicke-
lung hinter denen des Oberkiefers deutlich zurückgeblieben.
Von den drei Milchschneidezähnen, welche, wie die des Ober-
kiefers, dem Mundhöhlenepithel direkt, ohne Vermittelung einer
Zahnleiste, aufsitzen, ist der dritte, kleinste, wieder lateral
aus der Reihe gedrängt. Die Eckzahnanlage übertrifft zwar den
letzten Schneidezahn an Grösse, steht aber in ihrer ganzen Aus-
bildung weit hinter der des Oberkiefers zurück. Von den vier
Milchprämolaren ist eine Anlage des ersten mit Sicherheit über-
haupt nicht nachzuweisen. Der vierte, grösste Prämolar ist an
der dem Mesoderm zugekehrten Fläche abgeplattet und leicht
konkav. Hinter ihm reicht die Zahnleiste weiter in einer Länge,
die fas: der Ausdehnung der vier Prämolaren entspricht. Sie
trägt hier eine lange, schlanke, spindelförmige Verdickung, die
Anlage des M..
Von den beiden Nebenleisten (Tafel 4, Fig. 10) zieht die
vordere, vor dem Pd, beginnend, nach rückwärts und reicht,
allmählich niedriger werdend, bis in die Mitte zwischen hinterem
Ende von Pd, und vorderem Ende von M,. Ziemlich weit vor
ihrem distalen Ende, dem freien Zahnleistenrand genähert, be-
ginnt die mittlere Nebenleiste, um an der labialen Fläche des
Schmelzorganes von M, auszulaufen.
Während der Vergleich der Nebenleisten des Oberkiefers
des eben besprochenen Embryo mit denen des jüngeren die
Weiterentwickelung der Leisten klar zeigt, könnten bei der
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 49
Betrachtung der unteren Nebenleisten Zweifel darüber ent-
stehen, ob die niedrige mittlere Nebenleiste des Embryo a
wirklich ein Derivat der mächtigen Nebenleiste des jüngeren
Embryo ist. Hat es doch bei diesem Embryo den Anschein,
als ob sich die Zahnleiste nahe ihrem Ende in zwei gleich-
wertige Äste teilen würde. Eine Aufklärung dieser Verhältnisse
bot ein Embryo von 9!/; mm Kopflänge, der in der allgemeinen
Entwickelung des Zahnsystems kaum hinter dem Embryo dieses
Stadiums zurücksteht. Das distale Ende der unteren Zahnleiste
— von der Mitte des Pd, angefangen — wurde bei zweihundert-
facher Vergrösserung rekonstruiert (Tafel 4, Fig. 11). An dem
Modell sieht man an der labialen Fläche des vierten Prämolaren
das hintere Ende der vorderen Nebenleiste auslaufen. Auch
bei diesem Embryo ist bereits der erste Molar als spindelförmige
Verdickung der Zahnleiste angelegt. Von dem hinteren Ende
des Pd, zieht nun die mittlere Nebenleiste distalwärts, um
an der labialen Fläche des M, zu. enden. Diese Nebenleiste
liegt hier dem Rande der Zahnleiste noch viel näher als bei
dem Embryo a, ähnelt also in dieser Hinsicht noch mehr dem
jüngeren Embryo E. Doch tritt sie hier bereits an Mächtigkeit
gegenüber dem freien Zahnleistenrande zurück, ein Umstand,
der einerseits auf eine Rückbildung der Nebenleiste, anderer-
seits auf ein rascher fortschreitendes Wachstum der Zahn-
leiste zurückzuführen ist. Durch diese nun auftretende In-
kongruenz zwischen Nebenleiste und Zahnleiste wird uns das
Verhalten der Leisten an dem Embryo a des eben beschriebenen
Stadiums erst recht verständlich.
Die Durchsicht der Serie zeigt, dass in diesem Stadium
auch die histologische Differenzierung des Schmelzorganes be-
reits ihren Anfang macht. Verfolst man die Zahnleiste von
distal nach mesial, so kann man zunächst an den Neben-
leisten konstatieren, dass sie sich aus einer äusseren Schichte,
dem Stratum germinativum, und einer Innenschichte, den Deri-
Anatomische Hefte 1. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). 4
50 HARRY SICHER,
vaten der Deckschichte, aufbauen. Die Zahnleiste selbst zeigt
in der Gegend des M, knapp nach ihrem Ursprung aus dem
Mundhöhlenepithel eine Verdickung, die körperlich einen Wulst
darstellt, der an der lingualen Seite der Zahnleiste weiter vor-
springt als an der labialen, ein Verhalten, das an älteren
Embryonen noch deutlicher wird.
Eine innere Differenzierung hat das Schmelzorgan von
Pd, Cd und Id, erfahren. Wir können hier bereits von
einem hohen inneren, einem kubischen äusseren Schmelzepithel
sprechen, während sich im Zentrum des Schmelzorgans bereits
die Schmelzpulpa zu differenzieren beginnt: die Zellkerne
rücken auseinander, zwischen ihnen treten helle Lücken auf.
Im Hinblick auf die Publikationen über das Schmelzseptum
Bolks wurde gerade dieses Stadium genau untersucht. Doch
kann ich nur sagen, dass bei Talpa die Aufhellung, die zur
Bildung der Schmelzpulpa führt, ungefähr im Zentrum des
Schmelzorganes auftritt und von Anfang an einheitlich ist.
Bezüglich der histologischen Differenzierung bleibt der
Unterkiefer ebenso in seiner Entwickelung hinter dem Ober-
kiefer zurück, als in bezug auf die formale Ausgestaltung.
Eine Differenzierung des Schmelzorganes ist nur im Pd, vor-
handen, und hier nur gerade angedeutet.
Die Abgrenzung von Zahnleiste und Schmelzorganen gegen
das Mesoderm ist eine vollständig scharfe. Die mesodermale
Verdichtung folgt zwar noch dem freien Rand der ganzen Zahn-
leiste, doch tritt sie bereits an den Schmelzorganen deutlicher
hervor, als zwischen denselben.
In den; Entwickelungsgang des Vestibulum oris ist kein
wesentlich neuer Faktor hinzugetreten. Wir finden im Ober-
kiefer in der distalen Partie seine Anlage als eine ohne Zu-
sammenhang mit der Zahnanlage auftretende offene Furche,
wie bei den Embryonen des jüngeren Stadiums. Im Bereiche
der Schneidezähne hingegen sehen wir eine plumpe Epithel-
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. Sl
leiste entstehen, die jenen innigen Zusammenhang mit den
Schmelzorganen zeigt, wie wir ihn bei der Beschreibung des
Modeils kennen gelernt haben.
Im Unterkiefer sehen wir von dem Leisten- und Furchen-
system der jüngeren Embryonen nichts erhalten als eine seichte
Furche, die von der Eckzahngegend, allmählich verflachend,
nach vorne zieht. Ihr entspricht eine leichte Epithelverdickung.
Die Ductus incisivi inferiores, wie wir jene Epithel-
einstülpungen nennen wollen, die wir schon bei jüngeren Em-
bryonen zwischen den mittleren Incisivi fanden, haben sich
zu soliden, etwa 100 u langen Strängen entwickelt.
VI-Stadr um:
Die rechte Hälfte der oberen und unteren Zahnleiste des
Embryo b — 17,5 mm grösste Länge — wurde bei 200 facher
Vergrösserung rekonstruiert.
In der Schneidezahngegend des Oberkiefers (Tafel 4,
Fig. 12) fällt zunächst die starke Grössenzunahme der Schmelz-
organe auf. Das des ersten Milchincisivus ist schüsselförmig
geworden, die des Id, und Id, tragen an ihrer Oberfläche
leichte Grübchen. Die Vestibularleiste, welche peripher die
Anlagen der Schneidezähne umgibt, reicht bereits neben dem
dritten Incisivus distalwärts und verflacht allmählich vor dem
Eckzahn. Ihre Beziehungen zu den Zahnanlagen sind weiter
so enge geblieben wie in dem jüngeren Stadium. An der
Stelle der Schmelzorgane der Schneidezähne fehlt eine Zahn-
leiste. Nur zwischen den Zahnanlagen springt sie gegen das
Mesoderm vor. Die Haftstelle des Schmelzorganes an dem
Mundhöhlenepithel beschränkt sich aber nicht etwa auf das
streifenförmige Feld, das normalerweise von der Zahnleiste
besetzt wird, sondern jedes Schmelzorgan haftet auch an einer
schräg von hinten, unten nach vorne, oben verlaufenden Linie
4*
52 HARRY SICHER,
an der Innenfläche der Vestibularleiste. Wir haben schon bei
der Besprechung des früheren Stadiums zu zeigen versucht,
dass gerade das Fehlen der Zahnleiste in der Schneidezahn-
gegend, d. h. die unmittelbaren Beziehungen zwischen Schmelz-
organ und Mundhöhlenepithel es sind, welche diese eigen-
tümlichen Beziehungen zwischen Schmelzorgan und Vestibular-
leiste bedingen.
Das Schmelzorgan des Eckzahnes zeigt bereits den Be-
sinn der Ersatzzahnentwickelung. Lingual vom tief gehöhlten
Schmelzorgan des Milchcaninus ragt der freie Zahnleistenrand
in Form einer noch niedrigen Verdickung vor.
Die Zahnleiste der Eckzahngegend selbst ist durch einen
Aushöhlungsprozess in ihrem distalen Abschnitt zweigeteilt
worden. Von distal senkt sich eine kurze blinde Bucht ein,
die medial (lingual) von dem Hauptteil der Zahnleiste, lateral
(labial) von einer Epithellamelle begrenzt ist, welche der
Bolkschen lateralen Schmelzleiste entspricht. Die Bucht
selbst ist nach Bolk als Schmelznische oder Schmelzkrypte
zu bezeichnen.
Während die ersten drei Prämolaren in ihrer Entwicke-
lung nur wenig fortgeschritten sind, ist der vierte Milchprämolar
bereits zu einem glockenförmigen Gebilde geworden, an dessen
lingualer Seite überdies die Zahnleiste bereits als niedrige
Ersatzleiste vorspringt.
Das Schmelzorgan des ersten Molaren stellt eine plumpe,
breite, leicht gehöhlte Platte dar. Wie die Besichtigung von
oben lehrt (Tafel 4, Fig. 13), besitzt sie ein vorderes spitzes,
ein hinteres. breites Ende. Von Interesse ist es, schon an
diesem Stadium den Rand dieses Schmelzorganes zu betrachten.
Dieser Randwulst ist an der labialen Seite nach vorne zu
verfolgen, wo er um die mesiale Spitze des Organs nach
lingual umbiegt. Linguodistal endet er verdickt. Distal jedoch
bleibt zwischen den beiden Seitenrändern ein Defekt, so dass
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. bp}
hier die flache Konkavität in eine offene Furche ausläuft. —
Hinter dem Schmelzorgan des M, wird die Zahnleiste rasch
niedriger. Knapp vor ihrem Ende trägt sie eine kurze labiale
Leiste, die distal in die Zahnleiste übergeht.
Was nun die beiden Nebenleisten anlangt, so können wir
sagen, dass sie sich bereits im Stadium der Rückbildung be-
finden. Die vordere Nebenleiste, welche die Schmelzorgane
von Pd, und Pd, begleitet, ist bereits mehrfach unterbrochen.
Neben Pd, erhebt sie sich zu einer ziemlich hohen, am Rande
verdickten Falte, ähnlich neben dem distalen Anteil von Pd,.
V.on dem hinteren Ende des vierten Milchprämolaren läuft
die mittlere Nebenleiste distalwärts, um ungefähr in der Mitte
des M, zu enden.
Am Modell des Unterkiefers (Tafel 4, Fig. 14) sind in
der Schneidezahngegend keine auffallenden Veränderungen
wahrzunehmen, natürlich abgesehen von der Grössenzunahme
der Schmelzorgane und ihrer Fortbildung durch das Auftreten
der gegen das Mesoderm konkaven Grübchen. Der Unterschied
in der relativen Entwickelung des oberen und unteren Eck-
zahnes zu ungunsten des letzteren tritt immer deutlicher her-
vor. Der untere Cd stellt in diesem Stadium noch immer eine
rundliche Verdickung der Zahnleiste dar, befindet sich also
noch immer in dem sogenannten ‚„knospenförmigen“ Stadium.
Die vier Milchprämolaren nehmen ziemlich gleichmässig
an Grösse zu, der letzte trägt bereits eine seichte Grube an
seiner mesodermalen Fläche.
Das Schmelzorgan des ersten Molaren stellt einen läng-
lichen, bereits ziemlich tief gehöhlten Wulst dar, dessen Kon-
kavität nach unten und lingual gekehrt ist. Die Besichtigung
seiner konkaven Fläche (Tafel 4, Fig. 15) zeigt, ähnlich wie
am oberen M,, dass eine scharfe Begrenzung des Schmelz-
organes gerade .an seinem distalen Ende fehlt, während sie
54 HARRY SICHER,
lingual, labial und mesial von einem etwas verdickten auf-
geworfenen Rand beigestellt wird.
Hinter dem M, setzt sich die Zahnleiste noch ein Stück
weit, allmählich niedriger werdend, fort.
Die Nebenleisten des Unterkiefers sind gerade in diesem
Stadium ausgezeichnet und in typischer Form entwickelt. Die
vordere beginnt hinter dem Schmelzorgan des Pd, und endet
hinter Pd,. Näher dem freien Zahnleistenende beginnt noch
vor ihrem distalen Ende die mittlere Nebenleiste, um nach
Fig. 4.
Zwei übereinander gezeichnete Schnitte durch den vierten Milchprämolaren des
Embryo a und des Embryo b. Vergrösserung 200 fach.
kurzem Verlauf an der labialen Fläche des Schmelzorganes
von M, auszulaufen.
Die Zahnleiste hinter M, trägt eine stumpfe, wenig deut-
liche Verdickung an ihrer labialen Fläche.
Die Durchsicht der Serie des Embryo b sowie die eines
etwas älteren Embryo c (Kopflänge 11 mm) ergibt zunächst
in bezug auf die innere Differenzierung der Schmelzorgand,
dass es im Oberkiefer bei Id,, Cd, Pd, und M, zur Aus-
bildung einer Schmelzpulpa gekommen ist. Während dieser
Vorgang bei M, erst gerade angedeutet ist, findet man ge-
legentlich in den anderen Zähnen bereits echte Sternzellen.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 55
Bei der Umwandlung des Schmelzorganes aus dem ‚kappen-
förmigen“ Stadium in das „glockenförmige“, mit anderen
Worten bei der Entstehung der für die Zahnpapille bestimmten
Höhlung, spielt zweifellos das Epithel die Hauptrolle. Dass
aber nicht alle Umgestaltungen durch das aktive Epithelwachs-
tum erklärt werden können, dass vielmehr bis zu einem ge-
wissen Grade in den Anfangsstadien auch dem Mesoderm eine
aktive Rolle zufällt, ergibt sich wohl aus Textfig. 4. Hier
wurden die Konturen eines mittleren Querschnittes von Pd,
G £ B;
f 4
q
AL
|
J
ZN a SA
aa u Rau zRerne:
Fig. 5.
Acht aufeinanderfolgende Schnitte durch den oberen Milcheckzahn des Embryo b
Vergrösserung 66 fach.
des Embryo a und b übereinander gezeichnet. Man sieht deut-
lich, dass die Konkavität des Schmelzorganes nicht nur durch
Vorwachsen der begrenzenden Ränder, sondern auch durch
tieferes Eindringen der Papille vertieft wurde.
Das Bild der „lateralen Schmelzleiste und der Schmelz-
nische“, wie es sich bei der Verfolgung der Serie am Cd dar-
stellt, zeigt am besten die Abbildung Textfig. 5 von acht auf-
einanderfolgenden Schnitten durch diesen Zahn.
Die eigentümlichen Beziehungen zwischen den Schmelz-
organen der Schneidezähne zur Vestibularleiste bedingen in
der Verfolgung der Serie nicht unwesentliche und im ersten
56 HARRY SICHER,
Augenblick schwer zu deutende Komplikationen. Dadurch, dass
nämlich die Haftlinie jedes Schmelzorganes (der Incisivi) gegen
die Vestibularleiste in Form einer schräg vorwärts verlaufenden
Zacke ausgezogen ist, scheinen auf gewissen Schnitten zwei
Zahnleisten, respektive zwei Zusammenhänge der Schmelz-
organe mit der Zahnleiste zu bestehen (Textfig. 6). Nur die
Fig. 6.
Zwölf aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende von Id, und das
vordere von Id, des Embryo b. E = Ersatzleiste. V — Vestibularleiste. Ver-
grösserung 66 fach.
plastische Rekonstruktion kann hier Klarheit schaffen. Diese
Verhältnisse, welche im älteren Stadium noch deutlicher
werden, haben scheinbar schon zu Irrtümern Anlass gegeben
(Adloff beim Schwein).
Im Unterkiefer zeigen die beiden Embryonen im distalen
Abschnitt keine Besonderheiten. In der Schneidezahngegend
ist es nun auch im Unterkiefer zur Ausbildung einer Vestibular-
leiste gekommen, welche ebenfalls innige Zusammenhänge mit
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd,, H. 1). Tafel 5.
M, Pd, Pd,
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden,
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea.
ı oO
De |
Id, und Id, zeigt, die wohl auf dieselben Ursachen zurück-
sehen wie die gleichen Verhältnisse im Oberkiefer.
Während die Nebenleisten beider Embryonen in ihrer
histologischen Struktur nur Bekanntes bieten, ist es bei einem
dritten Embryo desselben Alters (Embryo b’) zu einer eigen-
\
A
Ren.
er
N
AN
ar
ioad:
Schnitte durch den Unterkiefer des Embryo b‘. Die Zahlen zwischen den
Schnitten bedeuten die Zahl der nicht abgebildeten, dazwischenliegenden
Schnitte. Vergrösserung 66fach. ,b,c= Pd, d=Pd, e&8,f-v = Pd,
w—z = M..
tümlichen Differenzierung der vorderen unteren Nebenleiste ge-
kommen. Sie fällt hier bereits durch ihre mächtige Längen-
entwickelung auf, da sie, wie die Abbildung lehrt, noch neben
Pd, nach vorne reicht. Neben dem distalen Anteil von Pd,
zeigt nun ihr freies Ende eine deutliche Zweiteilung, die sich
58 HARRY SICHER,
auf zehn Schnitte, also über 100 u, verfolgen lässt. An diesen
Schnitten (Textfig. 7) sieht die Nebenleiste bei oberflächlicher
Betrachtung ganz wie das Miniaturbild eines Zahnkeimes aus.
Jede Verdichtung im Bereiche des umgebenden Mesoderms
aber, jede Andeutung einer papillenähnlichen Struktur fehlt
vollkommen. Weiter distal tritt noch vor dem Ende der vorderen
Nebenleiste die mittlere Nebenleiste auf, so dass eine Zeit-
lang die labiale Schmelzleistenfläche zwei Nebenleisten zu
tragen scheint. An der lateralen Wand von M, verstreicht die
hintere Nebenleiste allmählich.
vu Stadıum
Die drei mit d, e und f bezeichneten Embryonen zeigen so
wenig prinzipielle Verschiedenheiten, dass sie bei der Be-
schreibung in ein Stadium zusammengefasst werden können.
Das Zahnsystem des Embryo d, 21 mm grösste Länge, 11,5 mm
Kopflänge, sowie das des Embryo f, 23 mm grösste Länge und
12 mm Kopflänge, wurde bei 150facher Vergrösserung rekon-
struiert. Embryo e ist zwar etwas grösser als d — er misst
22 mm grösste Länge und 12 mm Kopflänge —, ist jedoch in
bezug auf die Entwickelung seines Zahnsystems etwas jünger
als dieser.
Der Beschreibung wollen wir die Modelle des Embryo d
zugrunde legen und nur die geringgradigen Veränderungen er-
wähnen, die sich noch im Laufe dieses Entwickelungsstadiums
abspielen.
Unter den oberen Milchschneidezähnen tritt das relative
Überwiegen von Id, immer mehr hervor. Er ist halbkugelförmig
und tief gehöhlt. Id, und Id, stellen längsovale noch ziemlich
flache schüsselförmige Gebilde vor, deren Längsachse etwas
schräg von distal lingual nach mesial labial gerichtet ist.
Labial sind die drei Schneidezähne von der Vestibular-
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 59
leiste flankiert, auf welche die Haftstellen der Incisivi etwas
übergreifen, wie in dem letzten Stadium (Tafel 4, Fig. 16).
Die Vestibularleiste hat aber an Höhe bereits abgenommen.
Die Furche, welche den Milchcaninus von der Ersatzzahn-
anlage scheidet, ist tiefer geworden, wodurch die Ersatzleiste
besser differenziert erscheint. Die Schmelznische, die wir an
der distalen Seite des Caninus im früher beschriebenen Stadium
fanden, ist seichter geworden, die laterale Schmelzleiste kaum
angedeutet. Noch auffallender, als in den früheren Stadien,
ist jetzt der Gegensatz in der Entwickelung zwischen Pd, und
den drei ersten Milchprämolaren (Tafel 5, Fig. 17). Während
der letzte Prämolar in seiner Grösse dem ersten Molaren kaum
nachsteht, sind Pd, bis Pd, noch die kleinsten Zähne des Ge-
bisses. Pd, ist noch immer nur als Verdickung der Zahnleiste
vorhanden, Pd, und Pd, sind an ihrer Oberfläche flach konkav.
Der vierte Prämolar besitzt ein in die Länge gezogenes
Schmelzorgan, dessen Rand lingual und labial in Form einer
Zacke vorspringt. Die beiden Zacken sind gegeneinander abge-
bogen. Sie deuten an, dass bereits die Bildung des Wurzel-
teiles der Epithelscheide beginnt. Ihre Vereinigung bedingt
später das Auftreten einer mesialen und einer distalen Wurzel.
Das Schmelzorgan des ersten Molaren ist eine breite,
plumpe, konkave Platte (Tafel 4, Fig. 18). Ihr Rand um-
greift wieder nur lingual, mesial und labial die Konkavität,
während er distal fehlt. Die Konkavität selbst ist keine ein-
heitliche. Sie ist in der mesialen Hälfte des Schmelzorganes
zu einer Grube vertieft. Eine leichte Vorragung — des inneren
Schmelzepithels — begrenzt sie gegen eine zweite distale Ver-
tiefung, die entsprechend des Fehlens eines distalen Rand-
wulstes nach hinten offen ausläuft.
An der lingualen Seite von M, hat durch eine von distal
einschneidende Furche die Abschnürung der Ersatzzahnleiste
begonnen.
60 HARRY SICHER,
Hinter dem ersten Molaren hat sich die Zahnleiste weiter
verlängert. Der kurze hakenförmige Fortsatz, den wir im
früheren Stadium an ihrer labialen Fläche fanden, ist zu einer
langen Leiste geworden. Sie beginnt niedrig am distalen Ende
des ersten Molaren, haftet an der Zahnleiste knapp an deren
Ansatz am Mundhöhlenepithel, und geht am hinteren Ende der
Zahnleiste in diese selbst über. Der Rand der Zahnleiste selbst
ist bereits deutlich verdickt und bildet so die Anlage des
zweiten Molaren.
Von der vorderen Nebenleiste ist nur mehr neben Pd, ein
deutlicher Rest vorhanden. Die mittlere Nebenleiste zieht vom
hinteren Ende des Pd, rasch verflachend distalwärts.
Das Modell des Unterkiefers des Embryo d zeigt in der
Schneidezahngegend eine laterale Falte, die mit den Schmelz-
organen von ld, und Id, zusammenhängt. Es ist dies — wie
auch die histologische Untersuchung zeigt — die Vestibular-
leiste. Der dritte Schneidezahn behält weiter seine etwas nach
lateral verschobene Lage bei. Der Eckzahn, der nur um weniges
den letzten Schneidezahn an Grösse übertrifft, zeigt noch keine
Andeutung einer Ersatzleiste.
Die vier Prämolaren nehmen von vorne nach hinten an
Grösse zu. Auch im Unterkiefer tritt jetzt das relativ ver-
stärkte Wachstum des Pd, mehr hervor als früher. An diesem
selbst ist durch eine seichte Furche eine Ersatzleiste bereits
abgetrennt.
Das Schmelzorgan des M, ist tief gehöhlt und sieht mit
seiner Konkavität nach innen und unten. Die Höhlung selbst
(Tafel 5, Fig. 19) wird von einer kürzeren labialen und einer
längeren lingualen Wand begrenzt, die mesial ineinander über-
sehen, distal jedoch die Grube unbegrenzt enden lassen. Da-
durch resultiert ein ähnliches Verhalten wie am oberen ersten
Molaren, nur ist am Unterkiefer die mangelhafte Begrenzung
des Schmelzorganes an seinem distalen Umfang noch deutlicher.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 61
Hinter M, trägt die Zahnleiste eine lange spindelförmige
Verdickung, die Anlage des zweiten Molaren.
Die vordere Nebenleiste ist noch ziemlich deutlich aus-
gebildet. Sie zieht vom hinteren Ende des Pd, bis gegen M.-
Näher dem Zahnleistenrande wird sie in ihrem letzten Stücke
von der mittleren Nebenleiste begleitet, die an der labialen
Fläche von M, ausläuft.
Das Ende der Zahnleiste trägt im Gegensatz zum Ober-
kiefer keine sekundäre Leiste.
Die Veränderungen, welche die Zahnleiste und die Schmelz-
organe bei dem ältesten Embryo dieses Stadiums — Embryo f
— zeigen, sind, abgesehen von der Grössenzunahme, kurz
folgende: |
Die Vestibularleiste der Schneidezahngegend ist niedriger
geworden und zeigt nur entsprechend den Schmelzorganen der
Incisivi Erhöhungen. Dabei ist aber ihr Zusammenhang mit
den Schmelzorganen vollkommen erhalten geblieben.
Die Entwickelung der Ersatzleiste hat Fortschritte gemacht.
Am Id, ist sie angedeutet, bei Cd und Pd, hat sie sich noch
weiter von dem Schmelzorgan emanzipiert. Bei Cd trägt sie
sogar eine Verdickung, die Anlage des bleibenden oberen
Caninus.
Auch am ersten Molaren ist sie weiter differenziert; sie
lässt sich hier von distal her bis gegen das mesiale Drittel des
Zahnes verfolgen. |
Hinter M, ist die Zahnleiste und die sekundäre Leiste
weiter verlängert, die Anlage des zweiten Molaren tritt als
deutlichere Verdickung hervor.
Die Nebenleisten sind bis auf Spuren gänzlich geschwunden.
Im Unterkiefer sind die Veränderungen noch geringer. Nur
lässt sich bereits jetzt erkennen, dass der erste Prämolar eine
Beschleunigung seines Wachstums erfahren hat, da er den
Pd, an Grösse bereits um ein Geringes übertrifft.
62 HARRY SICHER,
Die Anlage des zweiten Molaren ist bereits an ihrer meso-
dermalen Fläche schwach gehöhlt. Nebenleisten fehlen voll-
kommen.
Die histologische Untersuchung des eben beschriebenen
Stadiums an der Hand von Serien zeigt, dass mit Ausnahme
von Pd, und M, alle Schmelzorgane bereits weit differenziert
o
Hd
&
Fig. 8.
Zwölf aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende von Id, und das
vordere von Id, des Embryo f. Vergrösserung 66fach. E = Eirsatzleiste.
V = Vestibularleiste.
sind. Am weitesten sind in ihrer inneren Differenzierung die-
jenigen Zähne, welche auch formal den übrigen vorauseilen:
Id,, Cd, Pd, und M,. Besonders an Cd und Pd, lässt sich
der typische Aufbau des Schmelzorganes ausgezeichnet stu-
dieren. Das innere Schmelzepithel besteht aus einer mehr-
reihigen Schichte von Cylinderzellen. Ziemlich plötzlich geht
es am Rande des Schmelzorganes in das platte äussere Schmelz-
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 63
epithel über. Von den sternförmigen Zellen der Schmelzpulpa
ist das innere Schmelzepithel durch die Schichten der poly-
gonalen Zellen des Stratum intermedium geschieden.
Verfolgt man die Serie von mesial nach distal, so kann
man zunächst in der Schneidezahngegend des Oberkiefers die
eigentümlichen Beziehungen der Schmelzorgane zur Vestibular-
leiste gerade an diesem Stadium am deutlichsten studieren.
So wie in dem jüngeren Stadium ergeben sich auch hier an
einzelnen Schnitten Verhältnisse, die an eine Verdoppelung
der Zahnleiste denken lassen (Textfig. 8). Die Erklärung dieses
Verhaltens wurde bereits gegeben.
Die eigentümliche akzessorische Leiste des distalen Zahn-
leistenendes hinter M, ist am Embryo e wohl am besten ent-
wickelt. Hier sehen wir, dass an der Zahnleiste, die mit breiter
Basis dem Mundhöhlenepithel aufsitzt, ein Fortsatz entspringt,
der an seinem freien Ende deutlich verdickt ist (Tafel 5,
Fig. 20). Weiter distal wird der Fortsatz kleiner, löst sich
aber endlich im Zusammenhang mit der Zahnleiste vom Mund-
höhlenepithel ab. Das Ende der Zahnleiste gewinnt dann ein
hakenförmiges oder kommaförmiges Aussehen (Textfig. 9).
Die Bedeutung dieses Fortsatzes — richtiger dieser Leiste
— wollen wir später im. Zusammenhange besprechen. Hier
sei nur erwähnt, dass es sich um jenes Gebilde handelt, das
Bolk der Zahndrüsenleiste der Reptilien homologisiert hat.
Im Unterkiefer fehlt dem Ende der Zahnleiste ein solches
Gebilde vollkommen.
Die Anlage des Vestibulum oris wird wie in den früheren
Stadien in der Schneidezahngegend des Ober- und Unterkiefers
von der Vestibularleiste gebildet, die innige Beziehungen zur
Zahnleiste, respektive dort, wo eine solche fehlt, zu den
Schmelzorganen selbst aufweist. Im Unterkiefer finden wir,
dass sich die Vestibularleiste, nach hinten allmählich ver-
64 HARRY SICHER,
flachend, längs einer seichten Furche bis in dıe Eckzahngegend
verfolgen lässt.
Im Oberkiefer reicht die Vestibularleiste bis an den dritten
Schneidezahn — sie ist in dem beschriebenen Stadium niedriger
Er ua BE
Fig. 9.
25 aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende der oberen Zahnleiste
des Embryo e. Vergrösserung 66fach. a —= akzessorische Leiste. Z = Zahn-
leiste.
geworden. Im distalen Abschnitt der Mundhöhle hatte sich
das Vestibulum oris in Form einer offenen Furche angelegt,
die sich nunmehr nach mesial und distal verlängert. Sie reicht
nun von der Mitte des M, nach vorne (Textfig. 10) bis neben
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 65
Pd,; schon in der Gegend des Pd, ist es nicht mehr eine
vollkommen offene Furche, vielmehr finden wir hier die Tiefe
der Furche bereits durch eine Epithelmasse erfüllt. An ihrem
mesialen Ende haben wir dann eine typische plumpe Vestibular-
leiste vor uns.
u [
e-72
Fig. 10.
Die Schnitte zeigen das verschiedene Verhalten von Vestibularleiste und Zahn-
leiste im Oberkiefer. Embryo f. Vergrösserung 50fach. a —= Pd, b= Pd,.
Ber —eM,.
ERINE
Fig. 11.
a — Embryo c. b = Embryo f. Vergrösserung 50fach. A — Alveolarwall.
Ps.-A — Pseudoalveolarwall. V = Vestibularfurche.
Medial von dieser hinteren Vestibularfurche finden wir
den Wulst des Alveolarwalles. In den vorderen Partien inseriert
die Zahnleiste medial von diesem Alveolarwall. Dahinter ent-
springt sie von der Kuppe des Wulstes, weiter distal sogar
lateral neben ihm. Der Vergleich der Stelle des Pd, des
Anatomischo Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). bi}
66 HARRY SICHER,
Embryo e mit der gleichen des Embryo f (Textfig. 11) zeigt
uns aber, dass die Zahnleiste ihren Ansatz in bezug auf diesen
Wulst geändert hat; sie ist scheinbar nach medial gewandert.
In der Tat ist dieses Verhalten wohl darauf zurückzuführen,
dass der zwischen Zahnleiste und Vestibularfurche gelegene
Wulst immer mehr betont wird, während der medial von der
Zahnleiste gelegene Anteil des Wulstes verstreicht. Dieser
medial von der Zahnleiste gelegene Wulst ist nichts anderes
als Bolks Pseudoalveolarwall.
Ydı
33
Sn
Fig. 12.
Embryo f. Frontalschnitt durch Id,. Vergrösserung 33fach. V = Vesti-
bularleiste.
Im Schnauzenteil des Oberkiefers hat sich in diesem Sta-
dium eine neue Epithelleiste (Textfig. 12) gebildet, die in
weitem Bogen die Zahnanlagen umfasst. Sie bleibt nicht auf
die Mundhöhle beschränkt, sondern läuft mit ihrem hinteren
Ende auf die Aussenseite des Gesichtes aus.
Die Ductus incisivi inferiores sind zu etwa 150 u langen
soliden Strängen ausgewachsen.
Yıl. Stadıum.
Der Embryo g dieses Stadiums besitzt eine grösste Länge
von 26 mm, eine Kopflänge von 12,5 mm. Sein Zahnsystem
wurde bei 150 facher Vergrösserung modelliert.
Der erste obere Milchschneidezahn (Tafel 5, Fig. 21) ist
ein langgestrecktes Gebilde, dessen abgerundete Spitze nach
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 6
vorne und abwärts sieht. Der freie Rand seines Schmelz-
organes ist nicht gleichmässig abgeschnitten, sondern springt
in Form von drei Zacken vor. Die beiden anderen Schneide-
zähne — nur halb so gross als der erste — stellen tief aus-
gehöhlte becherförmige Schmelzorgane vor. Die Ersatzzahn-
leiste ist nunmehr in der ganzen Länge der drei Schneidezähne
gut ausgebildet. Lingual und immer ein wenig distal von den
Schmelzorganen der Milchzähne ist sie höher und verdickt, so
dass ıhr Rand ım ganzen girlandenförmig verläuft. Die Ver-
dickungen des Randes sind die ersten Anlagen der bleibenden
Zähne.
Die primäre Vestibularleiste ist zu einer unansehnlichen
Verdickung geworden, die lateral neben den Milchschneide-
zähnen verläuft. Nur an den Stellen, wo sich die schon des
öfteren beschriebenen Verbindungen der Vestibularleiste mit
den Schmelzorganen finden, ist die Vestibularleiste etwas
erhöht.
Das Schmelzorgan des Milcheckzahnes ist ein düten-
förmiges Gebilde, das nur noch durch mehrere dünne, unregel-
mässige Epithelbrücken mit der Zahnleiste in Zusammenhang
steht. Die Anlage des bleibenden Caninus ist eine plumpe
längsovale Verdickung, welche eine noch seichte, nach lingual
und oben gerichtete Konkavität trägt. Einen interessanten Be-
fund bietet die labiale Fläche des bleibenden Caninus (Tafel 5,
Fig. 22). Hier erhebt sich eine nach vorne gerichtete Leiste,
die mit dem Schmelzorgan eine nach vorne offene seichte
Grube begrenzt. Bei der Besprechung der nächsten Stadien
wollen wir diese Bildung noch genauer studieren.
Von den Schmelzorganen der Milchprämolaren ist das erste
noch immer auf dem Stadium der „knospenförmigen‘“ Anlage.
Pd, und Pd, sind ungefähr gleich gross und tief gehöhlt. Vom
mesialen Ende her bereitet sich die Abschnürung der Ersatz-
leiste vor. Neben den drei ersten Prämolaren entspringt noch
5*
68 HARRY SICHER,
aus dem Mundhöhlenepithel eine niedrige Leiste, die an der
Implantationsstelle des Pd, und Pd, mit diesen selbst in Zu-
sammenhang tritt. An der mesialen Seite der Prämolaren ist
es wieder durch einen Aushöhlungsprozess der Zahnleiste zur
Bildung von kleinen Gruben gekommen, welche wir als
Schmelznischen nach Bolk bezeichnen müssen. Durch diesen
Prozess entsteht natürlich eine Zweiteilung der Zahnleiste in
eine mediale und eine laterale. Gerade die letztere ist es,
welche mit der früher beschriebenen Längsleiste in Zusammen-
hang tritt.
Der freie Rand des mächtig entwickelten Schmelzorganes
von Pd, trägt wieder eine linguale und eine labiale Zacke,
welche die Zweiteilung der Wurzel vorbereiten. An seinem
distalen Ende sehen wir ein ganz ähnliches Bild wie an dem
mesialen Ende der vorangehenden Prämolaren: Eine seichte
Schmelznische, lateral begrenzt von der lateralen Schmelzleiste,
die sich als eine Leiste an der lateralen Fläche der Zahnleiste
distal fortsetzt. Die Ablösung der Ersatzleiste längs der lingua-
len Fläche des Zahnes hat weitere Fortschritte gemacht.
Das Schmelzorgan des ersten Molaren zeigt ziemlich weit-
gehende Formveränderungen. Bei der Besichtigung von oben
(Tafel 5, Fig. 23) sieht man zunächst, dass der Rand des
Schmelzorganes, der sich labial und mesial ziemlich gleich-
mässig erhoben hat, lingual in eine vordere schmale und eine
hintere breite Zacke ausgewachsen ist, während er zwischen
beiden nach lingual ausgebogen erscheint. Distal ist zwar die
aus früheren Stadien bekannte mangelhaft abgegrenzte Stelle
schmäler geworden, doch fehlt auch jetzt noch ein deutlicher
Rand. Die Konkavität des Schmelzorganes zeigt uns zwei ver-
tiefte Stellen, die eine mesial, die andere distal gelegen, die
durch einen leichten Grat getrennt sind. Diese zwei Ver-
tiefungen entsprechen wohl den beiden grossen buccalen Mo-
larenhöckern, der linguale Kronenteil ist erst in Bildung be-
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 69
griffen durch die lingual auswachsende Partie des Schmelz-
organes. Die beiden lingualen Zacken mit der noch weniger
deutlich ausgesprochenen Erhebung des labialen Randes bilden
die Vorbereitung zur Dreiteilung der Molarenwurzel. Lingual
von M, ist eine Ersatzleiste deutlich durch eine tiefe Furche
vom Schmelzorgan abgetrennt.
Hinter dem ersten Molaren ist die Zahnleiste stark ver-
dickt zur Anlage von M,. Dieser längsgestellte plumpe Wulst
beginnt bereits vor dem Ende von M,, welcher lateral nach
distal ausgewachsen ist. Die in den früheren Stadien be-
schriebene Epithelleiste, welche an der Haftstelle der Zahn-
leiste am Mundhöhlenepithel von ihr entspringt und an ihrem
Ende in die Zahnleiste übergeht, ist auch bei diesem Embryo
vorhanden und ist entsprechend der Verlängerung der Zahn-
leiste selbst länger geworden. Zwischen ihr und dem Zahn-
leistenrande finden wir eine Reihe unregelmässiger Erhebungen
der lateralen Zahnleistenfläche, von welchen zwei deutlicher
hervortreten. Die eine beginnt mesial etwa in der Mitte des
Schmelzorganes von M, und verliert sich noch vor dem Be-
ginne des M,, die andere, näher dem Rand gelegen, ist gerade
unterhalb M, am besten entwickelt und flacht nach vorne
und hinten allmählich ab. Sie ist wohl zu homologisieren mit
der ‚mittleren Nebenleiste‘“‘, da sie zu M, ganz ähnliche Be-
ziehungen zeigt wie die genannte Leiste zu M, (vergleiche
Embryo A). Man kann sie daher als hintere Nebenleiste be-
zeichnen.
Am Unterkiefer ist die Ersatzleiste im Schneidezahngebiet
bereits voll ausgebildet. Linguo-distal von jedem der drei
Schmelzorgane finden wir auch hier die Ersatzleiste stark er-
höht und verdickt zu den Anlagen der Ersatzzähne. Lateral
von Id, erhebt sich die Vestibularleiste, die mit dem Schmelz-
organ des ersten Schneidezahnes noch in Verbindung steht,
aber schon vor Id, endet.
70 HARRY SICHER,
Das Schmelzorgan des Caninus sowie die Anlage seines
Ersatzzahnes bleiben durchaus auf der Stufe der Schneide-
zähne, ein Gegensatz zum Verhalten des oberen Eckzahnes,
der immer deutlicher hervortritt.
Auffällig ist das Verhalten des ersten Prämolaren. Konnte
man schon in dem nächstjüngeren Stadium erkennen, dass
sein Wachstum eine Beschleunigung erfahren hatte, so ist er
jetzt so weit ausgebildet, dass er an Grösse die beiden folgen-
den Prämolaren übertrifft. Er stellt ein flach muldenförmiges
(Gebilde dar, an welchem irgend eine Andeutung einer Ersatz-
leiste fehlt.
Bei Pd, und Pd, hat die Bildung der Ersatzleiste be-
gonnen, doch schneidet hier — im Gegensatz zum Oberkiefer
— die Furche, welche die Ersatzleiste vom Schmelzorgan des
Milchzahnes abtrennt, nicht von mesial her, sondern von distal
her ein. Lingual von Pd,, der in seiner Form dem letzten
oberen Milchprämolaren ähnelt, jedoch nur halb so gross ist
als dieser, ist die Ersatzleiste bereits vollkommen vorhanden.
Dem Schmelzorgan des ersten Molaren (Tafel 5, Fig. 24)
fehlt noch immer eine distale Abgrenzung, so dass seine Höhlung
nach distal offen ist. Der linguale und labiale Rand sind
zu je einer Zacke erhoben, deren spätere Vereinigung die Zwei-
zahl der Wurzeln bedingt. Die mesiale Partie des Schmelz-
organes trägt eine deutliche Vertiefung, eine distale Vertiefung
ist erst durch das Distal-Wachsen des hinteren Schmelzorgan-
randes in Bildung begriffen.
Die Anlage des zweiten Molaren ist nunmehr flach gehöhlt;
auch hier fehlt vorläufig die Abgrenzung nach distal. Auf-
fällıg ist, dass gerade in der Entwickelung des zweiten unteren
Molaren der Unterkiefer dem Oberkiefer vorauseilt.
Die laterale Zahnleistenfläche im Bereiche von Pd, bis
M, trägi noch deutliche Rudimente der beiden Nebenleisten
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 7l
der jüngsten Stadien, in Form zweier ganz feiner Leisten,
welche eine Strecke weit nebeneinander herlaufen.
Zwischen M, und M, (Tafel 5, Fig. 25) finden wir hier
eine kräftige hintere Nebenleiste, welche überdies an ihrem
Rande durch eine Längsfurche zweigeteilt ist.
Serienbeschreibung: Das Schmelzorgan des ersten
oberen Milchschneidezahnes zeigt an seiner Spitze bereits deut-
lich eine Dentinkappe, während Id, und Id, noch keine An-
deutung einer Verkalkung erkennen lassen. Der Milchcaninus
hat dagegen auch bereits mit der Zahnbeinbildung begonnen.
Hier ist deutlich die Rückbildung der Zahnleiste zu beobachten.
Der Zusammenhang des Milchzahnes mit der Leiste ist nur
durch eine Reihe von unregelmässigen Epithelsträngen ver-
mittelt. Die Zahnleiste selbst steht an dieser Stelle mit dem
Mundhöhlenepithel nicht mehr in Zusammenhang.
Die Leiste, welche wir am Modell längs der oberen Pd,,
Pd, und Pd, verfolgen konnten, zeigt im histologischen Bild
deutlich ihren Zusammenhang mit dem Mundhöhlenepithel.
Nicht nur der Umstand, dass sie neben der Zahnleiste vom
Epithel des Munddaches entspringt, sondern vor allem die Tat-
sache, dass sie in ihrer Struktur so ganz von der der Zahn-
leiste abweicht und ganz dem Mundhöhlenepithel - gleicht,
spricht dafür, dass wir es hier nicht mit dem Rudiment der
früher beschriebenen Nebenleisten zu tun haben. Bei der zu-
sammenfassenden Beschreibung der Entwickelung des Vesti-
bulum oris werden wir auf diesen Punkt noch zurückkommen.
Im Unterkiefer finden wir noch an keinem der Zähne
Spuren von Verkalkung. Im übrigen zeigt die histologische
Untersuchung der Schmelzorgane in diesem Stadium durchwegs
nur typische Verhältnisse:
Was die Entwickelung des Vestibulum oris anlangt, so
hat uns schon die Betrachtung des Modells gelehrt, dass die
primäre Vestibularleiste in der Schneidezahngegend im Schwin-
72 HARRY SICHER,
den ist. Die offene Vestibularfurche im hinteren Mundhöhlen-
abschnitt ist, nach distal allmählich verflachend, bis in die
Gegend von M, zu verfolgen. Nach vorne reicht sie bis zwischen
Cd und Pd;, durchzieht also bereits den grössten Anteil der
Mundhöhle.
Weiter vorne finden wir neben Cd und Id, lateral von
der schwindenden primären Vestibularleiste eine seichte
Furche, welche aber nicht in die früher beschriebene über-
geht, sondern medial von ihrem vorderen Ende ausläuft. Noch
weiter peripher als diese vordere Furche finden wir die schon
früher erwähnte Epithelleiste, die, die Schneidezähne im Bogen
umfassend, distal in das Gesicht ausläuft.
Der Alveolarwall ist wie früher in der Prämolarengegend
rein lateral von der Zahnleiste, zwischen ihr und der Vesti-
bularfurche, gelegen, während sich distal die Zahnleiste der
Furche immer mehr nähert und zunächst auf der Kuppe, noch
weiter distal lateral vom ‚„Alveolarwall‘ inseriert. Dass wir
in dieser Gegend den Wulst nicht mehr als Alveolarwall be-
zeichnen dürfen, sondern dass der Alveolarwall aus dem Meso-
derm zwischen Zahnleiste und Vestibularfurche entsteht, hat
schon Bolk gezeigt. Wie bereits erwähnt, müssen wir den
medial von der Zahnleiste gelegenen Anteil des Wulstes als
Pseudoalveolarwall (Bolk) bezeichnen.
Auch im Unterkiefer hat sich neben den beiden Molaren
lateral von der Zahnleiste eine Vestibularfurche etabliert, die
nach vorne bis neben Pd, zu verfolgen ist. Die Vestibularleiste
in der Frontzahngegend ist wie im Oberkiefer reduziert. Neben
Id, und Id, finden wir lateral ohne Zusammenhang mit der
Zahnleiste ebenfalls eine seichte Vestibularfurche vor.
Die Ductus incisivi sind kürzer geworden. Sie messen
noch ungefähr 100 u.
Anatom, Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 6.
Fig. 36.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa veuropaea. 73
IX. Stadium.
Die Durchsicht der Serie des Embryo h — grösste Länge
28 mm, Kopflänge 14 mm — zeigt uns das Zahnsystem vor
allem in der inneren Differenzierung fortgeschritten.
Im Oberkiefer kann man nun ausser an dem ersten
Schneidezahn auch an den beiden anderen die Anfänge der
Verkalkung konstatieren. Dieser Prozess ist am Milcheckzahn
schon ziemlich weit fortgeschritten. Während die Ersatzzähne
der Incisivi nur als Verdickungen der FErsatzleiste erkennbar
IS
=as7
Fig. 13.
Sechs aufeinanderfolgende Schnitte durch den Milcheckzahn und bleibenden
Eckzahn des Embryo h. Vergrösserung 50fach.
&
x
sind, ist die Ersatzzahnanlage des Caninus mächtig entwickelt;
sie repräsentiert den Übergang aus dem ‚kappenförmigen“
Stadium in das „glockenförmige‘. Die Leiste, welche sich schor
bei dem jüngeren Embryo an der labialen Fläche dieses Schmelz-
organes fand, hat sich jetzt deutlicher abgegrenzt (Textfig. 13),
so dass sich die Grube zwischen Leiste und Schmelzorgan
zu einer Schmelznische vertieft hat.
Die ersten drei Prämolaren weichen kaum von den bei
dem jüngeren Embryo beschriebenen Verhältnissen ab. Der
vierte trägt bereits eine deutliche Dentinkappe. Dem ersten
Milchprämolaren fehlt jede Andeutung einer FErsatzleiste, die
74 HARRY SICHER,
an Pd, und Pd, deutlich vorragt, bei Pd, sogar eine starke
Anschwellung als Anlage des bleibenden Zahnes trägt.
Auch lingual von M, finden wir eine typische Ersatzleiste
vor. Der zweite Molar besitzt bereits eine tiefe Aushöhlung
an seiner mesodermalen Fläche. Die accessorische Leiste, die
wir am hinteren Ende der Zahnleiste gefunden haben, ist deut-
lich entwickelt. Sie wird lateral begleitet von der Vestibular-
{urche und -leiste, mit der sie jedoch an einer Stelle zu ver-
schmelzen scheint. Ihr Ende löst sich wieder im Zusammen-
hang mit dem Zahnleistenende vom Mundhöhlenepithel ab
(Textfig. 14).
Den:
a3 2 a
era
— = zz
Fig. 14.
Sehnitte durch das hintere Ende der oberen Zahnleiste des Embryo h mit
der accessorischen Leiste. Vergrösserung 50fach. a — accessorische Leiste.
Z = Zahnleiste.
Auch an den Milchzähnen des Unterkiefers hat in diesem
Stadium der Verkalkungsprozess bereits begonnen, und zwar
betrifft er dieselben Zähne wie im Oberkiefer: Id,, Id,, Id,,
Ca und Pd;-
Ersatzzähne sind an allen Milchzähnen angelegt mit Aus-
nahme von Pd,.
Auch lingual des ersten Molaren hat die Abschnürung der
Ersatzleiste Fortschritte gemacht, doch ist sie noch nicht in
der ganzen Länge des Zahnes vorhanden. Hinter M, zeigt die
Zahnleiste ein Verhalten, das dem im Oberkiefer beschriebenen
ähnelt. Die Beschreibung des nächsten Stadiums soll diesen
Befund veranschaulichen.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea.
3
ı Qu
Auch die Verhältnisse der Anlagen des Vestibulum oris
haben sich wenig geändert. Die primäre Vestibularleiste des
Oberkiefers ist noch weiter in ihrer Reduktion vorgeschritten,
peripher von ihr hat sich in der Gegend von Id, und Id,
eine Furche als Vestibularfurche gebildet (Textfig. 15), die
von der Zahnleiste durch einen leichten Wulst, den Alveolar-
wulst, getrennt ist. Während in der Gegend des Eckzahnes
eine Anlage des Vestibulum oris fehlt, treffen wir vom Pd,
distalwärts auf die schon früher beschriebene offene Vestibular-
furche; ihr Verhalten zu dem Alveolarwall, sowie die Be-
ziehungen des letzteren zur Zahnleiste haben sich nicht wesent-
lich verändert.
hs
Fig. 15.
Embryo h. Frontalschnitt durch Id,. Vergrösserung 50fach. E = Eiısatz-
leiste. V-F — sekundäre Vestibularfurche. V-L — primäre Vestibularleiste.
Im vorderen Mundhöhlenabschnitt tritt auch an diesem
Embryo jene bogenförmige Epithelleiste hervor, die mit ihrem
hinteren Ende in das Gesicht ausläuft. Hinter ihr ist das Meso-
derm zu einer Falte vorgewölbt (Plica vestibularis).
Im Unterkiefer zeigt die Anlage des Vestibulum neben und
vor Id, noch die Form einer Epithelleiste, die ihre engen Be-
ziehungen zu dem Schmelzorgan dieses Zahnes bewahrt hat.
Weiter distal geht sie in eine Furche über, die von der Zahn-
leiste durch einen sich distalwärts verbreiternden Alveolarwall
geschieden ist. Diese Furche verliert sich allmählich in der
Gegend des Eckzahnes. Noch weiter distal finden wir erst in
der Molarengegend wieder die Anlage einer Vestibularfurche.
76 HARRY SICHER,
X. Stadium.
Der älteste Embryo, der mir zur Verfügung stand, misst
30 mm grösste Länge und 15 mm Kopflänge. Sein Zahnsystem
wurde bei 100 facher Vergrösserung rekonstruiert.
Der erste Milchschneidezahn des Oberkiefers ist in seiner
vorderen Partie kolbig aufgetrieben (Tafel 5, Fig. 26). Der
freie Rand des Schmelzorganes, besser der Epithelscheide, ist
auch an diesem Embryo kein gleichmässiger. Er ist vielmehr
an der medialen Seite geschlitzt. Der zweite Milchschneide-
zahn stellt ein mehr ovales, der dritte ein kugelähnliches Ge-
bilde vor. Die Ersatzzähne sind als kräftige Verdickungen der
Ersatzleiste angelegt. Die primäre Vestibularleiste ist nur mehr
angedeutet und erhebt sich nur an den Stellen zu einiger Höhe,
an welchen sich die oft besprochenen Zusammenhänge zwischen
ihr und den Schmelzorganen finden. Der Milcheckzahn sieht mit
seiner Spitze nach vorne und abwärts. Er hängt nur durch
einen dünnen Epithelfaden mit der Zahnleiste zusammen. Das
Schmelzorgan seines Ersatzzahnes ist stark konkav gehöhlt.
Interessant ist die Betrachtung seiner lateralen Wand, an
welcher wir in den früheren Stadien eine Leiste vorgefunden
haben (Tafel 6, Fig. 27). Durch einen Aushöhlungsprozess
ist diese Leiste immer deutlicher vom Schmelzorgan und der
Zahnleiste abgehoben worden. Jetzt finden wir eine nach vorne
offene ziemlich tiefe Bucht, die mehr als ein Drittel der Längen-
ausdehnung des Eckzahnes einnimmt. Diese Bucht — die
Schmelznische Bolks — ist medial von der Zahnleiste, lateral
von der „lateralen Schmelzleiste‘, dem Dierivat der früher
beschriebenen Leiste, und oben von dem Schmelzorgan des
bleibenden Eckzahnes begrenzt.
Der erste Milchprämolar ist stark gewachsen. Wenn er
auch formal noch nicht so weit differenziert ist als Pd, und
Pd,, so übertrifft er nun doch beide an Grösse. Eine Ersatz-
leiste fehlt ihm.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 77
Der zweite und dritte Prämolar sind die kleinsten Zähne
des Oberkiefers. Sie sind zwei fast gleich grosse und gleich-
gestaltete kugelförmige Gebilde. An ihrer lingualen Seite ist
die Ersatzleiste voll entwickelt.
Pd, hat seine Form und Grösse nicht wesentlich gegenüber
dem jüngeren Stadium geändert. Die Annäherung der lingualen
und labialen Zacke seines Schmelzorganes ist weiter fortge-
schritten, so dass wohl bald ihre Vereinigung und damit die
Teilung des Schmelzorganes in die beiden Wurzelscheiden zu
erwarten ist. Seine Ersatzleiste trägt am Rand eine längs-
gestellte wulstförmige Verdickung, die Anlage des bleibenden
vierten Prämolaren.
Der erste Molar, der lingual eine typische Ersatzleiste
trägt, ist in seiner formalen Ausgestaltung weiter vorgeschritten.
Die Ansicht der Zahnanlage von oben zeigt (Tafel 6, Fig. 28),
dass die Umrandung nunmehr distal eine scharfe ist. Nur in
der vorderen Hälfte des lingualen Randes finden wir einen
Defekt, der dadurch zustande kommt, dass hier der Rand nach
lingual ausgebogen ist. Dieses Verhalten ist wohl der Beweis
dafür, dass der linguale Kronenabschnitt noch nicht voll aus-
gebildet ist. Labial, linguo-mesial und linguo-distal springt der
Rand des Schmelzorganes in drei Zacken vor, die, mit ihrem
Ende horizontal umgelegt, einander entgegenwachsen. Ihre Ver-
einigung, die nicht mehr ferne ist, wird die Dreiteilung der
Wurzel besorgen. Die Ebene der Zackenenden ist die Grenze
der Krone. Das Schmelzorgan des zweiten Molaren ist schüssel-
förmig und rekapituliert sozusagen die Anfangsstadien der Ent-
wickelung des ersten Molaren, insofern, als wir auch hier,
wie früher bei M,, ein Fehlen der distalen Begrenzung der
Konkavität finden. Hinter M, endet die Zahnleiste bald. Hier
vereinigt sie sich mit dem Ende der von früher bekannten
Nebenleiste. Diese selbst beginnt, ungefähr entsprechend der
Mitte von M,, medial von der Vestibularleiste, verschmilzt
78 HARRY SICHER,
später mit dieser, respektive findet später ihren Ansatz an
dieser, um sich noch weiter distal im Zusammenhang mit der
Zahnleiste von ihr wieder loszusagen. Die Nebenleiste ist in
zwei Zacken erhoben und an ihrem Rande im Bereiche dieser
Zacken etwas verdickt.
Das Modell des Unterkiefers (Tafel 6, Fig. 29) zeigt uns
an den Schneidezähnen im allgemeinen ähnliche Grössen- und
Formverhältnisse wie der Oberkiefer. Nur tritt hier der dritte
Ineisivus noch mehr hinter den anderen zurück und erscheint,
so wie vom Anfang an, etwas nach lateral verschoben. Die
Anlagen der Ersatzzähne sind auch hier als plattenförmige
Verdickungen der Ersatzleiste vorhanden.
Ganz im Gegensatz zu den Verhältnissen im Oberkiefer
hat hier der Eckzahn, der kleiner ist als Id,, in seiner Ent-
wickelung mit den Schneidezähnen Schritt gehalten. Auch die
Anlage seines Ersatzzahnes ist lediglich als eine Epithel-
verdickung der Zahnleiste ausgebildet.
Pd,, der schon früher sein anfänglich stark verzögertes
Wachstumstempo beschleunigt hat, steht nun in seiner Grösse
dem vierten Prämolaren kaum nach. In seiner Differenzierung
ist er fast genau so weit fortgeschritten als der bleibende
Eckzahn des Oberkiefers. Eine Ersatzleiste fehlt ihm.
Von den drei übrigen Milchprämolaren ist nichts Be-
sonderes zu erwähnen.
Der erste Molar (Tafel 6, Fig. 30), an dessen lingualer
Seite eine Ersatzleiste fast vollkommen abgetrennt ist, hat die
distale Kronenhälfte noch nicht vollständig ausgebildet. Hier
fehlt noch immer die distale Begrenzung. Die labiale und.
linguale Zacke seines Randes bereiten die Teilung der Wurzel
vor. Von dem distalen Ende des M, zieht eine niedrige Leiste
gegen M,, der Rest der bei Embryo g so gut ausgeprägten
hinteren Nebenleiste. Wie im Oberkiefer, so gleicht auch hier
der zweite Molar den früheren Entwickelungsstadien des ersten.
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 79
Es ist nur die mesiale Kronenhälfte angelegt, die Bildung
der distalen hat erst durch die Verlängerung des lingualen
Schmelzrandes begonnen.
Hinter M, steht die Zahnleiste mit einer Epithelleiste in
Verbindung, die ganz an die Verhältnisse im Oberkiefer jüngerer
Embryonen erinnert. Sie entspringt hier an der lateralen
Fläche der Zahnleiste knapp nach deren Ursprung aus dem
Mundhöhlenepithel und geht distal in das Zahnleistenende, um-
biegend, über.
Im allgemeinen muss bei diesem Stadium bemerkt werden,
dass die Ablösung der Zahnleiste vom Mundhöhlenepithel
weitere Fortschritte gemacht hat. An einer ganzen Reihe von
Stellen sieht man an der Ansatzstelle der Zahnleiste am Mund-
»„öhlenepithel mehr minder lange Dehiszenzen.
Die histologische Untersuchung der Zähne des Oberkiefers
ergibt, dass hier alle Milchzähne mit alleiniger Ausnahme von
Pd, bereits Dentin gebildet haben. An Id,, Cd und Pd, hat
auch die Schmelzbildung Fortschritte gemacht. Der Beginn
der Verkalkung findet sich endlich auch noch am ersten Mo-
laren. Was speziell das Aussehen von Pd, betrifft, so fällt
hier auch das Fehlen einer Ersatzleiste auf. Doch kann man
an den Querschnitten längs der lingualen Fläche des Schmelz-
organes eine Verdickung und Zellverdichtung verfolgen, die
wohl dem Beginn der Ersatzleistenbildung entspricht (Tafel 6,
19.31).
Eigentümlich ist an diesem Embryo die Struktur der
distalen accessorischen Leiste. Sie entspringt neben der Zahn-
leiste aus dem Mundhöhlenepithel und sieht im Querschnitt
wegen ihrer randständigen Verdickung wie langgestielt aus
(Textfig. 16). Weiter distal entspringt sie von der Vestibular-
leiste, um sich dann mit der Zahnleiste von dem Mundhöhlen-
epithel abzulösen, während die Vestibularleiste distal weiter
zieht.
80 | HARRY SICHER,
Im Unterkiefer finden wir Dentinbildung an denselben
Zähnen wie im Oberkiefer, nämlich an allen Milchzähnen mit
Ausnahme von Pd, und an M,, an letzterem eben erst be-
sinnend. Dagegen ist Schmelzbildung nur am ersten Milch-
schneidezahn, und hier nur in ihren ersten Anfängen zu kon-
statieren.
An Pd, ist die Anlage der Ersatzleiste nur als eine mini-
male Verdickung der lingualen Wand angedeutet, die durch
hohe Zellen ausgezeichnet ist (Tafel 6, Fig. 32).
I z
BE
A Tale.
En a.
1 An N‘
k6>
>>
Fig. 16.
Vier nicht aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende des Ober-
kiefers des Embryo i. Vergrösserung 50fach. a — accessorische Leiste. V —
Vestibularleistee Z = Zahnleiste.
Die accessorische Leiste am distalen Ende der Zahnleiste
unterscheidet sich hauptsächlich von der oberen durch ihre
von Anfang an deutlichere Zugehörigkeit zur Zahnleiste und
durch die grössere Entfernung von der Vestibularfurche (Text-
figur 17).
Die Bildung des Vestibulum oris erscheint auch bei diesem
Embryo noch nicht vollständig abgeschlossen, doch lassen
sich die verschiedenen zu seiner Entstehung beitragenden Kom-
ponenten gut erkennen. In der Höhe des hinteren Endes von
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 8
ld, beginnt im Oberkiefer unabhängig von der Zahnleiste und
der nur mehr in Resten vorhandenen primären Vestibularleiste
eine Epithelleiste, die von einer Furche begleitet bis zum
distalen Ende des Eckzahnes zu verfolgen ist (Textfig. 18).
Zwischen ihr und der Zahnleiste wölbt sich das Mundhöhlen-
INN
a8 A
Bioal7:
Vier Schnitte durch das distale Ende der unteren Zahnleiste des Embryo i.
Vergrösserung 50fach. a — accessorische Leiste. V — Vestibularleiste. Z =
Zahnleiste.
Fig. 18.
Embryo i. Frontalschnitt durch I,. Vergrösserung 50fach. V, = sekundäre
Vestibularleiste.
dach als Alveolarwall vor. Peripher wird sie durch die schon
öfters beschriebene in das Gesicht auslaufende Leiste begleitet,
wodurch im vorderen Schnauzenabschnitt jene Falte abgegrenzt
wird, die wir am erwachsenen Tier als Plica vestibularis be-
schrieben haben.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). 6
82 HARRY SICHER,
Ohne direkten Zusammenhang mit der sekundären Vesti-
bularleiste des vorderen Mundabschnittes beginnt in der Höhe
von Pd, eine zweite Leiste, die medial flankiert vom Alveolar-
wall bis an das distale Mundende reicht. In der Molaren-
oegend finden wir auch hier die Ansatzlinie der Zahnleiste nicht
medial vom Alveolarwall, sondern zuerst an einer seichten
Furche längs seiner Kuppe, später — in engem Zusammenhang
mit der Vestibularleiste — sogar lateral von ihm. Der so ent-
stehende nach vorne sich verjüngende, medial von der Zahn-
leiste gelegene Wulst ist der Pseudoalveolarwall. Wir haben
Fig. 19.
& Embryo g. b Embryo i. Vergrösserung 50 fach. A — Alveolarwall. E =
Ersatzleiste. Ps-A — Pseudoalveolarwall. V = Vestibularleiste.
schon früher gezeigt, dass die von mesial nach distal vor sich
gehende Verschiebung des Zahnleistenansatzes von lateral nach
medial und damit das allmähliche Überwiegen des Alveolar-
walles über den Pseudoalveolarwall dadurch bedingt ist, dass
sich das Mesoderm zwischen Zahnleiste und Vestibularleiste
immer mehr vorwölbt, während der Pseudoalveolarwall ver-
streicht. Die Fig. 19, welche einen Querschnitt durch M, bei
den Embryonen g und i zeigt, macht dieses Verhalten klar.
Im Unterkiefer reicht die vordere Vestibularfurche bis
hinter den Eckzahn. Mit Id, ist sie noch in Zusammenhang,
weiter distal entfernt sie sich immer weiter von der Zahn-
seiste. Die hintere Vestibularfurche beginnt erst hinter Pd,
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 83
und verläuft von hier, durch den Alveolarwall von der Zahn-
leiste getrennt, bis neben das Zahnleistenende distalwärts.
Die Ductus ineisivi inferiores dieses Embryo bilden ca.
120—130 u lange solide Epithelstränge.
Eine Reihe von wichtigen Fragen seien im folgenden ım
Zusammenhange besprochen.
Die Entwickelung der ersten Prämolaren.
Leche sagt über die ersten Prämolaren von Talpa, dass
die Frage, ob diese Zähne einen Zahnweechsel zeigen, noch
nicht geklärt erscheint. Tatsächlich finden sich in der Lite-
ratur, wie Leche angibt, widersprechende Ansichten. Aller-
dings ist dies zum Teil auf die‘ verschiedene Gebissformel
zurückzuführen, die die Autoren für Talpa akzeptieren. Wir
halten uns natürlich, wie schon einleitend gesagt, an die Formel
Il; CP,M,
I, CP,M;
Bate, der 1862 das Milchgebiss von Talpa zuerst unter-
suchte, bildet den ersten Milch-Prämolaren als stiftförmiges (e-
bilde sowohl im Ober- als im Unterkiefer ab. Er zählt dabeı die
Zähne nach der Owenschen Formel, die auch die unsere ist.
Anders Kober, 1882. Er stellt als Formel für das Milch-
gebiss auf:
3 „04
EN IR.
für das bleibende Gebiss
3.1.4-6-3
Bauer
Für ihn ist also unser oberer erster Prämolar auch P.:
Im Unterkiefer jedoch zählt er P, als Caninus, so dass sein
6*
54 HARRY SICHER,
erster Prämolar unserem zweiten entspricht. Nun spricht er
zwar nirgends von dem Fehlen eines Milch- oder Ersatzzahnes,
ist also wahrscheinlich der Ansicht, dass der erste Prämolar
oben, der Caninus unten gewechselt werden. Eine Abbildung
des unteren ersten Prämolaren bringt er nicht. Und das, was
in seiner Figurenerklärung als Schnitt durch den Oberkiefer mit
der Anlage des Milch- und bleibenden ersten Prämolaren be-
zeichnet wird — eine Figur, auf die sich Leche beruft —,
ist nach seiner Texterklärung ein Schnitt durch den Unter-
kiefer (Figg. 7 und 8 Kobers), bezieht sich also nach der
von ihm akzeptierten Formel auf den zweiten Prämolaren.
So sind wohl die Angaben dieses Autors, die ja überall nur
die groben Verhältnisse berücksichtigen, für uns wertlos.
Eingehend beschäftigt sich mit dieser Frage Woodward,
1896, dem allerdings nur ganz alte Stadien, zum grössten
Teil geworfene Junge zur Verfügung standen. Er akzeptiert
ebenfalls die richtige Owensche Formel. Er findet P, nur
in einer Generation und kommt zu dem Schlusse, dass P,
des funktionierenden Gebisses der Milchzahn ist.
Nach meinen Befunden muss ich mich ganz seiner An-
sicht anschliessen. Verfolgen wir zunächst die Bildung des
ersten Prämolaren im ÖOberkiefer, so sehen wir, dass er der
letzte Zahn der Reihe ist, der als Verdickung der Zahnleiste
erscheint, also der ontogenetisch jüngste Milchzahn. Lange
Zeit bleibt er im Wachstum zurück, bis er endlich im letzten
Stadium das Wachstumstempo beschleunigt und jetzt schon
an Grösse Pd, und Pd, übertrifft, obwohl er in seiner Differen-
zierung noch nicht so weit fortgeschritten ist als diese.
Während Pd, und Pd, vor allem schon die typische wohl
entwickelte Ersatzleiste tragen, ist sie bei Pd, nur in Form
einer leichten Verdiekung der lingualen Wand angedeutet.
Wenn wir aber bedenken, dass der P, des funktionierenden
Gebisses an Grösse P, und P, bei weitem übertrifft, wenn
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 85
wir ferner bedenken, dass überall die grösseren Zähne früher
angelegt werden, wenn nicht ihr Erscheinen durch irgend-
welche Umstände, wie z. B. bei M,, hinausgeschoben ist, so
ist es klar, dass Pd, die Rolle des ersten funktionierenden
Prämolaren übernehmen wird. Denn seine Ersatzzahnanlage
ist nur angedeutet, die von Pd, und Pd, bereits zu einer deut-
lichen Leiste gebildet.
Noch krasser sind diese Unterschiede im Unterkiefer.
Hier ıst ja der P, des funktionierenden Gebisses caniniform
und entspricht eigentlich in Form und Grösse dem oberen
Eckzahn. Wir müssen also a priori erwarten, dass Cp des
Oberkiefers und P, des Unterkiefers in ihrer Entwickelung
Schritt halten. Wie verhalten sich diese Zähne nun in der
Tat?
Pd, erscheint im Unterkiefer ebenfalls verspätet, bleibt
wie im Oberkiefer längere Zeit der kleinste Zahn des Ge-
bisses, bis er plötzlich rasch zu wachsen beginnt. Im letzten
Stadium ist er reichlich doppelt so gross als Pd, und Pd,,
zeigt aber im Gegensatz zu diesen noch keine Ersatzleiste.
Dagegen stimmt er in Grösse und Differenzierungshöhe ganz
mit dem bleibenden oberen Eckzahn überein. Der erste
Milchprämolar als caniniformer Zahn erfüllt also unsere früher
erwähnte Forderung. Ihn haben wir also als die Anlage von
P, des funktionierenden Gebisses anzusehen.
Wir müssen also sagen, dass im funktionierenden Gebiss
die ersten Prämolaren persistente Milchzähne sind, wieder ein
Beweis dafür, wie schwer die Grenzen zwischen Milch- und
Ersatzdentition zu ziehen sind.
Überdies ist dieser Entwickelungsgang auch als Beweis
für die Richtigkeit der Homologie der beiden ersten Prämolaren
im Ober- und Unterkiefer und damit für die Richtigkeit der
Owenschen Formel anzusehen.
s6 | HARRY SICHER,
Die Entwickelung der Molaren.
Gerade die Vorgänge bei der Entwickelung der Maulwurf-
molaren beweisen uns, wie wichtig für die Erforschung der
Gebissentwickelung die plastische Rekonstruktion einer ge-
schlossenen Entwickelungsreihe ist.
Mir ist nicht bekannt, dass die Formentwickelung des
Schmelzorganes eines Molaren noch in exakter Weise dargestellt
worden wäre, und doch finden sich gerade hier gewiss sehr
beachtenswerte Vorgänge. Dass meine Angaben natürlich nur
für Talpa gelten und zu ihrer Verallgemeinerung erst weitere
Studien erfordern, ist wohl klar.
Betrachten wir die Entwickelung des oberen ersten Mo-
laren. Das Auffallendste in jüngeren Stadien ist, dass der
Keim auf dem sogenannten kappenförmigen Stadium nicht rings-
um von einem gleichmässigen Epithelwall abgegrenzt ist,
sondern dass distal eine Begrenzung fehlt. Der Grube, die
für die Aufnahme der Papille bestimmt ist, fehlt daher die
hintere Wand. Erst allmählich wächst das epitheliale. Organ
distalwärts aus. Die innere Oberfläche des Schmelzepithels
zeigt zuerst eine mesiale Vertiefung — die Anlage des mesio-
buccalen Haupthöckers —, und erst durch das Auswachsen des
Schmelzorganes nach distal wird eine zweite distale Grube
geschaffen und distal allmählich scharf abgeschlossen — die
Anlage des distobuccalen Haupthöckers. Aber auch in bucco-
lingualer Richtung repräsentiert der Zahnkeim jüngerer Stadien
nicht die ganze Krone der Molaren. Besonders schön am ältesten
Stadium zeigt die linguale Wand des Organs die Tendenz, noch
weiter lingual auszuwachsen, um erst den lingualen Kronen-
anteil zu formieren.
Ähnliches finden wir im Unterkiefer. Auch hier ist von
dem Zahn bei seiner ersten Anlage nur der mesiale Anteil
gebildet, während die distale Hälfte erst durch allmähliches
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 87
Distalwachsen des Schmelzorgans geschaffen wird. Hier ist
dieser Prozess bei dem ältesten Embryo noch nicht einmal
abgeschlossen, sieht aber gewiss seiner Vollendung entgegen.
Die zweiten Molaren verhalten sich in beiden Kiefern ganz
analog den ersten.
Wir können somit sagen, dass im Oberkiefer die erste
Anlage der Molaren nur das Gebiet des mesiobuccalen Höckers
umfasst, während die distobuccale und die linguale Partie der
Krone erst durch allmähliches Auswachsen des Schmelzorganes
sich bilden. Im Unterkiefer ist in der ersten Anlage der Mo-
laren nur die mesiale Zahnhälfte enthalten, während die Bildung
der distalen in derselben Weise erfolgt wie im Oberkiefer.
Wir können also sagen, dass das, was wir als Zahnanlage
schlechtweg bezeichnen, bei Talpa nicht für alle Zähne das-
selbe bedeutet. Während die Anlage für die Antemolaren tat-
sächlich von Anfang an den gesamten Zahn umfasst, ist die
„Anlage‘‘ der Molaren nur die Anlage eines bestimmten An-
teiles des Zahnes.
Ob diese Art der Bildung auch für die Polygenese eine
Bedeutung hat, will ich nicht behaupten, bevor die allgemeine
Gültigkeit dieser Beobachtung erwiesen ist. Dieses Verhalten
stellt überdies einen neuen Beweis für die Aktivität des Epithels
bei der Bildung der Anlage dar.
Dass an den Molaren die Bildung einer typischen Ersatz-
leiste erfolgt, wurde schon in der Beschreibung der Stadien
des öfteren erwähnt.
Die Anhangsgebilde der Zahnleiste.
Im Jahre 1892 beschrieb Leche bei Erinaceus im Ober-
kiefer labial von Id, eine Leiste, in der sich beim neugeborenen
Tier ein gut ausgebildeter knospenförmiger Schmelzkeim findet.
Bei einem 83 mm langen Jungen ist dieser Keim zu einem
88 HARRY SICHER,
Epithelnest degeneriert. „Nach diesen Befunden ist somit nicht
daran zu zweifeln, dass neben einem Milchzahn (Id,) die An-
lage eines dem Milchgebiss vorhergehenden Zahnes vor-
handen ist.“
Damit war die sogenannte prälakteale Dentition entdeckt,
obwohl bereits früher solche labiale Fortsätze der Zahnleiste
gesehen und beschrieben waren. Doch waren sie entweder
falsch gedeutet worden oder man sah sie als unwesentlich an.
So hielt sie Hertz für die Anlage der bleibenden Zähne,
ebenso Waldeyer, ein Irrtum, der zuerst von Kollmann
widerlegt wurde. Er glaubte, dass solche labiale Fortsätze
zur Bildung überzähliger Zähne Anlass geben könnten. Röse
bezeichnet die lateralen Ausstülpungen, wie sie Hertz ge-
zeichnet hatte, als unwesentliche Fortsätze, wie sie in späteren
Stadien öfters vorkämen.
Seil der ersten Deutung durch Leche, als Reste einer
prälaktealen Dentition, sind ähnliche Befunde an einer ganzen
Reihe von Säugern gemacht worden. Vor allem durch Küken-
thal und seinen Schüler Adloff hat diese Frage auch enge
Beziehungen zu der Konkreszenztheorie erhalten. Beide
glaubten zeigen zu können, dass es zu Verwachsungen dieser
prälaktealen Anlagen mit den Milchzahnanlagen käme, wobei
erstere einen Anteil an dem Aufbau des definitiven Milch-
zahnes nähmen.
Gerade die Bedeutung, welche diesen prälaktealen Resten
für die Lösung phylogenetischer Probleme zugesprochen wird,
macht es begreiflich, wenn ich im folgenden auf diese Frage
näher eingehe.
Nochmals möchte ich aber betonen, wie schon in der
Einleitung hervorgehoben, dass ich keineswegs der Überzeugung
bin, durch das Studium einer Species, und sei dieses Studium
noch so genau, diese Frage lösen zu können. Aber wir sind
verpflichtet zu prüfen, ob die tatsächlichen Befunde bei Talpa
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 89
sich mit den ausgesprochenen Hypothesen in Einklang bringen
lassen oder in Widerspruch befinden, schon deshalb, weil wir
so gewisse Richtlinien für spätere Untersuchungen gewinnen
können. Bevor ich an die zusammenfassende Darstellung der
hierher gehörenden Befunde an Talpa gehe, muss ich die An-
gaben der Literatur rekapitulieren, wobei ich natürlich nur
jene Arbeiten berücksichtige, die tatsächliche Beobachtungen
bringen.
Nachdem Leche kurz nach seinen ersten diesbezüglichen
Publikationen labial von der Zahnleiste von Myrmecobıus
fasciatus vorhandene Dentinscherbchen als Reste einer prä-
laktealen Dentition beschrieb, änderte Röse seine Deutung
ähnlicher Gebilde, die er bei Phascolomys Wombat gefunden
hatte. Er lässt sie nicht mehr als Reste der ersten Dentition,
sondern als prälakteale Reste gelten. Die Befunde an Marsu-
pialiern, die gerade anfänglich eine Rolle spielten, wollen wir
im folgenden aber nicht näher berücksichtigen, da nach den
übereinstimmenden Angaben von Bolk, Ahrens, Adloff
u. a. die Frage noch immer nicht definitiv entschieden ist,
ob das funktionierende Gebiss der Beutler der ersten oder
der zweiten Dentition angehört.
Röse bildete 1895 einen Schnitt durch den Unterkiefer
eines menschlichen Fetus von 11!/,; em Länge ab, an welchem
die Zahnleiste labial von Id, an ihrer Abgangsstelle vom Mund-
höhlenepithel zwei dicht nebeneinander stehende Sprossen
trägt, welche zwei prälakteale Anlagen vorstellen sollen. „Die
betreffenden Epithelwucherungen sind immer nur auf wenigen
hintereinander folgenden Schnitten vorhanden und stellen,
körperlich gedacht, rundliche oder etwas verbreiterte Epithel-
zapfen dar.“
Kükenthal fand zuerst 1895 an Balaenoptera rostrata
prälakteale Anlagen in Form von Anschwellungen der Zahn-
leiste, die in einem Falle zur Ausbildung eines kappenförmigen
90 HARRY SICHER,
Schmelzorganes geführt haben. Später (1894) deutete er eben-
solche Fortsätze an der unteren Zahnleiste von Trichechus und
bei Phoca groenlandica als Reste der prälaktealen Dentition.
Eine neue Wendung erhielt die ganze Frage durch die
Befunde Kükenthals an einem Embryo von Manatus
latirostris. Am zweiten Molaren fand er einen Epithelstrang,
der sich der labialen Fläche des Schmelzorgans anlegt, um
mit ihm zu verschmelzen. „Wir können ihn nur als die An-
lage einer prälaktealen Dentition ansehen, die aber mit der
zur ersten Dientition gehörigen Zahnanlage zu verschmelzen im
Begriffe steht. Am dritten Molaren findet sich labial von der
Zahnanlage eine kolbenförmige Epithelmasse, zwischen ıhr und
dem Schmelzorgan der ersten Dentition eine Spalte, in welche
eine Papille einpasst, während das Schmelzepithel unverändert
darüber wegzieht.“ |
Dadurch glaubte Kükenthal eine ontogenetische Re-
kapitulation der phylogenetisch eingetretenen Verschmelzung
von Zahnkeimen verschiedener Dentitionen beobachtet zu
haben.
Die nächsten derartigen Befunde brachte Adloff, der
einzelne Stadien einer Reihe von Nagerembryonen untersuchte.
Er beschreibt hier an vielen Stellen labiale Fortsätze der Zahn-
leiste als prälakteale Anlagen, zum Teil als kappenförmige
Schmelzorgane. Wichtig sind für ihn die Befunde, wo diese
Anlagen sich mit ihrem freien Ende an das Schmelzorgan der
ersten Drentition anlegen und mit ihm verschmelzen. Diesen
Verschmelzungsvorgängen verdankt nach Adloff zum Bei-
spiel Pd, bei Spermophilus leptodactylus seine gute Ausbildung
gegenüber dem rudimentären Pd,, da ersterer mit einer prä-
laktealen Anlage verschmilzt, letzterer nicht.
An vier Embryonen von Hyrax fand Adloff am oberen
Pd, einen labialen Strang, der sich mit dem Schmelzorgan
vereinigt. Im Unterkiefer geht labial „von der Schmelzleiste
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 91
dicht über Id, ein gleichfalls kappenförmig umgestülpter
Schmelzkeim aus, der eine prälakteale Anlage, und zwar in
selten schöner Ausbildung darstellt“.
Die Untersuchung eines Schweineembryos gab Adloff
die Gelegenheit, auch hier prälakteale Reste zu beschreiben.
Besonders betont er folgenden Befund im Oberkiefer: „Dicht
hinter der Anlage von Id, erscheint labial der Schmelzleiste,
von ihr ausgehend, ein am Ende kolbig verdickter Epithelzapfen ;
derselbe wird mit jedem Schnitt grösser und strebt offenbar
einer Vereinigung mit der lingual liegenden Schmelzleiste ent-
gegen. Eine derartige Vereinigung findet auch statt.“ Adloff
deutet den Keim als den vierten Incisivus, der mit einer prä-
laktealen Zahnanlage verschmolzen ist.
Nach diesen Untersuchungen glaubten die Anhänger der
Konkreszenztheorie exakte Beweise für ihre Theorie gesammelt
zu haben. Dependorf, der noch bei seinen Untersuchungen
an Marsupialiern denselben Standpunkt vertreten hatte, wie
Kükenthal und Adloff, unternahm 1907 eine eingehende
Kritik dieser Frage, nicht weil er Gegner der Konkreszenztheorie
sei, sondern weil ihm — wie er selbst sagt — die Beweise
für diese Theorie nicht stichhaltig scheinen.
Vor allem nimmt er hier gegen das Hauptargument. Stellung,
dass nämlich die embryologischen Befunde eine direkte Ver-
schmelzung von prälaktealen und laktealen Elementen zeigen.
All das, was man als Verschmelzungen bezeichnet hatte, sind
in Wirklichkeit Trennungsvorgänge, die vor allem bei der Re-
duktion von Zähnen auftreten. Aus diesen Trennungsvorgängen
dürfe man aber keine sicheren Rückschlüsse auf eine ehemalige
Verschmelzung ziehen. Nicht der Schmelzkeim löst sıch
in Komponenten auf, sondern die Zahnleiste verwendet
überflüssig werdendes Material im Sinne der Ausbildung von
Rudimenten.
Wenn sich auch Adloff gegen Dependorfis Kritik
92 HARRY SICHER,
wendete, so konnte er doch zunächst neue embryologische Be-
funde nicht beibringen. In seiner Kritik hatte Dependorf die
Deutung der verschiedenen Fortsätze der Zahnleiste als rudi-
mentäre Zahnanlagen nicht geleugnet. Die Kritik von Ahrens
über die Konkreszenztheorie beginnt aber mit dem Versuche,
diese Deutung umzustossen. Eine gewiss ausgezeichnete em-
bryologische Untersuchung am menschlichen Gebiss führte ihn
dazu anzugeben, dass allen den Fortsätzen der Zahnleiste eine
phylogenetische Bedeutung nicht zukommt. Seine Gründe stellt
er in folgenden Sätzen zusammen:
„ti. Es treten die ‚prälaktealen Anlagen‘ nie vor den An-
lagen der Milchzähne oder auch nur gleichzeitig mit ihnen auf,
sondern immer erst dann, wenn das Schmelzorgan des Milch-
zahnes durch seine Grössenzunahme die Zahnleiste an der
weiteren Ausdehnung hindert. Da nun die Zahnleiste ebenfalls
in den in Frage stehenden Partien wächst, ist sie gezwungen,
auch seitliche Fortsätze zu bilden.
2. Diese Fortsätze kommen sowohl auf der labialen wie
auf der lingualen Seite der Zahnleiste vor... |
3. Diese Fortsätze sind nicht richtige ‚Zahnanlagen‘, wie
die Autoren im allgemeinen annehmen, Adloff nennt sie
direkt kurze Epithelausstülpungen, sondern, wie die sämtlichen
Rekonstruktionen ergeben, Leisten und Faltungen der Zahn-
leiste.‘
Ahrens ist also der Ansicht, dass rein mechanische Be-
dingungen die Entstehung der ‚„prälaktealen Anlagen‘ ‚hervor-
rufen. Sie könnten nach seiner Anschauung als ‚Stauungs-
leisten‘ bezeichnet werden.
Gleichzeitig mit der ausführlichen Publikation von Ahrens
erschien die Mitteilung von Bolk über die Ontogenese des
Primatengebisses. Zu einem Teil stimmen seine tatsächlichen
Befunde genau mit den Abbildungen von Ahrens überein.
Er konnte in diesem ersten Teile seiner odontologischen Studien
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 93
eine Reihe von neuen Gebilden beschreiben, die seiner Mei-
nung nach für die Erkenntnis der Phylogenie des Säugergebisses
von ausserordentlicher Bedeutung sind.
Als erstes dieser Gebilde wollen wir hier die laterale
Schmelzleiste nennen. Bolk konnte zeigen, dass bei allen
untersuchten Species der Zusammenhang des Schmelzorganes
mit dem Mundhöhlenepithel kein einfacher ist. Entsprechend
jedem Schmelzorgan zweigt von der „generellen“ Zahnleiste
— Zahnleiste der Autoren — eine Epithellamelle ab, die sich
an die laterale Fläche des Schmelzorganes begibt, und zu
ihr dieselben Beziehungen aufweist, wie die generelle Zahn-
leiste zur medialen Fläche des Schmelzorganes. Diese labiale
Epithellamelle bezeichnet Bolk als laterale Schmelzleiste. Be-
züglich ihrer Entstehung konnte Bolk vor allem auch in einer
neueren Arbeit, die die früheren Stadien der Zahnentwickelung
von Ovis aries beschreibt, folgendes angeben: „Die früheste
Anlage des Zahnes wird bei den Primaten durch die bekannte
kolbenförmige Verdickung der Zahnleiste gebildet. Diese An-
schwellung entspricht jedoch nicht einfach der Anlage des
Schmelzorganes in einem jungen Stadium, wie es in der Lite-
ratur irrtümlicherweise bis jetzt dargestellt war, sondern aus
dieser kolbenförmigen Anschwellung gehen das Schmelzorgan
sowie eine doppelte Leiste, welche dieses Organ mit der gene-
rellen Zahnleiste verbindet, hervor. Die Entstehung dieses
Leistenapparates kommt in der Weise zustande, dass entweder
an der mesialen oder labialen Fläche der kolbenförmigen Ver-
dickung eine Einsenkung entsteht, welche, während der Ver-
grösserung der Anlage immer tiefer werdend, eine Nische bildet,
medial und lateral von einer dünnen Wand begrenzt. Da beide
Wände konvergieren, ist die Nische bei den vorderen Zähnen
nach hinten geschlossen, da die Nische hier an der medialen
Fläche entsteht, und bei den Molaren nach vorne, da hier die
Vertiefung an der distalen Fläche beginnt. Diese Vertiefung
94 HARRY SICHER,
wurde als die Schmelznische beschrieben. Bei der weiteren
Entwickelung werden mediale und laterale Begrenzungswand
der Nische voneinander getrennt, es ist ein kanalartiger Raum
entstanden, und das unterhalb der Schmelznische sich findende
Schmelzorgan steht jetzt mittelst zweier Leisten, einer medi-
alen und einer lateralen, mit der generellen Zahnleiste in Ver-
bindung.“
Bolk hatte diese Tatsachen zunächst an seinem überaus
reichen Prämatenmaterial erwiesen, und hatte schon damals
Schnitte durch Zähne anderer Säuger abgebildet, welche die-
selben typischen Verhältnisse zeigen. Vor kurzem konnte er
auch beim Schaf seine Befunde bestätigen.
Bolk verwendet diese Befunde — die ja augenscheinlich
den verschmelzenden prälaktealen Anlagen z. B. Adloffs ent
sprechen — auch als Stütze der Konkreszenztheorie. Doch ist
seine Auffassung eine eigenartige und gipfelt darin, dass die
Zahnleiste der Säuger aus ihrem Keimmaterial gleichzeitig zwei
schon von vornherein zu emem einheitlichen Gebilde ver-
schmolzene Keime produziert, die zwei Reptilgenerationen ent-
sprechen. So stellt der Säugerzahn ein dimeres Gebilde dar.
Als letzter Versuch sozusagen einer Differenzierung, einer Auf-
teilung dieses Keimes in seine beiden Komponenten ist einer-
seits die Bildung der Schmelznische und der beiden Schmelz-
leisten, andererseits die Entstehung des Schmelzseptums an-
zusehen.
Von der Auffassung Kükenthals und Adloffs weicht
diese Hypothese vor allem darin ab, dass Bolk seine „laterale
Schmelzleiste‘‘ eben als Schmelzleiste auffasst, während das-
selbe Gebilde von Adloff und Kükenthal als eine rudi-
mentäre prälakteale Zahnanlage gedeutet wird, die eventuell
selbständiger Differenzierung fähig ist. Weiterhin homologisieren
die beiden Autoren diese Gebilde mit den freien Sprossen der
Zahnleiste, während diese nach Bolk das Rudiment der Zahn-
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 95
drüsenleiste der Reptilien darstellt. Diese Deutung, die sich
auf vergleichende Befunde stützt, ist von Bolk vor allem für
die am hinteren Zahnleistenende vorhandene „Nebenleiste‘‘ ver-
sucht worden, doch sagt Bolk, dass sie wahrscheinlich für
viele, wenn nicht für alle freien Sprossen der Zahnleiste gelten
kann. Nach ihm sind dann die Befunde sogenannter kappen-
förmiger Schmelzorgane als die Rudimente von Drüsensprossen
zu deuten.
In einer Arbeit aus demselben Jahre (1913) bringt Adloff
Abbildungen von Rekonstruktionen jener beiden Zahnanlagen
von Spermophilus, welche für ihn schon früher eine grosse
Rolle gespielt haben. An dem einen Modell sieht man neben
der Zahnleiste eine Leiste, die zwei leichte Einsenkungen ent-
hält, die zwei ‚„kappenförmigen prälaktealen Anlagen‘ ent-
sprechen sollen. Das zweite Modell zeigt ganz übereinstimmend
mit den Bolkschen Abbildungen die „laterale Schmelzleiste“
und die „Schmelznische“. Adloff hält es für zweifellos, dass
diese Bildungen an den beiden Modellen homolog sind, dass
es sich also in dem einen Fall um eine freie, im anderen um
eine mit dem Milchzahn verschmolzene prälakteale Anlage
handelt. Und gerade diese Homologie bestreitet Bolk.
In zwei späteren Arbeiten versuchte einerseits Küken-
thal an einem Embryo der Dugong, Adloff an zwei
CGervidenembryonen neue Befunde für ihre Anschauungen bei-
zubringen. Nach Kükenthal findet man an den unteren
Prämolaren mit dem Schmelzorgan des Milchzahnes ver-
schmolzen ein kleines ‚„prälakteales Schmelzorgan“, das mit
der lateralen Zahnleiste in Zusammenhang steht — was aller-
dings aus den Abbildungen nicht hervorgeht. Die Befunde
Adloffs enthalten nichts prinzipiell Neues.
Nach dieser kurzen Übersicht über die Literaturangaben,
die übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit macht, ist
es nun unsere Aufgabe zu prüfen, ob Gebilde, wie sie so viel-
96 HARRY SICHER,
fach beschrieben wurden, bei Talpa vorkommen, und ob ihre
Ausbildung hier sich mit einer der bekannten Theorien in
Widerspruch befindet.
Wir wollen zunächst rein morphologisch die verschiedenen
Gebilde unterteilen in Bildungen, die der „lateralen Schmelz-
leiste‘ Bolks entsprechen und in solche, die der freien „‚prä-
laktealen‘‘ Zahnanlage gleichzusetzen sind, ohne von vorn-
herein etwas über ihre Homologie aussagen zu wollen.
Wir beginnen mit der Besprechung der „lateralen Schmelz-
leiste“. Einleitend müssen wir noch erwähnen, dass Bolk
diese Bildung auch an bleibenden Zähnen fand; so. bildet
er sie an einem oberen medialen bleibenden Incisivus des
Menschen ab. Die Nachprüfung gerade dieses Be-
fundes, der meines Wissens bisher stillschwei-
gend übergangen wurde, erscheint besonders
bedeutungsvoll.
Die laterale Schmelzleiste und die Schmelznische kann
bei Talpa nur als ein sehr variables und nicht an allen Zähnen
vorhandenes Gebilde bezeichnet werden. So fehlt sie voll-
kommen den Schneidezähnen, und ist überdies im Unterkiefer
nur andeutungsweise an einzelnen Zähnen zu finden. Eine
Ursache für dieses Verhalten vermag ich vorläufig nicht an-
zugeben. Erst der Vergleich mit anderen genau untersuchten
Species kann hier Aufklärung geben.
An einem Zahn des Oberkiefers, am Eckzahn, ist jedoch
die laterale Leiste so typisch und konstant vorhanden, dass
ich ihre Beschreibung hier kurz rekapitulieren möchte. An
dem Milcheckzahn des Embryo b tritt diese Bildung zum ersten-
mal auf. Das Schmelzorgan dieses Zahnes stellt am Quer-
schnitt, entsprechend seiner Mitte, ein dreieckiges Gebilde mit
einer konkaven nach oben und aussen gerichteten Basis dar,
dessen Spitze durch die kurze generelle Zahnleiste mit dem
Mundhöhlenepithel in Verbindung steht. An der lingualen Wand
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 97
des Schmelzorganes ragt bereits die Ersatzleiste vor. Verfolgt
man nun die Serie von mesial nach distal, so sieht man in
dem Schmelzorgan nahe der Spitze, also nahe dem Ansatze
der Zahnleiste, eine Lücke auftreten, die von Mesoderm erfüllt
ist. Sie vergrössert sich auf den nächsten drei Schnitten sehr
rasch. Der Schnitt f (Textfig. 5) kann als Paradigma für das
Bestehen der beiden Zahnleisten gelten. Von einem kurzen
gemeinsamen Anteil der Zahnleiste zweigt eine dünne Ver-
bindungsbrücke zur lateralen Fläche des Schmelzorganes ab,
während die mediale Zahnleiste förmlich in die Ersatzleiste
übergeht. Am nächsten Schnitt ist die Schmelznische nach
lateral offen, die laterale Schmelzleiste erscheint als ein freier
labialer Ausläufer der Zahnleiste, um am nächst distalen
Schnitt vollkommen zu verschwinden. Interessant ist, dass
hier, abweichend von den Befunden Bolks, die Schmelz-
nische nach distal offen ist, ein Verhalten, das nach Bolk
nur bei den Molaren zur Beobachtung kommt. Doch geht schon
aus der Darstellung Bolks hervor, dass diesem Umstand keine
prinzipielle Bedeutung zukommt.
Die nächsten Stadien zeigen anfangs ähnliche Verhält-
nisse, bald aber macht die Loslösung des Milchzahnes von der
Zahnleiste immer raschere Fortschritte, so dass die Verhält-
nisse unregelmässige werden. Diese frühe Degeneration der
Milchzahnleiste des Eckzahnes hängt wohl hier vor allem mit
der ausserordentlich früh einsetzenden und rasch fortschreiten-
den Entwickelung des Ersatzzahnes zusammen.
Von ganz besonderem Interesse scheint mir aber die Tat-
sache zu sein, dass der bleibende Caninus des Ober-
kiefers die Bildung der lateralen Schmelzleiste deutlich zeigt,
deutlicher sogar als der betreffende Milchzahn. Wir fanden
am Embryo g des VII. Stadiums an der mesialen Hälfte der
labialen Fläche dieses Schmelzorganes eine leichte Grube, die
lateral von einer Leiste flankiert ist. An dem nächst älteren
“ Anatomische Hefte. 1. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1.) Ä
98 HARRY SICHER,
Embryo ist die Grube nach distal vertieft, die Leiste deut-
licher geworden, und an unserem ältesten Embryo zeigt das
Schmelzorgan des bleibenden Caninus die beschriebenen Ver-
hältnisse ganz typisch. Bei der Betrachtung der Serie, die wir
von mesial nach distal verfolgen wollen (Textfig. 20), erscheint
zunächst an der lateralen Seite der Zahnleiste ein dünner
Fig. 20.
Zwölf aufeinanderfolgende Schnitte durch den oberen bleibenden Eckzahn des
Embryo i. Vergrösserung 50fach.
Fortsatz, der immer länger wird, und schliesslich die laterale
Fläche des Schmelzorganes erreicht. Dann ist zwischen der
lateralen Schmelzleiste, der medialen Schmelzleiste und dem
Schmelzorgan ein dreieckiges Mesodermfeld eingeschlossen,
welches nichts anderes ist als der Querschnitt durch die
Schmelznische. Distalwärts wird dieses dreieckige Feld immer
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 99
kleiner und kleiner, um schliesslich ganz zu verschwinden.
Das Modell zeigt uns, dass hier tatsächlich der Zusammenhang
des Schmelzorganes mit der Zahnleiste durch zwei Epithel-
lamellen vermittelt wird, welche aber nur in ihrem mesıalen
Anteil voneinander differenziert sind. Der Grund hierfür liegt
darin, dass die Schmelznische von vorne her sich in das primäre
Schmelzorgan einsenkt und nach distal nur allmählich an Tiefe
zunimmt (Tafel 6, Fig. 27).
Dass diese Befunde am bleibenden Caninus mit den Be-
funden Bolks einerseits übereinstimmen, dass sie auch ganz
den Befunden von Adloff an dem oberen Pd, von Spermo-
philus entsprechen, unterliegt wohl keinem Zweifel.
Wir können also zunächst sagen, dass der Befund einer
lateralen Schmelzleiste bei Talpa inkonstant ist, dass wir dieses
Gebilde aber auch an einem bleibenden Zahn gefunden
haben Dass wir sie nur an einem bleibenden Zahn finden,
hat vielleicht seinen Grund darin, dass nur dieser eine Zahn
im Embryonalleben bereits höher differenziert ıst und uns nur
Embryonalstadien zur Verfügung standen.
Auf die theoretischen. Folgerungen, die gerade dieser Punkt
erlaubt, wollen wir erst eingehen, wenn wir auch die weiteren
Anhangsgebilde der Zahnleiste besprochen haben.
Auch die freien Nebenleisten der Zahnleiste müssen bei
ihrer Besprechung unterteilt werden. Erstens gehören. hierher
diejenigen Leisten, die ich in der Stadienbeschreibung als
„Nebenleisten‘“ kurz bezeichnet habe. Und zweitens jene Leisten
am distalen Ende der Zahnleiste, die Bolk vor allem Anlass
gaben, die Homologie mit der Zahndrüsenleiste aufzustellen.
Bereits an den Embryonen des IV. Stadiums, also zu
einer Zeit, wo die Anlagen der Milchzähne zum ersten Male
mit voller Deutlichkeit hervortreten, finden wir zwei Neben-
leisten in Entwickelung, die eine längs Pd, und Pd,, die
zweite dahinter. Besonders im Unterkiefer ist die distale Neben-
me
100 HARRY SICHER,
leiste so mächtig entwickelt, dass es den Anschein hat, als
spalte sich die Zahnleiste nahe ihrem Ende in zwei gleich-
wertige Leisten. Auf der Höhe ihrer Entwickelung sind diese
Leisten im Ober- und Unterkiefer vollkommen gleich aus-
gebildet. Die vordere zieht entlang den beiden letzten Prä-
molaren, die rückwärtige zieht — dem freien Zahnleistenrande
näher — von dem hinteren Ende des Pd, zur labialen Fläche
von M,, um hier auszulaufen. Gerade dieser Umstand lässt bei
Betrachtung der Serie die Täuschung entstehen, als ob diese
Leiste mit der Zahnleiste eine Verwachsung eingeht. Die Neben-
leiste entsteht jedoch selbständig als Ausstülpung der Zahn-
leiste und hat mit der Entwickelung der Schmelzorgane keine
Beziehungen. Misst man die hintere untere Nebenleiste des
Embryo E, bei welchem sie eben entstanden ist, und die des
Embryo b, bei welchem sie ihre volle Ausbildung erlangt hat,
so sieht man, dass sie ihre Länge nicht geändert hat. Sie
ist im Wachstum zurückgeblieben, dadurch relativ unschein-
barer geworden, doch hat sie niemals durch eine Verschmelzung
zur Bildung des Keimes von M, beigetragen. Noch deutlicher
wird es bei den anderen Leisten, dass ihre Beziehungen zu
den Schmelzorganen nur topographische sind.
Zu diesen beiden Nebenleisten, die allmählich der Rück-
bildung unterliegen, kommen — besonders deutlich bei Em-
bryo g — auch im Bereiche des zweiten Molaren Leisten, die
eine — man möchte fast sagen seriale — Wiederholung der
beiden mesialen Nebenleisten sind.
So sind wir imstande, am Gebiss von Talpa zunächst
drei Nebenleisten zu unterscheiden, die in gleicher Ausbildung
am Ober- und Unterkiefer vorkommen. Die mesiale läuft ent-
lang von Pd, und Pd,, die mittlere zwischen Pd, und M,,
die hintere zwischen M, und Ms.
Einige Worte müssen wir noch über die histologische
Struktur dieser Leisten sagen, sowie über ihre gelegentliche
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 101
Weiterdifferenzierung. Die erste Anlage der Nebenleisten —
wir wollen als Beispiel die vordere Nebenleiste des Unter-
kiefers wählen — tritt zu einer Zeit auf, in welcher die Zahn-
leiste noch keine Differenzierung in inneres oder äusseres
Schmelzepithel zeigt. Die Zahnleiste besteht hier aus einer
äusseren Cylinderzellenschicht und einer inneren Lage von
polygonalen helleren Zellen mit rundlichem Kern. Diese
Schichtung zeigt auch die Nebenleiste (Tafel 6, Fig. 33).
Wenn später die Differenzierung des Schmelzorganes einsetzt,
bleibt die Struktur der Nebenleiste erhalten (Tafel 6, Fig. 34).
Dass wir aber auch hier noch die Derivate der Basalzellen-
schicht, die Cylinderzellen und die von ihnen umschlossenen
Abkömmlinge der Deckschichte unterscheiden können, mag An-
lass gegeben haben, dass oft den sogenannten prälaktealen An-
lagen ein inneres Schmelzepithel zugesprochen wurde.
Wichtig, besonders im Hinblick auf die Befunde der
Autoren, ist die Weiterdifferenzierung der Leiste, wie wir sie
am Embryo b’ fanden. Wir sehen am Querschnitt die Leiste
an ihrem Ende verdickt und zweigeteilt (Tafel 6, Fig. 35). Sie
macht für den ersten Augenblick ganz den Eindruck eines
kappenförmigen Schmelzorganes. Die genauere Untersuchung
lehrt, dass die histologischen Charaktere aber keine Differen-
zierung erlitten haben. Eine Differenzierung des Epithels etwa
zu einem Schmelzepithel fehlt vollkommen. Die äussere Zell-
schicht hat ganz ihre Charaktere bewahrt, die sie als Derivat
der Basalzellenschicht hatte. In späteren Stadien geht auch
diese Eigentümlichkeit verloren, wie z. B. der Querschnitt durch
die zweigeteilte Leiste des Embryo g zeigt (Tafel 6, Fig. 36).
Auch ein Grübchen, das einer Papille zur Einlagerung dienen
sollte, fehlt. Es macht vielmehr den Eindruck, als wären aus
dem freien Ende der Nebenleiste zwei rundliche Knospen —
körperlich natürlich Leisten — ausgesprosst, die einen feinen
Spalt begrenzen. So ist die Ähnlichkeit dieses Gebildes, bei
102 HARRY SICHER,
Talpa wenigstens, mit einer rudimentären Zahnanlage nur eine
oberflächliche. Dass eine Verdichtung des Mesoderms fehlt,
‘st schon früher betont worden, doch ist diesem Umstand sicher
nur sekundäre Bedeutung zuzumessen.
Die Rückbildung der Leisten erfolgt zum Teil derart, dass
die Leiste in ihrer Kontinuität unterbrochen wird, und dieses
Verhalten in späteren Stadien mag dazu geführt haben, dass
oft eine ganze Reihe prälaktealer Anlagen neben den Schmelz-
organen beschrieben wurden. Das Vorkommen zweier Aus-
stülpungen der Zahnleiste an einer Stelle ist sicher in vielen
Fällen darauf zurückzuführen, dass zwei Nebenleisten so gegen-
einander verschoben sind, dass die distale noch vor dem
distalen Ende der mesialen beginnt.
Wir können zusammenfassend über die Nebenleisten von
Talpa sagen, dass diese typischen und konstanten Gebilde mit
den Schmelzorganen keine genetischen Beziehungen
haben, vielmehr nur als Derivate der Zahnleiste aufgefasst
werden können. Ihre Weiterdifferenzierung gestattet keinen
sicheren Schluss darauf, dass sie imstande sind, rudimentäre
Zahnanlagen zu bilden. Sie verfallen vollständig der Rück-
bildung.
Zumindest morphologisch ganz anders verhalten sich jene
accessorischen Leisten, die wir am distalen Zahnleistenende
fanden. Am Oberkiefer beginnt ihre Bildung bereits sehr früh
bei Embryo d. Hier tritt hinter M, ein Fortsatz der Zahn-
leiste auf, der ihr knapp an dem Ursprung vom Mundhöhlen-
epithel aufsitzt und an seinem Ende in die Zahnleiste umbiest.
Mit der allmählichen Verlängerung der Zahnleiste verlängert
sich auch diese Leiste, verliert aber dabei allmählich ın
ihrem vorderen Anteil den Zusammenhang mit derselben, so
dass sie dann neben der Zahnleiste aus dem Mundhöhlen-
epithel entspringt. Ihr distales Ende geht aber immer wieder
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 103
abgebogen in die Zahnleiste über und löst sich mit ihr gemein-
sam vom Mundhöhlenepithel ab.
Im Unterkiefer finden wir diese Bildung erst im ältesten
Stadium hinter M,. Sie verhält sich hier prinzipiell gleich der
Leiste des Oberkiefers, nur sind ihre Beziehungen zur Zahn-
leiste engere. In ihrer Struktur sind sie als Derivate der Zahn-
leiste natürlich ähnlich den früher beschriebenen Nebenleisten.
Doch scheinen sie diesen nicht homolog zu sein, da zumindest
am Öberkiefer des Embryo g die hintere Nebenleiste an M,
nebst dieser accessorischen Leiste vorhanden ist.
Von grösster Wichtigkeit ist nun die Frage nach der Homo-
logie der „lateralen Schmelzleiste“ Bolks mit den freien
Nebenleisten. Nur auf Grund der Beantwortung dieser Frage
kann die phylogenetische Bedeutung dieses Gebildes erst ge-
würdigt werden. Erstere entspricht dem, was Kükenthal
und Adloff als mit den Milchzähnen verschmolzene oder ver-
schmelzende prälakteale Anlagen bezeichnen, letztere den freien
prälaktealen Anlagen der Autoren. Ich habe hier besonders
Adloffs Untersuchungen an Nagern (Spermophilus) im Auge.
Kükenthals Untersuchungen z. B. am Dugong, die besonders
die weitere Differenzierung der verwachsenden prälaktealen
Anlagen zeigen sollen, sind bei der geringen Anzahl der unter-
suchten Stadien, ferner bei der 'spärlichen bildlichen Dar-
stellung wenig beweiskräftig.
Die Frage nach der Homologie beider Gebilde möchte ich
aber vorläufig nicht beantworten, wenigstens hat die Unter-
suchung von Talpa keine sicheren Schlüsse erlaubt, vielleicht
hauptsächlich deshalb, weil hier die laterale Schmelzleiste
wenig gut entwickelt ist. Gerade erneute Untersuchungen an
Primaten versprechen hier viel. Nach Bolk ist hier die laterale
Schmelzleiste ein konstantes Gebilde, während Ahrens an
einigen Stadien auch freie Nebenleisten abbildet.
104 HARRY SICHER,
Aber eine Bemerkung muss ich hier einfügen. Hält man
wie Adloff an der Homologie der genannten Gebilde fest,
dann muss der Ausdruck ‚prälakteal“ fallen. Denn
wir finden die laterale Schmelzleiste — auch an bleibenden
Zähnen. Dann wäre gerade diese Auffassung der lateralen
Schmelzleiste als eines ehemals selbständigen Gliedes einer
älteren Zahngeneration ein schlagender Beweis für die Gleich-
stellung von Milch- und bleibendem Gebiss der Säuger, ein
Beweis für ihren Scheindiphyodontismus. Dann ist selbst-
verständlich die ausgefallene Generation, deren Rudimente die
fraglichen Bildungen sein sollen, keine Vormilch generation,
sondern eine Generation, die vor der jetzt funktionierenden
einheitlichen Säugergeneration stand.
Lehnt man aber die Homologisierung der beiden Gebilde
ab, dann verliert die ganze Frage für die Konkreszenztheorie
im Kükenthal-Adloffschen Sinne alle Bedeutung. Lässt
man die freien Nebenleisten als Rudimente einer prälaktealen
Generation gelten — dann kann in ihrem Auftreten ein Beweis
für die Konkreszenztheorie schon deshalb nicht gesucht werden,
weil sie in ihrer ganzen Entwickelung weder Verschmelzungs-
vorgänge noch eine Abtrennung von den Schmelzorganen der
Milchzähne zeigen. Da man bei dieser Auffassung aber ge
zwungen ist, die „laterale Schmelzleiste‘“ von diesen Gebilden
scharf zu trennen, kann ihre Entwickelung nichts für die Kon-
kreszenztheorie sagen, da sie dann keine rudimentäre Gene-
ration darstellen kann, sondern — beiden Säugerdentitionen
zugehörig — als ein nur in der Differenzierung des Schmelz-
organs selbst bedingtes Gebilde aufgefasst werden muss. Dass
natürlich die Auffassung von Ahrens, der jede Bedeutung
all dieser Bildungen leugnet, durchaus unbegründet ist, geht
aus der ganzen Darstellung ihrer Entwickelung wohl eindeutig
hervor.
Wie gesagt, ist vorläufig die Frage nach der Hombologisie-
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 105
rung der freien Nebenleisten und der lateralen Schmelzleiste
und damit auch die Frage nach der phylogenetischen Bedeutung
der Anhangsgebilde der Zahnleiste nicht zu beantworten. Wir
müssen erst objektive mit allen Mitteln der Forschung durch-
geführte vollkommen systematische Untersuchungen an ge
schlossenen Entwickelungsreihen möglichst vieler Säuger durch-
geführt haben, bis die Frage der Entscheidung näher rücken
soll. Die Untersuchung zusammenhangloser Embryonalstadien
kann diese Erkenntnis nicht fördern.
Die Entwickelung des Vestibulum oris.
Die Entstehung des Vestibulum oris ist eine äusserst kom-
plizierte. Wenn wir zunächst die Verhältnisse im Oberkiefer
betrachten, so finden wir die erste Anlage des Vestibulum deut-
lich zweigeteilt. In der Region der Schneidezähne senkt sich
schon bei jüngeren Embryonen eine Epithelleiste in das Meso-
derm, die zur Zahnleiste und den Schmelzorganen der Incisivi
die engsten Beziehungen aufweist, deren genaueres Verhalten
früher besprochen wurde. Diese primäre Vestibularleiste geht
jedoch bald zugrunde. Wir finden an unserem ältesten Stadium
nur mehr spärliche Reste derselben. Das definitive Vestibulum
in (der vorderen Mundhöhle legt sich an den älteren Embryonen
in Form einer seichten Furche an, die, von der Zahnleiste
gänzlich unabhängig, von ihr durch einen Wulst, den Alveolar-
wall, getrennt ist.
Die Anlage des Vestibulum in der postcaninen Region ge-
schieht sogleich auf jene Art, die wir bei der Entwickelung
des sekundären Vestibulum oris im vorderen Abschnitt gesehen
haben. Hier entsteht zuerst in der Gegend der vierten Prä-
molaren eine Furche lateral von der Zahnleiste, die sich von
hier nach vorne und hinten verlängert.
Zu dem Alveolarwall, der sich medial von dieser Furche
106 HARRY SICHER,
vorwölbt, zeigt die Zahnleiste ein eigentümliches Verhalten.
In den vorderen Partien entspringt sie an seiner medialen Seite,
ein Verhalten, wie wir es als das definitive ansprechen müssen.
Weiter rückwärts, besonders deutlich in der Molarengegend,
nähert sich ihr Ursprung immer mehr der Vestibularfurche,
so dass die Zahnleiste zuerst an der Kuppe des Alveolarwalles,
noch weiter distal aber lateral von ıhm unmittelbar neben der
Vestibularfurche entspringt. Die seichte Furche, die den Ansatz
der Zahnleiste markiert, liegt also vorne medial vom Alveolar-
wall, kreuzt ihn dann schief von vorne innen nach hinten aussen
verlaufend und endet lateral von ihm. Der Teil des Alveolar-
wulstes, der als ein sich nach vorne verjüngender Streif durch
die Furche von ihm abgetrennt wird und medial von dem
Ansatz der Zahnleiste liegt, ıst das, was Bolk beim Menschen
als Pseudoalveolarwall bezeichnet hat. Die scheinbare Wande-
rung, welche der Ansatz der Zahnleiste durchmacht, um später
auch in der Molarengegend medial vom Alveolarwulst zu ent-
springen, wird dadurch vorgetäuscht, dass die Partie des
Wulstes, die zwischen Zahnleiste und Vestibularfurche gelegen
ist, sich immer mehr vorwölbt, während der Pseudoalveolarwall
verstreicht.
An dem Embryo g finden wir besonders deutlich eine im
Bereiche der Prämolaren aus dem Mundhöhlenepithel knapp
neben der Zahnleiste entspringende niedrige Epithelleiste, die
in ihrem histologischen Charakter von den Nebenleisten, die
übrigens an jüngeren Embryonen schon zugrunde gegangen
waren, abweicht. Ihre Zellen tragen alle Charaktere des defini-
tiven Mundhöhlenepithels, mit seinen grossen schwach färb-
baren, mit rundlichem Kern versehenen Zellen. Es erscheint
mir nicht unmöglich, dass wir es hier mit einem Rudiment
einer primären Vestibularleiste zu tun haben, wie wir sie in
der Frontzahngegend fanden.
Zusammenfassend müssen wir über die Entwickelung des
PR WERE
Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 107
#
Vestibulum oris im Oberkiefer sagen, dass seine Anlage
nicht nur im vorderen und hinteren Mundhöhlenabschnitt ge-
sondert auftritt, wie dies von einer Reihe von Tieren bekannt
ist, sondern dass wir auch im vorderen Mundhöhlenabschnitt
von einer primären vergänglichen und einer sekundären defini-
tiven Anlage sprechen müssen. Erstere tritt als eine mit der
Zahnleiste eng verbundene Leiste, letztere als eine von Anfang
an unabhängige Furche auf.
Die Zweiteilung der Anlage in der Längsrichtung bedingt
das Auftreten des Frenulum laterale.
Im Oberkiefer haben wir bei der Beschreibung der Stadien
eine Epithelleiste kennen gelernt, die peripher von der defini-
tiven Vestibularfurche gelegen, mit ihrem hinteren Ende in der
Gegend des Eckzahnes in die (Gesichtsfläche ausläuft. Obwohl
diese Leiste auch an dem ältesten Embryo noch nicht gehöhlt
ist, so ist es doch unzweifelhaft, dass sie die Entstehung der
einleitend beschriebenen Plica vestibularis bedingt. Zwischen
ihr und der definitiven Vestibularfurche wird ein schmaler
Bezirk abgegrenzt, der mit seinen hinteren Enden allmählich
gegen den Rand der Oberlippe ausläuft, um mit ihm zu ver-
schmelzen.
Im Unterkiefer sind die Verhältnisse einfacher. Auch hier
finden wir in der Gegend der Schneidezähne die Anlage des
Vestibulum als Leiste, die mit den Zahnkeimen in engster Be-
ziehung steht, hinter dem Caninus die Anlage einer selbständigen
Vestibularfurche. An dem ältesten Embryo ist die vordere
Vestibularleiste noch vorhanden, die hintere Furche sehr deut-
lich. Da wir bei Talpa im vorderen Anteil des Unterkiefers
von einem Vestibulum oris nicht eigentlich reden können, da
hier am erwachsenen Tier die Gingiva von der Innenseite des
Kiefers zwischen den Zähnen durch direkt in die Lippenschleim-
haut übergeht, ohne den Alveolarfortsatz zu bekleiden, geht
wohl diese vordere Leiste, ohne durch eine sekundäre Furche
108 SICHER, Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea.
ersetzt zu werden, zugrunde. Doch bedürfen diese Verhältnisse
noch einer Klärung durch Untersuchung an geworfenen Jungen.
Ich muss nach diesen Resultaten nur Bolk beipflichten,
der davor warnt, die Befunde bei der Entwickelung des Vesti-
bulum oris einer Species zu verallgemeinern. Doch ist es zu
wünschen, dass möglichst zahlreiche Einzeluntersuchungen uns
bald gestatten, eine allgemeine Darstellung dieser komplizierten
Entwickelungsvorgänge zu geben.
Zum Schlusse möchte ich nochmals betonen, dass es mir
ferne liegt, die vorliegende Einzeluntersuchung bereits zur
Grundlage von weitreichenden Spekulationen zu machen. Sind
wir zwar berechtigt, die Insektivoren und vor allem auch Talpa
als primitive Säuger anzusehen, so lässt sich doch das nicht
scharf abschätzen, was speziell auch am Gebiss einer ein-
seitigen Anpassung sein Entstehen verdankt. Nochmals möchte
ich darauf verweisen, dass wir nur durch ähnliche Unter-
suchungen an möglichst vollständigen Entwickelungsreihen, die
vor allem auch die jüngsten Stadien einschliessen, die Er-
kenntnis der Zahnentwickelung fördern können.
Wien, im Juli 1915.
Erklärung der Tafelfiguren').
Fig. 1. Linker Oberkiefer eines erwachsenen Maulwurfs. Vergrösse-
rung a9.
Fig. 2. Rechter oberer zweiter Molar von der Kaufläche gesehen. Ver-
grösserung: 10:1.
Fig. 3. Linker Unterkiefer eines erwachsenen Maulwurfs. Vergrösse-
rung: 5:1.
Fig. 4. Schnauzengegend eines erwachsenen Maulwurfs. Vergrösse-
zung: 15:1.
Fig. 5. Modell des Oberkiefers des Embryo E. 200 fach vergrössert.
1/, der Modellgrösse.
Fig. 6. Modell des Unterkiefers des Embryo E. 200 fach vergrössert.
1/, der Modellgrösse.
Fig. 7. Schnitt durch die obere Zahnleiste des Embryo E, hinter Pd...
Vergrösserung: 150:1.
Fig. 8. Schnitt durch die untere Zahnleiste des Embryo C, hinter Pd,.
Vergrösserung: 150:1.
Fig. 9. Modell des Oberkiefers des Embryo a. 200 fach vergrössert.
Ca. t/, der Modellgrösse.
Fig. 10. Distales Ende des Modells des Unterkiefers von Embryo a.
200 fach vergrössert. Ca. 1/3 der Modellgrösse.
Fig. 11. Hinteres Zahnleistenende des Unterkiefers von Embryo a..
Modelliert bei 200 facher Vergrösserung. Ca. !/, der Modellgrösse.
Fig. 12. Modell des Oberkiefers des Embryo b. 200 fach vergrössert.
Ca. 1/, der Modellgrösse.
Fig. 13. Erster oberer Molar des Embryo b von der mesodermalen
Fläche gesehen. Modell der Fig. 12. t/; der Modellgrösse.
Fig. 14. Modell des Unterkiefers des Embryo b. 200 fach vergrössert.
1/. der Modellgrösse.
1) Die Zeichnungen zeigen, wenn nichts anderes angegeben ist, die An-
sicht des Modelles von labial.
110 Erklärung der Tafelfiguren.
Fig. 15. Erster unterer Molar des Embryo b von der mesodermalen
Fläche gesehen. Modell der Fig. 14. 1/; der Modellgrösse.
Fig. 16. Modell des zweiten und dritten oberen Schneidezahnes des
Embryo f von vorne gesehen. 150fach vergrössert. ?/; der Modellgrösse.
Fig. 17. Distale Hälfte des Modells des Oberkiefers von Embryo d.
150 fach vergrössert. Ca. 1/3 der Modellgrösse.
Fig. 18. Erster oberer Molar des Embryo d von der mesodermalen
Seite gesehen. 150fach vergrössert. 1/; der Modellgrösse.
Fig. 19. Erster unterer Molar des Embryo d. 150 fach vergrössert.
1/, der Modellgrösse.
Fig. 20. Schnitt durch die Zahnleiste und accessorische Leiste des
Embryo e. Vergrösserung: 150:1.
Fig. 21. Modell des Oberkiefers des Embryo g. 150fach vergrössert.
1/, der Modellgrösse.
Fig. 22. Milcheckzahn und bleibender Eckzahn des Embryo g von
mesial gesehen. 150fach vergrössert. ?/; der Modellgrösse.
Fig. 23. Erster oberer Molar des Embryo g. Modell der Fig. 21.
!/, der Modellgrösse.
Fig. 24. Hinteres Ende der unteren Zahnleiste des Embryo g. 150 fach
vergrössert. !/, der Modellgrösse.
Fig. 25. Erster unterer Molar des Embryo g. 150fach vergrössert.
1/, der Modellgrösse. ;
Fig. 26. Modell des Oberkiefers des Embryo i. 100 fach vergrössert.
Ca. 1/, der Modellgrösse.
Fig. 27. Milcheckzahn und bleibender Eckzahn des Embryo i von
mesial gesehen. 100 fach vergrössert. ?/; der Modellgrösse.
Fig. 28. Erster oberer Molar des Embryo i von der mesodermalen
Fläche gesehen. Modell der Fig. 26. 1/, der Modellgrösse.
Fig. 29. Modell des Unterkiefers des Embryo i. 100 fach vergrössert.
Ca. 1/, der Modellgrösse.
Fig. 30. Erster unterer Molar des Embryo i von der mesodermalen
Fläche gesehen. 100 fach vergrössert. ?/, der Modellgrösse.
Fig. 31. Schnitt durch den oberen ersten Prämolaren des Embryo i.
Vergrösserung: 150:1.
Fig. 32. Schnitt durch den unteren ersten Prämolaren des Embryo i.
Vergrösserung: 150:1.
Fig. 33. Schnitt durch M, des Embryo A (Oberkiefer). Vergrösse-
rung: 150:1.
Fig. 34. Schnitt durch den oberen Pd, des Embryo b. Vergrösse-
rung: 150:1.
Fig. 35. Schnitt durch die untere Zahnleiste (Pd,) des Embryo b.
Vergrösserung: 150:1.
Fig. 36. Schnitt durch die untere Zahnleiste zwischen M, und M, des
Embryo g. Vergrösserung: 150:1.
Erklärung der Tafelfiguren.
Für alle Tafelfiguren gültige Bezeichnungen.
accessorische Leiste.
distal.
distobuccaler Haupthöcker.
Ersatzleiste.
labial.
lingual.
laterale Schmelzleiste.
mesial.
mesiobuccaler Haupthöcker.
vordere Nebenleiste.
mittlere Nebenleiste.
hintere Nebenleiste.
Schmelznische.
palatinal.
Plica vestibularis.
Vestibularleiste.
Zahnleiste.
Literaturverzeichnis.
Bei Ahrens (1913) findet sich ein ausführliches Verzeichnis der ein-
schlägigen Literatur bis zum Jahre 1913, dem ich nur auf das spezielle
Thema bezügliche Angaben sowie die seither erschienenen Arbeiten hinzu-
zufügen habe.
1867. C. Spence Bate, On the Dentition of the common Mole (Talpa
europaea). The Annals and Magazine of Natural History. Bd. XIX.
Ill. Serie.
1882. J. Kober, Studien über Talpa europaea und
1884. — Fortsetzung. Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in
Basel. VII. Teil. 1. und 2. Heft.
1896. M. F. Woodward, Contributions to the Study of Mammalian den-
tition. Part. II. On the teath of certain Insectivora. Proceedings of
the Zoological Society of London 1896.
1912. Augusta Arnbäck-Christie-Linde, Der Bau der Sori-
ciden und ihre Beziehungen zu anderen Säugetieren. Il. Zur Ent-
wickelungsgeschichte der Zähne. Morphologisches Jahrbuch. Bd. 44.
1913. Hans Ahrens, Die Entwickelung der menschlichen Zähne. Anat.
Hefte. I. Abteilung. Bd. 48.
1913. L. Bolk, Odontologische Studien. I. Die Ontogenie der Primaten-
zähne. Versuch einer Lösung der Gebissprobleme. Jena, G. Fischer.
1913. P. Adloff, Zur Entwickelungsgeschichte des menschlichen Zahn-
systems nebst Bemerkungen zur Frage der prälaktealen Dentition,
der sogenannten Konkreszenztheorie und der Entwickelung des
Säugetiergebisses überhaupt. Archiv f. mikrosk. Anat. Bd. 82.
1913. Hans Ahrens, Die Entstehung des Schmelzstranges im Schmelz-
organ von Schweineembryonen. Sitzungsber. d. Gesellsch. f. Morph.
und Physiol. München.
1914. W. Kükenthal, Zur Entwickelung des Gebisses des Dugong.
Ein Beitrag zur Lösung der Frage nach dem Ursprung der Säuge-
tierzähne. Anat. Anzeiger. Bd. 45.
1914. P. Adloff, Zur Entwickelungsgeschichte des Cervidengebisses. Ein
Beitrag zur Frage der prälaktealen Dentition. Anat. Anzeiger. Bd. 46.
1914: L. Bolk, Odontologische Studien. II. Die Morphogenie der Primaten-
zähne. Jena, G. Fischer.
1915. — Über die Entstehung des Schmelzseptums. Anat. Anzeiger. Bd. 47.
ÜBER EINEN JUNGEN MENSCHLICHEN EMBRYO
NEBST BEMERKUNGEN ZU (. RABL’S GASTRU-
LATIONSTHEORIE.
VON
H. STRAHL,
GIESSEN.
Mit 1 Abbildung im Text und 2 Abbildungen auf Tafel 7/8.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). fo)
Dem ebenso freundlichen, wie seit langen Jahren ver-
ständnisvoll durchgeführten Sammeleifer von Herrn Kollegen
Dr. Rusche in Bremerhaven verdanke ich neben manchem
anderen wertvollen Material eine junge menschliche Frucht-
blase, die in ihrem Entwickelungsgrad nahezu vollkommen mit
der neuerdings von Grosser (Ein menschlicher Embryo mit
Chordakanal. Anatomische Hefte von Merkel und Bonnet,
Bd. 47, 1913) beschriebenen übereinstimmt.
Das Auftreten eines Chordakanals und die zeitweilige Ein-
schaltung der Chorda in das Entoderm beim Menschen ist
für diesen, wenn sie auch als selbstverständlich angenommen
werden mussten, durch die Beobachtung noch nicht so sehr
lange klargestellt.
Den ersten Nachweis vom Chordakanal beim mensch-
lichen Embryo hat Eternod (ll y a un canal notochordal
dans l’embryon humain; Anat. Anz. Bd. 16, S. 131) gegeben.
Sein Präparat ist um ein geringes älter als dasjenige von
Grosser und als das meinige.
Da trotz manch erfreulichem Zuschuss aus den letzten
Jahren junge menschliche Fruchtblasen in gutem Erhaltungs-
zustand immer noch willkommene Untersuchungsobjekte dar-
stellen, so möchte ich in dem Folgenden kurz über den neuen
Embryo berichten; um so eher, als die Fruchtblase in einigen
Beziehungen nicht ganz mit der von Grosser beschriebenen
übereinstimmt.
116 H. STRAHL,
Da ich die Schilderung von Grosser ohne weiteres als
zuverlässig annehme, so können etwaige Unterschiede in
unseren Präparaten kaum anders erklärt werden, als durch die
Annahme, dass für einiges vielleicht die Vorbehandlung der
Objekte verantwortlich zu machen ist, anderes aber sich wohl
durch eine gewisse Variationsbreite in dem Entwickelungs-
gang der jungen menschlichen Fruchtblasen erklärt, was nach-
zuweisen an sich und vielleicht auch in Hinblick auf die An-
gaben der Autoren über die erste Anlage der menschlichen
Placenta nicht ohne Interesse wäre.
Die kleine Fruchtblase wurde mir von Herrm Dr. Rusche
in Formalin fixiert zugeschickt. Sie war vollkommen isoliert,
äusserlich sehr wohl erhalten und auf der ganzen Oberfläche
mit kleinen Zöttchen besetzt. Der grösste Durchmesser be-
trug etwa 10 mm, stimmt also fast genau mit dem Objekt von
Grosser überein.
Anamnestische Angaben über Herkunft oder Alter des Prä-
parates kann ich nicht machen.
Ich habe die Fruchtblase durch einen glatten Schnitt mit
dem Rasiermesser in zwei Hälften zerlegt. Das Magma war
vollkommen geronnen und wurde mit dem Pinsel vorsichtig
entfernt. Dabei konnte ich an der Innenwand des Chorion
eine kleine Embryonalanlage frei legen, die im wesentlichen
mit der von Grosser]. c. Fig. 2 abgebildeten übereinstimmte;
vielleicht mehr als jene frei in den Chorionsack hinein sah,
d. h. also bei der Fixierung weniger verlagert war.
Die Embryonalanlage ist dann in eine Serie von Durch-
schnitten zerlegt, welche den Embryonalkörper nahezu längs
getroffen haben. Ich gebe in Fig. 1 eine Abbildung aus der
Mitte des Embryo. Die Grundlage für die Abbildung liefert die
Photographie eines Schnittes, diese ist aber an einzelnen
Stellen nachgezeichnet, soll also nur den Wert der Zeichnung
haben.
Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 117
Das Bild, noch besser eigentlich der in Fig. 2 abgebildete
Schnitt, der nicht retuschiert oder nachgezeichnet ist, zeigt,
dass der Erhaltungszustand des kleinen Keimes natürlich nicht
so ist, wie man ihn von einem unmittelbar nach dem Ab-
sterben konservierten tierischen Objekt verlangen kann. Immer-
hin scheint er mir — ich bitte z. B. das Epithel des Allantois-
ganges zu vergleichen — für menschliches Material aus-
reichend.
Jedenfalls glaube ich, dass das Präparat in seinem Er-
haltungszustand dem von Grosser gleichkommt. Ich habe
für die erste Abbildung unter den Schnitten denjenigen heraus-
gesucht, der den Eingang in den Chordakanal und die an
diesen anschliessenden Teile möglichst gut median getroffen
zeigt. Vor und hinter dieser Stelle geht der Schnitt von der
Medianlinie etwas, nicht viel, ab.
Da mir die an sich sonst gute Photographie die schliess-
lich auch nicht einmal ganz leicht zu sehenden Bauverhältnisse
im Schnitt nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit wiedergab,
so habe ich, wie ich ‘das mit meinen Photographien vielfach
mache, nachgezeichnet und für das Bild auch die dem ersten
benachbarten beiden Schnitte benutzt. Ich halte das, sobald
man es erwähnt, für ganz unbedenklich.
Die Embryonalanlage wird durch den mit dem Pfeil be-
zeichneten dorsalen Eingang in den Chordakanal in einen vor-
deren, etwas längeren, und einen kürzeren hinteren Abschnitt
zerlegt. Der letztere enthält den Primitivstreifen, dieser ist
aber im vorliegenden Schnitt nicht in der Medianlinie, sondern
schräg getroffen; daher erscheinen im Schnitt die drei Blätter,
die ihn bilden, getrennt und das Ectoderm sehr stark, während
in der Medianlinie natürlich Ecetoderm und Mesoderm zu-
sammenhängen.
Der vordere Teil des Schnittes enthält den Kopffortsatz und
in ıhm den Chordakanal. Ich rechne als Kopffortsatz den
115 H. STRAHL,
dichteren Teil des Schnittes, also etwas mehr als die Hälfte
des vor dem Eingang in den Chordakanal gelegenen Abschnittes
bis x, nicht die Spitze des Embryo mit den drei deutlich von-
einander getrennten Keimblättern und dem lockeren Mesoderm.
Anmerkung: Ich möchte, da ich unten vielfach mit Terminologie-
fragen zu tun habe, bereits jetzt bemerken, dass ich den Terminus „Kopf-
fortsatz‘‘, wenn er mir auch nicht ganz glücklich erscheint, im alten Koelliker-
schen Sinne gebrauche; wesentlich um die ohnehin schwierige Terminologie
nicht weiter zu erschweren.
Koelliker (Entwickelungsgeschichte des Menschen. II. Aufl. Leipzig.
Engelmann 1879) sagt (l. e. S. 107) vom Keim des Hühnchens: „hier (d. h.
in der Randzone des Primitivstreifens) entwickelt sich dann um die 15.—20.
Brutstunde in ihrer Mitte ein dichterer Streifen, der wie ein vorderer Anfang
des Primitivstreifens erscheint und der Kopffortsatz desselben heissen soll‘,
und ebenda $. 271: „Ich glaube nicht zu irren, wenn ich diese Verdickung des
Mesoderma, die vor den Primitivstreifen vom Ectoderma gut abgegrenzt ist,
mit dem Theile vergleiche, den ich beim Hühnchen als Kopffortsatz des Primi-
tivstreifens bezeichnete.“
In diesem Kopffortsatz tritt dann bei einzelnen, keineswegs allen Amni-
oten der bekannte Kanal auf, den ein Teil der neueren Autoren als Chorda-
kanal, van Beneden als Lieberkühnschen Kanal bezeichnet. Ich glaube,
dass hier ein Irrtum über das, was man will, nicht möglich ist, wenn man
einstweilen bei der Bezeichnung „Chordakanal“ bleibt, obgleich dieser Ter-
minus von einzelnen der neueren Autoren abgelehnt wird. Dass aus einem
Teil der Wand des Kanals mehr als Chorda wird, ist mir natürlich nicht un-
bekannt.
Bei meinen persönlichen Beziehungen zu Lieberkühn wird man es
verständlich finden, wenn ich gelegentlich beide Termini verbinde.
Der dorsale Eingang in den Chordakanal kann sich dann als Canalıs
neurentericus mehr oder minder lange erhalten. Es kann aber, wie Gasser
zuerst bei dem Embryo der Gans gezeigt hat, ein Canalis neurentericus auch
ohne den ihm vorausgehenden, durch Invagination gebildeten Chordakanal
entstehen.
Die Bezeichnungen der Keimblätter Ectoderm, Mesoderm, Entoderm
gebrauche ich im Sinne der älteren Autoren, in welchem sie ja heute noch
auch von manchen der gangbaren Lehrbücher verwendet werden. Der Ter-
minus Entoderm, wie er hier verwendet wird, würde also dem Paraderm
Kupffers (Leeithophor, Leeithoderm, sekundärem Entoderm neuerer Autoren)
entsprechen.
Von der Dorsalseite geht an der mit dem Pfeil bezeichneten
Stelle der Eingang in den Chordakanal als feiner, aber un-
zweifelhaft erkennbarer Spalt in die Tiefe. Der Kanal ver-
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 119
läuft zunächst senkrecht und biegt dann im rechten Winkel
nach vorn ab; nach kurzem Verlauf in dieser Richtung hat er
an seiner Entodermseite eine ausgiebige ventrale Öffnung, setzt
sich aber vor dieser weiter durch den Kopffortsatz nach vorn
fort. Dass an der Spitze des Kopffortsatzes etwa bei x in
unserem Schnitt freies Mesoderm über dem vorderen Ende der
Chordaanlage, zwischen dieser und der Medullarplatte liegt,
erklärt sich aus dem etwas schrägen Verlauf des Schnittes.
Die Durchsicht der Schnittreihe ergibt, dass die Wand
des Chordakanals vorn in fester Verbindung mit dem Ento-
derm in Bonnets Ergänzungsplatte endet.
Nach vorn von x finden sich ganz ausgesprochen drei deut-
lich voneinander getrennte Blätter; ich möchte für diesen Teil
besonders hervorheben, dass in ihm das Ectoderm gestreckt
verläuft und nicht die Einbiegung aufweist, die an dem Prä-
parat von Grosser vorhanden ist.
Im übrigen zeigt der Schnitt die bekannten Formen der
jungen menschlichen Fruchtblase: Ein dicker Haftstiel aus
lockerem Mesoderm verbindet das Hinterende des Embryo mit
der Innenwand des Chorion, das geschlossene Amnion deckt
ihn an der dorsalen Seite, an der ventralen hängt die Nabel-
blase: in ihrer Wand liegen Verdickungen innerhalb des Meso-
dermes, die ersten Gefässanlagen. Einzelne Gruppen von
Zellen, die frei in der Lichtung der Nabelblase liegen, lassen
bei starker Vergrösserung ausgesprochen den Charakter als
kernhaltige rote Blutkörper erkennen, während das bei den
Zellen der Blutinseln in der Nabelblasenwand noch nicht der
Fall ist.
In dem Haftstiel sind sichere Blutgefässanlagen nicht nach-
weisbar, ebensowenig solche in den Chorionzotten. Ein kleiner
dunkler Fleck im oberen Ende des Haftstieles ist der Durch-
schnitt durch einen dünnen, inmitten des Haftstieles liegenden
Epithelgang, der nirgends einen Zusammenhang mit anliegenden
120 H. STRAHL,
Epithelien zeigt, sondern beiderseits blind endigt. Es kann
nach der ganzen Sachlage nur der Überrest eines in der Rück-
bildung begriffenen Amnionganges sein.
Eine zweite Abbildung (Fig. 2) gibt einen der weiter seitlich
gelegenen Schnitte wieder; ich bilde ıhn ab, um den im Haft-
stiel liegenden Allantoisgang zu zeigen. Dieser ist ziemlich
gut längs, aber doch auch nicht in seiner ganzen Ausdehnung
im Schnitt enthalten, sein blindes Ende ist in den anliegenden
Schnitten gelegen. Im übrigen gleicht der Schnitt in seinen
allgemeinen Bauverhältnissen dem ersten. Der getroffene Seiten-
teil der Embryonalanlage ist durchgängig dreiblätterig; nur
unmittelbar vor dem Eingang in den Allantoisgang bei x ist
eine kleine Unterbrechung in dem Zusammenhange des Meso-
derm angedeutet. Die Stelle ist der Seitenrand der in unserer
Schnittreihe im ganzen sehr wenig ausgesprochenen, aber doch
vorhandenen Cloakenmembran.
Ich habe ebenso wie Grosser aus den Befunden der
gesamten Schnittreihe eine schematische Figur konstruiert, die
einen Medianschnitt durch den Embryo wiedergeben soll (Text-
figur a).
Die Figur soll in erster Linie die Ausdehnung des Chorda-
kanals illustrieren; ferner die in seiner Mitte gelegene erste
ventrale Öffnung, seine Beziehung nach hinten zum Primitiv-
streifen sowie das Auslaufen des Kopffortsatzes nach vorn im
Entoderm. Die Cloakenmembran ist in dieser Figur etwas sche-
matisiert, sie tritt an den schrägen Schnitten nicht mit solcher
Deutlichkeit hervor, wie in der Figur. Hinter ihr geht der
Allantoisgang in den Haftstiel, der ausserdem den Durchschnitt
des Amnionganges enthält.
Wenn ich mein Schema mit demjenigen von Grosser
vergleiche, so ergibt sich doch eine Reihe von Unterschieden.
Der Knick am vorderen Körperende, den Grosser zeichnet,
fehlt hier. Das würde heissen, dass bei unserem Präparat
Anatom, Hefte. 1. Abt. 162. Heft (54. Bd. H. l). Tafel 7.
Fig. 1.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
mabBlesivl in same.
Fr
b nu7 4:07
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 121
die Abhebung des vorderen Körperendes aus der Fläche der
Keimblätter noch nicht begonnen, an dem Präparat von
Grosser aber schon eingesetzt hat. |
Den Umschlagrand vom Ectoderm der Medullarplatte in
die dorsale Wand des Chordakanals glaube ich etwas anders
zeichnen zu sollen als Grosser.
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Fig. a.
Am Eingang in den Allantoisgang schiebt sich bei dem
Präparat von Grosser eine Falte von Entoderm und Darm-
faserplatte vor diesen, die ich hier vermisse; hier ist ein ganz
gleichmässiger Trichter vorhanden.
Der Amniongang ist viel weniger entwickelt, der Chorion-
gang fehlt ganz; was beides wohl unzweifelhaft mit der grossen
Variationsbreite dieser beiden Gebilde zusammenhängt.
Der distale Nabelblasenfaden, der in dem Grosserschen
Präparat noch sehr ausgesprochen vorhanden ist, fehlt hier
bereits. Wenn man sich der von Beneke und mir (Strahl
122 H. STRAHL,
und Beneke, Ein junger menschlicher Embryo. Wiesbaden,
Bergmann, 1910) gegebenen Auffassung über die Differenzierung
der menschlichen Fruchtblase aus der Morula anschliesst, so
ist der Nabelblasenfaden und dessen Verbindung mit der Innen-
wand des Chorion eine stets vorkommende und normale Ent-
wickelungserscheinung, die unter Rückbildung des Fadens sehr
rasch vergeht. Die Rückbildung ist hier bereits vollendet, bei
dem Präparat von Grosser noch im Gange.
Bei Grosser (auch bei Eternod, Anat. Anz. Bd. 15,
S. 184, Fig. 1) setzt sich das hintere Amnionende ausgesprochen
in den Haftstiel fort, bei unserem Präparat nicht.
Die gesamten Konturverhältnisse sowohl des Amnion wie
diejenigen des Embryonalkörpers sind bei dem Präparat von
Grosser etwas verbogen, was wohl mit dem Bruch des
Präparates und den hierdurch verursachten Störungen zu-
sammenhängen mag. Ich halte in dieser Beziehung die Schnitt-
bilder von meinem Präparat für mehr dem natürlichen Bau
entsprechend.
Das wären im ganzen die Unterschiede, die ich gegenüber
Grosser zu verzeichnen hätte; ich will aber nochmals be-
sonders hervorheben, dass ich sie nahezu alle durch eine in-
dividuelle Variationsbreite im Entwickelungsgang des mensch-
lichen Embryo erkläre.
Mit einem Worte möchte ich noch auf den Entwickelungs-
gang des mittleren Keimblattes am vorderen Embryonalende
zu sprechen kommen. Wenn ich auf die Darstellung von dessen
Ausbreitung bei Strahl und Beneke verweise, so brauche
ich kaum besonders hervorzuheben, dass ich den Kopffortsatz
und 'somit die Wand des Chordakanals als Mesoderm bezeichne.
Ich bitte in dieser Beziehung auch die Diskussion zu meinem
Vortrag auf der Anatomen-Versammlung zu Innsbruck zu ver-
gleichen.
Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 123
Nimmt man, wie ich das tue, trotzdem es einstweilen
durch das Präparat noch nicht erwiesen ist, an, dass die erste
Bildung des Mesodermes in der Fruchtblase des Menschen
und der ihm in der Entwickelungsform nahestehenden Säuger
nicht lediglich vom Primitivstreifen aus als Ectodermwuche-,
rung statthat, sondern dass das mittlere Keimblatt auf weite
Strecken durch unmittelbare Differenzierung aus der Morula
hervorgeht, so lässt sich denken, dass Kopffortsatz und das
präembryonale Mesoderm ursprünglich einheitlich sein könnten.
Aber selbst wenn das der Fall wäre, so müsste sehr bald eine
Trennung dieser Teile eintreten; denn in einem Stadium, wie
dem vorliegenden, sind beide sicher voneinander geschieden
und der Kopffortsatz läuft mit seiner Spitze, wie allgemein
bei den Embryonen der amnioten Wirbeltiere in gewissen Ent-
wickelungsstadien, im Entoderm aus, ohne unmittelbaren Zu-
sammenhang mit dem präembryonalen Mesoderm.
Eine vollkommene Rekonstruktion des kleinen Embryo,
die in mehr als einer Beziehung wünschenswert wäre, bin ich
aus äusseren Gründen im Augenblick nicht zu machen in der
Lage; vielleicht lässt sich eine solche aber späterhin noch
nachholen.
Das Stadium der Entwickelung des menschlichen Embryo,
das ich vorstehend beschrieben habe, möchte es nahelegen,
an dieser Stelle auch die viel umstrittene Frage nach dem
Gastrulationsvorgang bei den Säugern, die ja neuerdings von
verschiedenen Seiten her angeschnitten ist, zur Erörterung zu
bringen.
Aus den gleichen Gründen, die es mir bei früheren ähn-
lichen Gelegenheiten wünschenswert erscheinen liessen, hier-
von abzusehen, verzichte ich auf eine allgemeine Erörte-
rung des Problems aber auch diesmal. Ich glaube auch jetzt
nicht, dass wir in der Kenntnis der Tatsachen so weit sind,
dass wir einen solchen Versuch mit der Aussicht unternehmen
124 H. STRAHL,
könnten, dass er allgemeine Anerkennung finden müsste. Ich
glaube das insbesondere, wenn ich den letzten dieser Art von
C. Rabl (Edouard van Beneden und der gegenwärtige
Stand der wichtigsten von ihm behandelten Probleme. Arch. f.
mikr. Anatomie, Bd. 88) hier erwähne. Gerade diesen aber
ohne eine Besprechung zu übergehen, halte ich nicht für an-
gebracht; wenn ich auch nicht auf alle Einzelheiten der um-
fangreichen Arbeit eingehe, so doch auf einiges und namentlich
auf den Teil der Darstellung, in welchem Rabl mich selbst
in seine Diskussion hineingezogen hat.
Rabl hat, einem letztwilligen Wunsche E. van Bene-
den’s folgend, dessen Arbeiten einer kritischen Analyse unter-
zogen; im Anschluss an diese gibt er eine Übersicht über aus-
gedehnte eigene Untersuchungen von frühen Entwickelungs-
stadien der Kaninchen-Fruchtblase und, neben manchem anderen,
eine erneute, ganz allgemeine Erörterung über das Gastru-
lationsproblem bei Wirbellosen und Wirbeltieren. Er geht bei
diesen Erörterungen mit Lebenden und Toten in strenger Weise
ins Gericht. Ich möchte vermuten, dass ihm auch von anderer
Seite entgegnet werden wird und mich, wie gesagt, an dieser
Stelle im ganzen auf eine Behandlung solcher Teile der Arbeit
beschränken, die mich persönlich angehen und Arbeitsgebiete
berühren, in denen ich vor vielen Jahren mit grossem Interesse
tätig gewesen bin, die ich auch seitdem nie ausser Augen ge-
lassen habe. Dass dabei auch allgemeine Fragen nicht um-
gangen werden können, ist ohne weiteres verständlich.
Nicht, als ob ich hoffen zu dürfen glaubte, dass Rabl
sich etwa durch meine Erörterungen gerade über solche in
seinen Anschauungen wird beirren lassen; ich habe nach dem
Studium seiner Arbeit den Eindruck, dass er so fest in seinen
Auffassungen steckt, dass das einstweilen und von mir schwer-
lich zu erreichen ist; würde mich natürlich freuen, wenn ich
mich irrte. Aber die Erörterungen über das Gebiet sind ja mit
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 125
Rabl’s Arbeit nicht abgeschlossen und vielleicht kann doch
einer oder der andere der späteren Arbeiter auch das benützen,
was wir hier bringen.
Zum Teil, nicht ausschliesslich, ist die Gastrulationsfrage
eine solche der Terminologie; man streitet sich um diese,
aber auch um Fragen über die Entwickelungsvorgänge selbst,
die der Terminologie zugrunde liegen und alles andere als
geklärt sind; und endlich wohl auch um die grundsätzliche
Frage nach der sachlichen und begrifflichen Bedeutung der
Homologie in der Tierreihe.
Wer heute somit in die Erörterung der Gastrulationsfrage
eingreifen will, muss bei dem Durcheinander der Meinungen
meines Erachtens zunächst klarlegen, was er selbst unter
Gastrulation versteht.
Und ehe ich das von mir aus tue, möchte ich doch hervor-
heben, dass für die Definition nur der historische Standpunkt
massgebend sein kann. Es ist ganz unmöglich, eine sach-
gemässe Erörterung — ganz allgemein — über wissenschaft-
liche Fragen zu führen, wenn sich die Autoren über die Grund-
lagen für eine verständige Terminologie nicht klar sind.
Es ist schon eine Erschwerung der Verhandlungen, aber
immerhin noch erträglich, wenn ein Teil — morphologisch —
oder ein Vorgang — physiologisch, genetisch — von dem nach-
kommenden Autor anders bezeichnet wird, als von dem voraus-
gehenden. Da wird dann ein neuer Terminus technicus ge-
schaffen, meist ja wohl in dem Wunsch, durch den neuen
die Bedeutung von Objekt und Terminus klarer zum Ausdruck
zu bringen, als durch den alten.
Das Endergebnis kann dann sein, dass wir für den gleichen
Gegenstand — wie in unserer alten anatomischen Terminologie
— drei oder vier verschiedene Namen haben.
Ganz unerlaubt und unmöglich und unzweifelhaft teil-
weise, nicht allein, Schuld an dem Durcheinander in der Gastru-
126 H. STRAHL,
lationsfrage ist es, wenn der Nachkommende den vorhandenen
Terminus aufnimmt, aber in anderem Sinne gebraucht, als er
geschaffen ist. Dann ist die Verwirrung natürlich unvermeidlich.
Betrachtet man von diesem Gesichtspunkte aus die Frage
der Gastrulation, so ist ja allbekannt, dass der grundlegende
Terminus von Haeckel herrührt. Freilich ist dabei zu be-
rücksichtigen, dass Haeckel zunächst nicht den Bildungs-
vorgang, sondern das fertige Objekt definiert, nicht die Gastru-
lation, sondern die Gastrula.
Von Haeckels Darstellungen möchte ich einige, die mir
besonders wesentlich scheinen und von denen einzelne deshalb
oft zitiert sind, anführen.
In seiner Gastraea-Theorie definiert Haeckel (Die
Gastraea-Theorie; Jen. Z. f. Naturw. Bd. VIII, 1874 1. c. S. 15)
die Gastrula als: einen einachsigen hohlen Körper ohne An-
hänge, dessen einfache Höhle (Urdarm) sich an einem Pole der
Achse durch eine Mündung öffnet (Urmund) und dessen Körper-
wand aus zwei Zellenschichten oder Blättern besteht: Ento-
derm oder Gastralblatt und Exoderm oder Dermalblatt.
In seiner Anthropogenie sagt er (Haeckel, Anthropo-
genie, III. Aufl., 1877, S. 187): „Der Mensch und alle anderen
Thiere, welche in ihrer ersten individuellen Entwickelungs-
Periode eine zweiblätterige Bildungsstufe oder eine Gastrula-
Form durchlaufen.“
Später trennt er verschiedene Gastrulaformen; so
(Haeckel, Ursprung und Entwickelung der tierischen Ge-
webe. Jen. Z. f. Naturw. Bd. XVIII, 1884, Sonderabzug S. 33)
scheidet er Leptogastrula und Pachygastrula, wobei er die
Untersch.ede als solche in der Form der beiden primären
Keimblätter sucht.
Falls man also nach Haeckels Terminologie die Gastru-
lation (definieren will, so kann man das doch wohl nur so tun,
dass man sagt:
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 127
Wenn man die oben geschilderte Entwickelungsform als
Gastrula bezeichnet, so ist zu nennen:
Gastrulation der Vorgang in der Entwickelung von Meta
zoen, der zur Bildung eines einachsigen hohlen Körpers ohne
Anhänge führt, dessen einfache Höhle (Urdarm) sich an einem
Pole der Achse durch eine Mündung öffnet (Urmund) und
dessen Körperwand aus zwei Zellenschichten oder Blättern
besteht: Entoderm oder Gastralblatt und Exoderm oder Der-
malblatt.
An diese Definition möchte ich mich halten.
Wer heute zu der Frage nach „Gastrula“ und „Gastru-
lation‘‘ bei Wirbeltieren Stellung nehmen will, der muss meines
Erachtens logisch so vorgehen, dass er erörtert:
1. Kommt der Entwickelungszustand, der zuerst mit dem
der Gastrula bei Wirbellosen (und etwa bei Amphioxus) be-
zeichnet ist, in der gleichen Form bei den Wirbeltieren allge-
mein Vor?
2. Wenn, wie natürlich, diese Frage verneint wird: Kommt
bei den Wirbeltieren ein Entwickelungszustand vor, der wenig-
stens teilweise objektive Übereinstimmungen mit dem Gastrula-
stadium der genannten Tiere aufweist?
3. Wenn diese Frage bejaht wird, dann wäre zunächst
ebenfalls objektiv festzustellen, worin diese Übereinstimmungen
bestehen und inwieweit Abweichungen vorhanden sind.
4. Erst dann wäre zu erörtern, nicht, was bei den Wirbel-
tieren Gastrula bzw. Gastrulation ist, sondern ob wir diesen
oder jenen Entwickelungszustand bzw. Entwickelungsform als
Gastrula bezeichnen sollen, beziehungsweise, wie weit wir von
einer Homologie reden wollen, was natürlich eine rein sub-
jektive Angelegenheit ist; wobei man, wie das unten geschehen
ist, sich nicht in der Reihenfolge der Darstellung, sondern
nur dem Gesamt-Inhalt nach an obige Zusammenstellung zu
binden braucht.
128 H. STRAHL,
Anmerkung: Wegen des Terminus „homolog‘“ möchte ich auf Spe-
manns Aufsatz „Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie (Die
Kultur der Gegenwart. Teil 3. Abt. 4. Bd. 1. S. 63) verweisen, der aller-
dings mit der wenig tröstlichen Ausführung abschliesst: „Es scheint also,
dass der Homologiebegriff in der Fassung der historischen Periode sich unter
unseren Händen auflöst“ (S. 83).
Immerhin scheint mir, dass man mit der ursprünglichen Definition des
Begriffes auch heute noch operieren kann. „Als homolog bezeichnete man
ursprünglich formal gleichwertige Körperbezirke zweier nach gleichem Grund-
plan gebauter Organismen“ und „homolog heisst soviel wie morphologisch
gleichwertig“ sagt Spemann |. ce. S. 63.
Die Definition an sich erscheint mir durchaus klar. Das subjektive
Moment, das man in sie hineinbringt, ist gegeben dadurch, dass man eben
verschiedener Meinung darüber sein kann, ob zwei Dinge morphologisch gleich-
wertig sind oder nicht.
Für die) Termini „ist“ und „bezeichnen“, an die sich vielleicht auch
eine Erörterung knüpfen könnte, wäre zu vermerken, dass man den ersteren
anwenden mag für Dinge, die so weit festgestellt sind, dass sie ausserhalb der
Diskussion stehen und sich allgemeiner Übereinstimmung erfreuen; für das,
was zweifelhaft ist, wäre wohl meist der zweite besser.
Das würde für mich die Grundlage der nachstehenden
Erörterungen abgeben. Bei dieser mögen zunächst einiges All-
gemeine Erledigung finden. Ich schicke ım übrigen voraus,
dass, wie ich bereits bemerkte, für mich heute nicht die
gesamte Behandlung des Gastrulationsproblemes in Frage
kommt, sondern nur meine Stellung zu Rabl’s Auffassung
desselben.
Soweit mir bekannt, hat Haeckel selbst an seiner
Definition später etwas Grundlegendes nicht geändert (sollte
ich bei der grossen Literatur nach dieser Richtung etwas
übersehen haben, so würde ich das bedauern, vermag es aber
im Augenblick nicht zu ändern).
Und wenn das richtig ist, so ist doch wohl klar, dass
für ihn in der Terminologie der Schwerpunkt in der Bildung
von Ectoderm und Entoderm gelegen hat, und zwar von dem-
jenigen Entoderm, das später hier das gesamte Epithel des
Tubus digestorius liefert. Für die Formen, für welche er den
Terminus zuerst geschaffen hat, ging diese Bildung auf dem
an Vin Meere eerre eee ”
Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 129
Wege einer Invagination vor sich. Dabei ist es aber meines
Erachtens zunächst ganz gleichgültig, ob die Teile, die hier
gegeneinander verlagert werden, schon vor dieser Verlagerung
determiniert sind oder nicht (s. u.). Was übrigens eine sub-
jektive Auffassung ist, die auch früher schon viele Autoren
gehabt haben, der manche sich wohl weiterhin noch an-
schliessen werden, der aber Rabl widersprechen wird.
Wie bekannt, hat dann über die Frage, wieweit die zu-
nächst für Wirbellose als Gastrula beschriebene Entwicke-
lungsform Allgemeinerscheinung sei, insbesondere ob und in
welcher Form sich bei allen Wirbeltieren ein Entwickelungs-
stadium findet, das man als Gastrula bezeichnen kann, die
letzteı: Jahrzehnte hindurch eine ausgiebigste Erörterung statt-
gefunden.
Wenn es sich nun darum handelte, weiter zu homologi-
sieren, d. h. die Formen, die hier bei niederen Tieren benannt
waren, bei höheren wieder zu finden, so ist doch wohl ohne
weiteres festzustellen, dass von einer vollkommenen Homo-
logie nicht die Rede sein kann, sondern dass diese nur eine
bedingte oder teilweise sein könnte. Sagt doch z. B. Bonnet
(Entwickelungsgeschichte. 2. Aufl. Berlin 1912. S. 93): „Die
Gastrulation der Amnioten ist rudimentär geworden und bei
manchen Arten fast bis zur Unkenntlichkeit reduziert.“
Die Differenzen der Autoren in der Gastrulationsfrage
gehen nach mehrfachen Richtungen auseinander: Zunächst nach
einer subjektiven, indem die verschiedenen Autoren sehr ver-
schiedener Meinung darüber sind, was man als wesentlich
dafür ansehen soll, um die Teile, um deren Entwickelung
es sich hier handelt, als homolog zu bezeichnen. Ich kann
dabei für die historische Darstellung im allgemeinen auf
Rabl’s ausführliche neue Übersicht verweisen und nur ein
Beispiel herausgreifen, das durch Rabl’s Ausführungen be-
sonders nahegelegt wird, das er selbst ständig polemisierend
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162 Heft (54. Bd., H. 1.) 9
130 H. STRAHL,
zitiert; den vielen anderen Arbeitern auf diesem Gebiete will
ich damit historisch nicht irgend etwas vorenthalten.
Hubrecht und Keibel legten bei ihren Beobachtungen
über den Gastrulationsvorgang den Schwerpunkt auf die bei
ihm ablaufende Bildung von Eetoderm und Entoderm.
Rabl will davon nichts wissen; nach seiner Meinung
sind Ecetoderm und Entoderm bereits vor dem Beginn der
Gastrulation überhaupt und vor der etwa bei Reptilien und
Säugern vorkommenden Invagination auf der dorsalen Seite
des Keimes insbesondere determiniert und die Invagination,
die er Gastrulation nennt, ist in erster Linie kein Differenzie-
rungs-, sondern ein Wachstumsvorgang, „ein Vorgang, durch
welchen gewisse bereits früher differenzierte Organanlagen in
ihre definitive Lage gebracht werden“ (l. ec. S. 263, vgl. auch
23 B2Sı 391).
Dazu käme als Terminologiefrage z. B. weiter die von
Rabl angeregte, ob die Auffassung von Hubrecht und
Keibel über das, was man als Gastrulationsvorgang bei
höheren Wirbeltieren bezeichnen soll, fallen müsse, wenn der
Nachweis geliefert sei, dass auch nur ein Teil des Darm-
epithels aus der Wandung der „dorsalen Einbuchtung‘“ entstehe.
Über die Berechtigung dieser Forderung Rabl’s lässt sich
ebenfalls streiten, der eine wird sie anerkennen, der andere
bestreiten.
Weit schwerer als diese Terminologiefragen wiegt, dass
einstweilen nicht einmal eine Übereinstimmung darüber zu
erzielen ist, wie in der Tat bei den Amnioten das Darmepithel
sich anlegt.
Dass es vollkommen durch Invagination aus der Wand
eines Lieberkühnschen Chordakanales entsteht, wie es
nach vollkommener Homologie mit niederen Formen der Fall
sein müsste, mag selbst RabI nicht behaupten.
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 131
Dass aber auch nur ein Teil auf diese Weise sich bildet,
dafür ist meines Erachtens Rabl, der den Beweis dafür
bringen will und für seine Theorie braucht, für die Objekte,
die er ausführlicher behandelt (Reptilien und Säuger), diesen
schuldig geblieben. Für die Entwickelung des Vogelembryo
hat er ihn kaum versucht, hier würde es nach dem heutigen
Stand unserer Kenntnisse bei einer Reihe von Formen auch
ganz misslingen.
In seinen Darstellungen über den Gastrulationsvorgang
bei Säugern, mit deren Besprechung ich beginnen möchte,
schliesst sich Rabl auf Grund eines sehr umfangreichen
Materiales von jungen Entwickelungsstadien des Kaninchens
und unter Hinweis auf vielfache frühere Mitteilungen den-
jenigen Autoren an, welche bei Amnioten in dem Primitiv-
streifen und den von ihm ausgehenden Kopffortsatz, in dem
dann der Lieberkühnsche Chordakanal auftritt, das Homo-
logon der Gastrulation niederer Wirbeltiere und Wirbelloser
sehen.
Für ıhn ist also denn auch der Binnenraum des Lieber-
kühnschen Chordakanals, da, wo er, wie bei vielen Säugern
und den Reptilien vorkommt, das Archenteron oder Urdarm-
säckchen und die Zellen, die ihn auskleiden, bezeichnet er
als den Entodermzellen etwa einer Amphioxus-Gastrula
homolog.
Das, was im zweiblätterigen Keim der Sauropsiden und
Säuger die untere Zellschicht bildet, eine Lage, die ich mit
den älteren, und immerhin noch manchen der heutigen
Embryologen bei diesen Formen auch in der folgenden Dar-
stellung als Entoderm bezeichne, ist für ihn im Anschluss
an eine Reihe anderer Embryologen Paraderm oder Dotter-
blatt (z. B. S. 340).
Um die Homologie tunlichst und besser, als die Autoren
vor ihm, begründen zu können, will Rabl nun zeigen, dass
9*
132 H. STRAHL,
aus der Wandung des Chordakanals beim Kaninchen auch
Epithel des Verdauungsrohres entsteht, wobei er selbst aller-
dings sagt (l. c. S. 424), „das Epithel der Darmwand oder —
wenn wir uns sehr vorsichtig ausdrücken — eines Teiles
der Darmwand“.
Er glaubt das nachweisen zu können, weil auf dem Quer-
schnitt des eröffneten Chordakanals die in das Paraderm ein-
geschaltete Wand des Kanals viel mehr Zellen enthalte, als
für den Aufbau der Chorda verwendet werden können.
Was er nachweisen will, indem er eine Reihe von Quer-
schnitten verschiedener Altersstufen von Kaninchenembryonen
nebeneinander stellt, die alle der gleichen Körperstelle — der
Region des ersten Urwirbels — entnommen sind.
Wenn eine Theorie richtig sein und Anerkennung finden
soll, so muss sie doch wohl den Tatsachen der Beobachtung
Rechnung tragen. Das tuen aber die Rablschen Anschauungen
durchaus nicht ın dem Masse, dass sie zur Annahme seiner
theoretischen Aufstellungen besonders ermutigen.
Zunächst einmal erscheint mir die Behauptung von Rabl
keineswegs zwingend, dass man bei Säuger- (Kaninchen-) Em-
bryonen aus einem Vergleich entsprechender Querschnittstellen
aus jüngeren und älteren Stadien, wie er sie hier untersucht
hat, unmittelbar erschliessen könne, dass aus der Wand des
Chordakanals nicht nur Chorda, sondern auch Darmepithel
entstehe.e. Wohl ist richtig, dass an den von Rabl abge-
bildeten Stellen der Querschnitt des eröffneten Chorda-
kanals sehr viel mehr Zellen enthält als der Querschnitt der
Chorda später an gleicher Stelle zählen lässt. Ebenso, was
wir ja lange wissen, dass auf einem Querschnitt etwa durch
die Mitte des eröffneten Chordakanals die Chordaanlage seit-
lich nur mit dem Entoderm (Paraderm von Rabl) und nicht
mit dem Mesoderm in unmittelbarem Zusammenhang steht.
Aber das beweist keineswegs, dass der scheinbare Zellen-
Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 133
überschuss nun zum Darmepithel werden müsse. Auf dem
Querschnitt sind ja freilich Chordaanlage und Mesoderm ganz
scharf voneinander getrennt, aber nach hinten, gegen den
Hensenschen Knoten hin, hängen diese Teile breit mit-
einander zusammen. Es handelt sich im lebenden Embryo
natürlich um verschiebbare Zellen; die können — falls wirk-
lich Zellen aus der vermeintlichen Chorda-Anlage des jüngeren
Stadiums in späteren herausgenommen werden — ganz gut
nach hinten gegen den Hensenschen Knoten hin verschoben
werden, ohne dass sie zum Aufbau des Darmepithels ver-
wendet werden.
Ich vermag selbstverständlich einstweilen nicht nachzu-
weisen, dass das geschieht. Das ist aber für mich auch gar
nicht notwendig, sondern notwendig ist zunächst nur, zu zeigen,
dass die Beweisführung von Rab| nicht zwingend ist.
Dazu kommt ein weiteres. Wir wissen gar nicht, ob dem
in der Tat mesodermal angelegten Kopffortsatz nicht auch
zeitweilig Entodermzellen beigefügt werden. Bei Säugern (und
auch bei Sauropsiden, wenigstens bei Reptilien) verbindet sich
die Spitze des Kopffortsatzes sehr ausgiebig und lange mit
dem Entoderm; auch hier ist der Nachweis eines Zellen-
austausches zwischen Entoderm und Mesoderm einstweilen
nicht zu erbringen. Die Möglichkeit, dass etwa in diesen
Stadien Zellen aus dem Entoderm in das Mesoderm . über-
wandern, die später zurückwandern, ist aber nicht zu be-
streiten. |
Man vergleiche doch nur Rabl’s eigene Figuren z. B.
Taf. 5 Fig. 7, 8, Taf. 6 Fig. 1, 2, die den übrigens seit langem
bekannten Zusammenhang der Spitze des Kopffortsatzes mit
dem Entoderm für junge. Stadien ganz ausgesprochen zeigen,
wobei noch darauf hinzuweisen ist, dass die einzelnen Säuger-
formen in dieser Beziehung nicht einmal übereinstimmen.
Wie er sich die ersten Anlagen für Nervensystem, Chorda,
134 H. STRAHL,
Paraderm, Mesoderm in dem Flächenbild bei der jungen Area
embryonalis der Säuger determiniert denkt, gibt Rabl S. 446
in einem Schema wieder.
Das was er da von der topographischen Anordnung der
Teile in der ganz jungen Säugetierfruchtblase zeichnet, soll ja
wohl nicht mehr sein, als eine subjektive Darstellung seiner
Auffassung über die spätere Verwendung des Materiales in dem
Embryonalknoten. Dass sie durch die Beobachtungen gestützt
ist, möchte ich bestreiten. Zunächst haben wir einstweilen
kaum eine Vorstellung davon, ob und wie weit sich beim
lebenden Embryo Zellgruppen oder einzelne Zellen gegen-
einander verschieben können; ob sie in grösseren Bezirken
festgelegt sind, oder ob und wie weit sie wandern.
Und selbst wenn man annehmen will, dass sie nicht
wesentlich wandern, stimmt die Felderung, die Rabl als
Schema für die topographische Gliederung der Anlagebezirke
eines placentalen Säugetieres gibt, kaum mit den Tatsachen
der Beobachtung, wenigstens nicht, wenn ich den Terminus
„Anlagebezirk“ im allgemein sprachlichen Sinne gebrauche.
Es ıst keinem Zweifel unterworfen, dass der Primitiv-
streifen, nachdem er voll angelegt ist, sich während seiner
weiteren Entwickelung verkürzt. Sein hinteres Ende ist durch
die Stelle der Cloakenmembran festgelegt; wir haben keinen
Anhalt dafür, dass sich diese etwa nach vorn verschöbe. Die
Verkürzung des Primitivstreifens, die ja auch Rabl selbst
abbildet, kann also nur vor sich gehen durch eine Umwand-
lung seines jeweils vorderen Endes. Hier muss, genau wie
ich es früher für Reptilienembryonen beschrieben habe, eine
Differenzierung des bis dahin für unser Auge undifferenzierten
Materiales des Primitivstreifens stattfinden. Es muss sich
Mesoderm vom Ectoderm trennen, muss also sich Primitiv-
rinne in Medullarrinne umwandeln und aus den Zellen, die
in der Medianlinie unter ihr liegen, muss sich hinterer Ab-
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 135
schnitt der Chorda herausdifferenzieren, ein Teil der Chorda,
der auch niemals in das Entoderm eingeschaltet wird. Wenn
das auch nicht unmittelbar zu beobachten wäre, so ist es
meines Erachtens ein ganz zwingender Schluss aus einer Ver-
gleichung der jungen Entwickelungsstadien mit den älteren.
Und dann ist, um nur eines herauszugreifen, die Anlage der
Chorda in der Flächenansicht nicht auf den Teil beschränkt,
den Rabl hierfür angibt, sondern reicht erheblich weiter
nach hinten. Und noch viel weniger ist der Nachweis zu
erbringen, dass aus dem mit En bezeichneten Abschnitt des
Flächenbildes sich auch nur Teile des Darmepithels anlegen.
Noch augenfälliger als beim Kaninchenembryo lassen sich
die Irrtümer Rab1’s über diese Wachstumsverhältnisse meines
Erachtens bei den entsprechenden Entwickelungsstadien der
Reptilien zeigen. Ich komme alsbald auf diese zurück.
Rabl beschränkt sich nämlich, wie oben erwähnt, in
seinen Erörterungen über den Gastrulationsvorgang nicht auf
die Säuger, wenn er auch wesentlich für diese über eigene
Untersuchungen berichtet; er zieht auch die anderen Wirbel-
tiere in den Bereich seiner Betrachtungen.
Insbesondere erfahren die Reptilien eine sehr eingehende
Erörterung. Da mir die fraglichen Stadien aus meinen. früheren
Arbeiten über Reptilienentwickelung nicht ganz unbekannt sind, .
so dari ich auch auf diesen Teil der Rablschen Arbeit wohl
etwas näher eingehen.
Rabl vertritt, wıe oben gesagt, ganz allgmein die An-
sicht, dass sich einzelne Abschnitte der späteren Entwicke-
lungsstadien topographisch in ganz frühen Zeiten nachweisen
lassen, dass die Keime frühzeitigst determiniert sind. Wie
das bei Reptilien der Kall sein soll, hat er — |. ce. Taf. II
Fig. 14, 15, 16 — in Kopien von Schnittbildern von Will
und Mitsukuri eingetragen; in erster Linie, wie er sich
vor und bei Beginn der Einbuchtung des Canalis neurentericus
136 H. STRAHL,
und dann bei dessen weiterem Wachstum in der Wand des
Kanals Chorda, Darmepithel, Mesoderm und Entoderm topo-
graphisch verteilt denkt. Desgleichen hat er ebenso wie für
die Säuger so auch hier in einem Schema der Flächenansicht
einer Area embryonalis eines Reptils (l. c.. S. 339) die An-
lagebezirkc von Chorda, Nervensystem, des Mesoderm und
seines Entoderm eingezeichnet. 2
Nun sind die hier niedergelegten Anschauungen von Rabl
nicht nur unbewiesen, sondern meines Erachtens für jeden,
der die von Rab] zitierten Stadien aus eigener Erfahrung
kennt, noch weniger möglich als seine Schemata für den
Gastrulationsvorgang bei Säugern. Zunächst irrt Rabl auch
für Reptilien, wenn er annimmt, dass die Anlage der Chorda
auf den vor dem Eingang in den Canalis neurentericus ge-
legenen Embryonalbezirk beschränkt sei. Auch aus den Zellen,
die hinter dieser Stelle sich befinden, Rabl zeichnet sie in
seiner Figur 16 in rotem Farbenton, wird späterhin sicher-
lich in der Medianlinie Chorda. Ja aus den oberen Abschnitten
des roten Bezirkes, den Rabl als Mesoderm bezeichnet, wird
nachher ein hinterer Abschnitt des Medullarrohres; ferner
Allantois mit ihrem entodermalen Epithel. Ich habe diesen
Abschnitt früher als Endwulst bezeichnet; er wird zum hinteren
Körperende —- Allantois. Durch das hintere Körperstück ver-
schiebt sich in späterer Entwickelungszeit der Canalis neur-
entericus nach hinten unter Differenzierung des Endwulstes
zu Rückenmark und Chorda in der Mitte und Urwirbeln an
der Seite; und der ganze letzte Abschnitt des Durchschnittes
wird später zur Allantois, indem sich in seiner Mitte Ento-
derm, zunächst ganz unabhängig vom übrigen Darmepithel,
ditferenziert.
Und wenn man Rabl den Beweis dafür zuschieben wollte,
dass aus dem blau gezeichneten Abschnitt des Bodens des
Canalis neurentericus das Epithel des Verdauungsrohres oder
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 8,
Fig. 2.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 137
auch nur ein Teil dieses entstehen soll, so dürfte ihm dieser
kaum gelingen.
Soweit ich aus meinen, ja jetzt lange Jahre zurück-
liegenden Beobachtungen entnehmen zu können glaube, wird
der untere Abschnitt des Kanals nach hinten zurückgezogen
und in den Endwulst aufgenommen. Der Irrtum Rabls rührt
wohl daher, dass ihm die Kenntnis dieser Stadien aus eigenen
Präparaten, wie er selbst sagt (l. c. S. 337), fehlt und dass
er nur mit fremden Bildern operiert. Und für diese kann
ich ihm den Vorwurf nicht ersparen, dass er aus deren Fülle
solche herausgreift, die ihm für seine Theorie zu sprechen
scheinen, andere, die das nicht tuen, fortlässt. Eine Theorie
sollte aber doch auf alle richtig beschriebenen Objekte und
nicht nur auf einen Teil dieser passen.
Ich weiss nicht, ob und wie weit Rabl aus der Literatur
auch die Querschnitte durch den Canalis neurentericus der
Reptilien aus frühen Entwickelungsstadien in den Kreis seiner
Betrachtungen gezogen hat. Das müsste ihm doch zeigen, wie
z. B. unmittelbar aus der Seitenwand desselben Mesoderm
entsteht, das später Urwirbel bildet, dass jedenfalls der Quer-
schnitt des Embryo an solchen Stellen ein vollkommen anderes
Bild bietet, als etwa ein Amphibienembryo gleichen Stadiums
an gleicher Stelle, d. h. dass eben neben anderen Stellen
auch die Umgebung des Canalis neurentericus wesentliche
Unterschiede zwischen Anamniern und Amnioten aufweist.
Und wer etwa die kleinen, in ihrer Darstellung ja ganz
schematisch gehaltenen, aber nach Präparaten gezeichneten
Schnittreihen aus meiner Arbeit „Über Wachstumsvorgänge
an Embryonen von Lacerta agilis“ (Abhandl. der Sencken-
bergs naturf. Ges. Frankfurt a. M. 1884) vergleicht, der kann
aus diesen wirklich nur ablesen, dass ein Darmepithel min-
destens in der vorderen Hälfte des Embryo nur aus dem
Paraderm Rabls, dem Entoderm der älteren Autoren, ent-
138 H. STRAHL,
stehen kann und dass für die Entstehung auch nur eines
Bruchteiles desselben aus irgend einem Teil der Wand des
Canalis neurentericus auch nicht die Spur eines Nachweises
zu erbringen ist.
Ich kann da aus meinen Bildern auch heute nur heraus-
lesen, dass in dem späteren Kopfteil des Embryo der in diesem
selegene Teil des Tubus digestorius (abgesehen natürlich vom
Mundraum) sein Epithel vom Entoderm (Paraderm Rabl’s)
bekommt, und dass auf diesem sich die Spitze der meso-
dermal entstandenen Chorda in zeitweilig sehr engem Zu-
sammenhang nach vorn schiebt.
Der Zusammenhang zwischen mesodermalem Kopfforisatz
und dem Entoderm ist hier, wie bei Säugern, so enge, dass
man die Lagen zeitweilig nicht voneinander scheiden kann;
es ist in dieser Zeit unmöglich, mit Bestimmtheit zu sagen,
was von den Zellen dem Mesoderm, was dem Entoderm an-
gehört.
Der Nachweis aber, dass dieser Teil des Kopffort-
satzes teil an dem Aufbau des Darmepithels nimmt, wie das
Rabl’s Theorie verlangen würde, ist weder aus diesen, noch
aus den anschliessenden von mir ebenfalls recht ausgiebig
untersuchten Stadien zu erbringen.
Und wenn das für die verhältnismässig klaren Entwicke-
lungsstadien der Reptilien gilt, so muss ich, wenn ich den
Ausführungen Rabl’s über die Deutung der im ganzen doch
viel schwieriger zu beurteilenden Säugetierembryonen in bezug
auf eme Verwendung der Wand des Chordakanals zum Aufbau
des Darmes folgen soll, besseres Beweismaterial verlangen,
als es Rabl bis dahin zu geben in der Lage ist.
Jedenfalls möchte ich noch einmal hervorheben, dass
weder das Schema, welches Rabl für die Flächenansicht des
Säugetieres gibt, noch das für die Reptilien richtig sein kann.
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 139
In dem Bezirk, den Rabl mit Ent. bezeichnet, ist bei beiden
Formen sicher noch Material für die Anlage der Chorda und
des Medullarrohres — auch von Urwirbeln — enthalten, das
mit der Differenzierung des Primitivstreifens entwickelt wird.
Bei dieser mehr als bedenklichen Unterlage für eine Dis-
kussion über das Gastrulationsproblem bei Amnioten halte ich
eine solche heute kaum für fruchtbringend, jedenfalls nicht,
solange eine Einigung über wenigstens die grundlegenden
Fragen nicht erzielt ist.
Erst wenn diese vorhanden wäre, liesse sich, meiner per-
sönlichen Auffassung nach, die ja natürlich auch eine sub-
jektive ist, vernünftigerweise darüber diskutieren, nicht, was
etwa bei Reptilien und Säugern Gastrulation ist — wie wir
das heute leider so vielfach in der einschlägigen Literatur aus-
gedrückt finden —, sondern was wir bei den Embryonen dieser
Wirbeltierformen als Gastrulation bezeichnen sollen.
Darüber, dass eine volle Homologie im Gastrulations-
vorgang in der Wirbeltierreihe nicht vorhanden ist, kann, wie
oben gesagt, doch wohl kaum ein Zweifel obwalten; und wenn
das nicht der Fall, so käme wieder die Frage, wann man
noch von einer Gastrulation reden soll und wann nicht, was
natürlich dann die reine Terminologiefrage wäre, für deren
Entscheidung irgend ein objektiver Anhalt nicht vorhanden ist.
Ich verfehle weiter nicht, darauf hinzuweisen, dass offen-
bar die Übertragung der Theorie Rabl’s auf die Entwickelungs-
erscheinungen, wie sie im Vogelei ablaufen, noch weit mehr
Schwierigkeiten macht, als ihre misslungene Durchführung für
Säuger und Reptilien.
Rabl erledigt dementsprechend diese Frage auch mit
wenigen Worten. Ich möchte mich dem insoweit anschliessen,
als auch ich mich darauf beschränke, festzustellen, dass einst-
weilen nicht davon die Rede sein kann, dass bei Vogel-
embryonen als Allgemeinerscheinung in der Entwickelung sich
140 H. STRAHL,
die Anlage des Darmepithels durch Einbuchtung von der Ecto-
dermseite her nachweisen liesse.
Übrigens möchte ich doch nicht verfehlen, auch darauf
hinzuweisen, dass selbst bei Anamniern die Vorgänge, die
zur Bildung der Keimblätter sowie diejenigen, die zur Anlage
des Blastoporus führen, nicht nach einem einheitlichen Schema
verlaufen. Das lehren für Amphibien z. B. die schönen Unter-
suchungen von Brauer über Hypogeophis (Beiträge zur Kennt-
nis der Entwickelungsgeschichte und der Anatomie der Gym-
nophionen. I. Spengel’s Zool. Jahrb. Bd. X. 1897), bei dem
die Bildung !der Keimblätter in einer Form sich abspielt, die
sicher eigenartig und anders ist, als bei vielen sonstigen
Amphibien, die gar nicht auf Rabl’s Vorstellungen passt.
Auch Alytes zeigt nach den Untersuchungen von Gasser
und Seemann (vgl. Seemann, Über die Entwickelung des
Blastoporus bei Alytes obstetricans. Anat. Hefte. Heft 100.
1907) gegenüber anderen Amphibien recht wesentliche Eigen-
arten in der ersten Entwickelung.
Am Schlusse seiner Ausführungen bespricht Rabl auch
die von mir und Beneke gegebene Bearbeitung eines jungen
menschlichen Embryo. Ich habe damals im Anschluss an die
Schilderung der Schnittpräparate und Rekonstruktionen ver-
sucht, in einer Reihe von schematischen Figuren niederzu-
legen, wie man sich die Stadien, die wir untersucht haben,
entstanden denken könne. Rabl findet diese Schemata wenig
glücklich und stellt in Aussicht, dass er bessere liefern könne.
Ich würde mich ım Interesse der Sache freuen, wenn das ge-
schehen sollte; einstweilen habe ich aber keine Veranlassung,
auf die Einwürfe von Rabl hin meine Schemata zu ändern.
Sie geben mir auch jetzt noch einen Weg an, wie man sich
die bekannten Entwickelungsformen des menschlichen Embryo
aus einstweilen unbekannten Stadien entstanden denken kann.
Etwas Weiteres beanspruche ich für die Figuren nicht; wenn
Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 141
wir, was ich für bald erhoffe, auch die noch fehlenden Stadien
der menschlichen Entwickelung aus der Beobachtung kennen
werden und sie zeigen sollten, dass meine Vermutung unrichtig
war, so werde ich der erste sein, das anzuerkennen. Aber die
Einwürfe Rabl’s veranlassen mich nicht zu einer Korrektur;
dazu sind sie mir nicht gut genug begründet. Wenn Rab
z. B. 1. ce. S. 458 sagt „alle bisher bekannten Fälle von
jungen menschlichen Embryonen, vor allem auch der Beneke-
Strahlsche, beweisen mit absoluter Sicherheit, dass auch
beim Menschen, geradeso wie bei allen Placentaliern, das
ausserembryonale Mesoderm früher entsteht, als das embryo-
nale‘, so ist diese Fassung ganz unzweifelhaft falsch. Sie
lassen einen solchen Vorgang vermuten, aber beweisen tuen
sie gar nichts, dazu sind sie viel zu weit vorgeschritten. Und
ich selbst habe das, was ich dort über diese Frage geschrieben
habe, nur als die einstweilen einfachste Erklärung der Be-
obachtungen, nicht aber als Beweis betrachtet wissen wollen.
Das hätte Rabl, wenn er, wie er schreibt, durch freund-
liches Entgegenkommen von Herrn Kollegen Beneke Ge-
legenheit gehabt hat, die fraglichen Präparate durchzusehen,
wohl selbst feststellen können.
Ich fürchte übrigens, dass, wie für mich, so auch für viele
der Fachgenossen eine Verständigung über das, was man als
„bewiesen“ ansehen soll, mit Rabl nicht so ganz leicht sein
wird. Ich persönlich verlange wenigstens von einem „Beweise“
in wissenschaftlichem Sinne, wie man aus obiger Darstellung
entnehmen kann, etwas anderes und mehr als Rabl. So
sagt er z. B. I. c. S. 256 und hebt das im Druck durch
Sperrung besonders hervor: „Gerade die Tatsache, dass der
Kopffortsatz mit dem „Entoderm‘“ verschmilzt, und dass sich,
wenn ein solches vorhanden ist, sein Lumen mit der Höhle
der Blastocyste vereinigt, beweist mit absoluter Sicherheit,
dass er in irgend einer Beziehung zur Bildung des Darmes
142 H. STRAHL,
steht.“ Die „irgend eine Beziehung zur Bildung des Darmes“
ist so allgemein gehalten, dass sie uns zur Erkenntnis,
die wir erstreben, nicht viel verhilft. Im übrigen beweist
der Vorgang, soweit wir ihn beobachten, natürlich nur, dass
der Kopffortsatz in Beziehung zur Bildung des Darmes stehen
kann (vel. oben!); ob er es tut und namentlich in welcher
Form, das wissen wir heute nicht, es muss erst nachgewiesen
werden.
Auch mit seiner Anschauung, dass Vorgänge, die uns nach
„menschlichem Ermessen“ widersinnig erscheinen (1. ©. S. 263),
in der Natur nicht abliefen, dürfte Rabl wohl kaum recht
haben. Die Natur fragt bei ihrem Geschehen wirklich nicht
viel danach, ob etwas unserem menschlichen Verständnis nach
Sinn hat oder nicht, sondern wirkt nach anderen Grund-
sätzen.
Ich könnte noch mancherlei aus der Rabl’schen Arbeit
einer Erörterung unterziehen, möchte meine Auseinander-
setzungen aber doch nicht gar zu sehr ausdehnen. Sind sie
mir doch unter der Feder schon länger geworden, als sie
eigentlich beabsichtigt waren. Ich will es mir deshalb auch
versagen, auf die übrige neuere Literatur über das Gastru-
lationsproblem einzugehen, obwohl manche hierzu direkt auf-
fordern; wie z. B. die kleine aber inhaltreiche Arbeit von
Triepel (Chorda dorsalis und Keimblätter. Anat. Hefte Bd. 50.
1914), der in dem Auftreten des Canalis neurentericus bei den
verschiedenen Gruppen der Wirbeltiere nur eine Convergenz-
erscheinung sieht. Ich muss aber dann zum Schluss sagen,
dass mir keiner der neueren Autoren das Problem soweit ge-
löst zu haben scheint, dass wir gezwungen wären, ihm zu
folgen.
Rabl hält mir, wo er meine Arbeiten über Reptilien-
Entwiekelung mit der Bemerkung erledigt, dass sie in ihren
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 143
theoretischen Anschauungen (l. c. S. 326) wenig glücklich ge-
wesen seien, vor, ich sei in den Anschauungen meines Lehrers
Lieberkühn befangen gewesen. Rabl kann das kaum
wissen, denn, soweit ich mich erinnere, hat Lieberkühn
zu diesen theoretischen Fragen öffentlich eigentlich nie Stel-
lung genommen. Jedenfalls kann ich von mir aber sagen,
dass der Standpunkt, auf dem ich damals vor 30 Jahren
stand, mir heute noch sicherer als je erscheint und sicherer
als der der überwiegenden Mehrzahl der neueren Autoren und
der von Rabl. Insbesondere, wenn ich sehe, was bei den
reichlichen Diskussionen der letzten Jahre als Endergebnis
übrig geblieben ist. Die Marburger Embryologen hatten da-
mals, als wir über diese Fragen arbeiteten, wohl einhellig
die Ansicht, dass für eine gedeihliche Erörterung des Gastru-
lationsproblems denn doch eine andere Grundlage notwendig
sei, als wir sie seinerseit hatten und das gilt für mich heute
noch. Sie ist wohl seit jener Zeit sehr viel besser und um-
fangreicher geworden, ist aber noch keineswegs ausreichend,
wie ja gerade die einander immer noch so schroff gegenüber-
stehenden Ausführungen aus der letzten Zeit bezeugen.
Ich habe meinen Standpunkt zur Gastrulationsfrage vor
langem in einer Zusammenstellung im zoologischen An-
zeiger (Über frühe Entwickelungsstadien von Lacerta agılıs.
Zool. Anz. 1883. Nr. 142) und in den Abhandlungen der
Senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft (Über Wachs-
tumsvorgänge an Embryonen von Lacerta agilis. Frankfurt a. M.
1884, S. 54), sowie später in mancherlei Diskussionsbemer-
kungen auf Versammlungen niedergelegt.
Wenn wir auch seit damals im einzelnen viel zugelernt
haben und mancherlei überholt ist, so bin ich, was den all-
gemeinen Standpunkt anlangt, auch heute noch der Meinung,
dass im Entwickelungsgang der Wirbeltiergruppen neben dem
im grossen natürlich gleichmässigen Wege der Entwickelung
144 H. STRAHL,
m einzelnen nicht unwesentliche Unterschiede zu verzeichnen
sind.
Es ermahnt uns das, auch mit der Terminologie vorsichtig
zu sein. Ich glaube, dass Brauer heute noch recht hat,
wenn er (l. e. S. 461) darauf aufmerksam macht, dass man
doch nicht, um eine Theorie durchführen zu können, die
Schichten beliebig nennen dürfe, ohne auf ihren wirklichen
Wert für den Embryo Rücksicht zu nehmen. Muss auch für
unsere Frage mit Bedauern feststellen, dass man auch heute,
wie damals mit Brauer, sagen kann, dass „die Beobach-
tungen derart noch voneinander abweichen für fast jede Gruppe,
dass man fast eine jede mögliche Ansicht durch Beobachtungen
anderer stützen, aber auch wiederlegen kann“.
Ich selbst habe mit Rabl über die gleichen Objekte,
wie heute, schon vor mehr als 25 Jahren auf der ersten
Anatomenversammlung in Würzburg (1888) diskutiert; Rabl
hat damals zugegeben, dass er sich meine Befunde hinsicht-
lich der Mesodermentwickelung nicht ganz in seinem Sinne
zurecht zu legen wusste. Ich möchte fast glauben, dass es
inzwischen nicht viel anders geworden ist. Und die Theorie
soll sich doch nach den Beobachtungen richten, nicht um-
gekehrt.
Und da ich mich einmal in diese Diskussion eingelassen
habe, so möchte ich doch auch gegen eine andere, in unserer
modernen Literatur weit verbreitete Art der Darstellung Ver-
wahrung einlegen, die ich auch bei Rabl finde. Er schreibt
— 1. e. S. 339 — „Stets ist zu bedenken, dass bei sämtlichen
Amnioten — vor allem aber wegen der Ausbildung einer
Placenta bei den Säugetieren — eine ungeheure Menge von
ausserembryonalem 'Zellmaterial geliefert werden muss und
dass dieses Material zum Teil schon in den frühesten Stadien
der Entwickelung benötigt wird.“ —
Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 145
Rabl stellt sich, wenn ich diesen Satz recht verstehe,
dabei auf den Standpunkt solcher Autoren, die annehmen,
dass sich in der organischen Welt Teile bilden könnten, weil
sie von seiten der Organismen zu deren Erhaltung gebraucht
würden. Das ist meines Erachtens eine anthropomorphe Auf-
fassung schlimmster Art, die durch nichts gerechtfertigt wird.
Wenn wir ehrlich sein wollen, dann müssen wir uns in dem
von Rabl angeregten Fall — und gleicherweise in vielen
ähnlichen — doch sagen, dass wir über den Grund der Ent-
stehung von Besonderheiten der Form auch nicht das ge-
ringste wissen; wir können nur die Tatsache feststellen; warum
in einem Fall etwa ein peripheres Mesoderm stärker, ım
anderen minder stark entwickelt ist, darüber ist uns jedes
Urteil entzogen. Wie die Natur in ihren Wegen bei der Er-
haltung der Art durch Schaffung neuer Individuen eine wirk-
lich unendliche Variationsbreite hat, das sieht jeder, der sich
einmal mit der Bearbeitung der vergleichenden Anatomie der
Placenta beschäftigt hat. Da gibt es fast so viel grob ver-
schiedene Wege wie untersuchte Placenten, und alle führen
zum gleichen physiologischen Endziel. Dass sie dabei ihre
fest vorgeschriebenen Strassen gehen, ist klar; aber warum
der eine diese, der andere jene; und der dritte wieder eine
andere, das allgemein festzustellen sind wir heute wirklich
nicht in der Lage, am wenigsten in dem von Rabl ange-
gebenen Falle.
Rabl sagt gelegentlich (l. ec. S. 457), dass er bedauert,
dass meine Ausführungen über den möglichen Entwickelungs-
gang des menschlichen Embryo in Lehrbücher übergegangen
seien. Ich hätte vielleicht die ganze vorstehende Diskussion
ungeschrieben gelassen, wenn ich meinerseits nicht fürchtete,
dass ein gleiches mit Rabl’s Gastrulations-Schematen ge-
schehen möchte. Für Autoren, die sich mit jenen Fragen
nicht selbst in eigener wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). 10
146 II. STRAHL, Über einen jungen menschlichen Embryo etc.
haben, könnten sie wohl durch ihre Einfachheit bestechen;
wer die Sachen genauer kennt, wird die Bilder allerdings
kaum als für ein Lehrbuch ausreichend begründet ansehen.
Meine Schemata von der ersten Entwickelung des Menschen
können einstweilen noch ganz wohl richtig sein, die von
Rabl über den Gastrulationsvorgang bei Reptilien und Säugern
sind aber sicher falsch.
Figuren-Erklärung.
Schnittbilder aus einer Schnittreihe durch einen jungen menschlichen
Embryo; nahezu, aber nicht vollkommene Sagittalschnitte
Die Figur 1 ist in der Photographie nachgezeichnet, ist eine Zusammen-
stellung aus einigen nebeneinander gelegenen Schnitten; an der Abbildung von
Schnitt 2 ist nichts gegenüber der photographischen Aufnahme geändert.
Fig. 1. Schnitt durch den Chordakanal mit dessen dorsalem Eingang
und der ersten ventralen Öffnung.
Fig. 2. Schnitt mit dem in den Haftstiel eingehenden Allantoisgang.
Der Embryonalkörper ist in den Schnitten etwa 0,7 mm lang.
10*
AUS DER ENTWICKELUNGSGESCHICHTLICHEN ABTEILUNG DES ANATOMISCHEN
INnSTITUTES IN BRESLAU.
EIN MENSCHLICHER EMBRYO MIT GANALIS
NEURENTERICUS. GHORDULATION.
VON
H. TRIEPEL,
BRESLAU.
Mit 1 Textfigur und 11 Figuren auf den Tafeln 9/1.
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Der menschliche Embryo Dy, den ich im folgenden be-
schreiben will, findet sich in der Sammlung der unter meiner
Leitung stehenden entwickelungsgeschichtlichen Abteilung des
Breslauer anatomischen Institutes, in Form einer Serie von
Querschnitten, die von Prof. A. Schaper, meinem Vorgänger,
hergestellt worden ist. Das Objekt ist ausgezeichnet erhalten,
und, da es sich um einen jüngeren Embryo mit verschiedenen
bemerkenswerten Einzelheiten handelt, sicher der Veröffent-
lichung wert. Warum sie von Schaper unterlassen wurde,
ist mir nicht bekannt.
Das Präparat stammt von einem Abortus und wurde der
entwickelungsgeschichtlichen Abteilung vor einer Reihe von
Jahren von Herrn Geh. Sanitätsrat Dr. Dyhrenfurth über-
wiesen, wofür ich diesem auch jetzt noch den verbindlichsten
Dank auszusprechen mir erlaube.
Einige Befunde, die man an dem Embryo erheben kann,
lassen den Gedanken aufkommen, dass es sich nicht um ein
vollkommen normales Objekt handelt, so vor allem eine am
Embryonalschild auffallende Abbiegung des vorderen Kopfteiles
nach der ventralen Seite sowie die mächtige Breitenentwicke-
lung des abgebogenen Teiles; auch ein geringer Unterschied
in der Differenzierung der rechten und linken Ursegmentplatte
könnte zu denken geben. Wenn wirklich Abweichungen von
der Norm vorliegen, so scheinen sie mir doch nicht so be-
trächtlich zu sein, dass ihretwegen der trefflich erhaltene
152 H. TRIEPEL,
Embryo nicht verwendet werden dürfte. Jedenfalls werde ich
mich bei der Beschreibung der Möglichkeit abnormen Verhaltens
zu erinnern haben.
Das Alter des Embryo Dy war bisher in dem Samm-
lungskatalog zu ca. 2!/; Wochen angegeben. Bemerkungen
über die Menstruationsverhältnisse der Mutter sind nicht ver-
zeichnet, über sie konnte ich auch nachträglich nichts mehr
in Erfahrung bringen. Das angegebene Alter ist, wie mir
scheint, etwas zu niedrig gemessen. Mein Objekt steht dem
Embryo Gle von Graf Spee (17) sehr nahe; möglicher-
weise ist er ein wenig älter als dieser, der Unterschied kann
jedoch nicht bedeutend sein, er beträgt vielleicht einen halben
Tag. Auch dem jüngsten der drei von Wilson (23) be-
schriebenen Embryonen ähnelt Dy in mancher Beziehung, er
ist aber zweifellos etwas jünger. Bei meinen Untersuchungen
über das Alter menschlicher Embryonen (20) habe ich den
Embryo Gle auf 20 Tage geschätzt, und die gleiche Zahl
möchte ich auch für das Alter von Dy angeben.
Die Vorbehandlung des Präparates erfolgte mit Alko-
hol, sodann wurde es mit Alauncochenille durchgefärbt und
in Paraffin eingebettet. Die vorliegende Schnittserie, die aus
184 Schnitten von 10 u Dicke besteht, ist so angefertigt,
dass die Schnittrichtung zum Rückenteil des Embryonalschildes
senkrecht steht. Die Masse, die ich im folgenden angebe,
beziehen sich auf die Schnittserie, sie müssten nach Erfah-
rungen, die ich früher an embryonalem Material gemacht habe,
um ca. 1/, vergrössert werden, um die Verhältnisse des frischen
Objektes wiederzugeben.
Das Präparat besteht aus einem kleinen, rechteckigen,
aus dem zottentragenden Chorion herausgeschnittenen Stück
sowie einem Embryonalschild, der mit dem Chorion
durch einen Haftstiel in Verbindung steht und die Scheide
zwischen Amnion und Nabelblase bildet. Von dem Ob-
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 9.
H. Limpricht gez.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Kgl. Univ.-Druck. H. Stürtz A.G., Würzbg.
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 153
jekt habe ich bei 160 facher Vergrösserung ein Plattenmodell
angefertigt, das den Schild, ein Stück von Amnion und Nabel-
blase, sowie den Haftstiel in sich begreift.
Um die folgende Darstellung übersichtlicher zu gestalten,
habe ich sie in verschiedene Abschnitte geteilt; ich spreche
nacheinander von dem Embryonalschild, dem Canalis neur-
entericus und Umgebung, der Chordulation, den Keimblättern
des Schildes, den embryonalen Hüllen und Anhängen, dem
Inhalt des Chorions. Dabei versteht es sich von selbst, dass
die Einteilung künstlich ist, und in den einzelnen Abschnitten
nicht scharf voneinander getrennte Gebiete behandelt werden.
Der Embryonalschild.
Der Schild ist nicht vollkommen eben ausgebreitet, viel-
mehr ist der Kopfabschnitt oder doch ein grosses Stück des-
selben nach der ventralen Seite aus der Ebene herausgebogen.
Diese Biegung zeigt sich besonders deutlich an dem Ecto-
derm, wie auch verschiedene Modellierungen an dem abge-
bogenen Gehirnteil des äusseren Keimblattes gut in die Er-
scheinung treten. Die anderen Keimblätter werden hier ın
ihrem Verlauf durch Vorwölbungen und Einziehungen des Ecto-
derms bestimmt. Der abgebogene Teil umfasst etwa die Hälfte
der Länge des ganzen Schildes. Auf diese Verhältnisse werde
ich später zurückzukommen haben, eine Vorstellung von ihnen
gibt die Textfigur (auf S. 154).
Auch in der Querrichtung ist der Schild gebogen; hier
sind zwei verschiedene Biegungen zu unterscheiden, eine starke,
im Kopfteil, die ihre Konkavität nach der dorsalen Seite kehrt,
und den grössten Teil des Gehirnhohlraums umfasst, und
eine zweite, hinter dem Kopfteil liegende, die nach der ven-
tralen Seite konkav ist und nach hinten sich allmählich ver-
flacht.
154 H. TRIEPEL,
Die Länge des Schildes beträgt 1,6 mm. Zu dieser
Zahl gelangt man, wenn man sich die erwähnte ventrale Ab-
biegung des Kopfteiles ausgeglichen denkt und zwei Längen-
masse zusammenrechnet, nämlich die Länge des abgebogenen
Textfigur.
Medianschnitt des Embryo Dy, nach einer graphischen Rekonstruktion bei
100facher Vergrösserung gezeichnet und dann auf die Hälfte verkleinert. Der
Allantoisgang, der nicht in dem Medianschnitt liegt, ist in diesen übertragen
worden. Die kleinen Teilstriche der horizontalen Linie geben die Lage der
auf Tafel 9/11 abgebildeten Schnitte an.
Kopfteiles, gemessen an dem Modell und entsprechend reduziert
— 0,8 mm, und die Länge des hinter dem abgebogenen Teil
liegenden Schildabschnittes, 84 Schnitte — 0,54 mm.
Die Breite habe ich festgestellt, indem ich die erwähnten
Querbiegungen des Schildes vernachlässigte und nur die Sehnen
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 155
der Bogen mass. Dabei ergab sich als grösste Breite die des
abgebogenen Kopfteiles im auffallenden Werte von 1,04 mm.
Unmittelbar hinter dem abgebogenen Teil ist sie — 0,80 mm,
nach hinten hin nimmt sie beträchtlich ab, in der Gegend des
Canalis neurentericus beträgt sie 0,24 mm, kurz davor nur
0,21 mm.
Der Canalis neurentericus und Umgebung.
Der neurenterische Kanal (Fig. 1 auf Taf. 9)
durchsetzt den Schild nicht sehr weit von dessen hinterem
Ende, so dass rostral von ihm ungefähr ?/,, caudal von ıhm
1/, der Schildlänge liegen. Er ist nur in einem einzigen Schnitte
getroffen, dem 120. der Serie. Seine Richtung ist senkrecht
zur Oberfläche des Schildes. Er beginnt an der dorsalen Seite
des Schildes mit einer kleinen, im Ectoderm liegenden Ver-
tiefung und endet an der ventralen Seite mit einer ähnlichen
trichterförmigen Erweiterung. Unmittelbar unterhalb jener und
oberhalb dieser kommen die Wände des Kanals sich. ausser-
ordentlich nahe, so dass nur ein minimaler Spalt zwischen
ihnen offen bleibt; in seiner Mitte zeigt der Kanal eine Er-
weiterung von 0,024 mm. Die Länge des Kanals, eingerechnet
die trichterförmigen Verlängerungen auf beiden Seiten, beträgt
im Mittel 0,08 mm; die rechte Wand!) ist etwas kürzer, die
linke etwas länger. Die erwähnte, im Ectoderm liegende Ver-
tiefung am dorsalen Anfang des Kanals gehört zur Primitiv-
srube, die sich noch über zwei Schnitte nach hinten er-
streckt, also im ganzen einen sagittalen Durchmesser von 30 u
besitzt.
Die Wand des Kanals besteht aus grossen, in ein-
facher Schicht liegenden, kubischen Zellen mit grossen runden
Kernen. Die Zellen stehen an dem dorsalen Ende des Kanals
I) Rechts und links beziehen sich hier auf die Seiten der Abbildung.
156 H. TRIEPEL,
mit dem Eetoderm in Zusammenhang, das neben dem Kanal
ebenfalls einschichtig ist und auch kubische, nur etwas höhere
Elemente aufweist. Rechts neben dem Kanal verlaufen parallel
der Kanalwand noch zwei von dieser und untereinander ge-
schiedene epitheliale Zellreihen vom Ectoderm zur ventralen
Seite.
An dem ventralen Kanalende greifen die grossen ecto-
dermalen Zellen auf die Unterseite der Embryonalanlage über.
Zunächst findet sich in dem den Kanal enthaltenden Schnitt
rechts von der beschriebenen trichterförmigen Mündung eine
grosse Zelle, links liegen deren zwei. Nach vorn vom neur-
enterischen Kanal breiten sich die grossen Zellen an der Unter-
seite des Schildes sehr deutlich aus, ihre Gesamtheit ist hier
als Chordaplatte zu bezeichnen (Fig. 2 und 3). Diese
Platte erstreckt sich über 30 Schnitte, ist also 0,30 mm lang.
Ihre Breite variiert, hinten ist sie schmal (7”—9 Zellen breit),
sodann wird sie breiter (bis 13 Zellen), um zuletzt wieder
an Breite zu verlieren. Sie stösst vorn und an den Seiten
an niedrige Entodermzellen ant). Auch in ihr selbst finden
sich in wenigen Schnitten einige niedrigere Zellen, deren Be-
deutung fraglich erscheint. Die Chordaplatte beginnt schon
nahe an ihrem hinteren Ende sich von den Seiten her zu-
sammenzubiegen, wobei die Konkavität der Biegung nach der
ventralen Seite gerichtet ist, nach vorn zu wird der Bogen
etwas flacher. Es ist wohl anzunehmen, dass die Einbiegung
der Chordaplatte von der (vorhin erwähnten) beginnenden Zu-
sammenbiegung des gesamten Schildes abhängig ist, vielleicht
auch von der Ausdehnung der Ursegmentplatten und der An-
lage der Gefässe (s. u.). Jedenfalls kann sie nicht als Ein-
leitung zu einer Abfaltung der Chorda angesehen werden.
!) Der Unterschied zwischen den Zellen der Chordaplatte und des Ento-
derms fällt an den gefärbten Präparaten mehr in die Augen als an den
schwarzen Tafelfiguren.
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 157
Denn dann müsste die Chorda das Stadium einer Röhre durch-
laufen, die stellenweise einen Umfang von 13 Zellen hat.
Das ist für einen Embryo von 20 Tagen nicht wahrscheinlich,
wenn man die Form und Grösse der Chorda menschlicher
Embryonen berücksichtigt (vgl. Triepel, 19). Aus dieser
Überlegung würde auch zu folgern sein, dass nicht alle grossen
Zellen der Chordaplatte zur Bildung der Chorda verwandt
werden, sondern ein Teil von ihnen zum Entoderm
hinzugezogen wird. Das ist offenbar für die ‚„Gastru-
lationstheorie‘‘ bedeutsam (s. u.).
Bemerkenswert erscheint es mir, dass an mehreren
Schnitten nicht weit vor dem neurenterischen Kanal, besonders
schön an den Schnitten 113 u. 116, eine kleine, enge, dorsalwärts
gerichtete Ausstülpung der Chordaplatte zu sehen ist (Fig. 2).
Sie wird in 113 (Fig. 2) von 5, in 116 von 3 Zellen gebildet.
Möglicherweise könnte sie mit einer beginnenden Abschnü-
rung der Chorda in Zusammenhang gebracht werden,
wenn es auch stört, dass sie nicht in der Mitte der Chorda-
platte, unterhalb der Medullarfurche liegt, sondern um die
Breite von etwa 2 Zellen nach der Seite verschoben ist.
Auch nach hinten vom Canalis neurentericus liegen an
der Unterseite des Schildes ebensolche grosse Zellen wie sie
die Chordaplatte zeigt (Fig. 4). Sie finden sich hier in
10 Schnitten, also in einer Längsausdehnung von 0,1 mm,
in einer Breite von 11—12 Zellen, und stossen seitlich an
niedrigere Zellen an. Man erhält durchaus den Eindruck, dass
diese Zellenausbreitung eine Verlängerung der Chorda-
platte nach hinten darstellt. Dieser Eindruck wird da-
durch verstärkt, dass auch hier eine Einbiegung besteht, ähn-
lich derjenigen, die ich an dem vorderen Teil der Chordaplatte
beschrieben habe. Der Bogen flacht. sich allerdings sehr bald
nach hinten hin ab. Aus dem Befund geht hervor, dass das
Material, aus dem die Chorda gebildet wird, so-
158 H. TRIEPEL,
wohl vor wie hinter der ventralen Mündung des
Canalis neurentericus gelegen ıst. Hier wie dort
finden sich übrigens Kernteilungsfiguren, die auf das lebhafte
Wachstum der Organanlage hinweisen.
Der Primitivstreifen (Fig. 4) ist verhältnismässig
kurz. nämlich nur 0,11 mm lang. Er erstreckt sich vom Canalis
neurentericus bis zu der (sehr kleinen) Cloakenmembran. Im
Gegensatz zu den Verhältnissen, die der Embryo Gle von
Graf Spee zeigt, ist beim Embryo Dy der Primitivstreifen
nicht nach der ventralen Seite abgebogen, er liegt vielmehr
fast in der Verlängerung der Mittellinie des Rückenteiles, ist
nur ein wenig nach der rechten Seite gerichtet. Man sollte
vermuten, dass das gesamte Material des Primitivstreifens mit
dem ectodermalen Überzug des Schildes in breitem Zusammen-
hang steht. Das ist aber nicht überall der Fall. Vielmehr
ist das Zellenlager, das den Streifen bildet, in den meisten
Schnitten deutlich durch horizontal liegende Spalten in drei
Schichten zerlegt (Fig. 4). Die oberste dieser Schichten ent-
spricht dem Ectoderm, sie ist zwei Zellen hoch. Die gleiche
Höhe hat die mittlere Schicht, während die unterste aus einer
einfachen Lage von Zellen gebildet wird, sie ist identisch mit
dem vorhin beschriebenen hinteren Teile der Chordaplatte;
nur in dem letzten Schnitt, der durch den Primitivstreifen
hindurchgeht, scheint die unterste Schicht aus Entodermzellen
zu bestehen. Die Spalten gehen nicht durch den ganzen Primitiv-
streifen hindurch, sondern sind an einzelnen Stellen unter-
brochen, so dass hier die mittlere Schicht entweder mit dem
Ectoderm oder mit der Chordaplatte in Verbindung steht. Den
seitlichen Mesodermplatten gibt im wesentlichen die mittlere
Schicht den Ursprung, nur an einzelnen Stellen kann man
sehen, dass das Mesoderm an das Ectoderm oder auch an
die Chordaplatte Anschluss gewinnt.
Die Primitivrinne (Fig. 4) ist seicht und zieht sich
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 159
nicht über den ganzen Primitivstreifen hin. Sie ıst von der
Primitivgrube durch zwei Schnitte getrennt und findet sich
sodann an 5 weiteren Schnitten, ist also 0,05 mm lang. Wie
das Modell zeigt, ist sie nicht ganz gerade ausgerichtet, sondern
weicht hinten nach rechts ab.
Nach vorn von dem Canalis neurenterieus liegt in der
Mitte des Schildes ein Zellstrang, der als Kopffortsatz
des Primitivstreifens zu bezeichnen ist. Er besteht aus
denselben Teilen wie der Primitivstreifen selbst, einem dorsalen
oder ectodermalen Teil, einem mittleren Teil und der Chorda-
platte (Fig. 2 und 3), unterscheidet sich aber von jenem da-
durch, dass die einzelnen Teile meist nicht deutlich von-
einander getrennt sind, sondern fest zusammenhängen. Nur
selten sieht man einmal zwischen ihnen eine scharfe Grenz-
linie oder eine kurze Spalte. Der Konffortsatz erstreckt sich
über 30 Schnitte, ist also 0,30 mm lang, d. h. ebenso lang
wie der (vordere) Hauptteil der Chordaplatte. Dabei ist nur
zu bemerken, dass in der Nähe seines vorderen Endes in
drei Schnitten der mittlere Teil fehlt.
6 Zellen. Sein
ectodermaler Teil hat dort, wo man dessen Grenzen feststellen
3 Zellen. Er ist durch die Medullar-
furche eingeschnitten, die zwei Schnitte vor der Primitivgrube
beginnt, zunächst sehr seicht ist, sich aber bald vertieft und
6)
Die Höhe des Kopffortsatzes beträgt 4
kann, eine Höhe von 2
in der Gegend des vorderen Kopffortsatzendes zu einer engen
Spalte wird.
Wichtig erscheint das Verhalten des mittleren
Keimblattes zum Kopffortsatze. Dieser, und zwar
vorwiegend sein mittlerer Teil steht auf den meisten Schnitten
mit den seitlichen Mesohlastplatten in Verbindung, gewöhn-
lich durch einen breiten, aber auch gelegentlich durch einen
schmalen Zellstreifen. Es kommt auch vor, dass das Meso-
derm von dem ectodermalen Teil des Kopffortsatzes oder selbst
160 H. TRIEPEL,
von der Chordaplatte abgeht. Vor dem Kopffortsatz, unmittel-
bar davor und auch in etwas grösserer Entfernung, fällt an
mehreren Stellen die innige Verbindung des Mesoderms mit
der Medullarplatte auf (Fig. 8 und 9), die hier schon die
Medullarfalten zum Zweck der Bildung des Medullarrohres
angelegt hat. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren,
dass mehr als eine Aneinanderlagerung der beiden Keimblätter
vorliegt, dass auch hier eine Mesodermproduktion
von seiten des Ectoderms erfolgt. Es muss zugegeben
werden, dass Täuschungen leicht vorkommen können, aber
man trifft Bilder, in denen an einem Auswachsen mesodermaler
Elemente aus der Medullarplatte nicht gezweifelt werden kann
(8.2. B. Eig.’9).
An benachbarten Stellen kommt die gekrümmte Medullar-
platte dem Entoderm sehr nahe, und hier sieht man ab und
‚ dass sich zwischen diesen beiden Teilen ein Streifen von
Mesodermzellen hindurchschiebt, um die beiden seitlichen Meso-
dermplatten miteinander zu verbinden (Fig. 7). Öfter dringen
mesodermale Elemente nur in den Winkel zwischen Medullar-
platte und Entoderm ein, ohne den Anschluss an die gegen-
zu
überliegende Seite zu gewinnen.
Die im vorhergehenden dargestellten Befunde lassen einige
bemerkenswerte Schlüsse über die Entstehung des
embryonalen Mesoderms zu. Dieses kommt zunächst
von dem Primitivstreifen her, schiebt sich seitlich neben dem
Kopffortsatz nach vorn und erhält dabei beträchtlichen Zu-
wachs von seiten des Kopffortsatzes. Vor diesem zweigen sich
an der medialen Seite der Mesodermflügel Fortsätze ab, die
nach der Mittellinie hin oder über sie hinaus vorgetrieben
werden. Das Mesoderm geht namentlich aus einem mittleren
Teile des Primitivstreifens und des Kopffortsatzes hervor, hat
aber auch mehrfach unmittelbaren Zusammenhang mit dem
Ectoderm und andererseits der Chordaplatte. Da der ganze
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 161
Primitivstreifen und der ganze Kopffortsatz vom Ectoderm ab-
stammen, so bildet der Embryo Dy ein schönes
Beispiel für die ectodermale Herkunft des
embryonalen Mesoblast. In demselben Sinne sind jene
Stellen vor dem Kopffortsatz zu verwerten, an denen, wie oben
beschrieben, Mesoderm von der gekrümmten Medullarplatte
entspringt.
Hinsichtlich der Bedeutung des Canalıs neuren-
tericus schliesse ich mich der Ansicht Grossers (3) an.
Der senkrecht zur Oberfläche verlaufende neurenterische Kanal
ist ein caudaler Überrest des Chordakanals, der in rostraler
Richtung schräg durch den Kopffortsatz zog und sich an seiner
ventralen Wand geöffnet hat. Durch Auseinanderlegen der
Wand des Chordakanals entsteht darauf die Chordaplatte, und
diese nimmt noch durch Zellteilungen an Umfang zu und
erhält auch dadurch einen Zuwachs, dass von der Wand des
neurenterischen Kanales aus an der unteren Seite des Primitiv-
streifens Zellen nach hinten wachsen (s. o. S. 157f.).
Chordulation.
Das Stadium, in dem sich der Embryo Dy befindet, ist
ein Ausschnitt aus dem Prozess, den man meistens auf Grund
der Arbeiten von Kupffer (13), Bonnet (1, S. 39) u. a.
Gastrulation nennt, den ich dagegen als Chordulatiıon
bezeichnen möchte.
Schon in einer früheren Arbeit (19) habe ich mich in
Anlehnung an Arbeiten von Hubrecht (6, 7) und Keibel
(8—12) dahin ausgesprochen, dass man gut daran tue, dem
Vorgang, der bei höheren Wirbeltieren in erster Linie zur
Bildung der Chorda führt und mit einer ausgeprägten oder
nur angedeuteten Invagination verbunden ist, nicht den Namen
Gastrulation zu geben, weil er nicht mit der bekannten Gastru-
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd. H. 1). 11
162 H. TRIEPEL,
lation der Evertebraten und des Amphioxus identisch ist. Ich
schlug vor, die beiden Vorgänge, die gewöhnlich zusammen-
geworfen werden, dadurch voneinander zu unterscheiden, dass
man von einer „ersten“ und einer „zweiten“ Invaginatıon
spricht. Die erste Invagination würde ausser bei verschiedenen
Evertebraten bei Amphioxus und den Anamniern vorkommen,
bei den Amnioten dagegen fehlen, während diese nur eine
zweite Invagination besitzen. Heute möchte ich noch lebhafter
_ soweit das im Rahmen dieser Arbeit möglich ist — für
die Anschauung Hubrechts!) eintreten und demgemäss die
„zweite“ Invagination auch für die Anamnier in Anspruch
nehmen.
Die zweite Invagination nimmt in der Phylogenese ihren
Ausgang von der Einstülpung des ectodermalen Stomodaeums.
Man ist versucht, der Gastrula der Coelenteraten eine zweite,
ebenfalls in dieser Abteilung, nämlich bei Anthozoen und
Ctenophoren, vorkommende Larvenform gegenüberzustellen, die
„stomodaeula”.
Die richtige Beurteilung der Anamnier scheint mir die
grössten Schwierigkeiten zu bieten, grössere als die der Am-
nioten. Wenn ich auch die Invagination der Anamnier jetzt
als „zweite“ bezeichne, so kann ich mich doch des Ge-
dankens nicht erwehren, dass sie in manchen Beziehungen
noch auf die erste Invagination hinweist. (Übrigens bestehen
solche Beziehungen, was ich nicht verkenne, auch bei
höheren Formen.) Das wird begreiflich, wenn man sich
des Verhältnisses erinnert, in dem ursprünglich die beiden
Invaginationen zueinander gestanden haben: diezweite war
eine Fortsetzung der ersten, eine Ergänzung zu
1) Die Kritik, die Rabl im vorigen Jahre an den Arbeiten Hubrechts
und Keibels geübt hat (24), kam erst nach Abschluss der vorliegenden
Abhandlung in meine Hände. Sie hat mich nicht davon überzeugt, dass
die Grundanschauung Hubrech ts falsch ist.
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 163
ihr. Bei den Anamniern gehen Gastrulation, d. h. Bildung
des zweiblättrigen Keimes, und Chordulation (s. u.) ohne scharfe
Grenze ineinander über. Diese drückt dem Invaginationsvor-
gang sein eigentümliches Gepräge auf, jene hat in ihm aber
immer noch ihre Spuren zurückgelassen.
Sehr wichtig ist für die Herbeiführung einer Verständi-
gung zwischen den verschiedenen Meinungen der Gebrauch
einer bezeichnenden Nomenklatur. Entschieden zu
billigen ist der Vorschlag Hubrechts (7), bei Cranioten
von „Rückenmund“ an Stelle von Urmund, Gastrula-
mund oder Blastoporus zu reden. Der Urmund liegt dort,
wo das eingestülpte Ectoderm und das Entoderm zusammen-
stossen. Die alten Namen Primitivknoten (Hensenscher
Knoten), Primitivstreifen, Primitivrinne, Kopffortsatz des
Primitivstreifens, Chordakanal bedürfen keiner Veränderung.
Bonnet (2) beanstandet — gewiss mit Recht — den Ausdruck
„Chordakanal‘“, weil aus der Wand dieses Kanals nicht nur
die Chorda hervorgeht. Doch scheint es mir bei der hohen
Bedeutung, die der Chorda zukommt, trotzdem statthaft, den
Namen auch fernerhin zu gebrauchen.
Mit „Chordulation‘“!) kann, wie mir scheint, in passen-
der Weise der Vorgang bezeichnet werden, durch den der
Keim in das Chordulastadium übergeführt wird, d. i. ein
Stadium, das wesentlich durch das Auftreten der Chordaanlage
charakterisiert ist. In zweiter Linie ist für das Stadium die
Anlage bilateral symmetrisch angeordneter mesodermaler Or-
gane bedeutungsvoll.
Zufolge dieser Begr’ffsbestimmung gibt es auch schon
beim Amphioxus sowie bei den Tunicaten eine Chordulation.
Sie besteht aus jenen Abfaltungs- bzw. Abspaltungsprozessen,
die nach Ablauf der Gastrulation aus dem inneren Keimblatt
‘) Ich hatte unabhängig das Wort „Chordulation“ gebildet, sah aber,
dass es schon vor mir gebraucht worden ist (Schlater, 15, p. 315).
dien
164 H. TRIEPEL,
Chorda und Mesoderm entstehen lassen, es liegt also hier
eine entodermale Chordulation vor. Ganz anders ge-
staltet sich die Chordulation bei den Cranioten. Hier sind in
stark wechselnder Weise daran beteiligt eine mehr oder weniger
ausgeprägte Invagination, Abfaltungs- und Abspaltungsprozesse
und eine ausgiebige Proliferation mesodermaler Elemente von
seiten des äusseren Keimblattes. Es handelt sich somit um
eine ectodermale Chordulation. Diese deckt sich mit
dem, was Hubrecht (6), Keibel (8-12) und O. Hert-
wig (4) zweite Phase der Gastrulation genannt haben, eine
Bezeichnung, die ich nicht billigen kann (vgl. 19, S. 506).
Das gleiche besagt Hubrechts Notogenesis.
Eine unabweisbare Forderung, die sich aus den vorstehen-
den Erörterungen ergibt, ist die, dass man bei Cranioten den
Ausdruck Gastrula, sofern er in nicht zutreffender Weise
gebraucht wird, verbanne und durch Chordula ersetze. In
denselben Fällen muss die Bezeichnung „dorsale Urmund-
lippe“ durch „rostrale Rückenmundlippe“ ersetzt
werden.
Man könnte den Vorgang der Chordulation seinerseits
wieder in mehrere Unterabteilungen zerlegen, was aber bei
den einzelnen Gruppen in sehr verschiedener Weise zu ge
schehen hätte. Bei den Primaten folgen aufeinander Bildung
des Primitivstreifens, Bildung des Kopffortsatzes und Aus-
breitung des axialen Mesoblasts, Chordakanal, Canalis neur-
entericus und Chordaplatte, Abschnürung der Chorda und Ab-
gabe von Material an das Darmentoderm. Wie man sieht,
ist bei dem Embryo Dy die Chordulation zum grossen Teile,
aber noch nicht vollkommen abgelaufen.
Wenn, wie ich angegeben habe (S. 157), Zellen der Chorda-
platte an das Entoderm abgegeben werden, so deutet das
gewiss auf uralte Beziehungen, die zwischen (ectodermaler)
Chordulation und Invaginationsgastrulation bestehen; diese
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 165
können aber nur den oben (S. 162f.) näher bezeichneten Sinn
haben. Mit der Annahme einer Beteiligung der Chordaplatte
an der Bildung des embryonalen Entoderms komme ich zwar
dem Standpunkt nahe, von dem aus Invagination der Cranioten
und Gastrulation identisch ist, von ihm trennt, mich aber
der Gedanke, dass der Urmund bei den Cranioten in die Tiefe
verlagert sein muss.
Die Keimblätter des Schildes.
Von ‚dem Schildectoderm, soweit es zum Primitivstreifen und
zum Kopfftortsatz gehört, war bereits oben die Rede (S. 158f.),
ebenso von der Medullarfurche und der zusammengebogenen
Medullarplatte.
Das Ectoderm ist im Bereiche der Medullarplatte
3—4-,
hat es meistens nur 2 Schichten, und am Rande bleibt nur
selten 5 schichtig. In den seitlichen Teilen des Schildes
eine einzige Lage hoher Zellen, denen sich unvermittelt die
niedrigen Zellen des Amnionectoderms anschliessen.
Vor dem Kopffortsatz verbreitert sich an einer Stelle
(80. Schnitt) der Boden der Medullarfurche, so dass hier das
Ectoderm knopfförmig gegen das Entoderm vorspringt. Ver-
mutlich entspricht diese Stelle dem hinteren Ende des Rauten-
hirns. Ungefähr von hier an nach vorn wird die Medullar-
furche eng und tief.
Bei Schnitt 54 biegt sich das Ectoderm ventralwärts um
(vgl. o. S. 153), unter einem Winkel, der fast 900 beträgt.
Die Medullarrinne erhält sich in der umgebogenen Platte noch
auf eine Strecke von 0,52 mm. Dann weichen am rostralen
Ende der Rinne die Medullarfalten, die ihren Eingang be-
grenzen, auseinander und werden zur Wand eines grossen,
schalen- oder napfartigen, also einerseits offenen Hohlraumes.
Die Wand dieser Schale ist 3schichtig. Sie hat unter dem
166 H. TRIEPEL,
Rinnenende, d. h. rostral von diesem, eine caudalwärts vor-
springende Verdickung, in die sich eine enge, 70 u lange
Ausstülpung des Schalenraumes einsenkt (Schnitt 59-53, vgl.
Fig. 10 hy). Unmittelbar darunter liegt ein von aussen kommen-
der Eindruck der Schalenwand, und unter diesem finden sich
weiterhin nebeneinander angeordnet zwei längliche, vertikal
stehende, caudalwärts gerichtete Ausbuchtungen (Fig. 10a).
Diese gehen nach vorn an der Basis der Schale in. seitliche
Erweiterungen über. Der Schalenraum steht dorsalwärts mit
der Amnionhöhle in Verbindung, der Verbindungsgang erweitert
sich (Schnitt 49—43), die Schalenwand breitet sich aus und
geht unter allmählicher Verdünnung in das Amnion über.
Es ist naheliegend, die beschriebenen Modellierungen des
vorderen Teiles der Medullarplatte mit Organanlagen in Zu-
sammenhang zu bringen, die sich an dem vorderen Abschnitt
des Gehirnes entwickeln. Die geschilderte Schale stellt die
Anlage des primären ersten Gehirnbläschens dar,
das an der dorsalen Seite noch weit geöffnet ist. Sehr wahr-
scheinlich sind die beiden caudalwärts gerichteten Ausbuch-
tungen der Schale mit ihren seitlichen Erweiterungen die ersten
Andeutungen der Augenblasen. Dabei ist zu bemerken,
dass die Ausbuchtungen nicht caudalwärts, sondern ventral-
wärts gerichtet wären, wenn der vordere Teil des Schild-
ectoderms nicht jene auffallende Abbiegung nach der ventralen
Seite zeigte, die ich erwähnte, und die ich sogleich näher
analysieren will.
Zuvor sei noch bemerkt, dass der enge und lange Gang,
der oberhalb der Augenblasenanlagen von dem Schalenraum
in caudaler (bzw. ventraler) Richtung abgeht, vermutlich zum
Trichter und Gehirnteil der Hypophyse wird.
Die Biegung der Medullarplatte, die sich im
54. Schnitte und in den benachbarten Schnitten der Serie
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 167
zeigt, liegt dort, wo man später das Auftreten der Mittelhirn-
krümmung erwarten muss. Ob indessen der Biegung die Be-
deutung einer ungewöhnlich früh auftretenden Mittelhirnkrüm-
mung zugeschrieben werden kann, erscheint mir sehr frag-
lich, besonders deswegen, weil mir kein Fall von einem mensch-
lichen Embryo im Schildstadium aus der Literatur bekannt
geworden ist, der diese Krümmung oder eine Andeutung davon
erkennen liesse. Vielmehr scheint es mir, worauf ich schon
eingangs hinwies, dass die in Rede stehende Abbiegung des
vorderen (rehirnteiles nicht dem normalen Verhalten entspricht.
Durch ungeschickte Präparation kann die Biegung nicht ent-
standen sein, denn dann müssten erhebliche Verletzungen an
dem Objekt hiervon Kunde geben; solche Beschädigungen sind
jedoch nicht vorhanden. Man geht vielleicht nicht fehl, wenn
man annımmt, dass ein Druck, der von vorn oben auf den
Kopfteil der Embryonalanlage einwirkte, diesen verhinderte,
sich in der normalen Richtung weiter zu entwickeln. An dem
vorderen Amnionende, das über dem Kopfteil des Embryos
liegt, lässt sich allerdings nichts nachweisen, was auf eine
mechanische Einwirkung schliessen liesse, wenn man nicht
die Tatsache heranziehen will, dass das Amnion stellenweise
äusserst niedrig, wie zusammengedrückt erscheint. Von dem
Chorion und dem eingeschlossenen Magma reticulare (s. u.)
ist an dem Präparate zu wenig erhalten, als dass man die
Konfiguration dieser Teile bei einem Erklärungsversuch
heranziehen könnte. Auf dasselbe Wachstumshindernis muss
übrigens auch die übermässige Verbreiterung des Kopfteiles zu-
rückgeführt werden. Wenn die gegebene Erklärung richtig ist,
so kann es sich doch höchstens um ein schwaches Hindernis
handeln, das dem normalen Wachstum im Wege stand. Ein
stärkeres würde zweifellos weit ausgedehntere Missbildungen
im Gefolge gehabt haben als diese einfache Abbiegung und Ver-
breiterung eines Teiles des Schildes. (Man denke an omphalo-
168 H. TRIEPEL,
cephale Missbildungen bei Vogelembryonen!) Aus diesem
Grunde glaube ‚ich auch, dass die einzelnen besonders be-
schriebenen Teile des abgebogenen Gehirnabschnittes, die An-
lagen der Augenblasen und des Gehirnteiles der Hypophyse,
nicht verändert sind und als normal angesehen werden dürfen !).
Das Schildentoderm zeigt einfache Verhältnisse, es
besteht im allgemeinen aus flachen Zellen, die sich meist gut
von den höheren Zellen der eingelagerten Chordaplatte unter-
scheiden lassen (s. o. S. 156 Anm.). Nach aussen von einem
schmalen Bezirke mit niedrigen Zellen werden sie wieder etwas
höher, um so den Übergang zu den gleichfalls höheren Zellen
des Nabelblasenentoderms zu vermitteln. Die Modellierungen
am Gehirnteil des Ectoderms wiederholt das Entoderm, das über
jenes hinweggezogen, aber von ihm durch zwischengelagertes
Mesoderm getrennt ist.
An einigen Stellen schickt das Entoderm Zellfortsätze
in den zwischen ihm und dem Mesoderm liegenden Raum
zur Beteiligung an der hier stattfindenden Gefässbildung
(Figg. 7—9), für die allerdings (die Bedeutung des inneren
Keimblattes gegenüber derjenigen des mittleren in den Hinter-
grund tritt, namentlich in dem mittleren und hinteren Teil
des Schildes (s. u.).
1) Natürlich springt die beschriebene Abbiegung am Modell sofort in
die Augen. Ich war leider nicht in der Lage, mit Hilfe einer Richtebene zu
modellieren, und man könnte meinen, dass die Biegung des Modells nur ein
Kunstprodukt ist und in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war. Richtzeichen
sind zwar an meiner Serie vorhanden, aber sie sind so weit von dem Embryo-
nalgebilde entfernt, dass ich auch durch Anwendung der für solche Fälle
empfohlenen Hilfsmittel nicht zum Ziele kam. Vor Fehlern glaube ich mich
indessen dadurch geschützt zu haben, dass ich das ganze Amnion und einen
Teil der Nabelblase mit modellierte, diese beiden dünnen Membranen also
gewissermassen zu Richtzeichen machte. Noch klarer geht die Berechtigung
meines Verfahrens daraus hervor, dass ich alle Formverhältnisse, die mir das
Modell zeigt, bereits vor seiner Anfertigung durch das Studium der Serie (Be-
rücksichtigung von Flachschnitten u. dgl.) erkannt hatte.
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 10.
EURO
Jo.
H. Limpricht gez.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Kgl. Univ.-Druck. H. Stürtz A.G., Würzbg.
Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 11.
H. Limpricht gez.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Kgl. Univ.-Druck. H. Stürtz A.G., Würzbg.
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurenterieus. Chordulation. 169
Von einer Anlage des Kopfdarmes ist an dem Ento-
derm noch nichts zu bemerken.
Die Cloakenmembran (Fig. 5) ist, wie bereits er-
wähnt, sehr klein, sie findet sich nur in einem Schnitte, dem
132. der Serie. Beide Keimblätter, Ectoderm und Entoderm,
zeigen hier, wo sie sich berühren, grosse kubische Zellen.
Das Mesoderm schiebt sich von hinten wie auch von den
beiden Seiten in Form eines Keiles gegen die Cloaken-
membran vor.
Über den Ursprung des embryonalen Meso-
derms aus Primitivstreifen und Kopffortsatz sowie über seine
Beziehungen zum Ectoderm habe ich bereits oben berichtet
(S. 160 f.). Neben dem Kopffortsatz und diesen nach vorn noch
etwas überragend zieht sich jederseits das Mesoderm in Form
der Ursegmentplatte (Figg. 2 u. 3) hin, die in ihrem
hinteren Teil eine Stärke von im Mittel 4—5 Zellagen besitzt.
Vorn wird sie dünner, wobei sich die beiden Seiten insofern
asymmetrisch verhalten, als die Dickenabnahme links
etwa 22, rechts etwa 40 Schnitte vor dem neurenterischen
Kanal beginnt. Gleichzeitig nimmt die Breitenausdehnung der
Ursegmentplatte zu. Lateral reicht sie entweder in gleicher
oder verminderter Stärke bis zum Rande des Schildes, wo
sie sich in den parietalen und visceralen Mesoblast teilt, die
das Amnion bzw. die Nabelblase überziehen (Figg. 2 u. 3).
Der Amnionmesoblast wird sofort oder doch sehr bald ein-
schichtig, der Nabelblasenmesoblast verdickt sich zum Zwecke
der Blut- und Gefässbildung.
Von einer Differenzierung einzelner Urseg-
mente ist noch nichts oder höchstens der erste Anfang zu
bemerken; bei einer zeichnerischen Rekonstruktion der Serie
fand ich keine Zwischenräume, die als Intersegmentalspalten
gedeutet werden könnten und rostrale und caudale Grenzen
von Ursegmenten erkennen liessen. Immerhin ist bemerkens-
170 H. TRIEPEL,
wert, dass die Ursegmentplatten an ihrem medialen Ende in
den Schnitten 119—108 eine auffallende Verdünnung zeigen,
die vielfach zu einer vollständigen Durchbrechung führt. Man
könnte daran denken, dass ebendort die mediale Grenze des
späteren ersten und zweiten Ursegmentes gesucht werden muss.
Indessen wird die Deutung dadurch erschwert, dass die Durch-
brechungen nur in einem Schnitte, dem 113., symmetrisch
auf beiden Seiten liegen (Fig. 2), sonst aber sich nur ein-
seitig finden. Wenn die Durchbrechungen einer schräg ver-
laufenden Intersegmentalspalte entsprechen sollten, so wäre
zu erwarten, dass sie sich in aufeinanderfolgenden Schnitten
über die Breite der Ursegmentplatte verschieben. Das ist aber
nicht der Fall. Auch kommen weiter vorn noch mehrfach
Durchbrechungen der Ursegmentplatten vor, sowohl in ihrem
medialen wie in ihrem lateralen Teile, die nicht mit einer
Differenzierung von Ursegmenten in Zusammenhang gebracht
werden können. Der laterale Teil der Ursegmentplatten ent-
spricht der Stelle der späteren Ursegmentstiele.
Die Asymmetrie geringen Grades, die in den Ursegment-
platten zum Ausdruck kommt, musste zwar vermerkt werden,
scheint mir aber nicht bedeutungsvoll zu sein. In den Ur-
segmentplatten werden an mehreren Stellen quer verlaufende
Spalten sichtbar, die sich bei der Verfolgung der Serie zu-
meist als Ausläufer des Exocoeloms erweisen.
An der ventralen Seite der Ursegmentplatten werden von
deren Zellen Fortsätze abgegeben, die in den Raum zwischen
Mesoderm und Entoderm hineinwachsen (Fig. 3). Auch ganze
Zellen lösen sich, allerdings nur in geringer Zahl, aus dem
epithelialen Verbande des Mesoderms und werden zu mesen-
chymatischen Elementen (Figg. 8 u.'9). Solche Mesenchymzellen
und die Zellfortsätze umscheiden Hohlräume und liefern damit
die zarte Wand junger Blutgefässe. Die Räume sind
oft, namentlich in den mittleren und hinteren Teilen der
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 171
Embryonalanlage noch sehr weit offen. Der Reichtum an Ge-
fässen ist nicht in allen Teilen des Schildes gleich, er nimmt
nach vorn zu und wird in dem Mesodermabschnitt recht be-
trächtlich, der die ventrale Seite der Anlage des primären
ersten Hirnbläschens überzieht. In den Blutgefässen des
Schildes fehlt noch jede Spur von Blutzellen. Vom Endothel-
schlauch des Herzens und von den Venae omphalomesaraicae
ist noch nichts zu erkennen. An der mehrfach erwähnten Ab-
biegungsstelle des vorderen Kopfteiles finden sich zwischen
Mesoderm und Entoderm grosse freie Räume, die aber kaum
als Anlage der genannten Venen gedeutet werden können, da
sie nicht von zusammenhängenden Wänden umgeben sind (vel.
Fige. 8 u. 9). Sie sind vermutlich bei der Biegung des Kopfes
entstanden, die ich, wie erwähnt, auf eine mechanische Ur-
sache zurückführen möchte (S. 167).
Der beschriebene Vorgang der Gefässbildung setzt sich
von dem embryonalen Mesoderm auf den Anfangsteil des
visceralen Mesoblasts fort. Auf die Verhältnisse, die sich an
der Nabelblase finden, werde ich später einzugehen haben.
An der dorsalen Seite des Mesoderms sprossen einige Zell-
ausläufer aus ihm (und dem benachbarten Ectoderm?) hervor
(Fig. 4), sie sind aber hier nur vereinzelt.
Die embryonalen Hüllen und Anhänge.
Über den Bau des Chorions gibt das kleine viereckige
Stück, das von diesem an dem Präparat erhalten ist, in ge-
nügender Weise Auskunft. Das Chorion besteht aus einer
mesodermalen Grundlage und einem ectodermalen Überzug,
der sowohl die eine Seite der Grundmembran wie die von
ihr abgehenden Zotten bekleidet. Die Dicke der Grundmembran
beträgt 0,16 mm, die Zone der Zotten schwankt ın ihrer
Breite ungefähr zwischen 0,48 und 0,64 mm. Die Zotten gehen
nicht unter rechtem Winkel von der Grundmembran ab, darum
172 H. TRIEPEL,
sind sie meist in den Schnitten nicht längs, sondern schräg
oetroffen und abgekappt. Sie sind im allgemeinen sehr plump
und unregelmässig gestaltet, sind reich verzweigt und hängen
durch seitliche Ausläufer untereinander zusammen. Der meso-
dermale Teile sowohl der Grundmembran wie der Zotten besteht
aus lockerem Mesenchym mit vielen dünnen Zellausläufern
und kleinen, runden, hellen Kernen. In der Grundmembran
sind Kanäle, die Anlagen von Gefässen, nachweisbar, sie ent-
halten aber keine Blutzellen. An dem ectodermalen Teil ist
eine Langhanssche Zellschicht mit runden, hellen, bläs-
chenförmigen Kernen und ein Syneytium zu unterscheiden,
dessen Plasma dunkel gefärbt ist, und dessen Kerne ebenfalls
dunkel sind und meist länglich und parallel der Oberfläche
plattgedrückt erscheinen. Auf der Innenseite des Chorions
liegen Teile des Magma reticulare (s. u.).
Der Haftstiel verbindet das Mesoderm des Chorions
mit dem der Embryonalanlage (Fig. 6). Er ist nicht ganz
1 mm lang, hat in der Nähe des Chorions einen annähernd
kreisrunden Querschnitt und einen Durchmesser von ungefähr
0,3 mm. Oberhalb der Embryonalanlage erscheint er durch
das anliegende Amnion von vorn nach hinten zusammen-
gedrückt. Die Mesodermmassen, die seitlich an der Cloaken-
membran vorbeiziehen (Fig. 5), vereinigen sich unmittelbar
hinter dieser und bilden so die Basis des Haftstieles, der
von hier aus aufsteigt und mässig nach vorn geneigt nach
dem Chorion hinzieht. Er liegt hinter dem Amnion, dessen
hintere Wand in seine vordere Seite eingegraben ist. Die
Fläche, durch die er mit dem Chorion in Verbindung steht,
ist nicht senkrecht zu seiner Längsrichtung, sondern stark
seitlich geneigt. Bei seinem Übergang in das Chorion weist
er an seiner vorderen Seite eine kleine Verletzung auf, es
sieht so aus, als sei er bei der Präparation angebrochen
worden, wenn auch die Beschädigung nur gering ist.
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 173
In seiner Mitte baut sich der Haftstiel aus einem zell-
reichen Gewebe auf, dessen Kerne klein und rund sind und
zum Teil als bläschenförmig, zum Teil als solid bezeichnet
werden können. Hier finden sich auch Stücke von mit Blut-
zellen gefüllten Gefässen, die aber nur kurz sınd und sich
selten über mehrere Schnitte verfolgen lassen (Fig. 6). Die
Tatsache, dass solche isolierte (Gefässabschnitte vorkommen,
spricht dafür, dass sie nicht-in den Harfitstiel'ein-
sewandert, sondern zusammen mit den Blut-
zellen an Ort und Stelle entstanden sind. Nach
aussen von dem dichten mittleren Teil des Haftstieles liegt
lockeres Mesenchymgewebe, und dieses wird durch ein flaches
Mesothel bedeckt, das die Grenze gegenüber dem Exocoelom
bildet. Das Mesothel überzieht aber den Haftstiel nicht in
seiner ganzen Ausdehnung, sondern vom Schild aus gerechnet
nur ungefähr bis zu seiner halben Länge, an einigen Stellen
etwas weiter, an anderen etwas weniger weit. Nach aussen
von dem Mesothel finden sich in mässiger Menge faserig-
krümelige Massen, Teile des Magma reticulare, von dem noch
später die Rede sein wird.
Das Amnion sitzt auf dem Embryonalschild in der
Form einer Zipfelmütze. Diabei entspringt es allseitig am
Rande des Schildes, und der in die Höhe gezogene Zipfel
liegt nahe dem hinteren Ende, nur wenig rostral von dem
den Canalis neurentericus enthaltenden Schnitte. Sein vorderes
Ende ist nach vorn und unten ausgesackt, zur Aufnahme
des vordersten, ventralwärts abgebogenen Schildendes. Der
Zipfel ragt in das mesenchymatöse Gewebe des Haftstieles
hinein. Die Längsausdehnung des Amnions beträgt 1,29 mm,
seine Höhe mass ich hinten, in der Gegend des Zipfels zu
0,854 mm, weiter vom ist sie — 0,1, am vorderen Ende
— 0,84 mm. Die Breite beträgt hinten 0,27, weiter vorn, im
Kopfgebiet, an der weitesten Stelle 0,86 mm.
174 H. TRIEPEL,
Die Wand des Amnions besteht aus zwei Lagen von
Zellen, einem inneren ectodermalen und einem äusseren meso-
dermalen Blatte. Die Zellen beider Blätter sind niedrig, aber
nicht als abgeplattet zu bezeichnen. Diejenigen des Mesothels
trennen sich in der Nähe des Amnionzipfels von dem ecto-
dermalen Blatt und gehen in den Überzug des Haftstieles
über. In dem mesodermalen Teil des Amnions sind einige
vereinzelte Blutzellen zu sehen. Die Stellen, an denen sie
sich finden, liegen in der Nähe des Haftstieles und des visce-
ralen Mesoblasts, so dass man sie wohl mit dem Mesoderm
des Haftstieles und der Nabelblase in Beziehung zu setzen
hat. An der Aussenseite des Amnions sind an mehreren
Stellen Auflagerungen von Magma reticulare zu sehen.
Sehr sorgfältig wurden die Schnitte daraufhin untersucht,
ob in der Verlängerung des Amnionzipfels ein Amniongang
oder Reste eines solchen vorhanden sind, oder ob eine zellige
Verbindung zwischen dem Eetoderm des Amnions und dem
des Chorions besteht. Aber nichts dergleichen liess sich nach-
weisen.
Die Nabelblase stellt einen unter dem Schilde hängen-
den Sack dar, der in der Richtung von vorn nach hinten
ein Innenmass von 1,46 mm besitzt. Der Sack ist in der
Querrichtung unregelmässig komprimiert, seine Weite beträgt
ungefähr 0,3—0,6 mm, seine Höhe 1,6 mm. Vorn wird die
Nabelblase durch den nach unten abgebogenen Kopfteil des
Schildes eingeengt, so dass sie zuletzt die Form eines schmalen
Spaltes annimmt.
Die Wand der Nabelblase besteht aus dem ein-
schichtigen auskleidenden Entoderm und darauf liegendem
Mesoderm. Dias Nabelblasenentoderm besteht aus kubischen
Zellen mit grossen, bläschenförmigen Kernen und trübem
Protoplasma. Das Mesoderm der Nabelblase entwickelt sich
aus den anfangs niedrigen Zellen des visceralen Mesoblasts
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurenterieus. Chordulation. 175
und wird aus mehreren Lagen höherer Zellen gebildet. Die
äusserste Lage ist die Grenze gegen das Exocoelom und schliesst
sich an das auf dem Amnion liegende, aus niedrigen Zellen
bestehende Mesothel an, von dem sie sich jedoch durch die
Form und Anordnung ihrer Elemente unterscheidet. Diese
schliessen sich nicht zu einer lückenlosen zusammenhängen-
den Schicht zusammen, zeigen vielmehr mancherlei Unter-
brechungen. Von den darunter liegenden Mesodermzellen haben
sie sich nicht deutlich differenziert.
In dem Nabelblasenmesoderm finden sich Blutzellen und
Gefässanlagen in grosser Menge. Aus tiefen Zellen des An-
fangsteiles vom visceralen Mesoblast entwickeln sich Ausläufer,
die ebenso wie ähnliche Ausläufer von benachbarten Ele-
menten der Ursegmentplatten zur Gefässbildung verwandt
werden (vgl. S. 170f.). Weiter peripher sieht man innerhalb
des Mesoderms Haufen von Zellen, die von der Umgebung
nicht scharf getrennt sind und vor allem sich durch die An-
wesenheit zahlreicher Erythroceyten mit dem grossen hellen
Zelleib und dem meist kleinen, intensiv gefärbten Kern aus-
zeichnen (Fig. 11). Die andern Zellen der Haufen haben
Kerne, die entweder denen der Erythrocyten gleichen oder
grösser, etwas blasser und nicht homogen erscheinen, und
die von protoplasmatischen Fäden umgeben sind. Die fädigen
Strukturen können an Schrumpfungsbilder erinnern (Fig. 11er’).
Die Vermutung scheint mir nahe zu liegen, dass es sich um
Übergangsformenzwischen Mesodermzellenund
Erythrocyten handelt (Erythroblasten).
Besonders grosse Blutinseln finden sich ca. 50 Schnitte
hinter dem vorderen Ende der Nabelblase. Man könnte daran
denken, dass hier die (vorübergehende) Anlage eines Sinus
terminalis vorliegt; das kann aber nicht sein, da beiderseits
von dieser Stelle Gefässanlagen vorhanden sind.
In dem Nabelblasenmesoblast sieht man weiterhin Kerne,
176 H. TRIEPEL,
die zweifellos zu Gefässendothelien gehören; sie sind
oval, von der Kante gesehen scheinbar stäbchenförmig, ebenso
dunkel gefärbt wie die Erythrocytenkerne und sind in Reihen
angeordnet oder liegen auch deutlichen Kanälen an (nicht ab-
gebildet).
Einige Blutzellen liegen auch in dem Entoderm, sie
scheinen mir in dieses eingewandert zu sein. Selbst im Innern
der Nabelblase finden sich einige ganz vereinzelte Erythro-
cyten.
Die Frage nach der Herkunft von Blut und Ge-
fässen ist auf Grund der mitgeteilten Befunde dahin zu
beantworten, dass beide, Blut und Gefässe, Abkömmlinge des
Mesoderms sind. Es darf nicht übersehen werden, dass, wie
ich oben (S. 168) erwähnte, sich an einigen Stellen auch Zell-
ausläufer des Entoderms an der Gefässbildung beteiligen.
Daraus ist zu schliessen, dass auch das Entoderm gefäss-
bildende Potenzen besitzt, obschon die Aktivierung dieser
Potenzen gegenüber der gefässbildenden Tätigkeit des Meso-
derms in den Hintergrund tritt. Die Blutzellen müssen sich
im Haftstie! und in der Nabelblasenwand an Ort und Stelle
aus mesodermalen Elementen entwickeln, in die Blutbahnen
im Embryonalschild werden sie wahrscheinlich erst später
nach Beginn der Zirkulation von aussen hineingetragen, doch
ergeben sich für eine solche Annahme aus meinem Objekte
keine bestimmten Anhaltspunkte. Das Vorkommen von Blut-
zellen im Entoderm kann kaum zugunsten eines entodermalen _
Ursprungs des Blutes verwandt werden, denn es ist sehr
wohl möglich und mir sogar wahrscheinlich, dass diese Blut-
zellen durch das Entoderm hindurchwandern.
Dem Anscheine nach ist die Frage nach dem Ursprung
von Blut und Gefässen bei dem Embryo Dy leicht zu be-
antworten, sie ist aber nicht müssig, im Hinblick darauf, dass
nicht nur bei niederen Wirbeltieren, sondern auch bei Säugern
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 177
nahe Beziehungen zwischen Blutbildung und Entoderm bekannt
geworden sind (vgl. Rückertu. Mollier 14). Die Angelegen-
heit ist eng mit einer zweiten Frage verknüpft, nämlich der nach
der Herkunft des Mesoderms, auf die ich auf den nächsten
Seiten zurückzukommen haben werde. Man muss im Auge
behalten, dass die Keimblätter gleichsam Durchgangsstationen
darstellen, die von den Geweben und Organanlagen während
ihrer Ausbildung durchlaufen werden. Die organbildenden
Stoffe sind vorhanden, bevor es Keimblätter gibt, das Material
eines Systems wird, wenn nicht ausschliesslich, so doch in
der Hauptsache einem bestimmten Keimblatte zugeführt. Die
Keimblätter werden, wie ich an anderer Stelle (19) darlegte,
gewiss nicht zu spezifischen Leistungen verwendet, sie haben
aber doch bestimmte „wesentliche“ Aufgaben zu er-
füllen, und zu den wesentlichen Aufgaben des mittleren Keim-
blattes gehört die Differenzierung von Blut und Gefässröhren.
Als Ausstülpung des Nabelblasenentoderms schiebt sich
der Allantoisgang (Fig. 6) in die Substanz des Haft-
stieles hinein. Der Gang entspringt neun Schnitte hinter
der Cloakenmembran, beginnt mit einer 0,04 mm weiten und
0,08 mm langen trichterförmigen Erweiterung und setzt sich
als enger Kanal von 0,024 mm Durchmesser noch auf eine
Länge von ca. 0,24 mm fort. Im Gang und in der Umgebung
der trichterförmigen Öffnung wird das Epithel mehrreihig. Der
Kanal ist fast gerade und nur an seinem oberen Ende leicht
nach vorn geneigt. Dieses Ende ist ein scheinbares; vor ihm,
in grosser Nähe der hinteren Amnionwand, liegt, auf drei
Schnitten sichtbar, ein kleines Bläschen (s. Textfig, auf S. 154),
das jedenfalls als das wahre, von dem Hauptteil abgetrennte
Ende des Allantoisganges aufzufassen ist. Der Gang liegt
nicht in der Verlängerung der Medianebene des Schildes, er
ist seitlich verschoben (am Modell nach links).
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd. H. 1). 12
178 H. TRIEPEL,
Der Inhalt des Chorions.
Innerhalb des Chorions finden sich mässige Mengen von
Magma reticulare, einer faserig-krümeligen Masse, die
in 'unregelmässiger Verteilung stellenweise, wie bereits er-
wähnt, auf dem Amnion, der Nabelblase, dem Haftstiel und
der Innenseite des Chorions liegt. In dem Magma eingeschlossen
sind einige vereinzelte Zellen und Zellpartikel. Über die Ge-
samtmenge des Magma, die an dem Präparat zurzeit seiner
Eröffnung vorhanden war, kann keine Angabe gemacht werden,
da von dem Chorion nur ein kleiner Ausschnitt erhalten ist.
Hinsichtlich der Deutung des Magma schliesse ich
mich der Ansicht Grossers (3) an, nach der es eine Inter-
cellularsubstanz darstellt. Ich war freilich nicht in der Lage,
durch selbst beobachtete Reaktionen zu bestätigen, dass es
aus geronnenem Mucin und anderen Eiweisskörpern besteht,
ich kann nur angeben, dass es durch Alauncochenille nicht
gefärbt wird. Ähnliche Massen sah auch Herzog (5) beı
seinem sehr jungen Embryo innerhalb des Chorions; er hält
sie, soweit es sich um fädige Gebilde handelt, für Überreste
desgenerierender Mesodermzellen.
Der Raum zwischen Chorion einerseits, Amnion, Nabel-
blase und Haftstiel andererseits ist als ein durch Intercellular-
räume erweitertes ausserembryonales Coelom zu deuten. Wahr-
scheinlich tritt, wie Grosser (3) an der Hand einer von
ihm angefertigten Rekonstruktion des Petersschen Eies
zeigt, das Coelom auf einem sehr frühen Stadium als eine
kleine Lücke neben und vor der Embryonalanlage auf. Es
schwindet die laterale Wand der Lücke, so dass diese ın
freie Verbindung mit den umgebenden Intercellularräumen
kommt. Bei dem von Grosser 1913 beschriebenen Embryo
(3) stellt der endothelartige Überzug von Haftstiel, Ammnion
und Nabelblase die mediale Wand des Coeloms dar; es ist
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 179
bemerkenswert, dass dieser Überzug dort, wo sich der Haft-
stiel an das Chorion ansetzt, mit einem glatten Rande auf-
hört. Ähnliche Verhältnisse zeigt mein Objekt, nur findet sich
hier das Ende der endothelartigen Bekleidung (des Mesothels)
schon früher, etwa in der halben Länge des Haftstiels, und
ausserdem zieht sich das flache Mesothel nicht über die Nabel-
blase hinweg, sondern. geht an dieser allmählich in höhere,
nicht besonders differenzierte Mesodermzellen über.
Das Zellmaterial, in dem die Anlage des Exocoeloms
auftritt, ist als primärer Mesoblasi zu bezeichnen. Hier-
mit soll kein grundlegender Unterschied gegenüber dem (sekun-
dären) Primitivstreifenmesoblast aufgestellt, sondern nur auf
die zeitliche und örtliche Verschiedenheit im Auftreten der
beiden Mesoblastteile hingewiesen werden. Dass sie beide eng
zusammengehören, geht daraus hervor, dass jede Grenze
zwischen ihnen verwischt ist; ohne Zweifel wird der meso-
dermale Überzug von Amnion und Nabelblase von dem primären
Mesoblast zuerst geliefert, und an diese Teile schliesst sich
sekundär ein zweiter, von dem Primitivstreifen und Kopffort-
satz herstammender Mesoblastteil an. Es handelt sich nach
meiner Meinung um eine örtliche und zeitliche Verschiebung,
die in der Mesoblastentwickelung während der Phylogenese
Platz gegriffen hat, um einen Vorgang, zu dem sich verschiedene
Parallelen aus der Entwickelungsgeschichte anführen lassen.
Daraus ergibt sich schon, dass ich dem primären Meso-
blast nicht wie andere Autoren eine grosse phylogenetische
Bedeutung zuschreiben kann. Nach Schlater (15, 16) stellt
das Stadium der primären Dreiblättrigkeit, wie es die jüngsten
bekannten Primatenkeime zeigen, einen wichtigen Knotenpunkt
der Phylogenese dar, er nennt es Mesenchymula. Hierin
scheint mir eine Überschätzung des mesenchymatischen Teiles
des primären Mesoblasts zum Ausdruck zu kommen. Wenn
auch anzuerkennen ist, dass bei den jüngsten bekannten
12*
180 H. TRIEPEL,
menschlichen Embryonen der primäre Mesoblast nur mesen-
chymatische Elemente zeigt, so treten doch zu diesen sehr
bald Haufen oder Stränge von Zellen hinzu, die keine Aus-
läufer besitzen. In meinem Fall, der freilich nicht mehr zu
den jüngsten gehört, kommen beide Formen des primären
Mesoblasts vor; auf der Nabelblase liegen dichtgedrängte Meso-
dermzellen mit glatter Oberfläche, das Chorion zeigt mesen-
chymatische Elemente, im Haftstiel bilden, wie beschrieben,
die beiden Formen zwei verschiedene Schichten.
Das ausserembryonale Coelom entsteht durch
einen Spaltungsvorgang in dem primären Mesoblast. Ebenso
hat sich (schon vorher), wie wohl jetzt allgemein angenommen
wird, die Nabelblasenhöhle bei den Primaten durch eine
Diehiscenz entodermaler Elemente gebildet. Beachtenswert
scheint es mir in diesem Zusammenhang zu sein, dass sich
Magma reticulare in der Nabelblase findet, eine fädig-krümelige
Masse von derselben Beschaffenheit, wie sie in dem durch
Interzellularräume vergrösserten Exocoelom gesehen wird.
Auch Grosser fand im Dottersack seines Embryos von
1913 (3) ein krümeliges Gerinnsel und einige freie flottierende
Zellen.
Nach der Ansicht der meisten Forscher ist auch die
Amnionhöhle beim Menschen durch Spaltung entstanden,
nur Strahl und Beneke (18) halten an der Faltungs-
theorie fest. Der Embryo Dy bietet wenig Anhaltspunkte, die
sich zugunsten der einen oder anderen Theorie verwenden
liessen. Man könnte vielleicht sagen, die Abwesenheit jeder
magmaähnlichen Formation in der Amnionhöhle deute darauf
hin, dass diese auf anderem Wege entstanden sei, als die
Nabelblasenhöhle und das Exocoelom, und die Zipfelbildung
am oberen Ende des Amnions spreche für die Faltungstheorie.
Andererseits macht die geringe Ausbreitung des Mesothels es
wahrscheinlich, dass der Raum, zu dessen Auskleidung es
Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 181
gehört, das Exocoelom, ursprünglich sehr klein war (was mit
Beobachtungen anderer Forscher übereinstimmt), und zur Er-
hebung von Amnionfalten ist ein geräumiges Coelom nötig.
In demselben Sinne könnte das Fehlen einer jeden Verbindung
zwischen Chorion- und Amnionectoderm herangezogen werden.
Zu einer Entscheidung der Frage kann nur die Berücksichti-
gung der jüngsten bekannten Primatenembryonen führen, und
diese scheinen doch die Annahme eines Spaltungsvorganges
nahezulegen. Die Bildung des Amnionzipfels und das gelegent-
. liche Auftreten eines Amnionganges oder eines ectodermalen
Epithelstranges lassen die Vermutung aufkommen, es habe
sich bei den Vorfahren der Primaten das Amnion durch Faltung
gebildet.
13.
14.
15.
16.
Zitierte Literatur.
Bonnet, R., Beiträge zur Embryologie der Wiederkäuer, gewonnen an
Schafen. Arch. f. Anat. u. Phys., Anat. Abt. 1889. p. 1ff.
— Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte. 2. Aufl. Berlin 1912.
Grosser, O., Ein menschlicher Embryo mit Chordakanal. Anat. Hefte.
Abt. I. Bd. 47. 1913. p. 653 ff.
Hertwig, O., Die Lehre von den Keimblättern. Handb. d. Ent-
wickelungslehre. Bd. 1. I. T. 1906. S. 699 ff.
Herzog, M., A contribution to our knowledge of the earliest known
stages of placentation and embryonic development in man. The Americ.
Journ. of Anatomy. Vol. 9. p. 361 ff.
Hubrecht, A. A. W., Die erste Anlage des Hypoblast bei den Säuge-
tieren. Anat. Anz. Bd. 3. 1888. p. 906 ff.
— Die Gastrulation der Wirbeltiere. Anat. Anz. Bd. 26. 1905. p. 353 ff.
Keibel, F., Zur Entwickelungsgeschichte der Chorda bei Säugern. Arch.
f. Anat. u. Phys., Anat. Abt. 1889. p. 329 ff.
— Studien zur Entwickelungsgeschichte des Schweines. Schwalbes
Morphol. Arb. Bd. 3. 1893.
— Die Gastrulation und die Keimblattbildung der Wirbeltiere. Ergebn.
d. Anat. u. Entwickelungsgesch. Bd. 10. 1901. p. 1002 ff.
. — Zur Gastrulationsfrage. Anat. Anz. Bd. 26. 1905. p. 366 ff.
— Die Bildung der Keimblätter und das Gastrulationsproblem. Handb.
d. Entwickelungsgesch. d. Menschen. Herausgeg. von F. Keibel und
Er P. Mall, 12 Bd. 1910, p: 498.
Kupffer, C., Die Gastrulation an den meroblastischen Eiern der Wirbel-
tiere und die Bedeutung des Primitivstreifs. Arch. f. Anat. u. Phys.,
Anat. Abt. 1882. p. 1ff., p. 139 ff. 1884. p. 1ff.
Rückert, J. und Mollier, S., Die erste Entstehung der Gefässe und
des Blutes bei Wirbeltieren. Handb. d. Entwickelungslehre d. Wirbel-
tiere. 1. Bd. I. T. 2. Hälfte. 1906. p. 1019 ff.
Schlater, G., Über die phylogenetische Bedeutung des sogenannten
mittleren Keimblattes. Anat. Anz. Bd. 31. 1907. p. 312ff. p. 321 ff.
— Zur Frage vom Ursprung der Chordaten nebst einigen Bemerkungen
zu den frühesten Stadien der Primaten-Embryogenese. Anat. Anz. Bd. 34-
1909. p. 33 ff.
Citierte Literatur. 183
17. Spee, F. Graf, Beobachtungen an einer menschlichen Keimscheibe mit
offener Medullarrinne und Canalis neurentericus. Arch. f. Anat. u. Phys.,
Anat. Abt. 1889. p. 159 ff.
18. Strahl, H. und Beneke, R., Ein junger menschlicher Embryo. Wies-
baden 1910.
19. Triepel H., Chorda dorsalis und Keimblätter. Anat. Hefte. 1. Abt.
Bd. 50. 1914. p. 499 ff.
20. — Altersbestimmung bei menschlichen Embryonen. Anat. Anz. Bd. 46.
1914. p. 385 ff.
21. — Das Alter menschlicher Embryonen. Berl. klin. Wochenschr. 1914.
Nr. 33.
22. — Alter menschlicher Embryonen und Övulationstermin. Anat. Anz.
Bd. 48. 1915. p. 133 £f.
23. Wilson, J. T., Observations upon young human embryos. Journal of
Anatomy and Physiol. Vol. 48. 1914. p. 315 ff.
24. Rabl, C., Edouard van Beneden und der gegenwärtige Stand der
wichtigsten von ihm behandelten Probleme. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 88.
1915. p. 3.
Erklärung der Abbildungen.
Tafel 9/11.
Die Figuren 1—9 stellen Querschnitte durch den Embryo Dy dar, ge-
zeichnet mit Zeiss Obj. C. Oc. 1. Vergr. 105. Die Lage der Schnitte ergibt
sich aus der Textfigur auf S. 154, in der sie durch die kleinen Teilstriche der
horizontalen Linie angezeigt wird.
Fig. 1. Schnitt 120. Canalis neurentericus, Ectoderm, Entoderm,
Mesoderm.
. Fig. 2. Schnitt 113. Kopffortsatz. Medullarfurche weit. Chordaplatte
mit angedeuteter Chordaabschnürung (?). Ursegmentplatte. Visceraler und
parietaler Mesoblast.
Fig. 3. Schnitt 107. Kopffortsatz. Mesodermursprung aus demselben.
Medullarfurche weit. Chordaplatte. Ursegmentplatte. Gefässbildung. Vis-
ceraler und parietaler Mesoblast.
Fig. 4. Schnitt 126. Primitivstreifen mit Primitivrinne. Hinterer Teil
der Chordaplatte. Mesodermursprung aus dem Primitivstreifen. Visceraler
und parietaler Mesoblast.
Fig. 5. Schnitt 132. Cloakenmembran.
Fig. 6. Schnitt 141. Allantoisgang. Haftstiel mit Mesothelbekleidung.
Blutinseln und Gefässanlagen im Mesoderm.
Fig. 7. Schnitt 67. Medullarfurche eng. Die beiden Mesodermplatten
verbinden sich zwischen Medullarplatte und Entoderm. Gefässanlagen.
Fig. 8. Schnitt 61. Medullarfurche eng. Mesodermursprung aus dem
Ectoderm. Einige Mesodermzellen wachsen zwischen Medullarplatte und Ento-
derm hindurch. Gefässanlagen.
Fig. 9. Schnitt 59. Medullarfurche eng. Mesodermursprung aus dem
Eetoderm. Die beiden Mesodermplatten verbinden sich zwischen Medullar-
platte und Entoderm. Gefässanlagen.
Fig. 10. Eetoderm aus Schnitt 54, dessen Lage aus der Textfigur auf
S. 154 zu ersehen ist. Gezeichnet mit Leitz Obj. 3. Oc. 3. Vergr. 80. Ab-
gebogener Kopfteil der Medullarplatte. Anlagen der Augenblasen. Hypo-
physengang. Die unter diesem Gang liegende grössere helle Stelle entspricht
Erklärung der Abbildungen. 185
einer Vertiefung, die sich von der caudalen Seite her in das Ectoderm ein-
gesenkt hat.
Fig. 11. Ausschnitt aus der Nabelblasenwand in Schnitt 107. Gezeichnet
mit Leitz Obj. 6, Oc. 3. Vergr. 350. Erythrocytenbildung im Mesoderm.
Zeichenerklärung.
a — Augenblasenanlage.
all = Allantoisgang.
ch — Chordaplatte.
cl = Cloakenmembran.
en — Canalis neurentericus.
ect = Ectoderm.
ent — Entoderm.
er — Erythrocyt.
er’ — Erythroblast.
g = Gefässanlage.
h = Haftstiel.
— Hinterer Teil der Chordaplatte.
hy = Hypophysenstiel.
m — Mesoderm, Mesodermzelle.
— Medullarfurche.
pr = Primitivrinne.
us —= Ursegmentplatte.
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AUS DEM PSYCHIATRISCHEN LABORATORIUM DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN.
(DIREKTOR: PROF. A. FRIEDENREICH.)
HISTOLOGISCHE UND EMBRYOLOGISCHE
UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE ZIRBEL-
DRÜSE DES MENSCHEN.
VON
KNUD H. KRABBE,
EFRIVATDUOZENT, OBERARZT AM ST. JOHANNES - KRANKENHAUS
(DIREKTOR: DR. F. VOGELIUS) KOPENHAGEN
Mit 28 Figuren auf den Tafeln 12—26.
Anatomische Hefte I. Abteilung. 163, Heft (54. Bd. H. 2). 13
F.$ Yı & re 4 PL
ce FIR ua #
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R u er
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N
Vorwort
Inhaltsverzeichnis.
Material und Technik
Fetale Entwickelung .
Das Parenchym ß
I.=Die Meiamorpliore
II. Der Bau des Parenchyms ach der Metamorphe
a) Erster Zelltypus: Die Pinealzellen
b) Die kernexkretorischen Vorgänge in den Pinestelien
c) Kernteilungsfiguren der Pinealzellen .
d) Sekretkapillaren . So N
e) Zweiter Zelltypus: Die Gliazellen
f) Dritter Zelltypus: Die Nervenzellen .
Das Bindegewebe .
I. Das Stroma .
11.
IDEE
IV.
Die Bindegew ehekapsel
Quergestreifte Muskulatur
Die Wanderzellen .
a) Die Mastzellen
b) Die Pigmentzellen
c) Andere Zellen
Recessus, Cysten und Gliaflecken
Basalglia .
Die Concremente a:
Biologische Betrachtungen .
Resume
Verzeichnis über des Material
Literaturverzeichnis
Krsurenerklärung y. = 4. 7. v2 0 hosen
13*
Seite
191
193
196
213
213
216
223
228
235
236
238
242
254
254
264
265
266
268
273
273
276
286
287
293
299
305
sll
317
Vorwort.
Im Jahre 1911 haben wir in der „Nouvelle Iconographie
de la Salpetriere‘“ eine kleine Arbeit: „Sur la glande pineale
chez l’homme“ veröffentlicht. Seitdem haben wir Gelegenheit
gehabt eine weit grössere Anzahl von Zirbeldrüsen histologisch
zu untersuchen und dadurch unsere früheren Untersuchungen
ergänzt.
Die Punkte, an denen sowohl unsere, als auch die Unter-
suchungen anderer Verfasser eine Ergänzung bedürfen, sind
folgende:
1. Eine Untersuchung embryologischen Materials.
2. Eine Untersuchung an Materialien von möglichst nor-
malen Menschen in grösserer Menge als bisher vorgenommen
(die meisten Verfasser legen darüber keine Rechenschaft ab,
an welchen Krankheiten ihre Patienten gestorben sind und
welchen Einfluss diese auf die Struktur der Zirbeldrüse haben
können).
3. Ein Vergleich der einzelnen Elemente der Zirbeldrüse
bei Kindern und Erwachsenen in allen verschiedenen Alters-
stufen bis zum höchsten Alter hinauf.
4. Eine Ausdifferenzierung der protoplasmatischen Struk-
turen.
5. Ein Vergleich der Resultate der verschiedenen modernen
Färbe- und Imprägnationsmethoden.
192 KNUD H. KRABBE,
6. Eine Verwertung der verschiedenen biologischen Eigen-
artigkeiten der Zirbeldrüse mit spezieller Rücksicht auf die
Fragen über die Involution, die nervöse Funktion oder innere
Sekretion.
Diese verschiedenen Aufgaben haben wir nach bestem
Vermögen zu lösen gesucht; dazu stand uns 3 Jahre lang
das ungewöhnlich reiche Material des pathologisch-anatomi-
schen Institutes des Kommunehospitales in Kopenhagen zur
Verfügung.
Die Arbeit wurde auf dem Hospice de Bicetre bei Paris
begonnen, auf der Kopenhagener Irrenanstall St. Hans Hospital
fortgesetzt; der grösste Teil ist auf dem psychiatrischen Labora-
torium der Kopenhagener Universität ausgeführt worden.
Denen, die mir auf verschiedener Weise bei meiner Arbeit
behilflich waren, sage ich hiermit meinen besten Dank; es
sind dies: Herr Professor Dr. Pierre Marie, welcher mır
ursprünglich die Idee zur Arbeit gegeben hat; Prof. Gustave
Roussy und Dr. Pierre Ameuille, welche mir beide
anfangs geholfen haben; Dr. Emil Bertelsen, welcher
mich während meiner Arbeit auf dem St. Hans Hospital mit
grosser Liebenswürdigkeit in die modernen Methoden der Hirn-
histologie eingeführt hat; Dr. H. C. Hall und Dr. Otto
\agaard, welche mir mit Mikrophotographieren, Korrektur
und Beschaffung embryologischen Materiales halfen; den Uni-
versitätsprofessoren, welche mir die Bibliotheken ihrer Insti-
tute zur Verfügung stellten; den Direktoren und Prosektoren,
welche mir Material von ihren Abteilungen gegeben haben.
Dieser letztere Dank gilt in erster Linie Direktor Professor
Dr. A. Friedenreich, welcher mir durch mehrere Jahre
hindurch erlaubt hat, am psychiatrischen Laboratorium der
Kopenhagener Universität zu arbeiten.
+
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 193
Material und Technik.
Die Bestimmung des normalen Baues der Zirbeldrüse des
Menschen ist eine Aufgabe, welche verschiedene Schwierig-
keiten darbietet. Diese bestehen teils in den agonalen, teils
in den postmortalen Veränderungen, ferner in Veränderungen,
welche überstandene Krankheiten hervorgerufen haben, und
solche, welche die tödlich verlaufenden Krankheiten hervor-
brachten.
Obgleich man nicht dieselben idealen Forderungen an-das
Material von Menschen wie an das von Tieren machen kann,
ist es doch notwendig, diesem Ungemach soweit möglich zu
begegnen.
Unser Material (siehe Tabelle), welches im ganzen aus
ca. 350 Zirbeldrüsen (dazu ca. 30 Embryonen) bestand, haben
wir später reduziert, so dass wir nur 20 als „normal“ be-
trachtet haben, nämlich solche von Personen, welche schnell
nach Unglücksfällen gestorben sind. Dazu kommt „Normale
Gruppe Il“ von 19 Zirbeldrüsen. Diese rühren von Personen
her, welche an schnell verlaufenden Krankheiten gestorben
sind, Krankheiten, welche wenigstens kaum chronische Ver-
änderungen der Zirbel hervorgebracht haben.
Die dritte Gruppe ist nicht normal. Sie ist nur zum
Vergleich mit den normalen gebraucht worden, um das kon-
stante Vorkommen von. Eigentümlichkeiten, welche bei den
normalen konstatiert worden sind, zu kontrollieren ; sicherheits-
halber haben wir aus dieser Gruppe doch Fälle, welche an
folgenden Krankheiten gelitten haben, ausgeschlossen: Hirn-
krankheiten, Syphilis, hochgradiger Alkoholismus, Blutkrank-
heiten, Zuckerkrankheit, Fettsucht, schwere Herzkrankheit oder
andere Krankheiten, welche wahrscheinlich spezielle Verände-
194 | KNUD H. KRABBE,
rungen in der Zirbeldrüse hervorbringen konnten. Diese
restierenden Fälle sind 27.
Alle die anderen 250 Fälle sind ausgeschlossen, teilweise
zu späteren pathologisch-anatomischen Untersuchungen.
Das brauchbare Material ist also nicht besonders gross
und die Würdigung der Normalität muss trotz allem mit Reserve
vemacht werden.
Däs andere Ungemach waren die postmortellen Verände-
rungen. Diesen haben wir dadurch zu helfen versucht, dass
wir in einer Reihe von Fällen kurz nach dem Tode Injektion
von Fixationsmitteln im Subarachnoidealraum gemacht haben.
Die Injektion ist durch die Nase, durch das Os ethmoidale
gemacht worden; in mehreren Fällen haben wir zugleich
Lumbalpunktion gemacht, damit die Zerebrospinalflüssigkeit
auslaufen konnte und keine schädigende Druckerhöhung eintrat.
Als Injektionsflüssigkeitlen wurden gebraucht: 610% Formal-
dehyd, Formolalkohol, 96% Alkohol und in einzelnen Fällen
Formol-Müllers Flüssigkeit. .
Nach Ausnehmen des Gehirnes wurde die Zirbeldrüse mil
Umgebungen weiter fixiert in 4—10% Formaldehyd, Formol-
alkohol, 96 und 99% Alkohol, Propylalkohol, konz. wässeriges
Sublimat, Sublimatessig und Heidenhains Subtriessig,
Flemmings Flüssigkeit, Müllers und Orths, Golgis
und Cajals Flüssigkeiten.
Nach dem Fixieren wurden die Stücke von Erwachsenen
gewöhnlich in zweı Hälften geteilt und die eine Hälfte mil
510% Essig oder 5% Trichloressig (der Fixationsflüssig-
keit zugesetzt) dekalziniert. Die nicht dekalzinierten Stücke
wurden zur Kontrolle der Wirkung der Dekalzinationsflüssig-
keit mit einem besonders harten, aber natürlich bald schartigen
Mikrotommesser geschnitten.
Von einigen Stücken wurden Gefrierschnitte für Fett-
färbung und Bielschowsky - Imprägnierung angefertigt. Die
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Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 195
anderen wurden durch Xylol in Paraffin eingebettet. Später
wandten wir die Prantersche Einlagerungsmethode durch
Zedernöl und Ligroin an, und benützten statt Paraffin das
Paraffinoid von Claudius. Dieser Stoff schien uns ganz
vorzüglich zu sein, er hatte den Vorzug, dass die Stücke nie
über Körpertemperatur erhitzt wurden und sich doch in
Schnitten von 5 wu schneiden liessen. Celloidin haben wir
nur selten benützt.
Von Färbemethoden haben wir die wesentlichsten ver-
sucht und sind bei den folgenden für die speziellen Zwecke
stehen geblieben:
Für Übersichtsbilder: Hansens Eisentrioxyhämatein und
Pikrofuchsin.
Für Kernstrukturen: Heidenhains Eisenhämatoxylin.
Für die Kernexkretion: Unna-Pappenheims Karbol-
Methylerün-Pyronin.
Für Protoplasmastrukturen: Alzheimers Säurefuchsin-
Liehtgrün und Fieandts Gliafärbung.
Für Nerven- und Gliazellen: Golgis Methode.
Für Nervenfasern: Cajals, Bielschowskys und
Walters Methoden.
Für Gliafasern: Am besten Alzheimers Säurefuchsin-
Lichtgrün, ferner Weigerts Gliafärbung und Heidenhains
Eisenhämatoxylin.
Für Markscheiden: Weigert-Kulschitzky-Wolters
Methode.
Für Bindegewebe: v. Gieson-Hansens Pikrofuchsin
und Mallorys Anilinblau-Phosphormolybdänsäure.
Für die Mastzellen und andere Wanderzellen des Binde-
gewebes: Toluidinblau, Thionin, Dominicis Toluidinblau-
Eosin, Hämatein-Eosin und Karbol-Methylerün-Pyronin samt
Fettfärbung mit Sudan.
196 KNUD H. KRABBE,
Ferner haben wir eine Reihe andere Methoden versucht,
aber ohne besonders gute Resultate zu erzielen.
Fetale Entwickelung.
Während recht ausführliche Untersuchungen über die Ent-
wickelung der Zirbeldrüse bei den niederen Wirbeltieren und
einzelnen Säugetieren vorliegen, haben wir in der Literatur
nur sehr wenig über deren Entwickelung beim Menschen finden
können. Wir zitieren darum ausführlich, was die Verfasser
geschrieben haben.
Bizzozero erwähnt, dass er bei einem Fetus von
5 Monaten Zellen von 9-13 u isoliert hat und diese sind
„eostituite da scarso protoplasma e grasso nucleo, leggermente
ovale o rotondo“.
His schreibt über die Entwickelung:
„Eine Epiphysis des vorderen Zwischenhirndachs ist mir
auch bei einem menschlichen Embryo von 10,5 mm NI. be-
gegnet. Die Deckplatte bildet zu der Zeit eine schmale in
zwei Seitenkanten auslaufende Längsleiste. Nach vorn wird
diese Leiste dreikantig, und die obere unpaare Kante löst sich
eine Strecke weit als selbständiges Anhangsgebilde von ihrem
Boden ab. Als ich dies Verhalten zum ersten Male vor einer
Reihe von Jahren fand, glaubte ich damit die Geschichte der
Zirbel erkannt zu haben, und erst eine sorgfältige Profil-
konstruktion belehrte mich darüber, dass der fragliche Aus-
wuchs dem vorderen Ende des Zwischenhirndaches angehöre.
Das Gebilde scheint sich später in der Adergeflechtfalte zu
verlieren. Die eigentliche Zirbelanlage entwickelt sich beim
menschlichen Embryo erheblich später und nachdem die hintere
DATE
Fr
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 197
Kommissur bereits angelegt ist, durch Emporwölbung des
hinteren Teiles vom Zwischenhirndach .. .
Wir unterscheiden somit Epiphysen des vorderen,
des mittleren und des hinteren Teiles der Zwischenhirndecke.
Für die letzteren kann man wohl zweckmässigerweise den
Namen Zirbel beibehalten.“
Francotte bemerkt ganz kurz, dass er bei einem
Menschenembryo von 12 Wochen eine Paraphyse gefunden
hat; sie gleicht einem unregelmässigen Rohr, welches eine
Höhle im primitiven Falx cerebri bildet, in der Mitte vor
der Lamina terminalis. Das Epiphvsenrohr mündet im dritten
Ventrikel in der Höhe des Foramen Monroi aus.
d’Erchias Beschreibung ist uns nur in Referat zugäng-
lich gewesen; nach Studnicka schreibt er, dass die Zirbel-
drüse bei dem Menschen „gewöhnlicherweise“ angelegt wird,
es wird wahrscheinlicherweise sagen wie eine Ausstülpung
des Daches des dritten Ventrikels.
Marburg hat inkomplette Serien eines 23 und eines
26 cm langen Menschenfetus untersucht. Seine Beschreibung
ist folgende:
„Bei dem ersteren fanden sich radienförmig gestellte Tubuli
um einen ziemlich weiten Recessus pinealis. Diese Tubuli
sind durch Verbindungsbrücken aus Zirbelzellen miteinander
verbunden (Querschnitt). Zwischen die einzelnen freien Tubuli
senkt sich aus der zarten bindegewebigen Kapsel Bindegewebe
zugleich mit Gefässen in das Innere der Drüse. Der Recessus
trägt ein ziemlich hohes Ependym. Bei dem älteren Embryo
liegen die Verhältnisse nahezu gleich. Die Tubuli stehen
dichter, sind gegen das Ende zu kolbig angeschwollen und
was die Hauptsache ist, sie sind vollständig solide, während
bei dem jüngeren Fetus noch gelegentlich ein Lumen sicht-
bar war. Auch das Bindegewebe ist dichter geworden. Die
Zellen zeigen wenig Plasma und sind durchwegs gleich. Am
198 KNUD H. KRABBE,
Querschnitt in der Tiefe der Drüse treten die Tubuli quer-
oetroffen auf und man sieht dann manchmal ein Bindegewebs-
septum, wie von einem Kranz von Drüsenzellen umgeben.
Nirgends zeigt sich auch nur die Spur eines Ausführungs-
ganges der Drüse. Dieses letzte Stadium unterscheidet sich
wenig mehr von der Anordnung der Zellen bei Neugeborenen,
nur dass bei letzterem jede Dehiszenz zwischen den Tubuli
durch dichteres Bindegewebe aufgehoben erscheint und die
einzelnen Tubuli viel mächtiger und zelldichter geworden sind.“
Andere Verfasser, welche die Entwickelung der Zirbel-
drüse erwähnen, speziell Verfasser embryologischer Lehr-
’
bücher basieren ıhre Beschreibung auf His’ Untersuchungen
oder auf Analogien mit der Entwickelung bei anderen Säugern.
Für unsere eigenen Untersuchungen haben uns 15 Men-
schenfeten verschiedenen Alters zur Verfügung gestanden. Alle
die Feten erschienen makroskopisch normal, nicht \maceriert,
in keinem Falle war Grund anzunehmen, dass die Mutter
syphilitisch war.
Die Alter der Feten waren nach Eckers Tabelle aus-
gerechnet.
1 vom Beginn des 2. Monats,
1 von der Mitte des 2. Monats,
3 von der Mitte des 3. Monats,
1 vom Beginn des 4. Monats,
2 vom Beginn des 5. Monats,
1 von. der Mitte des 5. Monats,
il vom Ende des 5. Monats,
2 vom Beginn des 6. Monats,
1 vom Ende des 7. Monats,
1 vom Ende des 8. Monats,
1 vom Ende des 9. Monats.
Die Feten bzw. ihre Gehirne wurden alle sagittal ge-
schnitten, wei! man hierdurch am leichtesten die Anlage der
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 199
Zirbeldrüse findet. Bei älteren Feten wie auch bei Kindern
und Erwachsenen ist die Zirbeldrüse leicht zu finden und
zu erkennen. Bei jüngeren Feten erkennt man, wieviel der
Gehirnanlage der Zirbeldrüse gehört dadurch, dass man jeden
Fetus mit einem etwas älteren vergleicht. Als Ausgangspunkt!
kann man am besten die Anlage der hinteren Commissur
brauchen.
Die hintere Commissur sieht man schon bei einem Fetus
des zweiten Monats am Saeittalschnitte an der Grenze der
zweiten und dritten Hirnblase (Fig. 22A,c). Man sieht, wie
sie aus zwei Schichten besteht, einer Innerkappe und einem
Myelospongium. Schon in der Mitte des zweiten Monats hat
diese Anlage sich in sagittaler Richtung in Verhältnis zu dem
übrigen Gehirne (Fig. 22B,c) etwas verkürzt. In der Mitte des
dritten Monats hat sie sich äusserlich relativ verkürzt und
ferner etwas gekrümmt (Fig. 22C, ce).
Dass die Bildung, welche man an Fig. 22€ vor der hinteren
Commissur sieht, die Anlage der Zirbeldrüse ist, darüber
herrscht kein Zweifel. Die Entwickelung der äusseren Form
kann man in grösseren Dimensionen an Figg. 2—5 verfolgen.
Es scheint dann auch unzweifelhaft zu sein, dass die Bildung,
welche man an Fig. 22B bzw. Fig. 1 eben vor der hinteren
Commissur sieht, die Anlage der Zirbeldrüse in der Mitte
des zweiten Monats ist. Und weiter scheint es uns ganz über-
wiegend wahrscheinlich, dass die Bildung, welche man an
Fig. 22A bzw. Fig. 21 vor der hinteren Commissur sieht, auch
die Anlage der Zirbeldrüse ist.
Wir meinen also, dass die erste Anlage der Zirbeldrüse
beim Menschen schon von Anfang des zweiten Fetalmonats
beginnt und dass His darin unrecht hat, dass die eigentliche
Zirbelanlage sich erheblich später entwickelt. Eine andere
Frage ist es, wie es sich mit His’ vorderer Epiphyse ver-
hält. Vielleicht gibt es eine solche, welche wieder verschwindet.
200 KNUD H. KRABBE,
His’ jüngster Embryo war ja 10,55 mm, während der unsrige
15 mm war. Aber wir meinen auch, dass die Möglichkeit vor-
handen ist, dass His’ vordere Epiphyse die eigentliche Zirbel-
anlage ist, dass er es aber nicht als solche erkannt ;hat,
weil man an seinen Figuren nicht das Myelonspongium der
Commissura posterior erkennt und darum glaubt, dass die
Zirbelanlage so weit nach vorne liegt.
Die nächste Frage ist die, wie grosser Teil ‘der Bildung.
welche vor der hinteren Commissur liegt, der Anlage der Zirbel-
drüse zuzurechnen ist. Auch dieses wird man erkennen, wenn
man den Figg. 1--5 rückgehend folgt und Fig. 21 damit ver-
eleicht. Man sieht dann, dass die erste Anlage der Zirbel-
drüse nicht nur eine Ausstülpung des Hirndaches ist, dass
es aber diese Ausstülpung und eine Zellenmasse, welche un-
mittelbar vor der Ausstülpung liegt, ist. Während der ersten
Monate sind diese zwei Anlagen etwas voneinander getrennt,
aber im Verlaufe des Fetallebens schmelzen sie völlig zu-
sammen und bilden die Zirbeldrüse. Wir wollen hinzufügen,
dass weder ein Teil dieser zwei Anlagen, noch ein Teil der
vor den Anlagen liegenden Partie des Hirndaches sich zu
einer Paraphyse oder einem Parietalauge zu entwickeln scheint.
Der Befund Marburgs einer Bildung bei Kindern, welche
er wie ein rudimentäres Parietalauge auffasst, scheint darum
eine eigentümliche Variation zu sein (welche wir übrigens bei
Kindern nie gefunden haben).
Die Wand der Ausstülpung des Hirndaches, welche den
hinteren Teil der Zirbelanlage bildet, nennen wir die hin-
tere Pinealanlage, die Ausstülpung selbst Diverti-
culum pineale und die Zellenmasse, welche den vorderen
Teil bildet, die vordere Pinealanlage.
Während der Entwickelung durch das ganze Fetalleben
oeht die Zellteilung überall durch Mitosen, nie durch Ami-
tosen vor sich. Man sieht an allen Präparaten zahlreiche
mitotische Kernteilungsfiguren.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen.
201
Wir werden jetzt mehr detailliert den Bau der Zirbel-
drüsenanlage auf den verschiedenen Altersstufen der Feten
beschreiben.
Der jüngste unserer Feten war 11/, em lang und stammte
also vom Beginn des zweiten Monats. Er wurde ın
kontinuierliche sagittale Serienschnitte geschnitten und auf
Fig. 21 sind Partien des Daches der zweiten Hirnblase von
16 der meist medialen abgebildet. Fig. 21H, welche die an-
scheinend meist mediale vorstellt, ist etwas mehr detailliert
eezeichnet, die anderen sind etwas schematisiert; die schwarzen
Partien entsprechen den mehr kernreichen Teilen, während die
hellen Partien protoplasmatisch sind, mit wenigen, zerstreuten
Kernen. Die schwarzen Partien entsprechen a!so wesentlich
der Hirnblase selbst, während die hellen grösstenteils das
mesodermale Gewebe repräsentieren.
In den mittelsten der Schnitte (Fig. 21E—L) sieht man,
wie die Hirnblase eine kleine flache Ausstülpung (d) hat;
diese Ausstülpung ist die erste Anlage des Diverticulum pineale,
welche also noch sehr flach ist. Die Wand der Ausstülpung
besteht aus Zellen, welche im ganzen den Zellen des übrigen
Teiles des Hirndaches gleichen; sie haben Kerne, welche rund-
lich, eiwas oval sind mit der Längsachse radiär gestellt; das
Protoplasma ist sparsam im Verhältnis zu den Kernen, nur
gegen die Innenfläche der Wand ist es reichlicher und zeigt
hier eine feine radiäre Längsstreifung.
An der äusseren Seite der vorderen Wand der Ausstülpung
findet sich eine kleine Zellmasse (Figg. 21G und 21H, b), welche
die vordere Pinealanlage repräsentiert. Die Zellmasse hängt
zu beiden Seiten der Medianebene mit der Divertikelwand
zusammen, aber in der Medianebene ist sie durch eine proto-
plasmatische Masse davon getrennt.
Die vordere Pinealanlage besteht aus Zellen, welche auch
die der Hirnwand gleichen: sie haben runde Kerne und ein
202 KNUD H. KRABBE,
sparsames Protoplasma, SO dass die Kerne dicht beieinander
liegen; nur im Zentrum der Anlage findet sich eine kleine
rein protoplasmatische Partie.
Die vordere Pinealanlage bildet eine Verdickung der Wand
der Hirnblase. Und obgleich die mesodermale Umgebung auch
hier etwas ausgebuchtet ist, liegt doch die vordere Pineal-
anlage bei dem Ectoderm näher als diejenigen Teile der Hirn-
blase, welche hinter und davor liegen. Es deutet aber nichts
darauf, dass die Pinealanlage direkten Zusammenhang mil
dem Eetoderm hat. Untersuchungen an anderen Säugern (Spez.
von Neumfayer) deuten auch darauf, dass der vordere
Neuroporus weit vor der Zirbelanlage liegt.
Der nächste Fetus war ca. 2 cm lang und war also
von der Mitte des zweiten Monats. Er wurde genau
sagittal in kontinuierlichen Serien geschnitten. Ca. 30 von
den 10 u dicken Schnitten enthielten Teile der Anlage der
Zirbeldrüse, welche also auf diesem Stadium eine Breite von
0,3 mm hatten. {
Das Diverticulum pineale (Fig. 1d) ist auf diesem Prä-
parat 135 u tief und seine vordere und hintere Wand bilden
miteinander einen Winkel von ca. 90%. Die Struktur der Wände
ist die folgende:
Sie bestehen aus einem mehrreihigen (ca. 4reihigen)
Ependym. Die Kerne sind oval mit der Längenachse senk-
recht an der Oberfläche. Die Menge des Protoplasmas_ ist
sparsam im Verhältnis zu derjenigen der Kerne. Während das
Ependym der Anlage der hinteren Commissur ein recht dickes
Protoplasma gegen die ventriculäre Fläche bildet, ist dieses
mit dem Divertikelependym nicht der Fall. Die Kerne liegen
hier dicht an der ventrieulären Fläche. Das Protoplasma hat
eine feine Längestreifung; gegen die ventriculäre Fläche ist
es crustaartig verdichtet und es scheint zu einer Cuticula
verdichtet zu sein. Dagegen kann man auf diesem Präparate
1 FE
ku er
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 203
weder Kittlisten noch Flimmerhaare wie an dem folgenden
erkennen.
An der vorderen Wand des Divertikels sitzt die vordere
Pinealanlage wie ein Pilz auf einem Baumstamme (Fig. 1b).
Sie hat eine Höhe von ca. 100 u und streckt sich ca. 250 u
von der Divertikelwand hinaus. Sie besteht aus ganz gleich-
artigen Zellen, welche denen der hinteren Pinealanlage gleichen ;
doch sind die Kerne nicht oval, sondern kugelrund, ca. 6 u
im Durchmesser. Die vordere Pinealanlage ist völlig homogen,
zeigt keine zentrale Protoplasmamasse, keine Gefässe und
keine tubulöse oder alveoläre Anordnung der Zellen.
Von der Mitte des dritten Monats haben wir drei
Feten, von welchen der eine ein bisschen weniger entwickelt
als die zwei anderen zu sein scheint (in Fig. 22C abgebildet).
Von einem der zwei anderen ist die Zirbelanlage in Fig. 2 abge-
bildet. Die Schnittrichtung ist hier ein wenig schief gewesen,
so dass man an der Figur vor der vorderen Pinealanlage
nicht wie an Fig. 22C das dünne Dach der Mittellinie der
zweiten Hirnblase, sondern die dickere Anlage des Thalamus
sieht.
Der Bau der zwei Pinealanlagen ist hier folgender:
Das Diverticulum pineale ist jetzt eine tiefe schmale
Spalte, deren Wände glatt sind und nur in der Tiefe ganz
kleine Einbuchtungen zeigen. Die Richtung des Divertikels
ist beinahe senkrecht auf die Achse der Hirnhöhle. Die hintere
Pinealanlage besteht aus einer vorderen und hinteren Wand
des Divertikels. Die hintere Wand ist auf einer kleinen Strecke
mit dem Myelospongium der hinteren Commissur in Berüh-
rung, distal von dieser wird sie frei, und der übrige Teil der
hinteren Anlage steht durch ihre äussere Fläche (die Pialfläche)
nur mil den (Gefässen und dem Bindegewebe, welche sich
zu Pia entwickelt, in Berührung. Doch ist wieder ein kleines
Anatomis-he Hefte. I. Abteilung. 63. Heft (54. Bd. H. 2). 14
204 KNUD H. KRABBE,
Stück der vorderen Divertikelwand mit dem Myelospongium
der Commissura habenularum in Berührung.
Die Wände des Divertikels, welche nach hinten mit dem
Innenmantel der hinteren Commissur, nach vorne mit dem
Innenmantel der Commissura habenularum zusammenhängt,
haben bei dem einen dieser 3 Feten (der jüngste) überall
dieselbe Dicke. Bei den zwei anderen dagegen sieht man
auf der pialen Fläche mehrere kissenförmige Ausstülpungen
(Fig. 2u). Zwischen diesen und ‘der eigentlichen Divertikel-
wand finden sich einige Capillaren, welche mit den Pia-
gelässen Zusammenhang haben (nicht abgebildet).
Die vordere Pineatanlage (Fig. 2b) ıst bei diesen Feten
eine Zellmasse, welche am ehesten die Form einer phrygischen
Mütze hat. Nach hinten berührt sie auf einer kleinen Strecke
die vordere Divertikelwand, ist aber übrigens grösstenteils von
dieser durch eine tiefe bindegewebige und gefässgelüllte Spalte
getrennt. Die basale Fläche der vorderen Pinealanlage ruht
auf dem Myelospongium der Commissura habenularum ;
übrigens ragt sie frei zwischen den pialen (refässen hinaus.
Von diesen Gefässen drängen sich einzelne Capillaren in die
Zellmasse.
Vor der Commissura habenularum setzt der Innenmantel
sich fort wie ein einschichtiges Ependym, welches etwas ge-
faltet ist, aber noch keine grösseren Ausbuchtungen zeigt,
welche die Anlage des Recessus suprapinealis oder der Para-
physe zu sein scheint.
Die Zellen, aus welchen die Zirbelanlage besteht, zeigen
auch jetzt zwei verschiedene Typen. Der eine Typus zeigt
alle die Zellen, aus welchen die vordere Pinealanlage und
die kissenförmigen Alusbuchtungen der hinteren Pinealanlage
zusammengesetzt sind. Sie sind wie die Zellen der Zirbel-
anlage aus dem 2. Monat gleichartig und regelmässig ver-
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 205
teilt, haben kugelrunde Kerne und ein sparsames Protoplasma,
welche keine besonderen Strukturverhältnisse zeigen.
Der andere Zelltypus bildet die Hauptmasse der Divertikel-
wände. Diese bestehen aus einem mehrreihigen (2—5 reihigen),
aber vielleicht doch einschichtigen Ependym, das von läng-
lichen Zellen zusammengesetzt ist. Die Zellen haben ovale
Kerne, deren Längsrichtung (wie die der Zellen) senkrecht
auf der ventrieulären Oberfläche steht. Das Chromatin der
Kerne färbt sich durch Hansens Eisenhämatein in allen,
Kernen oleichartig; durch Heidenhains Hämatoxylın färben
sie sich etwas verschieden, einige heller, mit zerstreuten Chro-
matingranula, andere dunkler. Als Vergleich soll angeführt
werden, dass auf den letzten Präparaten sich die Kerne des
einschichtigen Ependyms am Dach des dritten Ventrikels alle
tief schwarz färbten. Im Gegensatz zu den Zellen der vorderen
Pinealanlage besitzen diese Zellen ein reichliches Protoplasma,
welches wesentlich an der ventriculären Seite der Kerne ge-
lagert ist, so dass die innere Reihe der Kerne von der ventri-
culären Oberfläche ein wenig entfernt liegt. Diese Protoplasma-
masse zeigt eine feine Längsstreifung, welche teilweise den
Zellerenzen zu entsprechen scheint. Gegen die ventriculäre
Oberfläche hin zeigt das Protoplasma eine crustaartige Ver-
dichtung und es ist mit einer Cuticula bedeckt. Bei den Zu-
sammenstosslinien der Zellen in der Cutieula sieht man Kitt-
leisten, welche ein Netz mit 6-eckigen Maschen bildet. In der
Mitte der Cutiecula jeder Zelle sitzt ein Flimmersaum (Fig. 21),
welcher an den Präparaten jedoch gewöhnlich etwas verkrüppelt
erscheint.
Die Grenze zwischen diesen prismalischen Zellen der
Divertikelwand und den Zellen der kissenförmigen Auswuche-
rungen ist nicht scharf, doch ist im Grenzgebiete etwas reich-
licher Protoplasma als zwischen den Kernen der Ausstülpungen
angehäuft. Die Grenze zwischen der vorderen Pinealanlage und
14*
r
206 KNUD H. KRABBE,
dem darunter liegenden Myelospongium der Commissura habe-
nularum zeigt sich schärfer, indem das Protoplasma sich in
der Zirbelanlage dunkler färbt als die protoplasmatische Masse
des Myelospongiums. Dagegen ıst die Divertikelwand gar nicht
vom Innenmantel der beiden Commissuren abgegrenzt, geht
aber ganz schlicht in diese über.
Wenn man im grossen und ganzen das Aussehen der
Zirbelanlage vom 3. Monat mit derselben vom 2. Monat ver-
gleicht, sieht man, dass folgendes geschehen ist: Die An-
lage hat sich im ganzen vergrössert. Das Divertikel ist tiefer
und relativ schmäler geworden; seine Wand hat sich ver-
diekt. Es ist hierdurch eine tiefe Spalte zwischen der vorderen
und der hinteren Pinealanlage entstanden. Bei der Entwicke-
lung des Myelospongium der Commissura habenularum ist
die vordere Pinealanlage von dem Ependym weggeschoben
worden und diese Anlage hat ein spitzes mützenförmiges Aus-
sehen angenommen. Es hat eine Vascularisation der Zirbel-
anlage begonnen.
Bei einem Fetus vom Beginn des 4. Monats (Fig. 3)
haben die Anlagen sich äusserlich geändert. Die Anzahl der
Zellen hat sich vermehrt und die Grösse der Anlagen hat
darum im ganzen zugenommen.
Das Diverticulum pineale, welches jetzt eine Tiefe von
1 mm hat, ist breiter in der Tiefe als am Eingang sowohl
in frontaler als auch in sagittaler Richtung. Das Divertikel
ist etwas nach hinten gerichtet im Verhältnis zu dem Aquae-
duetus Sylvii. Die bemerkenswerteste Veränderung ist übrigens
die, dass die kissenförmigen Auswucherungen sich jetzt zu
einem ganzen Aussenmantel (Fig. 3a) entwickelt hat, ebenso
dick wie die eigentliche Divertikelwand. Zwischen dem Aussen-
mantel und der Divertikelwand befinden sich eine Reihe von
(refässen, dementsprechend sieht man kleine Ausbuchtungen
sowohl der Divertikelwand als auch des Aussenmantels.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 207
Die vordere Pinealanlage hat sich vergrössert und ist
stärker vascularisiert, hat aber weder ihre Form noch ihre
Verhältnisse zu der Umgebung verändert.
Das Aussehen und die Anordnung. der einzelnen Zellen
hat auch nicht wesentlich gewechselt. Im Aussenmantel der
hinteren Pinealanlage sind die Zellen auch gleichartig und
zeigen keine tubulöse oder alveoläre Anordnung. Nur gegen
die Oberfläche und gegen die Gefässe hin zeigen sie eine
regelmässige Anordnung.
Die nächste Umgebung der Zirbelanlage zeigt indessen
eine charakteristische Veränderung, indem das einschichtige
Dach des dritten Ventrikels vor der Zirbelanlage eine Aus-
stülpung bildet, welche die erste Anlage des Recessus supra-
pinealis ist. Dieser Recess streckt sich weiter rückwärts als
derjenige der Pinealanlage, und die Wand des Recessus, welche
am nächsten bei der vorderen Pinealanlage liegt, ist nur
durch eine dünne Gefäss- und Bindegewebsschicht von dieser
getrennt.
Am Fetus vom Beginn des 5. Monats (Fig. 4) begann
die vordere und hintere Pinealanlage zuzuverschmelzen. Im
medialen Sagittalplan hat jetzt die gesammelte Zirbeldrüsen-
anlage dieselbe Form wie ein Längenschnilt durch einen Zapfen,
in welchen sich ın der Nähe der Spitze ein bindegewebiges
Septum hineinschneidet, welches die Grenze zwischen der vor-
deren und der hinteren Pinealanlage bildet. Die Richtung
dieses Zapfens ist im Verhältnis zu dem Aquaeductus Sylvii
von vorne nach hinten, so dass die Achse des Zapfens bei-
nahe mit dem Aquaeduct parallel ist. Die vordere Pineal-
anlage, welche noch die grössere Masse der gesamten Zirbel-
anlage einnimmt, hat nicht länger die charakteristische Form
einer phrygischen Mütze. Das Myelospongium der Commissura
habenularum sendet eine dünne eylinderförmige Verlängerung
208 KNUD H. KRABBE,
in die vordere Anlage herauf (Fig. 4b). Der Cylinder ist schräg
vetroffen, so dass er sich wie eine Insel präsentiert.
Die äussere Oberfläche ist nicht mehr so glatt wie bei
den jüngeren Feten. Besonders bei den Eintrittsstellen der
(Gefässe, welche jetzt stärker entwickelt sind, sieht man kleine
Einbuchtungen.
Das Diverticulum pineale reicht noch tief hinein, bei-
nahe bis zur Spitze der Anlage. In der Tiefe ist es breit und
taschenförmig, bei dem Eingang bildet es nur einen ganz
schmalen Kanal. Es hat wie die gesammelte Zirbelanlage die
Richtung von vorne nach hinten.
Die Hauptmasse der Zellen, aus welchen die zwei Anlagen
bestehen, haben sich nicht weiter verändert. Sie bestehen
immer noch aus etwas sparsamem Protoplasma und runden
oder ovalen Kernen; es scheint jedoch nun eine etwas grössere
Variation im Chromatingehalt vorhanden zu sein, so dass
einige sich etwas dunkler, andere etwas heller färben. Die
Zellen sind stets ebenmässig verteilt, aber ohne bestimmte
alveoläre oder tubulöse Anordnung; nur gegen die Oberfläche
hin stehen sie in mehr regelmässigen Reihen geordnet.
Die Zellen in der Wand des Diverticulum pineale haben
sich indessen etwas differenziert. Am Eingange des Divertikels
sind die Kerne schmäler als früher: sie stehen in mehreren
Reihen. Das Protoplasma ist ferner fein längsgestreift. Im
übrigen Teile der Divertikelwand haben die Zellen denselben
Charakter, wie in der Hauptmasse der Zirbelanlage angenommen
wurde: sie haben runde oder ein wenig ovale Kerne, welche
in einer regelmässigen Reihe dicht unter der Oberfläche ge-
ordnet stehen.
Der Recessus suprapinealis konnte auf diesem Präparat
nicht untersucht werden, da er sich bei der Präparation los-
gerissen hatte.
Bei den zwei Feten vom Beginndes6. Monats (Fig. 5)
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 209
war die gesamte Zirbelanlage ca. 2 mm lang. Die Ver-
schmelzung der beiden Anlagen ist weiter fortgeschritten, die
bindegewebige Spalte besteht noch. Die Zapfenform ist am
Sagittalschnitt noch mehr ausgeprägt, die Richtung stets wie
im übrigen Teil des Fetallebens und auch bei Kindern und
Erwachsenen von vorne nach hinten. Die äussere Oberfläche
ist bei dem einen Fetus (Fig. 5) ein wenig gebuchtet, bei
dem anderen sieht man dagegen eine ausserordentliche Buch-
tung der Oberfläche, so dass bindegewebegefüllte Einkerbungen
zwischen kleine halbinselförmige Ausbuchtungen der Zirbel-
anlage hineinschneiden; man bekommt dadurch ein Bild,
welches der Abbildung Marburgs (l. c. Fig. 2) einiger-
massen gleicht. Wir glauben indessen, dass es nicht richtig
ist, die Struktur als tubulös zu bezeichnen; die halbinsel-
förmigen Ausbuchtungen zeigen keine tubulöse Anordnung der
Zellen.
Das Diverticulum pineale hat jetzt eine charakteristische
Veränderung durchgemacht, indem es in der mittleren Partie
abgeschlossen ist. Hierdurch wird eine kleine Höhle (Fig. 5g)
abgeschlossen, und diese wird durch eine Parenchymmasse
von dem inneren Teile des Divertikels, welches Recessus
pinealis genannt ist, getrennt. Sowohl die Höhle als auch
der Recess bestehen, wie wir es später sehen, gewöhnlich
bei Kindern und Erwachsenen. Im folgenden sprechen wir
darum nicht mehr von einem Diverticulum pineale, sondern
von einem Recessus pinealis und einem Cavum pineale.
Die Vascularisation der Zirbelanlage ist weiter fortge-
schritten, dagegen sieht man ‚um die Gefässe herum kein Binde-
gewebe, mit Ausnahme der Spalte zwischen den Anlagen und
den kleinen Einbuchtungen der Oberfläche.
Die Zellen der beiden Anlagen sind nicht mehr so gleich-
artig wie früher; teils zeigen sie noch stärkere Variationen
des Chromatingehaltes der Kerne als im vorigen Präparate,
210 1 KNUD H. KRABBE,
teils beeinnt man einige Unterschiede in der Form der Kerne
erkennen zu können.
Die Hauptmasse der Kerne ist zwar immer rund oder
etwas länglich ; aber zwischen diesen sieht man einzelne, welche
eine mehr dreieckige Form haben und wahrscheinlich Vor-
stadien der später erwähnten Nervenzellen sind. Das Proto-
plasma ist sparsam im Verhältnis zu den Kernen und zeigt
keine besonderen Strukturverhältnisse.
Neben dieser beginnenden Differenzierung der Kerne sieht
man eine andere Veränderung der Zellen, indem diese sich
fleckenweise etwas verändert haben; dieses ist aber der An-
fang eines Prozesses, welcher im Laufe der folgenden 9 Monate
vor sich geht und im folgenden Kapitel beschrieben werden
soli unter dem Namen: Die Metamorphose.
Die Zellen sind wie in den früheren Stadien im wesent-
lichen regelmässig verteilt ohne besondere tubulöse oder alveo-
läre Anordnung; nur entlang der Oberfläche und der Ge-
fässe liegen die Zellen regelmässig und schnurgerade.
Die Zellenbekleidung des Cavum pineale und des Re-
cesses entsprechen dem, was wir im vorigen Präparate am
Diverticulum pineale sahen. Die Zellen, welche die Wand
des Cavum pineale bekleiden, haben ganz dasselbe Aussehen
wie die Zellen mit rundlichen Kernen im übrigen Teile der
Zirbelanlage. Dasselbe gilt von den Zellen am Boden des
Recesses. Am Eingange des Recesses sind aber die Zellen
eylindrisch mit langen Kernen in zwei oder mehreren Reihen.
Der Recessus suprapinealis reicht nicht ganz bis zur Spitze
der Zirbelanlage. Seine untere Wand ist von der Anlage durch
eine dünne Schicht von Bindegewebe getrennt.
Von dem Felus vom 7. Monat haben wir nicht komplette
Serien, sondern nur eine kleine Reihe (ca. 40) von Schnitten
aus der einen Hälfte.
Kndacıe
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2) Tafel 15.
PG
Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Band H. 2). Tafel 16.
_Kgl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg, Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 211
Die Form der Zirbelanlage ist beinahe dieselbe wie bei
dem vorigen Fetus, die Masse ist im ganzen etwas vergrössert.
Vom Bindegewebeseptum ist auf diesen Präparaten keine Spur
zu sehen, vielleicht weil wir nur Bruchstücke der Zirbelanlage
haben (an den zwei Feten vom 8. und 9. Monat ist es deut-
lich zu sehen).
Dagegen sieht man gut sowohl den Recess als auch eine
Höhle, welche ohne Zweifel ein abgeschlossenes Cavum pineale
ist. Die Wände: dieser Höhle sind weit mehr gebuchtet als
beim vorigen Fetus, und man sieht an den Präparaten einzelne
dünne Stränge, welche die Höhle durchkreuzen; wahrschein-
lich sind diese Stränge nur Falten der Wand. Das Innere
der Höhle ist teils von etwas albuminöser Substanz gefüllt,
teils finden sich darin freiliegende Zellen, deren Kerne der-
jenigen der Zirbelanlage gleichen, obgleich etwas unregel-
mässiger und etwas gebuchtet und deren Protoplasma gross,
etwas schwammig und oft vascularisiert ist. Diese Zellen sind
wahrscheinlich einige der Zellen, welche die Wand der Höhle
bilden, welche abgestossen und später degeneriert sind.
Die Zellen, welche die Zirbelanlage bilden, gleichen im
wesentlichen den Zellen des vorigen Fetus; man sieht auch
hier einzelne, deren Kerne mehr dreieckig sind. Die Meta-
morphose ist hier weiter fortgeschritten. Die Anordnung
der Zellen ist in den Grundzügen dieselbe. Aber die Zirbel-
anlage ist jetzt viel stärker vascularisiert und dieses prägt
das Aussehen; indem die Zellen gewöhnlich gegen die Gefässe
in schnurgeraden Reihen gestellt sind, bekommen einige Partien
(dadurch ein charakteristisches Aussehen, dass man die langen,
beinahe perlschnurähnlichen Reihen von Kernen sieht; wo
mehrere (Grefässe zusammenstossen, können die Kerne ring-
[örmig geordnet liegen. Dieses bewirkt, dass die Anlage in
einzelnen Partien einen anscheinend alveolären Bau bekommt.
Von einem wahren alveolären Bau kann jedoch nicht die
Rede sein.
212 KNUD H. KRABBE,
Von dem Fetus im 8. Monat haben wir beinahe die
sanze Zirbelanlage in Serien geschnitten. Die Form und Grösse
sind gegen das vorige Monat nicht wesentlich geändert. Das
Septum ist sehr gross und geht tief in die Substanz herein.
Dagegen ist kein Cavum pineale vorhanden, das Diverticulum
muss in der Tiefe ganz geschlossen sein. Die Metamorphose
ist nicht sehr hervortretend. Dagegen ist die Zirbelanlage stark
vascularisiert, so dass der pseudoalveoläre Bau deutlich her-
vortritt. Die einzelnen Zellen zeigen keine besonderen Ver-
hälfnisse, man sieht zwischen den vielen rundlichen einzelne
eckige Formen.
Den Recessus suprapinealis sieh man schön, er zeigt
aber im ganzen dieselben Verhältnisse wie an Präparate vom
6. Fetalmonat. |
Der letzte Fetus, welcher vom 9. Monat ist, ist komplett
in Serien geschnitten. Die Länge der Zirbelanlage ist ca.
2!/, mm, die Breite in sagittaler Richtung ca. 2 mm. Die Form
der gesamten Anlage ist nicht so kegelförmig wie bei den
vorigen Präparaten, sondern mehr eiförmig. Es ist jedoch
wahrscheinlich, dass dieses eine Variation und nicht eine
charakteristische Entwickelungsstufe ist. Man muss sich er-
innern, dass auch bei Kindern und Erwachsenen die Form
der Zirbeldrüse zwischen Kegel- und Eiform variieren kann.
Vom ‚Septum, welches die zwei Pinealanlagen getrennt
hat, ist nur eine kleine Spur zurück. Der Recessus pinealis
reicht hier kaum bis zur Zirbelanlage selbst. Die Zellen, welche
den Recess bekleiden, sind wie schon in den ersten Fetal-
monaten prismatisch und mit Cuticula, Kittlisten und Flimmer-
haaren versehen. Vom Cavum pineale ist nur an zwei deı
Präparate eine ganz kleine Höhle zu sehen.
Die Zellen der Zirbelanlage zeigen indessen einige Eigen-
artigkeiten, welche jedoch wahrscheinlich nur eine eigentüm-
liche Variation (verspätete Entwickelung?) sind. Alle Zellen
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 213
sind nämlich gleichartig, man sieht keine eckigen Formen.
Die Verteilung ist auch mehr ebenmässig, die Reihestellung
gegen die Gefässe nicht so ausgeprägt, So dass man an keinen
Stellen einen pseudoalveolären Bau sieht. Auch sieht man
nicht Zeichen von Anfängen der Metamorphose, kurz, die ganze
Zirbelanlage zeigt einen auffallenden homogenen Bau.
Der Recessus suprapinealis ist tief und reicht am Ende
der Zirbelanlage vorüber. Es ist zu bemerken, dass einige
der Chorioidealzotten im Recess eigenartige, anscheinend de-
generative Änderungen zeigen.
Das Parenchym.
Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ist die
Zirbeldrüse ein ausserordentlich zusammengesetztes Organ.
Man kann darin Bindegewebe, (refässe, Kalkconeremente,
Knoten aus fibrillärer Glia und cystische Höhlen finden. Die
Hauptmasse des Organes ist aber von diesen Elementen ver-
schieden. Sie besteht aus den Bildungen, die von den im
vorigen Abschnitte beschriebenen Zellenmassen abgeleitet sind
und die man das Parenchym der Zirbeldrüse benennt.
I. Die Metamorphose.
Wie im vorigen Abschnitte erwähnt, beginnen einige der
Zellkerne gewöhnlich im 6. Fetalmonat ihr Aussehen zu
ändern, so dass wir ausser den gewöhnlichen runden Kernen
auch einige mehr eckige finden.
Aber beinahe zur selben Zeit beginnt ein anderer Prozess
im Organe, welcher nicht gewisse zerstreute Zellen ändert,
sondern von bestimmten Ausgangspunkten fortschreitet, bis das
214 KNUD H. KRABBE,
eanze Organ nach Verlauf eines Jahres geändert ist. Diesen
Prozess nennen wir die Metamorphose.
Das beste Verständnis für den Prozess erlangt man durch
Betrachtung eines Bildes wie Fig. 23, welches ein Stück des
Parenchyms der Drüse eines 14 Tage alten Kindes darstellt.
Man sieht an demselben, wie das Parenchym aus helleren
und dunkleren Partien zusammengesetzt ist. Die helleren
Partien sind gewöhnlich fleckenförmig, während die dunkleren
die hellen ringförmig umgeben.
Wenn man eine Reihe von Präparaten von Feten nach
dem 6. Fetalmonat und von Kindern bis zum 8. Lebensmonat
untersucht, sieht man, dass beinahe bei allen diesen das
Parenchym der Zirbeldrüse aus solchen hellen fleckenförmig
und dunkeln ringlörmigen Partien zusammengesetzt ist. Bei
den Feten ist die Menge der dunkeln Partien die grössere,
die der hellen Flecken nur klein. Je älter die Feten bzw.
die Kinder sind, desto erösser sind die hellen Partien, und
desto kleiner die dunkeln, so dass man bei Kindern von
S Monaten nur kleine dunkle Stäbchen sieht und bei älteren
Kindern gar kein dunkles Parenchym trifft.
Daraus dürfen wir schliessen, dass das dunkle Parenchym,
welches wir das Proparenchym nennen, später in das eigent-
liche helle Parenchym übergeht und sich schliesslich völlig
in dasselbe umwandelt; und ferner dass dieser Prozess in
bestimmten zerstreuten Zentren beginnt und sich von ihnen
aus konzentrisch ausbreitet, in der Art, dass die Flecken um
(die Zentren je länger desto mehr zusammenfliessen.
Bei den Feten, die jünger als 6 Monate sind, und bisweilen
auch bei älteren Feten, bestehen die zwei Pinealanlagen aus-
schliesslich aus Proparenchym.
Die Gefässe des Organes finden sich sowohl im Pro-
parenchym als auch im Parenchym; der Prozess scheint also
im ganzen keine bestimmte Beziehung zu den Gefässen zu
haben.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über dd. Zirbeldrüse d. Menschen. 215
Betrachten wir die einzelnen Zellen, aus welchen das
Parenchym bzw. das Proparenchym zusammengeselzi ist, näher,
dann sehen wir, dass die verschiedenen Zelltypen des Pro-
parenchyms sich auch im Parenchym finden; hier zeigen sie
ausser dem charakteristischen Unterschied der Form auch
einen charakteristischen Unterschied in der Farbenintensität
der Kerne und in dem Protoplasma, und auf die Weise er-
halten wir drei Zelltypen des Parenchyms, welche wir ım
nächsten Abschnitte näher beschreiben werden.
Was aber die Zellen des Parenchyms von denen des Pro
parenchyms unterscheidet, ist folgendes: 1. dass die Kerne
im Parenchym grösser und chromatinärmer sind als im Pro-
parenchym, und 2. dass das Protoplasma im Parenchym grösser
und heller gefärbt ist; hierdurch liegen die Kerne im Parenchym
weiter voneinander entfernt.
Dieser Übergang von kleineren, chromatinreicheren zu
erösseren, relativ chromatinärmeren Zellen ist es, welcher das
Fundamentale in der Metamorphose bildet, und er ist es,
welcher den Unterschied zwischen dem dunklen Proparenchym
und dem hellen Parenchym bedingt.
Die Grenze zwischen dem Proparenehym und dem Par-
enchym scheint bei schwächerer Vergrösserung recht scharf;
bei stärkerer Vergrösserung sieht man jedoch, dass die Zellen
im Grenzgebiete Übergangsformen von der einen zur anderen
Zellart bilden.
Die Metamorphose betrifft alle drei Zelltypen im Pro-
parenchym im gleichen Grade.
Nach dem von uns untersuchten Material haben wir den
Eindruck erhalten, dass die hier beschriebene Metamorphose
die gewöhnliche Form für den Übergang vom embryonalen
zum infantilen Zustand der Zellen ist. Dass sie aber bis-
weilen entweder etwas später beginnen oder in etwas anderer
Weise verlaufen kann, haben wir schon beim Besprechen des
216 KNUD H. KRABBE,
Fetus vom 9. Monat erwähnt, indem dieser keine Spur von
Metamorphose zeigte.
Soweit wir es sehen können, ist diese Metamorphose nicht
früher beschrieben worden. Nur Marburg, der aber den
Prozess nicht systematisch verfolgt hat, hat den Blick dafür
oehabt, dass die Zirbeldrüse bei Neugeborenen nicht so regel-
mässig gebaut ist; er schreibt (l. c. S. 228): „Wenn man
eines dieser Läppchen genauer betrachtet, so ergibt sich, dass
sie aus nahezu gleichen Zellen zusammengesetzt sind, die
nur ungleichmässig gefügt erscheinen : gegen die bindegewebige
Wand hin dicht, gegen das Innere zu locker. Es ist, wie
wenn das Gebiet am Bindegewebe eine Matrix für Zellwuche-
rungen bilde, die dann ins Innere abgestossen werden.“
Es ist jedoch hierzu zu bemerken, dass der Prozess nicht
in dem Sinne eine Zellwucherung ist, dass neue Zellen
oebildet werden — im Gegenteil, man sieht im Grenzgebiete
weder Mitosen - noch Amitosen — oder diese abgesiossen
werden. Auch geht der Prozess nicht vom Bindegewebe aus.
Nach dem Abschluss der Metamorphose bietet das Par-
enchym das gleichartige Aussehen, welches man z. B. an
Fig. 28 sieht. Man kann jedoch auch bei grösseren Kindern
hier und da im Parenchym kleine Zellhaufen finden, welche
nach dem Aussehen der Zellen kleine Reste des Proparenchyms
zu sein- scheinen.
II. Der Bau des Parenchyms nach der Metamorphose.
Obgleich eine gesammelte historische Übersicht über den
Bau und die Funktionen der Zirbeldrüse früher öfters ge-
oeben worden ist, meinen wir doch, dass es für das Folgende
eine notwendige Voraussetzung ist, kurz zu betrachten, was
[frühere Verfasser über die Struktur des Parenchyms geschrieben
haben.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 217
Die Beschreibung der Verfasser älterer Zeit interessiert
uns hier etwas weniger, da die unvollkommenere mikro-
skopische Technik keine eingehenderen Studien über die Einzel-
heiten des Parenchyms gestattete.
Verf: wie Koelliker (1852), Faivre (1857), Luschka
(1860) und Clarke (1862) teilen mit, dass man im Par-
enchym grössere und kleinere rundliche und ovale Zellen samt
Fäden findet, und heben hervor, dass die Struktur im ganzen
anders als anderswo im Gehirne ist. Grandry (1867) will
zwischen einer Rindschicht und einer Markschicht unter-
scheiden, eine Auffassung, welche kaum berechtigt ist. Stieda
(1869) hebt die grossen Kerne und die unbestimmten Kon-
turen und Granulierung des Protoplasmas hervor. Bizzozero
(1871) scheint der erste zu sein, welcher bestimmt zwischen
zwei Zelltvpen unterscheidet, einem mit bestimmteren Konturen
und verzweigten Ausläufern, einem anderen mit schmäleren
und längeren Kernen, welche tiefer gefärbt sind, und Proto-
plasma, welches glänzende konturierte Verlängerungen aus-
sendet, und ferner oft gelbes Pigment enthält. Diese KEin-
teilung, welche noch anerkannt werden muss, ist von späteren
Verfassern nicht hinlänglich respektiert worden. Henle (1871)
beschreibt zur selben Zeit das Organ in seinem Lehrbuche,
fasst es aber als eine degenerierte Lymphdrüse auf, während
Meynert (1872) es als ein Ganglion betrachtet und seine
nervöse Natur hervorhebt. Hagemann (1872) beschreibt zwei
ähnliche Zelltypen wie Bizzozero und gibt eine etwas mehr
detaillierte Beschreibung der Struktur. Pawlowsky (1874)
erwähnt Nervenfäden, welche aus der Commissura posterior
in die Zirbeldrüse hineinlaufen. Schwalbe (1881) polemi-
siert gegen die Annahme der nervösen Struktur und sieht
das Organ für eine Drüse an. Cionini (1885), dessen Arbeit
uns nur im Referat zugänglich gewesen ist, scheint der erste
zu sein, welcher gliöse Elemente (und zwar bei Tieren) be-
218 KNUD H. KRABBE,
schreibt. Darkschewitsch (1886) erwähnt wie Paw-
lowsky die Nervenfäden. Peytoureau (1887) hebt in einer
erösseren Arbeit die Analogie mit dem Parietalauge hervor,
bringt aber keine neuen histologischen Befunde. Dasselbe gilt
von Max Flesch (1888), welcher übrigens mit interessanten
Betrachtungen bezüglich der Funktion kommt. Von besonderem
Interesse sind Weigerts Untersuchungen (1895), indem er
durch seine eigene Methode teils eine recht bedeutende
Mense von Gliafasern im Parenchym gefunden hat, teils eine
enorme Menge basaler Glia. Diese Auffassung des Organes
als eliöses haben auch die Verfasser der folgenden Zeit. Nur
muss man bemerken, dass Cajal (1895) unzweilelhafte Nerven-
fasern und Galeotti (1897) Sekretgranula gefunden haben,
beides jedoch bei Tieren.
Im Jahre 1901 erschien unter Nicolas’ Leitung die
Arbeit, welche vor allen andern als der gründlichste und be-
deutungsvollste Beitrag zur Histologie der Zirbeldrüse dasteht,
nämlich Frl. Dimitrovas: Recherches sur la structure de
la glande pindale. Ihre Untersuchungen sind zwar grössten-
teils an Tieren, aber auch teilweise an Menschenmaterial vor-
genommen. Sie ist die erste, welche eine Reihe verschiedener
Fixierungs- und Färbemethoden gebraucht hat und die Resul-
tate vergleicht, und sie ist dadurch imstande gewesen, besser
als frühere Untersucher eine histologische Analyse des Organs
zu unternehmen. Sie beschreibt die Zellen des Parenchyms
als scharf begrenzt, aber ohne Membran. Die Form ist
variierend, die Zellen sind gewöhnlich polyedrisch, selten
rund. Das Protoplasma (Flemming-Safranin oder Eisenhäma-
toxylin-Bordeauxrot) ist gewöhnlich fein, bisweilen grob granu-
liert, in einzelnen Zellen vascularisiert. Es findet sich beinahe
immer ein Kern, gewöhnlich exzentrisch liegend, rund oder
länglich, nicht selten hufeisenförmig, dagegen selten dreieckig;
der Kers ist im Verhältnis zum Protoplasma gross. Die Kerne
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 219
sind in drei Kategorien eingeteilt: 1. klare Kerne mit feinen
Chromatingranulationen; diese sind am zahlreichsten; 2. klare
Kerne mit grösseren Chromatingranulationen; in diesen zwei
Typen finden sich Nucleolen; 3. dunkle Kerne, welche sich
in zwei Varietäten finden, a) mit grossen Chromatingranula,
ohne Nucleolus, b) ganz homogen, doch mit einzelnen klaren
Punkten in der blauen Masse; sie sind die kleinsten und
repräsentieren vielleicht einen besonderen Typus der Neuro-
gliakerne, indem sie am häufigsten da zu finden sind, wo
die Gliafasern sehr zahlreich sind, z. B. in den Gliaknoten.
Dimitrova findet ferner sowohl durch Heidenhains als
auch durch Weigerts Methoden eine grosse Menge von Glia-
fasern und da sie findet, dass beinahe jede Zelle mit einem
oder mehreren Gliafasern in Berührung ist, fasst sie alle Zellen
als Gliazellen auf. Obgleich wir nicht mit Dimitrova in
ihrer Auffassung der Zirbeldrüse als gliös übereinstimmen,
erkennen wir doch die fundamentale Bedeutung ihrer Arbeit;
ihren Hauptfehler finden wir am wesentlichsten darin, dass
sie zu ausschliesslich Rücksicht auf die Kerne nimmt.
Die Verfasser der folgenden Zeit beschäftigen sich nicht
soviel mit der Struktur des Parenchyms. Studnitka gibt
eine vorzügliche vergleichend -anatomische Übersicht in
Oppels Handbuch und folgt im wesentlichen Dimitrova.
Marburg hat interessante pathologisch-anatomische Unter-
- suchungen gemacht und ferner Untersuchungen über die Um-
gebungen der Zirbeldrüse, Recessus pinealis, die Cysten, das
rudimentäre Parietalauge usw.; bezüglich des Parenchyms be-
schränkt er sich aber im wesentlichen darauf, Dimitrova
zu zitieren. Dasselbe gilt anderen Verfassern wie Anglade
und Ducos, Sarteschi, Costantini, Verfasser von
Übersichtsartikeln wie Seigneur, Kidd und Gouget; eine
mehr umfassende Arbeit ist in betreff anderer Säugetiere von
Kaane, Ne meutzieldTIordan,yBrondi und. Funk:
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163, Heft (54. Bd., H. 2). 15
220 KNUD H. KRABBE,
quist gemacht worden. Eine der letzten Arbeiten von
F Polvani ist an einem recht grossen, obgleich nicht be-
sonders ausgewählten Material gemacht; seine Untersuchungen
bringen nicht viel Neues, eher eine gewisse Verwirrung, indem
er ohne weiteres Mastzellen, Pigmentzellen u. dgl. zwischen
die Zellen des Parenchyms einordnet.
Zwei Arbeiten von weit mehr durchgreifender Beskeschtian
sind die von Achücarro-Sacristän undWalter, welche
im Jahre 1912 und 1913 erschienen sind. Diese Verfasser
sind die ersten, welche voneinander unabhängig die grosse
Menge der Nervenzellen, welche sich in der Zirbeldrüse beim
Menschen finden, beschrieben haben; eine nähere Erwähnung
ihrer Arbeiten werden wir jedoch bis zum speziellen Ab-
schnitt über die Nervenzellen aufschieben.
Wir werden jetzt unsere eigenen Untersuchungen be-
schreiben. Wir haben besonders darauf Gewicht gelegt alle
die verschiedenen Methoden — Silberimprägnationen, Glia-
färbungen, Kern- und Protoplasmalärbungen — zu vergleichen.
Die meist elementäre Untersuchungsmethode, Untersuchung
von ungefärbten Zerzupfungspräparaten, hat uns leider nur
sparsame Resultate gegeben und man muss auch dabei daran
erinnern, dass das Material wenigstens 12 Stunden alt ge-
wesen ist. Es ist hierdurch nur gelungen, dasselbe zu sehen,
was schon Hagemann an Zerzupfungspräparaten gesehen
hat, nämlich dass es rundliche Zellen ohne Ausläufer gibt
und eckige Zellen mit Ausläufern. Ferner haben wir (siehe
unten) kontrollieren können, dass gewisse unregelmässige Kern-
formen nicht durch die Fixierung entstanden sind.
An Präparaten, welche mit Orths Flüssigkeit oder Formol-
alkohol fixiert und mit gewöhnlichen Hämatoxylin- oder Anilin-
farben gefärbt sind (z. B. Fig. 24), sieht man, dass das Par-
enchym aus einer zusammenhängenden, teils protoplasmatischen,
teils wahrscheinlich interzellulären Substanz besteht, und in
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 221
dieser Masse liegt eine grosse Menge von Kernen zerstreut.
Man sieht keine Zellgrenzen; hier und da sieht man in der
protaplasmatischen bzw. interzellulären Masse eine fıbrilläre
Struktur.
Hat man anstatt der obengenannten Fixierungsmittel Alko-
hol-, Formalin- oder Sublimatfixierung benützt, werden die
Schrumpfungen gewöhnlich die Zellen auseinander gesprengt
haben, so dass man jeden Kern von einer etwas unregel-
mässigen Protoplasmamasse umgeben sieht, und die Zwischen-
räume zwischen diesen Zellen von loseren Massen ausgefüllt.
Die Form des Protoplasmas, welche die Kerne umgibt, ist sehr
varıierend, bisweilen ıst es rundlich, bisweilen hat es kurze
Ausläufer; diese Protoplasmakonturen sind kaum die wirklichen
Zellengrenzen.
Es war aber von Bedeutung für uns, eine Methode zu
finden, welche die Verschiedenheiten der Zellen nicht nur
bezüglich der Kerne, sondern auch des Protoplasmas zeigte,
und welche ferner eine Abgrenzung zwischen dem Protoplasma
der Zellen und der eventuellen interzellulären Substanz zeigt.
Eine solche Methode ist Alzheimers Färbung mit Säure-
fuchsin-Lichtgrün. Wir wissen wohl, dass diese Methode einen
Fehler hat, nämlich den, dass die Bilder nie absolut, sondern
davon abhängig sind, wie stark man mit dem Lichtgrün diffe-
renziert: wenn man aber an einer Reihe von Präparaten mit
verschiedenen Differenzierungsgraden färbt, wird man sehen,
dass es ein Stadium gibt, an dem die Nucleoli, die Glia-
fasern und das Chromatin der Kerne der Zellen, von welchen
die Gliafasern ausgehen, leuchtend rot gefärbt sind, das Binde-
gewebe leuchtend grün und alle anderen Elemente graugrün.
Die Vorzüge, welche diese Methode bietet, sind folgende:
1. Man sieht ausser den anderen Gewebselementen auch die
Gliafasern gefärbt, und, soweit wir gesehen haben, viel kon-
stanter als bei Weigerts Gliafärbung. 2. Wenn wir die
15*
222 KNUD H. KRABBE,
von uns angegebene Modifikation (siehe Kapitel Material und
Technik) anwenden, finden sich beinahe keine Schrumpfungen,
so dass die Zellen nicht voneinander gesprengt werden können.
3. Man sieht in der protoplasmatischen bzw. interzellulären
Masse, welche sich zwischen den Kernen findet, eine Aus-
differenzierung in zwei verschiedene Protoplasmamassen,
welche an Präparaten, die mit anderen Methoden gefärbt, an-
gedeutet worden sind, aber durch keine andere Methode als
die Alzheimersche (und Fieandts) so schön hervortritt.
Wenn man ein solches Präparat, mit Alzheimers Säure-
fuchsin-Lichtgrün gefärbt, betrachtet, sieht man Partien, wo
die protoplasmatische Masse wie an den Hämatoxylinpräparaten
homogen erscheint. Aber es sind andere Partien, wo das
Gewebe ein Aussehen wie an Fig. 9 hat.
An diesen Abbildungen sieht man erstens, dass es drei
verschiedene Kerntypen gibt, nämlich 1. runde oder unregel-
mässige Kerne mit sparsamem Chromatin, 2. eckige (drei-
eckige oder bisweilen sternförmige) Kerne, welche dunkel ge-
färbt sind, 3. runde Kerne mit grösseren distinkten eckigen
(bei diesem Differenzierungsrgad roten) Chromatingranula.
Diese drei Kernformen entsprechen einigermassen den
drei Kernformen Dimitrovas; was wir aber besonders her-
vorheben wollen: jede dieser drei Kernformen ent-
spricht einer besonderen protoplasmatischen
Struktur, welche die zwei der Zellformen an
einem bestimmten Platz zwischen den. Zellen
desZentralnervensystemsanzeigtunddiedritte
ZellformalseinenspezifischenZelltypusinner-
halb des Zentralnervensystems anzeigt.
Das Protoplasma, welches die Kerne des ersten Typus
umgibt, ist hell gefärbt und scheint ohne Ausläufer zu sein.
Die Zellen mit diesen Kernen und diesem Protoplasma nennen
wir Pinealzellen. Zwischen diesen Zellen sieht man ein
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 223
dunkel grau-grün gefärbtes Netzwerk, welches gegen das Proto-
plasma der Pinealzellen deutlich, obgleich nicht absolut scharf
abgegrenzt ist. In diesem protoplasmatischen bzw. interzellu-
lären Netzwerk sieht man hier und da Kerne vom zweiten
Typus eingestreut. Diejenigen Zellen, welche aus diesen Kernen
und dem dazu gehörigen Protoplasma bestehen, fassen wir
aus Gründen, welche wir im folgenden angeben werden, als
Nervenzellen auf.
Die Kerne des dritten Typus sind von einem durch diese
Methode sehr schwach gefärbten Protoplasma umgeben, welches
Ausläufer aussendet; diese Ausläufer enthalten Fasern, welche
wir aus Gründen, die wir später erwähnen werden, als Glia-
fasern auffassen, und welche sich im oben erwähnten Netz-
werk verlieren. Diese Zellen fassen wir also als Glia-
zellen auf.
Die Pinealzellen bilden die Hauptmasse der Zellen des
Parenchyms, die Nervenzellen und Gliazellen kommen in weit
geringerer Menge vor. Sie sind einigermassen gleichartig ver-
teilt, so dass das Parenchym der verschiedenen Teile der
Zirbeldrüse im wesentlichen dasselbe Aussehen hat.
Wir werden jetzt das Aussehen der drei verschiedenen
Zelltypen etwas näher beschreiben.
a) Erster Zelltypus: Die Pinealzellen (Figg. 6, 7,
9.10, SEP).
Die Pinealzellen entsprechen im wesentlichen Bizzo-
zeros und Hagemanns Zellen mit den runden Kernen,
Dimitrovas Zellen mit den „noyaux clairs A fines granu-
lations chromatiques“, den „celluli fordamentali“ von Co-
stantini und Polvani. Völlig decken die Begriffe einander
jedoch nicht, da die früheren Verfasser nicht hinlänglich Rück-
sicht auf die Abgrenzung des Protoplasma genommen haben.
224 KNUD H. KRABBE,
Bei der Metamorphose sind es die Zellen mit runden,
hellen Kernen, welche zu Pinealzellen umgeändert werden.
Die Kerne der Pinealzellen haben gewöhnlich einen
erössten Durchmesser von 10-12 u; seltener sieht man
2iesenformen mit Durchmessern von 15—18 u oder Zwerg-
formen mit einem Durchmesser von 4—5 u. Die gewöhn-
liche Form ist eine rundliche, ovale oder etwas weniger häufig
kugelrunde. Aber schon im ersten Lebensjahre, kurz nach
der Abschliessung der Metamorphose, beginnen eigenartige un-
regelmässige Kernformen aufzutreten, welche Dimitrova und
Achücarro-Sacristän schon erwähnt haben. Die Menge
dieser Kerne nimmt schnell zu und in Präparaten von Zirbel-
drüsen von Kindern und Erwachsenen bis zum höchsten Alter
hinauf wird man sie immer in recht reichlicher Menge treffen.
Die Form dieser Kerne kann rundlich sein, so dass die Kerne
nur eine kleine Einkerbung oder stabförmige Falte besitzen;
oder es kann eine kleine Höhle in der Seite der Kerne sein;
bisweilen kann die Falte so tief und breit sein, dass die
Kerne die Form eines Pferdschuhes bekommt (Dimitrovas
„noyaux en fer & cheval“), wie man sie in Fig. 10q sieht.
Es gibt Kerne, wo mehrere Einkerbungen einander schneiden,
so dass sie die Form von junger Quallen bekommen; oder
wo die Einkerbungen an jeder Seite der Kerne sitzen, so dass
die Kerne S-förmig gekrümmt sind usf.
Dass diese unregelmässigen Kernformen sich in vivo finden
und nicht Kunstprodukte sind (z. B. auf „Kernfalten“ be-
ruhen), schliessen wir aus folgendem: Sie finden sich an
unfixierten Zerzupfungspräparaten. Auch an Präparaten, welche
durch Formalininjektion (5 Minuten nach dem Tode) fixiert
sind und sich wohl fixiert zeigen. Sie sind unabhängig von
der Fixierungsflüssigkeit, die angewendet wird. Bei Kindern
vom ersten Lebensjahre sieht man sie nur im Parenchym,
nicht im Proparenchym.
Histolog u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 225
Man findet alle Übergänge von den gewöhnlichen runden
und ovalen Kernen bis zu den verschiedenen unregelmässigen
Kernformen. Da ferner das Protoplasma der unregelmässigen
Kerne nicht vom Protoplasma der runden Kerne verschieden
ist, liegt kein Grund vor die Zellen mit den unregelmässigen
Kernen als verschieden von den übrigen Pinealzellen zu be-
trachten. Das Verhältnis der unregelmässigen Kerne zu den
Amitosen soll später (Kapitel Kernexcretion) behandelt werden.
Das Chromatin der Pinealzellenkerne ist dadurch cha-
rakterisiert, dass es sehr sparsam ist, so dass die Kerne ein
etwas bläschenförmiges Aussehen bekommen. Die Chromatin-
granula finden sich beinahe ausschliesslich an der Kern-
membran angeheftet, sie sind gleichartig verteilt, klein und
undistinkt abgegrenzt, wodurch sie ein etwas wollarliges Aus-
sehen bekommen; hierdurch tritt es besonders im Gegensatz
zum Chromatin der Gliazellen.
In jedem Kerne finden sich 1-2 Nucleoli. Sie sind
klein, kugelrund und verschieden gelagert, gewöhnlich ex-
centrisch, bisweilen anscheinend an der Kernenmembran an-
gelagert. Durch Hämatoxylinfärbung werden die Nucleoli inten-
siv vom Hämatoxylin gefärbt; wenn man bei Heidenhains
Hämatoxylinfärbung lange differenziert, binden die Nucleoli
das Hämatoxylin lange nachdem das Chromatin entfärbt ist.
Durch Färbung mit Unna-Pappenheims Karbol-Methyl-
grün-Pyronin werden sie vom Pyronin gefärbt, während das
Chromatin vom Methylgrün gefärbt wird. Durch Färbung mit
Säurefuchsin-Lichtgrün binden sie das Säurefuchsin stark, selbst
durch langandauernde Differenzierung. (Es muss jedoch be-
merkt werden, dass diese Verhältnisse nichts Spezifisches für
die Nucleolen in den Pinealzellen ist.)
Das Protoplasma der Pinealzellen ist gewöhnlich nicht
besonders reichlich. Es umgibt den Kern von allen Seiten,
gewöhnlich ist dieser doch im Protoplasma etwas excentrisch
gelagert.
KNUD H. KRABBE,
ID
DD
[e7}
Wie man teils an Zupfpräparaten, teils an Präparaten
mit Alzheimers Säurefuchsin-Lichtgrün gefärbt (s. Figur)
sieht, ist die Form des Protoplasmas rundlich und ohne
Ausläufer.
Dass die -Pinealzellen keine Ausläufer besitzen, lässt sich
schwierig beweisen, und man muss selbstverständlich immer
die Möglichkeit voraussetzen, dass das Protoplasma ganz feine
Ausläufer hat, welche sich der mikroskopischen Beobachtung
entziehen. Was wir aber für das Wesentliche ansehen, ist,
dass das Pinealzellenprotoplasma keine Ausläufer entsendet,
welche Gliafasern .oder Nervenfasern enthalten und keine so
sroben, protoplasmatischen Ausläufer entsenden, dass man diese
beobachten kann.
Man sieht dieses am besten durch Vergleich eines Alz-
heimer-Präparats (Fig. 10), eines Bielschowsky-Präpa-
rats (Fig. 7), mit einem Golgi-Präparat (Fig. 6 und Fig. 16).
Am Alzheimer-Präparat sieht man, wie das etwas helle
graugrüne Protoplasma, welches die Pinealzellkerne umgibt,
gegen das dunkler gefärbte Netz, welches mit den Nerven-
zellen in Verbindung steht, deutlich abgegrenzt ist, ohne durch
Ausläufer damit in Verbindung zu treten. Ferner sieht man,
wie die roten Gliafasern nur von bestimmten Zellen mit cha-
rakteristischen Kernen ausgehen, nie vom Protoplasma der
Pinealzellen, so dass sie nur per contiguitatem nicht per con-
tinuitatem mit diesen in Verbindung sind (um dieses zu kon-
statieren, muss man viele Präparate durchmustern).
Wir meinen deshalb, dass Dimitrova unrecht hat, wenn
sie schreibt (S. 51): „La plupart des cellules de la glande
se trouvent entources par un grand nombre de fibres, qui
s’appliquent ä leur surface en se croisant dans toutes les
directions“ und später (S. 51): „La glande pindale est con-
stitutce essentiellement ... . . par des el&ments nevrogliques ...
Par elements nevrogliques nous entendons & la foıs des cellules
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Band H. 2). Tafel 17.
Kgl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. @., Würzburg, Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Band H. 2). Tafel 18.
rg:
|
| Kgl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg. Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 227
et des fibres quels que soient d’ailleurs les rapports qui
Zwar schreibt sie
‘
existent entre ces cellules et ces fibres.‘
später ganz richtig, dass die Gliafasern besondere Anknüpfung
zu den Zellen „A granulation grosse“ haben, aber sie zieht
daraus nicht die Konsequenz, dass die Berührung der Glia-
fasern mit den Pinealzellen nur dieselbe ist wie die Berührung
der Gliafasern mit den Nervenfasern des Rückenmarks.
Man muss also annehmen, dass das Protoplasma der
Pinealzellen weder Gliafasern enthält, noch Ausläufer entsendet,
welche Gliafasern enthalten. Es liegt also kein Grund vor,
die Pinealzellen als faserbildende Gliazellen zu betrachten.
Wir werden indessen auch hier bemerken, dass sie auch von
den anderen Gliazellen verschieden sind; teils ıst das Aus-
sehen der Kerne von Gliakernen weit verschieden; teils wird
jetzt (nach Held und Fieandt) gewöhnlich angenommen,
dass die nicht faserbildenden Gliazellen im Zentralnerven-
system ein reticuläres Syneytium bilden. Die Pinealzellen
bilden aber eben kein solches Syncytium, sind dagegen selbst
in einem anscheinend syncytialen Netzwerk eingebettet.
Dasselbe was für das Verhältnis zu den Gliafasern gilt,
gilt auch für das Verhältnis zu den später zu erwähnenden
Nervenfasern; am besten sieht man dieses an Fig. 7, welche
ein Bielschowsky-Präparat vorstellt. Man sieht hier, wie
die Nervenfasern von charakteristischen Zellen ausgehen, und
dass sie sich an der Aussenseite der Pinealzellen buchten,
ohne in diese einzudringen „auch an Fig. 16, von einem Golgi-
Präparat sieht man, wie eine Pinealzelle zwischen den Nerven-
zellausläufern eingelagert ist, ohne mit diesen in Verbindung
zu treten. Endlich sieht man bisweilen, dass beim basalen
Teile der Zirbeldrüse einzelne abgesprengte Pinealzellen‘ ge-
funden werden; diese sind auch ohne Ausläufer, welche Nerven-
faserr; enthalten.
Wir meinen also, dass die Pinealzellen auch nicht nerven-
228 KNUD H. KRABBE,
faserhaltige Ausläufer entsenden, also nicht Nervenzellen sind,
und dass es auf einer unrichtigen Beobachtung beruht, wenn
Achuüucarro und Sacristän nebst Walter meinen, dass
Zellen, welche augenscheinlich unseren Pinealzellen ent-
sprechen, nervenfaserhaltige Ausläufer entsenden.
Endlich wird der Eindruck, welchen man von den Säure-
[uchsin-Lichtgrün-Präparaten bekommt, dass die Pinealzellen
überhaupt keine protoplasmatische Ausläufer entsenden, bei
Betrachtung einiger Strukturen, welche man an Golgi-Präpa-
raten sieht, gestützt. Fig. 6 zeigt einige solche Strukturen ;
man sieht eine bienenwabenähnliche Struktur, welche wahr-
scheinlich auf Ausfällungen des Chromsilbers zwischen den
Zellen beruht; man sieht die Pinealzellen ganz von den Wänden,
welche diese Ausfällungen bilden, eingeschlossen, so dass kein
Raum für eventuelle Ausläufer vorhanden ist.
Nach dem eben Gesagten meinen wir das Recht zu
haben, die Pinealzellen als Zellenzucharakterisieren,
welche einen chromatinarmen rundlichen oder
unregelmässig gefalteten Kern besitzen undein
ziemlichsparsamesProtoplasma, welchesrund-
lichist, keine Fibrillen enthält und keine Aus-
läufer aussendet. Als äusserliches Charakteristikum
können wir hinzufügen, dass in diesen Zellen oft ein eigen-
tümlicher Prozess vorgeht, welchen wir jetzt beschreiben
werden, nämlich die Kernexcretion.
b) Die kernexcretorischen Vorgänge (Fig. 14) in
densPmealzehlen:
Dimitrova ist die erste, welche einige eigenartige Bil-
dungen erwähnt hat, welche sich in den Kernen der Pineal-
zellen finden. Sie beschreibt einige bald kugelförmige, bald
eckige Körperchen, welche sich im Innern der Kerne befinden,
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 229
erwähnt jedoch keine Struktur derselben. Sie meint, dass sie
eine gewisse Beziehung zu dem Nucleolus haben, übrigens
aber, dass es der Zukunft vorbehalten werden muss, ihre
Genese und ihr weiteres Schicksal zu studieren. Sie deutet
ferner die Möglichkeit an, dass ein Teil der hufeisenförmigen
Kerne ein Umbildungsprodukt derjenigen Kerne sei, welche
solche Kugeln ausgestossen haben.
Marburg bemerkt, dass er diese Bildungen bei Kindern
nicht gefunden hat, erwähnt auch keine Befunde bei Er-
wachsenen.
In unserer vorigen Arbeit hatten wir die granuläre Struktur
der Kernkugel hervorgehoben und meinten, dass die Kugel
als Granula im Protoplasma ausgestossen wärde.
Achücarro und Sacristän polemisieren gegen diese
Anschauung, indem sie meinen, dass die Kernkugel eben Bil-
dungen sind, welche vom Protoplasma in den Kernen aufge-
nommen werden.
Unsere eigenen Untersuchungen haben folgendes gezeigt:
Die erwähnten Bildungen haben wir einmal bei einem
kleinen Kinde, nämlich bei einem 11/, jährigen Kinde gefunden,
welches an tuberkulöser Meningitis gestorben war; in der-
selben Zirbeldrüse fanden sich zahlreiche Kalkeonceremente:
man muss mit der Möglichkeit rechnen, dass beide Befunde
als pathologisch zu betrachten sind, als eine eventuelle Folge
der tuberkulösen Meningitis.
Übrigens haben wir keine Kernkugel bei Kindern unter
8 Jahren gefunden: von diesem Alter beginnen sie sparsam
aufzutreten, bei etwas älteren Kindern (13—15 Jahre) sind
sie konstant und finden sich in grösserer Menge; und von
diesem Alter bis hinauf zum höchsten sind sie in allen den
von uns untersuchten Zirbeldrüsen ein konstant vorkommendes
Phänomen. Man findet sie in etwas wechselnder Menge, bis-
weilen in 1/,—t/, der Pinealzellen des Parenchyms, bisweilen
230 KNUD H. KRABBE,
viel seltener: sie sind gleichmässig in den verschiedenen Par-
tien des Parenchyms verteilt. Sie finden sich nur in den
Pinealzellkernen, nie in Nervenzellen oder Gliazellen; dagegen
finden sie sich schon im ersten Lebensjahre in den Ependym-
zellen des Recessus pinealis (siehe dieses Kapitel).
Die Kernkugel finden sich sowohl in Pinealkernen un-
fixierter Zupfpräparate als auch in Pinealkernen von Leichen,
deren Subarachnoidealraum gleich nach dem Tode formol-
injiziert sind; sie sind also nicht Kunstprodukte.
Die Form dieser Bildungen ist gewöhnlich kugelrund,
seltener stumpf dreieckig oder stabförmig. Der Durchmesser
der kugelförmigen Bildungen hat gewöhnlich eine Länge, welche
der Hälfte oder dem Drittel der Kerne entspricht (4-5 u).
Bisweilen sind die Kernkugeln kleiner, nur sehr selten grösser,
so dass sie den grössten Teil der Kerne anfüllen; es ist
zweifelhaft, ob die letzteren, welche auch gewöhnlich wasser-
hell sind, nicht eine andere Art von Bildungen (,Vacuolen‘)
sind.
Gewöhnlich befindet sich nur eine Kernkugel in jedem
Kern. Bisweilen finden sich jedoch 2—-3, die nicht kommuni-
zieren. Die Lage der Kernkugel ist verschieden, bisweilen
finden sie sich im Zentrum, bisweilen in der Peripherie der
Kerne, dicht bis zur Kernmembran gelagert. Bisweilen be-
rühren sie den Nucleolus, bisweilen sind sie weit von diesem
gelagert. |
_ Die Struktur und Färbbarkeit der Kernkugel zeigen sich
bei den verschiedenen Fixierungen und Färbungen auch ver-
schieden.
Nach Fixierung mit Formaldehyd- oder Chromlösungen
färben sie sich homogen sowohl mit Hämatoxylin- als auch
mit Anilinfarbstoffen. Sie sind etwas schwächer gefärbt als
das Chromatin und der Nucleolus, gewöhnlich etwas stärker
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 231
als das Protoplasma. Dasselbe gilt von den gewöhnlichen Fär-
bungen nach Fixierung mit Alkohol oder Sublimat.
Durch Färbung mit Säurefuchsin-Lichtgrün sind sie bei
dem von uns benützten Differenzierungsgrad (Fig. 10) homogen
und grünlich gefärbt. Übrigens werden sie durch keine spe-
zifischen Färbungen (Fettfärbung, Fibrinfärbung, Jodreak-
tion etc.) gefärbt.
Es gibt aber eine Methode, durch welche man ein etwas
anderes Bild bekommt, nämlich die Färbung mit Unna-
’>appenheims Karbol-Methylgrün-Pyronin nach Fixierung
mit Äthylalkohol, Propylalkohol, Formol-Alkoholmischung oder
konzentrierter Sublimatlösung !).
Durch diese Methode, bei welcher das Chromatin schwach
blaugrün, die Nucleolen leuchtend rot und das Protoplasma
blassrot gefärbt werden, sieht man die Kernkügel von kleinen,
unregelmässig, leuchtend roten Granula gefüllt. Oft sind die
Granula unregelmässig im Kernkugel verteilt.
Ferner findet man Pinealzellen, bei denen die Kernkugel
dicht bis zur Kernmembran gelagert ist, wo diese anscheinend
perforiert, und man pyroninophile Granula sowohl in der Kern-
kugel als auch im Protoplasma unmittelbar aussen an der
geborstenen Kernkugel sieht. Und man sieht Zellen, wo eime
solche Kernkugel eine grosse Öffnung gegen das Protoplasma hat
und die Granula weiter im Protoplasma verteilt sind. Auch
sieht man Zellen, wo der Kern eine tiefe Einkerbung hat,
in deren Boden sich viele Granula finden, während eine etwas
kleinere Menge im Protoplasma verteilt ist. Und endlich finden
sich Zellen, deren Kerne ein wenig oder gar nicht eingekerbt
sind, in deren Protoplasma sich aber viele pyroninophile Granula
finden.
!) Nachdem wir in unserer vorigen Abhandlung diese Methode für Studium
des kernexeretorischen Prozesses empfohlen hatten, hat später Pappenheim
in Centralbl. f. allg. Path. u. pathol. Anatomie Bd. 23, 1912 sie für Studium
der sekretorischen Prozesse im allgemeinen empfohlen.
232 KNUD H. KRABBE,
Was dürfen wir daraus schliessen? Es ist möglich, dass
die Kernkugel und das Protoplasma eine wahre granuläre
Struktur haben. An den unfixierten Zupfpräparaten kann man
es nicht deutlich erkennen. Es ist aber eine andere Mög-
lichkeit vorhanden, nämlich die, dass die Granula Koagulations-
produkte sind, welche durch die Alkoholfixierung entstanden
sind; für letzteres spricht, dass die Granula unregelmässig
und zottig sind, nicht kugelrund wie z. B. die Drüsengranula
der Pharynxhypophyse. Aber es scheint berechtigt zu sein,
anzunehmen, dass es solchenfalls dieselbe Substanz ist, welche
im Protoplasma und in der Kernkugel ausgefällt wird.
Eine andere Frage ist aber die der eventuellen Bewe-
gungsrichtung der Granula (oder der als Granula ausgefällten
Substanz). Denn der Vergleich der verschiedenen geschlossenen
und geborstenen Kernkugeln deutet entschieden darauf hin,
dass sie nicht stationäre Bildungen sind, dass aber wirklich
eine Wandlung des Gehaltes der Kernkugel vor sich geht.
Es ıst immer eine schwierige Aufgabe aus den starren Präpa-
raten die Bewegungen, welche im lebenden Gewebe vorhanden
gewesen sind, zu rekonstruieren, und in letzter Instanz ist
eine solche Rekonstruktion immer eine Hypothese. Aber es
wird doch gewöhnlich eine Bewegungsrichtung sein, welche
nach Betrachtung der verschiedenen Stadien am wahrschein-
lichsten vorkommt. Das Bild, das man häufig sieht, wo eine
Kernkugel dicht an der Kernmembran gelagert und diese
beiden durchlöchert sind, die Kugel mit Granula dicht ge-
füllt ist und einzelne Granula aussen im Protoplasma gelagert
sind, würde kaum vorkommen, wenn die Granula vom Proto-
plasma in den Kern wandelten, während es wahrscheinlich
sein würde, dass die Granula sich aus der Kugel entleeren.
Wenn die Granula in den Kern einrückten, müsste man an-
nehmen, dass die Membran der Kugel ein abgeschnürtes Stück
der Kernmembran sei, und dass man vom Eintrittsstadium
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 233
Bilder sehen würde, bei denen die Kernkugel durch einen
kleinen Kanal mit dem Protoplasma verbunden ist, so wie
man es auf dem Bilde von Achücarro vom Ganglioneürom t)
sieht; solche Bilder sieht man aber nıe ın der Zirbeldrüse.
Wir glauben darum, dass Achücarro und Sacristän
darin recht haben, dass sich eine solche Umwandlung im
Ganglioneuron findet, aber unrecht darin, dass die Kernkugel
in der Zirbeldrüse umgewandelte Protoplasmaelemente sind.
Über die Genese der Kernkugel lässt sich unmöglich
anderes sagen, als dass sie wahrscheinlich im Innern der
Kerne entstehen und bis zu einer gewissen Grösse wachsen,
ehe sie ausgestossen werden. Dimitrova neigt dazu, sie
in Verbindung mit dem Nucleolus zu setzen. Aus dem Um-
stand, dass sie bisweilen miteinander in Berührung kommen,
kann man doch nichts schliessen. Die Affinität der Farben-
stoffe ist wechselnd. Durch Unna-Pappenheim-Färbung
sind die Kernkugeln wie der Nucleolus vom Pyronin gefärbt,
während das Chromatin sich mit dem Methylgrün färbt. Durch
Färbung mit Säurefuchsin-Lichtgrün werden aber bei dem
gewöhnlichen Differenzierungsgrad die Kernkugeln grün wie
das Chromatin und nicht rot wie der Nucleolus. Übrigens
muss man daran erinnern, dass alle diese Verhältnisse zu
den Farben auf Verschiedenheiten in der Diffusion und nicht
speziell in chemischen Verschiedenheiten beruhen können.
Mit Rücksicht auf die Möglichkeit, dass die Kernkugeln
ein vielleicht phosphorhaltiges Abspaltungsprodukt des Nu-
cleolus sein könnten, haben wir an einigen Präparaten die
Lilienfeld-Montische Phosphorsäurereaktion 2) gemacht.
Es ist uns aber nicht gelungen befriedigende Resultate zu er-
langen.
1) Achücarro: Ganglioneurom des Zentralnervensystems. Folia neuro-
biologica Bd. 7. 1913.
°) Lilienfeld und Monti: Über die mikrochemische Lokalisation des
Phosphors in den Geweben. Zeitschr. f. physiologische Chemie. Bd. 17. 1893.
234 KNUD H. KRABBE,
In vielen Pinealzellen, in welchen die Kerne ohne Kern-
kugel oder Einkerbungen sind, sieht man im Protoplasma
pyroninophile Körnchen, welche ganz den aus der Kernkugel
entleerten gleichen. Es ıst möglich, dass diese im Protoplasma
selbst entstanden sind, es ist auch möglich, dass sie von
der entleerten Kernkugel herrühren. Welches von beiden der
Fall ist, lässt sich unmöglich entscheiden.
Ebenso unmöglich ist es, etwas über das spätere Schick-
sal der Granula zu sagen. Es ist möglich, dass sie im Proto-
plasma verbleiben, es ist aber auch möglich, dass sie weiter
wandern, z. B. in die Gliazellen übertreten und dadurch weiter
wandern z. B. zu den Gefässen. Wenigstens haben wir keine
Farbmethoden gefunden, durch welche man pyroninophile Ele-
mente in den anderen Zellen verfolgen kann. In unserer vorigen
Abhandlung erwähnten wir die Möglichkeit, dass diese Granula
in interzelluläre Räume ausgestossen würden. Das Vorkommen
solcher interzellulären Kanäle ist aber sehr hypothetisch, was
wir als solche aufgefasst hatten, waren Schrumpfungsräume,
und wir sind jetzt am meisten geneigt, anzunehmen, dass es
keine solchen Kanäle gibt.
Eine weitere Frage ist, wie wird das Schicksal der Kerne
nach Ausstossung der Kernkugel sein ?
Der Umstand, dass man auch ebene Übergänge findet von
Kernen, welche scheinbar eben ihre Kernkugel ausgestossen
haben, und Kernen mit Einkerbungen, in deren Boden sich
noch mehrere Körnchen finden bis zu Kernen mit sehr flachen
Einkerbungen, deutet darauf, dass der Kern nach Ausstossen
der Kernkugel wieder sein früheres Aussehen annimmt; es
ist dann möglich, aber unbeweisbar, dass sich in einem solchen
Kerne wieder Kernkugeln bilden können. Man muss hier nur
bemerken, dass man bisweilen mehrere Kernkugeln in dem-
selben Kerne trifft, und dass wir auch bisweilen Kerne ge-
sehen haben, in welchen sich zwei Kernkugeln ‚„ruhend‘“
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen.
fanden, während eine dritte im Begriff war, ausgestossen zu
werden. Auch haben wir Kerne mit Kernkugeln gesehen, in
welchen sich eine Einkerbung in der Kernmembran fand.
Wir glauben, dass bisweilen die Einkerbungen der Kerne
von dem Ausstossen der Kernkugel herrühren. Aber dass dieses
nicht immer der Fall ist, schliessen wir daraus, dass man
die Einkerbungen und unregelmässigen Kernformen schon im
1. Lebensjahre findet, lange ehe die Kernexcretion beginnt.
Und ferner können wir konstatieren, dass kein Grund dazu
vorliegt, anzunehmen, dass die Kerne nach Ausstossen der
Kernkugel zugrunde gehen.
ec) Kernteilungsfiguren der Pinewizellen.
Wie im embryologischen Abschnitte erwähnt, sieht man
vom Anfang bis zum Ende des Fetallebens zahlreiche mitotische
Kernteilungsfiguren im Protoplasma, aber niemals Amitosen.
An unseren Präparaten von Kindern und Erwachsenen
haben wir dagegen nıemals (auch nicht an denen gleich nach
dem Tode injizierten) Mitosen gefunden, dagegen oft Figuren,
welche Amitosen gleichen.
Dimitrova hat die Frage der Amitosen berührt; da wo
sie die eingekerbten und hufeisenförmigen Kerne erwähnt, wirft
sie die Frage auf, ob es Kerne, welche ihre Kernkugel aus-
gestossen haben, oder ob es Amitosen sind. Sie nimmt das
erstere an: „neanmoins, sans rejeter la possibilit@ de l’existence
de figures amitotiques, nous inclinons plutöt a admettre la
premiere explication“ ... (dass es Kerne, deren Kugel aus-
gestossen sind). Dimitrovas Anschauung beruht wahrschein-
lich darauf, dass sie nicht hinlängliches Kindermaterial unter-
sucht und darum nicht bemerkt hat, dass die unregelmässigen
Kernformen lange vor der Kernexcretion auftreten.
Wenn man jetzt sowohl bei Kindern wie auch bei Er-
wachsenen bzw. Greisen die Pinealzellen in der Zirbeldrüse
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 16
226 KNUD H. KRABBE,
betrachtet, findet man bei allen, dass sich Übergänge finden
von Kernen mit kleinen und Kernen mit tiefen Einkerbungen
bis zu Fällen, wo in einer Zelle zwei halbkugelförmige Kerne
mit den Flächen dicht aneinander gelagert sind. Während
dieses ein häufiger Befund ist, kann man auch, obgleich viel
seltener, zwei Kerne, welche mit einem etwas längeren dünnen
Stiel verbunden sind, sehen (wie eine Sanduhr). Dagegen
haben wir nie das Phänomen der „Kernknospung“ (Dit-
levsen)!) in den Pinealzellen gesehen.
Es kommt uns am wahrscheinlichsten vor, dass die er-
wähnten. Figuren Amitosen sind, und wir wollen also an-
nehmen, dass sich von der frühesten Kindheit bis zum höchsten
Alter zahlreiche Amitosen in den Pinealzellen finden.
Also wollen wir annehmen, dass die unregelmässigen
Kernformen verschiedene Phänomene repräsentieren. 1. Einige
sind wahrscheinlich Stadien der Rückbildung der Kerne, welche
die Kernkugel entleert haben. 2. Andere sind wahrscheinlich
Stadien der Amitosen. 3. Es ist möglich, dass einige von
artifizieli entstandenen ‚Kernfalten‘‘ herrühren. 4. Endlich ist
es möglich, dass einige der unregelmässigen Kernformen eigen-
artige, aber stationäre Formen sind.
d) Secretcapillaren.
Eine Frage von Interesse bezüglich der Seeretion ist die,
ob sichi n der Zirbeldrüse Secretcapillaren befinden.
In unserer vorigen Arbeit erwähnten wir vorübergehend,
dass wir versucht hatten, Berlinerblau-Gelatine direkt in die
Zirbeldrüse zu injizieren, und dass dieses sich in ein Netz
zwischen den Zellen verbreitete. Wir fügten aber ausdrück-
lich hinzu, dass es unmöglich sei, zu entscheiden, ob es
natürliche oder künstliche Höhlungen sind, in welchen die
Gelatinemasse sich verbreitet hatte. Ein anderer Verfasser,
1) Anat. Anzeiger Bd. 38. 1911 und Bd. 43. 1913.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 237
Paul Loewy, hat dieses kleine Experiment mit gar zu
erossem Wohlwollen aufgenommen und wirft uns nur unsere
Skepsis dem Resultat gegenüber vor, eine Skepsis, welche
wir trotz allem festhalten wollen. Loewy hat selbst eine
teihe Injektionsversuche auf ähnlicher Weise, durch Einstich
in die Zirbeldrüse, unternommen und dadurch ein System
von Kanälen gefunden, welches er näher beschreibt. Was
zeigen aber diejenigen Kanäle, welche man durch einen solchen
Versuch hervorbringt? Nichts als welche Teile den kleinsten
Widerstand gegen eine unter einem gewissen Druck heran-
dringende Flüssigkeitsmenge gewährt, aber nichts darüber, ob
die Bahnen, durch welche diese Flüssigkeitsmenge sich be-
wegt, von vornherein existieren, oder ob sie durch das Heran-
dringen der Flüssigkeit künstlich gebildet werden. Und es
wäre merkwürdig, wenn nicht eine injizierte. Flüssigkeit allen-
falls ein Netzwerk zwischen den Zellen bilden würde. Die
einzige Methode, durch welche man mit leidlicher Sicherheit
solche Kanäle zeigen kann, ist die, wenn man sie durch einen
schwachen Druck von einem präexistierenden Hohlraum ge-
füllt bekommen kann.
Mit Rücksicht darauf haben wir Gerotas Berlinerblau
mit schwachem Druck!) durch den Balken in den dritten
Ventrikel injiziert, indem die Dura beim Öffnen des Craniums
unbeschädigt gelassen war. Die Flüssigkeit war durch das
Foramen Magendi und Foramina Luschkae hervorgedrungen
und füllte den Subarachnoidealraum um die Zirbeldrüse.
Ebenso fanden sich Berlinerblaulagerungen sowohl in Recessus
pinealis als auch Recessus suprapinealis. Aber in die
Zirbeldrüse war kein Berlinerblau hineinge-
drungen.
x
Selbstverständlich beweist dieses auch nicht, dass es keine
!) Vgl. Aagaard, Über die Lymphgefässe der Zunge etc. Anat. Hefte
47. Bd. 143. H. 1913.
16*
238 KNUD H. KRABBE,
Secretkanäle gibt. Aber bis heute ist ihre Existenz nicht be-
wiesen, ja nicht einmal wahrscheinlich.
Eine andere Methode zur Herstellung von Secretcapillaren
ist die Golgische. Wie wir im folgenden Abschnitte sehen
werden, bekommt man durch Golgi-Imprägnation viele eigen-
artige Strukturen; diese scheinen aber wesentlich teils Aus-
läufer der Nerven- und Gliazellen, teils Linien zu sein, in
welchen die Zellen zusammenstossen; wenigstens bekommt
man durch Golgi-Imprägnation keine Struktur, welche so
sehr Secretcapillaren ähnelt, dass man daraus schliessen darf,
dass solche sich in der Zirbeldrüse finden.
e) Zweiter Zellentypus: die Gliazellen (Figg. 9,
OF an are).
In dieser Zellgruppe im Parenchym der Zirbeldrüse ent-
sprechen die Kerne teils Dimitrovas ‚„noyaux clairs a granu-
lation plus grosse“, teils einigen von ihren ‚„noyaux fonces“.
Diese Kerne sind durchschnittlich grösser als diejenigen der
Pinealzellen, sie sind rund, oval oder etwas spindelförmig,
zeigen auch nie die unregelmässigen Formen wie die der
Pinealzellen. Sie sind mit einer Membran versehen: Die
Chromatinkörner, die grösser und schärfer abgegrenzt sind
als diejenigen der Pinealzellenkerne, sind zum Teil, aber keines-
wegs ausschliesslich auf dieser Membran gelagert. Bei Häma-
toxylinfärbung nimmt das Chromatin dieser Kerne gewöhnlich
‚eine bläulichere Farbe an, als dasjenige der Pinealzellen,
während es durch die Differenzierung mit Alzheimers Säure-
luchsin-Lichtgrün-Färbung das Säurefuchsin länger bindet, als
das Chromatinlider Pinealzellen es tut; bei einer passenden Diffe-
renzierung zeigen die Gliakerne eine rote Farbe, während die
Pinealzellen grün erscheinen. In einem Teil der Gliakerne
ist die Chromatinmasse so gross, dass der Kern auf einem
hämatoxylingefärbten Präparat ganz schwarz erscheint; diese
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 239
schwarzen Kerne unterscheiden sich aber von denjenigen in
der folgenden Gruppe dadurch, dass sie rund sind. Die Kerne
enthalten auch ein Nucleolus, welches dasselbe Farbenverhält-
nis wie in demjenigen der Pinealzellen aufweist. Das Aus-
sehen dieser Kerne ist wesentlich dasselbe, wie bei den Kernen
derjenigen Gliaplaques, die gewöhnlich in der Zirbeldrüse ge-
funden werden, und in der Glia, die basal zu der Zirbeldrüse
liegt, gleichwie sie auch vollständig den Gliakernen in den
anstossenden Hirnteilen gleichen.
Das Protoplasma, welches diese Kerne einschliesst, hat
durchschnittlich eine etwas grössere Masse als dasjenige der
Pinealzellen und es zieht sich in Verlängerungen aus, die
zwischen den Pinealzellen eindringen und wird mit den Fort-
setzungen der Zellen in der folgenden Gruppe eimgefiltert.
Im Rand dieses Protoplasmas liegen Fasern, die durch folgende
Eigenschaften charakterisiert werden: sie sind lang, schlank,
glatt, geschweift, zeigen keine Verzweigungen, haben scharfe
Konturen und werden mit Weigerts Gliafärbung kräftig blau,
mit Säurefuchsin-Lichtgrün-Färbung rot, mit v. Gieson-
Hansen gelb und mit Heidenhains Hämatoxylin schwarz
gefärbt, d. h. sie zeigen dieselbe Farbenreaktion wie Glia-
fäden andererorts im Zentralnervensystem. Wir meinen des-
halb, dass es von früheren Verfassern völlig berechtigt ist,
diese Fäden als Gliafäden in Weigerts Sinne aufzufassen.
Die Menge dieser Gliafäden entsprechen ungefähr den-
jenigen. die im Rückenmark vorkommen, sind etwas reich-
licher als die, welche man in der Hirnrinde sieht. Sie sind
gleichmässig über das ganze Parenchym verteilt, nur hier und
da sieht man dichtere Bündel. Sie kreuzen sich nach allen
Richtungen, nur nach den Septen und Gefässwänden hinaus
laufen sie oft verhältnismässig rechtwinkelig auf der Grenz-
linie zwischen dem Bindegewebe und dem Parenchym, um
entweder hier zu enden oder zuweilen die Grenze zu durch-
240 KNUD H. KRABBE,
brechen, um sich in das Bindegewebe hinaus fortzusetzen;
diese Verhältnisse zwischen Bindegewebe und Glia sollen aber
später besprochen werden. Dagegen soll hier bemerkt werden,
dass das System der Gliafäden im Parenchym teils mit den
Massen der Gliafäden in den später erwähnten Gliaplaques
und teils mit derjenigen Gliamasse zusammenhängt, die basal
vom Parenchym des Corpus pineale gefunden wird.
Bereits an Präparaten vom 1. Lebensjahr werden Glia-
fäden gesehen, obgleich in ziemlich spärlicher Menge. Im
Laufe der Zeit nimmt die Menge der Gliafäden zu, aber selbst
bei sehr alten Individuen werden Gliafäden nie in so über-
wältigend grosser Menge im Parenchym des Corpus pineale
gefunden, dass aus dem Grund Anlass vorhanden ist, das
Organ als speziell gliös aufzufassen. Die Vermehrung der
Glia im Parenchym des Corpus pineale geht tatsächlich ganz
parallel mit der Vermehrung der Gliamenge, die man stets
im Gehirn von alten Individuen findet.
Ein Hauptgrund Dimitrovas, um den grössten Teil
der Zellen des Pärenchyms als Gliazellen aufzufassen, besteht
darin, dass sie fast überall die Zellen mit den Gliafäden in
Berührung gefunden hat. Sie schreibt unter anderm hierüber
(S. 51): „La plupart des cellules de la glande se trouvent
entourdes par un grand nombre des fibres, qui s’appliquent
A leur surface en se croisant dans toutes les directions“ und
später (S. 51): „La glande pineale est constitu6e essentielle-
ment .... par les elöments nevrogliques..... Par elements
nevrogliques nous entendons aA la fois des cellules et des
fibres quelque soient d’ailleurs les rapports qui existent entre
ces cellules et ces fibres.“
Man kann indessen aus dem Umstand, dass eine Zelle
mit einem oder mehreren Gliafäden in Berührung steht, nicht
schliessen, dass diese Zelle eine Gliazelle ist, zudem, da
es oft unmöglich ist, zu sehen, ob nicht eine dünne Proto-
lHistolog. u. embryolog. Untersuchungen über d« Zirbeldrüse d. Menschen. 241
plasmaschicht den Gliafaden von der Zelle trennt. Man muss
dagegen die Gliafäden in längeren Stücken ihres Verlaufes
verfolgen, und es zeigt sich dann, dass sich um gewisse Zellen
eine besonders grosse Menge Gliafäden auf die Weise sammelt,
dass in den Ausläufern, die diese Zellen aussenden, dichte
Bündel von Gliafäden zu finden sind, während diese weit
zerstreuter liegen, wo sie mit andern Zellen in Berührung
kommen. Die Zellen aber, von denen diese Gliafäden aus-
oehen, sind eben immer die oben beschriebenen mit den runden
oder ovalen, grob granulierten oder schwarz gefärbten Kernen
und nie Pinealzellen. Wir meinen deshalb, dass nur die hier
genannten als Gliazellen aufgefasst werden können, während
die Pinealzellen einer ganz andern Kategorie angehören, die
weder morphologisch noch ontogenetisch etwas mit den Glia-
zellen zu tun haben. Dimitrova hat ganz gewiss diesen
Punkt gestreift und sie bemerkt an einer Stelle, dass die
Gliafäden besondere Anknüpfung an die Kerne „a granulation
erosse“ haben; sie hat aber nicht versucht die weiteren Konse-
quenzen daraus zu ziehen und sie fasst, wie erwähnt, das
ganze Organ als wesentlich gliös auf.
Auf Golgı-Präparaten haben wir Bilder von Gliazellen
gefunden, die völlig dem entsprechen, was Dimitrova,ge-
funden hat, und was man sonst im Zentralnervensystem findet.
Diese Gliazellen sind vom langstrahligen Typus (Fig. 15); kurz-
strahlige haben wir keine gesehen.
Wie bekannt findet man im Zentralnervensystem ausser
denjenigen Gliazellen, die Fäden bilden, auch andere Glia-
zellen, die keine Fäden bilden, die aber infolge Helds!)
und Fieandts?) Untersuchungen, ein protoplasmatisches Syn-
cytıum bilden; zu diesen Gliatypen müssen vermutlich auch
!) Held, Über den Bau der Neuroglia. Abh. d. math.-phys. Klasse d.
sächs. Ges. d. Wiss. Leipzig 1903.
?) Arch. f. mikrosk. Anat. 76. Bd. 1910 und Zieglers Beiträge, 51. Bd. 1911.
242 KNUD H. KRABBE,
Eisaths und Alzheimers gezählt werden, und von denen
man die Übergänge zu denjenigen Formen finden kann, welche
bei verschiedenen pathologischen Zuständen auftreten. Diese
Gliazelltypen haben wir nicht in der Zirbeldrüse gefunden und
wie es von der Beschreibung der Pinealzellen hervorgeht, sind
sie auch von diesen ganz verschieden.
Endlich soll bemerkt werden, dass wir keine Übergangs-
formen zwischen Pineal- und Gliazellen gefunden haben.
Wir meinen also mit Rücksicht auf Obiges, dass die Pineal-
und Gliazellen als zwei ganz verschiedene Zellkategorien inner-
halb des Zentralnervensystems aufgefasst werden müssen.
f) Der dritte Zelltypus: die Nervenzellen‘(Fieg. ©
ge uesande 16 20n). |
Wie früher erwähnt haben einige ältere Verfasser wie
Meynert und Pawlowsky das Corpus pineale als ein
nervöses Organ aufgefasst. Andere Verfasser wie Hagemann
haben gemeint, dass es teils aus epithelialen Zellen, teils aus
Nervenelementen bestehe. Da diese Resultate sich auf zıem-
lich unvollkommene Methoden stützten, wird es niemand ver-
wundern, dass der Gedanke hieran beinahe ganz zum Vorteil
für diejenige Theorie aufgegeben wurde, dass die Zirbeldrüse
ein gliöses Organ war, besonders nachdem Cionini,
Weigert und Dimitrova Glia in grösserer Menge ge-
funden haben und besonders die Gliaknötchen zu einem wesent-
lichen Bestandteil des Organs zählten. Erst in späterer Zeit,
nachdem Cajals und Bielschowskys Silbermethoden all-
oemein benützt wurden, sind Untersuchungen mit Hinblick
auf das Vorhandensein von Nervenzellen wieder herangezogen
worden.
Es ist - zum Teil Achucarro und Sacrıstan, zum
Teil Walter, welche eingehendere Untersuchungen an
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). Tafel 19,
Fig. 15.
Fig. 16,
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden,
RL RTL T
Tafel 20,
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2).
Fig. 17.
Fig. 18.
Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 243
Menschenmaterial mit Hilfe der Silbermethoden vorgenommen
haben und dadurch neue Resultate erreichten. Achücarro
und Sacristän haben. teils Cajals Pyridinfixation, teils
Bielschowskys Methode benützt. In den perivasculären
Bindegeweberäumen haben sie oft Bündel von feinen nervösen
Fäden gesehen. Ferner sieht man ebendaselbst zahlreiche
„piececillos rematados por botones“: einige Fasern enden in
einzelnen Knöspchen, viele verzweigen sich oder werden in
baumartigen Verzweigungen aufgelöst. Einige der Fasern, die
in den Knöspchen enden, laufen längs der (Grelässe, der grösste
Teil geht aber winkelrecht auf ihnen und sie durchbrechen
die äusserste Bindegewebeschicht der Septa. Cionini und
Zancla hatten ähnliche Bildungen gesehen und sie als Neuro-
gliaelemente aufgefasst. Achucarro und Sacristan
meinen, dass einige derselben denjenigen entsprechen müssen,
die Cajal in der Zirbeldrüse beim Kaninchen gefunden hat,
und dass diese wahrscheinlich von nervöser Natur sind. Die
Verfasser sehen auf ihren eigenen Präparaten zwei verschiedene
Arten von Zellen, einige kleine, mit 3—4 feinen, fadenförmigen
Vorsätzen, von welchen einige die perilobuläre Bindegewebe-
wand durchdringen und an den Gefässen enden, während andere
erösser und komplizierter sind. In einigen derselben sehen
sie eine deutliche neurofibrillenähnliche Struktur. Die ersteren
entsprechen den von Zancla beschriebenen. Die letzteren
sind weniger zahlreich und werden nicht nur ım Parenchym,
sondern auch in den Septen gefunden, wo sie die (refässe mit
ihren Verlängerungen umgeben. Von welcher Natur sie sind,
kann nicht ganz bestimmt entschieden werden, da sie aber
die grösste Ähnlichkeit mit den multipolären Zellen im Sym-
pathicus aufweisen, meinen die Verfasser, dass es am ehesten
solche sind, die auch Cajal und andere beschrieben haben.
Die ampullenförmigen Anschwellungen können vielleicht als
eine Involutionserscheinung aufgefasst werden. In den beiden
244 KNUD H. KRABBE,
kürzlich erschienenen Abhandlungen haben teils Achücarro
und Sacristän, teils Achücarro allein verschiedene der
oben genannten Verhältnisse mehr detailliert beschrieben. In
der einen Abhandlung beschrieben sie insonderheit die End-
knöspchen und heben deren degenerative Natur hervor; ferner
beschreiben sie verschiedene aparte, zum Teil degenerative
Nervenzellenformen, die sie in den Bindegewebesepten gefunden
haben. Ihr wesentlichstes Material bestand aus den Organen
alter Leute, welche an Lungentuberkulose gestorben waren,
[ferner einem Fall von tuberkulöser Meningitis und einigen,
in denen, der Tod unmittelbar nach einer Unterleibsoperation
eintrat. In der andern Abhandlung ist Achücarro eher ge-
neigt zu der Annahme einer internen Sekretion, die er in
seiner ersten Arbeit bekämpfte, überzugehen.
Walter hat zum Teil die gleichen Silbermethoden an-
gewandt, zum Teil aber eine von ihm selbst beschriebene
Methode, die in Imprägnation an alkohol- und formolfixierten
Paraffinschnitten mit Protargol und darauffolgender Reduktion
mit Hydrochinon besteht. Die Methode gibt nicht ganz so
distinkte Imprägnation, wie Bielschowskys, sie ist aber
sehr bequem und wir haben sie selbst in einer Reihe von
Fällen zu unsrer Zufriedenheit angewandt, indem wir ihre
Brauchbarkeit durch Vergleich mit Bielschowsky- und
Cajal-Präparaten kontrollierten. Walter beschreibt gleich-
zeitig mit und doch unabhängig von Achücarro und
Sacristän verschiedene ähnliche Strukturen wie diese, aber
ausführlicher. Um die Gefässe herum findet er ein dichtes
Netzwerk von Fäden mit kolbenförmig verdickten Enden; diese
gleichen den von Cajal beschriebenen Endkolben auf den
Nervenfäden. Die Kolben sitzen an den Enden der Fäden,
die vollständig Achsencylindern gleichen; die Fäden laufen
winkelrecht auf den Piasepten, biegen aber gewöhnlich an den
Gelässen rechtwinkelig um und lagern sich diesen entlang.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 245
In den Drüsenlappen werden auch analoge Bildungen gefunden.
Die ganze Drüse ist von einem dichten Netzwerk von Fäden
durchsponnen, von welchen eine grosse Anzahl mit Kolben
enden, die sich an die Parenchymzellen anlegen.
Das Randflechtwerk entspringt wahrscheinlich aus drei
Zellarten. Der grösste Teil rührt von Zellen her, die einen
grossen rundlichen Kern haben und m der Umgebung der
Septen und der Gefässe liegen. Es sind offenbar diese Zellen,
die Achücarro und Sacristän für sympathische ansehen,
während Walter meint, dass Verschiedenes dagegen spricht,
dass es Nervenzellen sein sollten. Er meint auch nicht, dass
es Gliazellen sein können. Man muss annehmen, dass es
Zellen sind, die für die Zirbeldrüse specifisch sind. Im Par-
enchym findet er Zellen mit ganz ähnlichen Kernen und
Protoplasma, aber ohne die typischen Verlängerungen; man
muss deshalb annehmen, dass die Zellen nur in der Nähe von
Gefässen und Septen in die typischen Elemente verwandelt
werden, welche das Netzwerk bilden. Grössere Ähnlichkeit
mit den Nervenzellen bieten die zwei folgenden Zellarten.
Die zweite Zellenart wird von verhältnismässig grossen
Bildungen, die spärlicher vorkommen, repräsentiert; sie er-
innern mehr an motorische Nervenzellen.
Die dritte Zellenart hat Walter nur in den Piasepten ge-
funden und sie ist überdies selten; es sind kleinere Zellen, die
stark gefärbt werden. Diese beiden Zellenarten enthalten auch
kein Tigroidkorn und weisen nur selten intracelluläre Fasern
auf; das tun aber auch nicht alle sympathischen Nervenzellen.
Von der Commissura posterior strahlt eine ziemlich bedeutende
Anzahl von Nervenfäden in die Zirbeldrüse ein, zuerst in
Bündeln, später vereinzelt, um sich zuletzt mit den Endkolben
an die Parenchymzellen zu legen. Sympathische Nervenfäden
treten mit den Gefässen und Septen auf ,die Weise ein, wie
Cajal sie beim Kaninchen und der Ratte beschrieben hat;
246 KNUD H. KRABBE,
sie liegen bündelweise um die Gefässe herum, strahlen dann
zwischen die Parenchymzellen hinein und enden mit Terminal-
knöspchen. Ausserdem werden noch andre Elemente gefunden,
die wohl für secretorisch angesehen werden müssen und die
im 1. Lebensjahr die grösste Masse des Parenchyms bilden.
Endlich findet er Elemente, die atypischer Neuroglia gleichen.
Walter meint, dass die Zirbeldrüse als Gesamtheit als
eine Art von Reflexorgan aufgefasst werden muss. ö
AchWwearro-Saeristäans. und) ‚Walters, Unter
suchungen sind für das Verständnis der Histologie der Zirbel-
drüse von entscheidender Bedeutung, weil man hierdurch das
Vorhandensein einer bedeutenden Menge von Nervenzellen im
Organ beim Menschen als festgesetzt betrachten kann. An
einigen Punkten ist es aber doch nötig ihre Untersuchungen
zu vertiefen; dies gilt unter anderm der Zusammenstellung
zwischen denjenigen Zellentypen, die bei den Silbermethoden
gesehen werden und den drei Zelltypen, die bei gewöhnlichen
Hämatoxylin- und Anilinfärbungen gefunden werden. Ferner
fehlten Untersuchungen über die Verhältnisse auf den ver-
schiedenen Altersstufen. Und endlich wollen wir einige Punkte
hervorheben, in denen wir mit Walter uneinig sind, indem
dieser einen Teil der Pinealzellen als Nervenzellen aufzufassen
scheint, weil sie augenscheinlich Nervenfäden aussenden —
gleichwie Dimitrova sie als Gliazellen auffasste, weil sie
mit Gliafäden in Berührung standen.
Unsere eigenen Untersuchungen haben folgendes ergeben :
Wenn man auf Präparaten, die mit Anilinfarben oder Häma-
toxylin gefärbt sind — am besten mit Heidenhains oder
dem von Held angegebenen molybdänsauren Hämatoxylin —,
die verschiedenen Zellentypen betrachtet, die im Parenchym
gefunden werden, wird man neben den Pinealzellen mit chro-
matinarmen, rundlichen oder eingekerbten Kernen im aus-
läuferfreien Protoplasma und den Gliazellen mit den chromatin-
.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 247
reicheren, scharf granulierten Kernen im gliafadenhaltigen Proto-
plasma einen dritten charakteristischen Zellentypus!) finden.
Die Kerne in diesen Zellen gehören zum grössten Teil, gleichwie
einige der Gliazellenkerne, zu Dimitrovas „noyaux fonces“,
da sie in ungewöhnlichem Grad Farbstoffe binden, besonders
Hämatoxylin; selbst bei sehr kräftiger Differenzierung durch
Heidenhains Eisenhämatoxylinfärbung behalten diese Kerne
ihre Farbe, nachdem das Hämatoxylin aus den Kernen aller
andern Zellen herausgezogen worden ist; in andern ist die
Farbenintensität nicht so stark, die Kerne zeigen aber die-
selbe homogene Färbung und keine Granulierung, wie die
beiden vorigen Zelltypen. Die Kerne (Figg. 7, 9—11n) sind
gewöhnlich pyramidenförmig mit rundlichen Ecken; zuweilen
weisen die Konturen eine rauten- oder sternförmige Zeich-
nung auf, oft sind die Kerne etwas flach und leicht gekrümmt.
Durch diese typische Form unterscheiden sie sich von den
dunkel gefärbten Gliazellkernen, die immer rund sind. Die
Kerne enthalten, im Gegensatz zu dem was Dimitrova
meinte, einen Nucleolus,. gleichwie alle andern Kerne im Par-
enchym (die Gliakerne und die Pinealkerne).
Die Kerne sind von einer ganz dünnen Protoplasmaschicht
umgeben, die gleichfalls durch ‚die verschiedensten Färbe-
methoden sehr intensiv sowohl von basischen, wie sauren
Farbstoffen gefärbt wird, und übrigens ein homogenes Aus-
sehen hat. Diese intensive Färbung des Protoplasmas haben wir
stets gefunden, auch bei formolinjizierten Präparaten, so dass
weniger Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden ist, dass sie darauf
beruhen sollte, dass in der Agone oder post mortem etwas
von der reichlichen Chromatinmenge in das Protoplasma hinaus
diffundiert ist. Die intensive Färbung des Protoplasmas be-
wirkt oft, dass man die Konturen des Kerns weniger scharf
!) In unserer vorigen Arbeit hatten wir diese Zellen als eine Art von
pyknotischen Gliazellen aufgefasst.
248 KNUD H. KRABBE,
sieht. Von den Spitzen, welche das Protoplasma an den
Ecken der Dreiecke bildet, oder den Spitzen der Sterne, senden
diese Zellen Ausläufer aus, die zwischen die Parenchymzellen
hindurchdrängen (Fig. 7).
Wie früher erwähnt, sieht man auf den Säurefuchsin-
Lichtgrün-Präparaten und in gewissen Partien der G olgi-Präpa-
rate, dass die Pinealzellen nicht unmittelbar aufeinander
stossen, sondern durch eine protoplasmatische Masse getrennt
sind, die ein feines Netzwerk zwischen den Pinealzellen bildet.
Dies Netzwerk ‘steht unter anderm mit den obengenannten
Zellen in Verbindung, von welchen es zum Teil als Ausläufer
betrachtet werden muss. Es wird mit einem dunkleren Ton
als das Protoplasma der Pinealzellen gefärbt und es zeigt
bereits bei der Alzheimer-Färbung eine ausgesprochene
fibrilläre Struktur. In derselben kann vermittels der Säure-
fuchsinfärbung die Anwesenheit einer Fasernart konstatiert
werden, nämlich wie früher erwähnt der Gliafäden, die von
den Gliazellen entspringen. In der übrigen fibrillären Masse,
die nur von Lichtgrün gefärbt wird, sieht man überdies eine
fibrilläre Struktur, in derselben kann man aber nicht so distinkt
die verschiedenen Fasern ausdifferenzieren. Das gelingt da-
gegen bei Anwendung von Silberimprägnierungen, wie Cajals,
Bielschowskys und Walters. Auf Präparaten, die mit
denselben behandelt sind, sieht man nämlich, dass jedenfalls
ein grosser Teil der Masse, welche die Zwischenräume zwischen
den Pinealzellen ausfüllt, von anastomosierenden Fasern ge-
bildet wird (Figg. 17—20 ij).
Diese Fasern werden durch die Silbermethoden schwarz,
gleichwie die Achseneylinder in den anstossenden Hirnteilen ;
sie bilden hierdurch einen Farbengegensatz zu den Glialäden,
die nur schwach braun, resp. grau imprägniert werden.
Durch Bindegewebefärbungen wie Mallorys Anilinmischungs-
methode, bei der, so weit man sehen kann, alle Binde-
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 249
oewebefasern kräftig blau gefärbt werden, werden diese Fasern
schwach grauviolett gefärbt, gleichwie die Achseneylinder in
den anstossenden Hirnteilen. Durch Weigerts Elastinfärbung
werden sie nicht gefärbt.
Die Fasern sind verzweigt und anastomosieren, was mit
den Gliafäden nicht der Fall ist.
Mit Rücksicht darauf meinen wir, dass Achücarro-
Sacristän und Walter darin recht haben, dass diese
Fasern als Nervenfäden aufgefasst werden müssen. Bin Ge-
danke, den wir eine Zeitlang hatten, nämlich, dass es eine
Art Secretcapillaren sein könnten, wiesen wir später als
weniger wahrscheinlich zurück, teils weil diese Fibrillen als
Ausläufer von gewissen charakteristischen Zellen ausgingen,
teils wegen ihres Verhältnisses im Verlauf der Entwickelung.
Schon im Metamorphosenstadium sieht man eine” An-
deutung von Nervenfadenbildung im embryonalen Parenchym,
aber erst beim Übergang zum infantilen Parenchym kommt
diese deutlich zum Ausdruck, so dass man im 1. Lebensjahr
die metamorphosierten Pinealzellen von einem feinen Netz-
werk von Fäden umsponnen sieht, das von den obengenannten
Zellen mit den dunkelkantigen Kernen ausgeht, die. wir im
folgenden einfach Nervenzellen nennen werden. Die Fäden
bilden an diesem Stadium augenscheinlich ein zusammen-
hängendes Netzwerk, welches nur hier und da bei einem
(Grefäss einen blind endenden Ausläufer bildet, der als eine
knöspchenförmige Anschwellung endet, die den von Achü-
carro-Sacristän und Walter beschriebenen entsprechen.
Die Menge dieser Endknöspchen nehmen schnell zu und an
Präparaten vom 2. Lebensjahr sieht man bereits bedeutende
Mengen solcher. Im Laufe der Jahre nehmen sie weiter zu
und bei sehr alten Individuen werden sie in ungeheuren Mengen
gefunden.
Die Endknöspchen (Figg. 16, 18, 19e) haben durchwegs
DD
ı au
>
KNUD H. KRABBE,
Birnenform, sind oft leicht gekrümmt, seltener kugelrund oder
pilzförmig ausgebreitet. Das spitze Ende hängt mit dem Nerven-
faden zusammen, während das stumpfe augenscheinlich frei
in die Zwischenräume zwischen den Bindegewebefibrillen
hinausragt oder mit freiem Zwischenraum zwischen der
äussersten Schicht des Bindegewebes und des Parenchyms
liegt. Zuweilen sitzt ein Knöspchen am Ende eines‘ langen
Fadens, zuweilen verzweigt ein solcher Faden sich wie ein
vielarmiger Leuchter mit einem Endknöspchen auf jeder Spitze,
oder aber die Verzweigung ist unregelmässig, „halbschirm-
förmig“ (Achücarro-Sacristän). Die Grösse der Knösp-
chen variieren etwas — durchschnittlich sind sie ca. 1 u
dick und 2 u lang. An den Schnitten sieht man einige Fäden,
deren Endknöspchen augenscheinlich abgebrochen und ohne
Zusammenhang mit dem Nervendrahtnetzwerk liegt; es ist
am wahrscheinlichsten, dass dies darauf beruht, dass die
Schnitte dünn sind, und wenn es auch nicht bewiesen werden
kann, so darf man wohl annehmen, dass wahrscheinlich alle
Knöspchen einen Abschluss der Ausläufer des Nervenfaden-
netzwerkes und keine freien Körperchen darstellen. In welchen
Gewebeelementen diese Endknöspchen sich eigentlich befinden,
ist auch schwierig mit Bestimmtheit zu entscheiden. Einige
wenige Enden, die Walter gezeigt hat, liegen zwischen den
Parenchymzellen, indem ein solches Knöspchen sich dicht an
eine Pinealzelle anschmiegt. Ein Teil derselben endet draussen
in der: Bindegewebesepten, und sie liegen hier vermutlich
in der albuminösen Substanz, die in den ödematösen Septen
die Zwischenräume zwischen den Bindegewebefasern füllt; sie
treten anscheinend in keine intimere Verbindung mit den Ge-
fässen, zuweilen können einzelne Knöspchen dicht an einer
Capillare oder auf der Adventitia eines Gefässes liegen, doch
ohne sich hieran festzuheften oder in näheren Kontakt hiermit
zu treten.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 251
Weitaus die grösste Menge der Endknöspchen liegt in-
zwischen im äussersten Teil des Parenchyms, ohne doch das
Bindegewebe zu erreichen. Hier werden, je älter das Indi-
viduum ist, desto stärkere, dichtere Massen von Nervenfäden
gefunden, die — wie Walter beschrieben hat — senkrecht
gegen die Septumwand laufen und alle enden in Knöspchen,
zum Teil in direkter Verlängerung des Fadens mit dem abge-
stumpften Ende gegen das Septum gekehrt, zum grössten Teil
aber zurückgebeugt, wie ein dichter Wald von hängenden
Glockenblumen. Zuweilen sieht man auch solche dichte Massen
von Endknöspchen in den Teilen des Parenchyms, die augen-
scheinlich nicht an die Bindegewebssepten stossen. Dies kann
aber darauf beruhen, dass der Schnitt den Rand des Parenchyms
tangiert hat.
Die nächste Frage, die vorliegt, ist die, ob das Fibrillen-
netz pericellulär im Verhältnis zu den Pinealzellen, oder ob
es endocellulär ist, welchen Eindruck man z. B. nach Walters
Beschreibung und Figuren erhält. Im Abschnitt über die Pineal-
zellen erwähnten wir die Gründe zur Annahme, dass die Pineal-
zellen keine Ausläufer aussenden. Und da die Nervenfäden,
die mit den Pinealzellen in Berührung stehen, im Verhältnis
zu diesen pericellulär und nicht endocellulär sind, schliessen
wir aus folgendem:
Erstens findet man die Fibrillen immer auf der Aussen-
seite des Protoplasmas (Fig. 7) und nicht dieses durchkreuzend.
Zweitens sieht man zuweilen abgesprengte Pinealzellen im
Bindegewebestroma oder in der basalen Glia liegen und diese
besitzen dann keine Fasern. Drittens sieht man, dass die
Fasern ohne Zweifel von den Verlängerungen der Spitzen der
Nervenzellen ausgehen. Man kriegt aber ferner infolge einiger
Golgi-Präparate den deutlichsten Eindruck, da die Nerven-
zellen mit Ausläufern und Endknöspchen usw. stark imprägniert
sind, während die Pinealzellen teilweise schwach imprägniert,
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 17
252 KNUD H. KRABBE,
an einzelnen Stellen zwischen den Ausläufern. der Nerven-
zellen hineingelagert sind, doch ohne selbst solche auszu-
senden. Und endlich gibt es, wie früher erwähnt, an Golgi-
Präparaten andere Partien, wo die wabenartige Struktur die
Pinealzellen als Zellen zeigen, die in einem Maschenwerk ein-
gelagert sind, aber auf solche Weise, dass es — welchen
Eindruck z. B. Fig. 16 gibt — nur eine Minderzahl derjenigen
Zellen des Parenchyms ist, welche Nervenfäden aussenden,
und dass die anderen Zellen von diesen umsponnen sind.
Innerhalb der Nervenzellen haben wir versucht ver-
schiedene Typen zu sondern, es ist uns aber nicht gelungen.
Walters einer Typus ist nach unserer Meinung wie gesagt
als Pinealzellen anzusehen. Den eigentümlichen Zellentypus,
den Achüucarro und Sacristän in Fig. 3 ihrer zweiten
Abhandlung abgebildet haben, haben wir nie getroffen, und
wir sind geneigt, ihn als eine pathologische Form aufzufassen.
Die nächste Frage ist die, ob dies System von Nerven-
fäden mit dem sympathischen System oder dem Zentralnerven-
system im Zusammenhang steht. Es ist uns nirgends ge-
lungen, einen Zusammenhang mit den sympathischen Fäden
nachzuweisen, die längs der Gefässe laufen, wie Cajal es
beim Kaninchen, Walter beim Menschen gefunden hat. Da-
gegen meinen wir entschieden, dass Walter darin recht hat,
dass die Nervenzellen mit der Commissura posterior zusammen-
hängen. Wir haben selbst bei verschiedenen Präparaten Bündel
von Nervenfäden von der Commissura posterior — übrigens
auch von der Commissura habenularum — solcherweise in
das Parenchym ausstrahlend gesehen, dass sich ein Teil der-
selben in die Nervenfäden des Parenchyms fortsetzt,
Hierdurch werden wir zugleich auf die Frage über das
Vorhandensein von markhaltigen Nervenfäden ım
Corpus pineale geleitet. Diese Frage ist schon früher unter
Debatte gewesen. Das Vorkommen bei Affen scheint ohne
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 253
Zweifel zu sein (Darkschewitsch,,Joh.,.Möller,
Cutore); der letztere bildet ein Markscheidenpräparat von
Macacus sinicus ab, an welcher man Bündel von markhaltigen
Nervenfäden sieht, die sich in die Zirbeldrüse erstrecken, teils
von der Commissura habenularum, teils von der Commissura
posterior; die letzteren breiten sich fächerförmig aus und
reichen fast ganz bis zur Spitze der Zirbeldrüse hinauf. Auch
bei verschiedenen Säugetieren sind sie nachgewiesen worden.
Ältere Verfasser wie Luschka, Pawlowsky, Hage-
mann und Max Flesch erwähnen Nervenfäden, die von
den Commissuren in das Corpus pineale treten, ohne dass
sie aber näher als markhaltig charakterisiert werden. Koel-
liker (1896) meint dagegen, dass die Zirbeldrüse nervenlos
ist, Dimitrova bemerkt, dass sie durch Weigerts Mark-
scheidefärbung keine positiven Resultate erhalten hat. Mar-
burg hat dagegen markhaltige Nervenfäden, Fibrae pineales,
im Corpus pineale beim Menschen gefunden ; die Fäden kommen
teils von der Commissura habenularum, teils von der Com-
missura. posterior; sie strecken sich caudal aus, können ziem-
lich weit in das Gewebe hinein verfolgt werden und bilden
zwei Bündel, ein dorsales Fibrae pineales superiores und ein
ventrales Bündel, Fibrae pineales inferiores. Ausserdem werden
querlaufende dorsale Fäden gefunden, die ein deutliches Ver-
hältnis zur Commissura habenularum zeigen. Leider gibt Mar-
burgs Bild keinen Eindruck davon, wie weit man die Fasern
ın das Parenchym des Corpus pineale hinein verfolgen kann.
Einzelne andere Verfasser haben das Vorhandensein von
markhaltigen Nervenfäden in der Zirbeldrüse geleugnet. Dies
kann man indessen nur nach Untersuchung von Serienschnitten
tun. Auf einem Teil einzelner Sagittalschnitte, die wir mit
Weigert-Kulschitzky-Wolters Markscheidefärbung ge-
färbt, untersuchten, haben wir keine markhaltigen Nervenfäden
im Parenchym gefunden. Nur an einem einzelnen Schnitt
17%
254 KNUD H. KRABBE,
(sanz gewiss eines Paralytikers, der ja nach Sibelius be-
sonders häufig Heterotopien im Zentralnervensystem darbieten
soll), haben wir ein kleines, augenscheinlich abgesprengtes
Bündel markhaltiger Nervenfäden von der Commissura posterior
in das Parenchym laufend, gesehen. Untersuchungen von
Serienschnitten haben nur aber Marburgs Befund bestätigt:
nämlich, dass sich sowohl von der Commissura posterior,
wie der Commissura habenularum Bündel von markhaltigen
Nervenfäden ein kleines Stück in das Parenchym hineinstrecken
(bei weitem nicht so weit wie bei Macacus sinicus). Wahr-
scheinlich entsprechen die Markscheiden den Achsencylindern,
die man bei Silberpräparaten in das Parenchym laufen sieht.
Die letzte Frage, welche die Nervenzellen berührt, ist
die, ob das protoplasmatische Netzwerk zwischen den Pineal-
zellen noch andere Bestandteile als die bereits erwähnten ent-
hält. Ausser denjenigen Nerven- und Gliafäden, die einen Teil
des Maschenwerkes zwischen den Pinealzellen bilden, wird
nämlich ganz augenscheinlich eine weitere protoplasmatische
Masse gefunden, die die Zwischenräume zwischen diesen Fasern
ausfüllt. Da wir indessen keine Färbemethode gefunden haben,
durch welche sowohl Glia- wie Nervenfäden und Protoplasma
gefärbt wurde, sind wir ausserstande gewesen, zu entscheiden,
wie weit die nicht specifisch imprägnierte Protoplasmamasse
den Ausläufern der Gliazellen oder derjenigen der Nerven-
zellen angehörte. Möglicherweise gehört sie teils der emen,
teils der andern Art von Zellen an.
Das Bindegewebe.
I. Das Stroma.
Bereits ältere Verfasser wie Faivre erwähnen das Binde-
sewebe, welches die Gefässe im Corpus pineale umgibt. Die
späteren Verfasser sprechen teils von Fasern im allgemeinen,
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 255
teils direkter von Bindegewebe. Henle hebt hervor, dass
das Bindegewebe die Zirbeldrüse in verschiedene Follikel teilt,
und Hagemann schliesst sich im wesentlichsten dieser
Meinung an.
Dimitrova hat gefunden, dass die Zirbeldrüse bei Neu-
geborenen und kleinen Kindern nur wenig Bindegewebe ent-
hält, welches im Innern strangweise verteilt ist. Bei Er-
wachsenen findet sie, teils durch van Gieson-Färbung, teils
durch künstliche Verdauung, dass das Corpus pineale Binde-
gewebsbündel enthält, die von der Kapsel eindringen, anastomo-
sieren und ein Netzwerk bilden; im Gegensatz zu Hage-
mann meint sie, dass das Parenchym, welches von den Binde-
gewebsbündeln eingeschlossen wird, vollständig zusammen-
hängend ist, und dass keine Parenchyminseln gefunden werden,
die gänzlich vom Bindegewebe eingeschlossen sind. Die Binde-
gewebsbündel sind scharf begrenzt, und keine Bindegewebs-
fasern dringen von den Septen aus in die Inseln ein, wie
Henle und Hagemann es beschrieben haben. Es sind
nur wenige Kerne im Verhältnis zur Menge der Fasern vor-
handen. Am Rand liegen die Fasern am dichtesten und sind
mit Gliafäden gemischt. Die Bindegewebsmenge wechselt in
den verschiedenen Teilen der Zirbeldrüse.
Anglade und Ducos konstatieren, dass kein Binde-
gewebe in den Alveolen gefunden wird, und dass die Septen
zum Teil aus Neuroglia gebildet werden.
Marburg meint, dass mit dem Alter ein deutliches Zu-
nehmen des Bindegewebes eintritt. Die deutliche Abgrenzung
in Lappen, die bei der dichteren Zellanhäufung im Rand,
für Neugeborene so charakteristisch ist, schwindet ganz und
man ist nicht mehr imstande den Drüsencharakter zu erkennen.
Das ist an den Stellen der Fall, wo das Bindegewebe eine
diffuse Vermehrung erfährt und diese nicht die grossen Septen
trifft. Die Grundlage für die Septen ist ein dichtfädiges, zellen-
256 KNUD H. KRABBE,
armes Bindegewebe, an welches sich eine fadenreiche (Glıa
anschliesst. In den Septen kommt es auch zu degenerativen
Veränderungen, einer Homogenisation, die man als hyalın be-
zeichnen könnte.
Achucarro und Sacristän haben die Zirbeldrüse mit
Hilfe einer Tannin-Silbermethode, die sie erfunden haben, unter-
sucht und hierdurch grosse Mengen von Bindegewebe ge-
funden, teils als Netz von grossen und kleinen Trabekeln,
teils als isolierte Fasern, die in das Parenchym eindringen.
Obgleich das Vorhandensein von Bindegewebe in der Zirbel-
drüse solcherweise allgemein als Tatsache betrachtet wird,
meinen wir doch, dass wir die Frage: ob normalerweise Binde-
gewebe bei Kindern und Erwachsenen in der Zirbeldrüse vor-
kommt, einer Prüfung unterwerfen zu müssen. Denn in dieser
Frage muss man nämlich in höherem Grad als beim Parenchym,
und in grösserem Massstab als die Verfasser es bis jetzt getan
haben, Rücksicht auf die Unvollkommenheit des Materials
nehmen. Herzkrankheiten, Syphilis und Alkoholismus, die ın
so vielen parenchymatösen Organen zur Bindegewebsentwicke-
lung führen können, können vermutlich auch eine solche in
der Zirbeldrüse hervorrufen. Wir betrachten deshalb nur unsere
Untersuchungen über das Bindegewebe bei Kindern als einiger-
massen zuverlässig; die Resultate von Erwachsenen, besonders
Männern, müssen mit allem möglichen Vorbehalt betrachtet
werden; ganz gewiss haben wir bei der Beurteilung alle die-
jenigen chronischen Krankheiten ausgeschlossen, die möglicher-
weise eine Bindegewebsvermehrung verursachen könnten, aber
eine eventuell überstandene Syphilis oder Alkoholismus, die
im übrigen keine makroskopischen Spuren im Organismus
zurückgelassen haben, sind Faktoren, mit denen man immer
rechnen muss. Infolge der oben erwähnten Reduktion ist unser
Material zur Beurteilung der Frage über die Bindegewebs-
menge etwas klein geworden, da diese scheinbar sehr stark
variiert.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 257
Zur Färbung des Bindegewebes ist unsere Hauptmethode
Hansens Modifikation von v. Giesons Pikrofuchsinmethode
gewesen; daneben haben wir Mallorys Färbung mit Säure-
fuchsin-Anilinblau-orange und Alzheimers Färbung mit
Säurefuchsin-Lichtgrün angewandt. Die beiden letzteren Me-
thoden bilden in verschiedenen Beziehungen eine gute Er-
gänzung, da Hansens Methode einen einzigen Nachteil auf-
weist, der besonders bei der Untersuchung der Zirbeldrüse
unangenehm ist. Wie nämlich Hansen selbst bemerkt !),
sind die Bindegewebsfibrillen in parenchymatösen Organen
oft mit Albuminstoffen imbibiert und können deshalb nicht
mit Säurefuchsin gefärbt werden, sondern nur mit Pikrin-
säure. Im Anfang verwunderten wir uns oft darüber, dass
die Fibrillen im Stroma nur so schwach oder auch gar nicht
vom Säurefuchsin gefärbt wurden, selbst nicht auf Präparaten,
bei denen das Kapselbindegewebe iprachtvoll gefärbt war. Später
wurde es uns klar, dass dies von den oben erwähnten Ver-
hältnissen herrührte. Dagegen wurden die Fasern der Septen
(Fig. 10c) mit Alzheimers Säurefuchsin-Lichtgrün gefärbt.
Die Bindegewebsfasern könnten bei dieser Methode leichter
mit Nervenfäden verwechselt werden, die vom Parenchym in
das Stroma hinauslaufen; diese wurden aber doch schwächer
und mit einem grau-grüneren Ton gefärbt (Fig. 100).
Die Gewissheit dafür, dass die Septen Bindegewebsfasern
enthielten, bekamen wir, indem wir Hansens Rat befolgten
und die Schnitte vor der Pikrofuchsinfärbung mit schwachen
Alkalien behandelten; nach. Behandlung von Schnitten, in
welchen man im Stroma nur ganz wenig säurefuchsingefärbte
Fasern gesehen hatte, während einiger Stunden mit einer ge-
sättigten Lösung von Lithionkarbonat, zeigte es sich, dass
jetzt die grösste Menge der Fasern von Säurefuchsin_ gefärbt
!) Fr. C. C. Hansen: Untersuchungen über die Gruppe der Bindesub-
stanzen. Anatomische Hefte 83. 1905.
258 KNUD H. KRABBE,
wurden, während die andern fibrillären Elemente (Glia und
Nervenfäden) dies nicht annahmen. Wir meinen deshalb, dass
man berechtigt ist, das im folgenden erwähnte Gewebe als
Bindegewebe aufzufassen.
Wie im embryologischen Abschnitt erwähnt, sieht man,
dass bereits bei Präparaten vom 4. Fetalmonat, im Parenchym
der Pinealanlagen dünnwindige Blutgefässe gefunden werden.
Beim erössten Teil der Präparate von den späteren Stadien
des Fetallebens ist das Bindegewebe nur spärlich vorhanden,
mit Ausnahme desjenigen, welches die Spalten zwischen der
vordersten und hintersten Pinealanlage ausfüllt. Es ist aber,
wie erwähnt, ein einzelnes Präparat (vom 6. Fetalmonat) vor-
handen, bei welchem das Wachstum der Pinealanlage in das
umgebende embryonale Bindegewebe hinein unregelmässiger
vor sich gegangen ist, so dass sich von der Oberfläche tiefe,
bindegewebsgefüllte Spalten in das Parenchym hineinziehen.
Etwas ähnliches sieht man auch bei Marburgs Bild. Es
ist möglich, dass dies ein immer vorhandenes, aber ganz kurz-
dauerndes Stadium im Fetalleben repräsentiert. Es ist auch
möglich, dass es nur eine Variation ist, die sich das ganze
Leben hindurch hält, indem man sich ja gut vorstellen könnte,
dass die Zirbeldrüsen von Erwachsenen, die reichliches Binde-
gewebe enthalten, sich von Typen entwickelt haben, die das
erwähnte Aussehen im Fetalleben hatten. Es muss jedoch
bemerkt werden, dass die Bindegewebsmenge an allen unsern
Präparaten vom 1. Lebensjahr eine überaus sparsame ist.
In den Zirbeldrüsen von Neugeborenen haben wir kein
anderes Bindegewebe gesehen als das, welches in den
Adventitialscheiden der grösseren Gefässe gefunden wird, und
an 8 andern Präparaten vom 1. Lebensjahr nur hier und da
kleine Bindegewebsbündel, die sich von einem Gefäss zum
andern erstrecken. Es ist auch möglich, dass dies darauf
beruht, dass der Schnitt eine Gefässadventitia tangiert. Nach
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). Tafel 21.
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2).
Ba. re
Tafel 22,
Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden.
. > en 7: Bn a DJ;
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über .d. Zirbeldrüse d. Menschen. 259
dem 1. Lebensjahr werden indessen unzweifelhafte Binde-
gewebsbündel gesehen, welche die Gefässe verbinden. Die
Kerne in denselben sind teils plump und ziemlich chromatın-
arm, teils lang, dünn, dann gewöhnlich aber chromatinreicher.
Die Menge der Bindegewebsfasern ist jedoch noch sparsam
und wie oben erwähnt wird sie nur schwach gefärbt. In den
folgenden Jahren nimmt die Menge allmählich zu, man kann
zuweilen hier und da das zentrale Ödem sehen, welches unten
erwähnt werden soll. Es treten jetzt auch (im 3. und 4. Jahr)
unregelmässigere Kernformen im Bindegewebe auf, und die
Menge derselben nimmt mit den Jahren zu. In einigen Fällen
wird man im Alter von 6-8 Jahren von beginnender Septum-
bildung sprechen können und man bekommt hierdurch einen
Übergang von dem, was man eine homogene Type nennen
könnte, zu dem, was man als eine pseudoalveoläre Type
des Corpus pineale bezeichnen kann.
Wann dieser Übergang geschieht, lässt sich schwierig genau
bestimmen. Von keinem Alter, wie demjenigen zwischen 6 und
16 Jahren, ist es so schwer, ein genügend grosses, normales
Material zu kriegen. Wir haben deshalb an diesem Punkt,
obgleich mit allem Vorbehalt, es mit Material von tuberkulösen
Meningiten ergänzt, welches übrigens nur bestätigt hat, was
wir sonst gefunden, nämlich, dass die Septumbildung schon
im Alter von 7 Jahren wohlentwickelt sein kann, dass man
aber andererseits an Präparaten vom Alter von 16 Jahren,
Zirbeldrüsen von durchwegs homogener Type antreffen kann.
Die ausgeprägteste Bildung von dicken Septen haben wir im
Corpus pineale .eines 12 jährigen Mädchens (Fig. 26) gefunden;
sie war infolge einer Osteomyelitis gestorben, welche 4 Monate
lang gedauert hatte und es ist möglich, dass die Intoxikatıon,
die jedenfalls eine amyloide Degeneration der anderen Organen
hervorgerufen hatte, die Ursache zu der starken Septumbildung
gewesen ist. Im übrıgen kann man, selbst bei bedeutend älteren
260 KNUD H. KRABBE,
Individuen, Septumentwickelung in einigen Partien der Zirbel-
drüse antreffen, während der Rest noch homogene Struktur
besitzt. Bei sehr alten Individuen ist der Corpus pineale ge-
wöhnlich in seiner ganzen Ausdehnung von pseudoalveolärer
Type, und trotzdem haben wir bei einem 92 jährigen minimale
Septumbildung (Fig. 27) gefunden.
Die Septumbildung fängt oft im Zentrum der Zirbeldrüse
an und nicht speziell in den Partien, die an die Bindegewebs-
kapsel angrenzen. Man muss deshalb annehmen, dass die
Septen sich gewöhnlich von den Adventitien der Gelässe aus
entwickeln und nicht von der Bindegewebskapsel aus, mit
welcher übrigens die Septen nach und nach in Verbindung
treten.
Die Septen werden bei jüngeren Individuen als dünnere
oder dickere Bindegewebsbündel gesehen, die sich von den
Gefässen aus solcherweise strecken, dass man sieht, dass die
Gefässe sich in die Septen hinein verzweigen, deren Menge
sich allmählich als grösser erweist, als diejenige der Gefässe.
Und allmählich, wie sie wachsen, schliessen sie sich mehr
und mehr zusammen, so dass die labyrinthförmige Zeichnung,
die sie anfangs auf den Schnitten zeigen, ausgeprägter einem
zusammenhängenden Netz gleicht (Fig. 25). In dieser Ver-
bindung muss die Frage berührt werden, inwiefern diese Septen
die Zirbeldrüse vollständig in verschiedene Follikel teilt, oder
ob das ganze Parenchym immer eine zusammenhängende Masse
bildet.
Dass das Parenchym in der Kindheit und Jugend eine
zusammenhängende Masse bildet, ist deutlich sichtbar, da man
ja bereits bei jedem Schnitt den Zusammenhang erkennen
kann. Aber selbst da, wo man bei einem Teil der Schnitte
die netzförmige Bindegewebszeichnung sieht, wäre es nicht
unmöglich, dass der Bau nur scheinbar alveolär ist, und die
Alveolen in Wirklichkeit zusammenhängen, was nur durch Ver-
ER
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 261
gleich von Serienschnitten entschieden werden kann. Die
Serien, die wir untersucht haben, haben denn auch gezeigt,
dass man nirgends ganz abgeschlossene Inseln von Parenchym
findet. Wir meinen also, dass Dimitrova gegenüber Hage-
mann und Henle Recht behält.
Wie fortgeschritten die Septumbildung auch ist, wird man
doch stets Gefässe sehen, die nicht in die Septen eingeschlossen
sind, sondern isoliert im Parenchym laufen: namentlich gilt
dies von den Capillaren.
Wenn man eine schwach vergrösserte Zirbeldrüse be-
trachtet, dann sehen wir das Aussehen in groben Zügen teil-
weise von der Menge der Concremente, Cysten und Gliaplaques
bestimmt. Im übrigen wird er aber vom Verhältnis zwischen
der Menge und der Verteilung von Bindegewebe und Parenchym
bestimmt.
Frühere Verfasser haben nicht immer genügende Rück-
sicht auf diese Variationen genommen und infolgedessen werden
Abbildungen, z. B. in Lehrbüchern, oft ein ganz anderes Aus-
sehen haben, als dasjenige, welches man in einem zufällig
gewählten Schnitt sieht. Vor allem ist es vom Alter abhängig,
demnächst findet man aber auch bei „normalen“ einen ziem-
lich grossen Spielraum für Variationen im Habitus selbst inner-
halb der physiologischen Grenzen. Bei Erwachsenen ist jedoch
die Anzahl der Zirbeldrüsen mit reichlichem Bindegewebe so
gross, dass man davon ausgehen kann, dass man normaler-
weise mit einer ziemlich grossen Bindegewebsmasse bei den-
selben rechnen kann. Dies ist auch mit Rücksicht auf die
Schätzung des pathologischen Befundes von Bedeutung. Bın-
zelne Verfasser, wie z.-B. Lord, haben von einer Cirrhose
der Zirbeldrüse gesprochen, welcher der Lebercirrhose ent-
sprechen soll; und tatsächlich kann zuweilen etwas im Aus-
sehen sein, was an eine cirrhotische Leber erinnert. Aber
gerade das so häufige Vorhandensein dieses Bildes bei augen-
262 KNUD H. KRABBE,
scheinlich normalen sollte ein Moment dafür sein, dass man
nur mit grösster Reserve eine Bindegewebsvermehrung in der
Zirbeldrüse als ein pathologisches Zeichen betrachten darf.
Die feinere Struktur der Septen ist folgende: Die Binde-
gewebszellen sind nicht besonders zahlreich. Die Kerne haben
zum grossen Teil das für die Bindegewebskerne übliche Aus-
sehen: etwas plumpe, ovale Kerne mit abgerundeten Enden
und bald mehr, bald weniger Chromatın; wie aber erwähnt,
sieht man bereits bei Präparaten von Dreijährigen, besonders
in den dickeren Teilen der Septen, eine Reihe aparterer Formen ;
einige sehr lange stäbchenförmige, andere gekrümmte, winkelige,
fussangellörmige, hammerförmige und andere, von absonder-
lichstem unregelmässigem Aussehen.
Die Bindegewebslasern zeigen eine etwas varlierende Ver-
teilung. In einigen Septen, besonders den dünneren, sind sie
einigermassen gleichmässig verteilt, liegen aber als Gesamt-
heit betrachtet, nicht so dicht wie z. B. in der Bindegewebs-
kapsel. In den dickeren Septen bewirkt aber die Verteilung
ein mehr charakteristisches Aussehen. Im Rand der Septen,
gegen das Parenchym zu, liegen die Fasern ziemlich dicht
und bilden gleichsam ein Maschenwerk, durch dessen Löcher
die Nervenfäden und deren Endknospen vom Parenchym aus
in die Septen hinaustreten. In der zentralen Schicht der Septen
liegen die Fasern dagegen aussergewöhnlich zerstreut mit
grösseren Zwischenräumen; in einigen dieser Zwischenräume
werden allerdings Endknospen gefunden; der grösste Teil der-
selben scheint aber leer zu sein, so dass etwas albuminöse
Substanz an den Bindegewebsfasern klebt. Es sind wohl kaum
Einschrumpfungsphänomene, da man sie an Präparaten findet,
wo sonst keine Schrumpfung vorhanden ist. Man muss also
annehmen, dass diese Zwischenräume von seröser Flüssig-
keit gefüllt sind, d. h. dass im Zentrum des Bindegewebes
ein Ödem gefunden wird.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 263
Ob dies Ödem in dem Sinne normal ist, dass es bei ge-
sunden Menschen in vivo gefunden wird, lässt sich nicht ent-
scheiden. Man muss auf alle Fälle damit rechnen, dass es
ein agonales Phänomen sein kann. Besonders muss hervor-
gehoben werden, dass das Vorkommen dieses zentralen Ödems
sehr inkonstant ist, sowie dass es schon bei Präparaten von
2 jährigen gesehen werden kann.
‚Eine Frage von besonderem Interesse ist diejenige über
die Abgrenzung des Parenchyms dem Bindegewebe gegenüber.
Bei älteren Individuen mit dicken Septen sieht man ge-
wöhnlich deren Oberfläche ganz scharf gegen das Parenchym
hin abgegrenzt. Bei Kindern und jüngeren individuen sind
aber die Grenzen im allgemeinen nicht so scharf. Wie Achü-
carro und Sacristän gezeigt haben (mit ihrer Silber-
methode), sieht man an vielen Stellen im Parenchym
Bindegewebsfasern. Und auch mit v. Gieson-Hansens
und Mallorys Bindegewebsfärbungen sieht man, dass 180-
lierte Bindegewebsfasern regelmässig von den Septen oder dem
perivasculären Bindegewebsbündel zwischen die Zellen des
Parenchyms hineinlaufen. An einigen Stellen sind die Grenzen
sehr locker, und man sieht, dass ganze Bündel von Binde-
gewebsfasern sich mit den Fasern des Parenchyms mischen.
Auf der andern Seite sieht man, besonders in dickeren Septen,
kleine Gruppen von Pinealzellen, eventuell mit einigen Nerven-
oder Gliazellen. Man kann gleichfalls sehen, dass isolierte
Gliafäden in diese hineinlaufen. Und endlich findet man, wie
erwähnt, grosse Mengen von Nervenfasern mit ihren End-
knöspchen, die sich vom Parenchym in das Bindegewebe hinein-
strecken und bis in die Nähe der Gefässe hinlaufen.
Man sieht also in der Zirbeldrüse ein Phänomen, das
sonst unter normalen Verhältnissen nicht im Gehirn gesehen
wird, nämlich eine teilweise Unklarheit der Grenzen zwischen
der ectodermal angelegten Gehirnsubstanz und dem mesodermal
264
KNUD H. KRABBE,
angelegten Bindegewebe. Wie bekannt hat Held!) und später
v. Fieandt?) nachgewiesen, wie das Gehirngewebe überall
durch eine Gliagrenzenmembran gegen Pia und Gefässe ab-
gegrenzt ist. Diese Grenze ist in der Zirbeldrüse unterbrochen.
oO
II. Die Bindegewebskapsel.
Die ganze Oberfläche desjenigen Teiles der Zirbeldrüse,
der frei herausragt, ist, wie früher beschrieben, mit einer
Bindegewebskapsel bekleidet. Diese ist ziemlich dünn, nur
bei alten Individuen sieht man sie zuweilen verdickt. Dieses
Bindegewebe liegt auf dem vordersten Teil der obersten Fläche
zwischen dem Parenchym und der einschichtigen Ependym-
bekleidung, die den Boden des Recessus suprapinealis bildet.
Im übrigen steht es ın Verbindung mit dem pialen Binde-
gewebe auf der einen, und mit dem Bindegewebsstroma der
Zirbeldrüse auf der andern Seite.
Die Kapsel besteht aus fibrillärem Bindegewebe mit grossen
plumpen Kernen und reichlichen Bindegewebsfasern, die nach
v. Gieson-Hansen stets kräftig gefärbt werden (im Gegen-
satz zu denjenigen im Stroma).
Einer Frage haben wir besondere Aufmerksamkeit ge-
widmet, nämlich: ob glatte Muskulatur in der Kapsel
gefunden wird. Wir haben weder bei Kindern, noch bei Er-
wachsenen etwas gefunden, was mit Sicherheit als solche cha-
raklerisiert werden kann. Ganz gewiss findet man Zellen mit
Kernen, die länger, dünner und chromatinreicher sind als die
Bindegewebskerne, die häufig in der Kapsel vorkommen ; diese
Kerne erreichen aber nie eine solche Länge oder ein solches
Aussehen, dass sie nicht als Bindegewebskerne betrachtet
werden könnten. Und selbst wenn einzelne glatte Muskelzellen
dazwischen sein sollten, sind diese so wenig hervortretend,
!) und ?2) Siehe S. 241.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 265
dass man unter keinen Umständen von einer Muskelschicht
sprechen kann, wie in der Kapsel verschiedener Drüsen. Die
Frage hat insofern Interesse, als man (v. Cyon) daran gedacht
hat, dass die Zirbeldrüse möglicherweise eine mechanische
Funktion haben könnte, und zwar in betreff der Regulierung
des Ablaufes der Cerebrospinalflüssigkeit. Er stützt diese
Theorie darauf, dass die Zirbeldrüse bei einem Kaninchen
sich bei elektrischer Einwirkung lebhaft kontrahiert; er geht
aber irrtümlicherweise davon aus, dass die Zirbeldrüse schwach
vascularisiert ist. Es muss als gegeben betrachtet werden,
dass weder in der Kapsel noch andrerorts im Organ soviel
glatte Muskulatur gefunden wird, dass man aus dem Grund
der Zirbeldrüse eine motorische oder ähnliche mechanische
Funktion zuschreiben kann.
Ill. Quergestreifte Muskulatur.
Nicolas hat bei Untersuchung der Zirbeldrüse vom
Ochsen und Kalb in dessen äusserstem Teil quergestreifte
Muskulatur gefunden. Dimitrova bestätigt diesen Befund.
Beim Menschen hat kein Verfasser etwas ähnliches beschrieben.
Dagegen hat Pappenheimer einen Tumor gefunden, welcher
von der Zirbeldrüse eines Menschen ausging, und der teilweise
aus quergestreifter Muskulatur bestand. Es ist wohl wahr-
scheinlich — wie auch Pappenheimer selbst andeutet —,
dass es sich hier um eine teratomähnliche Bildung handelt,
besonders in Anbetracht dessen, dass Teratome eine 'unver-
hältnismässig grosse Menge derjenigen Tumoren repräsentieren,
die in der Zirbeldrüse gefunden werden.
Als Resultat unserer eigenen Untersuchungen können wir
nur aufzeichnen, dass wir nie, weder bei Kindern, noch bei
Erwachsenen quergestreifte Muskulatur in der Zirbeldrüse ge-
funden haben.
266 KNUD H. KRABBE,
IV. Die Wanderzellen.
(Fig. 12—13.)
Im Bindegewebe der Zirbeldrüse kommen ausser den eigent-
lichen Bindegewebszellen ein Teil der sogenannten Wander-
zellen vor!) vor. Obgleich es sich wesentlich um Zellen
handelt, welche auch an vielen andern Stellen des Organısmus
gefunden werden, erregt es doch ein gewisses Interesse ıhr
Vorkommen in den Bindegewebssepten der Zirbeldrüse zu
untersuchen, da es nämlich zum Teil Zellen sind, die sonst
nur spärlich im Zentralnervensystem vorkommen.
Frühere Verfasser haben diese nur flüchtig erwähnt.
Dimitrova hat bei ihrer Besprechung der Concremente einige
Zellen mit stark gefärbten Granula beschrieben, die sie als
Vorstadien der Concremente auffasst. Nach ihrer Beschreibung
muss man indessen annehmen, dass die Zellen, welche sie
beschreibt, Mastzellen sind, die sie missdeutet hat.
Galasescu und Urechia haben in der Zirbeldrüse
einige runde und ovale Zellen mit stark färbbaren Kernen
gefunden, die mitten in einem Protoplasma liegen, die lebhaft
von sauren Farben wie Eosin, v. Giesons Fuchsin usw.
gefärbt werden. Das Protoplasma dieser Zellen ist scharf be-
grenzt, enthält zuweilen feine Granulationen und ist regel-
mässig so gefüllt, dass der Kern nicht unterschieden werden
kann. Sie nähern sich scheinbar morphologisch denen, die
man in der Parathyreoidea findet. Die Verfasser nennen sie
acidophile, paravasculäre Zellen; über deren Funktion können
sie sick nicht aussprechen, sie meinen aber, dass sie bei der
inneren Sekretion eine Rolle spielen könnten.
CGostantini hat die Zirbeldrüse mit einer Reihe ver-
schiedener Färbemethoden untersucht, besonders mit Anilin-
färbungen, welche frühere Verfasser sehr wenig gebraucht
!) Maximov: Über die Zellformen des lockeren Bindegewebes. Arch
f. mikrosk. Anat. 1906.
z
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 267
haben. Er hat gefunden, dass beim Ochsen, seltener beim
Menschen und beim Pferd, Zellen mit grossen, stark baso-
philen Granula gefunden werden, die zuweilen Metachromasie
zeigen. Sie werden ausschliesslich neben den Geflässen ge-
funden. Die Menge der Granula kann so gross sein, dass
sie den Kern verdecken können. Sie gleichen morphologischen
(tewebsmastzellen; nach Färbung nach v. Gieson kann man
sie nicht beobachten. Er meint, dass Galasescu und
Urechias paravasculäre Zellen zu diesem Typus gehören,
dass sie aber besonders reich an Granula sind. Er wirft die
Frage auf, ob es wirkliche Mastzellen sind oder ob es be-
sondere Elemente mit basophilen Granulationen sind. Er meint,
dass das Vorhandensein von teils basophilen, teils acıdophilen
Elementen die Annahme einer inneren Sekretion stützt.
Ohne damals Costantinis Abhandlung, die im Herbst
1910 auf italienisch erschienen war, zu kennen, hoben wir
in der vorigen Abhandlung hervor, dass man in den Binde-
gewebssepten der Zirbeldrüse eine grosse Menge Zellen findet,
welche Granula enthalten; einige dieser Zellen gieichen Mast-
zellen, andere enthalten lipoide Granula und ein Teil derselben
enthält Granula, die sowohl mit basischen, wie mit: sauren
Farbstoffen gefärbt werden, und die am meisten den von Alz-
heimer beschriebenen ‚„Abräumzellen“ im Zentralnerven-
system gleichen.
Achücarro und Sacristän haben ähnliche Zellen
gefunden, besonders bei tuberkulöser Meningitis. Mastzellen
(Celulas cebadas) werden immer, Plasmazellen weniger kon-
stant, im Bindegewebe zerstreut gefunden. Auch Fetikörnchen-
zellen haben sie gefunden.
Polvanı erwähnt 4 Zellarten im Parenchym: Cellule
pineale fondamentali, Cellule pineali a granulazioni acidofile,
Cellule pineali a granulazioni basofile und Cellule pineali
a granulazioni lipoide. Die 3 letzteren, die er ohne weiteres
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 18
‚268 KNUD H. KRABBE,
auf das Parenchym bezieht, müssen nach der ganzen Be-
schreibung den hier erwähnten Wanderzellen entsprechen.
Indessen gibt es kaum eines von den in der Zirbeldrüse
vorhandenen Elementen, welches ausgesuchteres Material zu
zuverlässigen Untersuchungen erfordert, als eben diese.
Während es eine unbedeutendere Rolle spielt, ob die Ob-
duktion früher oder später nach dem Tod vorgenommen wird
(welches der Vergleich zwischen injiziertem und nicht in-
jiziertem Material zeigt), muss man davon ausgehen, dass jeder
toxische oder gewebszerstörende Faktor, der auf den Orga-
nismus eingewirkt hat, Einfluss auf das Vorkommen dieser
Zellen haben kann. Wir wollen deshalb von vornherein be-
merken, dass wir auf keinem Punkt der Beurteilung, was im
Corpus pineale normal ist, so zurückhaltend gegenüberstehen,
als eben auf diesem. Da wir aber keine Zirbeldrüse unter-
sucht haben, jedenfalls keine von Erwachsenen, bei denen
diese Zellen nicht gefunden werden, und zwar ganz unab-
hängig davon, was Betreffendem gefehlt hat, meinen wir, dass
eine bis zur Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür
spricht, dass diese Zellen eine Funktion im normalen Leben
und der Entwickelung der Zirbeldrüse ausüben, abgesehen
von der Rolle, die sie bei krankhaften Zuständen spielen
können.
Unter den oben genannten Zellen dominieren 3 Zelltypen,
nämlich: Mastzellen, Pigmentzellen und Zellen mit Granula,
die weder basophil noch pigmentartig sind.
a) Die Mastzellen (Figg. 12—13m).
Als den ersten Typus von Zellen kann die häufigste und
am meisten konstant vorkommende genannt werden, nämlich
die Zellen mit Protoplasma, die mit basophilen, metachromati-
schen Granula angefüllt waren und die man deshalb zu der-
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 269
jenigen Zellform, die Mastzellen genannt werden, rechnen muss;
ferner sind sie, wie man nachstehender Schilderung entnehmen
kann, Bindegewebsmastzellen ; Blutmastze.len haben wir über-
haupt niemals im Corpus pineale gefunden.
Das Aussehen der Zellen ist folgendes: Man findet
einen, Selten zwei Kerne. Der Kem ist klein (ca. 5 u),
von gleicher Grösse wie die Lymphocytkerne, kugelrund, zu-
weilen etwas länglichrund. Das Chromatin ist gewöhnlich am
Rand in grossen, scharfkantigen Granula verteilt, wodurch
der Kern Ähnlichkeit mit einem typischen Radkern bekommt.
Er ist oft etwas excentrisch gelegen. Das Protoplasma ist
gross, wohl abgegrenzt und von variierender Form, und zwar
wenn die Zellen im Bindegewebe liegen, gewöhnlich kugel-
rund, wenn sie aber in der Gefässscheide gefunden werden,
oval. Dasselbe Protoplasma ist mit Granula gefüllt, die klein,
kugelrund, durchwegs gleich gross sind und gleichmässig ver-
teilt im Protoplasma liegen, so dass gewöhnlich um den Kern
herum eine helle Partie sichtbar ist. Die Granula werden
distinki von alkoholischen (50% Alkohol) Anilinfarbenlösungen
gefärbt, welche nur schwach andere Gewebsteile färben. Bei
Färbung mit Toluidinblau, Thionin und polychromem Methylen-
blau werden diese Granula violett oder rot, während alle anderen
Elemente in der Zirbeldrüse blau gefärbt werden; bei Unna-
Pappenheim-Färbung erhalten sie einen braunen Ton, im
Gegensatz zu den anderen pyroningefärbten Elementen, die
stark karmoisinrot werden; bei dieser Farbmethode kriegen
übrigens auch die Kerne der Mastzellen eine andere (braunere)
Farbennüance als die anderen Kerne.
Die Färbung ist in gewissem Grad von der Fixierung
abhängig; sie gelang am besten bei alkoholfixierten oder formol-
Iixierten Präparaten. Bei chromfixierten Präparaten gelang die
Färbung nur, wenn die Fixierung von kurzer Dauer und die
Auswaschung gründlich war. Auch bei Formol-Flemming-
18*
270 KNUD H. KRÄBBE,
fixierten Präparaten wird die Färbung schwächer, aber die
Metachromasie sticht scharf gegen den grünlichen Ton ab,
den die übrigen Gewebsteile bekommen. Die fixierten Präpa-
rate ertragen die Behandlung mit Wasser und Glycerin gut,
ebenfalls diejenige mit schwächeren Säuren, wie 100% Essig-
säure, ohne dass die Färbung der Granula darunter leidet.
Granula vertragen dagegen keine Alkalien, auch keine Re-
duktionsmittel wie Natriumthiosulfat, ohne dass die Färbung
darunter Schaden leidet. Behandlung mit Sauerstoffmitteln
(30% Wasserstoffoxydul) wird gut vertragen.
Infolge obiger Beschreibung entsprechen diese Zellen vor-
züglich denjenigen, die früher als Bindegewebsmastzellen be-
schrieben worden sind. Nur mit Bezug auf einen einzigen Punkt
wird eine Eigentümlichkeit bemerkt, nämlich im Verhältnis
des Kernes, da derselbe immer dem Radkern der Plasmazellen
gleicht, und auch die helle Partie um den Kern herum er-
innert an Plasmazellen. Wir halten es jedoch nicht für be-
rechtigt diese Zellen aus dem Grund auf Krompechers!)
etwas umstrittenen Begriff Plasmazellen zu beziehen, ebenso-
wenig wie andere‘ Verhältnisse auf eine genetische Verwandt-
schaft mit den Plasmazellen deutet, denn, während die Mast-
zellen von frühester Kindheit konstant in der Zirbeldrüse ge-
funden werden, haben wir Plasmazellen nur in der Zirbel-
drüse von Patienten mit Dementia paralytica oder bei sehr
alten Individuen gefunden.
Einzelne andere Merkmale, die frühere Verfasser bei Mast-
zellen erwähnten, haben auch wir regelmässig gefunden, so
z. B. das Vorkommen zerstreuter Granula ausserhalb der Mast-
zellen ?), ein Phänomen, das wahrscheinlich ein Kunstprodukt
ist. Gleichfalls haben wir zuweilen eine diffuse unklare meta-
!) Krompecher, Beiträge zur Lehre von den Plasmazellen. Zieglers
Beitr. Bd. 24.
?) Westphal, Über Mastzellen. Inaug.-Diss. Berlin 1880.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 271
chromatische Färbung der nächsten Umgebungen der Mast-
zellen gesehen, die wahrscheinlich darauf beruht, dass etwas
von der metachromatisch färbbaren Substanz im aufgelösten
Zustand aus den Zellen heraus diffundiert ist.
Die Mastzellen können ein Teil Variationen aufweisen,
teils, wie erwähnt, in bezug auf die Form, teils in bezug
auf die Grösse der Granula, und endlich auch was die Menge
der Granula in jeder einzelnen Zelle betrifft. Während einige
mit Granula so vollgepfropft sind, dass der Kern nicht sicht-
bar ist, sieht man in andern Zellen, dass sie zerstreut liegen,
und wiederum in anderen sieht man eine kleine Gruppe von
Granula um den Kern herum, während der äusserste Teil
des Protoplasmas keine färbbaren Granula enthält. Übrigens
kann auch die Färbbarkeit stark variieren, indem man zwischen
Mastzellen mit stark gefärbten Granula einzelne finden kann,
die ganz blass: sind. Diese scheinen die Übergangsformen zu
denjenigen Zellen zu bilden, die bezüglich der Form, Grösse
und des Aussehens des Kernes, Mastzellen gleichen, deren
Protoplasma aber keine basophilen Granula enthält. Dies führt
zur Frage über die eosinophilen granulierten Zellen. Es zeigt
sich bei Färbung mit Hämatoxylin oder Eisenhämatein, dass
man im Bindegewebe einen Teil derjenigen Zellen findet, deren
Kern vollständig einem Mastzellenkern gleicht und deren Proto-
plasma eine schwach ins Graue spielende Granulierung zeigt.
Wenn man diese Präparate (am liebsten chrom- oder alkohol-
fixiert) mit Eosin nachfärbt, zeigt es sich, dass selbst, wenn
keine anderen Elemente (abgesehen von den Erythrocyten) vom
Eosin gefärbt werden, Granula in den meisten dieser mast-
zellenähnlichen Zellen intensiv rot gefärbt werden, während
sie in einem kleineren Teil derselben von Hämatein nur grau
gefärbt werden; einige zeigen Übergänge zwischen diesen
beiden. Wir gehen davon aus, dass diese Zellen mit Gala-
sescu und Urechias „Cellules paravasculaires acidophiles“
272 KNUD H. KRABBE,
identisch sind. Indessen meinen wir, dass eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit dafür spricht, dass diese Zellen auch mit den
Mastzellen identisch sind. Ein entscheidender Beweis hierfür
kann aber nicht geliefert werden. Wenn man nämlich mit
Toluidinblau-Eosin (z. B. nach Dominici) färbt, und dadurch
rotgefärbte Granula erhält, kann man nicht entscheiden, ob
diese von Metachromasie oder Eosinfärbung herrührt. Wir haben
Kombination von grünen Farben, wie Lichtgrün oder Methyl-
erün mit Eosin probiert, aber ohne elektive Granulafärbungen
zu erhalten. Bei der Säurefuchsin-Lichtgrünfärbung war das
Resultat vom Differenzierungsgrad abhängig, da Granula primär
vom Säurefuchsin gefärbt werden, aber bei Behandlung mit
Lichtgrün ziemlich schnell diese anstatt dessen annahmen. Was
für uns als das entscheidendste dasteht, sind die Mengen-
verhältnisse. Wenn man zwei Nachbarschnitte färbt, den einen
mit Toluidinblau, den anderen mit Hämatein-Eosin, wird man
den Mastzellenhaufen im einen Schnitt entsprechend, ähnliche
Haufen von eosinophilen Zellen im andern Schnitt bemerken,
ohne dass man hier daneben andere Zellen sieht, die vermut-
lich Mastzellen sein könnten. Wenn hierzu das Aussehen des
Kernes kommt (die eosinophilen Zellen bieten nicht die ge-
ringste Ähnlichkeit mit eosinophilen polynucleären Leucocyten),
halten wir uns für berechtigt, anzunehmen, dass Galasescu
und Urechias paravasculären Zellen in Wirklichkeit Mast-
zellen sind, sowie dass die Granula dieser Mastzellen im all-
gemeinen starke Anziehungskraft auf die sauren, wie die
basischen Anilinfarbstoffe ausüben.
Es soll endlich bemerkt werden, dass man bei der Osmium-
behandlung einzelne Granula in den Mastzellen geschwärzt
sieht; auch bei Färbung mit Heidenhains Eisenhämatoxylin
werden einzelne Mastzellengranula schwarz gefärbt.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 273
bp) Die Pigmentzellen (Fig. 12d).
Unter Pigmentzellen werden die Zellen vom Wanderzellen-
typus verstanden, die im Bindegewebe vorhanden sind und
Granula enthalten, die in ungefärbten Schnitten braun oder
gelb erscheinen. Bei Färbung mit Toluidinblau werden die
Granula grün und bei Osmiumbehandlung braun sefärbt, bei
Sudanbehandlung an Gefrierschnitten nehmen sie einen röt-
lichen Ton an, der jedoch nicht so ausgeprägt rot ist wie
der des Fettes. Die Zellen werden in zwei verschiedenen Typen
sefunden:: einige mit zahlreichen kleinen, regelmässigen runden
Granula, welche dieselbe Grösse wie Mastzellengranula haben,
andere, und das sind die meisten, mit gröberen, verschieden
grossen und verschieden intensivygefärbten Granula; in diesen
letzteren werden auch oft Vacuolen gesehen, die wahrscheinlich
Fett enthalten haben, da man bei Sudanfärbung von Gefrier:
schnitten Zellen sieht, die ausser den schwach roten Granula
stark sudangefärbte enthalten. Diese Zellen gleichen morpho-
logisch vollständig den Pigmentzellen.
Möglicherweise fasst diese Zellengruppe Zellen mit ver-
schiedener Genese und auf jeden Fall mit Inhalt von ver-
schiedener chemischer Natur.
ec) Andeme Zellen.
Wir haben nie polynucleäre Leucoeyten in normalen Zirbel-
drüsen gesehen.
Lymphocyten können ab und zu (Fig. 12, 1) gefunden
werden, aber nie in grösseren Haufen.
Plasmazellen (Fig. 12a), die bei Dementia paralytica häufig
in der Zirbeldrüse gefunden werden, sowohl im Bindegewebe
wie in den Gefässscheiden, haben wir bei „normalen“ nur
im hohen Alter gefunden, wo ihre Anwesenheit möglicher-
weise mit den arteriosclerotischen Veränderungen des Organs
274 KNUD H. KRABBE,
zusammenhängen. Wir meinen deshalb, dass Achücarro
und Saeristäns Befund der ‚„Celulas cianofilas“ in der
Zirbeldrüse sich kaum zu ganz normalen Verhältnissen refe-
rieren kann.
Endlich müssen die Wanderzellen erwähnt werden, die
Granula enthalten, die weder Pigment, Fett, noch Mastzellen-
oranula sind, Zellen, die am ehesten mit Merzbachers
und Alzheimers!) Abräumzellen verwandt sind. Diese
Zellen sind oft ziemlich gross, kugelrund oder oval und dicht
mit Granula gefüllt, die mit sauren und basischen Farbstoffen
in wechselnder Menge gefärbt werden; einige Granula können
auch mit Osmium schwach geschwärzt werden. Die Granula
sind meistens rund, aber von verschiedener Grösse.
F
Was das Vorhandensein dieser verschiedenen Zellformen
betrifft, müssen wir gleich bemerken, dass wir im Fetalleben
keine derselben in der Zirbeldrüse gefunden haben. Dagegen
haben wir bei einem Schnitt von einem Fetus im 6. Monat
um ein Gefäss herum, das basal zu der Zirbeldrüse verlief,
Haufen von typischen Mastzellen gesehen, so dass deren mög-
liches Vorhandensein in der Zirbeldrüse im Fetalleben kaum
als unwahrscheinlich betrachtet werden kann.
Wenn sie normal aufzutreten anfangen, wagen wir im
Hinblick auf die Unvollkommenheit des Materiales nicht mit
Bestimmtheit zu entscheiden. In Präparaten vom 1. Lebensjahr
haben wir sie nicht gesehen, dagegen wurden sie in grosser
Menge bei einem 1!/, jährigen Knaben rings um die Gefässe
herum gefunden; dieser war infolge einer Vergiftung mit Kalı-
lauge gestorben, und es kann nicht vollständig ausgeschlossen
werden, dass diese eine Rolle gespielt hat. Nach diesem Alter
!) Nissl und Alzheimer, Histologische und histopathologische Ar-
beiten über die Grosshirnrinde. Bd. III.
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). Tafel 23,
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden,
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2) Tafel 24.
Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W.
Histolog. u. embrvolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 275
haben wir sie jedoch konstant gefunden. Speziell bei einem
öjährigen Knaben, der kurz, nachdem das Abdomen über-
fahren war, starb, wurden sie in ziemlich grossen Mengen
gefunden, und bei grösseren Kindern und Erwachsenen findet
man sie, obgleich in wechselnder Menge bis ins höchste Alter
hinauf. Was die Variationen in der Menge bestimmt, lässt
sich nicht leicht entscheiden. Verschiedene negative Fakta
können festgestellt werden: Die Mastzellen treten nicht in be-
sonderem Anschluss an die Concrementbildung, Cysten oder
Plaques auf, und nie rings um die Gefässe in den Gliaplaques.
Hauptsächlich sieht man sie am meisten in den ödematösen
und verdickten Septumpartien, was ja auch dem entspricht,
was Ehrlich!) in anderen Organen fand; sie können aber
auch nahe neben den Gefässen gesehen werden, die nur von
spärlichen Bindegewebsmengen umgeben sind. Im übrigen
scheint ihre Menge bei pathologischen Prozessen vermehrt zu
sein, z. B. bei Dementia paralytica, wo sie mit zahlreichen
Abräumzellen, Plasmazellen und Lymphocyten zusammen vor-
kommen.
Es gibt keine bestimmte Regel für ihre Verteilung in
den verschiedenen Partien der Zirbeldrüse, nur werden sie
scheinbar am konstantesten in der Bindegewebskapsel gefunden.
Die pigmentgefüllten Zellen haben wir bei Individuen vom
Alter von 3 Jahren und aufwärts gefunden. Sie scheinen
mit dem Alter an Menge zuzunehmen, einigermassen parallel
mit der Pigmentmenge im Parenchym; sie treten übrigens
lange bevor das Parenchym im allgemeinen pigmenthaltig ist,
auf. Sie treten ohne bestimmte Abhängigkeit von den Mast-
zellen auf, und werden gewöhnlich in grosser Menge in den
Gliaplaques gefunden.
Während die beiden vorigen Zellengruppen vermutlich als
!) Ehrlich, Beitrag zur Kenntnis der granulierten Bindegewebszellen
und der eosinophilen Leucocyten. Arch. f. Anat. phys. Abt. 1879.
normal vorhanden betrachtet werden müssen, ist dies etwas
zweifelhafter in betreff der Abräumzellen. Sie werden in grosser
Menge bei pathologischen Prozessen in der Zirbeldrüse ge-
funden, in weit geringerem, wenn das Organ relativ normal
ist und im ganzen etwas inkonstant- Sie treten gewöhnlich
im Verein mit den Pigmentzellen auf, in welchen der Über-
gang ja im ganzen etwas fliessend zu sein scheint.
Recessus pinealis, Cysten und Gliaflecken.
Wie im embryologischen Abschnitt erwähnt, sieht man
bereits am Fetus im 4. Monat (Fig. 3) eine Verengung des
Zuganges zum Diverticulum pineale. Diese Verengung vom
innersten (ventrieulären) Teil des Divertikels resultiert immer
in einem Verschluss (Fig. 5), so dass man als Rest des
Divertikeleinganges sowohl bei Kindern, wie bei Erwachsenen
nur eine breite horizontale, nicht besonders tiefe Spalte findet,
die sich vom 3. Ventrikel zwischen Commissura habenularum
und Commissura posterior hinein bauscht.
Diese Spalte, die allgemein Recessus pinealis genannt wird,
reicht gewöhnlich nur ein Stück in die Gliamasse hinein,
welche basal zum Parenchym der Zirbeldrüse liegt. In einigen
Fällen reicht sie aber bis zum Parenchym hinauf, so dass dies
mit einem kleinen Wall in den Recessus prominiert. Und
zuweilen erstreckt der Recess sich sogar ein kleines Stück
in das Parenchym hinauf, pflegt aber solchenfalls von diesem
durch eine dünne Gliaschicht getrennt zu sein.
Gleichwie die ganze Oberfläche des Gehirns, welche gegen
die Ventrikel gekehrt ist, ist auch der Recessus pinealis mit
Ependym bekleidet. Bereits ältere Verfasser, wie Clarke,
haben erwähnt, dass dies Ependym zum Teil aus spindel-
förmisen Zellen bestand. Marburg hat ihr Aussehen bei
Neugeborenen ausführlicher beschrieben. Er bemerkt, dass an
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 277
einigen Partien kubisches, an anderen ein hohes Cylinderepithel
sich findet, das wieder mit typisch becherzellenähnlichen Bil-
dungen abwechselt. Am Schaltstück ist lebhafte Proliferation
der Cylinderzellen vorhanden und Kernteilungsfiguren werden
ebenfalls gefunden. Vielleicht können diese Becherzellen mit
den Müllerschen Stützzellen verglichen werden. Bei Er-
wachsenen zeigt das Ependym nicht mehr die deutliche Diffe-
renzierung, doch gelingt es zuweilen sowohl auf der Habenula,
wie auf dem Schaltstück Cylinderzellen zu finden.
Unsere eigenen Untersuchungen haben folgendes ergeben :
Die Ependymzellen haben schon früh im Fetalleben (im 3. und
4. Monat (Figg. 2—-3)) in der innersten Partie des Diverticulum
pineale, dem Teil, der als Recessus pinealis restiert, eine
langgestrecktere Form und länglichrunde Kerne gezeigt, die
sanz dem im embryologischen Abschnitt beschriebenen ent-
sprechen. Nach Abschluss des Diverticulums treten diese Ver-
hältnisse deutlicher hervor, aber noch nach der Geburt zeigt
die Ependymbekleidung auf der Commissura posterior und
gegen den Recessus pinealis ein Aussehen, welches ganz dem-
jenigen gleicht, das man bereits früh im Fetalleben (siehe
Figg. 2-5) sieht. Das Ependym besteht beständig aus dicht-
stehenden hohen Zellen mit Kernen in mehreren Reihen, in
Wirklichkeit ist es aber wohl einschichtig. Die Kerne variieren
zum Teil im Aussehen. Der grösste Teil derselben ist ziemlich
chromatinarm, kurz eiförmig oder etwas länglich, aber plump.
Die Längenachse steht senkrecht auf der Oberfläche. Eine
kleinere Anzahl der Kerne ist länger, dünner und wird kräftig
mit Heidenhains Eisenhämatoxylin gefärbt. Einige der-
selben haben unregelmässigere Formen, zeigen z. B. Einker-
bungen an den Enden. Das Protoplasma ist längsgestreift und
variiert ebenfalls zum Teil in der Farbenintensität. Die Zellen
sind mit Kittleisten, Cuticula und Flimmerhaaren gegen den
Ventrikel hinein versehen, während sie in entgegengesetzter
278 KNUD H. KRABBE,
Richtung feine fadenförmige verzweigte Verlängerungen aus-
senden. Eigentliche Becherzellen sieht man nicht, dagegen
sieht man hier und da zwischen den Zellen länglichrunde
klare Spalten, möglicherweise Einschrumpfungsphänomene,
möglicherweise aber ein Ausdruck dafür, dass eine Flüssigkeit
zwischen Zellen angesammelt lag. Einige dieser Schrumpfungs-
räume können beim ersten Blick Becherzellen etwas ähneln.
Das Ependym, welches die Commissura habenularum auf
der entgegengesetzten Seite des Recessus bekleidet, sieht
stellenweise ganz Ähnlich aus, während es an anderen Stellen
ein etwas abweichendes Aussehen hat. Das Cylinderepithel
ist nicht so hoch, die Kerne stehen in weniger zahlreichen
Reihen, oft nur in 1—2, und sie sind dichter gegen die Ober-
fläche hin gestellt. Die Form der Kerne ist weit unregel-
mässiger, sie ist teilweise gekrümmt, gewunden, eingekerbt
oder mit Spitzen versehen. Die meisten Kerne sind aber doch
oval und stehen senkrecht zur Oberfläche. Im Laufe des
1. Lebensjahres schreitet die Veränderung des Ependyms fort
und schon im 4. Monat kann man ein Phänomen sehen,
welches früher noch nicht in betreff dieser Zellen beschrieben
worden ist, nämlich das Auftreten von Kernkugeln in den
»
Ependymkernen ganz ähnlich denen, die man bei erwachsenen
Individuen in den Kernen der Pinealzellen trıfft. Im Laufe der
Jahre zeigt das Ependym überall Neigung niedriger und spär-
licher zu werden, und die Kerne unregelmässigere Formen an-
zunehmen. Am meisten ausgesprochen ist dies am Ependym
der Commissura habenularum, wo die Zellen allmählich
weniger dicht stehen und zugleich flacher werden, so dass
die Längsrichtung der Kerne mit der Oberfläche parallel läuft.
Bei älteren Individuen ist die Ependymbekleidung auf der
der Habenula zugekehrten Seite des Recessus zuletzt beinahe
ganz verschwunden. Auf der entgegengesetzten Seite kann
das Ependym seinen cylindrischen Charakter noch bis zum
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 279
Alter von 3 Jahren bewahren, nach dieser Zeit sieht man aber
fast immer niedrige Zellen mit weniger distinktem Protoplasma
und rundlichen oder eckigen, unregelmässigen Kernen. Ge-
wöhnlich stehen diese nur in 1--2 Reihen, aber stellenweise
sieht man unter der Oberfläche dichtere Anhäufungen von
Kernen in mehreren Reihen, und zwar von oben beschriebenem
Aussehen. Einzelne Kerne können kolossal gross sein. Ge-
wöhnlich ist der Chromatinreichtum grösser als gleich nach
der Geburt. Die Kernexcretion ist noch im höchsten Alter
vorhanden, aber durchwegs ziemlich spärlich.
Auch auf der Commissura posterior zeigt das Ependym
zuletzt eine Neigung zu verschwinden, aber später als an
der Commissura habenularum. So fanden wir es im Alter
von 0 Jahren noch erhalten, während es bei einem 95 jährigen
zum Teil verschwunden und das restierende Ependym sehr
flach war.
In den Fällen, wo das Parenchym der Zirbeldrüse in den
Boden des Recessus hineinragt, wird es direkt mit Ependym
bekleidet. Dieses Ependym verschwindet indessen noch früher
als das an der Commissura habenularum.
Der Zeitpunkt, an welchem der Zugang zum Diverticulum
pineale geschlossen wird, kann möglicherweise etwas variieren.
In Schnitten vom 6. Fetalmonat haben wir den ganzen Diver-
tikel offen, in Schnitten vom 8. Fetalmonat völlig geschlossen
gefunden, gleichfalls in Schnittserien von ein paar Neuge-
borenen. Das Zuschliessen geschieht vermutlich im 7. Fetal-
monat. Während das Divertikel in seinem innersten (d.h.
ventriculären) Abschnitt immer offen bleibt, wie der Recessus
pinealis, wird es in seiner mittelsten Partie immer geschlossen ;
dieser Verschluss hinterlässt indessen eine Spur, indem man
bei Kindern stets einen Gliastrang findet, der sich als Fort-
setzung vom Recessus pinealis von der basalen Glia bis hinauf
in die Zirbeldrüse erstreckt. Dieser Gliastrang, welchen wir
280 KNUD H. KRABBE,
vorschlagen Tractus diverticularis zu nennen, erhält
sich lange überaus deutlich. In Serienschnitten an Präparaten
von 28 jährigen haben wir ihn bis weit hinauf in die Zirbel-
drüse sich erstrecken sehen, und noch in Präparaten bei einem
70 jährigen haben wir Spuren desselben gefunden. Der Glia-
strang liegt der Ventralseite des Corpus pineale am nächsten,
was auch dem entspricht, dass der unterhalb liegende Teil
nur von der einen Hälfte der hintersten Pinealanlage gebildet
ist, während der oberhalb liegende Teil von der vordersten
Hälfte der hintersten Pinealanlage und der vordersten Pineal-
anlage bebildet wurde.
Der am meisten peripher gelegene Teil des Diverticulum
pineale erleidet ein mehr variierendes Schicksal. In emigen
Fällen schliesst er sich ganz, was wir in Serienschnitten von
einem 8 Monate alten Fetus und Neugeborenen konstatieren
konnten. Aber in einer grossen Anzahl von Fällen hält er
sich offen und bildet dadurch den Ausgangspunkt für einen
Teil der sogenannten Cysten.
Marburg hat bereits auf dieses Verhältnis aufmerksam
gemacht. Er teilt die Cysten in 2 Gruppen ein: in solche,
die durch Abschnüren vom Recessus pinealis gebildet werden
und diejenigen, die durch zentrale Nekrose der Gliaplaques
entstanden sind. Er motiviert die Annahme des erstgenannten
Ursprunges damit, dass er Reste von Ependymbekleidung auf
der Innenseite der Cysten gefunden hat, was, wie wir später
sehen werden, doch wohl auf einem Irrtum beruht. In unserer
vorigen Arbeit über die Zirbeldrüse meinten wir, dass Cysten
von dieser Genese ziemlich selten wären; die Ursache dieser
Annahme, die übrigens von späteren Verfassern geteilt wurde,
“hat in der damaligen Einseitigkeit unseres Materials bestanden.
Nachdem wir eine grössere Anzahl Zirbeldrüsen von Kindern
und Feten untersucht haben, sind wir zu dem entgegengesetzten
Resultat gelangt.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 281
Man sieht nämlich in einer verhältnismässig grossen An-
zahl von Fällen bei Kindern in den ersten Monaten, dass
im Parenchym der Zirbeldrüse, besonders im meist distalen
Teil, eine oder mehrere kleine Höhlen gefunden werden. Wenn
wir dies mit dem Faktum vergleichen, dass das Diverticulum
pineale, jedenfalls zuweilen, sich zuerst im innersten Teil
schliesst, wodurch bereits im Fetalleben eine Höhle im Par-
enchym abgeschlossen wird, kommt es uns vor, dass keine
Erklärung für den Ursprung dieser Höhlen, die man in der
Zirbeldrüse bei Kindern findet, wahrscheinlicher ist als die,
dass die Lücken dem distalen Teil des Diverticulum pineale
entsprechen.
Zuweilen findet man nur ein Loch, weiches regelmässig
eiförmig oder gekrümmt sein kann; im letzteren Fall kann
es in Schnitten mehrere vortäuschen, gewöhnlich fällt die Längs-
richtung der Löcher mit derjenigen der Zirbeldrüse zusammen.
Zu anderen Zeiten werden mehrere Höhlen gefunden, die mit
Gliasträngen verbunden sein können. Und in einigen Fällen,
z. B. in Serienschnitten von einem Kind von 1 Jahr, haben
wir eine sehr grosse Menge ganz kleiner Löcher um das
Parenchym herum zerstreut gefunden (Fig. 24).
Die Wände dieser Höhlen sind relativ glatt und werden
im 1. Lebensjahr von. gewöhnlichen Parenchymzellen, vor-
wiegend Pinealzellen, gebildet; hier und da kann man eine
Gliazelle in der Wand sehen; die Kerne in derjenigen Schicht
von Zellen, welche die Wand bekleiden, liegen gewöhnlich
einigermassen in Reihen, aber die Parenchymzellen in der
Wandschicht haben übrigens ganz das gleiche Aussehen wie
die anderen Parenchymzellen und gleichen nie Ependym-
zellen. Wenn Marburg erwähnt, dass die Wand in einigen
Cysten mit Ependymzellen bekleidet sind (und davon die Genese
der Cysten vom Pinealsack ableiten will), sind wir geneigt
anzunehmen, dass es sich entweder um exceptionelle Fälle
282 KNUD H. KRABBE,
gehandelt hat, oder dass Marburg sie mit einigen Zellen,
die unten erwähnt werden sollen, verwechselt hat. Es wäre
auch von vornherein unwahrscheinlich, dass die Wand dieser
Höhlen mit Zellen bekleidet sein sollten, die dem Ependym
im 3. Ventrikel glichen. Am Corpus pineale von Feten im
6. Monat sahen wir nämlich, dass eine ziemlich hervortretende
Differenzierung unter den Zellen, die den Plexus chorioideus
und denjenigen, die die Wand des Diverticulum pineale be-
kleiden, bestand. Am Plexus sieht man bereits in diesem
Zeitpunkt die typischen Ependymzellen mit kleinen runden
chromatinreichen Kernen und grossem, rundem oder kubischem
Protoplasma; dem ventriculären Teil des Divertikels ent-
sprechend hat das Ependym denselben cylinderzellenartigen
Charakter, den es im Recessus pinealis behält. Aber im Boden
des Divertikels hat die Ependymbekleidung beinahe dasselbe
Aussehen, wie die Zellen im Parenchym, nur liegen sie regel-
mässiger geordnet.
Bereits im 2. Lebensjahr kann man sehen, dass die Wand
dieser Höhlen anfängt ihr Aussehen zu verändern. Zwischen
dem Parenchym und dem Hohlraum liegt hier und da eine
dünne Schicht faserreichen Gliagewebes, welches das gleiche
typische Aussehen hat wie die basale Glia; zerstreute Kerne
mit spärlichem Protoplasma und einer überaus dichten Menge
Gliafäden, die sich zum Teil von dieser Gliaschicht in das
Parenchym hinein fortsetzen, sind vorhanden, so dass man
deutlich den Zusammenhang zwischen der Glia des Parenchyms
und der Gliawand des Loches sieht. Wenn man durch das
Kindesalter hindurch diese Verhältnisse an einer Reihe von
Präparaten verfolgt, sieht man, dass, je höher man hinaufgeht,
desto dicker die Gliaschicht wird. Im übrigen kann die Grösse
der Höhlen bedeutend variieren. Die Höhle mit der Gliawand
füllt jedoch oft auf einem Sagittalschnitt im mittleren Plan
ca. 1/,-—!/, vom Plan des Schnittes aus. Ihre grösste Aus-
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 283
6
Jahren. Im höheren Alter sind die Höhlen gewöhnlich kleiner
dehnung haben sie durchschnittlich im Alter von 3
(die einzelnen Ausnahmefälle werden wir später erwähnen),
während die Gliaschichten verhältnismässig grösser sind. Im
höchsten Alter sieht man die Löcher nur als ganz kleine
Höhlen in den Gliaklumpen.
Die Genese der Höhlen scheint nach vorliegendem ın
den Gliaplaques bei Erwachsenen nicht schwer erklärbar zu
sein. Der Umstand, dass man von frühester Kindheit bis zum
erwachsenen Alter die Höhlen stets von diekeren und dickeren
Gliaschichten umgeben findet, deutet darauf hin, dass die
kleinen Cysten, die man in den Gliaplaques bei Erwachsenen
findet, denjenigen entsprechen, die man im 1. Lebensjahr
findet, also dem Boden des Diverticulum pineale. Die Anwesen-
heit dieser Höhlen muss als ein völlig normales, obgleich
nicht ganz konstantes Phänomen betrachtet werden. Ebenfalls
muss es als normal angesehen werden, dass sich diese Höhlen
mit einer Gliaschicht umgeben.
Wir meinen also, dass auch wir als die normale Genese
für die Höhlen, die von Marburg angedeutete, anerkennen
müssen, die von einer „Absprengung‘“ des Recesses oder besser
einem partiellen Zuschliessen eines normal bestehenden Diver-
tikels herrühren muss. |
Dagegen kommt uns die andere von Marburg aufgestellte
genetische Erklärung mehr problematisch vor. Derselben zu-
folge sollte ein Teil der „Cysten“ durch zentrale Erweichung
der Gliaplaques entstehen. Als Ursache derselben nimmt er
Obliteration der Gefässe an.
Dass Höhlen auf diese Weise zustande kommen können,
lässt sich kaum leugnen. Aber der Umstand, dass man weniger
und weniger Löcher in den Gliaklumpen an Präparaten von
älteren und älteren Individuen sieht, scheint darauf zu deuten,
dass diese zuletzt erwähnte Genese verhältnismässig selten
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd.\H. 2.) 19
284 KNUD H. KRABBE,
ist. Sie lässt im Gegenteil vermuten, dass ein Teil von den
massiven Gliaklumpen durch Verschliessen einer Höhle ent-
standen ist. Und der spezielle Umstand, mit welchem Mar-
burg die letzte Genese zu motivieren scheint, nämlich, dass
er obliterierte Gefässe durch eine solche Cyste verlaufen gesehen
hat, kommen uns nicht entscheidend vor. Wir haben selbst in
mehreren Fällen Stränge gesehen, die sich durch die Höhle
streckten. Da wir aber einen solchen Strang schon bei einem
3 jährigen Kind angetroffen haben, wo nur eine ganz dünne,
ganz ebene Gliawand um die Höhle war, und ferner der
grösste Teil dieser Stränge aus Glia und nicht aus Binde-
gewebe besteht, meinen wir, dass die Erklärung, dass sie
obliterierte Gefässe sein sollen, kaum genügt, ganz abgesehen
von der Frage: warum die Gelfässe ın einem sonst normalen
Organ, welches nicht dazu bestimmt ist zugrunde zu gehen,
zu obliterieren anfangen sollte. Wir sehen hier natürlich von
Krankheiten wie Endarteriitis obliterans ab.
Der Inhalt der Höhlen besteht aus einer homogenen, gelee-
artigen Masse, die keine besonderen Reaktionen auf Fibrin,
Fett oder ähnliches geben; durch v. Gieson-Färbung wird
er gelb, durch Säurefuchsin-Lichtgrünfärbung wird er nach
kurzer Differenzierung grün gefärbt. |
In diesem homogenen Cysteninhalt wird man gewöhn-
lich einige eigentümliche Zellen von sehr variierendem Aus-
sehen finden. Das Protoplasma ist gewöhnlich gross, zuweilen
homogen, gewöhnlich vacuolisiert oder mit albuminösen oder
lipoiden Körnchen granuliert. Die Kerne sind zuweilen gross,
gekrümmt und unregelmässig, zuweilen klein, rund und intensiv
gefärbt, wodurch sie einige Ähnlichkeit mit den Kernen im
Ependym des Plexus chorioideus kriegen. Es sind vermutlich
diese Zellen, die Marburg veranlasst haben, anzunehmen,
dass eine Ependymbekleidung in einigen der Cysten vorhanden
sein sollte.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d, Zirbeldrüse d. Menschen. 285
Wir fassen indessen diese Zellen in einem anderen Sinne
auf. Man sieht nämlich, dass die Zellen teilweise frei drinnen
in der colloiden Masse, teils dicht an der Wand des Loches
liegen. Ferner sieht man, dass einige der Pinealzellen (bei
Neugeborenen) oder Gliazellen (bei Älteren), welche die Wand
der Zellen bilden, sich anscheinend von derselben zu lösen
beginnen; und zwischen diesen und den oben beschriebenen
Zellen werden allmähliche Übergangsformen gefunden. Es ist
also Grund vorhanden, anzunehmen, dass sowohl die ependym-
ähnlichen Zellen, wie diejenigen mit den unregelmässigeren
Kernen, Pinealzellen und Gliazellen in beginnender Nekrose
sind.
Das beständige Lösen und Zugrundegehen von Zellen an
der Innenseite der Wand des Loches wird durch den Wuchs
der Gliawand kompensiert, und je nachdem der eine oder
andere Prozess dominierend ist, werden sich die Löcher
schliessen oder offen bleiben. Gegen die Auffassung, dass
die Löcher sich infolge Gliaproliferation ganz schliessen können,
und dadurch zu massiven Gliaplaques umgebildet werden, ist
theoretisch nichts einzuwenden. Ob wirklich alle Gliaplaques
auf diese Weise entstanden sind, kann nicht bewiesen werden,
aber wir sehen es für sehr wahrscheinlich an. Man muss
doch natürlich auch an die Möglichkeit für ihr Entstehen
durch Proliferation von der Glia an jeder beliebigen Stelle,
z. B. vom Tractus diverticularis aus denken. Diese Erklärung
kommt uns aber weniger natürlich vor.
Diese Gliaplaques (Figg. 8 und 11) bestehen grösstenteils
aus Gliafäden, die weit mehr füllen als die zerstreuten Gla-
zellen, von welchen die Fäden ausgehen. Die Gliazellen sind
rundlich oder oval, zeigen keine besonders hervortretenden
Eigentümlichkeiten. Die Plaques sind spärlich vascularisiert.
Bei Erwachsenen sieht man oft in ihnen eine Menge kleiner
Kalkconcremente, ferner oft Fettkornzellen und andere Ab-
räumzellen von verschiedenen Typen.
19*
286 KNUD H. KRABBE,
Wir haben mit Absicht die oben genannten Cysten ge-
wöhnlich Höhlen genannt und nicht Cysten, da die letztere
Benennung die Gedanken unwillkürlich auf etwas Pathologi-
sches hinleitet. Die zwei Fälle, in denen wir wirkliche „Cysten“
gefunden haben, sollen hier nicht näher erwähnt werden. Wir
wollen nur das theoretische Interesse hervorheben, welches
diese Frage für die Genese der Höhlen hat. So lange man
mehr geneigt war, die Löcher als das Resultat einer Art
Erweichungsprozess aufzufassen, hatte man auch die grösste
Tendenz, sie als Degenerationszeichen zu betrachten, als
Zeichen, dass die Zirbeldrüse ein rudimentäres Organ sei.
Es kommt uns vor, dass diese Auffasung infolge des obigen
wegfallen muss, man kann danach die Löcher nur als andere
normal entstandene Höhlen betrachten, deren Genese einfach
durch Verschliessen einer im Fetalleben normal gebildeten Aus-
buchtung erklärt wird, Löcher, die möglicherweise wegen ihrer
wahrscheinlichen Bedeutungslosigkeit und Indifferenz, Tendenz
zeigen, sich im Laufe der Jahre zu schliessen, welches keines-
wegs als Ausdruck für ein Zugrundegehen oder. Degeneration
des speeifischen Parenchyms der Zirbeldrüse aufgefasst werden
kann.
Im Zusammenhang mit der Frage über Gliaplaques wollen
wir kurz die basale Glia erwähnen. Schon Weigert be-
spricht die ungeheuer dichte Menge fibrillärer Glia, welche
an der Basis der Zirbeldrüse gefunden wird. Dimitrova
macht darauf aufmerksam, dass diese Glia sich an den Seiten
des Corpus pineale herauferstrecken kann.
Wir haben dies Verhältnis gewöhnlich bestätigt gefunden.
Ganz gewiss können die markhaltigen Nervenfasern in der
Commissura posterior und der Commissura habenularum zu-
weilen dicht an das Parenchym der Zirbeldrüse anstossen.
In den meisten Fällen wird man aber sehen, dass zwischen
den querlaufenden Nervenfasern und dem Parenchym eine
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 287
Gliaschicht gefunden wird, die wesentlich aus dicht gelagerten
Gliafäden besteht. Diese basale Glia bekleidet zuweilen die
ganze Basis der Zirbeldrüse und trennt hierdurch, wie er-
wähnt, den Recessus pinealis vom Parenchym. In den anderen
Fällen, wo das Parenchym sich wie ein kleiner Wall in die
Recessus hinaus bauscht, kann die basale Glia an dieser Partie
vollständig fehlen, so dass nur die basale Glia von den beiden
Commissuren aus gefunden wird.
Ausser der Verlängerung im Tractus diverticularis sendet
die basale Glia auch Bündel an den Seiten der Parenchym-
massen hinauf, so dass diese in der Glia ruhen, wie ein Ei
im Eierbecher. Gewöhnlich reicht diese Glia nur ein kleines
Stück an den Seiten hin, aber in einzelnen Fällen reicht sie
ziemlich hoch hinauf, so dass man sogar ganz oben beim
Apex eine Gliakappe um das Parenchym finden kann.
Die Abgrenzung des Parenchyms gegen die basale Glia
ist im allgemeinen weniger scharf als gegen die Gliaplaques;
besonders charakteristisch ist, dass man bei der Grenzschicht
gewöhnlich Pinealzellen und Nervenzellen findet, die abge-
sprengt wie kleine Inseln oder sogar ganz isoliert draussen
in der Glia liegen.
Die Conceremente.
Wie sich von selbst versteht, haben die makroskopisch
sichtbaren Concremente schon früh Aufmerksamkeit erweckt
und man ist in alten Zeiten geneigt. gewesen, ihnen wesent-
liche Bedeutung für die Funktion der Zirbeldrüse beizulegen.
Erst eine spätere Zeit hat sie eher als eine Art von Abfalls-
produkt betrachtet. Chemische Untersuchungen haben gezeigt,
dass sie zum grössten Teil aus phosphorsaurem Kalk und
etwas kohlensaurem Kalk bestehen. Im übrigen ist früher
288 KNUD H. KRABBE,
verhältnismässig so erschöpfend über sie geschrieben worden,
dass nicht viel hinzuzufügen ist.
Das Vorhandensein beim Menschen ist lange bekannt ge-
wesen. Ein älterer Verfasser (Wenzel!)) gibt an, Concre-
mente bei einem Neugeborenen gefunden zu haben; nach der
Beschreibung ist es aber doch wahrscheinlich Colloid in einer
Cyste gewesen; sonst hat er keine Concremente bei Kindern
unter 6-8 Jahren gefunden. Auch Faivre hat sie erst im
Alter zwischen 7 und 8 Jahren gesehen. Dimitrova hat
sie bei Menschen von 25 Jahren gefunden, dagegen nicht
bei einem 55jährigen (sie gibt jedoch nicht an, ob es in
Serien geschnitten war).
Das Vorkommen bei anderen Säugetieren ist seltener;
Dimitrova und später Illing haben Concremente beim
Ochsen gefunden, dagegen hat letzterer sie weder beim
Pferd, noch beim Esel, Schaf, Ziege, Schwein, Hund oder
Katze gefunden. Andererseits hat Funkquist sowohl bei
Ochsen, Pferden, wie Schafen Concremente gefunden, dagegen
nie bei Vögeln. Die positiven Befunde müssen selbstverständ-
lich zu den meist entscheidenden gezählt werden.
In betreff der Entstehungsweise meint Dimitrova, dass
sie durch Juxtaapposition von kleineren Concrementen entstehen
und dass die kleinsten sowohl in den Zellenkörperchen wie
ausserhalb derselben gefunden werden. Zuweilen werden sie
scheinbar in den Kernen gefunden. Bei Flemming-Safranın-
präparaten wurden einige Zellen gesehen, deren Kerne und
Protoplasma mit kleinen roten Kugeln gefüllt waren, die wahr-
scheinlich sehr kleine Concremente waren. Diese Zellen
wurden im Bindegewebe gefunden und waren sehr selten im
Parenchym vorhanden. Die kleinen, freien Concremente wurden
häufig im Stroma gefunden. Wenn sie wuchsen, drangen sie
1) Zitiert nach Hagemann.
Histoloe. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 289
in die Zelleninseln ein. Wie wir gesehen haben, sind die
oben genannten kleinen Zellen wahrscheinlich Mastzellen ge-
wesen.
Da es von Interesse ist bei einem möglichst grossen
Material zu konstatieren, in welchem Alter die Concrement-
bildung anfängt, wollen wir hier hinzufügen, was unser eigenes
Material gezeigt hat. Es soll jedoch bemerkt werden, dass
fehiendes Vorhandensein von Concrementen nur durch Serien-
schnitte konstatiert werden kann. Auf diese Weise haben wir
in einer Schnittserie von einem 21 jährigen nachweisen können,
dass nur 2 der Schnitte einige ganz kleine Concremente ent-
hielten. Da die Concremente gewöhnlich vorwiegend im zen-
tralen Teil der Zirbeldrüse gefunden werden, werden trotzdem
kleinere Schnittreihen von den mittelsten Sagittalplänen einiger-
massen zuverlässige Aufklärungen geben. In unseren Präpa-
raten haben wir folgendes gefunden:
Nur in einem Fall, bei einem 11/, jährigen Mädchen, das an
Meningitis tuberculosa starb, haben wir Concremente bei einem
Kind unter 7 Jahren gefunden. Bei diesem Fall waren die
Concremente zahlreich, maulbeerförmig und im allgemeinen
vom selben Aussehen und selber Verteilung, welche Concre-
mente zu haben pflegen. Es war bemerkenswert, dass im
Parenchym dieser Zirbeldrüse verhältnismässig viele Pineal-
zellen mit Kernexcretion vorhanden waren, etwas das man
sonst nicht früher als im Alter von 8 Jahren findet. Im
übrigen bietet diese Zirbeldrüse nichts Abnormes dar über
die Entzündungsprozesse in der umgebenden Pia hinaus.
In Serienschnitten von einem 1jähr. und einem $jähr.
Normalen wurden keine Concremente in der Zirbeldrüse ge-
funden, beim letzteren dagegen einzelne in der Commissura
habenularum. Bei vier 7 jährigen, von denen drei tuberkulöse
Meningiten waren, wurden bei dem einen einzelne ganz kleine
Concremente gefunden, bei einem 6jährigen mit Leukämie
290 KNUD H. KRABBE,
ebenfalls ein unbedeutendes Concrement. Bei einem 9- und
10 jährigen keine Concremente, bei einem 13 jährigen ein ein-
zelnes kleines. In Serienschnitten von einem normalen
14 jährigen wurden in ganz einzelnen Schnitten ein paar kleine
Concremente gefunden, während man in einzelnen Schnitten
von einem anderen normalen 14 jährigen deren zahlreiche fand.
Bei einem dritten 14 jährigen wurden dagegen keine gefunden,
auch nicht bei einem 15- und 16jährigen, während von zwei
17 jährigen der eine zahlreiche und der andere keine Concre-
mente enthielt. In Serienschnitten von einem 21 jährigen wurden
ganz vereinzelte kleine Coneremente gefunden. Sonst haben
wir sie nach zurückgelegtem Alter von 16 Jahren beinahe
konstant gefunden. Nur in Sagittalschnitten (doch nicht im
Serien) von einem 72 jährigen haben wir keine Concremente
gefunden. Pr
Erschöpfende Untersuchungen können, wie gesagt, nur bei
kompletten Serienschnitten gemacht werden. Durch oben ge-
nannte Untersuchungen kriegt man aber doch einen gewissen
Einblick:
Im frühen Kindesalter kann man ausnahmsweise Concre-
mente finden, ob normalerweise oder als Folge einer Krank-
heit (Meningitis tuberculosa) kann vorläufig nicht entschieden
werden.. Vom Alter von 7—-14 Jahren findet man sporadisch
einzelne kleine Concremente. Vom Alter nach 14 Jahren
scheinen sie häufiger zu werden, und vom Alter von 16 Jahren
fast konstant.
Im grossen und ganzen scheint die Menge mit dem Alter
zuzunehmen, im übrigen ist sie aber grossen Variationen unter-
worfen und Concremente können selbst bei Älteren in so kleinen
Mengen gefunden werden, dass man wohl davon ausgehen
kann, dass sie für die Funktion der Zirbeldrüse keine Rolle
spielen, sondern eher als eine Art Abfallsprodukt zu betrachten
sind. Wenn frühere Verfasser die Neigung gehabt haben, die
Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2)
Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W.
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Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 291
Concremente mit dem Bindegewebe in Verbindung zu setzen,
ist dies nicht richtig. Ganz gewiss kann man Concremente
im Bindegewebe finden; sie sind aber dann gewöhnlich klein,
gruppierte, länglichrund, mit der Längenachse in der Richtung
der Bindegewebsfibrillen liegend. Die weitaus grösste Menge
der Concremente wird indessen im Parenchym gefunden; und
dass sie hier gebildet und nicht vom Bindegewebe ausge-
gangen ist, geht daraus hervor, dass man in Serienschnitten
Concremente sehen kann, die auf allen Seiten von Parenchym
umgeben sind, ohne an irgend einer Stelle mit dem Binde-
gewebsstroma in Berührung zu kommen. In der Commissura
habenularum sind die Concremente ganz in (lia eingelagert, und
es ist bemerkenswert, dass die Concremente hier ganz das
gleiche Aussehen wie in der Zirbeldrüse selbst haben, während
das Aussehen der Concremente, die man in den umgebenden
weichen Häutchen findet, ein verschiedenes ist. In den Häut-
chen sieht man die Concremente gewöhnlich kugelrund, aus
konzentrischen Schichten bestehend. Im Corpus pineale und
der Commissura habenularum werden die Concremente da-
gegen maulbeerförmig mit rundgeschweiften Rändern gefunden;
wie frühere Verfasser bemerkt haben, beruht dies wahrschein-
lich darauf, dass die Concremente durch Verschmelzung
mehrerer kleiner, kugelrunder Conecremente gebildet worden
sind. Die ersten Stadien kann man an Stellen beobachten,
wo man Häufchen von Concrementen in allen möglichen Grössen
findet, ganz herunter zu kaum sichtbaren. Die kleinsten sind
kugelrund und werden nicht im Protoplasma der Pinealzellen
gefunden, sondern in der zwischenliegenden protoplasmatischen
Substanz, also wahrscheinlich entweder in den Ausläufern der
Nerven- oder Gliazellen — die Analogie mit Commissura
habenularum spricht wohl am meisten für letzteres.
Während die grösseren Concremente nur im Parenchym
gefunden werden, sieht man schon früh zahlreiche kleine
292
KNUD H. KRABBE,
Kalkkörner in den Gliaplaques. Diese sind gleichmässig in
der Glia herum verteilt, oft in kleinen Häufchen und zuweilen
schmelzen sie etwas zusammen; sie schmilzen aber nie zu
der charakteristischen Maulbeerform zusammen.
Die Bildung der Concremente scheint mir eine schwache
Reaktion von seiten des umliegenden Gewebes hervorzurufen.
Die umliegenden Pineal- und Nervenzellen werden leicht flach-
gedrückt, es wird aber keine besondere Gliaschicht rings um
die Concremente gebildet. Nur bei sehr alten Individuen
haben wir ab und zu gesehen, dass Bindegewebsfäden sich
von naheliegenden Septen gegen die Concremente hinüber
strecken und eine dünne Schicht um dieselben bilden.
Im übrigen zeigen die Concremente kein spezielles Ver-
hältnis zu den verschiedenen Zellenarten, auch nicht zu den
Mastzellen oder anderen Wanderzellen. Möglicherweise haben
die Concremente ein gewisses Verhältnis zu der Kernexcretion,
da deren Auftreten einigermassen mit demjenigen der Kern-
excretion zusammenfällt; und in dem erwähnten Fall von früher
Concrementbildung (im Alter von 11/, Jahren) fanden wir auch
Kernexcretion; ein Umstand, der diese Annahme stützen
könnte, ist der, dass phosphorhaltige Stoffe besonders in Kernen
gefunden werden, und dass die Concremente phosphorhaltig
sind; dieses letztere haben wir mit Lilienfeld-Montis-
Phosphorsäurereaktion !) kontrolliert.
Es muss aber nicht vergessen werden, dass Concrement-
bildung auch bei Tieren ohne Kernexcretion (Ochsen, Pferden,
Schafen — siehe vorne) gefunden werden, und dass sie auch
in anderen Organen beim Menschen auftritt, wie ich später
erwähnen werde.
1) Siehe Fussnote S. 233.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 293
Biologische Betrachtungen.
Mit der Beschreibung, die wir in den vorigen Abschnitten
über die Histologie der Zirbeldrüse gaben, haben wir den
wesentlichsten Teil der Aufgabe, die wir uns gestellt haben, zu
lösen gesucht. Eine Aufgabe bleibt aber noch zurück, nämlich
die zu sehen, welche Analogien die einzelnen Elemente in der
Zirbeldrüse mit anderen Teilen der Gewebe des Organısmus
haben und zu sehen, inwiefern man durch diese Analogien
in bezug auf die Funktion der Zirbeldrüse Schlüsse ziehen
kann.
Es versteht sich fast von selbst, anzunehmen, dass das
Bindegewebe und die darin enthaltenen Gefässe für das Organ
eine ähnliche Rolle spielen, wie das interstitielle Bindegewebe
und die Gefässe es andererorts im Organismus tun. Nur ist es
von Interesse, anzuführen, dass man an keinen anderen Stellen
im Zentralnervensystem, von der Neurohypophyse abgesehen,
solche Mengen von Bindegeweben findet, wie im Corpus pineale.
Inzwischen ist es besonders interessant die Analogien in betreff
der Parenchymzellen zu betrachten.
Die Gliazellen zeigen in ihrem Aussehen keinen wesent-
lichen Unterschied von den fadenbildenden Gliazellen anders-
wo im Zentralnervensystem. Da auch die Menge der Glıa
im Parenchym nicht grösser ist als an vielen anderen Orten
im Nervensystem, ist kein Grund vorhanden, anzunehmen,
dass die Gliazellen in der Zirbeldrüse eine andere Rolle spielen
sollten als anderswo, d. h. dass ihre Funktion wahrscheinlich
teils stützend, teils für die Stoffwechselprodukte leitend ist.
Deshalb ist kein Grund vorhanden, die Zirbeldrüse als ein
speziell gliöses Organ zu bezeichnen.
Von den Nervenzellen muss man ebenfalls annehmen,
dass ihre Funktion mit derjenigen, welche Nervenzellen anderer-
294 KNUD H. KRABBE,
orts im Nervensystem haben, analog ist. Doch muss bemerkt
werden, dass sie eine Kigentümlichkeit darbieten, nämlich die
knöspchenlörmigen Anschwellungen. Es kann keine sichere
Erklärung dafür abgegeben werden, was diese bedeuten.
Achücarro und Sacrıstän wollen sie als ein Involutions-
phänomen erklären. Es ist möglich, dass dies richtig ist;
in dem Fall müsste man am ehesten die Analogie mit ihnen
in den Cajalschen Gewächsknöspchen an übergeschnittenen
Achseneylindern sehen oder noch eher die Knospen auf den
Achseneylindern, die man in der Umgebung der Fischer-
hedlichschen Plaques!) sieht. Mit ebensoviel Grund muss
man mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Bildungen mit
den Endungen der sensitiven Nerven in Muskeln und Sehnen
analog sind. Und endlich darf man nicht die dritte Möglich-
keit vergessen, dass es specilische Bildungen sind, die anderer-
orts überhaupt keine Analogien haben und deren Funktion
bıs auf weiteres vollständig rätselhaft bleiben wird.
Kin einziges genetisches Charakteristikum für die Nerven-
zellen muss gegenüber Achücarro-Sacristän und
Walter hervorgehoben werden, nämlich dass man, soweit
sich die Entwickelung der Nervenzellen im Fetalleben ver-
[folgen lässt, den Eindruck gewinnt, dass sie alle im Zentral-
nervensystem angelegt sind und dass deshalb keiner derselben,
trotz ihrer morphologischen Ähnlichkeit, als sympathische
Nervenzellen aufgefasst werden können.
Bezüglich der Funktion der Zirbeldrüse kann nur gesagt
werden, dass das Vorkommen der Nervenzellen, die durch
Achsencylinder mit dem übrigen Zentralnervensystem in Ver-
bindung stehen, Ausdruck einer nervösen Funktion der Zirbel-
drüse sein können, dass sie aber ebensogut ein Ausdruck
dafür sein können, dass durch eine andere Funktion, z. B.
') Fischer, Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie. Bd. III. Orig.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zir
beldrüse d. Menschen. 295
einer sekretorischen, eine gewisse Nervenwirksamkeit erfordert
wird. In der Beziehung darf man nicht vergessen, dass in
einem Organ wie der Nebenniere zahlreiche Nervenzellen ge-
funden werden (ganz gewiss sympathische), mit sekretorischen
Zellen untermischt.
Diejenigen Zellen im Parenchym der Zirbeldrüse, deren
Stellung sich am schwersten erklären lässt, sind die Pineal-
zellen. Der Umstand, dass sie weder Nerven- noch Gliazellen
eleichen, sondern am ehesten ein drüsenepitheliales Aussehen
haben, trägt dazu bei, dass man an folgenden zwei Möglich-
keiten denken muss:
l. Die eine ist die, dass die Pinealzellen eine Art sensitiver,
pereipierender Zellen sind. Wenn man fragen würde, welche
Tätigkeit solche sensitive Zellen im Gehirn selbst haben können,
müsste geantwortet werden, dass sie z. B. Schwingungen im
Druck der Cerebrospinalflüssigkeit auffassen und dadurch diese -
regulieren können. Eine Auffassung der Zirbeldrüse als sensitiv
ist bereits von Max Flesch (1888) geäussert worden. Dass
diese eine spezielle Relation zur Regulierung des Druckes
der Cerebrospinalflüssigkeit haben sollte, hat Walter näher
in einer Arbeit, die uns leider nur im Referat zugänglich
war, hervorgehoben. Infolge derselben sollte Wal ter seine
Hypothese auf den Umstand stützen, dass die Zirbeldrüse
in zwei Fällen von Hydrocephalus pathologisch verändert
war. Man muss jedoch immer damit rechnen, dass die
Veränderungen in der Zirbeldrüse durch Hydrocephalus leicht
sekundär sein können. Die Hypothese ist aber auf jeden Fall
von Interesse und sollte als eine für experimental-pathologische
Untersuchungen brauchbare Arbeitshypothese neben der
anderen, die jetzt erwähnt werden soll, hervorgehoben werden.
II. Die zweite Möglichkeit ist die, dass die Pinealzellen
aus einer Art von Drüsenzellen bestehen, solcherweise, dass
die Zirbeldrüse als eine endocrine Drüse aufgefasst werden
296 KNUD H. KRABBE,
muss. Diese Annahme ist jetzt die üblichste; sie stützte sich
[früher auf das Vorhandensein von Granula (Galeotti), später
teilweise auf klinische Beobachtungen (Marburg,v.Frankl-
Hochwart) und in letzter Zeit auf experimentell-physio-
logische Untersuchungen.
Wir wollen ausdrücklich hervorheben, dass es auf histo-
logischem Weg unmöglich ist, zu unterscheiden, ob die Zellen
von der einen oder der anderen Art sind und ob also die
Funktion der Zirbeldrüse nervös oder sekretorisch ist. Es
gibt aber doch Anlass genug, um Betrachtungen darüber an-
zustellen, was ım Aussehen dieser Zellen resp. mehr auf die
eine oder die andere Funktion deutet.
Die Pinealzellen gleichen in ihrem Aussehen weder den
Zellen der Nebennieren, noch der Parathyreoidea oder der
Pharynxhypophyse, auch nicht den Zellen im Glomus caroticum
und Glomus coceygeum. Ihr Aussehen muss jedoch am
nächsten als drüsenepithelial bezeichnet werden, und sie
gleichen etwas mehr den sekretorischen Zellen in extern se-
cernierenden Drüsen, wie Mamma oder Pancreas. Als Kuriosum
kann angeführt werden, dass sie auch eine gewisse Ähnlich-
keit mit Carcinomzellen haben.
Auf der anderen Seite haben die Zellen auch eine gewisse
Ähnlichkeit mit gewissen sensitiv percipierenden Zellen, wie
den Geruchzellen in der Geruchschleimhaut (wir sehen davon
ab, dass diese Ausläufer haben).
Das Aussehen der Zellen als Gesamtheit entscheidet
also gar nichts in Beziehung auf eine nervöse bzw. sekre-
torische Funktion. Das gleiche gilt nach unserer Meinung
den in den Zellen vorhandenen Granula. Früher sind die
Verfasser regelmässig zu sehr geneigt gewesen, diese als Be-
weis für die sekretorische Funktion aufzufassen. Man muss
aber daran erinnern, dass die Nervenzellen auch gewöhnlich
Granula (Nisslgranula) enthalten und dass die Granula, welche
N
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 297
man (sogar nur nach Alkoholfixierung) im Protoplasma des
Corpus pineale sieht, unregelmässig und zerfetzt sind, nicht
kugelrund, wie Drüsengranula es zu sein pfllegen.
Die Kernexcretion ist auch kein Beweis für eine secre-
torische Wirksamkeit von seiten des Organes. Ganz gewiss
hat man Analogien mit einem solchen kernsekretorischen
Prozess in den Drüsenzellen, z. B. die Hautdrüsen bei Triton
(Vigier, zitiert nach Gurwitsch) vesiculae seminales beim
Menschen (Otto Petersen)l); auf der anderen Seite hat
aber z. B. Achücarro einen ähnlichen Prozess in den
Nervenzellen eines Ganglioneuroms gefunden. Man darf des-
halb bis auf weiteres die Kernsekretion nur ais einen eigen-
tümlichen Stoffwechselprozess betrachten, der innerhalb der
Zellen vor sich geht, nicht aber als einen Beweis dafür, dass
sie einen Stoff ausscheidet, der eine Wirkung auf den übrigen
Organismus hat.
Die einzige Eigenartigkeit, die man in Beziehung auf die
Pinealzellen findet, und die scheinbar als Argument für die
eine Theorie gegen die andere gebraucht werden kann, ist das
Vorkommen der zahlreichen Amitosen. Diese scheinen näm-
lich ein Ausdruck dafür zu sein, dass ein stetes Zuerunde-
gehen und Neubildung von Zellen im Organ geschieht und
dies hat Analogien in Drüsen, dagegen kaum in nervösen
Organen, da man unter normalen Verhältnissen nie Amitosen
in den Nervenzellen oder damit verwandten sensitiven per-
cipierenden Zellen findet.
Wir meinen jedoch, dass dies eine Argument zu schwach
ist, um etwas Bestimmtes darauf zu bauen, und dass die
Frage über die Funktion. der Zirbeldrüse zuletzt auf experi-
mental-physiologischem und nicht histologischem Weg gelöst
werden muss. Was wir in dieser Abhandlung erstrebt haben,
!) Otto V. C. E. Petersen: Beitr. zur mikrosk. Anatomie der Vesicula
seminalis. Anatomische Hefte 103. 1907.
298 KNUD H. KRABBE,
war auch in erster Linie die Beschreibung des Baues des
Organes und nicht die Lösung des Problemes über seine
Funktion.
Bevor wir schliessen, wollen wir doch noch eine andere
Frage berühren, nämlich die, ob der histologische Bau .des
Örganes im grossen und ganzen Anlass zur Vermutung gibt,
dass er überhaupt eine Funktion hat, oder ob er als ein
sogenanntes, rudimentäres, degeneriertes oder involutives Organ
aufgefasst werden muss.
Auch für keine dieser Vermutungen können sichere Be-
weise geliefert werden. Wir wollen nur hervorheben, dass
1. das Parenchym des Organes dauernd in relativ unvermin-
derter Menge bis ins höchste Alter hinauf besteht und 2. dass
es eine auffallend komplizierte und differenzierte Struktur aul-
weist. Hierdurch zeigt es einen Gegensatz zu rudimentären
Organen, z. B. Paroophoron, welches im Laufe der ersten
Lebensjahre verschwindet und von indiflerentem Gewebe er-
setzt wird.
Die beiden Eigentümlichkeiten, die insonderheit bewirkt
haben, dass man die Zirbeldrüse als ein Organ in Involution
aufgefasst hat, ist das Vorhandensein von Concrementen,
Cysten und Plaques. Was die ersteren betrifft, darf man
indessen nicht vergessen, dass sie ihr Analogon in den Hirn-
häuten haben (wo sie in demselben Alter aufzutreten anfangen),
die wohl kaum jemand als rudimentäre Organe auflassen wird;
solcherweise könnte man sich eher veranlasst fühlen mit Hans
Schmidt!) anzunehmen, dass die Concrementbildung eine
gewisse Relation zur intimen Berührung mit der Üerebro-
spinalflüssigkeit hat.
Cysten und Gliaplaques schemen demzufolge, was wir
über sie in einem früheren Kapitel entwickelt haben, nicht
1) Schmidt, Hans R., Zur Kenntnis der physiologischen und patho-
logischen Duraverkalkung. Virchows Arch. Bd. 215.
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 299
Ausdruck dafür zu sein, dass das Parenchym zugrunde geht
und von Glia ersetzt wird, sondern eher dafür, dass sich
ın der Zirbeldrüse ein anderes
,‚ „rudimentäres“ Organ befindet,
nämlich das Rudiment des Diverticulum pineale, welches nur
einen Teil der Anlage der Zirbeldrüse ausmacht.
Auch nicht diese Bildungen scheinen darauf zu deuten,
dass das Organ als Gesamtheit rudimentär ist. Man wagt
höchstens von einer gewissen herabgesetzten Widerstandsfähig-
keit der Vitalität des Organes zu sprechen; in dem Fall könnte
möglicherweise die stark variierende Entwickelung des Binde-
gewebes als Ausdruck für dasselbe aufgefasst werden.
Der Umstand, dass die Zirbeldrüse bei mehr primitiven
Tieren scheinbar eine andere, specifische Funktion hat (wie
bekannt [conf. Studnicka
‚ ist es homolog mit dem hinteren
Parietalauge beim Petromyzon, obgleich nicht mit dem
Parietalauge bei den Sauriern), liefern auch keinen Beweis
dafür, dass das Organ keine Funktion beim Menschen hat:
man muss auch mit der Möglichkeit rechnen, dass die Funk-
tion sich verschoben haben kann.
Alles in allem liegen also scheinbar keine Beweise dafür
vor, dass die Zirbeldrüse ein rudimentäres oder funktions-
loses Organ ist, während ja mehreres auf das Gegenteil deutet.
Resume.
Die. Zirbeldrüse ist schon anfangs des 2. Fetalmonats
angelegt. Die Anlage besteht aus zwei Teilen, einer Falte
ın das Dach der zweiten Hirnblase und einer Zellenmasse
vor dieser Falte. Im Verlaufe der Entwickelung wächst die
Zellenmasse und die Falte wird tiefer, indem sie zur selben
Zeit sich mit einer dickeren Zellenschicht umeibt.
Anatomische Hefte. I. Ahteilung. 163. Heft (54. Pd., H. 2). 20
300 KNUD H. KRABBE,
Die zwei Anlagen, die vordere und die hintere Pineal-
anlage, sind anfangs durch eine mit Bindegewebe gefüllte
Spalte getrennt; im Verlaufe des Fetallebens verschmelzen sie
aber, indem durch das ganze Fetalleben ein Bindegewebs-
septum restiert, und zwar da, wo die Spalte zwischen den
zwei Anlagen gewesen ist.
Die Ausstülpung vom dritten Ventrikel, welche sich in
die hintere Pinealanlage hereinstreckt, Diverticulum pineale,
wird im 6. Fetalmonat entweder ganz oder im mittleren Teile
verschlossen, so dass der tiefere Teil als eine kleine Höhle
übrig bleiben kann. Weder das Divertikel noch die Höhle
zeigen an irgend einem Zeitpunkt verzweigte Ausbuchtungen,
welche auf einen tubulösen Bau des Organes deuten können.
Die Zellen, aus denen die zwei Pinealanlagen bestehen,
sind in den ersten 6 Fetalmonaten gleichartig, rund, mit spar-
samem Protoplasma; nur die Zellen, welche die Wand des
Divertikels bekleiden, sind eylindrisch und mit einer Cuticula,
Kittlisten und Flimmerhaaren bekleidet. Die Zellteilungen ge-
schehen durch das ganze Fetalleben durch Mitosen.
Im 6. Fetalmonat beginnen die rundlichen Zellen sich
in drei verschiedenen Typen auszudifferenzieren, welche die
Grundlage für die drei Zellarten bilden, aus welchen das Par-
enchym bei Kindern und Erwachsenen zusammengesetzt ist.
Zur selben Zeit beginnt ein eigentümlicher Prozess, die Meta-
morphose, durch welche das Parenchym sein Aussehen ver-
ändert. Die Zellen bekommen ein grösseres Protoplasma und
grössere, aber chromatinärmere Kerne. Dieser Prozess tritt
nicht überall im Organe zur selben Zeit ein, beginnt aber
fleckenweise und schreitet fort, dadurch, dass die Flecken
wachsen, wodurch die Schnitte eine charakteristische Zeich-
nung bekommen, während die Metamorphose andauert. Die
Metamorphose wird ım Laufe des 1. Lebensjahres abge-
schlossen. Bei Kindern und jungen Menschen kann man oft
im Parenchym kleine Zellgruppen sehen, welche keine Meta-
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 301
morphose durchgemacht, sondern das fetale Aussehen bewahrt
haben.
Nach Abschluss der Metamorphose besteht das Parenchym
der Zirbeldrüse aus drei verschiedenen Zelltypen. Durch Ver-
gleich von Gliamethoden, Silberimprägnation und Hämatoxylin-
färbungen kann man konstatieren, dass diese drei Zellarten
bzw. Gliazellen, Nervenzellen und eine specifische Zellart,
Pinealzellen sind.
Die Gliazellen gehören dem faserbildenden Typus an. Sie
kommen im eigentlichen Parenchym nicht in grösseren Mengen
vor als an vielen anderen Stellen im Zentralnervensystem.
Es ist darum kein Grund vorhanden, anzunehmen, dass sie
eine andere und wesentlichere Rolle spielen als anderswo
im Zentralnervensystem, so dass die Theorie, dass die Zirbel-
drüse ein gliöses Organ ist, kaum haltbar ist.
Die Nervenzellen sind durch einen eckigen, sehr chromatin-
armen Kern und ein sparsames, stark färbbares Protoplasma
ohne Nisslgranula charakterisiert. Die von Achücarro-
Sacriıstän und Walter beschriebenen Endknospen treten
schon im 1. Lebensjahre auf, ihre Menge nimmt im Laufe
der Jahre zu. Sie sind, wie diese Verfasser es annehmen,
wahrscheinlich mit den Cajalschen Wachsknospen verwandt,
man kann aber nicht ganz die Möglichkeit ausschliessen, dass
sie eine Art von sensitiven Nervenenden sind.
Die Ausläufer der Nervenzellen und Gliazellen bilden ein
fibrilläres Maschenwerk, in welchem die Pinealzellen einge-
lagert sind.
Die Pinealzellen bilden die Hauptmasse des Parenchyms.
Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie rundlich, ohne Aus-
läufer sind, mit nicht sehr grossem Protoplasma und chromatin-
armen Kernen, welche vom Abschluss der Metamorphose bis
zum höchsten Alter viele unregelmässige Formen zeigen. Sie
zeigen keine morphologische Verwandtschaft mit Gliazellen.
20*
302 KNUD H. KRABBE,
Wie Dimitrova gezeigt hat, finden sich in den Kernen
der Pinealzellen eigentümliche Bildungen, die Kernkugeln.
Die Kernkugeln sind an alkoholfixierten Präparaten mit
basophilen Granula gefüllt, welche,in das Protoplasma ent-
leert werden, wonach der Kern sich wieder schliesst. Dieser
Prozess beginnt im Alter von ca. 8 Jahren und erreicht seine
volle Entwickelung im Alter von 14 Jahren; sie dauert bis
zum höchsten Alter; ganz ausnahmsweise kann man diese
Kernexcretion im 1. Lebensjahre sehen, sie ist aber in solchem
Falle vielleicht ein pathologisches Phänomen. Die Kernexcretion
findet sich im Parenchym nur in Pinealzellen, nicht in Glia-
zellen oder Nervenzellen. Dagegen kann sie sich auch in den
Ependymzellen am Recessus pinealis finden und findet sich
hier schon in den ersten Lebensjahren.
Die unregelmässigen Kernformen entstehen nicht nur als
eine Folge der Kernexceretion, im Gegenteil sieht man sie
weit früher als diese beginnt,
Loewys Bezeigung der Sekretcapillaren kann nicht als
überzeugend angesehen werden.
Durch die Schliessung des Diverticulum pineale besteht
der innere (ventrikuläre) Teil, wie von früheren Verfassern
beschrieben, offen als Recessus pinealis. Dem mittleren ver-
schlossenen Teil entsprechend restiert ein Gliastreifen, Tractus
diverticularis, welcher durch das ganze Leben. unverändert
besteht.
Der tiefste Teil des Divertikels wird bisweilen ganz ver-
schlossen; in anderen und sehr häufigen Fällen hält er sich
offen wie eine oder mehrere Höhlen im Parenchym. Die
ependymartigen Zellen, welche sich an der Wand oder frei
in diesen Höhlen befinden, sind wahrscheinlich Parenchym-
zellen in beginnender Nekrose und nicht Zellen, welche mit
den Ependymzellen des Plexus chorioideus verwandt sind.
Die Höhlen sind später von einer Gliaschicht umgeben,
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 303
welche in Dicke zunimmt, so dass die Höhlen bei Erwachsenen
immer in Gliaflecken liegen. Sie scheinen sich zu vermindern
und völlig geschlossen werden zu können, und die Gliaflecken
entstehen wahrscheinlich auf dieser Weise und nicht dadurch,
dass das Parenchym zugrunde geht und durch Glia ersetzt
wird. Die Annahme, dass die Höhlen durch zentralen Zer-
fall der Gliaflecken entstehen, trifft wahrscheinlich nur in
wenigen Fällen zu.
Das Bindegewebe in der Zirbeldrüse entwickelt sich
schon ım 1. Lebensjahre und nimmt in den folgenden zu.
Schon bei kleinen Kindern kann man vereinzelte dicke Binde-
gewebesepten sehen. Die Menge des Bindegewebes kann aussr-
ordentlich variieren; obgleich es im grossen und ganzen mit
dem Alter zunimmt, kann man doch bisweilen bei alten Indi-
viduen sehr sparsames Bindegewebe finden und bei grösseren
Kindern ausserordentlich grosse Mengen.
Die Bindegewebebildung geht von den Gefässen,. nicht
von der Kapsel aus.
Im Bindegewebe findet sich normal von der frühesten
Kindheit an eine bedeutende Menge Mastzellen. Die von
Galasescu und Urechia beschriebenen acidophilen: Zellen
und die von Dimitrova beschriebenen Zellen, welche Vor-
stadien der Concremente sein sollten, sind wahrscheinlich
Mastzellen. Das Vorkommen der Pigmentzellen im Binde-
gewebe muss auch bei Erwachsenen als normal betrachtet
werden. Abräumzellen sind möglicherweise normal, ihr Vor-
kommen kann aber auch von Krankheiten bedingt sein. Plasma-
zellen kann man bei senilen Individuen finden; bei jüngeren
finden sie sich wahrscheinlich nur bei pathologischen Pro-
zessen, z. B. bei der progressiven Paralyse.
Die Conerementbildung beginnt schon im Alter von 6 bis
“ Jahren; ausnahmsweise kann sie aber (pathologisch ?) im
2. Lebensjahre auftreten (in diesem Falle zugleich mit der
304 KNUD H. KRABBE, Histolog. u. embryolog. Untersuchungen ete.
Kernexcretion). Die Menge der Concremente kann ausser-
ordentlich variieren, selbst bei senilen Individuen kann ihre
Anzahl sparsam sein.
Quergestreifte und glatte Muskulatur ist nicht in der Zirbel-
drüse des Menschen gefunden worden.
Die Menge des Parenchyms der Zirbeldrüse nımmt nur
in geringem Grade von der Kindheit bis zum höchsten Alter
ab, und das Parenchym verändert sein Aussehen nicht
wesentlich. '
Gliaflecken, Cysten, Bindegewebssepten und Coneremente
können nicht als Zeichen von Degeneration oder Involution
der Zirbeldrüse aufgefasst werden, da sie nicht als Folge
des Zugrundegehens des Parenchyms entstehen, sondern teils
als relativ selbständige Bildung und da sie teils ihre Analogien
in anderen, nicht degenerierten Organen (Hirnhäute) finden.
Es liegen im ganzen keine hinreichenden Gründe vor, die
Zirbeldrüse als ein rudimentäres Organ aufzufassen.
Bezüglich der Funktion der Zirbeldrüse sind es im wesent-
lichen zwei Möglichkeiten, die zu erwägen sind:
1. Die eine ist, dass die Zirbeldrüse eine Art perzeptives
Sinnesorgan ist, welches z. B. den Druck der Gerebrospinal-
flüssigkeit regulieren könnte.
2. Die andere ist, dass die Zirbeldrüse eine Drüse mit
»
innerer Sekretion ist.
Die definitive Entscheidung dieser Frage kann nur auf
experimental-pathologischem Wege und nicht durch histo-
logische Untersuchungen entschieden werden, indem die meisten
Eigentümlichkeiten im Bau des Organes sich vorläufig sowohl
durch die eine als auch durch die andere Theorie erklären
lassen.
Das Vorkommen der zahlreichen Amitosen deutet doch
eher auf Sekretion als auf eine nervöse Funktion.
163.
128.
186.
198.
293.
348.
Verzeichnis über das Material.
Normale Gruppe I.
Neugeboren. K. d.: An Geburt gestorben. 8. d.: Nihil.
d' 11/, Jahre. 7 2. 3. 13. K. d.: Venefieium hydrat. kalie. 8. d.:
Kauterisatio oesophagi et ventriculi (hydras natrieus). Pneumonia.
Q 1, Jahre. 7 10. 3. 12. K. d.: Fract. cranii. Contusio cerebri.
S. d.: Fractur. cranii. Trepanatio.
& 2 Jahre 76.11.11. K.d.: Fract. cranii. Fract. antibrachii d.
S. d.: Fract. eranii multiplex, thecae, ossis occipitis, os. temp. d. Contusio
cerebri. Ecchymoses pleurae utriusque et pulm. d. Haematoma hilus
hepatis, omenti minoris et mesenterii. Rupt. minima hepatis. Fract.
antibrachii.
& 2 Jahre. 7 20. 2. 12. K..d.: Fract. eranii. S. d.: Fract. cranii.
Contusio cerebri. Fract. cruris d.
21/, Jahre. 79.1.13. K.d.: Fract. cranii. Moribundus. S. d.: Fract.
cranüi. Rupt. renis dext. c. hematoma perirenale. Haemorrh. pleurae et
thymi et renis sin 1. g. Incisio antibrachii. Rupt. hepatis. Contusio
cerebri.
essrdahre. 1.14.1211. Rrd.: Praecipitatio. S. d.: Fract. comminut.
cranii et thecae et baseos. Rupt. hepatis1. g. Rupt. renis et lienis. Haema-
toma perirenale. Hyperplasia apparat. Iymphat., tract. intestinalis et
mesenterü.
o 3 Jahre. + 18.4. 12. K.d.: Contusio abdominis. S. d.: Pneumonia
hypostatica. Fract. ossis ilei sin. Haematoma perirenale sin.
& 3 Jahre. +11.5.12. K.d.: Fract. baseos cranii. S. d.: Fract. baseos
cranii. Contus. lob. front. d. Hxmorrhagia pialis. Rupt. hepatis. Haemo-
peritonaeum.
d 3 Jahre. 7 29. 1. 13. K. d.: Fraect. compl. ceranii. S. d.: Fract.
cranii. Contusio cerebri. Rupt. art. meningeae med. Eechymoses pleur,
pericardii et perirenales. Anaemia organorum.
‘g 4 Jahre. 78. 9. 13. K. d.: (Herabgestürzt). Fract. eranii. Mori-
bundus. S. d.: Fract. eranii. Fract. maxillae inf. Fract. columnae.
Haemorrh. cerebri Haemorrh. pulm. Rupt. hepatis, pancreatis et lienis.
341.
360.
287.
338.
246.
350.
Verzeichnis über das Material.
© 5 Jahre. + 17.1. 12. K.d.: Ruptura hepatis. S. d.: Suggillationes
parv» cutaneae. Rupt. hepatis.
{ 6 Jahre. + 21. 4. 13. K. d.: Rupt. hepatis. S$. d.: Rupt. hepatis.
17 Jahre. + 20. 11. 12. K.d.: Praecipitatio. Fract. variae. (femoris,
eubiti). 8. d.: Fract. pelvis, femoris d. complicata, cubiti d. costae
utriusque. Rupt. hepatis et lienis. Haematotorax et haematopericardium.
© 18 Jahre. + 10.7.13. K.d.: Sublimatvergiftung. Nephritis. Stoma-
titis. 8. d.: (Intoxicatio chloreti hydrarg. corrosiv.). Nephritis paren-
chymatosa m. gr. Hypostasis pulm. Colitis 1. g.
(2 35 Jahre. + 2. 1. 14. K. d.: Ambustio thoracis, extremitatum.
S. d.: Ambustio thoracis, dorsi, extr. sup. et faciei. Hydrosalpinx sin.
Pyosalpinx dextr. Oophoritis chron. bilateralis. Pelveoperitonitis chron.).
JS 35 Jahre. 7 29. 2. 12. K. d.: Vuln. sclopetarium cerebri. 8. d.:
Vuln. sclopetarium cranii et cerebri.
539 Jahre. +1.12.12. K.d.: Contusio thoraeis. S.d.: Fract. costarum,
lateris utriusque. Fract. column». Haematothorax duplex. Pneumo-
thorax sin. Vuln. perforans pleurae visceralis utriusque.
5 50 Jahre. + 18. 1. 13. K. d.: Tentamen suicidii (Sublimat). 8. d.:
(Veneficium chloreti hydrag. corrosivi). Enterocolitis necrotica et ulcerosa.
Necrosis et uleera mucosa ventrieuli. Laryngitis et pharyngitis. Degene-
ratio parenchymatosa renum. Scoliosis m. gr.
S 92 Jahre. +5. 5. 13. K. d.: Coma. Intoxicatio oxyd. carbonic.
S. d.: Bronchitis purulenta. Bronchopneumoniae confluentes lob. inf.
utriusque. Perisplenitis chr. Atrophia fusca hepatis et myocardii. Hyper-
trofia prostatae. Degeneratio parenchymat. organorum. (keine Athero-
matose, nur ganz leichte Fettdegeneration in Aorta).
Normale Gruppe II.
S1Tag. +3. 12.13. K.d.: Ante tempus natus. S. d.: Ante tempus
natus. Hydronephrosis congenita duplex.
d 6 Tage. + 11. 10. 12. K. d.: Tetanus (trismus). S. d.: (Tetanus).
Hyperaemia organorum. Atelectasis pulmonum partialis. Hyperaemia
meningum.
512 Tage. +12.6.13. K.d.:Ileus. S.d.: Ocelusio intestini congenit.
Peritonit. adhaesiva fibrosa. Dilatat. magna partis sup. intest. ilei.
Enterostomia. Deg. parenchymat. organorum.
/ 5 Monate. + 26. 12. 12. K.d.: Catarrh. gastrointestinal. subacut.
Atrophia. Eczema capitis. Tub. miliaris acuta. S. d.: Bronchitis capil-
laris. Bronchopneum. incipiens.
O 7 Monate. 5.1.13. K.d.: Labium leporinum.. 8.\d.: Bronchitis
capillaris. Atelectasis pulmonum.
7 11 Monate. + 29. 9. 12. K. d.: Meningitis (obs.). Enteritis sub-
acuta, Albuminuria. S. d.: Gastroenteritis. Colitis. (keine rachitis).
5 11 Monate. +20.9.13. K.d.: Moribundus. Enteritis. S.d.: Enteritis
follieularis.
138.
313.
149.
189.
359.
358.
291.
250.
191.
187.
Verzeichnis über das Material. 307
Q 2 Jahre. 76.1. 12. K.d.: Pneumonia lob. inf. sin. Pleuritis sin.
Bronchopneum. S. d.: Bronchopneumonia pulm. utriusque. Pleuritis
serofibrinosa. Steatosis hepatis.
o 5 Jahre. 7 15. 1. 13. K. d.: Pneumonia lobi sup. sin. Cerebralia.
Meningitis. S. d.: Pneumonia lob. total. sin. Emphysema pulm. d.
Oedema meningum. Otitis media supp.
© 8 Jahre. 723.4. 13. K.d.: Moribunda. 8. d.: Bronchitis purulenta.
Deg. parenchymatosa organorum. Aplasia ceystica renis sin.
Q 9 Jahre. 719. 9. 12. K.d.: Angina phlegmonosa. Phlegmone colli.
Oedema glottidis (+ D. B.). S. d.: Angina et laryngitis pseudomembra-
nacea et gangraenosa. ÖOedema glottidis. Laryngotomia. Adenitis et
periadenitis coll. Hyperaemia organorum.
oJ 14 Jahre. } 28. 3. 13. K. d.: Emphysema pleurae d. S. d.: Emphy-
sema pleurae d. Atelectasis lobi inf. pulm. d. et sin. Oedema pulm. Bron-
chitis.
J 14 Jahre. 7 8. 4. 13. K. d.: Agone. Meningitis? Appendicitis?
S. d.: Ileus. Ruptura mesocoli transvers. Volvolus intest. tenuis.
Torsio et strangulatio mesenterii.
o 16 Jahre. 7 31. 1. 12. K. d.: Dilatatio acuta ventriculi. Laparo-
tomia. 8. d.: Bronchitis purulenta. Aspiratio contenti ventriculi
Perigastritis fibrinosa. Enteritis follicularis.
© 22 Jahre. + 23. 4. 12. K. d.: Salpingooophorit. purul. dupl. 8. d.:
Peritonitis fibrinos. Laparotomia c. salpingooophoreetomia dupl. et
hysterectomia supravag. uteri. Thrombosis venae iliac. sinistr. Cystitis.
Putrefactio hepatis et lienis. Hypostasis pulm.
Q 26 Jahre. } 22. 12. 13. K. d.: Intoxicat. acid. hydrochloric. (sui-
eidium). Peritonitis. S. d.: Venefic. acid. hydrochlorici. Necrosis
ventrieuli. Peritonitis diffusa. Pelveoperitonitis chron. Sactosalpinx
dext. Cystoma ovariü sin.
S 30 Jahre. } 19. 11. 13. K. d.: Pneumonia sin. 8. d.: Pneumon.
lobi sup. pulm. sin. (in hepat. tot. gris.) et pulm. dext. totalis (in hepat.
rubra). Pleurit. fibrinopurul. sin. c. atelectasi lob. inf. pulm. sin. Deg.
parenchymat. hepatis et lienis.
d’ 34 Jahre. 7 21.1. 13. K. d.: Retentio gastrica. Vomitus. 8. d.:
Hypostasis pulmonum. Gastrojejunostomia. Scoliosis.
d 53 Jahre. 7 14. 10. 12. K.d.: Veneficium veronali. 8. d.: (Vene-
ficium veronali). Oedema pulm. s. Pneumonia croup. l. s. a. et pleurit.
l.s. a. Pleuritis adhaesiva fibrosa d. Atherosel. aortae 1. g. Cholelithiasis
c. hydropo. Atrophia renis senilis incip. Fibromata uteri. Deg. paren-
chymatosa organorum.
SQ
Gruppe III (gemischt).
02 Monat. 71.5. 12. K.d.: Catarrh. intestin. subacut. Atrophia. 8. d.:
Atrophia universalis. Colitis follicularis.
o& 4 Monate. 7 20.4. 12. K.d.: Bronchitis capillaris. S. d.: Broncho-
pneumonia. Rachitis 1. g.
308
134.
178.
141.
206.
152.
144.
308.
145.
Verzeichnis über das Material.
7 Monate. 74. 1. 11. K. d.: Bronchitis capillaris. Bronchopneu-
monia. Convulsiones. Tumor lienis. Rachitis. Dermatitis. 8. d.:
Rachitis. Dermatitis. Pleuritis adhaes. l. g. Bronchopneumoniae pulm.
utriusque.
5 8 Monate. 7 22. 3. 12. K. d.: Atroghia. Catarrh. intestinalis. Tumor
lienis. Hamaturia (haemoglobinuria). Albuminuria. S. d.: Nephritis
acuta haemorrhagica. Rachitis.
© 11 Monate. 717.1.12. K.d.: Bronchitis. Enteritis. Otitis. Nephritis
acuta. Uraemia? S. d.: Bronchitis purulenta. Rachitis. Otitis media
dextra.
@ 1 Jahr. 78. 6. 12. K. d.: Abscessus colli. S. d.: Focus caseosus
solitarius cerebri lobi frontalis sin. c. emollitione. Glandulae tuber-
culosae caseosae regionis lateralis colli dextr.
53 11/, Jahre. 7.14. 12. 12. K. d.: Gastroenteritis. Bronchitis. Tubk.
miliaris? Otitis. 8. d.: Atelectasis pulm. partial. Bronchopneum.
Steatosis hepatis m. g. Hyperplasia acuta lienis. Otitis med. dupl.
Degenerat. parenchymat. renum. Genu varum.
2 4'/, Jahre. 76.2.12. K.d.: Pneumonia. Pneumothorax. Emphysema
sub. cutan. 8. d.: Tub. miliaris universalis. Focus caseos. lob. sup. d.
Degeneratio caseosa gland. bronchial. d. Perforatio bronchi d. per glandul
bronchial. Emphysema mediastin. et subeut. Pneumothorax d. Ulcera-
tiones parvae intestini.
o 7 Jahre. 721.1.12. K.d.: Ehe 24 Stunden gestorben. S.d.: Endo-
carditis verrucosa ulcerativa mitralis, Valvul. aortic. et tricusp. Peri-
carditis serofibrinosa (Cor villosum). Infarct. pulm. utriusque. Bronchitis
purulenta. Hyperplasia lienis.
2 12 Jahre. 7 7. 12. 13. K. d.: Osteomyelitis femoris acut. 8. d.:
Östeomyelit. femoris. Pyarthron genus. Deg. amyloid. lienis et intestini.
Steatosis hepatis. Deg. adiposa renum. Hydrothorax. Anaemia.
‘15 Jahre. 7 21.7. 12. K.d.: Pneumonia chr. $. d.: Arthroit. artic.
sacroiliac. sin. Periostit. purul. ossis ilei. Infarct. septie. pulm. utriusque.
Pleuritis fibrinosa. Hyperplasia lienis. Deg. parechymat. organorum.
o 17 Jahre. 79.8. 12. K.d.: Fract. complicata eranii. (Vuln. sclope-
tarium). Encephalitis. S. d.: Abscessus cerebri. Hemiplegia d. Pro-
lapsus cerebri e. vuln. scolpetar.
© 20 Jahr. 76. 3. 13. K. d.: Dementia praecox. Veneficium acid.
hydrochlorice. S. d.: Cauterisatio pharyngis, oesophagi et ventrieuli
(Acidum hydrochloriecum).
0 22 Jahre. 7 23. 1. 12. K. d.: Pyarthron genus (sepsis, pyaemia).
Mb. mentalis. S. d.: (Septikaemia). Pyarthron genus sin. Broncho-
pneumonia et Bronchitis purul. duplex. Hyperplasia lienis. Steatosis
hepatis. Deg. parenchymatosa renis. Decubitus. Deg. adiposa myo-
cardii 1. g. Perisalpingitis chr. adhaes. s. Anaemia. Thrombosis v. femoral.
utriusque.
Q 24 Jahre. 715. 3.12. K.d.: Phthisis dupl. total. sin. S. d.: Phthisis
pulm. inprimis sin. Ulcera tubereul. intestini. Appendicitis ulcerosa.
223.
349.
197.
254.
161.
305.
139.
za
148.
Irfzk
Verzeichnis über das Material. 309
Periappendieitis fibrinosa. Steatosis hepatis. Oystitis biliosa e. caleulo
hepatis.
© 24 Jahre. + 15. 7. 12. K.d.: Suicidium (Salzsäure). S. d.: Corrosio
tract. dig. inprimis ventriculi. Metritis, Perimetritis et Perisalpingitis
chr. adhaesiva. Focus tubere. vetus pulm. d. Cholelithiasis.
26 Jahre. + 19. 12.12. K.d.: Vulnus ineisum antibrachii sin. Vuln.
ineis. mentis. Suieidium. 8. d.: Degeneratio myocardii. Tub. vetus
pulm. Deg. organorum.
JS 27 Jahre. + 15. 9. 13. K.d.: Delirium tremens. Eclampsia. 8. d.:
Steatosis hepatis. Degeneratio parench. renum et myocardii. Lepto-
meningitis chr. 1. g.
JS 34 Jahre. }12.5. 12. K.d.: Tumor testis c. metastas. . d.: Cancer
pulm. d. lob. sup. et pleurae d. Metast. ad pulm. s. et hepatis, Gl. supra-
renal., Gl. Ilymph. thorac. et Hilus hepat. et durae matris. Hyperplasia
lienis. Hydrocele testis d. Hernia ing.
S 34 Jahre. + 26. 10. 12. K.d.: Delirium tremens. Febrilia. Pneu-
monia? 8. d.: Hypostasis pulm. et stasis organorum 1. g. Steatosis
hepatis.
cd 38 Jahre. } 16. 2.12. K.d.: Tub. pulm. Deliria in extremis. 8. d.:
Tub. pulm. cavernosa utriusque. Ulcera tubere. intestini et laryngis.
Steatosis hepatis.
© 42 Jahre. + 28. 2.13. K.d.: Deg. psychopathica. Tentamen suieidii
(Intoxic. oxyd. carbonie.), Ambustio. Stupor. Bronchopneumonia.
S. d.: Oedema meningum. Stasis organorum. Selerosis art. coronariae
cordis. Fibromata uteri. Pleuritis fibrosa adhaesiva s. Emphysema pul-
monum.
E5oahre, 1.97 LP yaRen.dE: Aleoholismus chr. Icterus febrilis.
(Atrophia hepat. acut.?) Nephritis. Anuria. Uraemia (Sepsis bac. coli
sive streptococe.). $. d.: Pneumonia hypostatie. 1. g. Absc. hepat.
Steatosis hepat. Hyperplasia lienis. Nephritis parench. Fibroma parvum
renis d. Diverticulum Meckelii.
553 Jahre. #12.3.12. K.d.: Ale. chr. Pneumonia lob. sup. d. Catarrh.
apie. sin. Icterus gravis. Albuminuria. Nephritis acuta. Coma. Convul-
siones. S. d.: Pneumonia lob. inf. d. Tub. vetus apie. utriusque. Cir-
rhosis1. g. hepatis. Ieterus universalis. Nephritis parench. acuta. Hyper-
plasia lienis. Orchitis fibrosa. Laryngitis chr.
oJ 55 Jahre. + 28. 1. 12. K. d.: Cancer oesophagi c. stenosi. Paralysis
nerv. recurrent. sin. Gangraena pulm. d. Anaemia. Seq. ule. eruris. S.d.:
C. oesophagi ce. perforatione ad bronchum d. Bronchopneum. dupl. Focus
tub. vetus apie. sin. Bronchitis purul. Pleuritis adhaes. vetus. Arterio-
sclerosis. Myocarditis fibrosa 1. g. Hyperplasia acuta lienis. Stasis
renum. Steatosis hepatis l. g.
© 66 Jahre. + 19. 3. 12. K. d.: Osteosarcoma costae. Cancer coli?
C. metastas. multipl. Decubitus. S. d.: C. coeci ce. perforat. in colon
et in ileum. Metast. ad gland. retroperiton. et gland. suprarenal. ad
pulmones et ad cutem.
310
203.
195.
233.
all.
295.
Verzeichnis über das Material.
>? 67 Jahre. 71.6. 12. K.d.: Cancer abdominis. S. d.: Cancer ovarii
et abdominis. Cystis ovarii sin. Embolia art. pulm. Stasis hepatis
et renum. Emphysema pulm. Sclerosis art. coronarii.
72 Jahre. 7 10. 5. 12. K.d.: Senilia. Arteriosclerosis. Bronchitis
chr. Albuminuria. Pleuritis dupl. (seq. pneumoniae). S. d.: Pleuritis
dupl. adhaesiva et exsudativa. Compressio pulm. c. induratione et
carnificatione. Cicatrices ventrieuli ce. stenosi. Arteriosclerosis. Bron-
chitis purul. Tub. vetus ce. carnificatione. Tub. miliaris organorum. Tub.
caseosa salpingum. Endometritis tub. Atrophia arteriosclerotica lienis et
renum. Stasis organorum.
© 74 Jahre. 7 7. 8. 12. K. d.: Commbotio cerebri. S. d.: Haemorrh.
cerebri. Bronchopneumonia et pleurit. fibrinosa. Emphysema. Tub. vetus
apicis utriusque. Pleuritis adhaesiva fibrosa dupl. 1. g. Arteriosclerosis.
Atrophia renum arteriosclerotica. Cystopyelitis purul. Cystoma ovarii.
Haematoma capitis.
5 86 Jahre. + 16. 3. 13. K.d.: Hypertrophia prostatae. Tumor ab-
dominis. S. d.: Abscessus perirenalis d. Pyelonephritis purul. Broncho-
pneumonia. Atrophia prostatae.
© 92 Jahre. + 1.3.12. K. d.: Dementia senilis (Bronchopneumonia).
S. d.: Cicatrix ventrieuli. Pneumoria crouposa lobi sup. Emphysema
pulm. Myocarditis fibrosa. Thrombosis aortae. Polypus uteri. Cystoma
ovarii sin. Arteriosclerosis renum.
E95 Jahre. 7 4.2.213. Kl Gangraena senilis eruris sin. S. d.: Dege-
neratio myocardii. Arteriosclerosis. Hypertrophia cordis. Emphysema
et oedema pulm. Atrophia et eystes renum. Hypertrophia prostatae.
Thrombosis art. iliacae ext. sin. Gangraena pedis et cruris sin. Erosio
ventrieuli c. haemorrh. Encephalomalacia.
a3:
*6,
210:
1le
Literaturverzeiehnis.
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K. d. = Klinische Diagnose. S. d. = Sektionsdiagnose.
Ein Stern vor der Zahl bedeutet, dass die Abhandlung uns nur im Referat
zugänglich gewesen ist.
Der anatomischen Literatur ist nur entnommen was den Menschen und
einige andere Säugetiere betrifft. Rücksichtlich der niedrigen Wirbeltiere
weisen wir auf die Arbeit Studnitkas hin.
Der pathologisch-anatomischen Literatur sind nur einzelne Abhandlungen
entnommen, übrigens weisen wir auf die Abhandlung Pappenheimers hin.
Literatur, welche nicht direkt die Zirbeldrüse betrifft, ist in den Fuss-
noten beigefügt.
—— nn
ie x 2
Figurenerklärung.
Fig. 1. Anlage der Zirbeldrüse aus der Mitte des zweiten Fötalmonats.
Hansens Eisenhämatein. Vergr. 100 mal.
Fig. 2. Anlage der Zirbeldrüse aus der Mitte des dritten Fötalmonats.
Hansens Eisenhämatein. Vergr. 100 mal.
Fig. 3. Anlage der Zirbeldrüse aus dem Anfang des vierten Fötalmonats.
Hansens Eisenhämatein. Vergr. 100 mal.
Fig. 4. Anlage der Zirbeldrüse aus dem Anfang des fünften Fötalmonats.
Hansens Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 100 mal.
Fig. 5. Anlage der Zirbeldrüse aus dem Anfang des sechsten Fötalmonats.
Toluidinblau. Vergr. 50 mal.
Figg. 1—5.
a) Embryonales Bindegewebe.
b) Vorderste Pinealanlage.
c) Commissura posterior-Anlage.
d) Divertieulum pineale.
e) Ependym im Processus suprapinealis.
f) Flimmerhaare.
g) Abgeschlossener Boden des Diverticulum pineale.
h) Commissura habenularum-Anlage.
k) Gefässe.
m) Mitosen.
p) Plexus chorioideus.
s) Die Spalte zwischen der vordersten und hintersten Pinealanlage.
t) Cylinderförmige Verlängerung der Commissura habenularum-
Anlage.
u) Kissenförmige Auswucherungen von der Divertikelwand.
Fig. 6. Pinealzellen (Bienenwabenstruktur) eines 7jährigen. Golgi-Im-
prägnierung. Vergr. 500mal. _
Fig. 7. Parenchym (Nerven- und Pinealzellen) eines 29jährigen. Biel-
schowsky- Imprägnierung. Vergr. 1000 mal.
Fig. 8. Gliaplaque mit Kalkkörnern. Bielschowsky-Imprägnierung.
Vergr. 1000 mal.
Fig. 9. Parenchym eines 3jährigen. Alzheimers Säurefuchsin-Licht-
grün. Vergr. 650 mal.
21*
318 Figurenerklärung.
Fig. 10. Parenchym und Rand eines Bindegewebeseptums eines 55 jährigen.
Alzheimers Säurefuchsin-Lichtgrün. Vergr. 650 mal.
Fig. 11. Parenchym und Rand einer Gliaplaque eines 22jährigen. Alz-
heimers Säurefuchsin-Lichtgrün. Vergr. 650 mal.
Fig. 12. Bindegewebeseptum mit Wanderzellen eines 74jährigen. Tolui-
dinblau. Vergr. 700 mal.
Fig. 13. Bindegewebeseptum mit Mastzellen eines 1?/,jährigen. Toluidin-
blau. Vergr. 700 mal.
Fig. 14. Pinealzellen an verschiedenen Stadien der Kernexcretion. Unna-
Pappenheims Karbolmethylgrün-Pyronin. Vergr. 800 mal.
Fig. 15. Gliazelle eines 22jährigen. Golgi-Imprägnierung. Vergr.
300 mal.
Fig. 16. Nervenzelle von Pinealzellen umgeben, bei einem 7jährigen.
Golgi-Imprägnierung. Vergr. 500 mal.
Fig. 17. Nervenzellen mit Nervenfäden bei einem 50jährigen. Cajal-
Imprägnierung. Vergr. 250 mal.
Fig. 18. Bindegewebeseptum mit Nervenendknöspchen bei einem 17 jäh-
rigen. Walter-Imprägnierung. Vergr. 700 mal.
Fig. 19. Der Rand des Parenchyms mit Nervenendknöspchen bei einem
l4jährigen. Walter-Imprägnierung. Vergr. 700 mal.
Fig. 20. Parenchym eines 29jährigen. Bielsechowsky -Imprägnierung.
Vergr. 500 mal.
Figg. 6—20.
a) Plasmazellen.
b) Bindegewebskerne.
c) Bindegewebsfäden.
d) Pigmentzellen.
e) Endknöspchen.
f) Kalkkörner.
g) Gliazellen.
h) Gliafäden.
i) Nervenfäden.
k) Gefässe.
l) Lymphocyten.
m) Mastzellen.
n) Nervenzellen.
o) Protoplasmatisches Netzwerk zwischen den Pinealzellen.
p) Pinealzellen.
q) Unregelmässige Pinealzellen.
r) Kernkugeln.
s) Kernkugeln im Begriff ausgestossen zu werden.
t) Granula im Boden eines eingekerbten Kernes.
Fig. 21. Anlage der Zirbeldrüse, aus dem Anfang des zweiten Fetal-
monats. Hansens Hämatoxylin. In F und O sind die fehlenden Partien
Figurenerklärung. 319
Ausdruck für Defekte in den Präparaten. Die Figurbezeichnungen sind die-
selben wie in Fig. 1—5.
Fig. 22. Anlage der Zirbeldrüse, Commissura posterior und Vierhügel
bei Feten aus dem Anfang des zweiten Monats, aus der Mitte des zweiten
und Mitte des dritten Monats; die Figuren sollen die Reduktion der Anlage
der Commissura posterior illustrieren, l ist das Dach der dritten Hirnblase
(Vierhügelanlage), die Figurbezeichnungen sind übrigens dieselben wie Figg. 1—5.
A entspricht Fig, 21H und B Fig, 1. Alle drei Figuren sind ca. 20 mal
vergrössert.
Fig. 23. Parenchym mit Proparenchymnetzwerk eines 1!/, Monate alten
Kindes. Hansens Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal.
Fig. 24. Parenchym eines ljährigen Kindes. Zahlreiche kleine Höhlen.
Hansens Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal.
Fig. 25. Parenchym eines 66jährigen. Hansens Eisenhämatein und
Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal.
Fig. 26. Starke Septumbildung bei einem 12jährigen Kind (Osteo-
myelitis).. Hansens Hämatoxylin. Vergr. 125 mal.
Fig. 27. Parenchym mit sparsamem Bindegewebe bei einem 92jährigen.
Hansen Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal.
Fig. 28. Parenchym eines 3jährigen Kindes, Hansens Eisenhämatein
und Pikrofuchsin. Vergr. 200 mal.
Figg. 1—22 sind vom Verfasser verfertigte Zeichnungen. Figg. 23—28
sind Mikrophotographien, welche am Pathologisch-anatomischen Institute der
Universität Kopenhagen (Direktor Prof. Fibiger) von Prosektor Dr. H.C. Hall
ausgeführt sind. Die Negativen der Lichtdrücke Figg. 1—8 und 23—28 sind
bei Lagrelius und Westphal, Stockholm hergestellt.
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AUS DER MEDIZINISCHEN KLINIK DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN.
DIREKTOR: PROF. DR. Kn. FABER.
ÜBER DEN BAU UND DIE ENTSTEHUNG
DER HAUSTRA COLL.
VON
Th. E. HESS THAYSEN,
PRIVATDOZENT AN DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN.
Mit 15 Figuren im Texte.
EN I
PT:
Über den Bau der Haustra coli findet man in den grösseren
Anatomien (Luschka,Henle, Testut, Poirier, Quain)
fast dieselbe Beschreibung, und die herrschenden Anschauungen
über die Entstehung dieser Gebiete stimmen genau miteinander
überein: eine Änderung hierin scheint auch innerhalb der
letzten Dezennien nicht eingetreten zu sein.
Jetzt dürfte aber die Zeit gekommen sein, in der eine
Nachprüfung der herrschenden Auffassungen dringend erforder-
lich wird, weil wir nun mit Hilfe der Röntgenstrahlen imstande
sind, das Aussehen des lebenden Diekdarms zu studieren.
Bei der Röntgenuntersuchung mehrerer ganz normalen
Individuen fiel es mir auf, wie wenig der Bau des Colon, wie
wir ihn am Röntgenschirm sehen, mit der anatomischen Be-
schreibung übereinstimmte. Es wurde deshalb meine Aufgabe,
auszufinden, worin der Umstand besteht und wie er zu er-
klären sei.
Das beste Objekt zum Studium des Baues der typischen
Haustra coli bildet die Mitte des Transversums. Die haustrale
Segmentation des Colons ist hier am schönsten ausgebildet
und überdies ist diese Stelle die einzigste, wo man sie mit
Erfolg im Röntgenbild untersuchen kann.
Wie Fig. 1, die einen Gipsabguss eines unfixierten Darmes
darstellt, zeigt, ist ihr Aussehen hier etwa folgendes. Von
vorne gesehen sieht man zwei Reihen Haustra durch die
324 TH. E. HESS THAYSEN,
Taenia ant. getrennt, die Haustra liegen eng aneinander gepresst,
nur durch schmale Furchen voneinander getrennt, die den
Plicae semilunares entsprechen. Man sieht deutlich, dass die
Haustren von sehr verschiedener Breite sind, und dass einem
Haustrum in der obersten Reihe keines ın der untersten ent-
Rio, 1.
Gipsabguss eines unfixierten Transversums (von vorne gesehen).
Fig. 2.
Gipsabguss eines unfixierten Transversums (von hinten gesehen). $
spricht, mit anderen Worten, die Plicae seminulares stehen
nicht senkrecht übereinander. Von hinten gesehen, Fig. 2,
finden wir die Reihe kleinerer Haustra zwischen der Taenıa
omentalis und mesocolica, nach unten sieht man die unterste
Reihe zwischen Taenia mesocolica und anterior und nach oben
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 325
unterscheidet man die oberste Reihe von Haustra, die zwischen
Taenia anterior und omentalis liegt. Auch hier korrespondieren
die Haustren weder in Grösse noch in Stellung mit denen
der anderen zwei Reihen, sie scheinen dagegen ganz unabhängig
voneinander gebildet zu sein.
Wenn man einen solchen Gipsabguss röntgenphotographiert,
erhält iman folgendes Bild (ventro-dorsaler Strahlengang), Fig. 3.
Die beiden vordersten Haustrareihen treten scharf hervor, durch
deutliche Furchen getrennt, die dem Sitz derjenigen Plicae
; EN EEE a
Fig. 3.
Röntgenphotographie des Gipsabgusses.
seminulares entsprechen, welche die einzelnen Haustren trennen,
deren Grösse im übrigen eine sehr wechselnde ist. In den helleren
interhaustralen Furchen wird man leicht einige schwächere
Schatten nach unten oder oben gegen die Mittellinie bemerken,
welche von den Haustra in der hintersten Reihe herrühren,
was der Gipsabguss deutlich zeigt. Ferner sieht man einige
dünne grauliche Streifen in den kompakten Schatten der vor-
dersten Haustren, die nicht in Verlängerung der Furchen
zwischen diesen stehen, sondern im Gegenteil einigermassen
mit ihnen alternieren. Diese feineren Streifen rühren von den
Plicae seminulares her, die zwischen der hintersten Reihe
von Haustra gefwnden werden. Wir sind also nicht allein
326 TH. E. HESS THAYSEN,
imstande die beiden vordersten Haustrareihen zu sehen und
den Sitz derjenigen Plicae anzugeben, welche sie trennen,
sondern wir können sogar die hinterste Reihe der Haustren
in den Zwischenräumen zwischen den beiden anderen und
Fig. 4.
ihre Plicae seminulares unterscheiden. Wir finden also genau
das von den Anatomen beschriebene Aussehen der Haustra coli.
Zum Studium der Haustren des lebenden Darmes eignet
sich, wie erwähnt, die Mitte des Transversumschattens am
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 327
besten. Begrenzt man seine Untersuchungen zu dieser Partie,
findet man folgendes (Fig. 4).
Was vor allem im Röntgenbild der Haustra coli an dieser
Stelle, wie übrigens überall, wo man imstande ist, sie bei
der Röntgenuntersuchung zu studieren, sofort imponiert, ist, dass
nur 2 Reihen gefunden werden, eine, die sich nach oben und
eine, die sich nach unten wendet, während wir auf der Röntgen-
photographie des Gipsabgusses alle 3 Reihen nachweisen
konnten. Dass die hinterste Reihe der Haustra nicht unter-
schieden werden kann, muss darauf beruhen, dass ihr Schatten
vollständig mit der Mittelpartie des Colonschattens und den
Schatten der übrigen Haustra zusammenfällt.
Die hinterste Haustrareihe des Transversums ist nach
oben und rückwärts gekehrt und muss deshalb auf der Rönt-
genplatte mit der Zentralachse, d. h. dem mittelsten Gürtel
des Colonschattens, wovon die Haustra anscheinend auslaufen,
und der obersten Haustrareihe zusammenfallen. Dass dies
wirklich der Fall ist, kann man ein seltenes Mal an besonders
guten Röntgenbildern sehen. Man sieht dann nämlich, dass
die zentrale Partie der Haustraschatten in der obersten Reihe
kräftiger ist als die periphere, ja zuweilen gelingt es eine
ziemlich deutliche, nach oben konvexe Grenze zwischen diesen
beiden Partien (siehe Fig. 4) zu Sehen. Dass die Reihe der
hintersten Haustren so leicht verborgen wird, ist zum Teil
darin begründet, dass sie weniger wohlentwickelt sind als
die der beiden anderen.
In der untersten Reihe habe ich nie eine ähnliche Teilung
der Schatten der einzelnen Haustren beobachtet.
Es ist ganz unmöglich die hintersten Haustren bei der
Röntgenuntersuchung deutlicher zum Vorschein zu bringen. Mit
einem ventro-dorsalen Gang der Röntgenstrahlen (d. h. wenn das
Individuum die Ventralseite gegen die Röntgenlampe kehrt)
erhält man dasselbe Bild wie bei dem dorso-ventralen, und
328 TH. E. HESS THAYSEN,
es ist mir auch nicht gelungen die hinterste Reihe von Haustren
zu sehen, wenn das Individuum auf die Weise hingestellt
wurde, dass die Strahlen seinen Körper in einer mehr oder
weniger ausgesprochenen schrägen Richtung passierten.
Wie aus Fig. 4 hervorgeht, stehen die Haustren der
obersten und untersten Reihe gerade übereinander und dem
oben Entwickelten zufolge, müssen die hintersten Haustren
im gleichen Plan wie diese beiden stehen. Hieraus folgt aber,
dass die Plicae semilunares in allen 3 Haustrareihen in Ver-
längerung voneinander auf demselben Querschnitt des Colon
stehen müssen und nicht alternierend zerstreut
sind, wie esin den Anatomien angegeben wird.
Dem entspricht auch, dass man auf dem Röntgenbild des
lebenden Colons die helleren Streifen in den kompakten
Schatten der Haustra nicht wiederfindet, wie auf dem Röntgen-
bild des Gipsabgusses (Fig. 3).
Ausserdem wird man sehen, dass die Grösse der Haustra
von Querschnitt zu Querschnitt in der oberen Reihe ungefähr
dieselbe ist wie die der unteren, während sie im ganzen
oft an Höhe und Breite abnehmen, je näher sie gegen die
Flexura sin. hinaufrücken. Der Abstand zwischen den einzelnen
Haustren ist gewöhnlich ungefähr der gleiche und entspricht also
der Breite der Plicae semilunares.
Das Transversum ist solcherweise im Röntgenbild ganz
regelmässig gebaut; es ist, was man isomorph haustriert nennt
(Katsch). Eine solche isomorphe Haustration fand ich bei
allen meinen 16 normalen Versuchsindividuen und bei Pa-
tienten mit leichteren Darmstörungen wird sie in der weitaus
grössten Anzahl von Fällen wiedergefunden. Es ist mir nicht
selten gelungen, bei 4 oder 5 Untersuchungen desselben nor-
malen Individuums, mit 2stündigen Zwischenräumen jedesmal
die gleiche isomorphe Haustration zu finden.
Man hat das Röntgenbild des normalen Colon transversum
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 329
mit einer Reihe auf eine Schnur gezogene Feigen verglichen.
Das Bild ist ziemlich illudierend, man darf aber nicht ver-
gessen, dass ein Querschnitt durch den Colon nicht rund wie
eine Feige ist, sich aber dem oben Gesagten nach weit eher
der Form des Kleeblattes nähert (s. Fig. 5).
Der Unterschied zwischen dem Colon transversum in der
Leiche und im Röntgenbild ist auch in Betreff des einzelnen
Haustrums sehr auffällig. In der Leiche sind die Haustren
bald breite, bald schmale von etwas viereckiger Form und nur
durch schmale Zwischenräume voneinander getrennt. Im Rönt-
genbild haben sie ein weit schlankeres Aussehen, sind oft
Taenia omentalis
Taenia libra- — —
\] .
Taenia meso-
colica
Fig. 5.
Schematischer Querschnitt durch die drei Haustrenreihen.
in ihrer ganzen Länge fast gleich breit, oder aber an der
Spitze breiter als an ihrer Basis, so dass sie anscheinend
petiolat sind. Die Furchen zwischen den Haustren, die den
Plicae seminulares entsprechen, sind in der Regel im Röntgen-
bild breiter als in der Leiche und oft breiter gegen die Zentral-
achse zu, d. h. an ihrem freien Rand als an ihrer Basis,
während den anatomischen Beschreibungen dieser Bildungen
nach das umgekehrte der Fall sein müsste.
Über die Weise, auf welche die Haustren gebildet werden,
sind die Anschauungen völlig übereinstimmend. Am deut-
lichsten drückt Poirier sich aus: „Die Bildung der Haustra
werden von den 3 muskulösen Bändern (den Tänien) verursacht,
330 TH. E. HESS THAYSEN,
die kürzer sind als die Längsachse des Darmes, und die ihn
zwingen sich hier und da in Falten zu legen.“ Wenn die Tänien
durchgeschnitten werden, werden die Haustra ausgewischt und
das Colon bildet ein Zylinderrohr wie der Dünndarm. Ein
anderes Moment, das zur Bildung der Haustren mitwirkt, ist
eine Ausdehnung des Darmes; Henle sagt hierüber etwa
folgendes: ‚In kontrahiertem Zustand liegen die Wände un-
regelmässig gefaltet und lassen sich an jeder Stelle glatten ;
in aufgeblähtem Zustand buchtet die Wand sich zwischen
den Tänien aus, die Plicae werden gespannt und verteilen
sich in einigermassen regelmässigen Abständen von 11/, bis
3 cm.“ | |
Nach Bromann entwickeln sich die Haustren auf folgende
Weise: Bis zur Geburt bildet gewöhnlich die Längsmuskulatur,
auch im Colon, eine kontinuierliche Schicht. Durch die im
extrauterinen Leben folgende Ausdehnung des Organs wird
diese Muskelschicht in 3 längsverlaufende Bündel zerspalten,
die durch beständig wachsende Zwischenräume voneinander
getrennt werden. Die endliche Lage dieser Tänien wird bereits
im 4. Embryonalmonat durch gefässreiche Mesenchymver-
dickungen markiert. Die zwischen den Tänien liegenden Wand-
partien des Colons sind bedeutend dünner und gegen Druck
weniger widerstandsfähig und werden deshalb bedeutend stärker
ausgedehnt als diese. Diese Ausdehnung findet sowohl in
der Längs- wie in der Querachse des Darmes statt. Da in-
dessen die Tänien andauernd zu kurz sind, müssen die zwischen-
liegenden Darmpartien sich quer falten. Auf diese Weise ent-
stehen die Haustra coli. Die erwähnten Querfalten entsprechen
also den Plicae seminulares.
Es kann sodann kaum einem Zweifel unterliegen, dass
die herrschende Auffassung über die Bildung der Haustra,
die ıst, dass dieselben entstehen, sobald das Colon ausge-
dehnt wird, weil die Tänien kürzer sind als das Darmrohr
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 331
selbst, welches deshalb während der Ausdehnung sich quer
falten muss. Ich habe den Eindruck erhalten, dass man im
allgemeinen annimmt, dass diese Haustra permanente, unver-
änderliche Bildungen sind, ich habe aber keine klar ausge-
sprochene Anschauung hierüber gefunden, Sappey analogi-
siert sie mit partiellen Divertikeln, offenbar betrachtet er sie
dann als unveränderliche und permanente.
Von der anatomischen Beschreibung der Haustra coli aus-
gehend, versteht man recht gut, dass man zu dieser Auffassung
ihrer Bildung gelangt ist. Ihre plumpe Form, ihre schlechte
gegenseitige Abgrenzung, ihre unregelmässige Verteilung, die.
sowohl wie ihre höchst variierende Grösse gleichsam das Ge-
präge des Zufalles trägt, spricht für die Anschauung, dass
sie durch Ausdehnung eines Darmes entstehen, deren Wand
an ganz willkürlichen Stellen dazu gezwungen wird, sich in
Falten zu legen.
Betrachtet man dagegen das Röntgenbild des lebenden
Transversums, wo die Haustren mit regelmässigen Abständen
voneinander stehen, auf demselben Querschnitt im selben Plan
gestellt und deutlich voneinander getrennt sind, ungefähr die
gleiche Grösse und eine schlanke Form haben, kann man
sich nur schwierig vorstellen, dass sie auf die von den er-
wähnten Anatomen angegebene Weise gebildet sein sollten.
Wenn man die oben angeführte Theorie, welche man zur
Erklärung der haustralen Segmentation aufgestellt hat, etwas
näher betrachtet, wird man bald sehen, dass sie auf ziemlich
schwachen Füssen steht.
Die haustrale Segmentation ist nämlich in der Leiche
ebensowohl in den fest kontrahierten Partien des Colons wie
in den ausgedehnten zu finden, und ferner kann sie auch
über grosse Strecken des Colon fehlen, die ebenso stark dila-
tiert scheinen, wie andere, wo die haustrale Segmentation
mit wohlentwickelten Plicae deutlich ausgesprochen ist. Diese
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 2
332 TH. E. HESS THAYSEN,
wechselnden Verhältnisse werden nicht allein in verschiedenen
Cola wiedergefunden, sondern sogar im selben Transversum.
Gegen die Bedeutung der Ausdehnung zur Bildung der
Haustren sprechen ferner die Resultate einiger Untersuchungen
von fötalen Cola.
Bei 4 Feten im ca. 5. Fetalmonat!) wurde das Colon fein
quergefurcht ohne Haustra gefunden; es war fest kontrahiert
Fig. 6.
Fetales Colon, das Transversum und das Descendens "zeigt haustrale Segmen-
tation. Der untere Teil des Descendens und des Colon pelvic. zeigt eine glatte
Überfläche.
und dünner als der Dünndarm; das gleiche Aussehen wies
der Dickdarm bei 2 Feten im ca. 6. Monat auf. Bei 3 anderen
Feten im ca. 7. Monat (Scheitel-Steisslänge 19—21 cm) wurde
das Colon in grösserer oder kleinerer Ausdehnung haustriert
gefunden. »Bei zwei der Feten war der Darm vollständig leer,
beim dritten war der unterste Teil des Descendens und Colon
!) Nach 10 Schwangerschaftsmonaten berechnet.
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 333
pelvicum von reichlichem Meconium aufgebläht (Figg. 6 u. 7).
Nun wurde das merkwürdige Verhältnis gefunden, dass die
haustrale Segmentation nur in den kontrahierten Partien zu
sehen war, dagegen gar nicht in den aufgeblähten gefunden
wurde. Dasselbe Phänomen, nur bei weitem deutlicher aus-
gesprochen, wurde bei einem 8--9 Monate altem Fetus ge-
funden, hier war der grösste Teil des Colons mit Meconium
gefüllt und zeigte keine haustrale Segmentation, während das
relativ leere und kontrahierte Transversum in seiner rechten
Fig. 7.
Haustrierte Partie des Colon descendens des in Fig. 6
dargestellten Diekdarms.
Hälfte und der Ascendenz in ihrer obersten Partie schön
haustriert war und deutliche Tänien trug, die nicht im übrigen
Teil des Colons und auch nieht in den haustrierten
Teilen der Cola der jüngeren Feten gefunden
wurden.
Um dieses eigentümliche Phänomen, das ja so wenig mit
der herrschenden Anschauung über die Bildung der Haustra coli
übereinstimmt, dass nämlich diese in solchen Partien des
Darmes gefunden werden, wo Tänien nicht mit blossem Auge
nachgewiesen werden können, näher zu untersuchen, mikro-
skopierte ich die haustrierten Teile der 3 Cola von den
22*
334 TH. E. HESS THAYSEN,
7 Monaten alten Feten. Es wurden 8—10 Stück von jedem
Darm untersucht, zum Teil in Serien, beinahe überall war
das Bild dasselbe.
Bei der Mesenterialanheftung wird eine ziemlich dicke
Schicht von längsverlaufenden Muskelzellen gefunden, die sich
über ca. 1/,—!/, der Peripherie des Darmes spannt, nach
beiden Seiten hin ist sie aber nicht scharf abgegrenzt wie die
Tänien des erwachsenen Darms. Auf der einen Seite geht
sie ziemlich schnell in eine dünne Schicht von Längsmuskulatur
über, welche den Rest dieser Hälfte der Peripherie einnimmt,
auf der anderen Seite dagegen hält sie sich ziemlich kräftig,
wird ungefähr zur Hälfte ihrer ursprünglichen Dicke reduziert,
und bekommt wieder einen bedeutenden Zuwachs, so dass
sie fast ebenso dick wie bei der Mesenterialanheftung wird.
Diese neue Tänie liegt ziemlich nahe bei dem Punkt der
Peripherie, welcher der Anheftung des Mesenteriums entgegen-
gesetzt liegt und geht ziemlich schnell in die früher beschriebene
dünne Schicht über. In dieser habe ich in einigen Blöcken
eine Andeutung von einer Tänie getroffen, die indessen weit
schwächer entwickelt war als die übrigen und nicht in allen
Blöcken desselben Darmes vorhanden war, woraus hervor-
geht, dass sie nicht zur selben Zeit in ihrer ganzen Länge
auftritt.
Meine Untersuchungen zeigen also, dass zwei tänienähn-
liche Verdieckungen der Längsmuskulatur bereits im 7. Fetal-
monat auftreten, während die dritte Tänie noch nicht ent-
wickelt ist oder nur an begrenzten Partien des Darmes ge-
füunden wird. Bromanns Angabe, dass die Tänien erst im
extrauterinen Leben entwickelt werden, ist also nicht korrekt,
sie werden, noch bevor der Darm einer Aufblähung ausgesetzt
wird, entwickelt, während Bromann meint, dass es eben
die Ausdehnung des Darmes ist, die die Bildung der Tänien
b}
bewirkt. Meine Untersuchungen stimmen besser mit Keibels
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 335
und Malls überein. Der Meinung dieser Verfasser nach bildet
die Längsmuskulatur bei 7,5 cm langen Feten (ca. 4. Monat)
eine halbmondförmige Verdickung längs der Mesenterialinsertion
des Colon transversum, noch im 5. Fetalmonat ist die Taenia
mesocolica der bestentwickelte Teil der Längsmuskulatur, doch
sind die beiden anderen Tänien andeutungsweise vorhanden.
Auch ıch fand, dass Taenıa mesocolica die am besten ent
wickelte war, selbst bei Feten im 7. Monat, von den beiden
anderen Tänien wurde aber die eine deutlich früher wie die
anderen entwickelt, so dass bei Feten im ca. 7. Monat oft
nur 2 Tänıen ausgebildet sind.
Die bisher verfochtene Theorie über die Bildung der
Haustren findet also an den hier angeführten Untersuchungen
keine Stütze.
Die Bedeutung der angenommenen Ausdehnung des Darms
wird zweifelhaft, wenn man sich dessen erinnert, dass die
haustrale Segmentation sowohl in den fest kontrahierten 1), wie
in den aufgeblähten Partien desselben Colons gefunden wird,
und endlich über ziemlich grosse Strecken fehlen kann, wo
doch die Cirkumferenz des Organes ziemlich bedeutend ist;
endlich sind nur die kontrahierten Teile der Cola der Feten
und Neugeborenen haustriert, während die meconiumgefüllten,
aufgeblähten Partien eine glatte Oberfläche haben 2). Auch
die Bedeutung der Tänien für die Bildung der haustralen Seg-
mentation wird ziemlich problematisch, wenn man erinnert,
dass man im selben Transversum abwechselnd schön haustrierte
Partien mit anderen von ungefähr derselben Weite, wo die
haustrale Segmentation fast ausgewischt ist, treffen kann. Rührt
nämlich die Bildung der Plicae von dem Umstand her, dass
die Tänien, anatomisch gesehen, kürzer sind als der übrige
') Besonders deutlich treten die Haustren nach Entfernung der stark
gefalteten Schleimhaut vor.
?2) Hierdurch wird Bromanns Anschauung erklärt (s. S. 330).
336 TH. E. HESS THAYSEN,
Darm, musste man doch annehmen, dass die Faltung der
Darmwand gleich ausgebreitet in ungefähr gleich stark aus-
gedehnten Darmabschnitten war. Endlich finden wir eine deut-
liche Haustrierung in fetalen Cola, in denen nur zwei Tänien
gefunden werden, die noch dazu kaum völlig entwickelt sind.
Das Resultat meiner anatomischen Untersuchungen scheint
bei weitem eher darauf zu deuten, dass die haustrale Segmen-
tation ein Kontraktionsphänomen ist und nicht einer passiven
Ausdehnung der Darmwand seine Entstehung verdankt. Der
einzige Anatom, der meines Wissens etwas zur selben An-
schauung neigt, ist Bromann, er hebt hervor, dass die
Plicae semilunares nur die Stellen der Darmwand repräsen-
tieren, wo die Ringmuskulatur zufällig kontrahiert ist. Wenn
er an dieser Anschauung festhält, wird — soweit ich ersehen
kann — seine ganze früher zitierte Auffassung über die Bil-
dung der Haustren beim Neugeborenen ziemlich unverständlich,
sie kann nur als Stütze für die Ausdehnungstheorie betrachtet
werden und trotzdem hat Bromann recht, was die Rönt-
genuntersuchung des lebenden Darmes zeigt.
Untersucht man nämlich das Colon desselben Individuums
zu verschiedenen Zeiten, während welchen es noch kräftig
mit dem schattengebenden Mittel gefüllt ist, wird man schnell
herausfinden, dass die Haustren keine unveränderlichen, ana-
tomisch präformierten Bildungen sind, sondern dass sowohl
ihre Anzahl wie Form ziemlich bedeutend in derselben Partie
des Colon variieren können.
Solcherweise fand ich in einem Falle an der am schönsten
haustrierten Partie des Colon transversum, die sich ca. 4 cm
nach rechts und 6 cm nach links von der Mittellinie er-
streckte:
5—6 Haustren in jeder Reihe ca. 131/, St. p. e.!) Fig. 8.
7—8 Haustren in jeder Reihe ca. 16 St. p. c.
9—10 Haustren in jeder Reihe ca. 22 St. p. c. Fig. 9.
I) p. e. = post coenam — nach Einnahme der Kontrastmahlzeit.
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli 337
An Fig. 8 und Fig. 9 wird man ferner ersehen, dass die
Form der Haustra im Laufe der Zeit, die zwischen jeder Unter-
suchung liegt, einer bedeutenden Veränderung untergangen hat
In Fig. 8 sind sie ziemlich dick und plump, stehen in relatıv
Fig. 8.
Die rechte Flexur ist von Luft aufgebläht.
grossen Abständen voneinander, in Fig. 9 sind sie dagegen
schlank und dichter zusammengepresst. Die Figuren zeigen
ferner, dass die Verteilung der Haustren über die gleiche Partie
des Colon transversum zu verschiedenen Zeiten eine ziemlich
wechselnde sein kann. Bald sind sie einigermassen gleich-
338 TH. E. HESS’ THAYSEN,
mässie verteilt, selbst ob sie im ganzen in geringer Anzahl
vorhanden sind, zu anderen Zeiten kann man im Transversum
Ihe
Die hellen Stellen in den Haustrenschatten sind mit Luft gefüllte Partien der
Haustra.
Strecken von 4-5 em finden, wo er nur einen streifenförmigen
Schatten bildet, der dem Gürtel entspricht, den wir früher
als Zentralachse beschrieben.
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 339
Wir sehen also, dass die Haustra neugebildet werden,
und dass die neuen Haustren wie die Präexistierenden
im selben Plan am selben Querschnitt des Colon stehen
müssen.
Um zu erfahren, wie diese Neubildung der Haustren vor
sich geht, ist es notwendig, das Transversum in einer Serie
von Platten zu untersuchen, die mit so kurzen Zwischenräumen
aufgenommen sind, dass jedenfalls keine der wichtigeren Be-
wegungen, die zur Bildung der Haustren führen, verloren
gehen.
Schwarz, Kästle und Bruegel haben solche Serien
aufgenommen, um die Formveränderungen der Haustren zu
studieren, haben sich aber nicht eingehender mit der Frage
beschäftigt, wie diese gebildet werden. Schwarz nahm Rönt-
eenogramme mit Zwischenräumen von ca. 5 Minuten auf,
während die beiden anderen Verfasser fanden, dass Platten
mit nur sekundenlangen Zwischenräumen aufgenommen, Keine
Veränderungen zeigten, während diese deutlich in Serien mit
1--5 oder mehreren Minuten langen Zwischenräumen zwischen
den Aufnahmen ausgesprochen sein konnten. In meinen Serien
haben die Intervallen zwischen den Bildern von 2--4 Minuten
gewechselt, sind aber in derselben Serie von einigermassen
gleicher Dauer gewesen.
Die Versuchsbedingungen, die man herbeischaffen muss,
ist natürlich über die instrumentelle Aussteuer hinaus, ein
normales Individuum, dessen Transversum mit dem schatten:
gebenden Mittel stark gefüllt ist. Selbst ob diese Bedingungen
vorhanden sind, ist es keineswegs abgemacht, dass man im-
stande sein wird, sich eine sichere Vorstellung über die Ent-
stehung der Haustra zu machen, weil die Bewegungen der
Ringmuskulatur, die zur Bildung der Haustren führen, sicher
beim selben Individuum mit verschiedener Schnelligkeit an
verschiedenen Zeitpunkten vor sich geht und ferner kaum
340 TH. E. HESS THAYSEN,
in allen Teilen des Transversum zur selben Zeit gleich kräftig
sind, weswegen es von Zufällen abhängt, ob die Serie gut
ausfällt oder nicht. Es ist denkbar, dass die respiratorischen
Verschiebungen und die Verschiebungen in der Richtung der
Längsachse, denen das Transversum unterworfen ist, etwas
störend wirken können, in meinen Serien sind sie indessen
nur klein und leicht kontrollierbar gewesen. Finige kleinere
Bewegungen der Ringmuskulatur, die kaum zur Bildung von
Haustren führen, kann aber das Aussehen derselben auf eine
solche Weise umformen, dass es sehr schwierig wird, das-
selbe Haustrum auf den verschiedenen Platten wiederzufinden.
Wie Serie III zeigt, können diese Bewegungen bewirken, dass
eine ganze Reihe sonst wohlgelungener Platten für das Studium
der Haustrenbildung unbrauchbar wird.
Hiernach werde ich zur Beschreibung der 3 Serien, die
ich aufgenommen habe, übergehen; die letzte Serie ist, wie
»
wir sehen werden, von einigem Interesse, trotzdem die Haustra-
bildung hier nicht verfolgt werden kann.
Serie I: Versuchsperson, 23jähriger Stud. med. O.; es
wurden im ganzen 10 Platten mit Zwischenräumen von 2 bis
3 Minuten aufgenommen.
Nur die Mittelpartie des Transversum, die sehr schön
isomorph haustriert war, wurde benützt. Die senkrechte Linie
durch die Bilder repräsentiert eine Linie durch die Mitte
der Wirbelkörper. Wie man leicht aus den Bildern ersehen
kann, ist eine Verschiebung des Transversum nach den Seiten
hin geschehen — entweder weil das Individuum nicht absolut
die gleiche Stellung behalten hat — sich etwas bewegt hat —
oder weil das Organ sich im ganzen verschoben hat, dagegen
sind die respiratorischen Verschiebungen kaum bemerkbar,
da die Platten wie in den folgenden Serien aufgenommen
wurden, während das Individuum sich ungefähr in derselben
Respiralionsphase befand (mittlere Inspirationsstellung).
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coh. 341
Fig. 1. 1047
Fig. 2. 1050
Fig. 3. 11 1052
Fig. 4. 1055":
Serie 1.
Fig.
SI
TH. E. HESS THAYSEN,
Serie 1.
1058
119
110%
1195
€ ‘
Über den Bau, und die Entstehung der Haustra coli. 343
Die Serie zeigt nun folgendes:
Die 4 Haustrumpaare, die mit a, b, ec, d vermerkt sind,
und die in den Abbildungen rechts von der Mittellinie liegen
(beim Individuum links), sind alle in den 22 Minuten, in
denen die ganze Untersuchung dauerte, ziemlich unveränder!
geblieben, sie werden leicht auf allen Platten wiedergefunden.
Fig. 9. 1107
Fig. 10. 1103
Serie 1.
Sie sind wohl kleinen Formveränderungen unterworfen ge-
wesen, besonders das Haustrumpaar d, dessen oberstes Glied
in Fige. 2, 3 und 4 verschwunden zu sein scheint. Ob die
Plica, welche dieses Haustrum vom folgenden trennt, ver-
schwunden, oder ob der Zwischenraum zwischen diesen
Haustren nur gedeckt ist, weil das folgende sich dicht an das
Haustrum d gelagert hat, ist es unmöglich zu entscheiden.
344 TH. E. HESS THAYSEN,
Grössere Veränderungen werden in den Haustrumpaaren
gefunden, die links von der Mittellinie liegen. Gehen wir
vom kleinen Haustrumpaar ‚a aus, welches leicht in allen
folgenden Abbildungen wiedergefunden wird, finden wir, dass
das Paar Haustra, welches als Nr. 3 davon nach links liegt
(mit d bezeichnet), in Figg. 2 und 3 bedeutend an Dicke
zunimmt. In Fig. 3 scheint eine werdende Teilung dieses
Paares stattzufinden, indem eine kleine Einkerbung in der
Oberfläche sowohl des niedrigsten wie obersten Haustrum auf-
tritt. In Fig. 4 scheint die Teilung vollendet zu sein, die Anzahl
der Haustren links von der Mittellinie sind mit ein Paar
vermehrt worden, und gleichzeitig scheinen die Plicae zwischen
dem Haustrapaar B u. y und zwischen y u. d etwas kürzer
geworden zu sein, um in den folgenden Bildern wieder tiefer
zu werden. In den Minuten, die zwischen der Aufnahme von
Bild 5 und 6 liegen, ist das Bemerkenswerte geschehen, dass
zwischen B u. y ein kleines Haustrumpaar gebildet worden ist.
Wie dies entstanden ist, durch Teilung eines Präexistierenden
oder durch Neubildung von der Zentralachse aus, ist es mir
leider unmöglich zu entscheiden, mir fehlen 1 oder 2 Bilder
von dem zwischen Figg. 5 und 6 liegenden Zeitpunkt. Dies
kleine Haustrumpaar wird noch in Fig. 7 gefunden, ist aber,
wie Fig. 8 zeigt, nach einer Existenzperiode von höchstens
7!/, Minuten verschwunden, viellgieht mit dem nächsten
Haustrumpaar zusammengellossen, vielleicht hat die Ring-
muskulatur sich vollständig kontrahiert, um diese Haustren
zu verwischen. Die Veränderungen, die die Haustren in der
übrigen Zeit (Figg. 9 und 10) durchgemacht haben, sind nicht
besonders bedeutend.
In dieser Serie ıst also nachgewiesen 1. dass neue Haustren
wahrscheinlich durch Teilung der Präexistierenden gebildet
werden können (Figg. 3 und 4), und dass die Plicae, welche
die neugebildeten Haustren von den Präexistierenden trennen,
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli.
N)
Fig. 2. \\
Fig. 3.
Fig. 4.
Serie II.
345
945
947),
951
953
346 TH. E. HESS THAYSEN,
im gleichen Plan stehen und einen Ring bilden, der wahr-
scheinlich nur von den Tänien unterbrochen wird. 2. Dass,
gewiss nicht besonders wohlentwickelte, Haustren im Laufe
von 2 Minuten gebildet werden können, um nach einer Daseins-
periode von höchstens 7!/, Minuten wieder zu verschwinden.
Ausserdem wird man 3. bemerken, dass die Ringmuskulatur
nicht allein solche Bewegungen ausführt, die zur Bildung von
Haustren führen, sondern auch die Plicae vertieft oder sie
weniger hervortretend macht, Einkerbungen in die Oberfläche
der Haustren (s. Fig. 3, Haustra ec) hervorbringen, die schnell
ohne Zurücklassen von Spuren verschwinden. Die Plicae sind
in beständiger Bewegung, werden bald tiefer, bald weniger
ausgesprochen, bald hat ihr freier Rand eine Richtung gegen
die Zentralachse hinauf, bald dreht er sich mehr ın analer
oder oraler Richtung (s. Figg. 3 und 4). 4. Ferner ersehen
wir aus dieser Serie, dass keine bedeutenderen Veränderungen
im Aussehen der haustralen Segmentation in den 22 Minuten,
während welcher der Versuch dauerte, stattgefunden hat, das
Transversum war in dieser ganzen Periode isomorph haustriert.
Serie Il: 24jähriger Mann. (Auf der Abt. B. des Reichs-
spitales wegen einer nur wenig ausgesprochenen Emphysema
pulm. behandelt; nie Magen- oder Darmleiden, täglich spon-
taner Stuhl.) Im ganzen wurden 7 Platten aufgenommen, von
denen ich hier nur 4 wiedergebe, die in ziemlich regelmässigen
Zwischenräumen von ca. 3 Minuten einander folgen, 2 Platten
vor der zuerst abgebildeten aufgenommen und eine spätere
als die letzte waren misslungen. Die Mittellinie gibt hier den
mittelsten Strang in einem Blechrahmen wieder, worin drei
Metallfäden gespannt waren, der Rahmen war mit Hilfe von
Heftpflaster an den Unterleib des Patienten fixiert.
Während die haustrale Segmentation rechts von der Mittel-
linie ziemlich deutlich ausgesprochen ist, findet man links
von ihr zwei grosse plumpe Haustren. In Fig. 2 wird man
-
Über den Bau und die Entstehung der Hauslra coli. 347
sehen, dass das mittlere Haustrumpaar sich zu teilen anfängt,
es treten zwei nicht besonders tiefe Einkerbungen auf, welche
im folgenden Bild, Fig. 3, an Breite und Tiefe zunehmen,
bis wir im letzten Bild (Fig. 4) zwei sehr schön abgegrenzte
Haustren von schlanker, regelmässiger Form sehen. Das
plumpe Haustrumpaar in der obersten Figur ist gleichzeitig
mit dieser Teilung schmäler und eleganter geworden, und es
präsentiert sich schön, wohl getrennt von den umliegenden in
Fig. 4. Auch in dieser Serie wird man sehen, dass die Form
der Haustren beständigen Veränderungen unterworfen ist, und
dass die Plicae sowohl ın Grösse wie in Richtung wechseln.
In dieser Serie ist es also gelungen, deutlich nachzuweisen,
dass Haustren durch Teilung der präexistierenden gebilde.
werden können, und dass diese Teilung auf die Weise vor
sich geht, dass neue Plicae seminulares gebildet werden, die
in Verlängerung voneinander stehen.
Serie III: 23jähriger Stud. med. M. Die Platten wurden
mit Zwischenräumen von 31/,-4 Minuten aufgenommen, der
ganze Versuche dauerte 15 Minuten. Die Mittellinie in den
Figuren repräsentiert dasselbe wie in der vorhergehenden Serie.
In dieser Serie fällt es am meisten auf, dass es hier
bei weitem schwieriger ist sich zu orientieren als in den
beiden vorhergehenden. Zwischen Figg. 1 und 2 sind in der
Partie links von der Mitte so viele Bewegungen der Ring-
muskulatur mit Veränderungen der Konturen des Colonschattens
vor sich gegangen, dass es unmöglich wird, die Haustren
der einen Platte auf der anderen wiederzufinden. Etwas links
von der Mittellinie sind die Haustren in der obersten Reihe
verschwunden und von einer Reihe von 4 kleinen Zapfen
erstattet; in der untersten Haustrareihe sind eleichfalls so
bedeutende Veränderungen vor sich gegangen, dass es un-
möglich ist, die Haustren zu identifizieren. Auch die Haustren,
die ganz nach links liegen, haben ihr Aussehen verändert.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 23
348 TH. E. HESS THAYSEN,
Fig. 1 328
Fig. 2 331,5
Fig. 3 335
Fig. 4. 339
Fig. 5.' 343
Serie III.
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 349
Die kleinen Einkerbungen, die man in ihrer Oberfläche in
Fig. 1 bemerkte, scheinen in Fig. 2 bedeutend tiefer geworden
zu sein, während die deutlichen interhaustralen Furchen zum
Teil getilgt sind. In Fig. 3 ist das Bild weit ruhiger. Wir
sehen hier einen ziemlich regelmässig haustrierten Darm, der
in vielen demjenigen gleicht, den Fig. 1 wiedergibt. Von den
4 kleinen zapfenförmigen Vorsprüngen, die man in der obersten
Reihe in Fig. 2 sah, sind nur 2 wohlentwickelte Haustren
in Fig. 3 zurückgeblieben und gleichzeitig sind zahlreiche
kleine Vorsprünge in der übrigen linken Hälfte der obersten
Haustrareihe von grossen Haustren erstattet worden, in deren
Oberfläche man kleine Vertiefungen sieht, vielleicht Reste
der Furchen, welche die kleinen zapfenförmigen Vorsprünge
trennten. In dem Zeitraum von 8 Minuten, welcher zwischen
Figg. 3 und 5 liegt, ist das Aussehen des Darmes nur wenig
verändert, er zeigt hier das Bild des ruhigen, regelmässig
haustrierten Darmes, das wir in Serie I und II so deutlich
ausgesprochen fanden.
Aus dieser Serie geht hervor: Ausser den Bewegungen, die
zur Bildung der Haustren und zu Veränderungen in der Richtung
und Tiefe der Plicae führen, gehen offenbar andere weniger
eingreifende vor sich, die indessen in kleinerer oder grösserer
Ausdehnung die Konturen des Colonschattens vollständig ver-
ändern können. Ferner zeigt die Serie, dass diese kleinen Be-
wegungen in Perioden vor sich gehen können, sie sind nur
in Fig. 2 deutlich ausgesprochen, fehlen oder sind nur wenig
hervortretend in den anderen Platten. Sie sind solcherweise
im hier untersuchten Fall im Laufe von ca. 7 Minuten (die
Zeit zwischen der Aufnahme von Fig. 1 und 3) am stärksten
ausgesprochen gewesen, während sie im Zeitraum von ca. 8 Mi-
nuten, die zwischen der Aufnahme der Platte 3 und 5 liegt,
nur schwach ausgebildet waren.
Die Bewegungen, die wir also Gelegenheit hatten in diesen
Serien zu beobachten, sind folgende:
23*
350 TH. E. HESS THAYSEN,
I. Kontraktionen der Ringmuskulätur mit Neubildung von
Plicae, die eine Teilung von präexistierenden Haustren be-
wirken, die Plicae stehen, wenn die Haustren fertig gebildet
sind, im gleichen Plan.
Il. Bewegungen der präexistierenden Plicae, diese werden
bald tiefer, bald weniger ausgesprochen, bald breiter oder
schmäler, während ıhr freier Rand sıch bald ın analer, bald
in oraler Richtung wendet oder gerade gegen die Zentral-
achse hin.
Ill. Formveränderungen der Haustren, die abwechselnd
erösser oder kleiner, schlanker oder kugelförmiger werden.
IV. Kleinere, wahrscheinlich periodisch auftretende Be-
wegungen der Ringmuskulatur, die offenbar nicht zur Bildung
von Haustren führen, und die nicht zırkulär verlaufen, indem
sie bald ‘in der obersten, bald ın der untersten Haustrareihe
auftreten können.
Das Resultat dieser Röntgenuntersuchungen kann, glaube
ich, auf folgende Weise zusammengelasst werden.
1. Die isomorphe Haustration ist die Form, unter welcher
die Haustren sich im normalen Transversum zeigen. Es scheint
eine Art Ruhezustand zu sein, von dem gewisse Bewegungen
mit grösserer oder kleinerer Schnelligkeit und kürzeren oder
längeren Zwischenräumen ausgehen. Nur durch diese Annahme
sind wır imstande zu verstehen, weshalb sich das Transversum
serade auf die Weise mit einer so auffallenden Konstanz bei
normalen und so überaus oft in leichteren pathologischen
Fällen zeigt. Die Anzahl der Beobachtungen ist viel zu gross,
um die ısomorphe Haustration als einen zufälligen, schnell
vorübergehenden Zustand betrachten zu können. Auch meine
Serien (besonders Nr. 1) zeigen, dass es das Aussehen ist,
welches das Transversum am längsten innerhalb des Zeit-
raumes bewahrt, in welchem die Serie aufgenommen wird.
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 351
2. Im regelmässig haustrierten Colon stehen die Plicae
im selben Querschnitt in Verlängerung voneinander und die
hinterste Reihe der Haustren wird von der obersten und von
der Zentralachse verborgen.
3. Die Haustren können durch Teilung von präexistieren-
den gebildet werden, möglicherweise auch zwischen zwei
Haustrumpaaren direkt von der Zentralachse entstehen.
4. Entstehen sie durch Teilung der präexistierenden,
rühren sie von einer lokalen Kontraktion der Ringmuskulatur
her, die, wie Serie II zeigt, zirkulär sein kann, und wahrschein-
lieh nur durch die tänienbesetzten Teile des Colons unter-
brochen wird und geht gleichzeitig ın der ganzen Cirkum-
ferenz des Darms vor sich. Indessen ist das letztere kaum
eine notwendige Bedingung zur Bildung der Haustren. Man
findet nämlich ab und zu (solcherweise Serie Ill, Figg. 3 u. 7)
ein Haustrum in der untersten (vielleicht auch in der obersten)
Reihe, dem keines in der obersten entspricht. Ob dieses
Haustrum erst gebildet werden soll, oder früher als die
niedrigste verschwunden ıst, so dass nur diese sichtbar ist,
lässt sich unmöglich entscheiden, können aber Haustren z. B.
in einer Reihe verschwinden, bevor sie es in den anderen
tun, ist es ja auch möglich, dass sich dasselbe Verhältnis
bei Neubildung von Haustren geltend machen kann. Endlich
ist es ja auch denkbar, dass ein Haustrum nur auf einer
begrenzten Partie des Transversums gebildet wird, dies kann
aber nach den Beobachtungen, die ich gemacht habe (s. oben),
nicht die Regel sein.
9. Ausser den Bewegungen, die zu Neubildung oder zur
Einziehung von Haustren führen, führt das Colon, wie schon
erwähnt (s. II, Ill, IV) andere weniger eingreifende aus, die
von Schwarz als „kleine Colonbewegungen“ beschrieben
sind. DER
Die Kritik, welche ich auf Basis von anatomischen und
TH. E. HESS THAYSEN,
ut
Si
ID
embryologischen Untersuchungen die übliche Anschauung
über die Bildung der Haustra coli unterwarf, scheint dem
Resultat der Röntgenuntersuchungen nach, noch mehr be-
rechtigt. Durch diese wird nämlich, wie es zuerst von Katsch
erwiesen ist, klargestellt, dass die Plicae seminulares durch
eine Kontraktion der Ringmuskulatur gebildet werden. Im
Gegensatz zur heutigen Auffassung müssen wir
geltend, machen, dass die haustrale Segmen-
tation ein Kontraktionsphänomenist, das nicht
von einer Ausdehnung des Darmes und’ der
kleineren Länge der Tänienals die des übrigen
Darmrohrs herrührt.
Welche Bedeutung haben denn die Tänien für die haustrale
Segmentation? Katsch hat hierüber folgende Theorie auf-
gestellt:
Eine Vermehrung des Tonus der Darmmuskulatur, d. h.
des beständigen nervösen Einflusses, welcher die Muskulatur
unterworfen ist, bewirkt teils eine Verkürzung der Tänien,
teils eine Konlraktion der Ringmuskelfasern, die dicker werden
und Plicae seminulares bilden. Hierdurch nimmt die Länge
des Ringmuskelschlauches zu und da die Tänien gleichzeitig
kontrahiert werden, entsteht eine Inkongruenz zwischen der
Länge des Ringmuskelschlauches und der Tänien. Diese In-
kongruenz bedingt die Faltung des Darmes, die Haustren-
bildung.
Gegen diese Theorie kann man indessen verschiedene Ein-
wände erheben. Erstens ıst es ziemlich unverständlich, wes-
halb das Colon länger werden sollte, wenn Plicae semi-
nulares gebildet werden, nach meiner Anschauung müsste man
eher, wie es früher allgemein angenommen worden ist, meinen,
dass es kürzer würde, wenn er sich in Falten legt; zudem
ist es keineswegs von vornherein gegeben, dass der vermehrte
Tonus der Ringmuskulatur es mit sich führt, dass auch der
wo
Sr
ww
Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli.
Tonus der Tänien erhöht wird. Man ist nämlich noch keines-
wegs über das physiologische Verhältnis zwischen der Längs-
und Ringmuskulatur des Colon klar.
Biedermann machte schon im Jahre 1889 geltend, dass
in physiologischer Beziehung ein durchgreifender Unterschied
zwischen diesen Muskelschichten bestand. Gyon und Cour-
PS
Fig. 10.
Darmuntersuchung d. 15. 12. 1915.
tade fanden, dass eine Reizung der sympathischen Fäden
des Darmes eine Kontraktion der Rınemuskulatur und
eine Erschlaffung der Längsmuskeln hervorbrachte, während
Langley und Anderson behaupten, dass eine Reizung der
sakralen (spinalen) Nerven eine Kontraktion der beiden Muskel-
schichten verursachen.
354 TH. BE. HESS’THAYSEN,
Ist man aber über das wechselseitige Verhältnis zwischen
l,ängs- und Ringmuskulatur bei Tieren nicht klar, ist man
es ın noch geringerem Grad beim Menschen.
Dagegen kann ıch Katsch nur beistimmen, wenn er
ausspricht, „dass es nicht die Colonbewegungen allein sind,
sondern eben jener Tänientonus, der die hohe oder tiefe Lage
Fig. 11.
Darmuntersuchung d. 16. 12. 1915.
des geschwungenen oder gestreckten Verlaufes des Colons be-
stimmt“. Wenn man Gelegenheit hat das Colon und besonders
das Transversum Tag für Tag beim selben Individuum mit
den Röntgenstrahlen zu untersuchen, wird man in manchen
Källen ganz erstaunt sein über die gewaltigen Schwankungen,
denen dieses Organ in Form und Lage unterworfen sein kann
Über den Bau und die Entstehung der Haustra col.
(s. Fige. 10, 11, 12)!). Die Haustren bewahren hierbei ıhre
schlanke Form und regelmässige Ausbildung. Ob die Tänıen
für die Bildung der Haustren überhaupt etwas bedeuten, ist
also zweifelhaft — unzweifelhaft ist es dagegen, dass sie eine
Fig. 12.
Darmuntersuchung d. 17. 12. 1915.
Funktion besitzen, die die Lage und Form des Colons inner-
halb weiter Grenzen bestimmt.
Dass die Rönteenstrahlen uns das Bild des normalen
lebenden Dieckdarms zeigen, darüber kann kaum ein Zweifel
herrschen: der Unterschied im Aussehen zwischen dem leben-
digen Darm und dem, welchen wir post mortem sehen, muss
also von postmortellen oder bereits in der Agone entstandenen
!) Alle Röntgenbilder sind im Stehen aufgenommen.
356 TH. E. HESS THAYSEN,
Veränderungen herrühren. Nach dem Tode wird das unlixierte
Colon von der durch der Fäulnis entwickelten Luft aufgebläht,
deshalb hat es oft ein ausgespanntes, aufgeblasenes Aussehen,
die Haustren werden dicht aneinander gepresst und nehmen
eine mehr viereckige und plumpe Form an. Wenn die Plicae
in der Leiche alternierend stehen, nicht wie ım ruhenden
Colon, im gleichen Plan, im gleichen Querschnitt, rührt das
wahrscheinlich von dem Umstand her, dass in der Agone
oder nach dem Tode unregelmässige Kontraktionen der Ring-
muskulatur stattfinden, woselbst das koordinierte Moment
fehlt, welches im Leben die Bildung der Haustren beherrscht.
Wenn die supponierten unregelmässigen Kontraktionen zu-
erst postmortell auftreten, könnte man ja erwarten, dass man
in Leichen, die sofort nach Eintreten des Todes fixiert wurden,
das Aussehen des Colons finden könnte, welches uns das
Röntgenbild am häufigsten zeigt — den isomorph haustrierten
Darm. Ich habe, um dies aufzuklären, 20% Formalin
(ca. 4-500 ecm) gleich nach Eintreffen des Todes in das
Abdomen von mehreren Leichen eingespritzt. Nur einmal ge-
lang es mir das gleiche Bild wie beider Röntgenuntersuchung
zu sehen, doch waren nur die beiden gegen die Peritoneal-
höhle gelegenen Haustrareihen vom selben Aussehen wie im
Röntgenbild, während die hinterste Reihe nicht fixiert war
(es handelte sich nämlich um den obersten Teil des Colon
descendens) und dasselbe Aussehen hatte, welches man sonst
in unfixierten Leichen findet. Die Ursache zu diesem wenig
tröstlichen Resultat könnte wohl darin liegen, dass es sehr
schwierig ist eine gute Fixation des Colons selbst, bei An-
wendung von kräftigen Fixationsmitteln zu erlangen, vielleicht
deutet es aber darauf, dass die erwähnten Kontraktionen nicht
postmortell, sondern agonal sind.
Hierfür könnte ferner die Erfahrung sprechen, dass Me-
conium in der Regel vom Darm des Fötus entleert wird,
Über den Bau und die Entstehung der
Haustra eoh. 357
wenn dieser während der Geburt asphyktisch wird, und dass
oft eine Entleerung der Excremente in der Agone oder un-
mittelbar nach Eintreten des Todes stattfindet.
Auch bei Operationen habe ich nicht gesehen, dass das
Colon dasselbe Aussehen wie im Röntgenbild hatte, gleichwie
man aber das Aussehen des Magens während einer Operation
in universeller Narkose, wo das Abdomen eröffnet wird und
die Därme von der Einwirkung der atmosphärischen Luft aus-
gesetzt werden, nicht mit demjenigen vergleichen kann,
welches das Organ im normalen Zustand hat, kann man auch
nichl erwarten, dass es sich in Betreff des Colons machen
lassen könnte.
Gegen den Gebrauch, den ich im vorigen mit Ausdrücken
wie „Haustra coli“, „die haustrale Segmentation des Colons
BD)
im Röntgenbild‘“ und ähnlichen gemacht habe, wird man mit
P)
Recht einwenden, dass meine Röntgenuntersuchungen nur eine
begrenzte Partie des Transversums umfassen. Bin ich be-
rechtigt, die Iesultäte, die ich} durch Untersuchungen dieser
begrenzten Partie gemacht habe, auch über alle Abschnitte
des CGolons auszudehnen ?
Hierzu will ich nur bemerken, dass überall, wo ich das
Aussehen der haustralen Segmentation im Röntgenbild kon-
trollieren konnte, ob dies jetzt, nachdem das Versuchsindividuum
die Kontrastmahlzeit eingenommen hatte, geschah, hat sie
immer dasselbe Aussehen wie in der untersuchten Partie des
Transversum gehabt.
Literatur- Verzeichnis.
Biedermann, Pflügers Archiv 1889. Bd. 45.
Bromann, Die normale und abnorme Entwickelung des Menschen.
Guyon et Courtade, Compt. rend. Soc. de Biol. 1896 u. 1897.
Katsch, Fortschritte der Röntgenstrahlen. Bd. 21.
Kästle u. Bruegel, Münch. med. Wochenschr. 1912. S. 446.
Keibel und Mall, Handbuch d. Entwickelungsgeschichte. Bd. 11.
Langley and Anderson, Journ. of Phys. Vol. 19 and 20.
Schwarz, Die Röntgenologie des Dickdarms. 1914.
1911.
1911.
AUS DEM ANATOMISCHEN InsTtiTtuUT ZU WÜRZBURG.
ÜBER DEN MECHANISMUS DER AUFNAHME DER EIER DER
SÄUGETIERE IN DEN EILEITER UND DES TRANSPORTES DURCH
DIESEN IN DEN UTERUS.
NACH UNTERSUCHUNGEN BEI NAGETIEREN
(MAUS, RATTE, KANINCHEN, MEERSCHWEINCHEN).
VON
J. SOBOTTA,
WÜRZBURG.
Mit 16 Figuren auf Tafel 27—34.
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Veranlassung zu diesen Mitteilungen gab eine kleine Ver-
öffentlichung von meiner Seite (21) im Anatomischen Anzeiger
und die an meine Auffassung der Frage des Transportes der
Bier der Säugetiere durch den Eileiter sich anschliessende
Polemik von seiten Grossers (4). Ich verwies in der ge-
nannten kleinen Mitteilung auf die von mir vor mehr als
20 Jahren bereits festgestellten Tatsachen, die aber wahr-
scheinlich aus dem Grunde, weil man sie in der in sehr
knapper Form gehaltenen Veröffentlichung (17) nicht vermutete,
in der späteren Literatur gar keine oder fast gar keine Er-
wähnung gefunden haben. Und doch habe ich damals schon
— wenigstens für eine Säugetierspecies, die Maus — ein zur
Entscheidung der Frage, wie die ovulierten Oocyten dieses
Tieres in den Eileiter gelangen und wie sie durch diesen in
den Uterus befördert werden, vollauf genügendes Beobaehtungs-
material herbeigebracht; es lagen mir damals aber in erster
Linie andere Feststellungen am Herzen und was ich über die
genannte Frage sicherstellen konnte, das fiel mehr nebenbei
als reife Frucht von selbst in den Schoss. Ich habe seinerzeit
auch nicht alle Schlüsse, die sich aus meinen Beobachtungen
ergaben, formuliert, sondern manches nur angedeutet. Kürz-
lich hatte ich nun Gelegenheit, das bis zu einem gewissen
Grade nachzuholen und ‘zum Vergleich anderes Tatsachen-
material heranzuziehen. Aus der Polemik von Grosser, deren
ich oben schon gedachte, ersehe ich aber, dass es zur end-
gültigen Klärung dieser so wichtigen Fragen nötig ist, weiter
362 | I. SOBOTTA,
auszugreifen. Während ich zwar mit den meisten der von
Grosser auch neuerdings vertretenen Ansichten gar nicht
übereinstimme, gebe ich ihm in einem Punkte vollauf recht,
nämlich darin, dass es zum Zwecke der weiteren Erörterung
der Fragen, die ich oben berührte, unbedingt nötig ist, Tat-
sachenmaterial herbeizuschaffen. Ich bin nun in der
olücklichen Lage mit solchem dienen zu können, nicht bloss
mit dem, auf Grund dessen ich meine Hypothesen in meiner
letzten kleinen Mitteilung aufstellte, sondern auch mit sehr
wichtigem anderen. Bei der Durchsicht von Präparaten, die
sich auf die Ovulation und die an diese sich zeitlich an-
schliessenden Vorgänge beziehen, ist es mir jetzt gelungen,
meine Beobachtungen ganz wesentlich zu erweitern und vor
allen Dingen ausser den Muriden zwei weitere Nager in den
Kreis meiner Betrachtungen zu ziehen, deren anatomische Ver-
hältnisse des Zusammenhanges von Eierstock und Eileiter sich
von dem der Muriden dadurch erheblich unterscheiden, dass
ihr Ovarium nicht in einer vollkommen geschlossenen Kapsel
liegt, sondern in einer (mehr oder weniger) „weit offenen“
sog. Bursa ovarica. Es handelt sich um das Meer-
schweinchen und das Kaninchen; von beiden verfüge
ich über reichlicheres Beobachtungsmaterial als mir selbst in
Erinnerung war; und vor allem über Material von der Ovu-
lation, das so verarbeitet ist, dass es für die Zwecke der
Entscheidung der oben genannten Fragen in prächtigster Weise
verwendet werden kann.
Ich kann es mir ersparen auf eine Aufzählung der be-
nutzten Untersuchungsmethoden einzugehen !); das Materal,
auf das ich mich stütze, ist das ungemein reiche von der
Maus, an dessen Hand ich meine in extenso vor 21 Jahren
!) Ehensowenig ist es nötig die einschlägige Literatur hier namhaft
zu machen. Diese ergiht sich teils aus meiner letzten ‚Mitteilung (21), teils ist
sie bei Grosser (3, 4) und U. Gerhardt (5 zu finden.
über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 363
veröffentlichten Untersuchungen über die Befruchtungsvorgänge
bei diesem Nager angestellt habe (inzwischen hat sich dieses
Material noch vermehrt), ferner stehen mir die Präparate zur
Verfügung, die Burekhard und ich zu unserer Veröflent-
lichung über die Reifung und Befruchtung des Kies der Ratte
(20) benutzt haben, dann habe ich eine Anzahl der Präparate
in Besitz, die mein Schüler Rubaschkin bei seinen Unter-
suchungen über Eireifung und Befruchtung des Meerschwein-
chens (14) angefertigt hat nebst einigen von mir selbst für
meine Arbeit über die Corpus luteum-Bildung der genannten
Species hergestellten Serien, und schliesslich habe ich auch
einiges Material vom Kaninchen, das ich teils ebenfalls ge-
legentlich meiner Corpus luteum-Untersuchungen gesammelt
hatte, das teils aber auch aus der unvollendet gebliebenen
Publikation eines Schülers von mir stammt. Insbesondere ver-
füge ich von allen vier genannten Nagern über Schnittserien
der Eierstöcke und ihrer Adnexe unmittelbar vor, während(!)
und unmittelbar nach der Ovulatıon.
Für die Untersuchung der hier in Betracht kommenden
Fragen ist es dringend erforderlich, den Weg einzuschlagen,
den ich vor 21 Jahren veröffentlichte und den ich auch in
diesem Umfange wohl als erster für die Beobachtung der
Reifung, Ovulation und Befruchtung des Säugetiereies be-
schritten habe. Man muss, will man sich einwandfrei be-
sonders über die biologischen Vorgänge bei der Ovulation,
Befruchtung etc. orientieren, die Ovarien der Tiere möglichst
unter Vermeidung jeglichen Insultes, am besten mitsamt der
nächsten Umgebung, jedenfalls mit ihren Adnexen dem frisch-
getöteten Tiere entnehmen, in geeigneter Weise konservieren
und dann in möglichst lückenlose Schnittserien zerlegen. Jede
Manipulation irgendwelcher Art, wie Zerrung der Bileiter-
schlingen, Aufschneidung dieser, Trennung des Eierstocks von
der Tuba etc. muss strengestens vermieden werden, sonst werden
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd. H. 2). 24
364 J. SOBOTTA,
Verhältnisse geschaffen, die mit dem natürlichen Zustande der
Lagerung der Bier und des Sperma gar nichts zu tun haben.
In erster Linie führte mich seinerzeit die Kleinheit des
zu makroskopischen Präparierversuchen wenig anreizenden
Materials der Maus zur Schnittserienmethode; ich habe diese
aber später auch an solchen Objekten, die ihrer Grösse nach
sehr wohl zur makroskopischen Präparation oder wenigstens
einer solchen mit Hilfe der Lupe geeignet sind, in jeder Hin-
sicht schätzen gelernt; so verfüge ich beim Kaninchen über
zwar nicht besonders reichliche, aber immerhin genügende
Erfahrungen sowohl in der alten Methode des Aufsuchens der
Bier im aufgeschnittenen Eileiter unter Zuhilfenahme der Lupe
als auch des natürlich viel zeitraubenderen Verfahrens, Kier-
stock und Eileiter zusammen in Schnittserien zu zerlegen.
Für die hier in Frage kommenden Beobachtungen ist überhaupt
nur die letztgenannte Methode verwendbar. Die mittels des
alten Verfahrens gewonnenen Resultate namentlich ın bezug
auf das Lagerungsverhältnis der Eileitereier (besonders die
der älteren Literatur) zeugen deutlich von den Artefakten,
welche beim Präparieren eines so heiklen Materials entstehen
müssen. Dass vor allem für die Beobachtung des Kies auf
seinem Wege zwischen Eierstock und Eileiter der ungestörte
Zusammenhang beider Organe geradezu Bedingung ist, versteht
sich von selbst; mit Hilfe anderer Methoden als der einer
lückenlosen Seriierung eines äusserst vorsichtig fixierten Schnitt-
materials ist diese Frage eben überhaupt nicht zu lösen. Und
dem Umstand, dass die älteren Verfahren in diesem Punkte
versagen mussten, ist es auch in erster Linie zu verdanken,
dass man bisher fast nur auf Hypothesen angewiesen war.
Die folgende Mitteilung soll sich also mit den oben schon
kurz erwähnten Fragen beschäftigen: 1. Wie gelangen die
ovulierten Eier der Säugetiere und speziell dıe
der vier genannten Nagerspecies von der Eier-
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 365
stocksoberfläche aus in den Eileiter? 2. Wie
und dureh welehe Kraft erfolet/demen, Weiter-
beförderung in den Uterus?
I. Der Modus der Aufnahme der ovulierten Säugetiereier
in den Eileiter.
Was die erste der beiden oben genannten Fragen anlangt,
so ist es nötig kurz einen Blick auf die anatomischen Ver-
hältnisse des Zusammenhanges von Eierstock und Eileiter bei
den vier in Betracht kommenden Nagerspecies zu werfen, eine
Frage, auf die ich später ausführlich zurückkomme. Es handelt
sich zwar um zum grossen Teil bekannte Tatsachen und ins-
besondere haben Zuckerkandl (24) und U. Gerhardt (5)
diese Verhältnisse bei Vertretern fast aller Säugelier-Ordnungen
und -Gattungen zum Gegenstand einer speziellen Veröffent-
lichung gemacht (s. u.). Den gegenseitigen Beziehungen zwischen
Kierstock einerseits und Eileiter anderseits nach zerfallen die
vier von mir in den Kreis meiner Betrachtungen gezogenen
Nager, Maus, Rattel), Meerschweinchen und Kaninchen in
!) Meine Untersuchungen erstrecken sich auf die sog. „weisse Maus“
und die „weisse Ratte“. Damit ist die zoologische Species allerdings noch
nicht festgelegt; bei der weissen Maus nimmt man zwar allgemein an, dass
es sich um den Albino von Mus musculus handelt; bei der weissen Ratte wäre
es schon fraglich, ob man es mit der weissen V.arietät von Mus rattus oder Mus
decumanus (norvegicus) zu tun hat; in der Tat ist in der bisherigen Literatur
entweder das eine oder das andere angenommen worden. Kürzlich behauptet
aber Huber (8), dass die gewöhnliche weisse Laboratoriumsratte stets
der Albino von Mus norvegicus sei. Ob das nun wirklich für alle Fälle
zutrifft, wage ich nicht zu entscheiden; ich verfüge selbst über zu wenig Er-
fahrung mit Ratten, habe aber oft die Beobachtung gemacht, dass die im Handel
befindlichen weissen Ratten nicht bloss in bezug auf Grösse, sondern auch ihrem
ganzen Habitus nach recht verschieden sind. Aber mir ist mindestens ebenso
fraglich, ob alle ‚weissen Mäuse‘, die man im Handel erhält, einer Species
angehören. Bei der grossen Mehrzahl ist das wohl zweifellos der Fall; ich
habe aber früher öfters im Handel eine — übrigens zur Zucht ganz außerordent-
lich ungeeignete — Rasse erhalten, die sich durch schlanken Körperbau und
durch eigentümlich spitze Gesichtsbildung ganz wesentlich von der gewöhn-
lichen weissen Maus unterschied. Dann werden oder wurden auch die sog.
24*
"366 J. SOBOTTA,
zwei Gruppen, die nahezu die Extreme der in der Säuge-
tierreihe zu beobachtenden Verhältnisse erkennen lassen. Die
eine Gruppe umfasst die beiden Muriden, bei denen in der
Tat ganz "ausserordentlich ähnliche Verhältnisse vorliegen,
während Meerschweinchen und Kaninchen trotz mancher Ab-
weichungen in einzelnen Punkten der Hauptsache nach zu-
sammen in die zweite Gruppe gehören. Der Unterschied
zwischen beiden besteht darin, dass bei den Muriden das
Mesenterium tubae (Mesosalpinx) eine vollkommen gegen die
Peritonealhöhle abgeschlossene Ovarialkapsel erzeugt, die
lediglich mit dem Ostium abdominale tubae uterinae in Ver-
bindung steht. In dieser Hinsicht unterscheiden sich bekannt-
lich die Muriden von fast allen bisher daraufhin untersuchten
anderen Nagern !) und den meisten Säugetieren ?). Beim Kanın-
chen und Meerschweinchen dagegen liegt der Kierstock bloss
in einer vom Mesenterium tubae gebildeten (bei beiden Species
allerdings verschieden tiefen) Tasche, der sog. Bursa ovarlı.
Die Folge davon ist, dass ein mehr oder weniger grosser
Teil der Kierstocksoberfläche direkt an die Peritonealhöhle
erenzt. Das Ostium abdominale tubae kommuniziert also wie
beim Menschen direkt mit der Peritonealhöhle. Für den Ovu-
lationsakt kämen daher zwei verschiedene Modalitäten bei den
japanischen (richtiger chinesischen) Tanzmäuse (Mus Wagneri) häufig zur
Zucht verwendet, zu der sie auch untereinander hervorragend geeignet sind;
sie bastardieren sich auch leicht mit der gewöhnlichen weissen Maus, aber diese
— übrigens einfarbigen, nicht scheckigen — Bastarde sind anscheinend stets
steril.
Diese Tatsachen, dass wir es bei den weissen Laboratoriumsratten und
-Mäusen vielleicht durchaus nicht immer mit der gleichen Species oder Sub-
species zu tun haben, ist insofern von Interesse, als sich auf diese Weise viel-
leicht die verschiedenen Angaben der Chromosomenzahlen der betreffenden
Spezies erklären lassen; es ist das eine Frage, auf die ich gelegentlich an anderem
Orte zu sprechen kommen werde.
!) Nur bei den Dipudiden begegnet man den gleichen Verhältnissen.
2) Bei einigen Fledermäusen, Insektivoren, Pinnipediern und Carni-
voren (Mardern) trifft man ebenfalls vollkommen geschlossene Kapseln (s.
US. 815).
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 357
beiden Gruppen von Nagern — wenigstens theoretischerweise
—. in Betracht: bei den Muriden ist die Möglichkeit, dass das
Ei, welches den Eierstock durch Platzen des Graafschen
Follikels verlässt, überhaupt den Raum der Peritonealhöhle
betritt, von vornherein ausgeschlossen. Beim Kaninchen und
Meerschweinchen dagegen könnte man theoretisch die letzi-
genannte Möglichkeit wenigstens in Frage ziehen; in Wirk-
lichkeit aber kommt auch sie, wie wir unten sehen werden,
gar nicht in Betracht.
Ich habe nun bereits vor 21 Jahren (17) Beobachtungen
über die Ovulation der Maus mitgeteilt, die über den Mecha-
nismus der Aufnahme der Eier im den Eileiter Aufschluss
gaben. Der Vollständigkeit halber wiederhole ich diese Be-
funde hier, zumal ich sie später (20) auch für die Ratte er-
heben konnte; auch sind sie von anderer Seite (s. u.) in-
zwischen bestätigt worden. Während die Ovarialkapsel, so will
ich der Einfachheit halber die vollkommen geschlossene Bursa
ovarii der Muriden nennen, gewöhnlich, d. h. im nicht-brünstigen
Zustand des Tieres der Eierstocksoberfläche relativ dicht an-
liegt, bzw. diese schlaff umschliesst, aber so, dass ein ziem-
lich kleiner, mit wenig Flüssigkeit erfüllter Raum zwischen
Eierstocksoberfläche und Ovarialkapsel übrig bleibt, ändert
sich dieses Verhalten bei brünstigen Tieren, d. h. bei solchen,
die kurz vor der Ovulation stehen; die Kapsel ist jetzt stark
gedehnt, eine verhältnismässig reichliche Flüssigkeitsmenge er-
fülli die Höhlung des Periovarialraumes, wie ich den Zwischen-
raum zwischen Kapsel und Eierstock genannt habe. Dieses
Verhalten ist überaus augenfällig und sehr leicht einige Stunden
‚vor der (bekanntlich spontanen) Ovulation der Muriden zu
beobachten. Sowie aber die ovulierten Eier in den Eileiter
aufgenommen sind, hat die Ovarialkapsel ihr gewohntes Aus-
sehen wieder angenommen, der Periovarialraum ist bis auf
eine geringe Menge Flüssigkeit entleert.
368 J. SOBOTTA,
Betrachtet man nun das Verhalten des Eileiters in der
oleichen Zeitperiode, so kann man leicht feststellen, dass, so-
lange die Ovarialkapsel stark mit Flüssigkeit gefüllt ıst, das
Verhalten der Eileiterschlingen keine vom gewöhnlichen Ver-
halten abweichende Beschaffenheit erkennen lässt. Sowie aber
die Ovulation vor sich gegangen ist oder wenigstens kurze
Zeit darauf, erscheint am ampullären Teil der Tube eine ge-
wisse Strecke einer Schlinge bläschenartig ausgedehnt; das
Kaliber des Eileiters ıst an dieser Stelle auf das Mehrfache,
ja Vielfache seines gewöhnlichen Kalibers und des des an-
srenzenden Abschnittes der Tube gestiegen, dıe Wand des Ei-
leiters ıst infolge der Dehnung extrem verdünnt, die im un-
sedehnten Zustande so überaus reichlichen Falten der Ampulla
tubae sind verstrichen. In dieser Tubaranschwellung liegen
auf einen Haufen vereint innerhalb der reichlichen Flüssig-
keitsmenge, die in erster Linie Veranlassung zu der mächtigen
Dehnung des Eileiterabschnittes ist, die gesamten, durch die
Ovulation des betreffenden Eierstockes frei gewordenen Bier;
hier machen sie das Endstadium ihrer Reifung (zweite Rıch-
tungsteilung) durch, hier werden sie besamt und hier bilden
sich auch bereits die Vorkerne aus. An der Hand eines sehr
reichen Materials habe ich diesen Vorgang als eine ganz kon-
stante, mit absoluter Regelmässiekeil auftretende, überaus auf-
fällige Erscheinung feststellen können. Die gleichen Beobach-
tungen gelang es mir später bei der Ratte zu machen, bei der
die Erscheinung in einem fast noch gesteigertem Grade zu
erkennen ist. Für die Bedeutung dieses Vorganges wichtig
ist auch die Festlegung der Tatsache, dass bisher sowohl von
mir wie von allen Nachuntersuchern des Ovulationsvorganges
der Muriden trotz eines überaus reichlichen Beobachtungs-
materiales die Bier entweder nur im Periovarialraum oder in
der Eileiteranschwellung gefunden worden sind; auf der da-
zwischen liegenden Strecke sind sie bisher noch von keinem
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere efe. 369
n
Untersucher angetroffen worden, insbesondere auch nicht im
Bereich des Infundibulum tubae selbst).
Aus dieser Beobachtung ergab sich die auch von mir
seinerzeit gezogene Schlussfolgerung, dass die durch das Platzen
der Graafschen Follikel in den Periovarialraum gelangten
Eier nicht, wie man bisher allgemein annahm, durch die Wir-
kung des Flimmerstroms in das Ostium tubae gelangen, sondern
von der Tube angesaugt werden, denn kurze Zeit nach
vollendeter Ovulation ist der mit Flüssigkeit und den Kiern
‚erfüllte Periovarialraum wieder leer geworden, sein entleerter
Inhalt findet sich jetzt aber in der Erweiterung des Anfangs-
abschnittes des Eileiters. Diese Angaben und Folgerungen, die
ich schon vor 21 Jahren und zum Teil schon früher (18)
veröffentlicht habe, sind anscheinend wenig bekannt geworden
und haben das gleiche Schicksal erlitten wie eine Reihe anderer
Befunde, die ich damals bekannt gab.
So-ist ganz kürzlich" FEissechel (2) in einer’ sehr 'inter-
essanten Mitteilung auf ganz andere Weise zu dem gleichen
Resultat gekommen, wie ich lange Zeit vor ıhm, ohne meine
Angaben gekannt zu haben. Auch er nimmt an, dass die
Aufnahme des Eies ın den Bileiter der Ratte, die er unter-
sucht hat (nach seiner Angabe: Mus decumanus), dadurch
zustande kommt, dass durch die Wirkung der reichlich im
Mesenterium tubae bzw. der Ovarıalkapsel vorhandenen glatten
Muskulatur eine Annäherung zwischen Ovarıum und Mesen-
terium tubae erfolgt, deren Resultat darin besteht, dass ein
stärkerer Druck auf die im Periovarialraume befindliche Flüssig-
keit ausgeübt und infolgedessen diese mitsamt den in ihr be-
findlichen Eiern zum Ausweichen in das offene Tubenlumen
I
!) Das gilt übrigens auch für alle anderen Säugetiere. Wenn Grosser (4)
anführt, Bischoff (1) habe ein. Ei des Hundes auf der Fimbrie gefunden, so
ist dieser Befund nicht beweisend, da es sich leicht um ein Artefakt handeln
kann. Das Ei wird vermutlich in dem fast völlig abgeschlossenen Periovarial-
raum gelegen haben und bei dessen Eröffnung auf die Fimbrien gefallen sein.
J. SOBOTTA,
0
—I
©
veranlasst wird. Da die Muskulatur gleichzeitig eine Annähe-
rung von Ovarium und Eileiter bewirkt und durch das ab-
wechselnde Spiel einer Muskelgruppe, die Fischel Musculus
infundibuli tubae nennt, eine abwechselnde Verengerung und
Erweiterung des Infundibulum erzeugt wird, so kommt durch
die Aktion der genannten glatten Muskulatur eine Saug-
wirkung auf den Inhalt des Periovarialraums
zustande.
Fischel kommt also ganz unabhängig von mir und ohne
jede Kenntnis meiner früheren Mitteilungen auf einem ganz
anderen Wege wie ich, nämlich auf Grund des Studiums der
rein anatomischen Verhältnisse zu genau dem gleichen Resul-
tat, zu dem mich meine Beobachtungen der physiologischen
Vorgänge bei der Ovulation geführt haben. Eine schönere Über-
einstimmung zweier, ganz voneinander unabhängiger Beobach-
tungen lässt sich kaum denken. Übrigens kann ich auch für
die Maus die anatomischen Befunde von Fischel voll und
sanz bestätigen; auch bei der Ratte bin ich in der gleichen
Lage.
Es gibt noch einige weitere Tatsachen, die indirekt gegen
die Bedeutung der Wirkung des Flimmerstroms bei der Eı-
aufnahme seitens des Tubenostiums sprechen und daher zu-
gunsten der von mir zuerst formulierten Hypothese, wie ich
mich vorsichtigerweise ausdrücken will, obwohl es sich wohl
um eine nicht zu bestreitende Tatsache handelt. Ich habe
in meiner letzten Mitteilung (21) nochmals auf eine solche hin-
gewiesen, d. i. der Umstand, dass die Fier der Maus und
Ratte relativ lange im Periovarialraum sich aufhalten. Die
Ovulation aller Eier desselben Eierstocks erfolgt nämlich nicht
senau a tempo, sondern in gewissen, allerdings geringen Inter-
vallen platzen entweder die einzelnen Follikel nacheinander
oder wohl auch — was ich allerdings nie beobachtet habe —
einige gleichzeitig. Die Folge davon ist, da die Eier gemein-
Anatomische Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2).
Musculus mesenterii tubae
Margo liber ovarii
oberes
Facies
dorsalis
ovarii
Corpora #
lutea
Elleiterschlinge
iprungroife
Follikel
Kiloitergekröse
Ampulla tubae
\
> Ostium
" Insertion des
= =Mesovarium
er Follikel
Mrisggeplatzt
\
Eileiter
oberes Bileiter-
gekröse
Corpus
luteum
der vor-
unteres.
Bileiter-
gekröse
atretischer-
Follikel
Infundi-
r- bulum
unteres Eileiter-
gekröse
Muskulatur vom
Vol des Uterus-
horns aus-
> Mesovaı!
strahlend Tesovarium
Infundibulum<”"
abdominnle
tubae
Infundibulum
am Bierstock
Mesovarium <="
Vorlag von J. F Bann in Wiespauen,
Tafel 27/28
—--- äusserster
Zipfel des
Infundi-
bulum
> Musc.
mesenterli
tubae
der Reife ”
naher
Follikel
Bileiter
Eileitergekröse,
stark gefaltet.
Fig. 7.
Margo liber ovarii
oberes Bileiter-
gekröse
= Eileiter
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 371
sam mit der Flüssigkeit des Periovarialraums durch eine inter-
mittierende Aktion des Infundibulum angesaugt werden, dass
die ovulierten Eier sich einige Zeit im Periovarialraum auf-
halten müssen, wenn sie nicht gerade zur Zeit der Saugwirkung
aus den platzenden Follikeln austreten. Würde der Flimmer-
strom die Eier in den Eileiter befördern, so müsste, da. dieser
ja dauernd und nicht intermittierend, etwa nach Bedarf wirkt,
jedes ovulierte Ei sofort vom Flimmerstrom erfasst und in
die Tube geschafft werden. Dass dieses aber nicht der Fall
ist, ergibt sich daraus, dass verschiedene Beobachter bei der
Maus bzw. Ratte Eier im Periovarialraum gefunden haben und
dass dieser Befund sogar relativ häufig erhoben worden ist,
so insbesondere von seiten Long und Marks (11), die einen
relativ hohen Prozentsatz von Eiern hier gefunden haben.
Ich habe auf diese Tatsache, die ebenfalls — wenn auch
indirekt — zugunsten der Ansaugungshypothese spricht, be-
reits in meiner mehrfach zitierten (17) Veröffentlichung hin-
gewiesen und damals schon erwähnt, dass man sich den
Ovulationsvorgang bei der Maus so vorstellen muss, dass die
Ansaugung nicht aller ovulierten Bier auf einmal erfolgt, sondern
in mehreren Tempi, was man daraus schliessen kann, dass in
der Regel nur ein Ei im Periovarıalraum gefunden wird,
während die anderen noch im Eierstock liegen oder sich be-
reits in der Tube befinden. Die maximale Dehnung der
Ampullenschlinge wird also erst nach Aufsaugung aller Eier
zustande kommen können.
Dass bei diesem Vorgang das Flimmerepithel des Infundi-
bulum überhaupt aktiv beteiligt ist, halte ich für äusserst un-
wahrscheinlich, schon deswegen, weil es weder mir bei einem
enorm grossen Material noch einem der Nachuntersucher je
gelungen ist, ein Ei auf dem Infundibulum oder dessen Fimbrien
zu finden. Ausserdem kann man sich die Wirkung des Flimmer-
stroms schwer vereint mit der Saugwirkung vorstellen; für
372 J. SOBOTTA,
die Existenz der letzteren sind aber nicht nur die anatomischen
Vorbedingungen nachgewiesen, sondern das Resultat der An-
saugung ist sicher beobachtet worden. Ich habe deswegen
auch der Bedeutung des Flimmerstromes am ampullären Ende
der Tube eine ganz andere Rolle übertragen zu müssen ge-
glaubt (21), worauf ıch unten noch zurückkomme!
Es ıst also für die Muriden nachgewiesen, dass für die
Aufnahme der Eier in den Bileiter die Wirkung des Flimmer-
epithels zum mindesten nicht nötig ıst, dass vielmehr eine
Ansaugung der Kier mitsamt dem erössten Teil der im Peri-
ovarialraum befindlichen Flüssigkeit stattfindet. Diese Tatsache
kann auch Grosser, der in seiner letzten Mitteilung (4)
eine allerdings nicht allzu starke Lanze für die Flimmer-
bewegung zu brechen versucht, nicht wegleugnen; er weist
aber diesem Verhalten der Muriden eine durch die Eigentüm-
lichkeit ihrer Eierstockslagerung bedingte Sonderstellung an.
Dass letzteres unzutreffend ist, werde ich gleich an der Hand
eines geeigneten Beobachtungsmaterials von zwei anderen
‘
Nagern mit „weit offener“ Bursa ovarica nachweisen.
Ich wende mich nun zu dem Verhalten der beiden
anderen von mir untersuchten Nager, dem Meerschwein-
chen und Kaninchen, deren von dem der Muriden ab-
weichendes Verhalten des Ovariums zum Mesenterium tubae
bereits oben kurz gekennzeichnet wurde. Das Wesentliche und
(remeinsame in der Beziehung der Bierstöcke der beiden Species
zu ihren Adnexen ist — wie oben bereits gesagt — die Eigen-
tümlichkeit, dass ein Teil der Eierstocksoberfläche unmittelbar
an den Raum der Peritonealhöhle grenzt. Für diese Fälle
käme lediglich die Wirkung des Flimmerepithels in Betracht,
meint Grosser (l. ec.) und Henle ist ihm einer der Haupt-
zeugen für die Richtigkeit dieser Auffassung. Henle hat aber
in seiner Eingeweidelehre in erster Linie die Verhältnisse beim
Menschen im Auge gehabt, und wenn man auch sinngemäss
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 373
dessen Ausführungen sehr wohl auf die Säuger mit nicht-
geschlossener Ovarialkapsel übertragen kann, so fehlten doch
Henle jegliche Erfahrungen über das Verhalten des Eier-
stockes zu seinen Adnexen während der Brunst, die — ab-
gesehen von ganz vereinzelten gelegentlichen Andeutungen
bisher eben überhaupt unbekannt waren.
Bevor ich hier auf meine eigenen Beobachtungen eingehe,
muss ich der Orientierung wegen kurz die anatomischen Lage-
rungsverhältnisse von Ovarium einerseits und Bileiter bzw.
Mesosalpinx !) andererseits innerhalb der Säugetierreihe kenn-
zeichnen. Diese Beziehungen sind, abgesehen von einigen
älteren Untersuchungen, insbesondere durch die umfassenden
Mitteilungen von Zuckerkandl (24) zum ersten Male für
eine grössere Anzahl von Säugerformen, ferner für die Muriden,
welche von ersterem nicht berücksichtigt werden, von mir (17,
18, 20), Powierza (13) und Fischel (2) klargelegt worden.
Während beim Menschen und den meisten Affen der Eier-
stock nicht in einer besonderen Ovarialtasche oder Bursa ovarii
selegen ist, findet sich bei den meisten übrigen Säugetieren
zum Teil schon den niederen Affen eine mehr oder weniger
starke Umhüllung des Ovarıums seitens peritonealer Falten,
die zur Bildung einer — allerdings bei den einzemen Gat-
tungen und selbst Species in der Ausbildung ausserordent-
lich schwankenden — Bursa ovariı führen. Das Auftreten
einer solchen ist aber gebunden an die Existenz eines be-
sonders gut entwickelten oberen Tubengekröses, wie
Zuckerkandl gezeigt hat. Beim Menschen fehlt ein solches
ja völlig und ist lediglich ein unteres Gekröse (Mesosalpınx)
vorhanden.
Ferner hat sich unabhängig von Zuckerkandl und
anscheinend auch ohne jede Kenntnis von dessen ausführlicher
!) Ich verstehe unter Mesosalpinx natürlich das gesamte Mesenterium
tubae einschliesslich der sog. Ala vespertilionis.
’
374 J. SOBOTTA,
Veröffentlichung Ulrich Gerhardt (5) mit der Frage der
Beziehungen zwischen Eierstock und Eileiter beschäftigt. Die
Angaben beider Autoren ergänzen sich in vieler Hinsicht da-
durch, dass von ihnen zum Teil andere Gattungen oder Species
untersucht wurden; so berücksichtigt Gerhardt z. B. auch
die Verhältnisse der Muriden, nicht aber das Meerschweinchen ;
seine Darstellung der Bursa ovarica des Kaninchens ist aller-
dings weniger exakt als die von Zuckerkandl. Gerhar dt
betrachtet als Hauptursache der Bildung einer mehr oder
weniger stark ausgeprägten Bursa ovarica das Vorhandensein
einer Tubenschlinge; bei gestrecktem Verlaufe des Kileiters
fehlt die Bursa ovarii (Bierstockszelt nach E. H. Weber [23]
im Gegensatz zur vollkommen geschlossenen Eierstockskapsel)
fast völlig oder überhaupt gänzlich.
Je nach der Ausbildung und dem speziellen Verhalten
des oberen Tubengekröses unterscheidet Zuckerkandl (24)
sechs Hauptformen der Taschenbildung um den Eierstock:
1. eine seichte, zwischen den Tubengekrösen gelegene Tasche,
die nieht imstande ist, das Ovarium zu umfassen; 2. eine
»
Ovarialtasche, an deren Bildung die dorsale Wand des In-
fundibulum tubae beteiligt ist; 3. eine Tasche ohne Beteiligung
dieser Trichterwand; 4. die Ovarialkapsel mit Mündung gegen
den Raum der Peritonealhöhle; 5. eine vollständig gegen den
letzteren abgeschlossene Ovarialkapsel; 6. Übergangsformen
zwischen 3 und 4. Ausserdem finden sich bei einigen Säuge-
tieren noch besondere Einrichtungen der Ovarialtaschen oder
besondere Beziehungen des Rierstockes zum Infundibulum
tubae, die unter keine der sechs Kategorien einzuordnen sind;
auf diese komme ich später noch einmal kurz zu sprechen.
Wir haben also flache Nischen, tiefe Taschen, mit und ohne
Öffnung versehene Kapseln zu unterscheiden. Das typischste
Beispiel für den letzteren Fall stellen die Muriden dar, wie
oben schon kurz erwähnt wurde; bei diesen schliesst die
‘
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 375
Ovarialkapsel einen besonderen, ursprünglich der Peritoneal-
höhle angehörigen Raum, den Periovarıalraum vom
Hauptteil der Bauchhöhle ab; beide besitzen keinen Zusammen-
hang mehr miteinander. In den Raum der Ovarialkapsel taucht
das nur mässig ausgebildete Infundibulum hinein; allein mit
der Lichtung des Rileiters steht der Hohlraum des Periovarial-
spaltes in offener Kommunikation. Ich verweise für diese
Verhältnisse nochmals auf meine (17) Darstellung, die von
Powierza (13) und von Fischel (2), namentlich auch auf
die Abbildungen, die dieser von den einschlägigen Verhält-
nissen bei der Ratte gegeben hat. Ausserdem kommen voll-
ständig gegen die Peritonealhöhle abgeschlossene Kapseln unter
den Nagern bei den Dipudiden, bei manchen Insektivoren
(Maulwurf, Spitzmaus), bei mehreren Fledermäusen, einigen
Pinnipediern und unter den Raubtieren bei den Mardern vor
(8. 72:90..9. 366).
Nahezu die gleichen Verhältnisse finden sich bei einigen
anderen Säugetieren ; es ist eine Ovarialkapsel vorhanden ; diese
kommuniziert aber mittels einer oft äusserst engen, meist
schlitzförmigen. Öffnung mit der Peritonealhöhle; man trifft
dieses Verhalten unter den Nagern beim Eichhörnchen, ver-
schiedenen, namentlich hundeartigen Raubtieren, von den In-
sektivoren beim Igel, bei vielen Fledermäusen. Bei der Mehr-
zahl der bisher auf diese Verhältnisse hin untersuchten
Säugetierspecies kommen aber nur „Taschen“ im Sinne
Zuckerkandls oder Eierstockzelte nach E. H. Weber vor;
diese Taschen können bald tief, bald flach sein; bald grenzt
eine der beiden Hauptflächen des Eierstocks ihrer ganzen Breite
nach an den Hohlraum der Peritonealhöhle, bald nur ein Ab-
schnitt dieser, bald ist fast die sesamte Eierstocksoberfläche,
jedenfalls soweit sie Keimepithel trägt, in die Tasche einge-
schlossen.
Die beiden Nager, die uns hier beschäftigen, Kaninchen
376 J. SOBOTTA,
und Meerschweinchen, verhalten sich graduell verschieden, ab-
oesehen von einigen sonstigen Differenzen ; beim Kaninchen
ist eine geräumige, dorsomedial weit geöffnete Tasche vor-
handen : diese ist mit einer Seitenbucht versehen, in der die
laterale Fläche und der tubare Pol des Ovarıums stecken,
während die dorsale Eierstocksfläche und der mediale (freie)
Rand der Geschlechtsdrüse vollkommen frei gegen die Peri-
tonealhöhle liegen. Das Infundibulum tubae ist ausserordent-
lich gross und stark entwickelt. Wohlgemerkt bezieht sich
diese Beschreibung (Zuckerkandl) auf das nicht brünstige
Tier. Beim Meerschweinchen liegen die Verhältnisse etwas
anders; hier ist nur die dorsale Fläche des Eierstockes (und
auch diese selbst bei nicht-brünstigen Tieren nicht in ihrer
ganzen Ausdehnung) frei gegen den Raum der Peritonealhöhle
gerichtet. Die ganze Länge des medialen (freien) Randes sowie
die gesamte Ausdehnung der ventralen Bierstockslläche stecken
in einer Tasche, deren vordere Wand vom unteren, deren
obere Wand vom oberen Teil des Mesenterium tubae gebildet
wird. Das Infundibulum tubae ist ebensowenig wie beim
Kaninchen an der Bildung der Ovarialtasche beteiligt; es steckt
nicht in der Tasche, sondern wendet seine Schleimhautfläche
der Bauchhöhle zu; auf diese Weise begrenzt es den läng-
lichen, aber beim nicht-brünstigen Tier weiten, dorsokranial
serichteten Spalt, der die Kommunikation zwischen Tasche
und Peritonealhöhle darstellt. Auch diese Darstellung bezieht
sich auf das Verhalten ausserhalb des Brunstzustandes.
Berücksichtigt man diese, durch die durchaus zutrelfende
Beschreibung von Zuckerkandl gekennzeichneten Verhält-
nisse der Beziehungen von Eierstock und Ovarialtasche bei
Kaninchen und Meerschweinchen, so wird man sich veranlasst
fühlen, den Schluss zu ziehen, der tatsächlich auch bisher
fast immer gezogen worden ist, ja auf den selbst experimentelle
Untersuchungen aufgebaut worden sind, ich meine die Schluss-
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 377
.
folgerung, dass die bei der Ovulation durch Platzen Graaff-
scher Follikel frei werdenden Bier besonders leicht beim Kanin-
chen, weniger leicht beim Meerschweinchen in die freie Peri-
tonealhöhle gelangen können und dass bei allen oder (Meer-
schweinchen) der grossen Mehrzahl der Follikel, die auf der
der Peritonealhöhle zugekehrten Fläche des Eierstocks platzen,
dies die Regel sein muss. Die bisherigen Auffassungen der
Sachlage waren dann die, dass nun durch Wirkung des von
seiten des Infundibulum tubae ausgehenden Flimmerstromes
die hier sozusagen in die Peritonealhöhle entleerten Kier, noch
ehe sie etwa durch Peristaltik benachbarter Darmschlingen
verschleppt würden, in der Nähe der Ovulationsstelle durch
den Flimmerstrom angesaugt und in den Eileiter transportiert
würden.
Diese Anschauung ist aber grundfalsch. Es ıst näm-
lich ganz ausser acht geblieben, dass der Apparat der Tuben-
sekröse und der von ihnen gebildeten Ovarialtaschen mit einer
recht mächtigen glatten Muskulatur ausgestattet ist,
die nicht zwecklos hier angebracht ist, sondern deren Wirkung
man bei Untersuchung der Eierstöcke brünstiger Tiere mit
Leichtigkeit schon makroskopisch oder wenigstens mit Hilfe
der Lupe feststellen kann. Überblickt man die oben kurz nach
Zuckerkandl geschilderten anatomischen Verhältnisse der
Ovarialtaschen bei den verschiedenen Säugetieren und berück-
sichtigt man die oben schon einmal erwähnte und sicherlich
ganz unbestreitbare Tatsache, dass bei den Muriden die in
den Periovarialraum ovulierten Eier von seiten der abdominalen
Tubenöffnung angesaugt werden, so liegt doch die Vermutung
nahe, dass auch bei denjenigen Säugetieren, bei denen eine
bis auf eine kleine Öffnung geschlossene Kapsel vorliegt, der
Vorgang der Aufnahme der Bier in den Eileiter der gleiche
sein muss oder zum mindesten sein kann, zumal wenn man
findet, dass ein Muskel vorhanden ist, der diese kleine Öff-
378 J. SOBOTTA,
nung noch zu verkleinern oder selbst zu verschliessen imstande
ist. In der Tat enthält die ältere Literatur bereits Angaben,
die sich unzweifelhaft bereits beim Hunde, der ja eine Kapsel
mit kleiner Öffnung besitzt, auf richtige Beobachtungen stützen.
Es beschreibt nämlich schon 1729 Vallisneri (22), dass
bei der Hündin die kleine Öffnung der Ovarialkapsel während
der Brunst und nach der Befruchtung verengert sein soll und
die Kapsel selbst soll nach Art des Herzbeutels Wasser ent-
halten. Ist das nicht schon eine Bestätigung meiner bei den
Muriden erhobenen Befunde? Aber wir werden sehen, der
Hund steht damit nicht allein; auch bei den Säugetieren mit
„weit offener‘ Ovarialtasche ist die Sachlage keine andere.
Übrigens gibt auch Zuckerkandl (24) bei der Dar-
stellung seiner Befunde einige Male an, dass er bei ver-
schiedenen Exemplaren ein und derselben Species verschieden
grosse Strecken der Eierstocksoberfläche gegen die Peritoneal-
höhle hin offen liegend fand; wahrscheinlich handelte es sich,
wie wir unten noch sehen werden, um ein nicht-brünstiges
‘xemplar und ein solches, bei dem die Brunst einsetzte !).
Ferner hat mein Schüler Rubaschkin (14) beim Meer-
schweinchen bereits mit aller Deutlichkeit die Tatsache fest-
stellen können, dass auch bei diesem Nager trotz nicht-
geschlossener Ovarialtasche der Eileiter während und nach
der Ovulation ein ganz entsprechendes Verhalten zeigt wie
bei den Muriden; der sonst so ungemein faltige (Fig. 5 u. 6)
ampulläre Teil der Tube ist stark ausgedehnt, die Falten sind
mehr oder weniger verstrichen und in einer grossen, den Eı-
leiter ausdehnenden Flüssigkeitsmenge liegen die in die Tube
aufgenommenen Eier. Unwillkürlich wird man zu dem Schluss
sedrängt, dass die Eier beim Meerschweinchen in genau der
oleichen Weise angesaugt werden wie bei den Muriden. In
1) Darauf beruht es wohl auch, daß Gerhardt (5) die Ovarialtasche
des Kaninchens als nur ganz flach und rudimentär beschreibt.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere ete. 379
der Tat ist diese Annahme gerechtfertigt, wie wir unten sehen
werden.
Ich beginne nun die Darstellung meiner Befunde über den
Ovulationsvorgang beim Kaninchen und Meerschwein-
chen mit dem letzteren, zumal ıch hier über ein wesentlich
grösseres Beobachtungsmaterial verfüge wie beim Kaninchen.
Wie sich die Lagerung des Kierstocks zur Ovarialkapsel beim
nicht-brünstigen Tier verhält, ist oben bereits im Anschluss
an die Beschreibung von Zuckerkandl auseinandergesetzi
worden. Es liegt nahezu die ganze Oberfläche der einen der
beiden Hauptflächen des Ovars frei gegen die Peritonealhöhle.
Untersucht man nun die Eierstöcke von Tieren, die sich im
Zustand der Ovulation befinden, so gewinnt man einen ganz
anderen Anblick. Bezeichnend dafür ist eine kurze Notiz, die
ich mir über das äussere Bild eines Eierstockes von Cavia
mit seinen Adnexen gemacht habe, ehe ich das Präparat be-
hufs Mikrotomierung einbettete. Es handelte sich um Material,
das mein Schüler Rubaschkin, ohne es für die Zwecke
seiner Veröffentlichung zu verwenden, hier konserviert, aber
nicht weiter behandelt hatte. Ich wollte es für meine Ver-
öffentlichung über das Corpus luteum benutzen und, da man
beim Meerschweinchen ähnlich wie beim Kaninchen (ab-
weichend von dem Verhalten bei. den Muriden) die frisch-
geplatzten Follikel auf der Eierstocksoberfläche deutlich mit
der Lupe wahrnehmen kann, so kontrollierte ich, um bereits
im voraus einen Einblick in das Entwickelungsstadium des
gelben Körpers zu bekommen, die Eierstocksoberfläche. Die
Notiz lautet nun: Eierstocksoberfläche nirgends
sichtbar, wird von der Ovarialkapsel voll-
kommen überlagert.‘
Während also bei nicht-brünstigen Tieren zum mindesten
ein grosser Teil der einen Ovarialfläche frei gegen die Peritoneal-
höhle gerichtet ist, wird während der Ovulation und einige
Anatomische Hefte I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd.. H. 2), 25
380 J. SOBOTTA,
Zeit nachher (denn es handelte sich bei dem oben kurz be-
schriebenen Präparat um ein derartiges Stadium) auch der
letzte Rest der freiliegenden Ovarialfläche zugedeckt; die weite
Kommunikation zwischen dem Raum der Ovarialtasche und
Peritonealhöhle wird zu einem ganz engen Spalt, so dass man
in praxi von einem fast vollkommenen Verschluss der Ovarial-
tasche sprechen kann. Hier liegt aber nicht eine einzelne
Beobachtung meinerseits vor, sondern ich verfüge über eine
oanze Anzahl von Schnittserien, die dieses Verhalten aufs
deutlichste illustrieren.
Wer schliesst nun die Ovarialtasche zur Zeit der Ovu-
lation? Natürlich kann das nur ein Muskel sein. Und ein
solcher ist in der Tat in mächtiger Ausbildung vorhanden.
Ich muss zum Zwecke dieser Auseinandersetzung nochmals
auf die anatomischen’ Verhältnisse der Ovarialkapsel des Meer-
schweinchens zurückgreifen, die zwar von Zuckerkandl
meisterhaft beschrieben worden sind, da aber die Muskulatur
im wesentlichen erst im mikroskopischen Bilde deutlich zutage
tritt und die Darstellung von Zuckerkandl sich auf das
Studium der makroskopischen Verhältnisse bezieht, ist Zucker-
kandl die Existenz des Schliessmuskels der Ovarialtasche
entgangen. Dieser beschreibt das zwar gutentwickelte, aber
im Vergleich zu dem des Kaninchens doch schwache, länglich
geformte Infundibulum tubae folgendermassen: Der Kileiter
biegt am uterinen Pole des Bierstocks in einen grossen Trichter
ein, der oberhalb des Eierstocks gelagert, mit seinem ovarialen
Ende am lateralen Pol des Fierstocks inseriert, während das
uterine Trichterende dem freien Rande des oberen Tuben-
oekröses folgend fast bis an den Uterus heranreicht.
Ich möchte dieser Beschreibung einige ergänzende Be-
merkungen hinzufügen. Die Gestalt des Infundibulum tubae
des Meerschweinchens ist eine ungefähr spindel- oder doppel-
kegelförmige; die beiden Hälften der Spindel sind aber un-
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 381
gleich lang und besitzen daher einen ungleich grossen Winkel.
Die kurze Spindelhälfte mit dem weniger spitzen Winkel ist
die ovarielle, die längere mit dem kleineren Winkel ist die
uterine. Wenn Zuckerkandl bemerkt, dass dieser Abschnitt
des Infundibulums fast bis an den Uterus reicht, so. ıst das
nicht ganz genau; man kann allerdings makroskopisch die
Grenze von Infundibulum und Muskel nicht genau feststellen.
Während nämlich im Bereiche der lateralen Hälfte des läng-
lichen Eierstocks das spindelförmige Infundibulum am freien
Rande des Eileitergekröses gelegen ist, bildet in der Verlänge-
rung des spitzen, uterinen Endes des Trichters ein schmaler
aber kräftiger Muskel, der sich ganz allmählich aus dem spitzen
Ende des Infundibulums zu entwickeln scheint, den uterinen,
bis an das tubare Ende des Uterus schon makroskopisch als
leichte Verdiekung verfolgbaren Abschnitt des freien Mesen-
terialrandes. Der freie, beim nicht-brünstigen Tiere noch einen
kleinen Teil der dorsalen Bierstocksfläche überlagernde Rand
des Mesenterium tubae des Meerschweinchens besteht also in
seinem (grösseren) lateralen Bereiche aus dem in diesen Rand
eingelagerten Infundibulum, in seinem (kleineren) uterinen da-
gegen aus einem Muskel, der nur eine leichte Verdickung des
Randes (beim nicht-brünstigen Tier!) erzeugt; in der‘ Mitte
dieses Gekröserandes decken sich beide Gebilde insofern, als
der das äusserste Ende des spitzen Winkels des Infundibulums
bildende Grekröserand eine feingezackte Randpartie hervortreten
lässt und sich vor den Anfang des Muskels (d. h. dem freien
Gekröserande näher) lagert.
Der Musculus mesenterii tubae, um den es sich
hier handelt, verläuft mit seinen Bündeln dem freien Rande
des Gekröses nahezu parallel; er geht aus der äusseren Längs-
muskellage des Uterus hervor, die ich bereits gelegentlich
anderer Untersuchungen (16) als Muskulatur der Serosa be-
zeichnet habe, und inseriert am uterinen Ende des Infundi-
25*
382 J. SOBOTTA,
bulums, und zwar, wie aus obigem schon hervorgeht, nicht
an dessen spitz ausgezogenem äusserstem Ende, sondern nahe
dem uterinen Umfang des Ostium abdominale. Über dieses
muss ich noch einige Angaben machen; es erscheint in Ge-
stalt eines länglichen, engen Schlitzes (die Beschreibung be-
zieht sich immer aul den nicht-brünstigen Zustand des Eier-
stocks), der gegen den Raum der Peritonealhöhle hin offen
ist, nicht etwa gegen den Raum der Ovarialtasche. Bei der
länglichen Form der Öffnung kann man zwei sie begrenzende
Lippen unterscheiden.
Untersucht man nun aber die Eierstöcke von Tieren zur
Zeitder Ovulation oder kurz vor oder nachher, so ändern
sich die Beziehungen des Eierstocks zu seinen Adnexen sehr
wesentlich, wie schon oben angegeben. Der Musculus inesen-
terii tubae ist nämlich jetzt in Aktion getreten, geradeso wie
um diese Zeit auch die entsprechende Muskulatur bei Muriden
zur Wirksamkeit kommt. Zieht sich aber dieser Muskel zu-
sammen — und dass er dies zur Zeit der Ovulation tut,
geht nicht bloss aus seiner bereits oben angegebenen Wirkung
hervor, sondern lässt sich an entsprechenden Präparaten direkt
erkennen —, so zieht er das im nicht-brünstigen Zustande
schlaff und faltig den Kıerstock nur teilweise umhüllende Mesen-
terium tubae auch über die ganze dorsale Fläche des Ovariums,
die im nicht-brünstigen Zustande fast ganz frei gegen die
Peritonealhöhle liegt. Der freie, vom Infundibulum und dem
Tubengekrösemuskel eingenommene Rand des Mesenterium
tubae, der vorher dem lateralen Abschnitt der dorsalen Fläche.
des Bierstocks gegenüberlag, wird nun bis an das Mesovarıum
herabgezogen.
Man kann sich den Unterschied im Verhalten des Ovarıums
zum Bileitergekröse im nicht-brünstigen und im brünstigen Zu-
stande leicht an der Hand von Durchschnittsbildern vergegen-
wärtigen; ich verfüge über mehr als 12 Schnittserien von
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 383
sierstöcken des ‚Meerschweinchens aus der Zeit, die der Ovu-
lation unmittelbar vorausgeht, und aus der direkt darauffolgen-
den Periode. Fig. 1 zeigt einen Querschnitt durch den Bier-
stock und das Eileitergekröse im nicht-kontrahierten Zustand
des Muskels; es handelt sich zwar um kein Präparat aus dem
geschlechtlich-indifferenten Zustande, sondern das Tier war be-
[ruchtet, die Eier befanden sich ım Stadium der Furchung;
das Bild ist aber genau das gleiche, als das eines (Juer-
schnittes durch den uterinen Abschnitt des Eierstocks eines
nicht-brünstigen ‚und nicht-trächtigen Tieres. Der Muskel nimmt
mit seinen im nicht-kontrahierten Zustande locker gelagerten
Bündeln den dorsalen Gekröseanteil, namentlich die “Gegend
des freien Randes ein, während das fettreiche ventrale Ei-
leitergekröse muskelfrei ist. Der freie, muskelhaltige Rand des
Mesenterium tubae entspricht in seiner Lagerung ziemlich genau
dem freien Rande des Ovariums; dessen ganze oder fast ganze
dorsale Fläche ist unbedeckt und sieht nackt gegen den Raum
der Peritonealhöhle. Die gegenüberliegende Fläche dagegen
grenzt an den Raum der Ovarialtasche.
Will man die Wirkung des Muskels sehen, so vergleicht
man mit dem Bilde der Fig. 1 das der Fig. 2 oder 3. Das
letztere, zum Vergleich wohl am besten geeignete muss als
Spiegelbild zu Fig. 1 betrachtet werden; die entsprechenden
Eierstocksflächen erscheinen seitenvertauscht. Der Schnitt hat
das betreffende Ovarıum bereits in der Nähe des Ostium ab-
dominale tubae getroffen, also in der Gegend der langen spitzen
Hälfte des Infundibulums, ohne dass aber das abdominale Ei-
leiterostium selbst sichtbar wäre. Es handelt sich bei dem
in Fig. 2 abgebildeten Präparat um ein Tier, das eben ovuliert
hat; die Eier sind gerade in den ampullären Teil des Ei-
leiters aufgenommen und liegen in der oben geschilderten Er-
weiterung der Tube. Am freien Rande des Mesenterium tubae
liegt an Stelle des in Fig. 1 sichtbaren Muskels das Infundi-
384 J. SOBOTTA,
bulumt). Es ist durch die Kontraktion der Muskulatur des
Eileitergekröses über die ganze dorsale Fläche des Ovarıums
herabgezogen bis an die Ansatzstelle des Mesovarıums. Gleich-
zeitig ist dem Muskelzuge das ganze obere Tubengekröse ge-
folgt, das sich verhältnismässig eng an die Eierstocksober-
fläche anlegt. Eine weitere auffällige Erscheinung, die gleich-
falls erst durch die Zusammenziehung des Musculus mesenterii
tubae zustande gekommen ist, ist in der Stellung des Infundi-
bulums zu erkennen. Während dieses beim nicht-brünstigen
Tier fast mit seiner gesamten Oberfläche, insbesondere beiden
Lippen des Ostium abdominale gegen die Peritonealhöhle hin
gerichtet ist, erfährt das Infundibulum durch die Kontraktion
der Muskulatur des Mesenterium tubae auch eine Drehung
der Art, dass das Ostium selbst (Fig. 4) gegen den Hohlraum
der Ovarialtasche gekehrt wird; dadurch wird die mit Flimmer-
epithel überzogene Oberfläche der einen Lippe gleichfalls gegen
diesen Raum hin gewendet, während die natürlich in gleicher
Weise flimmernde Fläche der anderen Lippe der Peritoneal-
höhle zugekehrt ist oder — richtiger gesagt — bleibt.
Dieses Verhalten tritt auf Fig. 3 überaus deutlich hervor;
der Schnitt liegt ja näher dem tubaren Ende des Uterus als das
Ostium tubae, geht also durch den spitz ausgezogenen uterinen
Abschnitt des Infundibulums, dessen beide faltigen, mit Flimmer-
epithel in gleicher Weise ausgestatteten Oberflächen nur durch
eine dünne Gewebsschicht getrennt sind. Die peritoneale Ober-
fläche des Infundibulumdurchschnittes erscheint mit stärkeren
flimmernden Falten ausgestattet als die dem Eierstock zuge-
kehrte. Ganz ähnliche Verhältnisse lässt das Präparat der
Fig. 2 erkennen; bei diesem geht der abgebildete Querschnitt
1) Ist der Muskel kontrahiert, so ist die Strecke, die er am freien Rande
des Mesenteriums tubae einnimmt, natürlich ganz kurz, so dass es kaum ge-
lingt, ihn jetzt auf Querschnitten nach Art der Fig. 1 zur Darstellung zu
bringen.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 385
durch das laterale, dem Uterus abgewandte Ende des Infundi-
bulums und durch den Eierstock selbst in der Nähe seines
freien Poles. Es befindet sich von diesem Präparat nur ein
Teil der gesamten Schnittserie in meinen Händen; diese lässt
mehrere frisch-geplatzte Follikel erkennen; ob die Bier noch
im Periovarialraume waren oder bereits in den ampullären
Teil der Tube aufgenommen (oder ob für einen Teil der Bier
das eine für den anderen das andere zutraf), entzieht sich
meiner Kenntnis, da gerade der entscheidende Teil der Serie
mir fehlt. Ich vermute aber, dass die erste Annahme die
zutreffende sein dürfte.
Auch in Fig. 2 erkennt man nun deutlich, dass der Schliess-
muske! des Ovarialsackes — denn um einen solchen handelt
es sich ja in der Tat — seine Schuldigkeit getan hat; der
Bierstock ist durch dessen Kontraktion so gut wie eingekapselt.
Ein mit Flüssigkeit erfüllter, relativ weiter Periovarıalraum. ist
zwischen Eierstock und Ovarialkapsel, d. h. Mesenterium tubae
gebildet. Dieser Hohlraum ist zwar nicht vollkommen gegen
die Peritonealhöhle abgeschlossen ; aber als Pförtner der Öff-
nung, der wohl jemanden hinein aber niemand hinauslässt,
wirkt der Flimmerstrom des die Öffnung beherrschenden In-
fundibulums. So wird wohl Inhalt der Peritonealhöhle in den
Periovarialraum hineingelangen können, nicht aber der Inhalt
des letzteren in jene. Die auf der Eierstocksober-
fläche durch das Platzen Graaffscher Follikel
Zumagertretenden, Bier: gselangenzmeteenau.der
ebkesnchen Sicherheit wie,ber, Nieren mite voll
kommen geschlossener Ovarialkapsel, z. B. den
Muriden, inden Perio va rıialraum; dass sie in die Bauch-
höhle oder besser gesagt in den freien Teil der Peritoneal-
höhle gelangen (der Periovarialraum des Meerschweinchens ist
ja vom rein theoretischen Standpunkt betrachtet, ein Teil der
Peritonealhöhle), ist nach den zur Zeit der Ovulation herrschen-
386 J. SOBOTTA,
den anatomischen Verhältnissen einfach ausgeschlossen. Selbst
wenn ein Follikel in der Nähe der noch vorhandenen engen
Kommunikation des Periovarialraumes mit der Peritonealhöhle
reifen und platzen sollte, was an und für sich nach den
Bauverhältnissen des Eierstocks schon sehr unwahrscheinlich
ist, so könnte das ausgetretene Ovulum nicht in die freie
Peritonealhöhle gelangen, denn erstens ist der Spalt, den es
passieren müsste, zu eng und zweitens hindert ihn daran der,
wie schon gesagt gleichsam als Türhüter dienende Flimmer-
strom des Infundibulums, der von der Peritonealhöhle gegen
den Periovarialraum hin flimmert.
Ich kann die eben schon kurz erörterte Tatsache, dass
sich die ziemlich weit offene Ovarialtasche des Meerschwein-
chens während des Ovulationsvorganges in eine theoretisch
zwar noch durch einen feinen Spalt mit der Peritonealhöhle
kommunizierende, praktisch aber doch wenigstens für den Auf-
enthaltsort der Eier als vollkommen abgeschlossene Ovarial-
kapsel verwandelt, noch durch eine Reihe von Beobachtungen
erhärten, die ich an der Hand einiger Abbildungen hier gleich
besprechen will).
Es soll dabei gleich mit meinen „Monstrepräparaten be-
sonnen werden. Ich verfüge über eine Längsschnittserie eines
Meerschweincheneierstocks, der gerade im Beginn der Ovulation
mitsamt seinen Adnexen konserviert wurde. Ein reifer Ovarial-
follikel war soeben geplatzt, sein Ei lag im Periovarialraum.
Im Eileiter noch keine Eier. Ich bilde aus dieser Schnittserie
zwei Schnitte ab, und zwar bei etwas stärkerer Vergrösserung
als die anderen kleinen Skizzen, die ich dieser Mitteilung bei-
gebe. Der eine Schnitt (Fig. 5) hat das Ovulum im Peri-
ovarialraum getroffen, der andere stellt den mittleren Schnitt
1) Die Mehrzahl der Abbildungen dieser Mitteilung habe ich auf direkter
(mikro-) photographischer Unterlage hergestellt; das Verfahren habe ich a. a. OÖ.
veröffentlicht. E
Anatomische Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2).
Ampulla tubae
oberes Bileitergekröse
Infundibulum.--""
- Ei im
Periova-
rialraum
Musculus
mesenterli
tubae, kon--
trahlert.
Fig. 5.
\ Bileiter, nicht oder
\ nicht wesentlich
in dilatiert
Eileiterdurch- i
schnitt, mässig
dilatiert
Eileiterdurchschnitt,
dilatiert
Ei, frisch besamt
Fig. 15.
Verlag von J. Fr
Bergmann in Wies] yaden
Tafel 29/30
\ _. oberes Eileitergekröse
>
Ampulla ”
tubae
Infundi-
bulum
geplatz!
Follikel
>> Bileiter
- ‚unteres Ei-
leitergekröse
--atretischer
Follikel
Fig. 6.
Lichtung des Eileiters
\
\
\ Bier,
5) X soeben
besamt
__. Eiloiter-
5 schleimhaut
geschichteter
Fremdkörper
A . 1: FR Aal nb- S m
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere etc. 387
durch den soeben geplatzten Follikel dar, mit dessen Liquor-
extravasat das Ei noch in Zusammenhang steht (Fig. 6). Ich
glaube, jeder, der sich solche Präparate ansieht oder die Ver-
hältnisse der bereits oben beschriebenen betrachtet, deren Zahl
ich aber gleich noch vermehren werde, der wird gründlich und
endgültig von der in vielen Köpfen leider auch heute noch
spukenden Vorstellung geheilt werden, dass es eine sog. Äussere
Überwanderung der Eier gibt. Ich habe auch, ehe ich diese
Präparationen gewonnen habe, an diese Fabel nie geglaubt;
ich habe mir stets rein theoretisch die Unmöglichkeit einer
solchen Wanderung zurecht gelegt; aber, wenn man sieht, mit
welcher unglaublichen Oberflächlichkeit und welchem absoluten
Mangel an Sachkenntnis diese Fragen in der Literatur be-
handelt werden, so nimmt es auch nicht wunder, dass selbst
die Fabel von der äusseren Überwanderung des Eies noch
nicht ausgerottet ist. Wenn ich hier aus dem — wie ich
wohl sagen kann — reichen Schatze meiner Erfahrungen und
Beobachtungen schöpfe, so hoffe ich, dass diejenigen Kollegen,
welche glauben, man 'könne solche Fragen rein-theoretisch ohne
tatsächliche Beobachtungen lösen, sich eines Besseren über-
zeugen werden, und dass der Wert der wirklichen und exakten
Beobachtung auch in diesem Punkte wieder zu seinem Rechte
kommt. |
Während man nach den anatomischen Bauverhältnissen
des Meerschweincheneierstocks ausserhalb der Brunstperiode
annehmen "konnte, dass die von der einen Fläche des Ovariums
austretenden Eier zwar in die (offene) Ovarialtasche fallen
würden, die von der entgegengesetzten Fläche aus ovulierten,
dagegen mit fast absoluter Sicherheit in die freie Peritoneal-
höhle übertreten müssten, zeigt uns jetzt das Präparat der
Fig. 5, dass das Ei in den Periovarialraum gelangt wie bei
den Nagern mit vollkommen geschlossener Ovarialkapsel
(Muriden). Das Präparat zeigt uns aber ferner, dass das
388 J. SOBOTTA,
Ovulum aus diesem Raume nicht entweichen kann, denn der
stark kontrahierte Musculus mesenterii tubae hat das ganze
obere Tubengekröse mitsamt dem Infundibulum über den sonst
frei gegen die Peritonealhöhle blickenden Abschnitt der Eier-
stocksoberfläche herübergezogen; er hat zwar, wie es auch
die oben beschriebenen Querschnitte schon zeigten, die Kom-
munikation des Periovarialraumes mit der Peritonealhöhle nicht
ganz unterbunden, was Fig. 6 erkennen lässt, aber an ein
Entweichen des auch nıcht nackten Kies +st schon wegen seiner
Grösse nicht zu denken; ausserdem ist aber keine Kraft tätıg,
die das Ovulum aus diesem Raume in die Peritonealhöhle
treiben könnte; ım Gegenteil, es würde bei diesem Wege,
selbst wenn eine zufällig wirkende Kraft ıhn einen solchen
weisen sollte, auf direkten Widerstand stossen, nämlich auf
den Fliımmerstrom des Infundibulum, der aus der Peritoneal-
höhle ın den Periovarialraum strömt.
Diese Wirkung des Flimmerstromes bzw. vielleicht viel-
mehr des durch diesen an der spaltförmigen Öffnungsstelle
der Ovarialkapsel erzeugten Flüssigkeitsstromes scheint man
in dem Bilde der Fig. 6 auch deutlich zu erkennen. Die aus
dem platzenden Follikel austretende Liquormasse wird merk-
lich von der Öffnung weggeschoben und mitsamt dem Ei gegen
den vollkommen abgeschlossenen Teil der Ovarialkapsel ge-
drängt. Und so wird es jedem zur Ausstossung aus dem Eier-
stock gelangenden Ei ergehen müssen.
Es wird also durch die Tätigkeit des oben beschriebenen
Muskels der Ovarıalkapsel des Meerschweinchens zur Zeit der
Ovulation eine so gut wie vollkommene Umhüllung der sonst
zum mindesten teilweise freiliegenden Eierstocksoberfläche er-
zielt. Dadurch wird die scheinbare Ovarialtasche dieser Species
in praxi zur Ovarialkapsel; infolgedessen bildet sich wie bei
Muriden en Periovarıalraum, der bei der Ovulation die
Kier aufnimmt. Dieser besitzt aber noch eine Verbindung mit
Säugetiere ete. 389
der Peritonealhöhle, welche jedoch zur Zeit der Ovulation zu
klein ist, um ovulierte Rier in die letztere Höhle übertreten
zu lassen. Die ovulierten Eier müssen daher bis zur Auf-
nahme seitens des Eileiters in dem Periovarialraum verweilen.
Die Kontraktion des Schliessmuskels der Ovarialkapsel des
Meerschweinchens beginnt kurz vor der Ovulation und lässt
einige Zeit nach Aufnahme der Eier seitens des Tubenostiums
wieder nach. So zeigt Fig. 7 die Abbildung eines Durch-
schnittes eines Ovariums eines Tieres kurz vor Beginn der
Ovulation ; der Eierstock enthält nahezu, aber noch nicht völlig
reife Follikel; der Schnitt trifft das äusserste uterine Ende
des Infundibulums zugleich mit dem lateralen Ende des Muskels.
s liegt noch ein beträchtlicher Teil der Eierstocksoberfläche
frei gegen die Peritonealhöhle, das Tubengekröse ist stark ge-
faltet wie beim nicht-brünstigen Tiere; der Muskel ist also
noch nicht in Aktion getreten. Das Präparat der Fig. 4 da-
gegen gehört einer Schnittserie eines Ovariums an, das ganz
unmittelbar vor der Ovulation stand (Richtungsteilungen in
den Eiern); drei grosse, sprungreife Follikel sind auf dem
Anschnitte sichtbar. Der Schnitt ist gerade durch das Ostium
abdominale tubae gegangen; der Muskel ist bereits in Tätig-
keit getreten; denn der Periovarialraum ist bis auf die kleine,
vom Infundibulum beherrschte Öffnung geschlossen. Fig. 1
dagegen zeigt die Abbildung eines Präparates nach beendeter
Ovulation; die Eier sind bereits im Eileiter; die Zusammen-
ziehung des Muskels hat nachgelassen oder bereits aufgehört;
die dorsale Eierstocksfläche liegt wiederum fast ihrer ganzen
Ausdehnung nach frei; es ist also das gleiche Verhalten der
Ovarialtasche erkennbar, das man beim nicht-brünstigen Tiere
findet.
Die Tätigkeit der Muskulatur des Mesenterium tubae des
Meerschweinchens erzeugt nun aber noch eine weitere Ver-
änderung der anatomischen Lagebeziehungen des Ovariums zu
390 J. SOBOTTA,
seinen Adnexen während der Ovylation;; das ist die oben schon
erwähnte Drehung des Infundibulums und dessen
Ostium abdominale. Beim nicht-brünstigen Tiere liegen
die Verhältnisse für die Aufnahme der Eier in den Eileiter
denkbar ungünstig. Die Öffnung des Eileiters ist ein schmaler
Schlitz im Bereiche des Infundibulums, der gegen die Peri-
tonealhöhle gerichtet ist. Soll diese enge Öffnung die ovulierten
Eier, wie das bisher fast allgemein angenommen wurde, durch
Wirkung des von der Oberfläche des Infundibulums erzeugten
Flımmerstromes aufnehmen, so wäre das nur denkbar, wenn
die Eier in der Peritonealhöhle in einer geringen, innerhalb
der Grenzen der Saugkraftwirkung gelegenen Entfernung vom
Infundibulum lägen. Das könnte man sich als realisiert vor-
stellen, wenn die Ovulatıon auf der der Bauchhöhle erössten-
teils zugekehrten Eierstocksoberfläche vor sich gegangen wäre,
vorausgesetzt natürlich, dass die Eier nicht durch die Peristaltik
der benachbarten Darmschlingen eine Verschiebung erlitten,
die sie der Wirkung des Flimmerstromes entzöge. Wie sollen
aber Eier, die auf der entgegengesetzten Fläche des Ovariums,
welche gegen den Raum der Ovarialtasche hinsieht (* bei
Fig. 2 und 3), abgestossen werden, in den Bereich der Wir-
kung des Flimmerstromes des Infundibulums kommen? Sie
fallen in die Ovarialtasche, in der eine Flimmeraktion
nicht bemerkbar sein kann, da beide flimmernde Lippen
des Infundibulums beim nicht-brünstigen Tiere gegen die
Peritonealhöhle gerichtet sind. Es lässt sich also schon
rein-theoretisch gar nicht vorstellen, wie auf Grund der ana-
tomischen Verhältnisse des Eierstockes und des Ostium ab-
dominale tubae die ovulierten Bier in die Tube aufgenommen
werden können. Ohne die Veränderungen in den Lage-
beziehungen der genannten Teile zueinander, welche die Wir-
kung der Schliessmuskulatur der Ovarialkapsel während der
Brunst hervorruft, ist der Vorgang der Aufnahme der Eier in
4‘
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 391
den Eileiter zum mindesten für einen grossen Teil dieser über-
haupt nicht verständlich; Bier, die bei ihrer Lösung vom Eıer-
stock in die Ovarialtasche fallen, können — selbst die ana-
tomischen Verhältnisse des nicht-brünstigen Tieres ange-
nommen —, wenn sie überhaupt noch von der Wirkung des
Flimmerstromes des Infundibulums erfasst werden, höchstens
tiefer in die Tasche hineingetrieben, aber nie aus ıhr heraus-
geholt werden.
Durch die Wirkung der Muskulatur des Mesenterium tubae
wird aber, wie oben schon erwähnt, das Infundibulum nicht
bloss herabgezogen, sondern auch so gedreht, dass das Ostium
abdominale jetzt gegen den Periovarialraum gerichtet ist
(Fig. 4); es hat also nun eine Lagerung erhalten, die sehr
wohl geeignet ist, die in den genannten Raum ovulierten Eier
aufzunehmen. Ja die im Periovarialraum gelegenen Eier können,
wie wir schon oben sahen, überhaupt keinen anderen Weg
gehen. Gleichzeitig ändert sich aber auch durch den Muskel-
zug die langgestreckt spindelförmige Form des Infundibulums
des nicht-brünstigen Tieres; es wird breiter und kürzer und
die vorher schlitzförmige, zur Aufnahme der Eier wenig ge-
eignete Öffnung weiter.
Es ıst also, um es in kurzen Worten zu wiederholen, der
Ovulationsvorgang beim Meerschweinchen mit einer wesent-
lichen Veränderung der anatomischen Lagebeziehungen von
Kierstock, Eileitergekröse und Infundibulum verbunden. Die
für die Aufnahme der Eier in das Ostium abdominale tubae
denkbar ungünstigen anatomischen Lagebeziehungen zwischen
Eierstock und Eileiter werden derart korrigiert, dass die
Überleitung der Ovula aus dem Periovarialraum in die Tube
vollkommen gesichert ist; ausserdem wird die Möglichkeit eines
Verlustes von Eiern durch Entweichen in die Peritonealhöhle
mit Hilfe des gleichen Vorgangs verhindert.
So grundverschieden beim nicht-brünstigen Tiere die ana-
392 J. SOBOTTA,
tomischen Verhältnisse der Ovarialtasche des Meerschwein-
chens von dem Zustand der vollkommen geschlossenen Eier-
stockskapsel der Muriden, Dipudiden und anderer Säugetiere
sind (vgi. 0. S. 375), in praxi verhalten sich beide Bildungen
vollkommen gleich. Es nehmen also die beiden genannten
Nagergattungen gar keine Sonderstellung ein, wie man sie ihnen
zuschreiben zu müssen glaubte. Und ich werde unten für
das Kaninchen den gleichen Nachweis wie für das Meerschwein-
chen führen. Auch bei diesem Nager wird die sogar sehr
weit offene Eierstockstasche zur Zeit der Ovulation durch
Muskelkraft zu einer Kapsel geschlossen.
Wir haben also soeben die anatomischen Grundlagen für
die Beantwortung unserer ersten Hauptfrage geschaffen, der
Frage: Wie werden die ovulierten Eier des Meerschweinchens
in den Bileiter aufgenommen ? Wenden wir uns nun der Frage
selbst zu, so hatten wir schon festgestellt, dass die Ovula
zunächst in den Periovarialraum gelangen; aus diesem können
sie nur in das abdominelle Ostium der Tube übertreten. Für
den Mechanismus dieses Eintritts in den Eileiter lägen nun
zwei Möglichkeiten vor; erstlich man könnte dem Flimmer-
strom die befördernde Rolle zuschreiben, zweitens man könnte
annehmen, dass auch beim Meerschweinchen die Eier von
der Tube angesaugt werden wie bei den Muriden. Ich ent-
scheide mich ganz unbedingt zugunsten der letzteren Annahme,
und zwar aus folgenden Gründen. Einige Zeit nach der Ovu-
lation findet man am Bileiter des Meerschweinchens die
gleichen Erscheinungen wie bei den Muriden, worauf schon
twubaschkin (14) kurz aufmerksam gemacht hat. Der ım
gewöhnlichen Zustande stark faltige (Fig. 5, 6) ampulläre Teil
der Tube ist ganz ähnlich wie bei der Maus oder Ratte während
oder einige Zeit nach der Ovulation bläschenförmig gedehnt,
wobei die zahlreichen Falten so gut wie ganz verstreichen.
Ich habe ein solches Verhalten in Fig. 5 in einfacher Weise
>)
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 395
zur Darstellung gebracht und bitte es mit dem in Fig. 12, 14
abgebildeten Verhalten bei den Muriden zu vergleichen. Die
Annahme, dass in der Eileitererweiterung des Meerschwein-
chens der Inhalt des Periovarialraumes, d. h. Flüssigkeit und
Eier angesaugt vorliegt, wie wir das oben für die Muriden.
feststellen konnten, erscheint daher bereits a priori in hohem
Masse gerechtfertigt. Es lassen sich aber noch eine Reihe
weiterer Übereinstimmungen zwischen dem bei Muriden oben
beschriebenen Verhalten der Eiaufnahme in den Eileiter und
beim Meerschweinchen feststellen. Der durch die Aktion des
Schliessmuskels fast vollkommen gegen die Peritonealhöhle ab-
gegrenzte Periovarialraum füllt sich nämlich mit Beginn der
Ovulation und während der Dauer dieses Vorganges in ganz
ähnlicher Weise mit Flüssigkeit wie die vollständig abge-
schlossene Ovarialkapsel der Muriden. Bei letzteren wird man
in erster Linie an eine Sekretion des Keimepithels der Eier-
stocksoberfläche denken müssen; beim Meerschweinchen liegt
ausserdem die Möglichkeit vor, dass das mit seiner stärkeren
Lippe gegen die Peritonealhöhle gerichtete Infundibulum einen
Flimmerstrom erzeugt, der Flüssigkeit aus der Peritonealhöhle
gleichsam in den Periovarialraum hineinpumpt, wozu das In-
fundibulum seiner oben beschriebenen Lagerung nach sehr wohl
imstande ist.
Jedenfalls lässt sich auch an der Hand des mir zurzeit
zur Verfügung stehenden Schnittmaterials vom Meerschwein-
chen aus der Ovulationsperiode feststellen, dass sich der Peri-
ovarıalraum während der Ovulation ziemlich stark mit Flüssig-
keit anfüllt (vgl. Figg. 5, 6), um dann unmittelbar nach Auf-
nahme der Eier in den Eileiter (Fig. 1) auffällig leer zu er-
scheinen. Es liegen also ganz ähnliche Verhältnisse vor wie
bei den Muriden. Leider verfüge ich nun nicht über Beobach-
tungen oder Notizen, die das Verhalten dieser Teile am un-
zerlegten Präparat kennzeichnen. Berücksichtigt man ferner
394 J. SOBOTTA,
den Umstand, dass auch beim Meerschweinchen nicht selten
Eier im Periovarialraum gefunden werden (Rubaschkin hat
ein derartiges Präparat abgebildet und ich habe noch zwei
weitere in Händen, von denen das eine in Fig. 5 abgebildet
ist) und dass, wie oben angegeben, ein längeres Verweilen
dieser hier nicht verständlich wäre, wenn man den kontinuier-
lich wirkenden Flimmerstrom für die Aufnahme der Bier in
den Eileiter verantwortlich machen wollte, so drängt alles zu
der Annahme, dass auch beim Meerschweinchen ein Ansaugen
der Eier aus dem Periovarialraum in die Tube stattfindet,
zumal die Wirkung der Muskulatur des Mesenterium tubae
deutlich zu einer Erweiterung des Ostium abdominale führt.
Zum mindesten steht also der Annahme, dass beim Meer-
schweinchen die Aufnahme der Eier in den Eileiter genau
ebenso erfolgt wie bei den Muriden, nichts im Wege; ob da-
neben auch das Flimmerepithel des Infundibulums oder des
Eileiters selbst eine aktive Rolle spielt, lasse ich zunächst
dahingestellt; jedenfalls ist seine Wirkung nicht erforderlich,
um den Eintritt der Eier in den Eileiter zu erklären. Anderer-
seits wird aber unter der Annahme der alleinigen Wirkung
des Flimmerstromes die Tatsache nicht verständlich, dass der
faltige ampulläre Teil des Eileiters, der die ovulierten Eier
aufnimmt, sich in so enormem Masse ausdehnt.
Mit anderen Worten — trotz der anscheinend so ver-
schiedenen Beziehungen zwischen Eierstock und Eileitergekröse
bei Muriden einerseits und dem Meerschweinchen anderer-
seits — findet die Aufnahme der Eier in den Eileiter bei
beiden Formen in genau gleicher Weise statt, da die Ver-
schiedenheiten des Bauverhältnisses der Ovarialadnexe durch
die während der Ovulation wirkende Muskulatur so gut wie
vollkommen aufgehoben werden.
Ich wende mich nun zum Kaninchen; leider stützen
sich meine Angaben für dieses Tier auf ein nur beschränktes
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 395
Material. Ich habe seinerzeit, um die Kierstocksoberfläche auf
frischgeplatzte Follikel und junge Corpora lutea hin zu unter-
suchen, das Eileitergekröse meist abpräpariert; infolgedessen
verfüge ich über viel weniger zur Entscheidung der uns hier
interessierenden Fragen geeigneter Beobachtungen, als es sonst
der Fall sein würde. Trotzdem bin ich imstande, auch für
diese Nagerspecies den Nachweis zu liefern, dass bei der
Ovulation die weit offene Ovarialtasche sich zur Kapsel schliesst.
Es stehen mir nämlich mehrere vollständige oder fast voll-
ständige Serien von Durchschnitten des mitsamt seiner Adnexe
fixierten BEierstocks von Kaninchen zur Verfügung, die kurz
vor, während und kurz nach der Ovulation getötet wurden
und sechs verschiedenen Tieren angehören; von diesen ver-
füge ich teils über die Schnittserien beider Ovarien, teils nur
über die einer Seite des Eierstocks. In allen Fällen aber war
das Lagerungsverhältnis von Ovarium, Eileiter und Mesenterium
fubae. ungestört erhalten geblieben.
Ich muss auch hier erst kurz nochmals auf die anatomi-
schen Verhältnisse dieser Teile beim Kaninchen zurückkommen
und kann mich dabei ebenfalls an die Darstellung von Zucker-
kandl (24, s. a. o. S. 375) halten. Aus dieser sind die Haupft-
leitsätze für das Verhalten der Ovarialtasche oben (S. 374)
schon zitiert worden. Ich füge hier nur weniges hinzu; das
Infundibulum des Kaninchens (Fig. 8) hat eine mehr länglich-
runde Begrenzung, nicht die ausgesprochen langgezogene. Ge-
stalt wie beim Meerschweinchen; es ist auch verhältnismässig
viel stärker ausgebildet und zeigt einen ausgesprochen blättrigen
Bau. Es kehrt beim nicht-brünstigen Tiere fast seine ganze
Oberfläche und auch seine Mündung der Peritonealhöhle zu:
ähnlich wie beim Meerschweinchen liegt der Hauptteil des
Infundibulums am freien Rande des Mesenterium tubae. speziell
des die (unvollständige) Ovarialkapsel bildenden oberen Ei-
leitergekröses. Dagegen fehlt an diesem Rande der kompakte
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd. H. 2). 26
396 J. SOBOTTA,
Muskelstreifen, den man beim Meerschweinchen hier findet.
Deswegen ist aber das Mesenterium tubae nicht ohne Musku-
latur; im Gegenteil es ist sogar mit einer solchen viel reicher
ausgestattet als das Eileitergekröse des Meerschweinchens, bei
dem von einigen wenigen, gelegentlich in das untere Gekröse
ausstrahlenden Fasern die gesamte Muskulatur auf den oben
(S. 380) beschriebenen Schliessmuskelstreifen konzentriert ist.
Beim Kaninchen wird fast die gesamte Ausdehnung des Mesen-
terium tubae, und zwar — wenn auch ım Bereiche der uterinen
und der ovariellen Hälfte in etwas wechselnd starkem Masse —
von längs- (d. h. der Längsachse des Eierstocks parallel) ver-
laufenden subserösen Muskelbündeln durchzogen, die in gleicher
Weise wie beim Meerschweinchen von der äusseren longitudi-
nalen Muskellage des tubaren Endes des Uterushornes aus-
gehen }).
Wie oben schon angegeben, liegt am Ovarıum des nicht-
brünstigen Kaninchens nicht bloss die gesamte dorsale Fläche
(bis auf den tubaren Pol), sondern auch der freie Rand des
Organs vom Mesenterium tubae unbedeckt gegen den Hohl-
raum der Peritonealhöhle hin, also ein nicht unwesentlich
erösserer Abschnitt der Oberfläche des Eierstocks als beim
Meerschweinchen. Die Ovarialtasche ist beim Kaninchen
weniger tief ausgebildet als bei letzterem. Untersucht man
aber weibliche Kaninchen zur Zeit der Ovulatıon, so sieht man,
dass in ganz ähnlicher Weise wie beim Meerschweinchen das
Ovarıum von dem im nicht-brünstigen Zustande schlaffen und
sefalteten, jetzt aber straff gespannten Eileitergekröse so ein-
gehüllt ist, dass in praxiı auch beim Kaninchen nun
eine wirklich geschlossene Kapsel zustande kommt.
Fig. 9 zeigt den @uerschnitt durch einen Eierstock eines
Kaninchens kurz vor der Ovulation; es sind mehrere sprung-
!) Diese longitudinalen Muskelbündel sind leicht in Gestalt paralleler
Streifen mit blossem Auge oder der Lupe zu beobachten.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 397
reife Follikel vorhanden, von denen Fig. 9 einen erkennen
lässt. Am freien Rande des Mesenterium tubae liegt der Durch-
schnitt der uterinen Ecke des Infundibulums, das an dieser
Stelle nur noch schwach entwickelt ist. Es reicht mit dem
[reien Mesenterialrande zwar nicht bis an die dorsale Fläche
des Margo mesovaricus der Geschlechtsdrüse, liegt dem Hilus
ovarıı aber doch so nahe, dass nicht bloss der Margo liber,
sondern auch fast die gesamte dorsale Fläche des Eierstocks
von dem Eileitergekröse umfasst werden. Es ist also zur Bil-
dung eines (bis auf eine relativ kleine Öffnung in der Gegend
des dorsalen Randes des Hilus ovarii) geschlossenen Peri-
ovarialraumes gekommen! Damit wird auch für das Kanin-
chen die Möglichkeit, dass Eier bei ihrem Austritt aus dem.
Ovarıum in die freie Peritonealhöhle gelangen, von vornherein
ausgeschlossen. Am besten lässt sich dieses Verhalten wohl
an der Hand der Fig. 10 demonstrieren. Es handelt sich hier
gleichfalls um den Querschnitt eines Kanincheneierstocks, und
zwar ım Beginn der Ovulation; ein Graaffscher Follikel ist
bereits geplatzt; ein Liquorstreifen lässt sich von der Riss-
stelle aus verfolgen; da, wo dieser sich etwas verdickt, lag
in einigen Schnitten (10 u Dicke) entfernt das Ovulum, also
im Periovarialraum (bei *). Auch hier erkennt man am freien
Rande des sehr fettreichen Eileitergekröses den Durchschnitt
des Infundibulums, das jetzt viel mächtiger erscheint als in
Fig. 9, weil wir uns näher dem Mittelpunkte des Trichters
befinden. Auch hier ist zwar die dorsale Fläche des Rier-
stocks nicht ganz bis an die Ansatzstelle des Mesovariums
bedeckt, aber das Eileitergekröse ist auch noch zwischen den
beiden Durchschnitten der Tubenschlinge stark gefaltet und
hat seine maximale Dehnung noch nicht erfahren : tritt diese
ein, so wird in der Tat, wie ich das an einem Eierstock.
dessen Ovulation bereits beendet war, beobachten konnte, der
freie Rand des Mesenterium tubae in gleicher Weise bis an
26*
398 J. SOBOTTA,
das Mesovarıum herabgezogen, wie das Figg. 3 u. 5 vom
Meerschweinchen zeigen. Vor der Kommunikationsstelle des
Periovarialraumes mit der freien Peritonealhöhle liegt das beim
Kaninchen so überaus mächtige Infundibulum (Fig. 8), dessen
Hauptfläche mit ihren langen flimmerepitheltragenden Blatt-
durchschnitten gegen die freie Peritonealhöhle gerichtet ist,
während die schwächere Hälfte des Infundibulums ihre flim-
mernde Oberfläche gegen den Raum der Ovarialkapsel kehrt.
Es wird also hier ein sicher recht wirksamer Flimmerstrom
erzeugt, der von der Peritonealhöhle gegen den Periovarıal-
raum flimmert. Dadurch wird geradeso, wie wir es beim Meer-
schweinchen kennen gelernt hatten, jedem der Austritt aus
dem Periovarialraum verwehrt, während der Eintritt von der
Peritonealhöhle in den Periovarialraum erleichtert und gefördert
werden muss, so dass insbesondere leicht Flüssigkeit aus der
freien Peritonealhöhle in den Periovarialraum hineingepumpt
werden kann.
Dem in den Periovarialraum ovulierten Ei werden also
die denkbarsten Schwierigkeiten bereitet — abgesehen von der
an und für sich schon sehr kleinen Kommunikationsstelle
zwischen beiden Höhlungen —, aus dem Periovarıalraum zu
entrinnen. Ich brauche daher auch wohl gar nicht erst zu
erwähnen, dass jede Möglichkeit einer sog. äusseren Über-
wanderung der Eier von vornherein ganz ausgeschlossen ist;
(die einmal in den Periovarialraum gelangten Eier können diesen
nur durch das Ostium abdominale Tubae verlassen, müssen
also in den Eileiter gelangen.
Es liegen also die Verhältnisse beim Kaninchen ganz
ebenso wie beim Meerschweinchen ; obwohl im nicht-brünstigen
Zustande der Eierstock des Kaninchens noch weit freier gegen
die Peritonealhöhle gerichtet ist als beim Meerschweinchen,
ıst die im Mesenterium tubae enthaltene glatte Muskulatur
imstande, durch ihre Kontraktion zur Zeit der Brunst und
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 399
speziell der Ovulation die offene Ovarialtasche des Kaninchen-
eierstocks in eine in praxi als vollkommen geschlossen zu
betrachtende Höhlung zu verwandeln. Dass dieses Verhalten
nicht bloss tatsächlich eintreten kann, sondern zur Zeit der
Ovulation unmittelbar beobachtet wird, ergibt sich aus meinen
oben mitgeteilten Befunden. Die in ihrer Anordnung von der
des Meerschweinchens etwas verschiedene, ihrer gesamten
Masse nach aber noch ungleich viel stärkere Kileitergekröse-
muskulatur des Kanınchens vollbringt also noch erheblich
stärkere Leistungen als die des Meerschweinchens.
Im nicht-brünstigen Zustande liegen die anatomischen Ver-
hältnısse des Kanincheneierstocks für die Ovulation ausser-
ordentlich ungünstig, wie man leicht aus dem Bilde der Fig. 8
ersehen kann. Die von der dorsalen Fläche und der Gegend
des freien Randes des Ovarıums austretenden Eier liefen, wenn
sich das Tubengekröse während der Ovulation nicht über die
ganze Ausdehnung der KEierstocksoberfläche herüberziehen
würde, Gefahr, in die Peritonealhöhle zu geraten und hier
verloren zu gehen, da die Möglichkeit, dass sie dann vom
Flimmerepithel des Infundibulums erfasst und in das Tuben-
ostium übergeleitet würden, ausserordentlich gering ist (s. u.).
Zwar ist fast die ganze Oberfläche der mit Flimmerepithel
überkleideten Blätter des Infundibulums gegen die Peritoneal-
höhle gerichtet und ebenso sieht das Tubenostium selbst gegen
diesen Raum hin, aber man müsste notgedrungen annehmen,
dass die Eier erst wirklich in den freien Raum der Peritoneal-
höhle gelangen, ehe sie vom Tubenostium angesaugt werden
könnten; um sie direkt von der Ovulationsstelle an der Eier-
stocksoberfläche aufzulesen, dazu ist die Lage der abdominalen
Mündung des Eileiters und die des Infundibulums schlechter-
dings nicht geeignet. Andererseits aber ist gar nicht auszu-
denken, wie — immer die anatomischen Lagerungsverhältnisse
im nicht-brünstigen Zustande vorausgesetzt — Eier, die an
400 J. SOBOTTA,
der ventralen Seite des Eierstocks zutage treten, also in den
Raum der Ovarialtasche fallen, in die abdominale Tuben-
öffnung und in den Eileiter gelangen sollen, wenn man die
Wirkung des Flimmerstromes des Infundibulums dafür ver-
antwortlich machen will (Fig. 9* und 107).
Viel günstiger für die Eiaufnahme in die Tube liegen die
Verhältnisse nun im brünstigen Zustand; nicht bloss ist die
Ovarialtasche praktisch gegen die Peritonealhöhle als abge-
schlossen zu betrachten, so dass an ein Entweichen der Bier
in den Raum der freien Peritonealhöhle gar nicht zu denken
ist, sondern auch die abdominale Eileiteröffnung wird durch
die Lagerungsveränderung, die das Infundibulum erfährt, gegen
den Raum der Ovarialtasche oder vielmehr -kapsel gekehrt,
so dass die gleichen Verhältnisse zustande kommen wie bei
den Muriden und dem Meerschweinchen. Aus dem Periovarial-
raum können die Eier lediglich in den Eileiter gelangen;
jeder Versuch, aus der engen Kommunikationsöffnung mit der
freien Peritonealhöhle in die letztere zu entweichen, wird durch
den dieser Wegrichtung entgegenwirkenden Flimmerstrom ge-
hindert.
Es handelt sich nun auch für das Kaninchen um die
Frage, welche Kraft die Eier aus dem Periovarialraum in den
Eileiter befördert. Leider steht mir zur Entscheidung dieser
Frage nicht das gleich reichliche Beobachtungsmaterial zur
Verfügung wie von Muriden und dem Meerschweinchen, da
ich in der grossen Mehrzahl der Fälle mich der alten Methode
des Aufsuchens der Eier im Eileiter bediente. Immerhin ver-
füge ich über die Schnittserien von drei Tieren, deren Eier-
stöcke und Eileiter mit den bereits in die Tube aufgenommenen
Eiern lückenlos verarbeitet worden sind; zwei dieser Präpa-
rationen stammen aus der unvollendet gebliebenen Arbeit eines
meiner Schüler, eine dritte Serie habe ich vor langer Zeit
selbst angefertigt.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 41
Die bei diesen Präparationen gefundenen Eier zeigten
nahezu sämtlich das gleiche Entwickelungsstadium; die von
zwei Tieren waren soeben besamt worden, die des dritten
befanden sich auf einem ganz frühen Vorkernstadium. Es
handelte sich also um solche Entwickelungsstadien der Eier,
dass man annehmen muss, die Oocyten seien erst kurze Zeit
vorher in den Eileiter gelangt. Ist dies auf dem Wege der
Ansaugung geschehen, so war zu erwarten, dass sich eine
ähnliche Ausdehnung des betreffenden Tubenabschnittes finden
würde wie bei Muriden und dem Meerschweinchen.
In der Tat lässt sich diese Erscheinung, wenn auch ın
einer erheblich weniger starken Ausbildung, ebenfalls beim
Kaninchen, und zwar regelmässig nachweisen, wie Fig. 16
deutlich zeigt. Die in den Eileiter aufgenommenen Eier liegen
zusammen mit einer gewissen Menge von Flüssigkeit und
Epithelresten des Discus proligerus in einem deutlich erweiterten
Abschnitt des Tubenlumens; die Falten dieses Teils des Eiı-
leiters sind grossenteils verstrichen; zu einer nennenswerten
Abplattung des Epithels kommt es allerdings anscheinend nicht;
nur auf kurze Strecken scheint sich auch in den Buchten
zwischen den Faltenresten das Epithel etwas abzuflachen.
Bei der geringen Masse des mir zur Verfügung stehenden
Untersuchungsmaterials vom Kaninchen ist es leicht denkbar,
dass mir das Stadium, in dem die Ausdehnung des die Eier
enthaltenden Eileiterabschnittes sein Maximum zeigt, entgangen
ist, dass die Erscheinung also unter Umständen sich noch
in stärkerer Ausbildung bemerkbar macht; andererseits aber
wird man sich auch der Vorstellung nicht verschliessen können,
dass bei den Muriden mit ihrer vollkommen geschlossenen
Ovarialkapsel eine viel wirksamere Ansaugung des Inhaltes
des Periovarialraumes zustande kommen muss als beim Meer-
schweinchen und namentlich Kaninchen, bei denen auch zur
Brunstzeit der. Periovarialraum nicht völlig gegen die Perı-
402 J. SOBOTTA,
tonealhöhle abgeschlossen ist, und dass vielleicht wegen der
erösseren Zahl der Eier einer Ovulation durch die Anzahl
der Kontraktionen bzw. Erschlaffungen der Muskulatur des
Infundibulum tubae bzw. des M. mesenterii tubae die Masse
der angesaugten Flüssigkeit bei Muriden eine erheblichere
werden muss.
Es ist also bereits auf Grund dieser Befunde wahrschein-
lich, dass auch beim Kaninchen die Eier aus dem Periovarial-
raum angesaugt werden, zumal dafür noch andere Beobach-
tungen sprechen (siehe unten). Es handelt sich also bei meiner
Annahme, dass auch beim Kaninchen die Eier in gleicher
Weise wie bei Muriden und dem Meerschweinchen von seiten
des Eileiters aufgenommen werden, um keine Hypothese,
sondern um wine trotz der geringen Zahl direkter Beobach-
tungen kaum mehr zu bezweifelnde Tatsache.
Berücksichtigt man ferner, dass diese Tatsache für die fast
genau gleich liegenden Verhältnisse beim Meerschweinchen
sicher nachgewiesen ist und den Umstand, dass es kaum denk-
bar ist, dass ein von der ventralen Fläche des Kaninchen-
ovarıums austretendes Ei aus dem äÄussersten Winkel der
Ovarialtasche, welcher von der einen allein auf den Inhalt
des Periovarialraumes wirkenden Lippe des Infundibulums denk-
bar weit entfernt liegt, z. B. bei * in Fig. 9 oder bei 7 in
Fig. 10, nur durch die Wirkung des Flimmerstromes in die
abdominale Tubenöffnung geschafft werden kann, so ist diese
Annahme, dass auch beim Kaninchen die Eier mitsamt dem
Inhalt des Periovarialraums von seiten des Eileiters angesaugt
werden, zum mindesten gerechtfertigt; ja es muss ein solcher
Modus der Überleitung der Fier aus dem zur Zeit der Brunst
fast vollkommen geschlossenen Periovarialraum des Kanın-
chens in den Eileiter als höchstwahrscheinlich bezeichnet
werden.
Ferner wird man wohl mit Recht annehmen dürfen, dass
Anatomische Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). | Tafel 31/32,
Isthmische Tubarschlingen, dilatiert
Ei im Zweizellen-
stadium
sprungreifer Follikel Y
Ampulläre Tubar- &-—-
schlingen, nicht
dilatiert
unteres Eileitergekröse _
it Muskulatur SL „VE us __ Mi ________. Beginn der Dilatation der
mit Muskulatur
isthmischen Tubarschlingen
Ampulläre Tubarschlinge, ganz wenig
. dilatiert
Iufundibulum
mpulläre Tubar- ©
schlinge nahe dem
Ostium abdominale,
oz wenig dilatiert
Bileiterschlinge
— = Mesovarium
unteres Bileitergekröse- ”
init Muskulatur
Ampulläre Tubarschlinge, N)
stark dilatiert L = h
Eier im frühen Vorkernstadium
Fig. 14.
porn in Wieshar
Verlag von J. F len.
en ng
Er
r
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ele. 403
Kontraktionen der Muskulatur des Eileitergekröses namentlich
beim Kaninchen und ganz besonders wiederholte derartige Zu-
sammenziehungen auf den Inhalt des fast geschlossenen Peri-
ovarialraumes in dem Sinne einwirken, dass dieser Inhalt, also
auch die ovulierten Eier dahin ausweichen, von wo aus ihnen
kein Widerstand entgegengesetzt wird, d. i. gegen das Ostium
abdominale tubae.
Überblicken wir also nochmals, was wir in der Lösung
der ersten in dieser Mitteilung zu erörternden Frage, der Art
und Weise, wie die Bier vom Eierstock in den
Eileiter übertreten, ermitteln konnten, so ist nicht
bloss für die Muriden mit ihrer dauernd und vollkommen ‚ge-
schlossenen Ovarialkapsel der Nachweis geführt worden, dass
die ovulierten Eier durch Ansaugung seitens des abdominalen
Eileiterabschnittes ın diesen aufgenommen werden, und dass
der Flimmerstrom für diesen Vorgang zum mindesten nicht
notwendig, womöglich sogar nicht ausreichend ist, sondern
es liess sich beim Meerschweinchen mit der gleichen Bestimmt-
heit, beim Kaninchen mit allergrösster Wahrscheinlichkeit
nachweisen, dass bei diesen beiden Nagern trotz der weit
offenen Ovarialtasche der Vorgang sich in gleicher Weise ab-
spielt, indem zur Zeit der Brunst ein so gut wie vollkommener
Abschluss des Periovarialraums gegen die freie Peritonealhöhle
zustande kommt.
Bedenkt man nun, dass für viele Säugetiere die anatomi-
schen Beziehungen zwischen Bierstock und Eileitergekröse noch
viel günstiger liegen als beim Kaninchen und dem Meerschwein-
chen, insofern als erstlich bei einer allerdings verhältnismässig
kleinen Anzahl von Säugetieren die gleichen Verhältnisse vor-
kommen wie bei den Muriden, zweitens bei einer ganzen
Reihe wie dem Hunde, manchen Chiropteren, Insektivoren und
Pinnipediern u. a. zwar keine (im nicht-brünstigen Zustande)
vollkommen geschlossene Ovarialkapsel vorkommt, aber doch
404 J. SOBOTTA,
eine solche mit einer nur ganz kleinen Öffnung gegen die
freie Peritonealhöhle hin, so wird man sich der Einsicht kaum
verschliessen können, dass die Vorbedingungen für eine An-
saugung der Eier aus dem fast vollständig geschlossenen Per-
ovarialraum ungemein günstig liegen, zumal wenn man be-
rücksichtigt, dass anscheinend auch bei diesen eine zur Zeit
der Brunst wirksame Muskulatur vorhanden ist, da nach An-
gaben älterer Autoren (s. 0. S. 378) die kleine Öffnung der
Ovarialkapsel des Hundes sich zur Zeit der Brunst noch weiter
verkleinert und der Periovarialraum sich mit Flüssigkeit füllt.
Ich möchte ferner auf die eigenartigen Beobachtungen von
Zuckerkandl (24) aufmerksam machen, dass es auch
Ovarialtaschen bei manchen Säugetieren gibt, in denen —— ım
nicht-brünstigen Zustande das Ovarıum nicht enthalten ist:
die Tasche lässt sich aber auch leicht über den Eierstock
herüberstülpen (Esel). Oder bei anderen Equiden und zum
Teil auch einigen entfernteren Säugern liegt der Eierstock und
zum Teil auch das Infundibulum ausserhalb emer Ovarial-
tasche oder -Kapsel, deren zu kleine Öffnung die Aufnahme
des Ovariums nicht gestattet. Oder bei einigen Affenarten steckt
der Eierstock in einer Ovarialtasche, aus der er sich aber
leicht herausholen lässt, bei einigen anderen dagegen ist die
Tasche leer. Nun beziehen sich die Darstellungen von Zucker-
kandl sämtlich auf den nicht-brünstigen Zustand der Ge-
schlechtsoreane; wir hatten aber oben Gelegenheit gehabt, bei
zwei Nagerspecies die recht erheblichen Veränderungen zu be-
trachten, welche die anatomischen Lagebeziehungen von EKier-
stock und Ovarialkapsel — oder richtiger gesagt Rileiter-
gekröse — zur Zeit der Brunst durch die Wirkung der Musku-
latur der Ovarialadnexe erleidet; wir sahen, dass sich eine
weit offene Tasche in eine geschlossene Kapsel verwandelt.
Es liegt wohl ausserordentlich nahe, anzunehmen, dass
beim Esel muskuläre Einrichtungen vorhanden sind, die die
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 405
Ovarialtasche zur Zeit der Brunst über den Eierstock herüber-
ziehen, oder dass auch eine solche Tasche mit zu kleiner
Öffnung durch Muskelwirkung soweit geöffnet werden kann,
dass Ovarium und Infundibulum in ihr Platz finden, oder
dass bei denjenigen Affen, bei denen im nicht-brünstigen Zu-
stand der Rierstock nicht wie bei Verwandten in der Ovarial-
tasche liegt, jener zur Zeit der Brunst hineingezogen werden
kann. Da weder das Verhalten im brünstigen Zustand bis-
her bekannt ist, noch auch die Verhältnisse der Muskulatur
der Ovarialadnexe bei diesen Species studiert worden sind,
lassen sich zurzeit nur Vermutungen äussern. Hier bietet sich
ein dankbares Feld für weitere Untersuchungen.
Ich erwähne hier noch ganz beiläufig, dass auch Zucker-
kandl (24) die Auffassung vertritt, dass die Ausbildung von
Ovarialtaschen bei Säugetieren die Überleitung der Bier vom
Eierstock zum Eileiter erleichtere, ohne aber der Frage näher
zu treten, in welcher Weise diese Erleichterung der Aufnahme
der Eier in die Tube zustande kommt. Etwas mehr hat sich
U. Gerhardt (5) mit dieser Frage auch vom physiologischen
Standpunkte aus beschäftigt, aber auch ihm ist der muskuläre
Apparat, der, wie wir oben gesehen haben, eine so grosse
Rolle spielt, unbekannt geblieben; er vermutet vielmehr, dass
es ein Hyperämiezustand der Fimbrien des Infundibulums ist,
welcher die Öffnung der Kapsel verschliesst.
Ferner will ich noch ganz kurz darauf aufmerksam machen,
dass Zuckerkandl (24) in seiner vergleichend anatomischen
Abhandlung über die Ovarialtaschen der Säugetiere mehrere
Fälle erwähnt, in denen er ausdrücklich die für die Aufnahme
der Eier in den Rileiter durchaus ungünstige Lagerung des
Infundibulum tubae beschreibt; wir hatten oben gesehen, dass
in der Tat — wenn auch in geringerem Grade — beim Meer-
schweinchen und Kaninchen der Trichter und die abdominale
Mündung der Tube im nicht-brünstigen Zustande eine wenig
406 I. SOBOTTA,
oeeignete Lagerung für die Aufnahme der von der Bierstocks-
oberfläche austretenden Eier besitzen, dass aber durch die
Wirkung der Muskulatur während der Brunst auch dieses Lage-
rungsverhältnis eine Korrektur erfährt.
Ich habe also oben an der Hand eines geeigneten Materials
zeigen können, dass die früher von mir (17, 18) beschriebenen |
Vorgänge der Ovulation und Aufnahme der Bier bei den Muriden
durchaus keine Ausnahme darstellen, dass man vielmehr auch
bei Säugetieren mit wesentlich anders gestaltenden Lagerungs-
beziehungen der Ovarialadnexe zu ganz gleichen Ergebnissen
geführt wird, wenn man ım Zustande der Brunst untersucht.
Auch beim Meerschweinchen lässt sich das Ergebnis des An-
saugungsvorganges der Eier durch den abdominalen Abschnitt
des Eileiters sicher nachweisen und für das Kaninchen sind
wir mindestens zu der gleichen Schlussfolgerung berechtigt.
Ob dem Flimmerstrom überhaupt eine nennenswerte Bedeu-
tung für den Transport der Eier ın den Eileiter zukommt,
muss angesichts der oben mitgeteilten Tatsachen bezweifelt
werden.
Nun stützen sich die Angaben, welche der Flımmerbewe-
gung, die von seiten des Infundibulums ausgeht, die Haupt-
rolle bei der Eiaufnahme in den Eileiter zuschreiben oder
diese sogar allein dafür verantwortlich machen wollen, teils
auf die Angaben älterer Untersucher der Befruchtungs- bzw.
Ovulationsvorgänge des Säugeltiereies, teils auf die Ergebnisse
der experimentellen Untersuchungen von Lode (10), die auch
(Grosser (4) neuerdings wieder hervorholt. Dass die älteren
Untersucher dieser Vorgänge, denen in der Regel auch nur
ein sehr geringes Material zur Verfügung stand, durch die
wenig geeignete Untersuchungsmethode zu keinem sicheren Er-
gebnisse kommen konnten, wurde schon oben (S. 369) aus-
einandergesetzt. Immerhin haben sich doch auch einige der
älteren Beobachter in einem Sinne ausgesprochen, der unserer
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 407
Anschauung zum mindesten nahe kommt; so gibt z. B.
Reichert bei seinen bekannten Untersuchungen über die
ersten Entwickelungsvorgänge des Meerschweinchens an, dass
das Ei mehr durch Wirkung der Muskulatur als durch die
des Flimmerstromes in den Bileiter aufgenommen wird.
Etwas näher muss ich mich bei der Kritisierung der Ver-
suche von Lode (10) aufhalten. An und für sich war es
entschieden eine gute Idee, Versuche der Art anzustellen, wie
sie von Lode zum ersten Male vorgenommen wurden; nur
hätte er sich mehr um die anatomischen Verhältnisse der
Bierstöcke und ihrer Adnexe bei seinem Versuchsobjekt
kümmern sollen. Lode spritzte nämlich Spulwurmeier, die
mit ihrer Hülle gemessen mindestens die gleiche Grösse be-
sitzen wie die kleinsten Säugetiereier!) in die Peritonealhöhle
von (nicht-brünstigen) Kaninchen; nach relativ kurzer Zeit fand
er eine grössere Anzahl der Eier im Eileiter wieder. Ausser-
dem stellte Lode fest, dass die Ascariseier durch den Flim-
merstrom des Rachenepithels des Frosches bewegt werden.
Lode zieht aus seinen Versuchen den Schluss, dass man
dem Flimmerstrom des Infundibulums die Kraft zutrauen könne,
Körper von der Grösse des Kanincheneies in die Tubenöffnung
zu befördern.
Zunächst muss gegen die Versuchsanordnung von Lode
eingewandt werden, dass er an nicht-brünstigen Tieren operiert
hat, bei denen, was ıhm natürlich ganz unbekannt war, die
anatomischen Beziehungen des Eierstocks zu seinen Adnexen
ganz andere sind als zur Zeit der Brunst. Die Resultate,
die seine Versuchsanordnung ergab, sind also nicht ohne
weiteres auf die Verhältnisse der Biaufnahme in den Kileiter
verwendbar. Die Eier des Kaninchens, die den Bierstock ver-
lassen, werden gerade nıcht in die Peritonealhöhle entleert,
!) Lode gibt übrigens die Grösse der Eier der Maus und Ratte viel zu
hoch an; er irrt sich also sogar zu seinem Ungunsten.
408 J. SOBOTTA,
wie das der Fall sein müsste, wenn die Lodeschen Versuche
unmittelbar zum Vergleich herangezogen werden könnten, son-
dern in den Periovarialraum, wie wir oben gesehen haben;
und es dürfte nach der anatomischen Anordnung der in Frage
kommenden Organe so gut wie ausgeschlossen sein, dass ein
Ri des Kaninchens in die freie Peritonealhöhle entweicht.
Die — übrigens meiner Ansicht nach in viel zu geringer
Zahl und in nicht genügend Zeitintervallen angestellten —
Versuche von Lode (er machte solche nur bei zwei Tieren)
beweisen also nur, dass Fremdkörper von einem Durchmesser,
der dem der kleinsten Säugetiereier etwa gleichkommt, deren
Volumen aber nur etwa den 6. bis 8. Teil des Kaninchen-
eies misst, aus der freien Peritonealhöhle in den Eileiter auf-
senommen werden können. Dafür aber, dass die Aufnahme
der Eier durch die Wirkung des Flimmerstroms des Infundi-
bulums oder der Tube erfolgt, wird auch nicht der Schatten
eines Beweises erbracht. Es wird das vielmehr aus einer ganz
anderen Versuchsanordnung gefolgert, nämlich daraus, dass
der auf der freien und relativ glatten Oberfläche der Rachen-
schleimhaut des Frosches wirkende Flimmerstrom die gleichen
Körper (Ascariseier) zu bewegen imstande ist, die für den
Hauptversuch verwendet wurden, wenn diese der Oberfläche
der flimmernden Schleimhaut unmittelbar aufliegen.
Leider werden nun gar keine anatomischen Daten über
den Zustand der Ovarien und ihrer Adnexe der verwendeten
Kaninchen zur Zeit der Beendigung der Versuche von seiten
Lodes gebracht. Es ist daher nicht leicht, die wirklichen
Geschehnisse bei den Lodeschen Experimenten klarzustellen.
Ehe ich der Frage nähertrete, wie vielleicht die Aufnahme
der in die Peritonealhöhle injizierten Ascariseier in die Tuben
des Kaninchens stattgefunden haben könnte, möchte ich voraus-
oreifend den einen — und wie mir scheint — sehr wesent-
lichen Befund von Lode beleuchten. Obwohl in dem einen
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 409
der beiden Versuche das Kaninchen schon 10 Stunden nach
der Einspritzung der Eier in die Peritonealhöhle getötel wurde,
fanden sich bereits fast alle Eier im mittleren Abschnitt des
Kileiters, nur wenige im Anfangsteil und vor allem gar keines
auf dem Infundibulum !).
Wie sind nun die Ascariseier aus der Peritonealhöhle ın
den Eileiter gelangt? Dass sie überhaupt einen Ausweg aus
dem Raum der Peritonealhöhle gefunden haben, verdanken
sie vielleicht zunächst einer Verschiebung durch die Darm-
peristaltik und sicher wohl auch zum Teil dem durch das
Flimmerepithel des Infundibulums erzeugten Flimmerstrom.
Wir hatten ja oben bereits gesehen, dass im nicht-brünstigen
Zustande des Tieres die ganze flimmernde, aus zahlreichen
Blättern bestehende Oberfläche des mächtigen Infundibulum
tubae des Kaninchens gegen die Peritonealhöhle hin gerichtet
ist. Dadurch wird wohl bestimmt ein gegen das Ostium abdomi-
nale tubae gerichteter Flimmerstrom im benachbarten Abschnitt
der Peritonealhöhle des Kaninchens erzeugt, der frei in dieser
schwimmende Körper von einer solchen Grösse, dass ihr Trans-
port durch den Flimmerstrom überhaupt möglich ist — und
das scheint bei den von Lode benutzten Ascariseiern wohl
der Fall zu sein —, mit sich reisst, wenn diese in der Nähe
des Ostium tubae liegen. Ob die: Kraft des Flimmerstroms
aber imstande ist, die Eier aus entfernteren Teilen der Peri-
tonealhöhle an die Tubenöffnung heranzuziehen, ist zum
mindesten fraglich.
Ist es nun aber auch der Flimmerstrom, der die Eier
in den Eileiter selbst befördert? Wie schon gesagt, gibt der
Versuch von L ode darüber keinen Aufschluss. A priori könnten
zweierlei Möglichkeiten in Betracht kommen; erstlich der
gleiche Flimmerstrom, der die Eier aus dem benachbarten Teil
!) Ich komme unten (S. 410) auf diesen Teil der Ergebnisse von Lode
zurück.
410 J. SOBOTTA,
der Peritonealhöhle bis an das Tubenostium geholt hat, könnte
auch in der Weise wirksam gewesen sein, dass die Eier nicht
am Tubenostium Halt gemacht haben müssten, sondern er
hätte auch den Transport der Eier bis an den Punkt des
Kileiters bewerkstelligt, in dem sie von Lode gefunden worden
sind. Die in Frage kommende Strecke der Eileiterschleimhaut
besitzt ja in der Tat Flimmerepithel.
Die zweite Möglichkeit, die in Betracht käme, wäre die,
dass die Eier von dem Tubenostium aus angesaugt worden
sind; dabei kann man sich vorstellen, dass ihre Berührung
mit den Blättern des Infundibulums einen gleichsam reflek-
torischen Reiz auf die Eileitermuskulatur ausübt, oder dass
es in ähnlicher Weise wie bei der Ovulation der Muriden zu
einer Ansaugung der Bier aus dem durch Wirkung der Tubar-
oekrösemuskulatur (s. ©. S. 370) geschlossenen Raum der
Bursa ovarıı kommt. |
Wenn auch aus den Ergebnissen der Lodeschen Ver-
suche nichts Sicheres hervorgeht, wie die Aufnahme der Ascaris-
eier in die Tube erfolgt sein könnte, so spricht doch eine
Tatsache ganz ausserordentlich stark gegen die Annahme der
Wirkung der Flimmerbewegung. Bei beiden Versuchen von
Lode war das Ergebnis nämlich genau das gleiche, obwohl
das eine Mal das Versuchstier schon nach 10 Stunden, das
andere Mal aber erst nach 36 Stunden getötet worden war;
die in den Eileiter aufgenommenen Ascariseier fanden sich
nämlich fast ausnahmslos im ‚mittleren‘ Abschnitte der Tube ;
kein einziges lag in dem uterinen Drittel des Eileiters!) und
1) Die Angaben von Lode über den Ort, in dem sich die injizierten Ascaris-
eier im Eileiter der Versuchskaninchen vorfanden, sind nicht ganz klar; jeden-
falls fand sich eine Strecke von 2 em vom ÖOstium uterinum entfernt gänz-
lich frei von Eiern. Da die Länge des Eileiters eines grossen Kaninchens
aber nur 5-6 cm beträgt — kleine Rassen haben kürzere Tuben —, so war also
bei beiden Versuchen von Lode zum mindesten das uterine Drittel des
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere ete. 411
vor allem — das, worauf es uns jetzt am meisten ankommt —
nur vereinzelt fanden sich in dem abdominalen, an das In-
fundibulum grenzenden Bereich vor, insbesondere lag keines
— auch nicht ein einziges bei dem bald nach dem Experiment
getöteten Kaninchen — auf den Falten des Infundibulums oder
überhaupt in dessen Bereich.
Wäre es der Flimmerstrom ‘oder dieser allein, der die
Ascariseier aus der Peritonealhöhle in den Eileiter befördert
oder wenigstens die Bier vom Infundibulum in die Tube ge-
schafft hätte, so müsste man erwarten, dass dieser Transport
entsprechend der geringen Geschwindigkeit der Flimmerbewe-
gung einerseits und der zurückgelegten, nicht unbeträchtlichen
Wegstrecke andererseits eine geraume Zeit in Anspruch nehmen
müsste: dass dann 10 Stunden nach erfolgter Injektion der
Bier in die Peritonealhöhle die Eier schwerlich schon die
Mitte der Eileiterlänge erreicht haben könnten, wenn der Trans-
port ausschliesslich durch den Flimmerstrom erfolgt wäre.
Ferner sollte man meinen, dass der Flimmerstrom die Eier,
die sich in der Peritonealhöhle vermutlich doch sehr stark
zerstreut haben, einzeln erfassen wird, wenn sie aus irgend-
welcher Ursache in die Nähe des Ostium abdominale tubae
gelangi sind, so dass man erwarten dürfte, dass bei Aul-
nahme der Eier in den Eileiter durch Wirkung des Flimmer-
stromes diese zum mindesten auf eine grössere Strecke des
abdominalen Endes der Tube verteilt getroffen werden müssten,
wenn man nicht sogar einzelne Eier noch auf dem Infundi-
bulum selbst vorfinden würde. Der Umstand aber, dass fast
alle Eier auf einen verhältnismässig kurzen Bereich der Tube
zusammengedrängt angetroffen wurden, und zwar bei beiden
Versuchen, spricht doch ın hervorragendem Masse für die An-
Bileiters ganz frei und die ganze uterine Hälfte fast frei von Eiern; wie weit
vom abdominalen Ende entfernt die ersten Eier angetroffen wurden, lässt
sich aus den Angaben von Lode nicht genau übersehen.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd. H. 2). 2
412 J. SOBOTTA,
saugungstheorie. Leider gibt Lode über den Zustand des
Bileiterabschnittes, in dem es die Eier fand, gar keine Aus-
kunft: insbesondere wird nichts davon erwähnt, ob dieser etwa
dilatiert war. Lode hat diesen Punkt vielleicht auch gar
nicht beachtet.
Leider liegen nur zwei Versuche von Lode vor und bis-
her sind die Experimente auch von keiner anderen Seite wieder-
holt worden. Lode stand anscheinend so unter dem Bin-
drucke der herrschenden Flimmerstromtheorie, dass er ange-
sichts der überraschend guten positiven Resultate seiner Ver-
suche eine Wiederholung dieser für unnötig hielt. Auch ist
es Lode anscheinend unbekannt geblieben, dass ich (18)
schon vor Erscheinen seiner Veröffentlichung auf die Wahr-
scheinlichkeit aufmerksam gemacht habe, dass die Kier der
Maus von dem Bileiter angesaugt werden; meine ausführliche
Publikation, in der ich diese Anschauung zum ersten Male
bestimmt formulierte, erschien erst ein Jahr nach der Mit-
teilung von Lode.
Ich habe nun die Versuche von Lode nachge-
prüft, und zwar nicht beim Kaninchen, sondern beim Meer-
schweinchen. Ich wählte das letztere als Versuchstier,
weil ich die natürlichen Bedingungen möglichst genau nach-
ahmen wollte. Das Ei von Ascaris megalocephala, das ich
benutzte, ist (mit Schale gemessen) wesentlich kleiner als das
Kaninchenei (s. 0. S. 408), dagegen ungefähr genau so gross
wie das des Meerschweinchens (mit der Zona pellucida ge-
messen); ferner bleibt die Grösse des Meerschweincheneies
während seiner Tubenwanderung sich gleich, während das des
Kaninchens sich durch die Bildung der Gallerthülle (s. u. 5. 419)
gewaltig während seiner Bileiterwanderung vergrössert. Aller-
dings ist es nötig Ascariseier (A. megalocephala) aus dem
untersten Teil der FEiröhren zu entnehmen, wo die Bier be-
reits in Furchung sind; erst in diesem Stadium besitzen sie
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 413
(samt Hülle) den gleichen Durchmesser wie Meerschweinchen-
eier oder der Grössenunterschied ist wenigstens ein so ge-
ringer, dass er praktisch ausser acht gelassen werden kann !).
Meine Versuche sind nun sämtlich vollkommen
negativ ausgefallen, obwohl ich sie vor kurzem bei vier
erwachsenen Tieren noch einmal wiederholt habe und im Gegen-
satz zu meinen ersten Experimenten, bei denen ich mich mit
einer einzigen Einstichstelle und dementsprechend einer einzigen
Injektion begnügte, an drei verschiedenen Stellen der Bauch-
wand, nämlich ın, links und rechts von der Mittellinie je einen
Kubikzentimeter sterilisierter physiologischer Kochsalzlösung,
die viele Tausend Ascariseier enthielt, injizierte. Die Tiere er-
trugen die Injektion sehr gut; es zeigte sich auch ın der
Peritonealhöhle nach dem Versuche keine Spur einer Reak-
tion. Die Tiere wurden 4-59 Stunden nach der Injektion
getötet. Es konnte in allen ‚Fällen die Einstichstelle am parie-
talen Bauchfell noch erkannt werden; es war die Injektion
sicherlich also bis in die Peritonealhöhle gelangt, was sich
auch leicht beim Einstich durch das Gefühl und den Weg
der Kanüle feststellen liess. Dass die Injektion nicht etwa
in den Darm gegangen war, liess sich auch leicht nachweisen,
wie überhaupt die Ausführung des ganzen Versuches gar keine
Schwierigkeiten macht.
Worauf das absolut negative Ergebnis beruht, ist mir
gegenüber den so positiven Resultaten, die Lode erhalten
hat, nicht erklärlich. Es kann das natürlich an der Species
des Versuchstieres liegen; die sehr hohe und ungünstige Lage-
rung des Eierstockes des Meerschweinchens spielt dabei wohl
sicher eine Rolle. Andererseits muss auch berücksichtigt
werden, dass Lode nur zwei Versuche angestellt hat, und
!) Die von Lode zu seinen Versuchen benutzten Eier waren anscheinend
etwas kleiner.
27*
414 J. SOBOTTA,
dass immerhin die Möglichkeit vorliegt, dass gerade in diesen
beiden Fällen ausserordentlich günstige Umstände vorgelegen
haben, die eine Annäherung der injizierten Eier an die Tuben-
ostien herbeigeführt haben könnten. Der Umstand, dass mehrere
der von mir benutzten Tiere, wie sich erst bei der Obduktion
herausstellte, trächtig waren, dürfte auch kaum ins Gewicht
fallen, zumal in der Mehrzahl nur das eine Uterushorn Em-
bryonen enthielt.
Da ich im zweiten Teile meiner Mitteilung nochmals auf
die Versuche von Lode zu sprechen komme und dabei (Ge-
legenheit finden werde, nachzuweisen, dass der Flimmerstrom
auch für den Transport der Eier durch den Eileiter nicht in
Frage kommen kann, darf ich diese Betrachtung hier ab-
brechen.
Ziehe ich die Schlussfolgerungen aus dem oben Mitge-
teilten, so können wir als sicher bewiesen annehmen, dass
bei den Muriden die Aufnahme der Eier in.den Eileiter durch
Ansaugung dieser seitens des abdominalen Endes des Eileiters
vor sich geht; die Eier gelangen auf diese Weise wahrschein-
lich ohne jede Beteiligung des Flimmerstroms in die Tube
und finden sich hier unmittelbar nach erfolgter Ansaugung
innerhalb der mitangesaugten Flüssigkeitsmenge im Anfangs-
teile des Ganges, aber eine gewisse Strecke von der Mündung
entfernt.
Mit fast derselben Sicherheit liess sich für das Meer-
schweinchen der gleiche Modus der Eiaufnahme in die Tube
feststellen; die offene Bursa ovarıiı wird dabei durch Kon-
traktion der Muskulatur des Mesenterium tubae geschlossen.
Für das Kaninchen wurde der Nachweis geführt, dass sıch
auch bei diesem die sehr weit offene Bursa ovarlı zur Zeit
der Ovulation durch Wirkung der Muskulatur ihrer Wand so
gut wie völlig schliesst; dass auch beim Kaninchen die ovu-
lierten Eier seitens des Ostium abdominale tubae angesaugt
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 415
werden, konnte zum mindesten als sehr wahrscheinlich hin-
gestellt werden.
Es kann nun nicht meine Aufgabe sein, die Frage zu
erörtern, auf welche Weise die Aufnahme der Eier in die
abdominale Öffnung der Tube bei denjenigen Säugetieren vor
sich geht, die wie der Mensch keine Hilfseinrichtung in Ge-
stalt einer (verschliessbaren) Bursa ovarıı besitzen. Solange
nicht Beobachtungen über das Verhalten von Eierstock und
Eileitermündung zur Zeit der Brunst und Ovulation vorliegen,
solange nicht die unter Umständen in Betracht kommenden
Hilfseinrichtungen näher studiert sind, wäre das ein ebenso
müssiges Beginnen wie die theoretischen, auf keiner tatsäch-
lichen Beobachtung fussenden Mitteilung der früheren Lite-
ratur. Ich verweise in dieser Hinsicht z. B. auf die Angaben
von Hasse (6); solche absolut jeder tatsächlichen Grundlage
entbehrenden und rein theoretischen Erörterungen können
keinen Anspruch auf Beweiskraft erheben.
Immerhin möchte ich nicht unterlassen, darauf aufmerk-
sam zu machen, dass in den Fällen, in denen eine Ovarial-
tasche völlig fehlt, auch andere Sicherungseinrichtungen an
deren Stelle treten können, die eine geregelte Aufnahme der
Eier in die abdominale Öffnung der Tube garantieren. So
ist bei den Monotremen, den Beuteltieren und Cetazeen der
ganze Kierstock von dem mächtig entwickelten Infundibulum
vollständig umfasst und damit die Einrichtung einer Bursa
ovarıı überflüssig. Ferner erinnere ich an die merkwürdige
Einrichtung des mächtigen Pferdeeierstockes, der eine besondere
Ovulationsgrube besitzt, dem das relativ kleine Infundibulum
gegenübersteht. In diese Grube ovulierte Eier — und ein anderer
Modus ist ausgeschlossen — können mit Leichtigkeit vom In-
fundibulum aus aufgenommen werden (wahrscheinlich durch
Ansaugung).
Wenn wir nun vorläufig für einzelne Säugetiergattungen
416 J. SOBOTTA,
und -Arten auch noch nicht imstande sind, den Mechanismus
der Eiaufnahme in den Eileiter befriedigend zu erklären, so
muss eben berücksichtigt werden, dass es auch an positiven
Beobachtungen noch vollkommen fehlt. Es zeigt ja das Ver-
halten des Eileitergekröses zur Zeit der Brunst und Ovulation
oft ein ganz anderes Verhalten als im sexuellen Ruhezustande;
wer hätte bisher den fast vollkommenen Verschluss der Ovarial-
kapsel des Kanincheneierstocks auch nur für möglich gehalten
nach dem Verhalten der Bursa ovarıı zur Zeit der sexuellen
Ruhe.
Immerhin enthält auch die ältere Literatur bereits ver-
einzelte Beobachtungen, die eine durch aktive Muskelbewegung
erzeugte Lagerungsveränderung des Tubentrichters angeben ;
für einige Haussäugetiere hat K. E. v. Bär und Joh.
Müller schon vor langer Zeit positive Angaben in dieser
Hinsicht gemacht; für das Meerschweinchen hat Hensen (7)
Bewegungen des Infundibulums feststellen können.
Noch eine weitere Angabe der Literatur möchte ich streifen ;
es handelt sich um die durchaus zutreffende Beobachtung von
U. Gerhardt (5), dass je stärker sich die Bursa ovarli zur
Kapsel schliesst, um so kleiner das Infundibulum wird. So
hat das Kaninchen mit seiner relativ weit offenen Ovarıal-
tasche auch einen viel mächtigeren Tubentrichter als das
Meerschweinchen und bei den Muriden mit ihrer vollkommen
geschlossenen Kapsel bildet sich das Infundibulum noch mehr
zurück. Gerhardt, der wie alle Voruntersucher keine Kennt-
nis der Muskulatur des Eileitergekröses und ihrer Wirkung
bei der Ovulation besass und daher neben der Wirkung der
Eileitermuskulatur auch der Flimmerbewegung eine gleich-
bedeutende Rolle zuschreibt, etwa in der Art, wie sich auch
Gegenbaur in seinem Lehrbuch der Anatomie ausspricht,
macht mit Recht auf die eine der Funktionen aufmerksam,
die ich auch oben (S. 400) dem flimmernden Infundibulum
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der
Säugetiere etc. 417
des Kaninchens zugeschrieben habe, nämlich den Ausgang aus
der Bursa zu bewachen, um Eiern den Austritt in die freie
Peritonealhöhle zu verwehren. Dass dieser Ausgang aber auch
beim Kaninchen zur Zeit der Ovulation nur ein ganz enger
Spalt ist, das konnte Gerhardt nicht ahnen.
P)
II.- Über den Mechanismus des Transportes der Eier der
Säugetiere durch den Eileiter.
Über die Art und Weise, wie die Eier der Säugetiere
nach ihrer Befruchtung den Eileiter passieren, um in den Uterus
zu gelangen, welche Kraft es ist, die sie durch die Tube
treibt, wie lange Zeit sie für diesen Weg gebrauchen und
welchen Entwickelungsgrad sie dabei erreichen, darüber habe
ich kürzlich in der oben erwähnten kleinen Mitteilung von
mir (21) ziemlich erschöpfende Angaben gemacht.
Ich gebe hier zunächst in Kürze das wieder, was ich
zusammenfassenderweise in diesen Punkten feststellen konnte:
1. Die Dauer der Durchwanderungszeit des Eies durch
den Eileiter der Säugetiere ist völlig unabhängig von der
Grösse des betreffenden Tieres und damit von der Länge der
Tube.
2. Ebenso ist die Dauer des Aufenthaltes des Säugetier-
eies im Eileiter völlig unabhängig von der Tragzeit des be-
treffenden Tieres.
3. Das Entwickelungsstadium, welches das Säugetierei
während seines Aufenthaltes im Eileiter erreicht, steht in
keinem Verhältnis zur Dauer seines Aufenthaltes in der Tube !).
4. Die Dauer des Aufenthaltes des Säugetiereies im Ei-
leiter ist unabhängig von der Grösse des Eies.
1) Dieses variiert sogar ausserordentlich stark. Bei manchen Beutel-
tieren beginnt die Furchung überhaupt erst im Uterus, bei anderen tritt das
Ei in einem ganz frühen Furchungsstadium in den Uterus über (Schwein),
bei den Gürteltieren entwickelt es sich im Eileiter bereits bis zum Stadium
einer Keimblase mit weitgehender Differenzierung.
418 J. SOBOTTA,
5. Die Dauer des Aufenthaltes der Eier der verschiedenen
Säugetiere in der Tube beträgt (mit Ausnahme des Eies des
Hundes) bei allen bisher untersuchten Species und unabhängig
von den unter 1-4 aufgezählten Verhältnissen rund drei Tage.
Mit Rücksicht auf diese Feststellungen und im Hinblick
auf die Tatsache, dass der grösste Teil der Länge des Tuben-
rohres bei manchen Säugetieren wie bei den Muriden gar
kein Flimmerepithel trägt, hatte ich den Schluss gezogen, dass
die Säugetiereier nicht mittels der Flimmerbewegung durch
den Eileiter befördert werden, sondern durch die Kraft der
Muskulatur der Tube, auf deren relativ mächtige Ausbildung
namentlich im uterinen Abschnitt des Ganges ıch hinwies.
Besonders führte ich auch gegen die Hypothese der Wirkung
des Flimmerstromes auf den Transport der Eier den Umstand
ins Feld, dass selbst bei der gleichen Species die verschiedenen
Abschnitte des Rileiterrohres sehr ungleich schnell durchwandert
werden.
Grosser (4) hat nun in der oben zitierten Mitteilung
zum Teil gegen meine Anschauung Stellung genommen, wenn
er ihr auch einige Konzessionen macht. Vor allem hält aber
(Krosser daran fest, dass die Eier der Säugetiere zum
mindesten durch einen Teil, und zwar den Hauptabschnitt der
Tube mit Hilfe des Flimmerstroms befördert werden, wobei er
als Beweis die oben (S. 410) bereits erwähnten Versuche von
lLode (10) heranzieht. Ich will an diesen Punkt der Erwide-
rung von Grosser gleich anknüpfen. Die Lodeschen Ver-
suche ergeben nämlich absolut keine Stütze für die Flimmer-
theorie: im Gegenteil sie sprechen, wie ich gleich zeigen werde,
eher gegen diese.
Wie schon oben erwähnt, gelang es Lode bei Kaninchen
experimentell Ascariseier in die Peritonealhöhle der Versuchs-
liere zu injizieren, die er nach verhältnismässig kurzer Zeit
im Eileiter wieder fand. Diese Eier lagen aber in den beiden
Anatomische Hefte, I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2.)
Liquorstreifen
aus der Riss-
Diuipulen stelle des Folli-
rt kels austretend Bileiter.
1 Se schlingu
_ Eileiter-
Kekröse
mit Mus-
kulatur
_--soeben geplatzter
Follikel
-- Eileiterschlinge
reifor
(an-
geschnitten)
">> -unteres Bileiter-
gekröse
Muskulatur des
Mesenterium tubae
Fig. 10.
isthmische
Schlingen des
Ampulläre Schlingen E7- Bileiter
des Bileiters
Verlag von J.
F. Beffmann in w,
Tafel 33/34.
Infundibulum
_— Ostium abdomi-
= nale tubae
„ Graaffscher
Follikel
Margo liber ovarii
oberes Bileiter- =
gekröse
Bileiter
Facies dorsalis
ovarii
Tacies ventralis
ovarli
unteres Eileiter-"
gekröse
Margo meso-
varicus
Bursa ovarii
Mesoyarium
Fig. 8.
„„Infundibulum
istimische Tubar-
schlinge
Ei im frühen Vor- \
gornafätum Ampulläre Tubar-
schlinge nahe dem
Tufundibulum
w
stark dilatierte, ampulläre Tubarschlingo
Fig. 12.
iesbaden,
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 419
von Lode angestellten. Versuchen ungefähr an der gleichen
Stelle des Eileiters (Mitte nach Lode) angehäuft; sie fehlten
beide Male im uterinen Drittel völlig, im abdominalen fasi
völlig. Ich habe oben bereits angeführt, dass nichts dafür
spricht, dass die Eier hierin durch Flimmerbewegung gelangt
seien; im Gegenteil, sie können nur durch Ansaugung an diesen
Punkt gekommen sein. Nun sind aber die von Lode ver-
wendeten Ascariseier doch ganz wesentlich kleiner als die
Kanincheneier, die unter normalen Verhältnissen durch die
Tube getrieben werden sollen; sie messen nämlich nur ein
Sechstel bis Achtel des Volumens des Kanincheneies. Noch
viel ungünstiger aber wird das Verhältnis, wenn man berück-
sichtigt, dass das Ei des Kaninchens während seiner Passage
durch die Tube doch noch ganz erheblich an Grösse zunimmt;
bekanntlich umgibt sich das Ei des Kaninchens innerhalb des
Eileiters mit einer dicken Gallerthülle (sog. Eiweisshülle). Sein
Volumen beträgt dann mindestens das Zehn- bis Zwölffache
des von Lode zu seinen Versuchen benutzten Ascariseies
(nach den von Lode selbst angegebenen Massen).
Es geht also daraus zunächst schon hervor, dass es an
und für sich nicht angäneig ist, die mit unter Verwendung
der kleinen Ascariseier gewonnenen Resultate ohne weiteres
auf das Kaninchenei zu übertragen. Wenn nun aber die
Flimmerbewegung des Eileiterepithels des Kaninchens imstande
sein soll, die grossen und im Vergleich zu den zum Versuch
verwendeten Ascariseiern geradezu mächtigen Kanincheneier
durch die Tube zu befördern, wieviel leichter muss das dem
Flimmerstrome werden, die kleinen Wurmeier weiterzubewegen.
Dafür ist nun aber durch die Lodeschen Versuche auch nicht
im geringsten der Beweis geführt; nach Ablauf von 36 Stunden
lagen die Eier noch an demselben Platze wie nach Verlauf
von 10, d. h. ungefähr da, wohin sie vermutlich schon durch
Ansaugung gelangt waren. Sie sind also zwar in den Eileiter
420 J2SOBOTTA}
gekommen, aber wohl kaum durch die Wirkung des Flimmer-
stromes: einmal aber dort angelangt, bleiben sie anscheinend
hilflos liegen und kommen nicht oder kaum vom Fleck; nach
10 Stunden liegen sie ebenso wie nach 36 Stunden alle un-
gefähr an demselben Platze; davon dass die Eier in 26 Stunden .
weiter gewandert wären, ıst nichts oder fast nichts zu ent-
decken; jedenfalls sind sie noch nicht in das uterine Drittel
des Kileiters vorgedrungen, wo die Kanincheneier bei gleicher
Dauer des Aufenthaltes im Eileiter längst angelangt wären).
Natürlich muss man diese Schlussfolgerung mit aller Vor-
sicht ziehen, da die Zahl der Versuche von Lode eben viel
zu gering ist. Es wäre ja möglich, dass bei dem einen Ver-
suche die Aufnahme der Eier in den Eileiter sehr bald nach
der Injektion erfolgt wäre, bei dem anderen dagegen verhältnis-
mässig später, so dass die beiden Versuche in bezug auf
das Stadium des Verweilens der Bier im Eileiter gleichwertig
wären. Trotzdem beweisen aber auch dann die Versuche von
Lode gar nichts. Sie machen es nicht einmal wahrscheinlich,
dass die kleinen Ascariseier durch die Flimmerbewegung trans-
portiert werden können ?).
!) Ich halte es zwar nicht für unmöglich, dass die in den Eileiter der Ver-
suchstiere von Lode aufgenommenen Ascariseier vom Flimmerstrom der Tubar-
schleimhaut erfasst und von diesem etwas hin- und hergewirbelt worden sind.
Anscheinend lagen sie auch den Flimmerhaaren innig auf und nicht zentral
im Eileiterlumen innerhalb einer Flüssigkeitssäule, wie man das bei der Wande-
rung der Eier der Säugetiere (s. u.) zu beobachten Gelegenheit hat. Die Vor-
aussetzungen für einen Transport der Eier durch die Muskulatur fehlten anschei-
nend und so blieben die Fremdkörper hilflos liegen.
®) Gelegentlich bemerkt man, dass zufälligerweise im Eileiter befind-
liche Fremdkörper, die ungefähr die gleiche Grösse haben wie die Eier selbst,
mit diesen zusammen durch den Eileiter bewegt werden. So habe ich im Ei-
leiter eines Kaninchens auf beiden Seiten eigentümliche geschichtete Fremd-
körper beobachtet, über deren Natur und Herkunft ich keine Angaben zu
machen imstande bin. Diese lagen mit den besamten Eiern zusammen in-
mitten der die Tube ausdehnenden Flüssigkeit. Ich habe in Fig. 16 neben den
Eiern eine solche Bildung zur Darstellung gebracht.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 421
Die Ergebnisse der Lodeschen Versuche als Stütze für
die Theorie des Transportes des Säugetiereies durch den Fi-
leiter mittels der Flimmerstrombewegung zu verwerten, ist
sanz ausgeschlossen. Eine Stütze erhält diese Anschauung
durch diese Versuche keineswegs.
Infolgedessen werden auch die Ausführungen, die ich
kürzlich (21) gegen die genannte Hypothese vorbrachte, keines-
wegs entkräftet. Leider muss ich mil Rücksicht auf die zum
Teil von der meinigen abweichenden Anschauung von Grosser
auf verschiedene der bereits früher erörterten oder wenigstens
kurz gestreiften Punkte zurückkommen. Am einfachsten liegen
die Verhältnisse meiner Ansicht nach bei denienigen Säuge-
tieren, bei denen ein grosser Teil der Länge des Tubenrohres
überhaupt kein Flimmerepithel trägt, wie ieh (17) zuerst bei
der Maus nachgewiesen habe; hierhin gehört auch die Ratte
(siehe meine letzte Mitteilung |21|) und auch das Meer-
schweinchen. Auch bei diesem Nager flimmert nur der ampul-
läre Abschnitt des Eileiters; die uterinen (etwa) Zweidrittel
tragen ein ganz ähnliches, durchaus der Flimmerhaare ent-
behrendes Epithel, wie ich das bei den Muriden zuerst be-
schrieben habe, und wie das ja von anderer Seite mehrfach
bestätigt worden ist.
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass alle anderen
Säugetiere ‘sich anders verhalten; im Gegenteil, ıch glaube,
dass man bei genauerem Nachsehen den gleichen Befund auch
bei vielen anderen wird erheben können; es fehlen in dieser
Hinsicht nur bisher die nötigen Untersuchungen.
So besitzt z. B. auch die Schleimhaut des uterinen Teiles
des Eileiters des Kaninchens selbst zur Zeit der Geschlechts-
ruhe keinen ununterbrochenen Überzug von flimmerndem
Epithel, wenn. auch die bei weitem überwiegende Zahl der
Zellen flimmert. Dieser Unterschied gegenüber den anderen
oben erwähnten Nagerspecies wird aber zur Zeit der Tuben-
422 J. SOBOTTA,
wanderung der Eier vollkommen aufgehoben. Wie kürzlich
Moreaux (12) gezeigt hat, verlieren dann die sämtlichen
Epithelzellen des uterinen Teiles der Tube ihren Flimmersaum
und wandeln sich in secernierende Elemente um. Eine der-
artige Änderung des Epithelcharakters ist ja auch a priori
zu erwarten; denn wenn das inzwischen in die ersten Stadien
der Furchung eingetretene Kaninchenei die uterine Hälfte des
Eileiters durchwandert, umgibt es sich mit einer dicken Gallert-
hülle, die von seiten der Eileiterwand secerniert wird. Da
das Flimmerepithel zu einer solchen Funktion nicht geeignet
ist, muss notwendigerweise eine Umwandlung des Epithel-
charakters zustande kommen derart, wie er jetzt zum ersten
Male durch Moreaux nachgewiesen worden ist.
Der zugunsten der Flıimmerbewegungshypothese allein ver-
wendbare Unterschied ın dem Verhalten des Tubarepithels
zwischen Kaninchen einerseits, den Muriden und dem Meer-
schweinchen andererseits ist also nur ein scheinbarer; für
die Wanderung des Eies durch den Eileiter kann er nicht ın
Frage kommen, weil gerade um diese Zeit der uterine Teil
der Tube des Kaninchens ebenfalls des Flimmerepithels ent-
behrt. Das Vorkommen von EFlimmerepithelim
uterinen Abschnitt des Eileiters des Kaninchens entspricht,
wie Moreaux mit Recht angibt, dem Zustande der ge-
schlechtlichen Ruhe:
Wenn also die Eier der Muriden, des Meerschweinchens
und Kaninchens und wahrscheinlich gilt das auch für viele
andere Säugetiere — den ampullären Teil der Tube verlassen
haben, so gelangen sie in eine Bileiterstrecke, die nicht mehr
mit Flimmerepithel ausgekleidet ist. Ich habe aus dieser Tat-
sache die Schlussfolgerung gezogen, dass nun an eine weitere
Fortbewegung der Kier mittels des Flimmerstromes nicht zu
denken ist, weil ein solcher im uterinen Teil der Tube nicht
mehr vorhanden ist.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ele. 423
An dieser Auffassung glaube ich auch heute noch fest-
halten zu müssen, obwohl Grosser (4) die Ansicht vertritt,
dass auch dann der Flimmerstrom für den Transport der Eier
verantwortlich gemacht werden könnte. Diese Anschauung ist
natürlich rein-theoretisch; dass tatsächlich der durch die
Flimmerzellen des ampullären Endes der Tube erzeugte Strom
imstande sein könnte die Bier bis an oder in den Uterus zu
befördern, müsste erst bewiesen werden. Ich halte das a priori
für sehr unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich. Vor allem
stehen dem aber ausser den gleich zu erwähnenden tatsäch-
lichen Befunden doch auch sehr erhebliche theoretische Be-
denken gegenüber. Wenn wirklich ein wirksamer Flımmer-
strom am ampullären Ende erzeugt wird, warum dauert dann
die Wanderung der Eier trotz der Kürze der Tube der Maus
so lange Zeit, genau so lange wie bei der ungleich viel längeren
Tube der Ratte oder dem vielfach so langen Eileiter des Kanin-
chens und Meerschweinchens? Wie kommt es ferner, dass
die Eier im uterinen Abschnitt der Tube zum mindesten
doppelt so lange verweilen wie in den ersten Zweidritteln
oder Dreivierteln des Eileiters? Irgend ein Hindernis tritt ihnen
hier nicht in den Weg und man könnte höchstens annehmen,
dass die Kraft des Flimmerstromes allmählich erlahme;
trotzdem wird aber der plötzliche Abfall in der Schnellig-
keit der Bewegung nicht leicht auf diese Weise zu erklären
Sen.
Betrachtet man nun die tatsächlichen Verhältnisse, so er-
kennt man, wie oben schon mitgeteilt, unmittelbar nach der
Aufnahme der Eier in die Tube die so charakteristische Deh-
nung des ampullären Tubenabschnittes, die schon makro-
skopisch in Gestalt eines Bläschens sichtbar ist; sie zeigt
dem Untersucher mit Sicherheit die Anwesenheit von frisch
ovulierten Eiern in der Tube an. Diese bläschenartige Dehnung
des Eileiters (Figg. 12 u. 14), die bei Muriden besonders deut-
424 J. SOBOTTA;
lich ist, aber auch bei anderen Nagetieren nicht fehlt (s. 0.
S.392), liegt im Bereich des flimmerepitheltragenden Abschnittes
der Tube. Bei der Dehnung der Wand und der damit ver-
bundenen, oft enorm starken Abplattung des Epithels verliert.
die grosse Mehrzahl der Zellen dieser Region ihren sonst so
denkbar schönen Flimmersaum, den sie doch, sollte man
meinen, für den Weitertransport der Eier nötig gebrauchen
könnten, wenn dieser durch die Wirkung des Flimmerstromes
erfolgen würde.
Überhaupt wird man sich wohl schwer vorstellen können,
wie der Flimmerstrom die ganze Flüssigkeitsblase mit den
darin enthaltenen Eiern bewegen soll. Tatsächlich ist davon
auch keine Rede: vielmehr stellt diese Blase, welche die Ei-
leiterwand stark ausdehnt, dem Flimmerstrome ein denkbar
grosses Hindernis in den Weg, und es übernimmt nun die
Muskulatur der Tube die Rolle des Bewegungsapparates der
durch Muskelaktion in die Tube angesaugten Flüssigkeit; man
erkennt beim Vergleich geeigneter dicht aufeinanderfolgender
Entwickelungsstadien, dass die anfangs sehr streng lokalisierte
Dehnung des Tubenrohres, die äusserlich als blasenförmige
Auftreibung erschien, nun einer mehr spindelförmig verlängerten
Ausdehnung des REileiters Platz macht; zunächst aber bleibt
eine auch äusserlich erkennbare Dehnung des Rohres noch
bestehen und erst, wenn die Eier die Mitte der Länge der
Tube überschritten haben, ist das Kaliber des eierhaltigen
Tubenabschnittes ein annähernd gleichmässig oylindrisches. Die
Bier liegen stets (s. a. u. S. 426) in einer sie umgebenden.
Flüssigkeitssäule und ziemlich genau zentral im Lumen, wie
aus den von mir früher (17) gegebenen Abbildungen von der
Maus und ebenso für die Ratte aus den Rekonstruktionen
erkennbar ist, die der letzte Untersucher dieser Verhältnisse,
Karl Huber (8), von der Ratte gegeben hat. Man vergleiche
dazu ferner die Figg. 12, 14 u. 19.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 425
Diese tatsächlichen Befunde, die sich auf ein reiches
Material stützen, lassen sich doch wohl kaum anders deuten,
als dass eine Kontraktion der Muskelwand des EKileiters statt-
findet, welche die aufgesaugte Flüssigkeitsmasse mit den Eiern
durch die Tube gegen den Uterus bewegt. Dass diese Be-
wegung sehr langsam vor sich gehen muss und im uterinen
Abschnitt der Tube noch wesentlich langsamer als im mittleren
Teil, ist kein Grund gegen die Annahme einer Wirkung der
Kileitermuskulatur, wie das Grosser (4) vermutet; die Tätig-
keit der Muskulatur steht doch unter dem Einflusse des Nerven-
systems und ist daher leicht regulierbar. Man braucht ja nicht
unbedingt an eine regelrechte und ununterbrochene Peristaltik
zu denken; die Beförderung der Eier kann auch gleichsam
ruckweise vor sich gehen. Immerhin scheint mir wenigstens
für die Maus kein Anhaltspunkt dafür gegeben, dass das in
der Nähe des uterinen Endes des Eileiters gelangte Ei ziem-
lich plötzlich in den Uterus gestossen wird, nachdem es bis
dahin durch den Flimmerstrom bewegt worden war, wie
Grosser (4) annimmt. Dagegen spricht schon die Tatsache,
dass man in allen Abschnitten des uterinen Teiles der Tube
der Maus ungefähr gleich häufig Eier antrifft, was doch kaum
der Fall sein dürfte, wenn ein Teil besonders schnell durch-
setzt würde. Und gerade ın dem dem Uterus am meisten
benachbarten Abschnitt des Eileiters habe ich gar nicht selten
Eier beobachtet.
Ferner lässt sich auch an geeignetem Material leicht die
Feststellung machen, wie ich eine solche beim Vergleich meiner
verschiedenen Präparationen von der Maus regelmässig er-
heben konnte, dass auch beim Fortschreiten der Eier durch
die Tube und beim Eintritt in den isthmischen Teil dieser
das Tubenrohr eine deutliche Erweiterung gegenüber seinem
Verhalten in der sexuellen Ruhepause zeigt, wenn diese Deh-
nung auch nicht so auffällig ist wie im Bereiche des ampullären
426 J. SOBOTTA,
Abschnittes des Eileiters. Man erkennt diesen Unterschied in
der Mitte der verschiedenen Abschnitte der Eileiterschlingen
leicht aus dem Vergleich der beigegebenen Abbildungen
(Fig. 11—13). Im nicht-brünstigen Zustande (Fig. 11) ist die
Lichtung des isthmischen Abschnitts des Tubenrohres oft so
klein, dass die niedrigen Falten dieses Tubenabschnittes sich
mit ihren Kuppen berühren und selbst für das kleine Ovulum
der Maus kaum Platz lassen. Im Stadium der Wanderung
der Eier durch den isthmischen Teil des Tubenrohres dagegen
ist dieser so stark erweitert, dass nicht nur mehrere Eier
nebeneinander Platz finden, sondern auch eine nicht geringe
sie umgebende Flüssigkeitssäule; dagegen kehrt der ampulläre
Teil zum Kaliber des geschlechtlichen Ruhestandes zurück
(Big. 15)2).
Es ergibt sich daraus eine weitere Stütze der von mir
oben schon erwähnten Hypothese, dass bei dem Transport
der Eier der Maus durch den Eileiter die mit den Eiern zu-
sammen angesaugte Flüssigkeitsmasse durch die Wirkung der
Kontraktion der Eileitermuskulatur gegen das Ostium uterinum
hin bewegt wird, wobei die anfangs nahezu in Kugelform
!) Dem Kenner der hier in Betracht kommenden Verhältnisse der Kaliber-
schwankungen des Eileiterlumens der Maus ist es ein leichtes, auf den ersten
Blick hin sofort zu erkennen, ob die Tube sich im Zustande der geschlecht-
lichen Ruhe befindet oder ob in ihr Eier auf der Wanderung zum Uterus begriffen
sind, und auf welchem Entwickelungsstadium diese sich befinden, auch wenn
er die letzteren selbst nicht sieht. Die mächtige Dehnung des ampullären
Eileiterendes lässt stets darauf schliessen, dass entweder frisch entleerte und
noch nicht befruchtete oder eben besamte Eier sich in ihr finden; hier trifft
man noch Ovula unmittelbar nach Ausbildung der Vorkerne. Beobachtet
man dagegen eine mässige aber deutliche Dehnung des isthmischen Teils des
Eileiters, so wird man Eier in den ersten Furchungsstadien zu erwarten haben,
oder solche im älteren Vorkernstadium‘ Erst kurz bevor die Eier der Maus in
den Uterus übertreten, nimmt die Lichtung des uterinen Abschnittes des Ei-
leiters nahezu wieder das geringe Kaliber an, das er zur Zeit der geschlecht-
lichen Ruhe hatte; jetzt kann auch der Kenner nicht mehr mit Sicherheit
aus den Kaliberverhältnissen einen Schluss auf das Vorhandensein von Eiern
in der Tube machen.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 427
aufgesaugte Blase allmählich in eine fast eylindrische Säule
verwandelt wird).
Ich glaube also für die Muriden mit ziemlicher Gewissheit
eine Beteiligung des Flimmerstromes der Tube als ursächliches
Moment bei der Beförderung der Eier ausschliessen zu können.
Nicht anders liegen aber die Verhältnisse beim Meer-
schweinchen; nur durchsetzen bei diesem die Eier das
wesentlich längere Eileiterrohr in der gleichen Zeit, also sehr
viel schneller als bei Maus oder selbst der Ratte, Ich habe
oben nachweisen können, dass die Bier des Meerschweinchens
aus dem Raum der Bursa ovarii, die sich zur Zeit der Ovu-
lation fast völlig schliesst, von seiten des Ostium abdominale
tubae angesaugt werden, dass hierfür also die Wirkung des
Flimmerepithels wenn überhaupt — so doch nur in ganz
untergeordneter Weise in Betracht kommt. Der uterine Teil
des Eileiters trägt aber ebensowenig Flimmerepithel wie der
entsprechende Abschnitt bei den Muriden. Es käme also nur
die mittlere Strecke der Länge des Tubenrohres in Betracht,
!) Man könnte natürlich a priori daran denken, dass die durch Ansaugung
aus dem Periovarialraum in den Eileiter gelangte Flüssigkeit durch Resorption
seitens der Eileiterwand wieder verschwindet. Dem stehen aber die oben er-
wähnten Tatsachen gegenüber, dass eine ganz allmähliche Streckung der Blase
bei ihrem Wege durch den Eileiter zu beobachten ist. Damit werden auch alle
Einwände hinfällig, die dagegen erhoben worden sind, dass die Peristaltik
oder eine entsprechende Kontraktion der Muskulatur der Eileiterwand die
kleinen Eier als solche nicht erfassen könne; es werden ja eben nicht die Eier
allein bewegt, sondern die Flüssigkeitssäule, in der sie liegen. Ebenso lässt
sich ein anderes gegen die Fähigkeit der Muskelaktion die Eier durch den Ei-
leiter zu befördern geltend gemachtes Bedenken durch die tatsächlichen Be-
funde leicht zerstreuen; man hat eingewendet, dass eine Muskelkontraktion
der Eileiterwand, dessen Inhalt stets zum Ausweichen gegen die weitere abdo-
minale Öffnung bringen müsse, nicht gegen die enge uterine. Dann müsste
sich bei der Maus der Periovarialraum nach Beginn der Kontraktionen der Tubar-
muskulatur von neuem mit Flüssigkeit füllen, was nicht der Fall ist; er bleibt
bis zum Auftreten einer neuen Brunstperiode leer, wie er es im Zustande der
sexuellen Ruhe ist. Es muss also ein Regulationsmechanismus vorhanden
sein, der einer Bewegung der Flüssigkeitssäule in der Richtung gegen das Ostium
abdominale einen Riegel vorschiebt.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft. (54. Bd., H. 2). 28
428 J. SOBOTTA,
im Bereich deren eine Aktion des Flimmerstromes denkbar
wäre. Wenn diese wirklich imstande sein sollte, den Inhalt
des Eileiters (Eier und Flüssigkeit) zu bewegen, so müsste
das mit ungleich viel grösserer Schnelligkeit erfolgen als beı
den Muriden oder bei Säugetieren, die eine kürzere Tube be-
sitzen als das Meerschweinchen. Es käme also hier bereits
die früher schon von mir (21) in den Vordergrund gestellte
Schwierigkeit der Erklärung des Transportes der Eier der
Säugetiere durch die Tube unter Annahme der Aktion des
Flimmerstromes in Betracht, auf die ich unten nochmals zurück-
komme.
Im übrigen gilt für die Eiwanderung des Meerschweinchens
das gleiche, was ich für die der Muriden oben auseinander-
setzte; selbst unter der Annahme, dass im abdominalen Drittel
des Eileiters ein zur Bewegung der Eier geeigneter Flimmer-
strom zustande kommen könnte, würde dieser an der Flüssig-
keitsblase, die mit den in ihr enthaltenen KBiern sich in die
Kileiterwand einpresst, einen unüberwindlichen Widerstand
finden. Ferner sprechen auch alle tatsächlichen Befunde, die
den bei Muriden zu beobachtenden Verhältnissen gleichen,
gegen die Möglichkeit einer Beförderung des Eies auf dem
Wege der Flimmerbewegung. Auch hier lässt sich eine Dehnung
des Tubenrohres während der ganzen Dauer des Eitransportes
nachweisen; die Bier liegen stets innerhalb einer Flüssigkeits-
säule, die sich langsam im Tubenrohre gegen die uterine Öff-
nung vorschiebt; diese Erscheinung macht sich wie bei Muriden
in Gestalt einer mehr oder weniger ausgesprochen lokalen Deh-
nung des Eileiterabschnittes bemerkbar, der gerade von dem
Ovulum oder den Ovula durchsetzt wird. Während bei Muriden
ein starker Unterschied in der Dehnung des Eileiterrohres bei
Beginn der Eiwanderung bzw. direkt nach der Aufnahme des
Kies in den Eileiter und den späteren Stadien des Eitransportes
zu bemerken ist, scheint beim Meerschweinchen diese Differenz
b)
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 429
nicht allzu gross zu sein; allerdings verfüge ich nur über
wenige Präparate aus den Eindstadien der Eiwanderung durch
die Tube des Meerschweinchens.
Das Kaninchen wird seitens der Anhänger der Flimmer-
bewegungshypothese vielfach als Beispiel benutzt und hat ja
auch als Versuchstier in dieser Hinsicht gelten müssen. Der
Umstand, dass die ganze Länge des Tubenrohres Flimmer-
epithel trägt, verleitet ja zu der Annahme, dass diese Einrich-
tung in erster Linie für den Transport des Kies bestimmt
sein könnte. Aber gerade wenn die Wanderung der Bier durch
den Eileiter vor sich geht, verliert, wie wir oben schon ge-
sehen hatten, das Epithel des ganzen uterinen Abschnittes
der Tube seinen Flımmersaum, also sein Bewegungsorgan.
Würde dem Epithel die Funktion der Bewegung des Eies zu-
kommen, so wäre es doch sehr unwahrscheinlich, dass gerade
dann, wenn dieses Bewegungsorgan in Tätigkeit treten muss,
eine So grosse Unzweckmässigkeit eintreten sollte, dass es
funktionslos wird, während es ın der sexuellen Ruhepause,
also gerade dann, wenn keine Eier zu transportieren sind,
in voller Aktion sich befindet. Man erkennt bereits aus dieser
Tatsache, wie sehr man bisher den Umstand, dass das Ei-
ieiterepithel vieler Tiere und des Menschen flimmert, über-
schätzt hat. Das Epithel des uterinen Abschnittes des Kanın-
cheneileiters hat eben zur Zeit der Eiwanderung eine ganz
andere Funktion als die der Bewegung der Eier; es liefert
ihnen die sog. Eiweisshülle, eine dicke gallertige Schale.
Da ich es oben zum mindesten für wahrscheinlich hin-
gestellt habe, dass die Eier des Kaninchens ebenso wie die
der Muriden und des Meerschweinchens durch Ansaugung in
den Eileiter befördert werden und dass das Flimmerepithel
hierbei höchstens eine nebensächliche Rolle spielen kann, so
bliebe wiederum nur der Flımmerstrom, der ım mittleren Ab-
schnitt der Tube zustande kommt, als Bewegungsfaktor für
28*
430 J. SOBOTTA,
die Eier übrie. Nach der Auffassung von Grosser (4) würde
dieser dann die Eier in den uterinen Teil des Eileiters be-
fördern und aus diesem gelangten die Eier schliesslich doch
durch die Wirkung der Tubenmuskulatur in den Uterus. Nun
ist aber die Annahme, dass im mittleren Abschnitt des Ei-
leiters das Flimmerepithel zur Bewegung der Eier beiträgt,
rein hypothetisch ; da seine Wirkung dem Einflusse des Nerven-
systems nicht unterliegt, so müssten bei Kaninchen kleiner
Rassen, bei denen die Länge des Eileiters natürlich viel ge-
ringer ist als bei grossen Rassen, die Eier diese Tubenstrecke
viel schneller passieren als die Eier grossrassiger Kaninchen.
Davon ist aber nichts bekannt; gerade für die Tubenwande-
rung des Kanincheneies liegen unter allen Säugetieren die
meisten Beobachtungen seitens der verschiedensten Autoren
vor, und diese stimmen alle bis auf ganz geringe Differenzen
vollkommen überein.
Auch der Versuch, die Flimmerbewegungshypothese durch
die Ergebnisse der Lodeschen Versuche zu stützen, darf nicht
als glücklich bezeichnet werden. Ich hatte oben schon auf
die Tatsache hingewiesen, dass die beiden (leider ja einzigen)
Versuche von Lode trotz der sehr verschiedenen nach Vor-
nahme des Versuches verflossenen Zeitspanne doch fast genau
das gleiche Resultat gezeitigt haben. Die Eier fanden sich
fast sämtlich im mittleren Abschnitt der Tube dicht gedrängt
vor: vor allem war eine zwei Zentimeter lange, vom Uterus
entfernte Strecke vollkommen. frei von Eiern. Die Wanderung
dieser hatte also auch in 26 Stunden keine Fortschritte ge-
macht. Allerdings habe ich oben bereits darauf aufmerksam
gemacht, dass man angesichts der geringen Zahl der Versuche
von Lode in der Beurteilung ihrer Ergebnisse sehr vorsichtig
sein muss. Aber auf keinen Fall wird durch sie bewiesen,
dass das Flimmerepithel die Ascariseier in der Tube fort-
bewegt hat. Es liegt überhaupt kein Beweis dafür vor, dass
nr
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 431
die Eier in einem anderen Sinne weiıterbefördert worden sind
als über den Punkt hinaus, bis zu dem sie durch die An-
saugung seitens der Tube gelangt waren. Lode geht aber
soweit, dass er sogar die Geschwindigkeit berechnen will,
mit der die Eier durch den Flimmerstrom bewegt worden
sind!
Mir erscheint es als gewiss, dass zum mindesten die
grosse Mehrzahl der aufgenommenen Ascariseier von Lode
dort aufgefunden wurde, wohin sie durch den Ansaugungs-
vorgang gelangt waren; einige weiter uterinwärts gelegene
mögen wohl eine kurze Strecke fortbefördert worden sein;
dafür dass dies aber durch die Flimmerbewegung geschehen
sei, wird kein Beweis gebracht. Und wenn sie wirklich durch
die direkte Wirkung der Flimmerhaare des Epithels in der Art,
wie das Lode annimmt, bewegt worden sind, so entspricht
das nicht den Verhältnissen beim Transport des Kies, wo
erstlich das Epithel der ganzen uterinen Hälfte der Tube des
Flimmersaumes entbehrt, zweitens die Bier nicht allein be-
fördert werden, sondern innerhalb einer Flüssigkeitssäule.
Man darf es also wohl nach den obigen Ausführungen
als sicher bezeichnen, dass die Eiwanderung in der Tube des
Kaninchens nicht durch die Flimmerbewegung veranlasst wird,
zumal das Ei das mehr als doppelt so lange Eileiterrohr grosser
Rassen ebenso schnell durchsetzt wie die kurze Tube kleiner
Kaninchen. Dass als ursächliches Moment für die Fortbewegung
des Kanincheneies ım Eileiter ebenso wie bei Muriden und
dem Meerschweinchen nur die Tätigkeit der Muskulatur der
Tube in Betracht kommen kann, erscheint mir fraglos, wenn
es mir auch an tatsächlichem Material zum Beweise dieser
Behauptungen fehlt. Dass es dabei verwickelter nervöser Ein-
richtungen bedarf, die die Wirkung der Muskelkontraktion be-
herrschen, ist selbstverständlich; solche sind aber auch bei
der Uterusmuskulatur zu postulieren, ohne dass sie bisher
432 J. SOBOTTA,
bekannt wären. Es handelt sich bei allen diesen Fragen um
ein sicherlich sehr dankbares Gebiet der experimentellen For-
schung.
Ich möchte in dieser Hinsicht darauf aufmerksam machen,
dass nach dem Eintritt der Eier der Nagetiere und vieler
anderer Säugetiere in den Uterus eine Verteilung der Eier
auf die Länge der Uterushörner derart stattfindet, dass die
einzelnen Keimblasen in ungefähr gleichen Abständen ‚sich
implantieren. Wer bringt diese aber an den Ort ihrer Im-
plantation und wer regelt diese schwierige Art der Verteilung ?
Das Flimmerepithel, das bei dem nicht unerheblichen Wachs-
tum der Keimblasen mancher Säugetiere vor der Implantation
schon deswegen nicht in Betracht kommen kann, weil die
Utersuschleimhaut der meisten (wenn nicht aller?) Säugetiere
überhaupt nicht flimmertt), würde auch nicht die Kraft dazu
besitzen; und wer sollte den Vorgang unter Annahme der
Flimmerbewegung regulieren? Hier ist es also mit absoluter
Sicherheit nur die Muskeltätigkeit, die dafür verantwortlich
gemacht werden kann; aber es gehört doch ein ungleich viel
komplizierterer Regulationsmechanismus dazu, als für die Ver-
langsamung, und Beschleunigung des Transportes der noch eng
beisammen liegenden Eier in der Tube!
Es wären hiermit eigentlich die in der speziellen Anzeige
meines hier behandelten Themas angekündigten Punkte er-
ledigt. Mit Rücksicht auf die oben bereits mehrfach erwähnte
Polemik zwischen Grosser (4) und mir (21) dürfte es sich
jedoch empfehlen, noch einen kurzen Blick auf die Möglich-
keiten des Transportes der Eier durch den Eileiter bei anderen
Säugetieren zu werfen. Allerdings kann es sich hier nur um
1) Man begegnet vielfach der Anschauung, dass ebenso wie beim Menschen
das Uterusepithel der Säugetiere flimmere; das ist aber zum mindesten bei sehr
vielen Speeies nicht der Fall. Kürzlich hat Schmaltz (15) erst auf diese Tat-
sache bei allen Haussäugetieren hingewiesen; das gilt auch für die Muriden,
für Kaninchen und Meerschweinchen.
ganz theoretische Betrachtungen handeln, da Untersuchungen
über die Eileiterverhältnisse und besonders solche des Tubar-
epithels zur Zeit der Eiwanderung völlig fehlen.
Ich hatte seinerzeit (21) darauf hingewiesen, dass die
Annahme, dass die Beförderung der Eier durch den Eileiter
mittels der Flimmerbewegung oder wenigstens allein auf diesem
Wege vor sich gehe, sehr erhebliche theoretische Bedenken
gegenüberstehen, nämlich erstlich, dass in fast genau gleicher
Zeit ganz ungleich grosse Kileiterstrecken durchsetzt werden
und "zweitens, dass die verschiedenen Abschnitte der Tube
sehr verschieden schnell durchlaufen werden. Was den ersten
Punkt anlangt, so handelt es sich hierbei um ganz gewaltige
Differenzen ; vergleichen wir 2. B., um gar nicht auf die kleinsten
Nager wie die Maus mit einer kaum mehr als ?/, em langen
Tube zurückzugreifen, die Länge der Eileiter vom Kaninchen
und Schwein; die des ersteren beträgt (im gestreckten Zu-
stande gemessen) kaum mehr als 6 cm bei grossen Tieren,
während das gleiche Mass beim Schweine bis auf 36 cm
steigen kann; und doch dauert die Tubenwanderung des Kies
bei beiden Tieren gleich lange Zeit!
Aber auch bei ein und derselben Species dauert die Ei-
wanderung anscheinend genau gleich lange, gleichgültig ob
es sich um gross- oder kleinrassige Exemplare handelt; am
meisten wird dieser Umstand beim Hunde eintreten; aber auch
beim Schweine variiert nach Kuhn (9) die Länge des Tuben-
rohres fast um den doppelten Betrag.
Was den zweiten oben erwähnten Punkt anlangt, so passiert
das Ei aller bisher auf diesen Punkt hin untersuchten Säuge-
tiere den ampullären Teil der Tube ungleich viel schneller als
den ısthmischen, ın dem es relativ lange verweilt.
Ich hatte nun seinerzeit darauf hingewiesen, welche un-
{e
geheuere Schwierigkeiten der Annahme gegenüberstehen, dass
434 J. SOBOTTA,
die Eier ausschliesslich durch die Flimmerbewegung befördert
werden sollten, da diese Bewegung von jeder Beeinflussung
seitens des Nervensystems unabhängig ist und ihre Aktion
nach Bedarf weder verlangsamt noch beschleunigt werden kann.
Solche Bedenken sind übrigens bereits früher schon von anderer
Seite erhoben worden. Auch Grosser kommt über diesen
Punkt trotz einiger Erklärungsversuche nicht hinweg und muss
selbst zugeben, dass es gewisse Momente gibt, wie einige
von ihm angeführte Fälle von angeblichem Missverhältnis
zwischen Eigrösse einerseits und Weite des Tubenlumens
andererseits, welche eine Wirkung des Flimmerstromes unter
Ausschaltung der Muskelaklion sehr unwahrscheinlich machen.
Infolgedessen schreibt Grosser der Flimmerbewegung die
Rolle zu, die Eier bis in den isthmischen Teil der Tube zu
befördern ; dann aber soll die Peristaltik eingreifen.
Dass sich diese Auffassung von Grosser mit dem tat-
sächlichen Verhalten bei der Eiwanderung der oben behandelten
Nagerspecies nicht verträgt, wurde oben bereits auseinander-
gesetzt. Aber auch für andere Säugetiere lassen sich theoretisch
sehr erhebliche Bedenken dagegen äussern. Grosser denkt
daran, dass dem sich wandernden Ei Widerstände in (restalt
von Tubarfalten entgegenstellen könnten, welche seine Fort-
bewegungsgeschwindigkeit zu verlangsamen imstande seien. Zu-
nächst ist es nun sehr fraglich, ob das Ei, wenn es überhaupt
durch die Flimmerbewegung befördert werden kann, was ja
noch keineswegs bewiesen ist, dann überhaupt noch vorwärts
kommt, wenn sich ihm Widerstände nennenswerter Art in den
Weg stellen. Grosser selbst ist ja geneigt, in solchen Fällen
dann doch die Muskelaktion zu Hilfe zu rufen.
Nun ist aber der ampulläre Teil des Eileiters aller Säuge-
tiere ungleich viel faltenreicher als der isthmische, aber gerade
er wird ganz ungleich viel schneller durchsetzt als der letztere.
Und wenn man an Widerstände im isthmischen Teil der Tube
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier. der Säugetiere ete. 435
denken sollte, die wie etwa geringe Weite des Rohres dem
Wege des Eies entgegenstehen könnte, so sind solche an nıcht-
brünstigem Tiermaterial gemachten Betrachtungen, wie sie
Grosser (4) anstellt, meiner Ansicht nach ganz wertlos,
wenn man bedenkt, dass die Lichtung des Eileiters, wie ich
oben gezeigt habe, sich während der Eiwanderung erheblich
vergrössert. Ferner finden wir eine Verlangsamung der Ei-
wanderung im isthmischen Abschnitt des Eileiterrohres bei
allen Säugetieren ganz gleichmässig auftreten, nur bei den
verschiedenen Formen in sehr verschieden hohem Grade. >So
sehen wir trotz annähernd vollkommen eleicher Bauverhält-
nisse der Tuben und fast genau gleicher Eigrösse die Ovula
des Schweines und des Schafes die Tube, die ihnen ihrer
Bauart wegen kein nennenswertes Hindernis entgegensetzen
kann, in genau gleicher Zeit durchwandern, obwohl der Ei-
leiter des Schweines durchschnittlich doppelt so lang ist als
der des Schafes. Und trotz fast genau gleicher Länge der
Fileiter (ca. 6 em im Mittel) von Kaninchen und Hund dauert
die Eiwanderung des ersteren rund 3 Tage, die des letzteren
dagegen acht, obwohl man eher annehmen könnte, dass das
Kaninchenei, das sich im isthmischen Teil des Eileiters mit
einer sehr dicken Gallerthülle umgibt, der Wirkung des Flimmer-
stromes mehr Widerstand entgegensetzen sollte als das Hundeei.
Ferner ist auch bei der oben erwähnten Hypothese von
Grosser nicht einzusehen, warum bei den Tieren, bei denen
im isthmischen Abschnitt der Tube sicherlich kein Hindernis
für die Eiwanderung vorhanden ist, der Flimmerstrom, dem
bisher Grosser die alleinige Rolle des Transportes zuschrieb,
seine Wirksamkeit verlieren sollte; hat er das Ei bis hierhin
gebracht, warum treibt er es nicht auch weiter?
Wie schon gesagt, handelt es sich hierbei um rein theo-
retische Erörterungen, die sich vielleicht als sehr unfruchtbar
erweisen, wenn sich nach Beobachtung der tatsächlichen Ver-
436 J. SOBOTTA,
hältnisse während der Eiwanderung Zustände herausstellen,
die man im nicht-brünstigen Zustande gar nicht ahnt.
Immerhin ist es wohl erlaubt auch unter Zugrundelegung
dieser Betrachtungen und des oben dargelegten tatsächlichen
Materials die Behauptung aufzustellen, dass sowohl bei der
Aufnahme der Eier vieler (aller?) Säugetiere in den Bileiter
wie bei deren Transport durch die Tube der Flimmerbewegung
nur eine ganz untergeordnete Rolle zukommen kann. Nimmt
man an, dass in ähnlicher Weise wie bei den oben besprochenen
Nagern die BEiaufnahme bei allen Säugetieren in erster Linie
durch Muskelaktion (Ansaugung) vor sich geht, so erklärt sich
leicht, dass die Eier den Anfangsabschnitt des ampullären Teils
der Tube schnell durchsetzen. Lässt man nun eine zwar ın
der Einzelheit ihrer Wirkung noch nicht näher erforschte, wahr-
scheinlich aber ähnlich wie beim Darmrohr abwechselnd
peristaltisch und antiperistaltisch wirkende, jedenfalls aber
unter dem regulierenden Einfluss des Nervensystems stehende
Muskelaktion der Eileiterwand einsetzen, so ist es nicht schwer,
alle Verschiedenheiten in der ‚Dauer der Schnelligkeit und der
Art der Wanderung der Eier zu erklären, was mit Hilfe der
Flimmerbewegung allein nicht möglich ist. Berücksichtigt man
ferner, dass mit Sicherheit gerade bei den Säugetieren, bei
denen zur Zeit der Eiwanderung Beobachtungen vorliegen,
die Beteiligung der Flimmerbewegung ganz oder so gut wie
sanz ausgeschlossen werden konnte, so bleibt kaum ein anderer
Ausweg möglich, als die Flimmerbewegungshypothese
entgültig fallen zulassen. Wenn auch die Einzelheiten
über die Art und Weise, wie die Wirkung der Muskulatur
beim Transport der Eier durch den Eileiter erfolgt, mangels
senügender Beobachtungen noch nicht feststehen, so darf —
selbst unter Ausserachtlassung der tatsächlichen Befunde —
doch mit Bestimmtheit behauptet werden, dass zurzeit keine
andere Hypothese imstande ist, die Art und Weise des Trans-
portes der Eier durch die Tube der Säugetiere zu erklären.
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 437
III. Über die Bedeutung des Flimmerstroms am abdomi-
nalen Ende des Eileiters der Säugetiere.
Anhangsweise will ich hier noch einen weiteren Punkt
streifen, auf den ich ebenfalls in meiner letzten Mitteilung
schon zu sprechen kam. Es handelt sich um die Frage, wozu
denn das Flimmerepithel des Eileiters oder wenigstens das
des abdominalen Endes des Ganges und seines Infundibulums
dient, wenn ihm keine Rolle bei der Aufnahme der Eier ın
die Tube zufällt.
Ich hatte damals’ die Ansicht geäussert, dass ıhm die
Rolle zufiele, den Spermatozoen den Austritt aus dem Ostium
abdominale tubae zu verwehren.
Ich habe nämlich zuerst für die Maus die eigentümliche
Tatsache festzustellen vermocht, dass während das Uteruslumen
nicht nur mit Unmassen von Spermatozoen erfüllt ist, sondern
dessen Wand sich durch die pralle Füllung der Lichtung des
Gebärmutterhornes sogar stark ausgedehnt wird, wie ich. das
an anderer Stelle näher beschrieben habe (19), in den Eileiter
auffällig wenige Samenfäden eindringen. Das gleiche gilt für
die Ratte; auch bei dieser trifft man im Uteruslumen Millionen
von Spermatozoen, in der Tube dagegen nur sehr wenige.
Dasselbe Missverhältnis findet sich: beim Meerschweinchen und
selbst für das Kaninchen habe ich an meinem Material den
annähernd gleichen Befund erheben können. Obwohl im Gregen-
satz zu den drei anderen Nagern, bei denen man auch zur Zeit
der Besamung der Eier nur ganz wenige Spermatozoen in
der Nachbarschaft der ersteren in der Tube findet, relatıv
mehr Samenfäden die Kanincheneier umschwärmen, und auch
solche in Mehrzahl die Zona pellueida durchsetzen und zwischen
dieser und dem Ei selbst angetroffen werden, ist die Zahl der
Spermatozoen, die man während dieser Zeit im Eileiterlumen
antrifft, dennoch eine ganz ‚ausserordentlich kleine.
438 J. SOBOTTA,
Treten nun die Spermatozoen bereits in geringer Zahl
in den Eileiter ein, so dringen sie in diesem anscheinend
nur lanesam und mit Mühe vorwärts; das Ostium abdominale
tubae erreichen sie anscheinend nie und selbst nicht einmal
in dessen Nähe scheinen sie gelangen zu können. Weder mir
bei einem zum Teil ausserordentlich grossen Material, noch
einem der späteren Untersucher, die den gleichen Weg be-
schritten hatten wie ich, ist es bei einem Säugetier gelungen,
Spermatozoen ausserhalb des abdominalen Endes der Tube
oder in der Nachbarschaft des Eierstockes zu finden. Die
älteren in dieser Hinsicht positiven Angaben sind aus den
oben (S. 365) angeführten Gründen nicht beweiskräftig und
widersprechen auch den Ergebnissen der viel exakter aus-
veeführten neueren Beobachtungen.
Ich habe nun in meiner letzten Mitteilung die Ansicht
ausgesprochen, dass der Flimmerstrom, der durch die zahl-
reichen Wimperzellen des Infundibulums und der anschliessen-
den faltenreichen Strecke der Ampulla tubae erzeugt wird,
den Spermatozoen den Ausweg aus dem Ostium abdominale
tubae verwehrt; und in dieser Tätigkeit habe ich die Haupt-
funktion des Flimmerepithels des ampullären Endes der Tube
suchen zu müssen geglaubt.
An dieser Anschauung halte ich auch heute noch fest
und für die Muriden mit ihrer vollkommen geschlossenen
Ovarialkapsel scheint mir das auch die einzige Funktion des
Flimmerepithels zu sein. Bei den Säugetieren mit offener Eier-
stockstasche dagegen kommt dem Flimmerstrome, den das In-
fundibulum tubae erzeugt, noch eine weitere Funktion zu, auf
die ich oben schon aufmerksam machte und auf die bereits
U. Gerhardt (5) hingewiesen hat. Das Flimmerepithel richtet
nämlich seine Hauptwirkung auf den Spalt der Kommunikations-
öffnung zwischen Bursa ovarica und Peritonealhöhle bzw. auf
den angrenzenden Abschnitt der letzteren, da die überwiegend
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere etc. 439
grössere Fläche des Bereiches der mit diesem Epithel ausge-
statteten Blätter des Infundibulums nicht gegen den Hohlraum
der Bursa ovarica gerichtet ist, sondern den Eingang in die
Bursa bewacht, wie schon oben auseinandergesetzt wurde.
Der Flimmerstrom hindert also die in den Raum der Bursa
ovarica entleerten Eier am Entweichen aus dieser und am
Eintritt in die freie Peritonealhöhle.
Grosser (4) hat gegen diese von mir geäusserte Ansicht
Stellung genommen und angeführt, dass die Spermien sich
40
Flimmerepithel des Eileiters erzeugt. Die letzteren Annahmen
50 mal so schnell bewegen sollen als der Strom, den das
stützen sich auf die, wie ich oben schon gezeigt habe, ganz
unzutreffenden Berechnungen von Lode. Über die Schnellig-
keit der Bewegung der Spermatozoen aber sind sich erstlich die
Beobachter nicht einig; ferner ist es fraglich, ob die bei der
Beobachtung unter dem Deckglase gewonnenen Ergebnisse ohne
weiteres auf die Verhältnisse des lebenden Tieres anzuwenden
sind.
So ist von verschiedenen Seiten beobachtet worden, dass
Säugetierspermatozoen „gegen den Strom schwimmen“, d. h.
dass ein Strom von gewisser Stärke ihre Fortbewegung nicht
nur nicht hindert, sondern der sonst zu beobachtenden regel-
losen Bewegung der Samenfäden eine bestimmte Richtung
gibt derart, dass diese dem Strom entgegen sich bewegen.
So müsste man annehmen, dass wenn in den Eileitern der
Säugetiere ein Flimmerstrom von einer gewissen Stärke vor-
handen ist, dass dann besonders reichlich und leicht
Spermatozoen aus dem Uterus nicht allein in die Tuben ein-
dringen, sondern sich in der Richtung gegen das Ostium
abdominale fortbewegen würden. So sagt auch Grosser (4):
„Wir sehen ja die Spermien trotz des Flimmerstromes bis
an das Ostium abdominale, wir sehen sie in flimmernde Uterin-
drüsen eindringen.“
440 J. SOBOTTA,
Diese Auffassung der Sachlage bin ich aber nicht imstande
zu bestätigen; im Gegenteil hatte ich oben bereits darauf hin-
gewiesen, dass sich im Eileiter der meisten Säugetiere nach
der Begattung gerade sehr wenig Spermatozoen finden, auch
dann, wenn der Uterus mit Unmassen solcher ganz erfüllt ist.
Ferner liegt meines Wissens keine einzige einwandfreie Be-
obachtung dafür vor, dass Spermatozoen bis an das Ostium
abdominale vordringen; im Gegenteil ich bin imstande auf
Grund sehr zahlreicher Befunde bei der Maus und einer nicht
unbeträchtlichen Anzahl von Beobachtungen bei Ratte, Meer-
schweinchen und Kaninchen entschieden in Abrede zu stellen,
dass die Spermatozoen dahin gelangen !).
Ferner möchte ich überhaupt bestreiten, dass wenigstens
im Eileiter mancher Säugetiere mit spontaner Ovulation wie
dem der Muriden zur Zeit der Begattung ein Flimmerstrom.
in der Tube vorhanden ist. Es ist ja bei diesen, wie oben
schon mehrfach angegeben wurde, ausschliesslich der abdomi-
nale Abschnitt des Tubenrohres mit Flimmerepithel ausgestattet.
Dieser nımmt bei der (spontanen) Ovulation in der oben näher
geschilderten Weise die Eier auf. Sein (uteriner) Endabschnitt
ist dann stark ausgedehnt und mit Flüssigkeit prall gefüllt;
etwa hier noch vorhandenes Flimmerepithel büsst seine
Flimmerhaare ein. Jenseits der durch die Flüssigkeitsblase her-
vorgerufenen Ausdehnung, also im ganzen mittleren und uterinen
Bezirk des Eileiters, fehlt mit absoluter Sicherheit ein Flimmer-
strom, wenn durch die Begattung die Spermatozoen in den
!) Ich habe an anderem Orte (18) angegeben, dass die in den Uterus
durch die Ejakulation injizierte Masse der Spermatozoen bei der Maus von der
Uteruswand direkt abgestossen wird; ein Eindringen von Spermatozoen in
Uterindrüsen kommt hier tatsächlich nicht vor. Allerdings flimmert ja das
Uterinepithel der Maus ebensowenig wie das fast aller (aller?) anderen Säuge-
tiere, worauf erst kürzlich Schmaltz (15) mit Recht aufmerksam gemacht
hat. Wo also bei Säugetieren (ausser dem Menschen) wirklich Spermatozoen
in Uterindrüsen eindringen, da tun sie es gewiss nicht auf Grund der Flimmer-
bewegung.
Uterus befördert worden sind. Auf einen solchen stossen diese
vielmehr erst, wenn sie in die Nähe der Eier angelangt sind,
also die Flüssigkeitsansammlung erreicht haben, in der diese
liegen. Und da lehrt nun die an genügend reichlichem Material
gemachte Beobachtung, dass die Spermatozoen über diese
Region der Tube nicht hinauskommen. Würde der Flimmer-
strom tatsächlich die Spermatozoen anziehen, so müssten diese
nun erst recht aus der Flüssigkeitsansammlung des gedehnten
Kileiterabschnitts heraustreten und durch den Flimmerstrom
gleichsam angesaugt das Ostium abdominale tubae erreichen
oder überschreiten. Das ist aber keineswegs der Fall, wie
schon oben angegeben; es wäre das auch vom Zweckmässig-
keitsstandpunkte aus betrachtet ausserordentlich widersinnig,
dass die Spermatozoen, wenn sie mühsam den Platz ihrer
Tätigkeit erreicht haben, von diesem gewaltsam entfernt werden
sollten und an einen Ort geschafft würden, an dem sie absolut
nichts zu suchen haben.
Bei anderen Säugetieren liegen vielleicht noch nicht ge-
nügende Beobachtungen in dieser Hinsicht vor; immerhin ver-
hält sich die Ratte genau ebenso wie die Maus und das
gleiche gilt für das Meerschweinchen; auch bei diesen Nagern
dürfte die Möglichkeit ausgeschlossen sein, dass in der Tube
ein auf die Spermamassen des Uterus anziehende Wirkung
durch einen ım Eileiter wirksamen Flımmerstrom ausgeübt
wird.
Was das Kaninchen anlangt, so liegen die Verhältnisse
bei diesem ja insofern anders, als hier die Ovulation keine
spontane ist, sondern die Begattung der Lösung der Eier vor-
ausgeht. Da ferner nach den oben bereits zitierten Angaben
von Moreaux (12) der uterine Abschnitt des Kaninchen-
eileiters sein Flimmerepithel um diese Zeit noch nicht verloren
hat, so läge wenigstens die Möglichkeit vor, dass ein wirk-
samer Flimmerstrom vorhanden wäre. Es gelangen aber auch
442 J. SOBOTTA,
beim Kaninchen relativ sehr wenig Spermatozoen in den Bi-
leiter und, soweit meine in dieser Hinsicht allerdings nicht
sehr ausgiebigen Erfahrungen reichen, dringen auch beim Kanın-
chen niemals Spermatozoen bis an das Ostium abdominale
tubae vor oder gar darüber hinaus. Was sollten sie auch dort,
wo der Ort der Befruchtung doch vom Ostium selbst nicht
unerheblich entfernt gelegen ist, wie oben schon gezeigt wurde ?
Die tatsächlichen Beobachtungen am Eileiter der von mir
untersuchten Säugetiere zur Zeit der Ovulation und Begattung
lassen also nichts davon erkennen, dass für die Aufnahme
und Fortbewegung der Spermatozoen im Eileiter etwas anderes
in Betracht käme als deren Eigenbewegung. Ein Flimmerstrom,
der dafür verantwortlich gemacht werden könnte, existiert teils
überhaupt nicht, teils ist kein Anzeichen dafür vorhanden,
dass der Flimmerstrom eine anziehende Wirkung auf die
Spermatozoen ausübt. Im Gegenteil, die oben beschriebenen
Tatsachen, dass insbesondere bei den Muriden, aber auch beim
Meerschweinchen die Spermatozoen die flimmernde Epithel-
strecke der Tube nicht zu überwinden imstande zu sein
scheinen, sprechen voll und ganz für die von mir bereits
früher geäusserte Anschauung. Ich sehe daher auch keinen
Grund dafür, meine Anschauung in diesem Punkte zu ändern,
vielmehr bestätigen mir die allerdings nicht reichlichen Befunde
vom Kaninchen, dass auch bei diesem die Spermatozoen den
Ort der Befruchtung, d. h. die gedehnte Eileiterschlinge nicht
überschreiten. Zufälligerweise verfüge ich Ja gerade beim Kanın-
vhen über einige Beobachtungen aus der Zeit der Besamung
der Eier und der unmittelbar folgenden Entwickelungsperiode.
6.
10.
11118
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Erklärung der Abbildungen auf Tafel 27—34.
Fig. 1. Querschnitt des Eierstockes und der Bursa ovarii eines Meer-
schweinchens, zirka 2 Tage nach erfolgter Begattung. Vergr. 14:1. Der Schnitt
hat den in der Gegend des freien Randes des Mesenterium tubae gelegenen
Schliessmuskel der Bursa getroffen; im Ovarium drei junge Corpora lutea.
Fig. 2. Querschnitt des Eierstockes und der Bursa, ovarii eines Meer-
schweinchens kurze Zeit nach dem Follikelsprung. Vergr. 14:1.
Der Schnitt trifft das Infundibulum; im Eierstock ist ein frisch geplatzter
Follikel im Anschnitt sichtbar, darunter ein Corpus luteum der vorausge-
gangenen Gravidität; Osmiumpräparat; Fett im Mesenterium tubae und im
Mesovarium geschwärzt.
Fig. 3. Querschnitt des Eierstockes eines Meerschweinchens mit der
Bursa ovarii zur Zeit der Ovulation. Vergr. 14:1.
Der Schnitt trifft das Infundibulum. Im Ovarium zwei Corpora lutea
der vorausgegangenen Gravidität.
Fig. 4. Längsschnitt eines Eierstockes eines Meerschweinchens unmittel-
bar vor der Ovulation. Vergr. 14:1.
Es ist das Ostium abdominale tubae im Schnitt getroffen; im Ovarium
zwei fast sprungreife Follikel.
Fig. 5 und 6. Längsschnitte des Eierstockes eines Meerschweinchens
zur Zeit der Ovulation. Vergr. 32:1.
Fig. 6 lässt das gesamte Schnittbild des Ovariums und der Bursa ovari
erkennen; es ist ein soeben geplatzter Follikel sichtbar. Das aus diesem ent-
leerte Ei befindet sich im Periovarialraum und ist in Fig 5 sichtbar. Während
der Schnitt der Fig. 6 das Infundibulum in der Nähe des Ostium abdominale
tubae getroffen hat, ist auf Fig. 5 der in Kontraktion befindliche Musculus
mesenterii tubae mit seiner Insertion am Infundibulum sichtbar.
Fig. 7. Längsschnitt des Eierstockes eines Meerschweinchens einige Zeit
vor Eintritt der Ovulation. Vergr. 14:1.
Fig. 8. Eierstock des Kaninchens mit dem Eileitergekröse und dem
Infundibulum. Vergr. 8:1.
D
29*
446 J. SOBOTTA,
Das Präparat ist durch einen Querschnitt der Art in zwei Teile zerlegt,
dass der abgebildete das ganze Infundibulum zeigt.
Fig. 9. Querschnitt des Eierstockes eines Kaninchens kurz vor Ein-
tritt der Ovulation und des Eileitergekröses. Vergr. 12:1.
Fig. 10. Querschnitt des Eierstocks eines Kaninchens zur Zeit der Ovu-
lation. Vergr. 12:1 und des Eileitergekröses. Im Övarialschnitt ist ein
frisch geplatzter Follikel sichtbar.
Fig. 11. Durchschnitt der Eileiterschlingen der Maus zur Zeit der sexu-
ellen Ruhe. Vergr. 50:1.
Fig. 12. Durchschnitt eines Teils der Eileiterschlingen einer Maus einige
Zeit nach Aufnahme der Eier in den Eileiter. Vergr. 50:1.
Fig. 13. Durchschnitt der Eileiterschlingen einer Maus, etwa 24 Stunden
nach der Befruchtung. Vergr. 50:1. Eier im isthmischen “Abschnitt der Tube
(Zweizellenstadium).
Fig. 14. Durchschnitt des ampullären Endes des Eileiters einer Ratte,
kurze Zeit nach Aufnahme der Eier in die Tube. Vergr. 45:1.
Fig. 15. Durchschnitt des ampullären Teils des Eileiters eines Meer-
schweinchens einige Zeit nach Aufnahme der Eier in die Tube. Vergr. 35:1.
Fig. 16. Durchschnitt einer Schlinge des ampullären Eileiterabschnittes
eines Kaninchens kurze Zeit nach Aufnahme der Eier in die Tube. ‚Vergr. 35:1.
Im Lumen findet sich ausser zwei soeben besamten Eiern auch eine ken-
zentrisch geschichtete Konkretion.
AUS DEM ANATOMISCHEN INSTITUT DER UNIVERSITÄT ZU GREIFSWALD.
DIREKTOR: PROF. DR. E. KALLIUS; I. V.: PRIVATDOZENT DR. v. MÖLLENDORFF
ÜBER DIE NATUR DER AM LEBENDEN TIER ERHALTENEN
GRANULÄREN FÄRBUNGEN BEI VERWENDUNG BASISCHER
UND SAURER FARBSTOFFE.
VON
ELISABETH HERZFELD.
Mit 5 Abbildungen im Text und 21 Abbildungen auf Tafel 35/36.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 3). 30
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Inhaltsverzeiehnis.
I. Einleitung und Problemstellung
II. Eigene Untersuchungen 5
a) Vitalfärbung mit basischen Farbatoffen 5 ;
b) Doppelfärbungen mit sauren und basischen Far Hefokfen e
l. Vitale basische Färbung am vorher sauer gefärbten Tier
2. Vitale saure Färbung am vorher basisch gefärbten Tier
3. Basische Supravitalfärbung am vorher sauer gefärbten Tier
c) Schlüsse auf die Natur der basischen Vitalfärbungsgranula .
5 Färbungen mit lipoidlöslichen sauren Farbstoffen
2. Verteilungsmessungen lipoidlöslicher Farbstoffe in Lecithin-
Xylol
III. Zusammenfassung der Untersuchungen Te de Na des baachen
Vitalfärbungsgranula .
IV. Erklärung der TS la
V. Literaturverzeichnis
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I. Einleitung und Problemstellung.
Als Ehrlich (1885) mit seiner Schrift ‚Über die bio-
logische Verwertung des Methylenblau‘ der wissenschaftlichen
Forschung das Gebiet der vitalen Färbung weiter als bisher
erschloss, hoffte man mit ıhrer Hilfe in die Geheimnisse der
Zelle eindringen zu können. Die basischen Farbstoffe sollten
Aufschluss. geben über morphologische Probleme, färbte man
doch mit ihnen die feinsten Bausteine der Zelle, die Bioblasten
Altmanns. Die sauren Farbstoffe dagegen, lipoidunlöslich
wie viele für den Haushalt der Zelle wichtige Substanzen und
ohne Affinität zu bestimmten Zellelementen, gaben ein Bild
von der physiologischen Funktion der Zelle. Man wies auch
basıschem und saurem Farbstoff ‘in den Zellen, die beide
lingieren, jedem seinen besonderen Speicherungsort zu. So
stellte Gurwitsch (1902) seene Kondensatorentheorie
auf, nach der die Nierenzelle „Vakuolen“ von verschiedener
chemischer Zusammensetzung enthält. Ihre Aufgabe ist die
„Speicherung der verschiedenen harnfähigen Substanzen in
chemischer oder physikalischer Bindung“. Gurwitsch fand
dementsprechend nach Injektion eines lipoidlöslichen Farb-
stoffes nur einen Teil der „Vakuolen“, die aus Lipoiden be-
»)
stehenden, gefärbt, die anderen, die vielleicht eine Salzlösung
enthielten, ungefärbt. Wenn diese Beobachtung richtig war,
452 E. HERZFELD,
wenn wirklich basischer und saurer Farbstoff in verschiedenen
‚‚Vakuolen‘“ gespeichert werden, musste man das am schönsten
bei gleichzeitiger Injektion beider Farbstoffarten zeigen können.
Von diesem Gedanken ausgehend injizierte Höber (1905)
einen lipoidlöslichen basischen Farbstoff, Neutralrot, zusammen
mit dem lipoidunlöslichen sauren Anilinblau in den Rücken-
Iymphsack des Frosches. Er fand unerwarteterweise in den
zweiten Abschnitten der Nierenkanälchen beide Farbstoffe
zusammen in braunvioletten ‚„Vakuolen“ gespeichert.
2
Ebenso bilden das basische Ponceau und das saure Anilinblau
violette Granula in den zweiten Abschnitten, während in
beiden Fällen die übrigen Kanälchenabschnitte, in die der
lipoidunlösliche Farbstoff nicht einzudringen vermag, rein rote,
basische Granula enthielten. Höber kommt zu dem Schluss:
„Es ist fraglich, ob die Stapelung der verschiedenen, von der
Froschniere sezernierten Stoffe in den Vakuolen auf einem
auswählenden Lösungsvermögen der chemisch differenten
Vakuolen beruht; denn lipoidlösliche und lipoidunlösliche
Farben werden in den gleichen Vakuolen gesammelt.“ Hier-
mit wendet Höber sich vorzugsweise gegen Gurwitschs
Kondensatorentheorie, die mit geringen Abweichungen von
Regaud, Policard undCesa-Bianchi geteilt wird; doch
muss sein Befund, die Speicherung basischen und sauren Farb-
stoffs in denselben Granulis sehr überraschen, wenn man die
fundamental verschiedenen Eigenschaften beider
Farbstoffgruppen in Erwägung zieht. Diese Unterschiede
sind, soweit sie für meine Betrachtung in Frage kommen,
im wesentlichen folgende:
Der Färbungsbereich der sauren Farbstoffe, die fast
alle lipoidunlöslich sind, ist bedeutend begrenzter als der der
basischen. Auch bei vitaler Anwendung vermögen sie nicht
in allen Zellen, die basische Farbstoffe speichern, Granula
zu bilden. Eine supravitale Färbung mit ihnen ist bis-
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 453
her nicht gelungen (Pappenheim, A rnold)t). Bis vor
kurzem suchte man die Speicherung der sauren Farb-
stoffe mit Hilfe der Ehrlichschen Chemo ceptoren-
theorie zu erklären (Ruhland 1908, P appenheim,
Loele, Schulemann 1911). Heidenhain dagegen weist
schon 1905 den Gedanken an eine chemische Umsetzung
zwischen saurem Farbstoff und Protoplasmaeiweiss zurück,
da saure Anilinfarben nicht ohne weiteres mit Eiweiss re-
agierten und ihr Dissoziationsgrad noch durch die Alkaleszenz
der Gewebssäfte herabgesetzt werde. Eine andere Erklärung
der Speicherung gibt er nicht. Neuerdings fand nun auch
Schulemann (1912—14), dass die Chemoceptorentheorie
zur Erklärung der Wirkung saurer Farbstoffe versage. Seine
Untersuchungen einer grossen Zahl von Farbstoffen zusammen
mit Evans und Wilborn ergaben, dass nicht der che-
mische Charakter, sondern der physikalische Lösungs-
zustand der Farbstoffe — Konzentration, Elektrolytgehalt, Alter
und vor allem die Diffusionsgeschwindigkeit — von Bedeutung
ist. Durch Phagozytose der Ultramikronen oder deren Aggregate
gelangen die Farbstoffe in das Protoplasma. Die Granula
sind also reine Farbstoffkörnchen, die als Fremd-
körper im Protoplasma liegen. Den Datfusıbilitätsgrad
der sauren Farbstoffe hatte schon Höber (1908) für be-
deutungsvoll erkannt, und Höber, Kempner und Chassin
prüften die Abhängigkeit der sauren Färbung von der Kolloidi-
tät der Farbstoffe an der Froschniere. Hierbei fanden
sie, dass hochkolloidale Farbstoffe — sie gehören sämtlich
den Suspensionskolloiden an — nicht in die Nierenzelle ein-
!) Es wird hier unter „supravitaler“ Färbung nach der Arnoldschen
Definition die Färbung verstanden, „zu deren Zustandekommen nicht erst
tiefgreifende Änderungen der Granula nötig sind“. Die supravitale Färbung,
die Pappenheim und Nakano mit sauren Farbstoffen (Trypanblau) an
formolisierten Blutzellen erzielten, wäre ebenso wie die Oxydasefärbungen der
„postvitalen“ Färbung zuzuzählen.
454 E. HERZFELD,
zudringen vermögen; die Farbstoffe von geringerer Teilchen-
orösse werden sämtlich granulär gespeichert. Demgegenüber
zeigte v. Möllendorff (1915), dass auch einige der h och-
kolloidalen Farbstoffe in die stärker permeable Mäuse-
niere noch eindringen, während andererseits sehr dıflu-
sible Farbstoffe wie Patentblau die Niere so schnell durch-
strömen, dass es nicht zu einer sichtbaren granulären Speiche-
rung kommt. Hierbei untersuchte v. Möllendo r-tt/,zum
ersten Male die Beziehungen der Diffusibilität der Farbstoffe
zu Ausscheidung und Speicherung. Auf die Ergebnisse dieser
Untersuchungen komme ich noch später zu sprechen. Bezüg-
lich der Granula gelangte er zu der Ansicht, dass saure
Granula durch Filterwirkung in den Zellen, die besonders
starker Durchströmung ausgesetzt sind, zustande kommen; sie
stellen also eine hochkonzentrierteLösungsform dar
und entstehen durch allmähliche Anhäufung von Farbstofl-
molekülen in Vakuolen des Protoplasmas. Schulemann er-
klärt nun in neuester Zeit (1915) seine Ansicht dahin, dass,
nach der Adsorption der Farbstoffe an der Grenzfläche Proto-
plasma zu Serum in das Protoplasma, eine teilweise Ent-
mischung des Protoplasmas unter Vakuolenbildung stattfindet.
„In diesen Vakuolen konzentriert sich mehr und mehr der
Farbstoff, bis es zum Ausflocken kommt, und schliesslich das
endeültige Granulum als Substanzkörnchen entstanden ist.“
Mit basischen Farbstoffen ist eine vitale und eine
supravitale Färbung möglich. Unter vitaler Färbung ver-
steht man gegenwärtig eine im lebenden Organismus hervor-
oerufene Färbung mit sauren oder basischen Farbstoffen !).
1) Schulemann, der sich in seinen neueren Arbeiten nicht mehr mit
der basischen Färbung beschäftigt, meint 1911, dass man von einer Vital-
färbung mit basischen Farbstoffen nicht sprechen könne, da durch die grosse
Giftwirkung das Tier stets stürbe. Dem widersprechen wohl die Versuche
von Fischel 1900, der Kaulquappen in verdünnten Lösungen basischer Farb-
stoffe züchtete, in denen sie noch, wenn längst eine Färbung eingetreten war,
Anat Hefte. I Abteilung. Heft 164 (54.Bd H.3) .
: Tafel 35/36
Verlage Tan. Mieghaden
FrarkfurtöN
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 455
Doch begegnet man, wie auf dem Gebiete der sauren Vital-
färbung, so auch auf dem der basischen Färbung auf Schritt
und Tritt Meinungsverschiedenheiten. So gehen die Ansichten
darüber auseinander, ob basische Vital- und Supravitalfärbung
dieselben Zellelemente darstellen. Arnold und seine Anhänger
glauben, dass die Resultate beider Färbungen übereinstimmen.
Pappenheim und Nakano lassen die Frage unentschieden.
Ehrlich erhielt mit vital angewandtem Neutralrot teils die-
selben, teils andere Resultate wie supravital. Doch glauben
fast alle Forscher, dass beide Färbungen präformierte
echte Granulationen darstellen, die im lebenden, funk-
tionstüchtigen Gewebe liegen (O.Schultze,Höber,Cesa-
Bıanchi, Pappenheim, Arnold und viele andere). Nur
Duesberg und Meves halten die bei der basischen Färbung
dargestellten Zellelemente für „Artefakte“. — — — Auch die
Ansichten über die Substanz der Granula sind noch im
Fluss: es handelt sich um eine physikalische oder um
eine chemische Bindung des Farbstoffs. So sind Overton,
Höber, Pappenheim und Nakano, die Verfechter der
physikalischen Speicherungstheorie, der Meinung, dass der
Farbstoff ın der Iipoiden Hülle oder der Lipoidsubstanz der
Granula gespeichert wird, während Heidenhain und Loele
glauben, dass der basische Farbstoff durch seinen Ambo-
ceptor, die Amidogruppe, an das saure Eiweiss des Granulums
fixiert wird. Sowohl eine Speicherung in Lipoiden, wie eine
wochenlang am Leben blieben. Auch die nachfolgenden Versuche zeigen, dass
man mit manchen basischen Farbstoffen schon in ausserordentlich starker
Verdünnung Färbungen erzielen kann; eine Giftwirkung ist da wohl auszu-
schliessen. Es liegen zurzeit nicht genügend Anhaltspunkte vor, um die ganze
basische Färbung als eine „supravitale‘‘ Färbung, die also nekrobiotische Vor-
gänge zur Voraussetzung hätte, zu bezeichnen. Auch die Versuche von Rost,
der beim Frosch nach Schädigung durch Blutgifte vermehrte Vitalfärbung
der roten Blutkörperchen erzielte, beweisen nicht, dass an und für sich die
basische Vitalfärbung stets mit einer Zellschädigung verbunden ist oder Kunst-
produkte darstellt.
456 E. HERZFELD,
chemische Bindung an Protoplasmaeiweiss halten Arnold und
Ehrlich für möglich. Die verschiedenen Varianten dieser
Auffassungen, besonders die Erörterungen darüber, ob sich
nun lebendes Protoplasmaeiweiss oder. paraplastische Sub-
stanzen tingieren, einzeln anzuführen, würde über den Rahmen
dieser Betrachtungen hinausgehen.
Weitere Verschiedenheiten im Verhalten saurer und basi-
scher Farbstoffe zeigt uns neben der Speicherung noch
die Art ihres Eindringens in die Zelle. Bezüglich dieser
Fragen der Zellpermeabilität verweise ich auf die verzügliche
Erörterung des Problems bei Höber (Physikalische Chemie
der Zelle und der Gewebe, 4. Aufl. 1914). Höber steht mit
den meisten Forschern (Fischel, Arnold, Pappenheim,
Rost und vielen anderen) auf dem Boden der Overton schen
Lipoidtheorie, nach der die aus Lipoiden bestehende Plasma-
haut vorzugsweise für lipoidlösliche (basische) Farbstoffe durch-
gängig ist und für die Schnelligkeit ihres Eintritts in die
Zelle verantwortlich zu machen ist. Die sauren Farbstoffe
dagegen dringen, wie schon erwähnt wurde, abhängig von
ihrer Diffusibilität bzw. Kolloidität in die Zelle ein. Ruh-
land glaubt allerdings, dass bei beiden Farbstoffarten die
Schnelligkeit des Eindringens lediglich durch die Abhängig-
keit von den Diffusionsgesetzen beeinflusst wird. Die basısche
Färbung wird eher sichtbar, weil ihr Farbstoff durch eine
schnell verlaufende lonenreaktion, der saure durch eine lang-
sam verlaufende Kolloidreaktion gespeichert wird. Doch ist
Ruhlands These von der „Ultrafiltration‘ oder „Diffusion“
der Plasmahaut für tierische Zellen noch nicht bewiesen.
Eine Prüfung basischer und saurer Farbstoffe zu-
sammen ist wohl besonders geeignet, die Verschiedenheiten
ihres Verhaltens zu erklären. Höber stiess dabei mit den
oben erwähnten Versuchen auf Widersprüche mit seiner An-
sicht von der Speicherungsart der Farben. Bis jetzt sind seine
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 457
Versuche noch nicht klargelegt, und doch liegt es auf der
Hand, dass bei den fundamentalen Verschiedenheiten saurer
und basischer Farben nicht beide in denselben „Vakuolen”
gespeichert werden können, andernfalls wir unsere ganzen
Speicherungstheorien umformen müssen. Seitdem sind schon
Doppelfärbungen verschiedenster Art versucht, aber ohne
recht befriedigendes Resultat. Loele fand im Gegensalz zu
Höber bei Versuchen an Paramäcien, dass das basische
Neutralrot und das saure Pyrrolblau getrennte Formelemente
darstellen. Durch Kombination saurer Vital- und basischer
Supravitalfärbung erreichte Goldmann eine Differenzierung
von vitalgefärbten Klasmatozyten und supravital färbbaren
Mastzellen. Garmus wieder versuchte Doppelfärbungen an
der Nickhautdrüse vom Frosch, doch gelang ihm nur eine
Färbung von Rhodamin und Methylenblau, die blaue Granula
auf diffusem rosa Grund zeigte, und die Färbung mit Neutral-
rot und Methylenblau, bei der zuerst rote, später blaue Granula
entstehen. — Durch Kombination zweier saurer Farbstoffe
hoffte Schulemann die Geheimnisse der Granula zu er-
gründen. Bei gleichzeitiger Injektion von Trypanblau und Vital-
neurot fand er rote Granula und sehr dunkle blaue, die viel-
leicht auch roten Farbstoff enthielten; bei der Injektion nach-
einander rein rote und blaue Granula. Dieser Versuch weist
schon darauf hin, wie wichtig bei Doppelfärbungen die Zeit-
folge für den Ausfall der Färbung ist. —- Kombinationen basi-
scher Supravitalfärbungen reichen von Mich aelis (1900) bis
Rost (1911). Letzterer prüfte an Erythrocyten vom Frosch
zwei basische Farbstoffe vital und supravital und fand, dass
sie teils gleichzeitig in Mischfarbe färben (Neutralrot und Nil-
blau), teils nacheinander (Neutralrot und Methylenblau), oder
dass einer den andern verdrängt (Neutralrot und Methylgrün).
Die Erklärung hierfür sucht er in der verschieden starken
Lipoidlöslichkeit der Farbstoffe. — Auch an Pflanzen wurden
458 E. HERZFELD,
Doppelfärbungen versucht. Ruhland fand, dass der basische
Farbstoff Neutralrot nur in die Epidermiszellen von Primula
chinensis eindringt, die noch nicht zuviel Säuregrün gespeichert
haben.
Ks ist nun ım folgenden versucht worden, mit Hilfe von
Farbstoffkombinationen die Speicherung saurer
und basischer Farbstoffe in der Zelle zu lokalisieren und
zu zeigen, welchen Einfluss sie aufeinander ausüben können.
Es ergaben sich dabei auch einige Hinweise auf die Natur
der Granula. Die Untersuchungen sind an der Niere aus-
geführt worden, weıl dort die Beziehungen zwischen Speiche-
rung und Ausscheidung am besten beobachtet werden können.
Schulemann schliesst zwar aus den Höberschen Ver-
suchen, die Niere müsse eine Sonderstellung einnehmen, doch
[ut sie das nicht, weil sie unter Umständen saure und basische
Farbstoffe in denselben Granulis speichert, sondern nur be-
züglich ihrer Permeabilität für beide Farbstoffarten, einer
Eigenschaft, die noch andere Zellarten mit starker Durchströ-
mung, wie die Sternzellen der Leber, mit ihr teilen. — Was
die ın den letzten Jahrzehnten vielfältig beschriebene Fär-
bung der Niere mit sauren Farbstoffen anbetrifft, so ver-
weise ich auf die Arbeit von v. Möllendorff 1915, die
neben einer Zusammenfassung der bis dahin erschienenen
Iiteratur die Abhängigkeit des Speicherungs- vom Ausschei-
dungsproblem bringt: „Zunahme, Maximum und Abnahme der
Färbung in der Niere gehen nicht mit den entsprechen-
den Stadien der Konzentrationskurve des Urins
parallel.“ Da nur die Abnahme der Färbung mit der Abnahme
_ der Urinkonzentration zusammenfällt, das Zunahmestadium der
Nierenfärbung dagegen mit dem Stadium der höchsten Urin-
konzentration, ist „die Färbung nicht mit der Ausscheidung
gleichbedeutend, sondern als das Resultat einer Speicherung
zu betrachten‘. Für basısche Farbstoffe bestanden dies-
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 459
bezügliche Untersuchungen noch nicht; es war daher meine
erste Aufgabe, die basische Vitalfärbung ım Zusammen-
hang mit der Elimination des Farbstoffes im Urin
zu studieren und zu sehen, ob entsprechend den fundamental
verschiedenen Eigenschaften saurer und basıscher Farbstoffe
auch ihre Speicherung und Ausscheidung verschieden verläuft.
Il. Eigene Untersuchungen.
a) Vitalfärbung mit basischen Farbstoffen.
Die Versuche wurden an weissen Mäusen unternommen,
denen subkutan je nach der Grösse ?/,—1 ccm des Farbstoffes
in 1—2%iger wässriger Lösung injiziert wurde. Nachdem sich
bei Doppelinjektionen herausgestellt hatte, dass saurer und
basischer Farbstoff auch ım Organismus Fällungen bilden, also
eine Reaktion eingehen, die nach stöchiometrischen Gesetzen
verläuft (S. 477 u. 483), wurde mit Normallösungen gearbeitet.
Die eingeklammerten Zahlen geben stets den entsprechenden Pro-
zentgehalt an. Die Molekulargewiehte wurden nach den Formeln
in Pappenheims l’arbehemie (1961) und in den Farbstoff-
tabellen von Schultz und Julius (1913) berechnet. Sämt-
liche Farbstoffe wurden von der Firma Grübler bezogen.
Leider machte sich bei den Mäusen die Giftigkeit der basi-
schen Farbstoffe meist bald bemerkbar. Selbst schwächere
Konzentrationen, z. B. von Nilblausulfat, wurden dann schlecht
vertragen. Es wurden darum die widerstandsfähigeren Frösche
zu Hilfe genommen. Der Urin wurde bei Mäusen alle Viertel-
stunde auf Fliesspapier aufgefangen, bei Fröschen in grösseren
Zeitabständen durch Katheterisieren gewonnen. Die Mäuse
460 E. HERZFELD,
wurden durch Chloroform, Frösche durch Durchschneidung des
Rückenmarks getötet und ein Schabsel der Niere und Leber,
meist auch der übrigen Organe, in 0,9 resp. 0,65%%iger Koch-
salzlösung untersucht.
Beifolgende Tabelle nennt die injizierten Farbstoffe (S. 461).
Basısche Farbstoffe, besonders immer Neutralrot und
Methylenblau, sind schon oft (von Mitrophanow,
Galeotti,Schultze, Gurwitsch, Arnold Hober,
Policard und vielen andern) injiziert worden. Vielfach wurde
der Farbstoff in mehreren Dosen nacheinander verabfolgt, was
dann stets zum Tode des Tieres führte. Für mich war, der
Doppelfärbungen wegen, nur eine einmalige, möglichst un-
schädliche Dosis zulässig. Die Ergebnisse waren die gleichen
wie bei den oben erwähnten Autoren. Stets werden in der
Niere die ersten Granula an der Lumenseite der
Zelle beobachtet, doch bald erstrecken sie sich durch die ganze
Zelle, in der sie unregelmässig verstreut liegen. Die Färbung
in den geraden Harnkanälchen ist bei den einzelnen
Farbstoffen sehr verschieden stark. Thioninblau GO gibt bei
der Maus dort nur wenige Granula, Nilblausulfat und Nilblau-
chlorhydrat gar keine. Die beiden Nilblau bilden in der Niere
überhaupt nur auffallend wenige Granula, sie geben allerdings
Niederschläge mit den Gewebssäften. Für das Eindringen in
die geraden Kanälchen kommt vielleicht der Grad der Lipoid-
löslichkeit in Frage. — Die Färbung in den Hauptstücken
breitet sich bei basischen Farbstoffen in derselben Weise aus,
wie es für saure beschrieben ist (v. Möllendorff 1915).
Die ersten Granula erscheinen in der Nachbarschaft der Glome-
ruliı und während hier die Färbung immer an Intensität zu-
nımmt, breitet sie sich in die mittleren und die distalen An-
teile der Hauptstücke aus; einige Granula entstehen zur selben
Zeit in den geraden Harnkanälchen. Am stärksten wird also
auch bei basischen Farbstoffen die Färbung im proximalen
461
Färbungen etc.
Natur d.
Über d.
am lebenden Tier erhaltenen granul.
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462 E. HERZFELD,
Anteil der Hauptstücke. Umgekehrt bleibt bei der Ausscheidung
der Farbstoff hier am längsten erhalten.
Die Beobachtungen über die verschiedene Grösse
der Farbgranula nach bestimmter Zeit kann ich bestätigen.
So gibt Höber für die Froschniere an, dass 24 Stunden
nach der Injektion Toluidinblau und Neutralrot in kleinen runden
Tröpfchen, Methylenblau in staubförmig feinen Granula, Bis-
marekbraun in grossen Tropfen aller Dimensionen gespeichert
ist. Man kann aber bei jedem Farbstoff in verschiedenen
Zeiträumen alle diese Stadien der Granulabildung sehen; deut-
licher an der Frosch- als an der Mäuseniere, da beim Kalt-
blütler die Bildung der Granula langsamer verläuft und die
Granula an und für sich viel grösser sind. So ist Neutralrot
n
30
tückenlymphsack in den 2. Abschnitten der Froschniere staub-
(1 ccm 10,953%ig]) 12 Stunden nach der Injektion in den
förmig fein gespeichert. Die Granula sind über die ganze
Zelle verstreut und liegen oft zu mehreren beisammen. Erst
wenige tropfenförmige Granula sind sichtbar, wohl durch Zu-
sammenlagerung der feinen entstanden (Fig. 1). Nach
24 Stunden (Fig. 2) bildet Neutralrot die kleinen, runden
Tröpfchen, noch später neben den kleinen grosse, so dass
in einer Zelle alle Granulagrössen vertreten sind, ein Bild,
das gerade für basische Farbstoffe charakteristisch ist: in der
ganzen Zelle verstreut liegende Granula aller Grössen-
ordnungen. Saure Farbgranula liegen, besonders in früheren
Stadien, immer viel regelmässiger zwischen Kern und Bürsten-
saum und bilden stets Granula einer Grössenordnung. Wenn
Methylenblau nach 24 Stunden erst ganz feine Granula bildet,
so befindet es sich noch in einem früheren Stadium der Granula-
bildung als Neutralrot.
Betrachtet man ebenso stufenweise die verschiedenen
Stadien der Entfärbung, so sieht man, wıe die Granula,
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 463
ohne ihre maximale Grösse und Form wesentlich zu ändern,
immer mehr abblassen. Es scheint der Farbstoff also all-
mählich von dem die Niere immer neu durchströmenden Flüssig-
keitsstrom ausgewaschen zu werden. Daneben findet man bei
allen basischen Farbstoffen im Lumen mit Farbstoff beladene
Zelltrümmer. Für eine „granuläre Ausscheidung"
der Farbstoffe, wie sie z. B. die Höbersche Schule
vertritt, ergaben sich mir keine Anhaltspunkte; die-
selben tropfigen Granula wie in den Zellen habe ich im Lumen
der Kanälchen nicht beobachten können. Diese Befunde decken
sich zum grössten Teil mit den bei sauren Farbstoffen er-
haltenen. Von Möllendorff (1915) beobachtete ein all-
mähliches Abblassen der Granula und daneben in den proxi-
malen Anteilen der Hauptstücke, wenn eine starke Farbstoff-
ablagerung zur Schädigung einzelner Protoplasmabestandteile
geführt hatte, eine Ausstossung von mit Farbstoff beladenen
Zelltrtümmern ins Lumen der Kanälchen. Auch bei basischen
Farbstoffen ist das Vorhandensein von mit Granulis beladenen
Zellbestandteilen als ein Zeichen der Zellschädigung aufzu-
fassen.
Sehr verführerisch war es, das verschieden schnelle Ein-
dringen der basischen Farbstoffe in Beziehung zu ihrer
Lipoidlöslichkeit zu setzen; doch sind da die ver-
schiedensten Nebenumstände zu berücksichtigen tl. Bei der
!) Als Massstab galt die Löslichkeit der Farbstoffe in Leeithin-Xylol,
wie sie die Tabelle S. 508 angibt. Um die verschiedene Eindringungsgeschwin-
digkeit der Farbstoffe festzustellen, wurden auch Doppelfärbungen mit zwei
basischen Farbstoffen, vital und supravital, unternommen, die im wesent-
lichen dieselben Ergebnisse wie die Rostschen Versuche lieferten. Doch ist
da zum wenigsten neben dem Grad der Lipoidlöslichkeit noch der Kolloiditäts-
grad zu berücksichtigen, wie Versuche mit dem stark lipoidlöslichen, aber hoch-
kolloidalen, wenig eindringenden Viktoriablau 4R zeigten. Wahrscheinlich
kommt auch für die Schnelligkeit der Speicherung, also für das Sichtbarwerden
des eingedrungenen Farbstoffes der Basizitätsgrad in Frage, der wieder mit
der Giftwirkung in Zusammenhang steht (s. S. 485). Erst nach Berücksichtigung
aller dieser Faktoren nebeneinander wird man entscheiden können, ob die Lipoid-
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft. (54. Bd., H. 3.) öl
464 E. HERZFELD,
Maus differieren die Eindringungsgeschwindigkeiten der nicht
oiftige wirkenden Farben so wenig, dass nach einer Stunde
schon alle in der Niere sichtbar sind. Es wird ja Neutralrot
ein wenig eher und intensiver gespeichert als z. B. das weniger
lipoidlösliche Thioninblau GO, doch sind die Unterschiede nur
minimal, und es scheint auch der Individualität ein gewisser
Spielraum gelassen zu sein. Phlegmatische Tiere mit trägem
Stoffwechsel speichern entschieden etwas langsamer als leb-
hafte Tiere, die sich oft durch Polyurie auszeichnen. Auch
bei Fröschen sind die Resultate unter sonst gleichen Versuchs-
bedingungen nicht immer die gleichen; besonders wirkt hier
störend das gegen den Herbst hin immer häufiger in Niere
und Leber auftretende Pigment, das schon Goldmann und
Schulemann erwähnen. Dieses gelbliche Pigment ist, wie
v. Möllendorff beschreibt und ich bestätigen kann, in der
gleichen Weise in den Hauptstücken einer und derselben Niere
angeordnet, wie es für saure Farbstoffe allgemein gilt. Es
verhält sich den Farbstoffen gegenüber sehr verschieden. Von
basischen Farbstoffen wird es meist überfärbt, so dass
es z. B. mit Nilblausulfat oder Methylenblau blaugrüne Granula
bildet (Figg. 10 u. 14). Den Eintritt saurer Farbstoffe in
die Zelle scheint es zu beeinträchtigen; in stark mit Pigment
löslichkeit das Eindringen in die Zelle beeinflusst. Dementsprechende Ver-
suche sollen im hiesigen Institut unternommen werden. — Eine Beobachtung,
die man öfter an basischen, nie an sauren Farbstoffen machen kann, spricht
vielleicht für die Bedeutung der Lipoidlöslichkeit. So wurde Methylenblau BX
bei Mäusen stets in solchen Rindenkanälchen der Niere in intensiv gefärbten
Granulis gespeichert gefunden, die der subkutanen Injektionsstelle direkt an-
lagen. Die übrigen Kanälchenabschnitte waren ganz frei von Granulis. Der
Farbstoff war entschieden quer durch die Gewebe, nicht auf physiologischem
Wege, in die Niere eingedrungen (s. S. 493). Eine stärkere Granulafärbung der
der Injektionsstelle anliegenden Kanälchenanteile findet man noch bei anderen
basischen Farbstoffen. Auch die mit Methylenblau in Kombinationsfärbungen
erhaltenen Granulaarten, nur basische und saure, ganz getrennte Granula,
scheinen dafür zu sprechen, dass der Farbstoff nicht wie die anderen auf physio-
logischem Wege in die Niere eindringt. Genauere Erklärung S. 492—494, siehe
auch Fig. 17.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 465
gefüllte Zellen geht der Farbstoff nicht hinein, in schwächer
tingierten liegt er neben den gelben Granula. Schlüsse auf
die Substanz der Pigmentgranula lassen diese Beobachtungen
nicht zu, es sei denn, dass man ihnen saure Reaktion zu-
schreiben müsste (S. 488).
Bedeutende Unterschiede im Verhalten basischer und saurer
Farbstoffe zeigt uns ein Vergleich ihrer Speicherungs-
und ihrer Ausscheidungsgeschwindigkeit. Die
basische Färbung tritt im Verhältnis zur sauren überraschend
schnell ein. Der Transport der Farben im ÖOrganısmus mag
wohl durch das verhältnismässig geringe Molekulargewicht und
die grosse Diffusibilität begünstigt werden; vielleicht spielt
hierbei die Lipoidlöslichkeit eine Rolle. Andererseits muss die
„Echtheit“ der Färbung im Vergleich mit der saurer, gleich
diffusibler Farbstoffe überraschen, wie man leicht an der
Froschniere sehen kann. Die basıschen Farbstoffe scheinen
bezüglich der Speicherung den Diffusibilitäts-
gesetzen nicht zu gehorchen 1). — Bei der Maus färbt das
saure hochdiffusible Patentblau nur diffus, indigschwefelsaures
Natron und Lichtgrün SF, die etwas weniger diffusibel sind,
werden eben kaum erkennbar granulär gespeichert. Sämtliche
untersuchten basischen Farbstoffe, die bei der Maus granulär
färben, sind mit dem Dialysierschlauch gemessen diffusibler
als das von v. Möllendorff (1915) gebrauchte Lichtgrün
und teilweise auch als indigschwefelsaures Natron. Es kommen
für die basische Speicherung also ganz andere Ge-
!) In der Frage, ob die basische Färbung eine Ausscheidungs- oder Speiche-
rungsfärbung ist, zeigte die Betrachtung der Ausscheidungskurven genau die-
selbe Divergenz mit der Nierenfärbung wie sie v. Möllendorff 1915 für saure
Farbstoffe beschrieb. Nur die Abnahme der Nierenfärbung fällt mit der Ab-
nahme der Urinkonzentration zusammen, das Zunahmestadium mit dem Maxi-
malstadium der Urinkonzentration.
Wir haben also auch die Färbung mit basischen Farbstoffen als „das
Resultat einer Speicherung zu betrachten“.
al*
466 E. HERZFELD,
setze in Betracht wie für die saure. Noch auffallender
tritt das beim Vergleich der Ausscheidungskurven zu-
- ä 3 n Ks; “er 8 x r
tage. Bei der Injektion einer ;n (2,010oigen) Lösung von Licht-
erün sinkt die Urinkonzentration nach 3 Stunden stark ab,
nach 7 Stunden ist das Tier schon völlig farblos, die Urin-
farbe ganz hell geworden (s. Kurve Abb. 1). Neutralrot ist,
mit den von Abderhalden geprüften Dialysierschläuchen
der Firma Rud. Schoeps (Halle) ebenso mit dem Gelatinegel
nach Ruhland oder Traube geprüft, verhältnismässig sehr
diffusibel, wird allerdings noch von einigen der von mir ver-
Ya
4
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E : 3 ’ 5 + F
Coneenbiabionskurus des Uns ka Aichtgrim BER
Fig. 1.
Konzentrationskurven des Urins für Liehtgrün SF. (Aus v. Möllendorff 1915,
S. 154.)
wendeten basischen Farbstoffe, wie z. B. Methylenblau rect.,
Toluidinblau übertroffen. Das von Traube geprüfte Licht-
erün S ist im Gegensatz zu dem von Grübler bezogenen
Lichterün SF recht wenig diffusibel; doch konnte das letztere
leider nicht mehr mit dem Gelatinegel geprüft werden, da ein
neu bezogenes Präparat ganz anders als das früher gebrauchte
sich verhielt und noch stärker diffundierte. Dies ist wieder
eine Mahnung, der Verschiedenheit der Farbstoffpräparate Be-
achtung zu schenken.
Meine Ausführungen beziehen sich auf das von
v. Möllendorff (1915) beschriebene Lichtgrün SF, das
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Yo
0 Nadı
1
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 467
zwar ziemlich diffusibel war, doch bedeutend weniger als
Neutralrot. Injiziert man nun eine 30 (0,7201ge) Neutral-
rotlösung, so beginnt nach 1—2 Stunden, wo die Urin-
ausscheidung ihren Höhepunkt erreicht, ein ganz allmählıches
Abnehmen der Urinkonzentration, so dass noch nach 26 bis
30 Stunden eine deutliche Urinfärbung vorhanden ist, nach
48 Stunden meist noch eine ganz leichte Färbung (s. Kurve
Abb. 2). Eine längere Prüfung stösst wegen der Giftwirkung
des Farbstoffes auf Schwierigkeiten. Analog verhalten sich
alle geprüften basischen Farbstoffe bis auf Bismarckbraun (s.
Kurve Abb. 3). Dies wurde bei der Maus nie granulär
2 3 4 3 6 7 8 ® w n [v2 ıH 24
Fig. 2.
Konzentrationskurve des Urins für Neutralrot = (0,72°/ 18).
gespeichert gefunden und gibt auch die Ausscheidungs-
kurve eines hochdiffusiblen Farbstoffes ähnlich der des Patent-
blau).
1) Man könnte einwenden, dass Bismarckbraun, das bekanntlich leicht
reduziert wird, eben aus diesem Grunde keine sichtbare granuläre Speicherung
geben könne, doch ist demgegenüber zu erwähnen, I. dass man beim Frosch
eine Färbung findet, die in ihrer Art sich unter die Färbung hochdiffusibler
Farbstoffe einreihen würde (schon nach 24 Stunden grosse Tropfen aller Dimen-
sionen), 2. ist die Diffusionsgeschwindigkeit des Bismarckbraun, mit dem
Gelatinegel nach Traube geprüft, bedeutend grösser als die der anderen ver-
wandten basischen Farbstoffe, 3. kreisen auch saure Farbstoffe reduziert im
Blut, erscheinen trotzdem oxydiert in der Nierenzelle (v. Möllendorff 1915)
und 4. erscheint der Farbstoff im Urin in einer Konzentration, die, bedeutend
höher als die der granulär gespeicherten basischen Farbstoffe, die Konzentration
der injizierten Farblösung erreicht. Die letztere Tatsache spricht dagegen,
dass grössere Mengen des Farbstoffes in die von Michaelis u. a. erwähnte
reduzierte, nicht wieder reoxydable Form übergeführt sein können.
30
48
468 E. HERZFELD,
Die Prüfung der Ausscheidung basischer Farbstoffe ergibt,
dass diese sich nicht einfach bezüglich ihrer Diffusi-
bilität und Speicherung den für saure Farb-
stoffe aufgestellten Gesetzen einreihen lassen.
Trotz einer Diffusibilität, die die der meisten sauren Farben
weit übertrifft, werden sie stark granulär gespeichert. Einer
srossen Färbegeschwindigkeit steht eine verminderte Ausschei-
dungsgeschwindigkeit gegenüber. Die Ausscheidungskurven der
gespeicherten basischen Farbstoffe verlaufen sämtlich sehr
protrahiert.
Fig. 3.
Konzentrationskurve des Urins für Bismarckbraun 55 (1530/12):
Es ereibt sıch, hieraus. rur “d4es Grammar
bildung und Speicherung basischer Farbstoffe
Tolgendes:
1. Bei’ der"Bildung der basischen 'Granula
sieht man, zuerst ieınnadlige, dann kleine
runde, zuletzt grosstropfige Granula entstehen.
Schliesslich liegen Granula aller Grössenord-
nungen verstreutin der Zelle.
2. Im’ Stadıum der’Entfärbung finder ein ame
blassen der Granula statt; eın Teil des Farb-
stoffes wird ausgewaschen, ein Teil in seinen
Granulis mit Zellbestandteilen ns Lumen der
Färbungen etc. 469
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul.
Kanälchen entleert, wobei der letztere Vorgang
als Zellschädigung aufzufassen ist.
3. Die Speicherung der basischen Farbstoffe
istnichtindergleichen WeisevonihrerDiffusi-
bilitätskonstante abhängig wie die der sauren.
4. Die gebräuchlichen basischen Vitalfarben
haben eine 'erössere 'Diffusibılıran abs vzur
Nierenvitalfärbung brauchbare saure Farb-
stoffe (an der Maus festgestellt).
5. Die basische Färbuns übertrifft an Echt-
heitdie gleich diffusibler saurer Farbstoffe (am
Frosch zu vergleichen).
6. Die Ausscheidungskurven der basischen
Farbstoffe verlaufen sämtlich sehr protrahier!t.
7.Eıne Ausnahme bildetnurBismarckbraun,
das (offenbar seiner grossen Diffusıbilıtät
wegen) bei der Maus nicht granulär gespeichert
wird.
Ergibt so schon ein Vergleich der sauren und basischen
Färbung, dass für die Speicherung beider Farbstoffarten
im Organismus ganz verschiedene Bedingungen
in Betracht kommen müssen, so erhellt dies noch besser aus
den Doppelfärbungen.
b) Doppelfärbungen mit sauren und basischen Farbstoffen.
Bei Farbstoffkombinationen injizierte ich beide Farbstoffe
nicht gleichzeitig, schon um eine Ausfällung grösserer Farb-
stoffmengen an der subkutanen Einstichstelle zu vermeiden,
sondern ich liess die Injektionen in Zeitabständen, deren Mass
sich aus der beobachteten Eindringungsgeschwindigkeit der
Farbstoffe ergab, aufeinander folgen. Es gelingt auch so besser,
die Gesetze, nach denen beide sich beeinflussen, zu finden.
470 E. HERZFELD,
Doppelfärbungen sind viel leichter mit früherer Einspritzung
des sauren Farbstoffes und folgender basischer Färbung zu
erzielen als umgekehrt. Der Grund ist sehr einfach: Man in-
jiziert den basischen Farbstoff nach genügend langer Einwirkung
des meist unschädlichen sauren. Schon nach 1—2 Stunden
ist der basische Farbstoff bei der Maus in hinreichender Menge
in die Nierenzelle eingedrungen; solange halten ihn die meisten
Tiere gut aus. Die Giftwirkung des basischen Farbstoffes
scheint sogar durch die Gegenwart des sauren abgeschwächlt
zu werden (S. 485).
Geht dagegen die basısche Injektion der sauren voraus,
so übersteht das schon geschwächte Tier die mehrstündige
Einwirkung des sauren Farbstoffes (Neuvitalrot 4h, Trypan-
blau 6h), die zur Erzielung einer deutlichen Färbung nötig
ist, viel schwerer. Bei Fröschen endlich, wo der saure Farb-
stoff erst nach Tagen in der Niere sichtbar wird, ist der
basische oft schon teilweise oder völlig ausgeschieden. Es
gilt also eine sorgfältige Auswahl der Farbstoffe sowohl hin-
sichtlich ihrer Diffusibilität und Giftwirkung wie bezüglich
ihrer Farbnuance, und dadurch wird die Zahl der zu solchen
Versuchen brauchbaren Farbstoffe natürlich wesentlich be-
schränkt. Doch hoffe ich auch mit wenigen Farbstoffen ge-
nügend sichere Resultate bieten zu können.
1. Vitale basische Färbung am vorher sauer gefärbten Tier.
Bei einer sauren Färbung mit folgender Injektion eines
basıschen Farbstoffes ergab sich mir dasselbe Resultat wie
Höber: Granula in der Mischfarbe, die Farbstoffe werden
in „denselben Vakuolen‘“ gespeichert. Folgende Protokolle
mögen das beweisen:
Maus 8:
8? h. a. m. Injektion von 1 ccm Trypanblau So (0,953 /, ig)
3°° h. p. m. Injektion von 1 ccm Neutralrot 2 (0,953 0/18).
30
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 471
Der blaue Urin wird immer violetter, bis er schliesslich
die Farbe des Neutralrots annımmt.
440 h. p. m. getötet durch Chloroform.
Niere makroskopisch violett.
Die Zellen der Hauptstücke zeigen rein violetle Granula,
in den geraden Kanälchen rote. Im Lumen violett gefärbte
Zelltrümmer. In den Sternzellen der Leber violette Granula. —
Die Haut an der Injektionsstelle zeigt violetten, feinflockigen
Niederschlag. —- Im Formolpräparat (10%Yiges Formol) nehmen
die Granula eine etwas blauere Farbe an, doch bleibt noch
genügend Neutralrot in den Granulis erhalten.
Frosch,492:
- is 1
9, VI. 12 h. m. l ccm Crocein -
20 (2,93%/,ig).
6. h. p. m. 1 ccm Nilblausulfat (1,00%/,18).
10. VI. 920 a. m. getötet.
n
40
Die Niere bietet ein sehr klares Bild. Dunkelblaue, fast
schwarze, sehr scharf umrissene Granula in den 2. Abschnitten,
die durchaus in der Anordnung saurer Granula den Kern an
der Lumenseite girlandenförmig umgeben. In den übrigen
Kanälchen sieht man sehr mattblaue Granula von der Farbe
des Nilblausulfat. Die Sternzellen der Leber enthalten gleich-
falls tiefdunkle neben ganz hellblauen Granula. Im Iso-
lationspräparat mit Salzsäure vom spez. Gewicht 1,124
sind die schwarzen Granula etwas abgeblasst erhalten, bei
Zusatz von Wasser unter dem Deckglas werden sie rötlich,
ein Beweis dafür, dass sie Crocein enthielten; denn aus dem
dicken unfiltrierbaren Niederschlag von Crocein und Nilblau-
sulfat im Reagenzglas löst sich das Nilblau bei Säurezusatz.
Es bleibt ein gelbbrauner Niederschlag von salzsaurem Crocein
zurück, der in Wasser mit roter Farbe löslich ist.
472 E. HERZFELD,
Noch be: einer grossen Anzahl anderer Versuche ergab
sich stets eine Umfärbung der sauren Färbung durch
die basische.: Bei genügend grossen Farbstoffmengen ent-
stehen opake Granula von unregelmässigster Form, die sich
aufs deutlichste von den regelmässigeren, tropfenförmigen oder
feinnadligen, meist stark lichtbrechenden Granula der Einfach-
färbung unterscheiden. Diese Granula bestehen, wie schon aus
dem eben zitierten Versuch hervorgeht, aus einem Nieder-
schlag beider Farbstoffe und sollen im folgenden als „Nieder-
schlagsgranula“ bezeichnet werden. Oft findet man in
der Nierenzelle auch durchsichtige tropfige Gebilde in der
Mischfarbe beider Farbstoffe, die sich in diesen Granulis an-
scheinend in Lösung befinden. Ihre regelmässige Form, ihre
hellere Farbe unterscheidet sie auf den ersten Blick von den
opaken, klumpigen Niederschlagsgranula. Nicht so leicht sind
diese „Mischgranula“ gegenüber den rein basischen oder
rein sauren kenntlich. So gibt z. B. eine Doppelfärbung von
wenig Trypanblau (M. 37: 1 com zog [0,476 Yig]) und nach
12 Stunden im Überschuss t) Neutralrot (1 cem = [0,953°/o ig])
Granula roter Farbe, dunkle bis ganz hellrötliche, die nur
ein leichter blauer Schimmer als Mischgranula erkennen lässt.
Meist finden sich beide Arten nebeneinander: die opaken,
amorphen Granula und die durchsichtigen, tropfigen Misch-
granula, noch ganz in Gestalt und Grösse der entsprechenden
sauren.
Folgende aus einer grossen Reihe ausgewählte Versuche
mögen dies belegen. Ich gebe nur kurz den Nierenbefund
an, in den Kupferschen Sternzellen der Leber, in den Pyrrol-
zellen fanden sich fast stets dieselben Granulaarten:
1) Inwiefern diese Menge Neutralrot in bezug auf die eingegebene Menge
Trypanblau einen Überschuss bedeutet, ergeben die Erörterungen auf S. 483.
Über d. Natur d. am lebenden
Tier erhaltenen eranul. Färbungen etc. 473
o°- {>}
M. 13. Wasserblau und Neutralrot:
Nach 7!/, Std. Wbl. 3/, ccm 0 (20/,ig) — ?/,ccm Ntr. 30(0:953%, ig) 11/, Std,
Gesamte Versuchsdauer 9 Std.
Hauptstücke: zierliche Granula von rötlichblauer Farbe.
M. 25. Trypanblau und Neutralrot:
& ern n
Nach 14 Std. Trypbl. 1 ccm 100
2 Std.
Gesamte Versuchsdauer 16 Std.
Hauptstücke: violettrote, teilweise sehr dunkle Granula.
(0,953 %/,ig) — ®/, ccm Ntr. Em (0,720/,ig)
M. 34 u. 59. Lithionkarmin und Nilblausulfat
(Fig. 12):
Nach 12!/, Std. Lith. 1 cem 1°/,ig — 1 cem Nilbl. 40 (1,00% ig) 47, Std.
Gesamte Versuchsdauer 17 Std.
Hauptstücke: 1. rote (Lithionkarmin), 2. hellviolette Mischgranula, bald
mehr rot, bald mehr blau, 3. blaue Granula (Nilblausulfat).
F. 22 u. 30. Trypanblau und Neutralrot (Figg. 6—9)):
Ein mit Trypanblau alleingefärbter Frosch gibt während der ersten Tage
rein rötlichen Urin, wie es für die Maus während der ersten Stunden beschrieben
ist. v. Möllendorff (1913) hat festgestellt, dass die rote Farbe von einer
diffusibleren rötlichen Komponente herrührt, die dem Trypanblau
beigemengt ist, entgegen der Anschauung von Gross, der die rote Farbe für
ein Oxydationsprodukt des Trypanblau hielt. Schulemann hat schon
bei Fröschen den rötlichen Urin bemerkt, bei seinen Untersuchungen aber nur
blaue und grünlichblaue, mit Pigment untermischte Granula gefunden. Wahr-
scheinlich hat er die Niere erst nach mehreren Tagen untersucht. Zuerst ent-
stehen in den zweiten Abschnitten der Niere nur rötliche Granula, nach
drei Tagen ungefähr sieht man, wie das Salzsäure-Isolationspräparat deutlich
zeigt, auf denfarblosen Halsteil den zweiten Abschnitt mitrein blauen Granulis
folgen, die im weiteren Verlaufe des Kanälchens allmählich in violette, dann
I) Erst nach Fertigstellung der Arbeit kamen mir die Ausführungen
von Gross über seine neuerlichen Untersuchungen mit Diaminblau zu Ge-
sicht (Verhandlungen d. deutsch. path. Gesellsch. 1914). Gross sieht jetzt
die rote Komponente des Diaminblau, das dem Trypanblau nach chemischer
Zusammensetzung, Vitalfärbungsvermögen ete. völlig analog ist, auf Grund
von Dialysierversuchen für Beimengungen eines leichter diffusiblen Farb-
stoffes an.
474 E. HERZFELD,
in rein rötliche übergehen. Der proximalste Anteil der zweiten Abschnitte
enthält auch hier die ältesten, der distalste die jüngst gebildeten Granula.. Wenn
Gross die Ausscheidung des blauen Farbstoffes in den Hauptstücken, die des
roten in den breiten Schleifenschenkeln der Kaninchenniere lokalisiert, so muss
demgegenüber bemerkt werden, dass rote und blaue Granula sich lediglich
auf die zweiten Abschnitte der Froschniere beschränken, die doch den
Hauptstücken der Kaninchenniere entsprechen. Die vorübergehende Speiche-
rung der roten Komponente des Trypanblau beim Frosche lässt sich unge-
zwungen aus der Tatsache erklären, dass die Nieren des Frosches eine geringere
Durchlässigkeit zeigen als die Mäuseniere (v. Möllendorff 1915, S. 242 ff.).
Die letztere scheidet die rote Trypanblaukomponente leicht aus, während die
Dichtigkeit des Froschnierenprotoplasmas eine Speicherung derselben ver-
anlasst.
Erst nach 6—8 Tagen sind alle rötlichen Granula durch blaue ersetzt.
Will man bei Doppelfärbungen die rötliche Komponente mit Sicherheit ver-
meiden, so tut man gut, die basische Injektion nicht vor dem 10. Tage folgen
zu lassen. Dementsprechend gibt die Folge Try panblau-Neutralrot recht
verschiedene Bilder:
F. 22. Nach 5 Tagen Trypbl. 1 ccm 00 (0,953 0/,ig) — 1 ccm XMtrl. 35
(0,953 /,ig) 1 Tag.
Gesamtversuchsdauer 6 Tage.
2. Abschnitte: statt der blauen und rötlichen Trypanblaugranula violette
und himbeerfarbene Mischgranula.
F. 30. Nach 12 Tagen Trypbl. 1 cem m (0,953 °/,ig) — 1 ccm Ntrl. 55
(0,953 %/Jig) 1 Tag.
o!s 5
Gesamtversuchsdauer 13 Tage.
2. Abschnitte: violette Niederschlags- und Mischgranula.
F. 33. Trypanblau und Bismarckbraun:
Nach 13 Tagen Trypbl. 1 ccm 0 (0,953 0/,ig) — 1 cem Bsmbr. 55(1,73% ig)
l’/, Tag. Gesamtversuchsdauer 14!/, Tage.
2. Abschnitte: blaugraugrüne Mischgranula neben spärlichen braunen.
FR. 28. Trypanblau und Tolmid mh lau:
n
30 (O6! ig
Nach 12 Tagen Trpbl. 1 ccm mm (0,953 d/,ig) — 1 cem Tolbl.
16 Std.
Gesamtversuchsdauer 12 Tage 16 Std.
2. Abschnitte: dunkle rotviolette Niederschlagsgranula, wenig mattblaue
(Irypanblau).
I
ı Qu
F. 29. Trypanblau und Diazingrün:
Nach 12 Tagen Trpbl. 1 ccm 0 (0,953 0/,ig) — 1 cem Dagr. 40
(1,175 °/,ig) 3 Tage.
sesamtversuchsdauer 15 Tage.
2. Abschnitte: 1. leuchtend blaue Granula, zu intensiv für reines Trypan-
blau, 2. wenig rotviolette Niederschlagsgranula.
(Diazingrün allein gibt blaue und rötliche Granula.)
F. 45. Crocein und Methylenblau BX (Fig. 3):
Nach 60 Std. Croc. 1’cem 3 (2,93 %/,ig) — 11/; cem Methylbl. BX a
(1,063 0/,ig) 10 Std.
Gesamtversuchsdauer 70 Std.
2. Abschnitte: 1. tief schwarzblaue Niederschlagsgranula, 2. rein Methylen-
blaue in allen Grössen.
Er 37. Neuvisalres und Meihylenbrau BX-
Nach 47 Std. Nvirt. 1 cem En (2,09%/.i8) — 1 ccm Methylbl. 30
(1,063 %/,ig) 5 Std.
Gesamtversuchsdauer 52 Std.
2. Abschnitte: 1. rötliche Granula, 2. wenig mattviolette Mischgranula.
F. 40. Neuvitalrot und Toluidinblau (Figg. 10—11):
n
Nach 48 Std. NvIrt. 1 ccm = (2,09%/,ig) — 1 ceem Tolbl. 30
(1,02 %/,ig) 24 Std.
Gesamtversuchsdauer 72 Std.
2. Abschnitte: 1. dunkelviolette Niederschlagsgranula, 2. violette Misch-
granula, 3. blassblaue Granula.
Br 62: "N euvmitalr tan aN IS FE:
n
— 11, e Nbls. —
/s ccm Nbls. —,
Nach 62 Std. Nvlrt. 1 cem = (2,09 %/, ig)
(1,00%/,ig 8 Std.
Gesamtversuchsdauer 70 Std.
2. Abschnitte: 1. amorphe Niederschlagsgranula, 2. dunkel- bis hellviolette
Mischgranula, 3. einige rein blaue.
E63. NeuvitalroetzasdNGtih laueultat:
n
n .
3.099 1 11/. cc Nbhls
(2, /o g) 2 em N l 40
Nach 62 Std. Nvlrt. 1 cem 7
50
(1,009%/,i8) 49 Std.
476 E. HERZFELD,
Gesamtversuchsdauer 111 Std.
2. Abschnitte: grosstropfige Mischgranula nicht mehr vorhanden, 1. spär-
liche, feine Niederschlagsgranula, 2. neu entstandene rot- bis blauviolette Misch-
granula.
Diese Versuche lassen wohl mit Deutlichkeit erkennen,
dass in der Tat der basische Farbstoff mit in den sauren
Granulis gespeichert wird!),. Wir haben in den Nieder-
schlags- und Mischgranula das Produkt einer
Reaktion zwischen beiden Farbstoffiarten zu
sehen:
Dass saurer und basischer Farbstoff in wässriger Lösung
mit grösster Leichtigkeit miteinander reagieren, ist schon länger
bekannt. „Es entsteht als Resultierende die betreffende „Neu-
tralfarbe“ (Ehrlich), eine Verbindung der Farbsäure mit
der Farbbase, die meist dunkel gefärbt ist und in der Regel
als unlöslicher Niederschlag zu Boden fällt.“ (M. Heiden-
hain 1902.) Neuerdings wurde diese gegenseitige Fällung von
Pelet und Garuti zu einer Methode der quantitativen Be-
stimmung der Farbstoffe verwandt. Die dunklen Niederschlags-
eranula, die man ım vitalen Versuch bei richtiger Dosierung
der Farbmengen beobachten kann, stimmen in Form und Farbe
genau mit den in vitro erhaltenen Niederschlägen überein.
So gelingt es z. B. im Reagenzglas mit verschiedenen Mengen
und Konzentrationen Trypanblau und Neutralrot Niederschläge
von bald mehr blauvioletter, bald mehr roter Farbe zu er-
zeugen, so dass man die ganze Farbskala:
blau — Trypanblau
blauviolett
violett
rotviolett
rotbraun — Neutralrol
!) Wenn im folgenden der Kürze halber von basischen oder sauren Granulis
gesprochen wird, so werden darunter die durch basische oder saure Farbstoffe
hervorgerufenen Granula verstanden; das gleiche gilt von den Ausdrücken
„basische Färbung“ ete.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 477
erhalten kann. DieselbeFarbskaladerGranulakann
man-ım vitalen Wersuech mitsentsprechend.ab--
gestuften Farbstoffmengen oder Variation der
Zentfolge erhalten:
Die Niederschläge basischer und saurer Farbstoife
sind schwer löslich; in Alkonol, Toluol, Schwefelkohlen-
stoff ete. lösen sie sich nur wenig (Pelet): So bleiben auch
die vitalen Niederschlagsgranula im Formalinpräparat (10 %Yiges
Formol) gut erhalten. Während eine basische Färbung in
Formo! und Alkohol leicht auszieht, blieben die sauer-basischen
Granula in den Präparaten, die nach Formolfixation auf dem
(refriermikrotom geschnitten und in Alkohol und Xylol ent-
wässert wurden, fast unverändert; höchstens trat die Farbe
der sauren Komponente ein wenig mehr hervor, weil eine
leichte Spur basischen Farbstoffes in Lösung ging. Besonders
schön wurden so Granula von Wasserblau und Neutralrot,
Crocein und basischen Farben, überhaupt alle opaken Nieder-
schlagsgranula konserviert. — —
Gehen bei diesen Kombinationsfärbungen
wirklich basischer und saurer Farbstoff eine
Verbindung miteinanderein, so muss die Stärke
der resultierenden Färbung von der Grösse
der miteinander reagierenden Farbmengen ab-
hängig sein:
Es kommt da in erster Linie die Stärke der vor-
handenen sauren Färbung in Betracht. Das zeigte eine
Versuchsreihe Wasserblau — Neutralrot an Mäusen: M. 74
erhielt nach 3 Std. Wasserblaueinwirkung (1! cem 1 2,00%ig])
1 ccm Neutralrot ET [0,953% ig]. Die Tiere wurden 1!/, Std.
nach der Neutralrot-Injektion durch Chloroform getötet. Wie
schon das Überwiegen der roten Komponente anzeigte, ent-
hielt die Niere einen Überschuss Neufralrot. Im glomerularen
478 E. HERZFELD,
Anteil der Hauptstücke sah man 1. feine und feinste Nieder-
schlagsgranula von dunkelvioletter Farbe und unregelmässiger
Form, 2. Mischgranula von Dunkelviolett bis zum hellsten
Blauviolett, 3. ganz matt himbeerfarbene Granula. In distaleren
Abschnitten der Hauptstücke, die noch nicht soviel Wasserblau
enthielten, lagen violette Mischgranula in allen Schattierungen
neben deutlich rein roten. Die geraden Harnkanälchen ent-
hielten neutralrote Granula. Der basische Farbstoff hatte also
sämtlichen sauren gefällt und noch eigene Granula gebildet.
Im ganzen boten Niere und Leber, die dieselben Granula-
arten aufwies, ein recht helles Bild.
Wurde die gleiche Menge Neutralrot nach 9stündiger
Wasserblaueinwirkung injiziert, so war die Niere viel intensiver
gefärbt. Wasserblau ist zu dieser Zeit schon reichlich fast in
der ganzen Länge der Hauptstücke vorhanden. Man sieht dort
dicke, klumpige Niederschlagsgranula, Mischgranula in allen
Farbtönen bis zum hellsten Blauviolett; denn hier ist die blaue
Komponente überwiegend. Im distalen Hauptstückabschnitt sind
nur Mischgranula aller Nuancen vorhanden, in der regelmässigen
Anordnung saurer Farbgranula, keine rein roten Granula! Die
Kanälchen sind mit Granulis ganz vollgepfropft. In den ge-
raden Kanälchen liegen wieder basische Granula. —
Diese Versuche zeigen, dass die gleiche Menge Neu-
tralrot eine verschieden starke Färbung hervorrufen
kann, deren Stärke und deren Farbnuance sich nach
der vorhandenen sauren Färbung richtet.
Diese Stärke der sauren Färbung kann man wie durch
Änderung der Zeitdauer des Versuchs so durch Änderung der
Konzentration des sauren Farbstoffes beeinflussen; hat man
vorher eine verdünntere Lösung des sauren Farbstoffes in-
jiziert, so wird die Niederschlagsfärbung auch zugunsten der
Mischfärbung. zurücktreten. — —
Über d. Natur d. am ' lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 479
Etwas anders ist der Einfluss des basischen
Farbstoffes auf die resultierende Färbung. Es ist gleich-
gültig, ob man stark verdünnte oder konzentrierte
Lösungen nimmt, nur die absolute Menge des zuge-
führten basischen Farbstoffes ist von Bedeutung. M. 26, die
vor 14 Std. 1 ccm Trypanblau —— (0,953%ig) erhalten hatte, be-
kam I ccm Neutralrotlösung u (0,144%%1g). [Eine - =(0, 41% ige)
200 zo
Neutralrotlösung gibt beim normalen Tier angewandt noch eben
sichtbare granuläre Speicherung, mit verdünnteren Lösungen
konnte keine Speicherung erzielt werden.| Im Urin erschien
nur eine leichte Spur von Rot, sonst wurde aller basısche
Farbstoff im Körper durch das Trypanblau zurückgehalten.
Nach 2 Stunden waren die Anfänge der Hauptstücke voll vio-
letter Granula, vielleicht etwas mehr Misch- und weniger Nieder-
schlagsgranula als bei Injektion stärkerer Neutralrotlösungen.
Daneben lagen noch rein blaue Granula, auch sind natürlich
keine rein roten Granula sichtbar. — Auch M. 73, die nach
er 5 R n ba
) stündiger Wasserblaufärbung (1 cm 79 [200ig]) Neutralrot
1 Gen (0,287 %%ig) erhalten hatte, zeigte Hauptstücke und
Sternzellen mit ziemlich intensiv gefärbten Niederschlags- und
Mischgranula.
Es scheint also, dass der saure Farbstoff den
basischen mit so grosser Gewalt an sich reisst, dass er
ihn selbst aus sehr verdünnten Lösungen (die alleın
keine granuläre Färbung hervorrufen) zu speichern ver-
mag. — — —
Wird die resultierende Färbung als das Ergebnis
einer Reaktion zwischen saurem und basischem Farbstoff —
also als das Ergebnis einer Kolloidfärbung — betrachtet
(s. Pelet-Jolivet, Seyewetz u. a.), so muss hierbei
der Kolloidgrad der Farbstoffe eine Rolle spielen:
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 3). 32
450 E. HERZFELD,
Man findet in der Literatur viele, teilweise voneinander
abweichende, Angaben über die Kolloidität der Farbstoffe
(Freundlich und Neumann, Ostwald, Höber u.a.)
Es kommt für die Frage der Fällbarkeit weniger eine Ein-
teilung der Farbstoffe auf Grund ihres Diffusionsvermögens —
wie sie für die Frage des Eindringens in die Zelle berück-
sichtigt wurde (S. 465) — als eine Kinteilung auf Grund des
ultramikroskopischen Bildes und der Elektrolytfällbarkeit in
Frage. Ich richte mich nach den Angaben von Teague und
Buxton, die die Farbstoffe auf Grund ihrer gegenseitigen
Ausfällbarkeit und der Beständigkeit dieser Fällungen in hoch,
wenig und schwach kolloidale einteilten, wobei es ohne weiteres
einleuchtet, dass mit der Kolloidität der Farbstoffe auch die
Beständigkeit ihrer Fällungen zunimmt t). — So geben im Orga-
nismus hochkolloidale saure Farbstoffe, z. B. Wasserblau,
Trypanblau, Kongorot mit basischen Farbstoffen sehr dauer-
hafte Fällungsfärbungen. Wenn man wegen der eintretenden
Zellschädigungen oft schwer feststellen kann, wie lange sie
in vivo erhalten bleiben, so ist die Formolfixation ein guter
1) Teague und Buxton haben festgestellt, dass 1. bei zwei ausgesprochen
kolloiden Farbstoffen der geringste Überschuss eines der beiden Farbstoffe den
Niederschlag löst. 2. Ist ein Farbstoff hoch, der andere wenig kolloid, so löst
der kleinste Überschuss des hochkolloiden, oder eine grosse Menge des wenig
kolloiden den Niederschlag. 3. Bei zwei schwach kolloiden Farben ist die Fällung
unvollständig und wird erst durch grossen Überschuss eines der Farbstoffe
gelöst. Auch dies muss möglicherweise bei vitalen Doppelfärbungen be-
rücksichtigt werden. Denn es ist auffallend, dass man manchmal bei genügend
im Organismus vorhandenen Farbmengen nur Misch-, keine Fällungsgranula
sieht, z. B. bei der Versuchsfolge Trypanblau-Neutralrot M. 8, S. 471. Es war
auf eine Trypanblaufärbung, die an und für sich schon stark genug gewesen
wäre, mit Nrirt. Fällungen zu geben, ein Überschuss Nrlrt. gefolgt. Es ist,
wie die starke Rotfärbung des Urins anzeigt, ein grosser Überschuss des wenig
über den hochkolloidalen Farbstoff vorhanden; der Niederschlag wird gelöst,
es entstehen Mischgranula. Ebenso könnte man vielleicht den Versuch an
F. 33, S. 474, wo ein Überschuss Bismarckbraun (1. Überschuss kenntlich im
Urin, 2. rein braune Granula) mit der vorhandenen Tryplbl.-Färbung nur Misch-,
keine Fällungsgranula ergab, erklären.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 481
Prüfstein (S. 477). Diffusiblere saure Farbstoffe wie Patent-
blau das ja beim Frosch gespeichert wird — und basische
Farben geben Fällungen, die schon in Kochsalzlösung nach
kurzer Zeit ausziehen. Mit dem schwach kolloidalen Chromo-
trop und dem basischen Methylenblau habe ich beim Frosch
überhaupt keine Fällung, nur eine Mischfärbung erzielen können,
die schon unter dem Mikroskop hinauszudiffundieren schien.
— Da die basischen Farbstoffe meist wenig (z. B. Neutralrot)
oder schwach kolloidal sind (z. B. Methylenblau), wird man
eine um so dauerhaftere Doppelfärbung erhalten, je kolloidaler
der saure Farbstoff ist.
Wichtige Aufschlüsse über das Verhalten der Farbstoffe
im Organısmus können wir nun mit Hilfe der Farbstoffe er-
langen, die für gewöhnlich, einer zugeringenKolloidität
wegen, nicht gespeichert werden, wie z. B. Bismarck-
braun, das bei der Maus nur Diffusfärbung, keine granuläre
Speicherung gibt. Eine mit Trypanblau gefärbte Maus, der
Bismarckbraun injiziert wurde, zeigte die schönsten Nieder-
schlags- und Mischgranula von schmutzig blaugrüner Farbe,
in denen der gelbe Farbton mehr oder weniger deutlich hervor-
trat, in allen Kanälchenabschnitten, die Trypanblau enthielten
(Fig. 13).
Der saure Farbstoff vermag also den basischen auch
aus sehr diffusiblen Lösungen (die allein keine sicht-
bare granuläre Färbung hervorrufen) zu speichern.
Betrachten wir einen hochdiffusiblen, nicht
granulär färbenden sauren Farbstoff neben einem
speicherungsfähigen basischen, so sehen wir, dass
der basische Farbstoff den sauren nicht in gleicher Weise
in seine Granula zu reissen vermag: Bei einem Versuch an
ae Re Y n
M. 75 war auf eine 2stündige Patentblaufärbung (1 ccm 30
ee ee a Re R
[2,57 %oig]) Neutralrot (1 ccm 30 i0,953%ig|) während 11/, Std.
32*
482 E. HERZFELD,
sefolet. (Patentblau wird als hochdiffusibler Farbstoff bei der
Maus nicht geranulär gespeichert und durchsetzt die Niere mit
so starkem Flüssigkeitsstrom, dass schon nach 6 Std. aller
Farbstoff aus dem Körper entfernt ist.) Die Hauptstücke zeigen
wenig kleine dunkelrote Granula neben tropfigen hellroten. In
den Henleschen Schleifen lagen massenhaft grosse und kleine
rote Granula. Die geraden Kanälchen waren leicht diffus ge-
bläut. Wichtig ist, dass keine Niederschlags- und Mischgranula,
nur rein rote vorhanden waren. Es hat also der basische
Farbstoff nicht die Fähigkeit, den sauren in seine Granula
zu ziehen.
Zusammenfassung der Ergebnisse über basische Vitalfärbungs-
versuche am vorher sauer gefärbten Tier.
1. Eine worher saure. Färbung wird durch
basische Farbstoffe umsefärbt.
2. Es tritt dabei eine Ausfällung des-Farb-
stoffes ein, die mit den Versuchenin vitro über-
einstimmt.
3. Die Stärke der resultierenden Färbungist
abhängig
a) von der Stärke der vorhandenen sauren
Färbung,
b) von derabsoluten Menge desinjizierten
basischen Farbstoffes, wobei Konzen-
tration oder Diffusibilitätsgrad der ba-
sischen Farblösung nicht von Bedeu-
LUME St.
4. Für-rdie „Echtheit der resultzerennken
MischfärbungistderKolloidgradderFarbstoffe
von Bedeutung.
5. Der basische Farbstoff scheint den sauren
nicht in seine Granula ziehen zu.konnen
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 485
Mit Hilfe obiger Feststellungen können wir leicht die ver-
schiedenen Färbungsbilder ım Organismus er-
klären, und das verwirrende Vielerlei der Erscheinungen
als verschiedene Stadien einer nach bestimmten Gesetzen ver-
laufenden Färbung darlegen:
Einmal hat der basische Farbstoff noch nicht genügend
lange eingewirkt, um alle sauren Granula abzusättigen. So
gab (F. 37, S. 475) Neuvitalrot mit folgender nur 5 stündiger
Methylenblaufärbung rötliche saure Granula neben erst wenig
violetten Mischgranula. Niemals zeigt ein solcher Versuch rein
basische Granula. Ein andermal (F. 45, S. 475) finden wir
nach Absättigung aller sauren Croceingranula noch reine Me-
thylenblaugranula des basischen Farbstoffes, der hier im Über-
schuss injiziert wurde !).
Bei geeigneter Versuchsanordnung — es muss der saure
Farbstoff schon eine ziemlich starke Färbung gegeben haben,
aber noch immer neu hinzuströmen, der basische auch schon
hinreichend in die Niere eingedrungen sein — finden wir drei
Granulaarten: 1. Niederschlagsgranula, 2. Mischgranula, 3. rein
basische Granula, so in dem Versuch an F. 62 (S. 475) mit
Neuvitalrot und Nilblausulfat. Der saure Farbstoff ist nach
62 Stunden in den 2. Abschnitten in roten Granula gespeichert,
1) Ob ein Überschuss eines Farbstoffes zurzeit in der Niere vorhanden ist,
kann man mit ziemlicher Sicherheit nach der Farbkonzentration des Urins
bestimmen. Die idealste Fällungsfärbung würde man bei einem Gleichgewicht
der miteinander reagierenden Farbmengen erhalten. Im Titrierversuch kann
man die hierzu erforderlichen Farbmengen leicht bestimmen. Durch Auftropfen
auf Fliesspapier findet man den neutralen Punkt (Pelet Jolivet). So reagieren
2 Mol. Neutralrot mit 1 Mol. Trypanblau; wie überhaupt stets 1—3 Mol. eines
basischen Farbstoffes sich mit 1 Mol. des sauren umsetzen (Vaubelund Bartlet).
Im vitalen Versuch muss man noch den Niederschlag an der Injektionsstelle,
die verschiedene Eindringungsgeschwindigkeit der Farbstoffe ete., in Rechnung
ziehen, kann aber nach obigem Versuch, wo sehr viel mehr Farbstoff in-
jiziert war, als der saure insgesamt binden konnte, sagen, dass der basische
im Überschuss in der Niere vorhanden gewesen sein muss (immer mit Hilfe
der Urinprobe).
484 E. HERZFELD,
die den Farbstoff in ziemlich hoher Konzentration enthalten.
Daneben liegen, da immer neuer Farbstoff hinzuströmt —
Speicherung und Ausscheidung der hochkolloidalen sauren
Farbstoffe erstrecken sıch beim Frosch über mehrere Wochen —,
Granula von schwächerer Farbkonzentration; erstere bilden
nun mit dem basischen Farbstoff Fällungs-, letztere Misch-
granula. Nie wird man bei diesen Versuchen rein basische
Granula entstehen sehen, ehe alle sauren überfärbt sind.
Es muss also als Regel gelten, dass der saure Farbstoff den
basıschen an sich reisst, ihn in seinen Granula fällt und
erst, wenn er abgesättigt ist, sucht der basische seine eigenen
Granula auf.
Dieser Regel scheint das Färbungsergebnis des öfter wieder-
holten Versuchs mit Lithionkarmin und Nilblausulfat (s. z. B.
M. 34, S. 473) zu widersprechen. 1 cem Lithionkarmin 1%oig
(121/, Std.) und 1 ccm Nilblausulfat 26 (1,00 %%ig) (41/, Std.)
geben ın den Hauptstücken blassrote, violette und blaue
Granula. Die violetten sind nicht sehr intensiv gefärbte Misch-
granula. Die Konstitutionsformel des Lithionkarmin ist nicht
bekannt. Es wurde durch Lösen von 1 g Karmin in 100 cem
konzentrierter Lithionkarbonatlösung gewonnen. Titriert man
Be ira R ER
damit eine 40 Nilblaulösung, so sind 2 Mol. nötig, um 1 Mol.
Nilblau zu fällen. Eine vollständige Ausfällung tritt nicht ein,
wie der unscharfe neutrale Punkt anzeigt!). Die Azidität des
Lithionkarmin ıst nicht gross, dazu ist nach 12!1/, Stunden
bei Anwendung einer so schwachen Lösung die Konzentration
seiner Granula ziemlich gering; es vermag also nur einen Teil
!) Auch Schulemann (1915) sagt von der Karminsäure, dass ihre Salze
in wässriger Lösung stets alkalische Reaktion zeigen, da „die Dissoziation der
schwachen Karminsäure eine relativ geringe gegenüber dem Dissoziationsgrad
des Alkalis ist, so sind stets freie Hydroxylionen in der Lösung vorhanden“.
Mein Lithionkarmin zeigte, wie der Titrierversuch ergab, saure, wenn auch
schwache, Reaktion.
des basischen Farbstoffes zu fällen, der Rest sucht eigene
(Granula auf.
Wie man das den Kombinationsversuchen eigentümliche
Färbungsbild leicht mit einer Reaktion beider Farb-
stoffgruppen erklären kann, so auch die übrigen ins Auge
fallenden Begleiterscheinungen der Doppelfär-
bungen:
So bemerkt man stets, dass die Giftwirkung des
basischen Farbstoffess abgeschwächt wird. Ich habe bei
Fröschen nie mit einer stärkeren Diazingrünlösung Vitallärbung
n
100
unfehlbar nach 24 Std., wo eine bis zur Sichtbarkeit ge-
erzielen können, Konzentrationen über (0,47 ig) wirkten
diehene Färbung noch nicht vorhanden war, tödlich. Erst mit
n
100
2. Abschnitte der Niere enthielten schwach bläuliche und röt-
liche Granula auf diffus rötlichem Grunde. Eine vorherige
n
40
Diazingrünlösung (F. 29, S. 475). Nach drei Tagen sieht man
einer Lösung erzielte ich eine schwache Färbung. Die
Trypanblaufärbung erlaubt dieAnwendung einer — (1,175 %igen)
in der Niere blaue Granula, die viel intensiver und leuchtender
gefärbt sind, als die stumpfer blauen, rein sauren Granula;
daneben findet man rotviolette Niederschlagsgranula, in denen
der saure Farbstoff durch die rote Diazingrün-Komponente
(S. 475) gefällt ist. — Auch Nilblausulfat wird bei Doppel-
färbungen gut vertragen, während es bei der Maus allein in-
jiziert selbst in schwachen Konzentrationen en 0,5 oig) giftig
wirkt. — Die Abschwächung der Giftwirkung des
basıschen Farbstoffes ist damit zu erklären, dass er von
dem sauren Farbstoff gebunden und so verhindert wird,
seine Giftwirkung auszuüben.
Als eine Folge der Fällung des basischen Farb-
486 E. HERZFELD,
stoffes durch den sauren haben wir auch die Erscheinung
anzusehen, dass der basische Farbstoff, wenn eine saure Fär-
bung voraufgeht, viel stärker in der Niere (und Leber)
gespeichert wird, als bei basischer Einfachfär-
bung in der gleichen Zeit. — Bei Fröschen wurde stets
ein Kontrollfrosch nur mit dem basischen Farbstoff injiziert
und dann zur selben Zeit wie der mit saurem und basischem
Farbstoff gefärbte Frosch getötet; stets zeigte der Kontroll-
frosch eine weniger intensive granuläre Färbung. Auch die
regelmässig bei Doppelfärbungen zu beobachtende starke Ab-
nahme der basischen Komponente im Urin zeigt an, dass mehr
basischer Farbstoff im Körper zurückbehalten wird. Man denke
z. B. an den oben zitierten Versuch (M. 26, S. 479), wo der
mit Trypanblau gefärbten Maus eine sehr verdünnte Neutral-
rotlösung injiziert wurde. Fast alles Neutralrot wurde im Körper
vom sauren Farbstoff gebunden, wie die nur ganz leicht röt-
liche Urinfarbe erkennen liess. (An und für sich durchströmt
eine so schwache Neutralrotlösung den Körper schnell, ohne
sichtbar gespeichert zu werden, die Farbkonzentration im Urin
erreicht die der injizierten Lösung, und schon nach ca. 6 Stunden
ıst aller Farbstoff aus dem Körper verschwunden.) Es ist
also die Gesamtmenge des abgelagerten basi-
schen Farbstoffes nach bestimmter Zeit bei An-
wesenheit eines sauren Farbstoffes grösserals
ohne diesen. Der saure Farbstoff befördert die Speiche-
rung des basischen, indem er eine Kolloidfällung mit ihm
gibt. Darin haben wir sicher nichts anderes zu sehen, als
eine Beschleunigung der Fällung kolloidaler Lösungen durch
!onen mit entgegengesetzter Ladung (Pelet, Grand,
Traube).
Um dies hinreichend zu erklären, müssen wir uns die
chemischen Bedingungen einer Reaktion zwischen sauren und
basischen Farbstoffen näher betrachten, und dabei ergeben
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 487
sich wichtige Schlüsse auf die Speicherungsart
saurer Farbstoffe:
Die Farbstoffe sind als Klektrolyte in wässriger Lösung
in ihre Ionen, das grosse organische und das viel kleinere
anorganische dissoziiert. Bei der gegenseitigen Ausfällung treten
die organischen Ionen zu einem Salz aus Farbsäure und Farb-
base zusammen. Nach Pelet-Jolivet findet dabei, wenn
BCl den basischen, A — Na den sauren Farbstoff bedeutet,
folgende Reaktion statt: Be EIN N NaCl-+- BA. — Da
die Farbstoffe im Organismus Fällungen bilden, müssen diese
Verhältnisse auf unsere Kombinationsfärbungen anwendbar
sein: Das negativ geladene Ion des sauren Farbstoffes fällt
in seinem Granulum das positiv geladene lon des basischen
Farbstoffes: es findet aber weiterhin, wie wir oben sahen,
sogar eine beschleunigte Speicherung des basischen Farbstoffes
statt. Diese wird auch durch die Gegenwart des sauren Farb-
stoffes bewirkt. Wie man in der Färbepraxis die Fixierung
von Farbstoffen durch Zusatz von Salzen mit lonen entgegen-
gesetzter Ladung beschleunigt, so befördert im Organis-
mus die Gegenwart des negativen Farbsäureions die
Fällung der positiven Farbbase. |
Soll der saure Farbstoff mit dem basischen eine Kolloid-
fällung geben können, wobei seine entgegengesetzt geladenen
lonen noch eine beschleunigte Speicherung der basischen Farb-
lösung bewirken, so ergeben sich daraus wichtige Schlüsse
für die Speicherungsart saurer Farben. — Dersaure Farb-
stoff muss so in seinem Granulum gespeichert
sein, dass seine Ionen frei reagieren können. Er
kann unmöglich an Protoplasmabestandteile (z. B. an basısche
Fiweisse mit seinem Amboceptor, wie z. B. der Sulfosäure-
gruppe) gebunden sein.
Diese Folgerung, dass die Speicherung des Farbstoffes
die Reaktionsfähigkeit seiner Ionen nicht beeinflussen kann,
488 EB. HERZFELD,
stimmt überein mit den neuesten Ansichten über die Natur
der sauren Vitalfärbungsgranula (v. Möllendorff, Schule-
mann) (S.453). Die „Granula enthalten den Farbstoff in hoch-
konzentrierter Lösungsform“. Er ist chemisch unverändert, also
wohl fähig, mit dem basischen Farbstoff Reaktionen einzu-
schen.
Die obigen Untersuchungen fielen immer in verhältnismässig frühe Stadien
der sauren Vitalfärbung, wo der Farbstoff in seinem Granulum noch in Lösung
war. Allmählich tritt eine immer stärkere Konzentrierung und Ausflockung
des Farbstoffes ein bis zum ‚„‚Granulum als Substanzkörnchen‘‘ — nach Schule-
mann das Endstadium jedes sauren Granulums. Das Ausflockungsstadium
habe ich an der Froschniere, z. B. mit Neuvitalrot wiederholt beobachtet. Nur
Vorstadien der Granulabildung liefert also die Niere nicht. Es bliebe nun zu
untersuchen, ob man in späteren Stadien der sauren Färbung andere Kombi-
nationsfärbungen erhält. Die wenigen Färbungen, die ich zu diesem Zwecke
unternahm, lassen es mir wahrscheinlich erscheinen, dass dann ganz andere
Kombinationen stattfinden. Man denke z. B. an Ruhlands Versuche an
Pflanzenzellen (s. S. 458), der fand, dass der basische Farbstoff in stark mit
saurem ausgeflocktem (!) Farbstoff gefüllten Zellen nicht gespeichert wurde.
Zusammenfassung und Schlüsse.
1. Bei Doppelfärbungen findet eine Kolloid-
fällung: ıdes’basischen Farhstoffes dureh den
SEUTen Slate:
2. Dadurch wird die Giftwirkung. des basi-
schen Farbstoffes abgeschwächt.
3. Dadurch wird die Speicherung des basi-
schen. /Farbstoffes beschleunigt,’ so dass die
Menge abgelagerten basischen Farbstoffesnach
bestimmter Zeit bei Anwesenheit eines sauren
Harbstoites grösser ash alsı bei! der.bası schen
Einfachfärbung. (So beschleunigt man in der
Färbepraxas "die Fixierungs' yon Farcbetortten
durch Zusatz von Salzen mit lonen entgegen-
gesetzier- bad uno,
4. Der saure Farbstoff ist so gespeichert,
dass seine lonen frei reagieren können; erkann
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 489
nicht chemisch an Protoplasmaeiweisse ge-
bunden sein.
Aus einigen dieser Versuche ging schon hervor, dass der
basische Farbstoff für gewöhnlich nicht in denselben Granulis,
die saure Farbstoffe speichern, angetroffen wird, und dass
er nicht die Fähigkeit besitzt, den sauren Farbstoff in seine
Granula zu reissen. Eine Erklärung hierfür geben uns die
folgenden Versuche:
2. Vitale sauere Färbung am vorher basisch gefärbten Tier.
Maus 65:
I
3
12 h. m. 1 cem Neuvitalrot En (2,10/, ig).
84 h. a. m. ?/, ccm Methylenblau rect. r (1.063°/, ig).
330 h. p. m. durch Chloroform getötet.
Im Urin tritt das Rot immer stärker in den Vordergrund,
das Blau verschwindet. Niere makroskopisch rötlich, Mark
bläulich. In den Hauptstücken ist der Höhepunkt der Me-
thylenblau-Färbung schon vorüber, doch sind die proximalen
Abschnitte noch stark mit blauen, ziemlich intensiv gefärbten
Granulis gefüllt; die unregelmässige Form, die sehr dunkle
Farbe einzelner sprechen dafür, dass sie Neuvitalrot enthalten,
neben ihnen liegt eine Anzahl ganz mattrosa gefärbter Granula.
Nach Reduktion des Methylenblau mit Natriumhydrosulfid wird
die Zahl der rosa Granula sehr vermehrt. Also:
1. Rein blaue (Methylenblau),
2. Methylenblau-Neuvitalrot-Granula,
3. ganz mattrosa Granula (Neuvitalrot).
Die Leber zeigt dieselben Granulaarten in den Stern-
zellen.
Erosche3c:
23. VI. 1 h. p. m. 1 cem Nilblausulfat 6 (1.00%/, ig).
7 h. p. m. 1 cem Lithionkarmin 2°/,ig).
24. VI. 6 h. p. m. getötet.
490 E. HERZFELD,
Niere makroskopisch blassbläulich. Im Lymphsack etwas
violetter Niederschlag. — In den 2. Abschnitten der Niere
li. sehr blasse, hellblaue Granula (Nilblausulfat),
2. dunkle Niederschlagsgranula.
Die übrigen Kanälchen enthalten rein blaue Granula. In
den Sternzellen der Leber liegen dieselben Granulaarten; in
der Gallenblase Farbstoffniederschläge. —
Dann möchte ich noch in Kürze folgende Versuche, von
denen die meisten mehrfach wiederholt wurden, anführen. Die
Schwierigkeit liegt stets darin, das Tier in einem Stadium
der Färbung zu töten, wo die Ausscheidung des basischen
larbstoffes noch nicht vorüber ist und der langsamer ein-
dringende saure Farbstoff schon genügend in der Niere ge-
speichert ist.
M. 22 u. 27. Neutralrot und Wasserblau:
Nach 21/, Std. Nrirt. ®/, ccm
21/, Std.
Gesamte Versuchsdauer 4!/, Std.
Hauptstücke: 1. rote Granula, (Nrirt.), 2. dunkelviolette Niederschlags-
granula.
10 (0,718 %/,ig) — ®/, cem Wbl. er (2%/,ig)
M. 20 u. 21. Neutralrot und Wasserblau:
n
= (0,718°%/,ig) — °/ı ccm Wbl. 10 (2°/,ig)
Nach 6 Std. Nrirt. ®/, cem -
ıch 6 to rIrt. °/, ccm 40
4 Std.
Gesamte Versuchsdauer 10 Std.
Hauptstücke: 1. rein rote (Nrlrt.), 2. dunkelviolette Niederschlagsgranula,
3. ganz blasse, rein blaue (Wbl.) Granula.
M. 24. Neutralrot und Trypanblau:
Nach 2 Std. Nrirt. ?/, ccm 46 (0,718°/,ig) — °/s cem Trypbl.
(0,953 0/,ig) 4 Std.
Gesamte Versuchsdauer 6 Std.
Hauptstücke: 1. rein rote (Nrlirt.), 2. ganz blassblaue (nur bei ge-
nauester Beobachtung zu sehen) Granula.
n
100
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 491
M. 76. Nilblauchlorhydrat und Neuvitalrot:
Nach 2 Std. Nilbl. lcem 5 (1,18%/,ig) — 1 ccm Nılrt. En (2,1%/,ig)
4 Std.
Gesamte Versuchsdauer 6 Std.
Hauptstücke: 1. vereinzelte, ganz mattblaue Granula (Nilbl.), 2. ver-
einzelte rotblaue Mischgranula.
FE. 120. Toluidinblau und Neuvitalrot:
n
(0,306 %/,ig) — 1 eem Ntlirt 50
Nach 6 Std. Tolbl. 1!/,; ccm
(2,1°/,ig) 16 Std.
Gesamte Versuchsdauer 22 Std.
3. Abschnitte: 1. hellblaue Granula (Tolbl.), 2. hellviolette Granula,
3. einige ganz dunkle Granula.
>
100
F. 58. Neutralrot und Wiasserblau:
Nach 5 Std. Nrirt. 1 ccm 3, (0,953 0/,ig — 1 cem Wbl. Si
(2°/,ig) 22 Std.
sesamte Versuchsdauer 27 Std.
2. Abschnitte: Nur nicht sehr zahlreiche Niederschlagsgranula von sehr
dunkelblauer Farbe.
F. 59. Neutralrot und Wasserblau (Fig. 4):
\: RS N DESK 7 Ir
Nach 18 Std. Nrlrt. 1 cem 50 (0,953 P/,ig) 1 ccm Whbl. 10
(2%,ig) 19 Std.
Gesamte Versuchsdauer 37 Std.
3, Abschnitte: 1. viele grosstropfige und kleine rote Granula (Nrlrt),
2. Niederschlagsgranula.
F. 60. Neutralrot und Wasserblau (Fig. 5):
Nach 20 Std. Nrirt. 1 ccm 55 (0,953 0/,ig) — 1 eem Wlbl. .
(2%,ig) 29 Std.
Gesamte Versuchsdauer 49 Std.
3. Abschnitte: 1. kleintropfige (keine grosstropfigen mehr) rote, 2. klumpig
unförmliche Niederschlagsgranula, 3. rein blaue (Wbl.).
N
F. 49. Neutralrot und Wasserblau:
3 n THE n n
Nach 24 Std. Nrirt. 1 cem 30 (0,953 %/,ig) — 1 cem Whbl. A,
(2°/,ig) 52 Std.
492 E. HERZFELD,
Gesamte Versuchsdauer 76 Std.
2. Abschnitte: 1. sehr vereinzelte blassrote Granula (Nrlrt)., 2. scharfe
schwarzblaue Niederschlagsgranula, 3. nicht sehr scharf umrissene hellblaue.
Das Zupfpräparat zeigt, dass auf den dünnen Halsteil der Kanälchen-
abschnitt mit allen drei Granulaarten folgt, dann ein Abschnitt nur mit blauen.
Aus den Protokollauszügen geht deutlich hervor, dass bei
dieser Versuchsfolge die Niederschlags- und Mischgranula nicht
dadurch entstehen, dass der saure Farbstoff in die vorhandenen
basıschen Granula gezogen wird. Ist das Stadium der basi-
schen Ausscheidung noch nicht ganz vorüber, so kann man
stets rein basısche Granula neben den sauer-basischen und
den event. schon vorhandenen rein sauren finden. Eine vor-
herige basische Färbung wird also durch saure
Farbstoffe nicht überfärbt.
Die Richtigkeit dieses Satzes, dem das Entstehen von
Fällungs- und Mischgranulis auch in den zuletzt beschriebenen
Versuchen zu widersprechen scheint, wird bewiesen durch eine
Betrachtung des physiologischen Verlaufs der Versuche. Es
zeigt sich, wie wichtig eine solche Überlegung in jedem Falle
ist, da sonst nur sehr unvollkommene Vorstellungen aus den
Versuchen abgeleitet werden können:
Wird einem vital mit sauren Farbstoffen gefärbten Tier
der basische Farbstoff injiziert, so vermag der gespeicherte
saure Farbstoff, durch keine chemischen Affinitäten an das
Protoplasma gekettet, den basischen, der nun neu die Zellen
durchströmt, zu binden. Ist eine saure Färbung schon im
ganzen Verlauf der Hauptstücke vorhanden, so kann man
überall Fällungs- resp. Mischgranula sehen. So ist Trypan-
blau nach 14 Stunden im proximalen Anteil der Hauptstücke
in zahlreichen, stark gefärbten Granulis gespeichert — hier
sieht man bei Doppelfärbungen vorwiegend die dunklen Nieder-
schlagsgranula. In den distaleren Abschnitten, wo die Trypan-
blau-Granula an Zahl und Intensität abnehmen, entstehen mehr
Mischgranula, bis schliesslich da, wo die saure Färbung auf-
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 493
hört, rein basische Granulierung beginnt. Dasselbe Abnehmen
der Niederschlags- zugunsten der Mischfärbung distalwärts
zeigte die Folge Wasserblau-Neutralrot (M. 74, S. 477).
Dabei kann man immer wieder beobachten, dass die ersten
Niederschlagsgranula an der dem Lumen zugewandten Seite
der Zelle entstehen. Wir wollen auch den folgenden Aus-
führungen die Vorstellung zugrunde legen, dass die Farbstoffe,
mit reichlicher Flüssigkeit in den Glomerulis abgesondert, die
Nierenzellen von der Lumenseite her berühren, eine Auffassung,
die v. Möllendorff (1915, S. 302f£.) für saure Farbstoffe
vertritt; dabei wird dann ausser acht gelassen, dass der
basische Farbstoff wohl auch auf unphysiologischem Wege
die Gewebe durchdringen und von aussen her die Kanälchen
durchströmen kann. — Durchsetzt nun der basische Farbstrom
die Zellen der Hauptstücke vom Bürstensaum aus, so wird
der Farbstoff von den hochkonzentrierten, also stark sauren
Granulis abgefangen und diese Affinität ist so stark, dass der
basische Farbstoff verhindert wird, seine gewohnten Zellorte
aufzusuchen. Die Speicherung in sauer-basischen Granulis
dauert solange, bis aller saure Farbstoff entweder abgesättigt
ist oder bis er schon soweit ausgespült ist, dass seine Azidıtät
nicht mehr zur Bindung der Farbbase ausreicht. Jetzt ent-
stehen auch rein basische Granula; sie liegen unregelmässig
verstreut ın der Zelle, während die sauren girlandenförmig
den Kern in der supranukleären Zone umgeben.
Betrachten wir nun den Färbungsverlauf bei umgekehrter
Versuchsanordnung: dem vital mit basischen Farbstoffen ge-
fürbten Tier wird ein saurer Farbstoff injiziert, der nun in die
Zellen, in denen schon basische Granula liegen, hineinströmt.
Er berührt auch die basıschen Granula, doch vermag er mit
dem in ihnen gespeicherten Farbstoff keine Verbindung ein-
zugehen. Der basısche Farbstoff muss also in seinen
494 E. HERZFELD,
Granulis chemisch so gebunden sein, dass die Farb-
base sieh nieht mehr mit der Farbsäure des neu
hinzuströmenden sauren Farbstoffes verbinden kann. Man
kann. wie schon erwähnt wurde, bei geeigneter Versuchs-
anordnung stets rein basische Granula, frei von saurem Farb-
stoff finden. — Es entstehen also unabhängig von den bası-
schen, die immer dazwischen zu finden sind, saure Granula
an den von ihnen stets bevorzugten Zellorten. Nun aber strömt
fortwährend basischer Farbstoff neu hinzu, und kaum ıst der
saure bis zu einer oft noch nicht sichtbaren Intensität ge-
speichert, so reisst er den basischen in seine Granula. Es
bilden sich Misch- und bei genügender Konzentration des sauren
Farbstoffes Niederschlagsgranula. |Ihre Zahl ist natürlich ge-
ringer als bei der umgekehrten Versuchsanordnung, denn es
ist schon ein Teil des basischen Farbstoffes zur Bildung der
eigenen Granula verbraucht — desto mehr, je später der saure
Farbstoff nachinjiziert wird —.| Allmählich nähert sich die
Ausscheidung des basischen Farbstoffes ihrem Ende. Seine
Konzentration reicht nicht mehr aus, die sauren Granula ganz
abzusättigen, es bilden sich vorwiegend Mischgranula. Schliess-
lich, wenn aller basische Farbstoff ausgeschieden ist, speichert
sich der saure, der nun allein vorhanden ıst, unvermischt.
Unsere Versuche zeigen nun die verschiedensten Stadien
der Färbung. Bei M.22 (S. 490) hatte das Neutralrot in 21/, Std.
rote Granula gebildet, dann wurde Wasserblau injiziert, das
den weiteren basischen Farbstoff, der die Nierenzellen durch-
strömte, in seine Granula zog. Als 21/, Std. später das Tier
vetötet wurde, war die basische Ausscheidung noch ın vollem
(range; wir finden also keine rein sauren Granula. — Bei
dem entsprechenden Versuch an M. 20 (S. 490), wo die Maus
nach 10 stündiger Versuchsdauer getötet wurde, sehen wir schon
sanz blasse rein saure Wasserblaugranula. Die Neutralrot-
Ausscheidung war, wie die rein blaue Urinfarbe anzeigt, wohl
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 495
Ex 3 n
vorüber — das Tier hatte nur 3/, ecm Neutralrot 10 erhalten,
und ein Teil des Farbstoffes wird noch durch den Nieder-
schlag an der Injektionsstelle verbraucht —, daraus erklärt
sich das Entstehen rein blauer Granula. (sanz andere Zeil-
folge der Injektionen muss man für die entsprechenden Ver-
suche am Frosch wählen. Bei Frosch 58 (S. 491) gab eine
> stündige Neutralrotfärbung mit folgender Wasserblauinjektion
nur nicht sehr zahlreiche Niederschlagsgranula in den 2. Ab-
schnitten. Die ganz wenigen rein roten Granula, die vielleicht
nach 5 Std. Neutralrot-Einwirkung schon entstanden waren,
sind wohl am Ende des Versuchs (nach 27 Std.) schon wieder
ausgewaschen. Rein saure Granula können nach dieser Zeit
noch nicht entstehen, weil noch immer basischer Farbstoff
vorhanden ist, der die sauren Granula überfärbt. — So lassen
sich durch Betrachtung des physiologischen Verlaufs der Aus-
scheidung alle die verschiedenen Färbungsbilder erklären.
Dass ın der Tat der gespeicherte basische Farbstoff den
te)
sauren nicht in seine Granula zu ziehen und zu fällen ver-
mag, zeigt noch ein Versuch an M. 61. Neutralrot 1 cem en
(0,953%ig) 1 Std. und Patentblau 1 cem 30 (1,876 0ni) 2 Std.
gibt keine Kombinationsgranula, nur rein rote. Niederschläge
beider Farbstoffe finden sich nur in Gestalt violetter Farb-
stoffzylinder im Lumen der von der Diurese stark erweiterten
Kanälchen. Diese Zylinderbildungen durch Reaktion der beiden
Farbstoffe miteinander zeigen, dass die Farbstoffe an und für
sich, wie auch in vitro und an der subkutanen Injektions-
stelle, miteinander Niederschläge bilden. Dass solche in den
Zellen nicht gefunden werden, rührt daher, dass die Neutralrot-
granula das Patentblau nicht an sich zu reissen vermögen.
Da andererseits Patentblau infolge seiner Diffusibilität bei der
Maus nicht granulär gespeichert wird, kann es hier auch aus
Anatomische Hefte I. Abteilung. 164. Hoft (54. Bd., H. 3), 33
496 E. HERZFELD,
diesem Grunde nicht zur Bildung von Mischgranula kommen;
dieser Versuch kann also als sicherer Beweis dafür gelten,
dass unsere obige Erklärung zu Recht besteht.
Ws wird also bei der eben beschriebenen Versuchsfolge
der zuerst injizierte basische Farbstoff an seine gewohnten
Zellbestandteile gebunden, der Rest von dem darauf injizierten
sauren Farbstoff gebunden. Dass sich eine Abschwächung der
Giftwirkung des basischen Farbstoffes bei dieser Versuchs-
anordnung viel weniger bemerkbar macht, erklärt sich durch
die viel umfangreichere Bindung des basischen Farbstoffes an
lebenswichtige Bestandteile. — Ebenso ist von einer Beschleunı-
sung der sauren Färbung durch die positiv geladenen lonen
des basischen Farbstoffes nichts zu merken, da diese ja nicht
mehr reaktionsfähig sind !).
Zusammenfassung der Ergebnisse über saure Vitalfärbungs-
versuche am vorher basisch gefärbten Tier.
1’ Der inseinen Granulis cespeichertesba:
sische Farbstoff vermag nicht den sauren Farb-
stoff zu fällen oderirgendwie chemisch mitihm
zu reagieren.
9. Daher vermag er auch nıcht seine speiche-
rung zu beschleunigen, so dass die nach be-
stimmter Zeit abgelagerte Menge sauren Farb-
stoffes bei Anwesenheit eines basischen nicht
srösser ist als bei der sauren Einfachfärbung.
!) Die Speicherung basischer und saurer Farbstoffe in verschiedenen
Granula kann man am klarsten an Tieren zeigen, bei denen die beiden Färbungen
nicht neben-, sondern nacheinander verlaufen. Versuche an Kaulquappen im
hiesigen Institute haben ergeben, dass in der Tat, wenn die Tiere erst in basischer,
dann in saurer Farblösung weilen, ganz getrennte basische und saure Granula
entstehen. Bei umgekehrter Versuchsanordnung tritt eine chemische Beein-
flussung der basischen durch die vorhandene saure Färbung ein.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 497
3. Der basische Farbstoffist so gespeichert,
das säzs eimen lonen mich mehmerzemreagieren
können; tdietbasischen’ Granwla können nicht
durchlaNMmähliche Konzentrrerungssdess Farb-
stoffesin Vakuolen des Protoplasmasentstehen.
4. Saurer und basischer Farbstoff werden
für gewöhnlich an verschiedenen Zellorten ge-
spemchert und"»damit ist 'GurwitschsTheerie
einerseits bestätigt, andererseits liegt den
sauren Granulis keine Substanz, die den Farb-
stoff chemisch bindet, wie eine Salzlösung, ein
Bes schles+Ei weissiuwirdelrzugrunde,. sondermies
handelt sich um eine Konzentrierungserschei-
nung.
Die verschiedenartige Speicherung der Farbstoffe, die aus
diesen Versuchen klar hervorgeht, wird bestätigt durch Ver-
suche mit sauren Farbstoffen, dıe vital, und basischen, die
supravital angewandt wurden. Zu diesem Zweck wurden zu-
erst mit basischen Farbstoffen allein Supravıtalfärbungs-
versuche angestellt. Dabei zeigte sich, dass von allen ge-
prüften Farben, denselben, die auch vital verwandt wurden,
die schönsten Resultate stets Neutralrot gibt. Arnold, der
vorwiegend mit Methylenblau und Neutralrot supravital färbte,
erwähnt schon, dass das letztere hierzu besser geeignet ist,
er meint sogar, die Supravitalfärbung sei ergiebiger als die
Vitalfärbung und stelle eine grössere Anzahl Zellgebilde dar.
Bei den anderen Farbstoffen, z. B. Naphtholblau, Thionin-
blau GO musste man zur Supravitalfärbung bedeutend stärkere
Konzentrationen verwenden, und es dauerte meist längere Zeit,
bis die ersten Granula auftraten, die dann oft im diffus-
gefärbten Grunde lagen. Hier waren zweifellos nicht mehr
dieselben Bedingungen vorhanden wie bei der Färbung im
Organısmus, und es kann diese „postvitale“ Färbung nicht
33*
498 E. HERZFELD,
mit der vitalen basischen verglichen werden). Recht gute
Granulafärbung gibt neben Neutralrot und Methylenblau rect.
noch Nilblausulfat; die Ergebnisse waren die gleichen wie
bei der Anwendung von Neutralrot, so dass ich nur die letzteren
anführe. Die Farbstoffe gaben supravital angewandt ausser-
ordentlich ähnliche Färbungsbilder wie vital (Figg. 18 u. 19).
Dementsprechend gaben die im folgenden beschriebenen Ver-
suche auch sehr ähnliche Färbungsresultate wie die basische
Vitalfärbung am vorher sauer gefärbten Tier.
3. Basische Supravitalfärbung am vorher sauer gefärbten Tier.
Maus 60.
8 h. a. m. 1 ccm Trypanblau (0.953% ig).
n
100
5 h. p. m. durch Chloroform getötet.
Sofortiges Herstellen des Präparates. Zusatz eines
Tropfens Neutralrotkochsalzlösung unter dem Deckglas (Koch-
salz 0,9 Yoig).
nn nn —mu
| |
| Eintritt der |
Neutralrot- R Verhalten der roten zu
3 \ Rotfärbung ; i Bemerkungen
lösung den blauen Granulis
5 nach
Zee —
1:80 000 Ne rein rote und blaue Gra- | Rote Granula vor-
| nula nebeneinander. ' wiegend a.d. Basis-
| seite der Zellen.
1: 60 000 | 6' neben roten und blauen BEE
| Bei stärkeren Kon-
einige violette Granula. en trainer
1:40 000 D2 | Zahl der violetten ver- Zusatz von grösse-
| renFarbmengen,wo
| | mehrt. Ser
| | 'f sich ihre Zahl ver-
1:20 000 | 4' fast nur violette neben | mehrt, liegen die
| etwas Diffusfärbung. roten Granula dem
! Lumen näher.
1: 10. 000 3. starke Diffusfärbung.
| |
I) Schulemann meint zwar, dass aller Supravitalfärbung nekrobiotische
Vorgänge zugrunde lägen, denn es bliebe eine Farbspeicherung in der ersten
g | [
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 499
Die Ergebnisse sind wohl folgendermassen zu erklären:
der basische Farbstoff, der in ganz schwacher Konzentration
{:80000 verwandt wird und von der Zellbasis aus eindringt,
wird an den ihm eigenen Zellorten gespeichert, ehe er die
sauren Granula erreicht. Bei Verwendung von stärkeren Kon-
zentrationen oder wiederholtem Zusetzen von Tropfen der
schwachen Lösung entstehen violette Granula, von Form und
Farbe der bekannten Mischgranula. Wenn man viel Neutral-
rot zusetzt, kann man alle sauren Granula überfärben und
auch das Auftreten von Niederschlagsgranula beobachten.
Es liegt die Vermutung nahe, dass auch hier beide Farb-
stoffe eine Reaktion eingehen und sich wieder die organischen
lonen zu dem Salz aus Farbsäure und Farbbase umselzen.
Auch die Tatsache, dass bei supravitaler Anwendung
des basischen Farbstoffes am vorher mit sauren Farbstoffen
sefärbten Fier die Stärke der resultierenden Färbung von der
absoluten Menge des verwandten basischen Farbstoffes abhängt,
stimmt auffallend mit den bereits erwähnten Ergebnissen bei
vitaler Anwendung beider Farbstoffarten überein (s. S. 482).
— Ebenso folgende Erscheinung: Bringt man an einer Maus,
die z. B. 24 Std. nach der Trypanblauinjektion eine ‚grössere
Zahl und viel stärker konzentrierte saure Granula zeigt als
die eben erwähnte M. 60 (S. 498), nach 9 Std. Trypanblau-
einwirkung, Neutralrot supravital zur Anwendung, so treten
schon bei viel schwächerer Konzentration des basischen Farb-
stoffes violette Granula auf. Eine Neutralrotlösung 1:80000
bewirkt dann schon eine deutliche Verminderung der rein
Zeit des Färbungsversuches aus. Auch würden Gebilde dargestellt, die sich
nach anderen Methoden als chemisch ganz different erwiesen. Dagegen muss
aber gesagt werden, dass Vital- und Supravitalfärbung z. B. in der Niere
vorher sichtbare Granula färben. Die Milieuänderung beim Absterben
ist auch sicher bei einem so schnell eindringenden Farbstoff wie Neutralrot
nicht so gross, dass man die Resultate nicht mit den im vitalen Versuch erhaltenen
vergleichen dürfte.
500 E. HERZFELD,
roten und rein blauen Granula zugunsten der violetten ent-
gegen obigem Versuch (M. 60, S. 498), wo die Konzentration
:80000 rein rote und blaue Granula ergab. Es ist also auch
hier die Stärke der Mischfärbung, wie bei vitaler basischer
Färbung nach voraufgehender saurer, abhängig von der Stärke
der vorhandenen sauren Färbung.
Bei soweit übereinstimmenden Ergebnissen beider Ver-
suchsreihen scheint es wohl erlaubt, sie miteinander in Par-
allele zu setzen: Hier wie dort wird die basische Färbung
von der vorhandenen sauren beeinflusst, der basische Farb-
stoff verhindert, seine eigenen Zellorte aufzusuchen und in
die sauren Granula gezogen, mit deren Farbstoff er eine che-
mische Reaktion eingeht, und das natürlich um so lebhafter,
je grösser die miteinander reagierenden Farbmengen sind.
Diese Ergebnisse wurden bestätigt durch einige Supra-
vitalfärbungsversuche am Frosch.
Nur ist beim Frosch eine Supravitalfärbung noch schwerer
zu erzielen als bei der Maus, was schon Michaelis er-
wähnt. Es hängt wohl mit der geringeren Permeabilität der
Froschniere und dem langsameren Verlauf aller Reaktionen
beim Kaltblüter zusammen; doch erhält man mit Neutralrot
auch hier, mit etwas stärkeren Konzentrationen wie bei der
Maus, gute Färbungsresultate. Die verschiedenen Arten der
Granula sind sogar schöner zu beobachten, da beim Frosch
die Granula bedeutend grösser sind. Meist wurde eine Neutral-
rotkochsalzlösung (NaCl 0,65%ig) 1:40000 verwandt, doch
geben auch Konzentrationen 1:10000 noch keine Diffusfär-
n
40
Frosch zeigte die Supravitalfärbung mit Neutralrot in den 2. Ab-
bung. Bei einem mit Wasserblau | [2%ig] 4 sid.) gefärbten
schnitten der Niere neben blauen Vakuolen dunkelviolette Fäl-
lungs- und rein rote Granula. Ihre Farbe wechselt wieder
je nach den angewandten Neutralrotkonzentrationen.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 501
Dieselben Granulaarten gaben
Patentblau 36 (1876.08) und Neutralrot 1:40000 (Fig. 21),
Lithionkarmin 2%ig und Methylenblau BX 1:30000,
Lithionkarmin 2%ig und Nilblausulfat 1:25000,
Trypanblau nG (0,953 %Yoig) und Neutralrot 1 : 40.000 (Fig. 20)
und andere.
Betrachten wir nun noch einmal den Verlau rder Far-
bung. Arnold erwähnt bei Beschreibung der Supravital-
färbung, dass die ersten gefärbten Granula stets nahe dem
Lumen auftreten, dann erst sich in die Stäbchenzone hin er-
strecken; dies kann ich für Kanälchen mit besonders weitem
Lumen oder mit offenem Lumen, z. B. für abgerissene Kanäl-
chen, wie sie vielfach am Rande der Schabsel liegen, be-
stätigen. Und Amold untersuchte ja auch vorwiegend mög-
lichst isolierte Zellen, also zerrissene Kanälchen. Die Färbung
erstreckt sich stets vorzugsweise über die am Rande gelegenen
Kanälchen, die Mitte des Präparates bleibt ungefärbt oder färbt
sich erst nach langer Zeit. Für sewöhnlich nun scheint der
Farbstoff in die intakten Randkanälchen, für die meine bıis-
herige Schilderung galt, von der Zellbasis aus einzudringen;
die ersten Granula liegen in der infranukleären Zone. Aus
dieser Betrachtung des physiologischen Verlaufs der Fär-
bung erklärt sich auch das andersartige Färbungsbild bei vitaler
Anwendung des basischen Farbstoffes, bei der erst alle sauren
Granula überfärbt werden, ehe rein basische entstehen. Im
vitalen Versuch, wo der Farbstoff vermutlich vom Glomerulus
aus durch das Lumen der Kanälchen herabströmt, findet er
oleich nach seinem Eintritt durch den Bürstensaum saure
Granula vor, deren Farbstoff ihn fällt und seinen eigenen (ira-
nulis entzieht.
Wenn man diesen supravitalen Färbungsversuchen auch
nur beschränkte Gültigkeit zugesteht, so zeigen sie doch für
302 E. HERZFELD,
die verwandten basischen Farbstoffe, dass saurer und basi-
scher Farbstoff für gewöhnlich an verschiedenen Orten im
Protoplasma gespeichert werden und dies geschieht ja, wie
wir schon sahen, auf ganz verschiedene Weise Es ergibt
sich nun die Frage: Wie werden die basischen Farbstoffe ge-
speichert ?
ce) Sehlüsse auf die Natur der basischen Vitalfärbungs-
granula.
Einige Schlüsse auf die Natur der basischen Vitalfärbungs-
granula lassen unsere Versuche schon zu. Wir sahen, dass
der basische Farbstoff so gespeichert war, dass sein organisches
Ion sich nicht mit dem Farbsäureion des sauren Farbstoffes
umzusetzen vermochte. Welcher Art ist nun diese Bindung ?
Der Farbstoff kann auf physikalische oder chemische Art ge-
speichert sein. Betrachten wir zuerst Gründe für und gegen
die physikalische Speicherungstheorie:
Der physikalischen Bindung, der Lösung in der
Iipoiden Substanz oder der lipoiden Membran der Granula
widerspricht die Tatsache, dass lipoidunlösliche basische Farb-
stoffe, wie Thionin, augenscheinlich auf dieselbe Art und an
denselben Zellorten gespeichert werden, wie lipoidlösliche.
Nach unseren Versuchen, der vitalen sauren mit nach-
folgender basischer Färbung wäre es sehr wohl denkbar, dass
der basische Farbstoff für gewöhnlich in Lipoiden ge-
speichert würde, nur jetzt durch grössere Affinität zum sauren
Farbstoff sich mit dessen Farbsäureion verbände. Anders bei
der umgekehrten Versuchsanordnung, wo der basische Farb-
stoff ın der Zelle gespeichert ist, wenn der saure hinzuströmt.
Ein in Lipoiden gelöster basischer Farbstoff
müsste bei stärkerer Konzentration wohl den sonst
lıpoidunlöslichen sauren in sein Granulum hinein-
reissen und dort fällen können. Wenigstens sieht man,
L & m: £ ; Yon : 0%
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 508
wenn man im Reagenzglas Lösungen von basischen Farbstoffen,
die in Lipoiden, Leeithin-Xylol und Terpentin-Cholesterin, ge-
speichert sind, und sauren Farbstoff ın wässriger Lösung mil-
einander schüttelt, dass sich ein Niederschlag beider Farb-
stoffe auch im Lipoid bildet. Bei schwächeren Konzentrationen,
ZB: Lösungen, entsteht ein dicker Niederschlag an
n
10000
der Grenzschicht Lipoid-wässrige Lösung, der sich auch eine
Strecke weit ins Lipoid erstreckt. Demnach müsste man sich
denken, dass ein in Lipoiden gespeicherter basischer Farb-
stoff den sauren, wenn nicht in seinem Granulum, so doch
an dessen Peripherie fällen würde, ähnlich wie Höber (1901)
mit dem lipoidunlöslichen Farbbasenfällungsmittel Ammonium-
molybdat, das nicht in die Zelle einzudringen vermag, Nieder-
schläge an der Zellperipherie erhält. Unsere Versuche zeigen
keine solchen Bilder.
Genaueren Aufschluss darüber, ob die Lipoide für die
Speicherung der Farbstoffe wesentlich in Betracht kommen,
schienen die lipoidlöslichen sauren Farben gewähren
zu können.
1. Färbungen mit lipoidlöslichen sauren Farbstoffen.
lÜchtrot A, Eosin und Erythrosin wurden bei Fröschen
injiziert. Ihrer Kolloidität nach müssten alle drei granu-
lär gespeichert werden. Sie gaben nun zwar mehr oder
weniger starke Diffusfärbung, ein Zeichen, dass der
Farbstoff in die Zellen eindringt, aber keine granuläre
Speicherung. Nach der Injektion von Echtrot A fanden
sich neben einer sehr starken diffusen Rotfärbung manchmal
in der Niere vereinzelte grosse blaurote Tropfen, vielleicht
2-3 im Verlaufe eines Kanälchens; diese Färbung unterscheidet
sich natürlich aufs deutlichste von der gewöhnlichen Granula-
färbung. Da Echtrot in Lipoiden blaurot gespeichert wird, liegt
504 E. HERZFELD,
es nahe, diese Färbung in Beziehung zu den nach Nilblau-
sulfatinjektion teilweise auftretenden violetten tropfigen Granula
zu bringen (Figg. 15 u. 16). Möglicherweise handelt es sich
wieder um die bei der Autolyse reichlicher auftretenden lipoiden
Substanzen (Albrecht, Cesa-Bianchi), die hier durch
chtrot sichtbar gemacht werden. — Eosin und Erythrosin
zeigen neben starker diffuser Rötung von Niere und Leber
eine für den Frosch ungewöhnlich starke Urinfärbung; es wird
fast die Konzentration des eingespritzten Farbstoffes erreicht,
eine Konzentration, die gegenüber dem Diffusibilitätsgrad der
Farbstoffe als auffallend hoch überrascht. Es sind im hiesigen
Institut noch Versuche im Gange, die die Ursache dieser Er-
scheinung aufdecken sollen. Möglicherweise spielt die Lipoid-
löslichkeit hier eine Rolle. Jedenfallssprichtdas Aus-
bleiben einer „normalen“ granulären |Speiche-
rung bei lipoidlöslichen sauren Farben gegen
die Lipoidnatur der mit lipoidlöslichen (bası-
schen) Farbstoffen färbbaren Granulationen.
Kombinationsversuche der drei sauren lipoidlöslichen Farb-
stoffe mit folgender basischer Vitalfärbung (z. B. Methylen-
blau) zeigten basische Granula auf diffus gerötetem Grunde.
Es war also der basische Farbstoff nicht imstande, den sauren
an sich zu reissen und zu fällen, und der saure seinerseits
wurde ja nicht granulär gespeichert. Bei der Verwendung eines
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kolloidaleren basischen Farbstoffes (z. B. Thioninblau GO,
(1 cem = 11,1%ig] 7 Std.) und 24 Std. später Echtrot A
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1 ccm —— |1,5%ig]|) zeigten die Anfangsteile der 2. Abschnitte
40 52 = S oO
einige wenige dunkle, ziemlich grosse Granula; auf diese folgten
Kanälchenanteile, in denen blaue Granula auf rotem Grunde
lagen. In den wenigen dunklen Granula hatte wohl das ın
den lipoiden Substanzen gespeicherte Echtrot den basischen
Farbstoff an sich gerissen und gefällt, denn beim Zusatz von
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 508
Kalilauge nehmen sie rotviolette Farbe an. (Der braunschwarze
Niederschlag Thioninblau-Echtrot wird durch Lauge rotbraun.)
— Versuche mit diesen lipoidlöslichen sauren Farben in Kom-
bination mit anderen sauren, z. B. Trypanblau und Wasserblau,
saben rein blaue Granula auf diffus rötlichem Grunde. Bei der
Folge Trypanblau und 8 Tage später Echtrot traten die er-
wähnten blauroten Tropfen besonders reichlich auf. Wahr-
scheinlich war das späte Trypanblaustadium mit Zellschädi-
gungen verknüpft, die die Ansammlung der lipoiden Sub-
stanzen bewirkten. — Jedenfalls geben diese Versuche wohl
einen Anhalt dafür, dass es für gewöhnlich nicht lipoide
Substanzen sind, die für die Speicherung basi-
scher, lipoidlöslicher und unlöslicher Farbstoffe in Be-
tracht kommen.
Wäre die Lipoidlöslichkeit für die Speicherung basischer
Farbstoffe von Belang, so müsste sich ferner eine Parallele
zwischen dem Grade der Speicherung und der Grösse der
Lipoidlöslichkeit ergeben.
2. Verteilungsmessungen lipoidlöslicher Farbstoffe in Leeithin-
Xylol.
Zu diesem Zwecke stellte ich Messungen über die Ver-
teilung der lipoidlöslichen Farbstoffe in Wasser und Lipoiden
an. Ich hoffte, den Verteilungskoeffizienten der verwend-
deten Farbstoffe bestimmen zu können. Dabei erhielt ich
das überrascehnde Ergebnis, dass das Verhältnis der Kon-
zentration der lipoidlöslichen Farbstoffe in Wasser zu der
Konzentration in Lipoiden nicht konstant ist. Aus verdünnten
Lösungen des Farbstoffs. wird relativ am meisten in der lipoiden
Phase gespeichert, von einer bestimmten Farbstoffkonzentration
an bleibt auch die Farbkonzentration im Lipoid konstant. Nach
Beendigung meiner Versuche bekam ich die Arbeit von Loewe,
der die Verteilung von Methylenblau in verschiedenen Lipoiden
506 E. HERZFELD,
untersucht hat, zu Gesicht. Meine Ergebnisse erhielten da-
durch eine Bestätigung, denn auch Loewe fand, dass das
Konzentrationsverhältnis von Methylenblau in Wasser einer-
seits, der lipoiden Phase andererseits von den niederen Kon-
zentrationen zu den höheren abnimmt. — Als Lipoid wurde
anfangs Cholesterin in Terpentinöl gelöst verwendet; doch ist
die Farbstoffaufnahme durch die Cholesterinphase, was auch
Loewe schon erwähnt, so gering, dass diese Methode zu
vergleichenden Bestimmungen zwischen den einzelnen Farb-
stoffen nicht verwertbar ist. Es wurde nun eine Lösung von
wasserfreiem Lecithin in Xylol genommen, wobei die Quell-
barkeit des Lecithin, die zu hohe Löslichkeitswerte ergeben
soll, für meine Versuche nicht weiter in Betracht kam. Die
Konzentration der Farbstoffe in den einzelnen Phasen wurde
mit Hilfe der kolorimetrischen Methode, Auftropfen auf Fliess-
papier, Vergleich mit Stammlösungen, bestimmt. Für meinen
/weck waren die hiermit gefundenen Werte genau genug.
Es wurden stets 10 ccm der wässrigen Farbstofflösung
mit 1 cem Leeithin-Xylol überschichtet. Die Berührungsdauer
betrug 24 Std. Die Farbstoffe sind nach steigender Lipoid-
löslichkeit geordnet. (Siehe umstehende Tabellen S. 508.)
Die Löslichkeit der Farbstoffe in Lecithin-Xylol, bei der
die Quellbarkeit des Lipoids noch etwas zu hohe Werte hervor-
ruft, ist nicht sehr beträchtlich, wenn man sie mit der Lös-
lichkeit m Wasser vergleicht. Neutralrot z. B. löst sich in
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30 Lösung, der häufigst verwendeten, restlos auf. Noch eine
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20 30
Lösung enthält in 1 ccm 0,00953 g Neutralrot. Die maxi-
Neutralrotlösung zeigt fast allen Farbstoff gelöst. Eine
male Farbkonzentration in 1 cem Leecithin-Xylol betrug nur
0,0001435 g Neutralrot. Es ist also die absolute Wasserlös-
lichkeit wohl 66 mal so gross wie die Lecithin-Xylollöslichkeit.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 507
Ebenso zeigen die anderen geprüften Farbstoffe, die alle ın
ungefähr 1%iger Konzentration löslich sınd, eine grössere
Wasser- als Lecithinlöslichkeit. Allein beim Viktoriablau +4R
ist das maximale Lösungsvermögen in Wasser geringer als
FR: us. 2
in Leeithin. In einer — Lösung, in der noch gerade aller Farb-
20
stoff gelöst ist, sind in 1 ccm 0,0104 g Viktoriablau enthalten.
1 cem Lecithinxylol dagegen speichert aus einer Lösung
n
100
0,01305 g Viktoriablau, wobei allerdings schon ein Teil des
Farbstoffes in dem Lipoid ausgefällt ıst. Nun ist zwar hier
die maximale Wasserlöslichkeit geringer als die Lecithinlös-
lichkeit, doch sahen wir gerade beim Viktoriablau, dass es
so ausserordentlich wenig gespeichert wird.
Würde sich nun die hypothetische Lipoidspeicherung in
der lebenden Zelle der Speicherung in vitro analog verhalten,
so wäre auch ein Iipoides Granulum nur imstande, den Farb-
stoff im Verhältnis seines Teilungskoeffizienten Plasma : Lipoid
anzureichern. Nur bis zu einer verhältnismässig geringen maxl-
malen Konzentration würde der Farbstoff gespeichert werden
können, unabhängig von dem Farbstoffgehalt des umgebenden
Plasmas. Es ist fraglich, ob dabei so intensive granuläre Fär-
bungen, wie wir sie ım vitalen Versuche sehen, zustande
kommen könnten. Eine Lösung eines basischen Farbstoffes
in Lecithin ist ın dünner Schicht mikroskopisch betrachtet
stets so hell, von so geringer Farbintensität, dass nicht im
entierntesten die hohe Konzentrierung der vitalen Farbgranulis
erreicht wird. @. Schmidt (1906) wies für Methylenblau
nach, dass es in seinen Zellgranulis in einer Konzentration
aufgespeichert werde, die das maximale Lösungsvermögen in
Wasser um das 200 fache überträfe; um noch mehr also das
Lösungsvermögen in einem lecithinähnlichen Lipoid. — Nun
wäre es ja möglich, dass die körpereigenen Lipoide ein ganz
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Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 513
ausserordentlich hohes Konzentrierungsvermögen für Farbstoffe
besässen, doch spricht nichtinursdre Intensität,
sondern auch die Farbe der Granula gegen eine
Speicherung in Lipoiden.
Wir sahen, dass Nilblausulfat aus stärkeren Lösungen in
Lecithin violett bis rotbraun, in der Farbe der freien Base,
gespeichert wurde. Bei der vitalen Nilblaufärbung zeigen
einzelne wenige -tropfige Granula hellviolette Farbe, die sich
auch an der Luft nicht verändert. Wir hatten angenommen,
dass ihnen Jlipoide Substanzen zugrunde liegen. Die blaue
Farbe der gesamten übrigen Granula spricht dafür, dass in
ihnen Lipoide für die Farbstoffspeicherung nicht wesentlich
in Betracht kommen.
Sieht man von dieser Art der Speicherung ab, so können
die basischen Farbstoffe nur noch chemisch an Proto-
plasmabestandteile gebunden sein. Es würde sich
da um eine Bindung an saure Eiweisse handeln, durch die
der Farbstoff ausgefällt würde. An Stelle der sauren Eiweisse
kann der saure Farbstoff treten, der den basischen Farbstoff
verhindert, seine eigenen Zellorte aufzusuchen und mit ihm
Granula in ‚„Neutralfarbe‘“ bildet. Ist andererseits der basische
Farbstoff einmal gespeichert, und ist er mit dem sauren Ei-
weiss seines Granulums eine Verbindung eingegangen, so ver-
mag er neu hinzuströmenden sauren Farbstoff nicht mehr zu
fällen. So erklärt sich das Vorhandensein rein basischer
Granula bei einer basischen Färbung mit folgender saurer.
NachdenErgebnissenderDoppelfärbungen,den
Prüfungen der lipoidlöslichen sauren Farb-
stoffe und den Lipoidlöslichkeitsmessungen
scheint also am wahrscheinlichsten, dass eine
Speicherung der basischen Farbstoffe durch
Bindung an saure Eiweisse anzunehmen ist.
34*
514 E. HERZFELD,
Ob nun der basische Farbstoff an lebende Eiweisse oder
Stoffwechselprodukte gebunden ist, dafür geben diese Versuche
keinen Anhalt, es sei denn, dass die häufig beobachtete, be-
sonders starke Färbung abgestossener Zellbestandteile für eine
Bindung an tote Protoplasmabestandteile spricht.
III. Zusammenfassung der Untersuchungen über
die Natur der basischen Vitalfärbungsgranula.
1. Bei der Bildung der basischen Granula
sieht man zwerst ‚feınnadlıese, "@ann kleine
runde, zuletzt erosstroplise Granula entstehen.
Schliesslich liegen. Granula aller Grössenord-
nuneen verstreut in der Zelle.
3. Im Stadium der Entfärbung findet ein Ab-
blassen der Granula statt, ein Teil‘ des-Farb-
stoffes wird ausgewaschen, ein Teil in seinen
GranulismitZelltrümmerninsLumenderKanäl-
chen entleert, wobei der letztere Vorgang als
Zellschädigung aufzufassen ist.
34“ Die in den Granulis. gespeicherten Abasse
schen Farben haben eine grössere Diffusibilität
als zur Nierenvitalfärbung brauchbare saure
Farben, auch übertrifft die basische Färbung
an „Echtheit“ die gleich diffusiblersaurer Farb-
stoffe.
4. Es muss also dem basischen Granulum
eineSubstanzzugrundeliegen,dieeine>Speiche-
rung des Farbstoffes trotz der sehr hohen Dif-
fusibilität veranlasst.
5. Für gewöhnlich entstehen saure und ba-
sische Granula an getrennten Zellorten.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen elc. 515
6» Das sauneiGranulumdentsteht durch all-
mähliche Konzentrierung des Farbstoftes; da-
her wird bei Doppelfärbungen (der.basische
Barhstost ‚durehyden ssaurem von, sermenzire-
wohnten: Zellorten „abgelenkt, in“ das, saure
Granulum sezogen und, dort gefällt. Erst nach
Absatıreume aller sauren entstehen basısche
Granula.
TabensaureeuVıtallfärbungs am worherbasıs ch
gefärbten Tierfindetmandagegenstetsbasische
Granula unvermischt.
8. Der ın seinen Granulis gespeicherte ba-
Siscchewaebstort wermas.niıcht, den sauren u
wulllenssodersrreendyzıezchemisch’ mit ıhmezu
Weagjeren.
gelessbrasısche Rarbstoff ist so’gespeichert.
Besser sienmie Konen, nicht mehr. frei reagieren
könmene die chasıschen Vitalgeranula, werden
mehr durch altmahliche'Konzentrierung des
Farbstoffes in Vakuolen des Protoplaamas ge-
bildet.
10. Läge den basischen Granulationen eine
!ipoide Substanz zugrunde, so müsste eine Fäl-
Innoerdes sauren "Rarbstoffes an der Peripherie
des basischen Granulums stattfinden.
EeeDarse 2 susihlerbien einer „normalen eramu-
krrzemy ss pereherung bei dem läpoidloshhehen
Sauren Karben (Echtrot A, Bosın, Erythrosim)
spricht gegen die Lipoidnatur der mit lipoid-
löslichen (basischen) Farbstoffen färbbären
Granulationen.
12. Die basischen Farbstoffe werdenin Leci-
thin-Xylolnurbiszueiner verhältnismässigge-
516 E. HERZFELD,
ringen maximalen Konzentration gespeichert,
während diemaximale Konzentrationin Wasser
z. B. für Neutralrot 66mal so gross ist.
13. Die Farbintensität der Vitalgranula über-
trifft die Konzentrierung des Farbstoffes in
einem lecithinähnlichen Lipoid bei weitem.
14. Gegen eine weitgehende Speicherung in
lipoiden Substanzen spricht auch die Farbe der
Granula. Während Nilblausulfat in Lipoiden
mit violetter bis rotbrauner Farbe gespeichert
wird, sind seine Vitalgranula vorwiegend blau.
15: Der. basisehe Farbstoff muss also che
mischanProtoplasmabestandteile, undzwaran
saure Eiweisse mit seinem Amboceptor, der
Amidogruppe, gebunden sein.
162 Der saure Farbstoff kannvan die stelle
der dem basischen Granulum zugrunde liegen-
den Substanz treten, er geht mit dem basischen
Farbstoff eine chemische Verbindung ein und
verhindertihn so, seine gewohnten Zellorte auf-
zusuchen.
17: Ist:.der basische Farbstoff schon an das
saure Eiweiss seines Granulums gekettet, so
können seine Ionen nicht mehr frei reagieren.
Der basische Farbstoff vermag sauren, der.neu
hinzuströmt, in keiner Weise zu beeinflussen.
Wir finden dementsprechend bei sauren Fär-
bungen am vorher basisch gefärbten Tier ba-
sische Granula unvermischi.
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 517
Am Schluss dieser Arbeit danke ich Herrn Prof.
Dr. Kallius dafür, dass ich im anatomischen Institut arbeiten
durfte, sowie Herrn Privatdozent Dr. von Möllendorff für
die Anregung zu dieser Arbeit, das Interesse und die Förde-
rung, die er ihr fortwährend in grösstem Masse zuteil werden
liess.
IV. Erklärung der Tafelabbildungen.
Sämtliche Figuren sind mit dem Zeichenapparat entworfen. Es wurde
Leitz !/ Immersion, Oc. 2 verwendet. Die Zeichnungen stellen, wo nichts
anderes bemerkt ist, die Nierenkanälchen im frischen Zupfpräparat nach Zu-
satz von Kochsalzlösung dar.
Fig. 1. Neutralrot vital, 12stündiger Versuch. Proximaler Teil des
2. Abschnittes einer Froschniere.. Granula noch klein, staubartig fein, erst
wenig grössere, tropfenförmige Granula (S. 462).
Fig. 2. Neutralrot vital, 24stündiger Versuch. Proximaler Teil des
2. Abschnittes einer Froschniere. Granula schon viel grösser, tropfig (S. 462).
Fig. 3. Crocein vital, Methylenblau vital, F. 45 (S. 475). 2. Abschnitt:
Tiefschwarzblaue Niederschlagsgranula, reinblaue Granula.
Fig. 4. Neutralrot vital, Wasserblau vital, F. 59 (S. 491). Proximaler An-
teil des 2. Abschnittes: Dunkelviolette Niederschlagsgranula neben rein roten.
Fig. 5. Neutralrot vital, Wasserblau vital. Späteres Stadium F. 60
(S. 491). Formolpräparat, Gefrierschnitt. Die wenigen reinroten Granula
der proximalen Anteile der 2. Abschnitte sind im Formol verblichen. 1. Proxi-
maler Anteil viele, teils klumpige, dunkelviolette Niederschlagsgranula, 2. distaler
Anteil reinblaue Granula.
Fig. 6. Trypanblau vital, 3tägiger Versuch. Proximaler Anteil eines
2. Abschnittes. Die blauen Granula gehen allmählich in violette über (S. 473).
Fig. 7. Trypanblau vital, 3tägiger Versuch. Distaler Anteil eines 2. Ab-
schnittes. Rötliche Granula.
Figg. 8-9. Trypanblau vital, Neutralrot vital, F. 22 (S. 473).
Fig. 8. Proximaler Anteil eines 2. Abschnittes. Blauviolette Granula,
die distal immer röteren Farbton annehmen. s
Fig. 9. Distaler Anteil eines 2. Abschnittes. Rötlichbraune Granula.
Figg. 10-11. Neutralrot vital, Toluidinblau vital, F. 40 (S. 475).
Fig. 10. Distales Kanälchen eines 2. Abschnittes. Gelbe Pigmentgranula
und dunkle Niederschlagsgranula.
Fig. 11. Kanälchenabschnitt ohne Pigmentgranula. Dunkle Nieder-
schlagsgranula, einige blaue.
Fig. 12. Lithionkarmin vital, Nilblausulfat vital, M. 34 (S. 473). Proxi-
maler Hauptstückabschnitt. Rote, violette und blaue Granula.
Erklärung der Tafelabbildungen. 519
Fig. 13. Trypanblau vital, Bismarckbraun vital, M. 63 (8. 481). Distaler
Hauptstückabschnitt. Blaue Granula, schmutzig braungrüne Niederschlags-
granula.
Figg. 14—16. Nilblausulfat, Vitalfärbung. Frosch (S. 464).
Fig. 14. Kanälchen eines 2. Abschnittes. Zahlreiche Pigmentgranula
von Nilblausulfat überfärbt zu blaugrünen Granulis.
Fig. 15. Zelle eines 2. Abschnittes. Blaue Granula und violette tropfige
Granula.
Fig. 16. Rein blauer Anteil (proximal) eines 2. Abschnittes.
Fig. 17. Lithionkarmin vital, Methylenblau vital. Maus (S. 464).
Intensiv blaue Granula, rote Granula. Proximaler Hauptstückabschnitt.
Fig. 18. Nilblausulfat supravital. Maus (S. 498). Distaler Hauptstück-
abschnitt.
Fig. 19. Neutralrot supravital. Frosch. 2. Abschnitt (S. 498).
Fig. 20. Trypanblau vital, Neutralrot supravital (S. 501). Zelle eines
. Abschnittes. Rote, blaue, violette Granula.
Fig. 21. Patenblau vital, Neutralrot supravital (S. 501). Zelle eines
2. Abschnittes. Rote, blaue, violette Granula.
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Kenn
5 2} j
es
Aus DEM IJI. ANATOMISCHEN INSTITUT zu Wien.
VORSTAND PROF. HOCHSTEFTTER.
ÜBER EINEN
GEMEINSAMEN KALKANEO-NAVIKULARKNORPEL NEBST
BEMERKUNGEN ÜBER DAS 05 GUBOIDES SECUND,
VON
DR. RUPPRICHT,
PROSEKTOR AM II. ANATOMISCHEN INSTITUTE UND CUSTOS DES
ANATOMISCHEN MUSEUMS ZU WIEN. (ZUR ZEIT IM FELDE.)
Mit 26 Figuren auf den Tafeln 57—45.
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Über Abweichungen im Aufbau des menschlichen Tarsus
ist oft und viel geschrieben worden. Ich will gelegentlich
dieses kleinen Beitrages nicht mit einer umständlichen Auf-
zählung der ähnlichen veröffentlichten Fälle ermüden, sondern
nur das Nötigste heranziehen. Wen die einschlägige, besonders
ältere, Literatur näher interessiert, den verweise ich auf die
bekannten Arbeiten von Pfitzner und Wilhelm Krause.
Es soll ferner an dieser Stelle nicht etwa eine besondere
Wichtigkeit durch gegenseitiges Abwägen mit andererseits be-
obachteten Variationen am Tarsus hervorgeholt werden. Nur
über die Eigenart und die Frequenz, welch beide m. E. doch
bei jeder Variation annähernd festgestellt werden sollten, muss
ıch mich etwas äussern.
IB
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle steht am
knöchernen Fuss das Naviculare, mit Ausnahme des Calcaneus,
mit allen!) Tarsalknochen in unmittelbarer gegenseitiger Be-
rührung. In gar nicht so seltenen Fällen aber kommt es auch
zu einer Berührung mit dem Fersenbein, und zwar in einer
ziemlich regelmässigen Art. Zuckerkandl?) bezeichnet
!) Die Häufigkeit der inkonstanten Gelenkverbindung zwischen Navi-
culare und Cuboid ist vielleicht mit W. Gruber auf 50°/, der Fälle anzunehmen
(Müllers Archiv 1871).
?) E. Zuckerkandl, Über eine typische Varietät des Chopartschen
Gelenkes; in: Medic. Jahrb. N. F. 1888. Wien.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 3). 35
528 RUPPRICHT,
diese Kombination „Calcaneus-Naviculare“ als typische Varietät
‘
des „Chopartschen Gelenkes“; er sah sie in allen Stadien
„von der punktförmigen Berührung“ bis zum „Kontakte von
langen und breiten Flächen‘.
Danach könnten wir zwei Arten der „Kombination“ unter-
scheiden: die blosse Berührung und den Kontakt mit „breiten
Flächen“. So ist der letztere am knöchernen Fussskelet wahr-
nehmbar; am nicht macerierten Fuss dagegen ist der Kontakt
mittelbar durch fibröses Gewebe verstärkt. Diesen Zustand be-
zeichnet Pfitzner als „Koalescenz‘“, d. h. als durchaus nicht
gleichwertig mit Synostose: „man muss dabei ‚Koalescenz‘
als werdenden Zustand von ‚Koalition‘, dem Endergebnis, unter-
scheiden‘ 1). Als dritte Art muss man eine echte gelenkige
Verbindung (sehr selten und fraglich?) und als vierte eine
wirkliche Vereinigung aufstellen, sei es im knöchernen Stadium
„Synostose“ — sei es im Knorpelstadium ‚Knorpelbund“. (Ich
bitte wegen dieses neuen Wortes um Verzeihung, aber Syn-
chondrose und Koalition sind schon anderweitig vergeben.)
Die Autoren berufen sich vielfach auf Koalitionsfälle des
Caleaneus und Naviculare, teils Koalescenzen im Sinne
Pfitzners, teils knorplige Verschmelzungen, teils Synostosen:
— aus dem Wiener Anatomischen Museum. Soweit mir bekannt
wurde, sind von den Wiener Fällen bisher 1—2 von Zucker-
kandl und 2 von Holl genau beschrieben, vielleicht sind
einzelne auch noch anderswo näher erwähnt, doch scheint
mir das nicht sicher?). Ich glaube daher, es dürfte nicht
ı) W. Pfitzner, Beiträge zur Kenntnis des menschlichen Extremi:öten-
skelets; in: Schwalbes Morpholog. Arbeiten, Bd. 4, S. 369. Ebendort auch
der Passus: „„Es kommen nämlich ausgedehnte Koalescenzflächen vor an Stücken,
die durch eine verhältnismässig mächtige Schicht von Weichteilen abgetrennt...
an Stücken, die ganz locker, ganz beweglich miteinander verbunden sind.“
®) Pfitzner bezieht sich auf vier Wiener Fälle von Synostosis calcaneo-
navicularis: wir besitzen nur eine. Ich glaube, dass seine Notiz auf einer
irrtümlichen Auffassung einer Bemerkung von Holl fusst. Holl meinte aber
vier Synostosen von Calcaneus und Talus.
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel ete. 529
ganz interesselos sein, wenn ich kurz auf sämtliche ın
unserem Museum verwahrten Fälle von Koalitionen des Cal-
caneus und Naviculare im weiteren Sinne eingehe.
Bei genauer Durchsicht unserer 37 Skelete von Er-
wachsenen (die reiche Sammlung von kindlichen und jugend-
lichen Skeleten kommt nicht in Betracht: die Tarsalia sind
—- aus technischen Gründen — nicht völlig maceriert) fanden
sich, bei sorgfältiger Berücksichtigung vorhandener Montierungs-
fehler, ausgesprochene Berührungen des Calcaneus
mit dem Naviculare bei:
Nr. 75, 2 aus Böhmen; am rechten Fuss;
Nr. 84, d Mumie aus Theben; rechter Fuss;
Nr. 418, 5 Australneger; rechts;
Nr. 404, 5 aus Russland; rechter Fuss;
ım ganzen 4 Fälle unter 74 Füssen.
Bei diesen Fusswurzeln ist auf der dorsalen Fläche die
Chopartsche Amputationslinie nicht beeinflusst. An der
Plantarseite kommt es aber zu einer Berührung der beiden
Tarsalknochen, indem sich Knochenvorsprünge in den Raum
zwischen Talus und Cuboid einschieben. Diese Vorsprünge
gehen, wie dies seinerzeit Zuckerkandl (1888) hervor-
hob, teils vom Naviculare, teils vom Fersenbein aus. Beim
Kahnbein handelt es sich um die plantare, fibulare, hintere
(proximale) Ecke — die Tuberositas navicularis minor nach
Wenzel Gruber. Vom Calcaneus beteiligt sich die —
normalerweise kleine — Knochenzacke, die in der Mitte
Die betreffende Stelle lautet: „Es haben jedoch nicht nur die Koalitionen
vom Fersenbeine und Kahnbeine Plattfussstellung im Gefolge, sondern auch
die anderer Knochen, so die des Fersenbeines mit dem Sprungbeine. Das
Museum bewahrt von solchen -angeborenen synostotischen Verbindungen vier
Fälle auf, welche von Zuckerkandl beschrieben wurden, ich habe dieselben
in bezug auf die Stellung des ganzen Fusses untersucht und gefunden, dass
sämtliche mit Plattfussstellung im Zusammenhange sind, wenn auch dieselbe
nicht in dem Masse vorhanden ist wie bei Koalition des Fersenbeines mit dem
Schiffbeine . . .“
35*
530 RUPPRICHT,
zwischen Facies cuboidea und sustentaculum gelegen, bei
plantarer Ansicht diese beiden Teile des Fersenbeines deul-
lich voneinander scheidet. Diese Zacke bildet mit ihrer distalen
Fortsetzung eine dünne Leiste, die im Körper ziemlich genau
horizontal eingestellt ist: dorsalwärts weist sie die Facies
articularıs anterior, plantarwärts einen Teil der Facies articul.
cuboidea auf. Dieser Knochenteil ist bei Berührungen (bei
den Koalescenzen natürlich noch stärker) verdickt und er
kommt dem Knochenvorsprung des Naviculare entgegen. Es
will mir scheinen, als ob es sich bei diesem Knochenteile
um dasselbe handelt, was Gruber und mit ihm Zucker-
kandl als Sustentaculum talı anticum bezeichnet.
Auf die in dieser Gegend vorkommenden überzähligen
Tarsalknochen werde ich später noch zurückkommen.
Die eben erwähnten Fälle von Berührungen sınd sehr
ausgesprochene, natürlich ohne dass an den betreffenden Stellen
(relenk- oder Koalescenzflächen vorhanden waren. Ob aber
hier nicht doch Berührungen geringeren Grades — bis zu
den „punktförmigen“ von Zuckerkandl — ganz erheblich
häufiger vorkommen, als es das Verhältnis von 4:74 aus-
drückt, lässt sich wohl vermuten, ist aber nach meiner Meinung
am macerierten Fuss allein nicht zu entscheiden.
Von Koalescenzen ım Sinne Pfıtzners also von
Berührungen, Kontakten mit breiten Flächen fanden sich
die folgenden:
1. Nr. 271, Katalog-Angabe: Skelet eines rechten gering-
eradigen Plattfusses, dessen Fersenbein mit dem Kahnbeine
durch derbe Bindegewebs- und Knorpelmassen koaliert waren
(Figg. 1 und 2).
2. Nr. 272. Im Katalog bezeichnet: „Linker normaler Fuss
desselben Individuums, wie unter 271 (Fieg. 3 und 4).“
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 531
Ich halte diese letztere Bezeichnung für unrichtig; man
erkennt aus der Abbildung den, wenn auch kleinen, aber deul-
lich flächenhaften Kontakt. Auch zeigt das Kahnbein am frei-
gelegten Knochen eine deutliche Koalitionsfläche.
3. Nr. 282, K. A.: Kongenitale Syndesmose zwischen
Navieulare und Calcaneus durch straffe Bandmassen (Fig. 5).
4. Nr. 283, K. A.: Skelet eines linken Fusses, dessen
Kahnbein mit dem Fersenbeine durch straffe Band- und
Knorpelmassen verbunden waren (Fig. 6).
5. Nr. 284, K. A.: Fuss mit angeborener Koalition des
Naviculare und Calcaneus durch straffe Bänder (Fig. 7 u. 8).
Diese Fälle zeigen fast durchwegs das Wesen der Variation
sehr schön und ich glaube, dass man sich aus den beige-
eebenen Abbildungen und Hinweisen leicht über dieselbe
orientieren kann. Wie schon oben erwähnt, sind einige der
Fälle publiziert (Zuckerkandl 77, 80), auf welche Abhand-
lungen ich den näher Interessierten verweisen möchte. Ich
will hier nur die Haupteigentümlichkeiten aller Fälle kurz zu-
sammenfassen.
Dorsal betrachtet fällt besonders die Unterbrechung der
Chopartschen Linie auf, die dadurch ihrem Wesen nach
als Amputationsstumpffläche verloren geht (Figg. 1, 6, 8!).
Von lateral her sieht man, dass der Sinus Tarsı beträchtlich
erweitert, das Naviculare nach der fibularen Seite verbreitert
(Fig. 6) und an diesem Ende etwas nach hinten verschoben
ist. So kommt es auch immer zu einer Articulatio cuboidea-
navicularis und zugleich sind die ziemlich nahen Beziehungen
des Cuboides zum Taluskopf in erheblicher Weise gestört.
Der dorsale Anteil des sogenannten Processus anterior calcaneı
ist verdickt, z. B. besonders nach der Facies articularıs cuboidei
hin. Verfolgt man nun diesen Teil bis auf die plantare Seite,
so erkennt man deutlich die mächtige Knochenzacke und -leiste
532 RUPPRICHT,
zwischen Facies cuboidea und sustentaculum, welche ich schon
oben gelegentlich der „Berührungen“ erwähnte.
Durch die starke mediale Ausbreitung des vorderen
Calcaneusendes kommt es auch im allgemeinen meist zu einer
kräftigeren Form des Knochens. So messe ich hier bei einer
Länge von 78,4 mm, die ungefähr einem normalen Mittel-
mass entspricht, an grösster Breite 62,0 mm, gegen eine
mittlere Breite von 43,4 mm.
Die Masse der Fusswurzelknochen sind bisher von anatomischer Seite
weniger beachtet worden und bevor ich die ausführliche Arbeit von Laidlaw
zur Hand bekam, hatte ich mir, um wenigstens einen kleinen Anhalt zu haben,
die grössten Längen-, Breiten- und Höhenmasse von einer kleinen Serie (44 Stk.)
gut macerierter nicht gefasster Fersenbeine von Erwachsenen notiert. Ich
fand im Mittel 77,2 Länge, 43,4 Breite und 43,5 grösste Höhe (an der Calx.).
Laidlaw, dem vom Cambridge-Museum die stattliche Zahl von 750
Calcanei zur Verfügung stand, bringt leider keine Mittelzahlen; statt dessen
Breite x 100
Länge
einen durchschnittlichen Wert von 50—60. Wenn ich ebenso verfahre, komme
ich auf Indexwert 56,2, so dass ich in Höhe und Breite ziemlich gleich gemessen
habe. Die Anthropologen Volkow, Testut und Reicher messen die mittlere
Breite; es hätte mich zuweit geführt, auf die äusserst genauen und subtilen
Masse der anthropologischen Technik einzugehen und es sollen hier meine be-
scheidenen Massangaben nur eine ungefähre Vorstellung des Mittelwertes geben.
Für genaue anthropologische Masse kann ich am besten auf Reicher (1913)
verweisen.
aber einen Breitenlängenindex. Er setzt Ind = und erhält
An Synostosen, d. h. an wirklichen Knochenverschmel-
zungen weist die Sammlung 1 Exemplar auf. Fig. 9 zeigt
die plantare Ansicht, weitere dorsale Ansichten findet man
bei Holl (Langenbecks Archiv Bd. XXV, Heft 1), der
den Fall ausführlich beschrieben und erörtert hat. Im
übrigen ist der gleichmässige Übergang der Knochenmasse des
Naviculare in die des Fersenbeines aus der Figur wohl ohne
weiteres ersichtlich.
Die Verschmelzungen im Zustande des knorpeligen Skeletes
von Calcaneus und Naviculare zu einem Knorpel sind bisher
im Museum durch 2 Füsse von einem Kinde (Neugeborenen)
vertreten. Diese um es gleich hier vorauszuschicken —
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 533
seltenen Fälle von Knorpelbund sind ebenfalls von Holl
(Langenbecks Archiv .Bd. XXV, Heft 4) veröffentlicht
worden. Von einer weiteren Abbildung derselben musste ich
absehen : die Präparate haben durch ungeeignete Konservierung
mit der Zeit sehr gelitten.
Ich verdanke nun der grossen Liebenswürdigkeit meines
verehrten Chefs, Professor Hochstetter, die Möglichkeit
über einen weiteren Fall von Knorpelbund zu berichten, der
nunmehr auch dem Bestande des Wiener Anatomischen
Museums hinzugefügt wurde. Das Präparat wurde seinerzeit
zur Darstellung der Knochenkerne an einem kindlichen etwa
11/,jährigen Fuss angefertigt und stellt einen Flachschnitt
(untere 3/, des Fusses) parallel zum Dorsum pedis dar. Es
wurde vor längerer Zeit unter dem Demonstrationsmaterial
zurückgestellt und an demselben gelegentlich einer Hauptreini-
gung vom Diener Leberl als erstem eine Unregelmässigkeit
am Tarsus gefunden. Fig. 10 zeigt die dorsale Ansicht des
angeschnittenen Fusses. Vom medialen zum lateralen Fuss-
rand erstreckt sich die gleichmässige Knorpelmasse ent-
sprechend den Stellen, an welchen man in gleicher Höhe auf
Naviculare und Proc. anter. calcanei im Schnitte trifft. Dabei
ist der sonst (bei x) zwischen beiden Tarsalien befindliche
— übrigens bei einer derartigen Schnittfläche nicht sehr
grosse — Raum durch Knorpelgewebe völlig ausgefüllt. Der
vordere Rand des gemeinsamen Knorpelstückes ist ın der
medialen Hälfte schwach konvex, in der lateralen ziemlich
stark konkav. An diesem vorderen Rande beträgt der grösste
(längste) Durchmesser (vom inneren zum äusseren Fussrand)
29 mm, bei einer grössten Fusslänge von etwa 107 mm. Die
Breite der dorsalen Fläche beträgt in der Mitte des Naviculare
— an der Grenze des Ento- und Meso-cuneiforme gemessen —
6,5 mm; an der Übergangsstelle, also etwa gegenüber des
-
Gelenkspaltes zwischen Eeto-cuneiforme und Cuboid: 5 mm.
or
sw
>
RUPPRICHT,
Diese Mächtigkeit des Knorpels an der Übergangsstelle bleibt,
in die Tiefe verfolgt, ziemlich gleich stark, nur dicht an der
plantaren Oberfläche ist sie etwas geringer, aber immer noch
4 mm dick. Es findet sich also nirgends ein gegen das Volumen
der beiden Tarsalia deutlich abgesetzte Brücke, sondern ein
gleichmässiges Übergehen des einen Tarsalknorpels in den
andern.
Um das Präparat in seinem Zusammenhange nicht zu
zerstören, habe ich von der nicht präparierten, plantaren Seite
nur soviel freigelegt, um das unmittelbare breite Übergehen
der Knorpelsubstanz eines sonst vorhandenen abgegrenzien
Naviculare in eine solche des Calcaneus zu übersehen. Fig. 11
stellt diese Ansicht dar: in dem Raum zwischen Taluskopf
und Tuberculum post. des Cuboid ist die Knorpelmasse (x-x)
zu erkennen. Medial ist ein Teil des Ligament. calcaneo-
naviculare plantare, lateral das Ligament. calcaneo-cuboideum
plantare dargestellt.
Der tiefe Teil der Pars calcaneo-navicularıs des Ligam.
bifurcatum ist wahrscheinlich gar nicht vorhanden.
Die distale Fläche des gemeinsamen Knorpelstückes dient
zur Artikulation der distalen Tarsalia. Vier Gelenkfacetten
folgen sich in einer Reihe: I, II und Ill für die entsprechenden
Cuneiformia (Fig. 12) und dann folgt eine grosse Gelenkfläche
(cu) für das Cuboid. Diese ist in der Mitte vertieft, und zwar
stossen in einer vertikal verlaufenden Rinne in einem Winkel
von etwa 150% eine grössere laterale Gelenkfacette mit einer
kleineren medialen zusammen. Beide sind ziemlich plan und
korrespondieren mit entsprechenden Facetten des Cuboids,
dessen Gelenkfläche — proximalwärts — somit von der üb-
lichen oval-sattelförmigen abweicht.
‘s findet sich also — kurz zusammengefasst — ein
überall einheitliches Knorpelstück, dessen Hauptflächen (dorsal,
plantar, distal) nach Form und Funktion entsprechend und
Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 37/38.
Fig. 1. Fig. 2.
Cc cenz von Kahn- und Fersenbein. Fig. 6.
Dorsalansicht,. (Katalog N 1.) 2/5 Plantaransicht.
(Zu
7 Dorsalansicht ?/,.
Plantare
b Ya. (Katalog Nr. 283.)
Syndesmose,
Fig. 3. Fig. 4.
Conlescenz von Kahn- und Fersenbein. y
Dorso-laterale Ansicht. ]
Fig. 8.
Dorsalansicht %/.
Plantaransicht.
Is
(Katalog Nr.
Verlag von J. F. Berfmann in Wiesbaden.
Anatomische Hefte. 1.
Talus
Susten-
taculum
n > Ver-
a Talus mit Kuöch erben
_ ER Knochen- al
Fig. 9. Ban
Synostose-Plantaransicht '/,.
Dorsaler
——— (hinterer)
Anteil!
la BS—3X
|
Cuboid Tub.
post. ecub. _ dors.
Z ER Fr
N er T
Lie. cale. II, Er 7 Lig. calec. nav. plant. — = IB
cub. plant. ; F ER (2 RR } \
F Taluskopf R \
l. “ Am: 1» m.
Calcaneus ——. Fig. 12.
(calx.)
D-
Fig. 11
Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3). Tafel 39.
Naviculare
Calcaneus
Naviculare
—Rnorpel
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
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des Calcaneus
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_ Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 40,
Fig 19:
Ruppricht.
Königl.Universitätsdrcckerei H.Stürtz AG Würzburg. Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 535
einheitlich gestaltet sind. Die Formen eines Calcaneus und
Navieulare sind nur an den medialen, lateralen und proxi-
malen Teilen dieses eigenartigen Knorpels zu erkennen.
I.
Findet sich ein solches Knorpelstück im menschlichen
Tarsus häufig? Kann man insbesondere das Auftreten eines
gemeinsamen Knorpels an Stelle von Calcaneus und Naviculare
oft beobachten ?
Pfitzner behandelt in seinem Beitrag zur Kenntnis des
menschlichen Extremitätenskelets betreffend das Fussskelet,
vom Jahre 1896, die bis dahin erschienene Literatur sehr
genau und ich kann wohl annehmen — fast erschöpfend. Er
fand nun von Verbindungen aller Arten des Naviculare und
Calcaneus, die er unter dem Sammelnamen „Concrescenzen“
(also Koalescenz, Synostose, Fusion, Assimilation) zusammen-
lasst:
Durch eigene Beobachtungen: 15 Fälle, aus der Literatur:
38 Fälle; hiervon waren wirkliche Knochenverschmelzungen
(Synostosen) bei den eigenen Beobachtungen: kein Fall, ın
der Literatur angeführt: 9 Fälle.
Nach seinen Erfahrungen aber glaubt er, dass unter den
9 Fällen „es nicht ausgeschlossen sei, dass einzelne dieser
Fälle eine Synostose nur vortäuschen“. Ich ersehe nun aus
seinen Literaturangaben, dass es sich bei seinen 9 Fällen nur
um folgende handeln kann: Cruveilhier (1), Wedding (2),
Holl (1), Leboucg (1), im ganzen also 5 Fälle bis zum
Jahr 1896. Denn die 4 Synostosen des Wiener Museums, die,
wie ich es bereits oben darlegte, Talus-Calcaneus-Verschmel-
zungen darstellen, sind abzuziehen. Von 1896 ab fand ich
bis zum Jahre 1913 keinerlei Erwähnung.
Wenn man nun bedenkt, welch grosse Zahl von Tarsen
und einzelnen Tarsalknochen (hierbei auch besonders von
536 RUPPRICHT,
Caleanei und Navieularia) — seitdem die Aufmerksamkeit auf
die Zusammensetzung des Tarsus gelenkt wurde, man könnte
vielleicht sagen seit den Zeiten des Entdeckers des Os
vesallanum -—- untersucht wurden, so ist die Zahl der be-
kannten Fälle unserer Variation eine sehr geringe.
Um dies Zahlenverhältnis näher zu beleuchten, will ich
erwähnen, dass Pfitzner (1896) 520 Füsse (nach Schwalbe
im ganzen 1600) genau untersuchte; Laidlow (1904) 750
Calcanei, Hasselwander 301 Füsse (1905) und Manners-
Smith 600 Navicularia im Jahre 1907 durchsahen. Wenn
ınan ferner in Betracht zieht, dass bei jedem Gelenkpräparat
eine so auffallende Veränderung nicht gut übersehen werden
kann und z. B. am Präpariersaal des hiesigen II. Anatomischen
Institutes jährlich etwa 250 Füsse nur auf Gelenke präpariert
werden, dass endlich seit Anwendung des Röntgenverfahrens
von anatomischer und besonders von chirurgischer Seite eine
sehr grosse Zahl von Füssen auf diesem Wege untersucht
wurden, dann kann man wohl annehmen, dass die Zahl 5
im Vergleich zu den Tausenden allein in den letzten 20 Jahren
untersuchten Objekten eine verschwindend kleine, die Selten-
heit der Varietät also eine ausserordentlich hohe ist.
Ganz ähnlich verhält es sich mit den „Verschmelzungen“
im Knorpelstadium. In Pfitzners Angaben finde ich 7 Fälle,
von Verneuil 2 Fälle, von Holl 2 und Weber 3. Von
letzteren betreffen zwei Fälle die Füsse eines 13 jährigen
Knabens (das Original war mir leider nicht zugänglich): nur
eine relativ schmale — 5 mm dicke — Knorpelbrücke stellt
die Verbindung dar. Zu diesen könnte man hier vielleicht
die beiden Gruberschen Fälle (Beobachtungen 1879, Heft 1),
denen Gruber als Vergleich nur die Verneuilschen Fälle
als genügend erachtet, hinzuzählen. (Leider fehlen bei Gruber
die Abbildungen. An Beweismaterial sind aber die Verneuil-
B
schen Fälle ja auch nicht glänzend ausgestattet: man findet
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 537
nur den Abdruck einer mündlichen Mitteilung, die Verneuil
an Robert [des vices congenitaux de conformation des arti-
culation, Paris 1851] machte!)
Zu den sicheren Fällen muss ich aber noch einen von
Leboucg publizierten Fall bei einem Fötus von 25 mm Länge
hinzufügen. Diese Angabe ist wohl Pfitzner entgangen; mir
aber erscheint sie ziemlich wichtig und ich bringe daher in-
Fig. 13 die Pausreproduktion der Leboucgschen Abbildung.
Bei seiner Längenangabe sehen wir hier einen der frühesten
Typen eines gemeinsamen Kahn- und Fersenbeinknorpels, zu
einer Zeit, in der sich noch nicht das betreffende skeletogene
Blastem ganz in Knorpel umgesetzt hat. Zum Vergleich gebe
ich daneben (Fig. 14) eine Abbildung eines Schnittes eines
Embryos von fast gleicher Grösse — 27 mm. Diese, wie
die später gegebenen Abbildungen von Schnitten embryonaler
Extremitäten sind dem reichen Serienmaterial des Herrn Prof.
Hochstetter entnommen, welcher mir dieselben in gütigster
Weise zur Verfügung stellte.
Kompakte Knorpeleinheiten, wie sie der Leboucgqsche
und der oben von mir neu publizierte Fall so klar und deutlich
zeigen, sind zur Beurteilung der Genese, auf die ich im folgen-
den alsbald eingehen werde, sehr wichtig. Was aber die
Frequenz der knorpeligen Variante anlangt, so muss ich noch
erwähnen, dass ich auch hierfür die Literatur nach der
Pfitznerschen Arbeit (über Tarsus), also von 1896 ab, sehr
genau durchgesehen habe, und dass ich selbst unter anders
lautenden Titeln keine neuere Beobachtung von ‚„Knorpelver-
schmelzung‘“, richtiger: Knorpeleinheit oder Knorpelbund
zwischen Calcaneus und Naviculare gefunden habe.
Ich möchte daher über die Häufigkeit des Vorkommens
unserer Varietät mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, dass sie
ebenso wie die der Synostosen eine ausserordentlich seltene ist.
538 RUPPRICHT,
8
Was nun die Deutung dieser Varietät betrifft, so möchte
ich vorweg kurz erwähnen, dass es sich in unserem Falle
wirklich um eine Varietät und nicht um einen patho-
logischen Zustand handelt. Weder an dem Knorpel-
stück selbst noch in seiner Umgebung ist irgend etwas von
einer vorliegenden oder abgelaufenen Veränderung wahrzu-
nehmen.
Auch sekundär — post partum — ıst diese Knorpelein-
heit nicht entstanden; ich brauche wohl kaum zu erwähnen,
dass wir heutzutage nach unseren Erfahrungen am embryonalen
Extremitätenskelet diese Varietät als eine kKongenitale be-
zeichnen müssen.
Was die weitere Behandlung und Beurteilung einer Varietät
— von der chirurgisch-anatomischen Wichtigkeit abgesehen —
anlangt, so möchte ich mich der Ansicht W. Krausest)
anschliessen: „Wie die anatomischen Varietäten gewöhnlich
behandelt werden, bilden sie wahrscheinlich das langweiligste
Kapitel der Naturwissenschaften überhaupt. Ganz etwas anderes
ist es, wenn bei der einzelnen Varietät ihre ontogenetischen
und phylogenetischen Beziehungen aufgedeckt werden können,
aus denen ihr Vorkommen zwar nicht eigentlich erklärt, aber
doch dem Verständnis näher gebracht werden kann. Leider
ist dies nicht immer der Fall!“
Will man die Varietät ontogenetisch erklären, so kann
man wohl nur zwei Fragen erheben. Gibt es im Verlaufe der
Entwickelung des Tarsus einen Zustand gemeinsamer Anlage
von zwei oder mehr Tarsalelementen, insbesondere des
Calcaneus und Naviculare und kann ein Bestehenbleiben dieser
gemeinschaftlichen Anlage die Form unserer Varietät erklären ?
!) Handbuch der Anatomie (herausg. v. Bardeleben), Skelett der oberen
und unteren Extremität. Jena 1909.
I. Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3).
Anatomische Hefte.
I, II, III.
Cub,
Nav.
Calc.
Talus.
Fig. 16.
Embryo humanus 19,4 mm.
Anlage des Gelenkspaltes
Nav.
Knorpel
—- Grenzsaum \a k h
—Randschicht | nes
Verlar von J.
F, BereMaun in Wiesbaden.
Tafel 41/42.
Randschicht
Golenkspaltanlage (noch von Gewebe
— schraffierte Linien — ausgefüllt)
1
Blastem noch undifferenziert, die
Randschicht noch nicht abzugrenzen
Fig. 19.
Gelenkspalt
nicht ganz
entwickelt
noch nicht
vorhanden
Randschicht des Naviculare überall,
auch gegen Calc. abgegrenzt. R
Die schraffierten Linien deuten das verschieden entwickelte Zwischengewebe an.
Fig. 20.
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel ete. 531
Oder kommt es entwickelungsgeschichtlich bei gesonderler An-
lage aller Tarsalknochen später zu Verschmelzungen, die durch
stärkeres Auftreten zu einem Calcaneanaviculare führen
können ?
Untersucht man — um der ersten Frage näher zu treten -—
eine Schnittserie durch einen der äusseren Form nach bereits
ziemlich gut entwickelten embryonalen Fuss, etwa bei einem
Fötus von 25-30 mm grosser Länge, so findet man die Tarsalıa
schon in fast vollkommener Knorpelausbildung! Wir müssen
also schon sehr weit zurückgehen, wollen wir die ersten An-
lagen der Tarsalia, d. h. die ersten Knorpelkerne aufsuchen.
Und damit geraten wir alsbald in technische Schwierigkeiten.
Wie bekannt, treten die Knorpelkerne ım Zentrum der be-
treffenden skeletogenen Partie auf; es ist aber in sehr frühen
Stadien sehr schwer, genaue Grenzen zu ziehen und dadurch
unmöglich, mit Bestimmtheit die eine oder andere kernlichtere
Stelle als „Anlage“ zu bezeichnen.
Dank der grossen Liebenswürdigkeit meines Chefs konnte
ich aus der „Sammlung Prof. Hochstetter‘ sieben Serien
untersuchen, von welchen ich selbst 4 geschnitten hatte. Es
fand sich nun bei 12,5 mm grösster Länge (Embr. hum. Ma,)
drei deutliche Knorpelanlagen, wie aus‘der beigegebenen Fig. 15,
die nach einem der charakteristischsten Schnitte der Serie
abgezeichnet wurde, zu ersehen ist. Nach ihrer Lage aber
könnte ich sie nicht zum Tarsus zählen, höchstens vielleicht
die beiden distalen und es wäre dann das proximale etwa
als Tibiaanlage anzusprechen. Jedenfalls aber kann man sagen,
dass zu dieser Zeit (bzw. bei dieser Grösse) von einer Unter-
scheidung der ersten knorpeligen Tarsalanlagen gewiss noch
nicht die Rede sein kann!
Betrachtet man dagegen ein späteres Stadium, so findet
man bei 19,4 mm grösster Länge (Embr. hum. Ma,, Fig. 16)
te}
540 RUPPRICHT,
den distalen Teil der Tarsalelemente — z. B. besonders gut
erkennbar das Cuboid — gut abgegrenzt, während die Grenzen
der proximalen Tarsalien noch etwas verwaschen ineinander
übergehen. Auf der Zeichnung findet man im Zentrum dieser
Gruppe von Knorpelanlagen einen Gefässdurchschnitt (die den
Tarsus perforierende Hauptarterie des Fusses), der uns am
besten auf die Unterscheidung der einzelnen proximalen An-
lagen hinweist, besonders zwischen Talus und Calcaneus.
Wir können also beim ersten Bilde (Fig. 15) keine, beim
zweiten (Fig. 16) alle Anlagen der Tarsalknorpel mit Bestimmt-
heit erkennen. Zugleich aber erkennt man im letzteren Falle,
dass die Anlagen gesondert sind.
Aus dem Umstand allein, dass die Grenzen verwaschen
sind, darf man aber nicht schliessen, dass die Anlage zweier
oder mehrerer Tarsalia früher gemeinsam war, und dass dann
eine Sonderung einsetze, die zur Zeit des Bildes noch nicht
ganz abgeschlossen wäre. — Es ist natürlich auch denkbar,
dass die beiden Tarsalelemente unserer Varietät in früher
Zeit — vielleicht auch in ihrer Anlage — kontinuierlich zu-
sammenhingen und ihre weitere Umwandlung in Knorpel so
vor sich ging, dass gleich eine einheitliche Knorpelmasse für
beide Skeletelemente erscheint. Doch ist das Vorkommen eines
solchen Vorganges nicht — bewiesen. Nur eine umfassende
Untersuchung der Tarsen menschlicher Embryonen innerhalb
der obigen Grössen, also etwa zwischen 13 und 19 mm, könnte
weitere Aufschlüsse ergeben. Allerdings ist es nicht leicht,
für diese Stadien reichliches, wirklich frisches und wirklich
gut konserviertes Material zusammenzubringen.
Es lässt sich die Annahme einer Entstehung der Varietät
aus einer einheitlichen Anlage aber auch nicht ohne weiteres
von der Hand weisen. Analoge Fälle liessen sich wohl auch
aus den Beobachtungen der Entwickelungsgeschichte finden.
Ich will nur erinnern an das bei einer Reihe von Säugetieren,
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel ete. 541
besonders bei den Carnivoren bestehende Scapholunatum. Seit
Cuviers Zeiten wird dieser Knochen aufgefasst als aus
zweien zusammengesetzt — seine Anlage aber ist ein einheit-
licher Knorpel, wie wir es schon aus dem Gegenbauer
gelernt haben.
Aber ich möchte wiederholen: bisher haben wir Beweise
für eine solche Annahme beim menschlichen Tarsus nicht.
Die zweite Frage: ob bei gesonderter Anlage der Tarsal-
knochen im regelrechten Verlauf der Entwickelung Verschmel-
zungsprozesse auftreten, die dann erst zu normaler Zahl und
Form der Tarsalelemente führen? — Diese Frage setzt zu-
gleich die Annahme voraus, dass vor der angenommenen Ver-
schmelzung mehr Knorpel ganz oder teilweise (rudimentär)
angelegt, oder einzelne Knorpelanlagen von grösseren Dimen-
sionen, mit vorübergehenden Fortsätzen etc. in der Regel
gebildet werden !t).
Diese Frage wäre ontogenetisch eigentlich kurz mit „nein“
zu beantworten, wenn nicht vielfach die Verführung bestände,
die Ontogenese des Carpus, bei dem ja regelmässig ein Karpal-
knorpel verschmilzt, auf den Tarsus zu übertragen, und —
wenn nicht gerade bei der uns vorliegenden Varietät das Navi-
culare beteiligt wäre. |
Das Os naviculare tarsı wird vielfach homologisiert mit
dem Centrale carpı, und wenn sich nun mit ihm und bei ihm
Unregelmässigkeiten im Aufbau des Tarsus ergeben, wenn be-
sonders anscheinend Verschmelzungen vorliegen — dann mit-
unter erst recht. „Manchmal findet sich“, schreibt R. Fick 2),
1!) Selbstverständlich kommen in der Entwicklung sowohl des Carpus
wie des Tarsus mitunter (vielleicht auch häufiger als bisher bekannt) über-
zählige Knorpel-Anlagen und -Teile vor, deren Kenntnis wir unter anderen
besonders Pfitzner und Thilenius in letzter Zeit verdanken. Das ist aber
nicht die Regel. Auf ihre phylogenetische Bedeutung komme ich später.
2) Anatomie und Mechanik der Gelenke, I. Teil. Jena 1904 (Handb. d.
Anatomie, herausgeg. v. Bardeleben).
542 RUPPRICHT,
„auch ein kleines oder grösseres (selenk zwischen der lateralen
Kahnbeinkante und der oberen Kante des Processus anterior
les Fersenbeines. Dann zeigt das Kahnbein so recht seinen
primitiven Charakter als ‚Os centrale tarsı‘, indem es mil
allen Tarsalknochen artikuliert. — — Statt gelenkiger Ver-
bindung kommt auch hyaline Synchondrose oder gar Koales-
cenz vor.“
Und ähnlich äussert sich Leboucgq (l. ce. 90) bei der
Deutung seines bereits oben (S. 537, Fig. 13) erwähnten Falles
von einem Fötus von 25 mm Länge. Der Embryo befände
sich zeitlich in einem Entwickelungsstadium, innerhalb dessen
er annimmt, dass Verschmelzungen auftreten (s’etablit la
soudure). Er meint eine Epoche, in der die embryonalen
Knorpel vollständig differenziert werden, eine Epoche, in der
an der Hand auch das Os centrale carpı mit dem Naviculare
verschmilzt.
Von der Berechtigung, das Os navic. tarsi überhaupt mil
dem Os centrale mehr weniger homologisieren zu können,
hier ganz abgesehen, erwecken diese Ausführungen von
Leboucegq den Eindruck, als ob unter Bezugnahme auf Vor-
gänge beim Carpus!) die Vorstellung zugrunde läge, dass zu
einer gewissen Zeit der Tarsalentwickelung, seien es Teile
der angelegten Knorpel, seien es uns bisher unbekannte
Knorpel — zwecks regelmässiger Entwickelung — Verschmel-
zungen eingehen müssten, damit die kanonische Zahl und Form
der Fusswurzelknochen zur Ausbildung komme. Eine dimen-
sional stärkere Verschmelzung müsste dann die Erscheinung
eines gemeinsamen Calcaneonaviculare erklären.
Ich kann diesem Wege nicht folgen, ich kann mir ein
solches Knorpelstück nicht aus einer Änderung des normalen
Entwickelungsmechanismus -—- also rein ontogenetisch — er-
!) Hier ist ja ein Verschmelzungsvorgang (Centrale carpi) und dadurch
eine Verminderung der Knorpelzahl von 9 auf 8 die Regel.
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 543
klären, sondern ıch halte dasselbe [für den Ausdruck einer
unmittelbaren Varietät beim lölus, genau wie — längere Zeit
später — eine solche Synostose eine Varietät beim Erwachsenen
ist. Und ıch kann in dieser Beziehung Pfitzner nur bei-
pflichten, wenn er fand, „dass man beim lKimbryo voraus-
sichtlich ebensogut eine gewisse Variationsbreite zu erwarten
hat, wie beim Erwachsenen. Vielleicht hat das eigentümliche,
geradezu eine Ausnahme bildende Verhalten des
Centrale carpi beim Menschen dazu verführt, die individuelle
Variation der einzelnen Embryonalstufen zu übersehen“.
Um aber in dieser Frage noch sicherer zu gehen, sah
ich noch eine Reihe von Schnitten durch embryonale Füsse
daraufhin durch, ob irgendwelche Anhaltspunkte für Verschmel-
zungsvorgänge im allgemeinen und am Umkreis des Os navi-
culare im besonderen vorliegen könnten.
Um welche Stadien kann es sich dabei handeln? Wenn
ich noch einmal auf Fig. 15 verweisen darf, so erkennt man
ohne weiteres, dass ein Präparat aus dieser Zeit ——- grösste
Länge von 12,5 mm — viel zu jung ist. Erst von etwa
18—-19 mm grösster Länge!) ab (Fig. 16) kann eine Unter-
suchung in Betracht kommen. Die Figur lässt, wie schon
früher erwähnt, alle Tarsalia erkennen: wo ihre Peripherie
noch undeutlich abgegrenzt ist, da 'hat sich das ursprüngliche
embryonale (Gewebe noch nicht differenziert.
Bald darauf bei 20 mm grösster Länge (Embr. hum. Eh,)
fand ich in den Schnitten der Serie überall deutlich abge-
!) Ähnlich Lebouegq für den Carpus: In seiner umfassenden Arbeit über
den Carpus (Recherches sur la morphologie du carpe, in Arch. d. biolog. Tome V,
1884), der die Erfahrungen aus den Schnittserien von 65 Händen menschlicher
Embryonen vom 2.-—-5. Monat zugrunde liegen, fand er den Beginn der Ver-
schmelzung des Centrale bei 13 mm; das Ende bei 50 mm: also einer relativ
langen Epoche. Ähnliche Angaben für den Carpus macht Thilenius, der
nach Untersuchung von Schnittserien von 126 Händen: in der ersten Hälfte
des zweiten Monats — also wohl auch bei gleicher Grösse — die 9 Carpalia
deutlich erkennbar findet.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164 Heft (54. Bd, H. 3). 36
544 RUPPRICHT,
erenzte Knorpelanlagen. Ich konnte hier alle 7 Tarsalıa fest-
stellen und fand, was die Zahl betrifft, nıcht mehr — aber
auch nicht weniger.
Doch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich an
2-3 Schnitten dieser Serie gerade ım (rebiete des Calcaneus
und Naviculare eine Art Übergehen der einen Knorpelanlage
in die andere fand. Ob es sich hier auch um eine Varietät
handelt, lässt sich nicht sagen; denn einmal handelt es sich
nur um wenige Schnitte, ferner war das Objekt nicht ganz
einwandsfrei konserviert und endlich kann auch, bei einem
eigentümlichen Schnittbild, eine besondere Schnittrichtung
manches vortäuschen.
Es wäre hierbei zu bemerken, dass, wenn man an Schnitten
eine scharfe Grenze zwischen zwei Skeletanlagen, bzw. ıhren
oberflächlichen Schichten nıcht wahrnehmen kann, solche
Grenzen doch ganz gut vorhanden sein können. Die Grenze
wird vielfach nicht sichtbar, weil an den Stellen, an welchen
sie der Schnitt trıfft, gerade die Anlage eines die Skeletteile
verbindenden Ligeamentes durchschnitten wurde, oder aber weil
der Schnitt die Trennungszone zwischen den Skeletelementen
in schiefer Richtung getroffen hat. Die Untersuchung und Be-
schreibung solcher Schiefschnitte hat ja auch schon vielfach
zu bösartigen Trueschlüssen geführt, ein Umstand, auf den
mich öfters mein Chef Prof. Hochstetter hinwies.
Kin nicht ganz gleiches, aber doch sehr ähnliches Stadıum
von ca. 23 mm grösster Länge (Embr. hum. provis.: San. Löw),
das ich zum Vergleiche in eine lückenlose Serie zerlegte,
zeigte von solchen Beziehungen nichts!
Von 27 mm grösster Länge (Embr. hum. Ha,) ab. ist
das Bild der Tarsalknorpel sehr viel deutlicher. Der Knorpel-
kern ist jetzt relativ sehr gross, er setzt sich scharf gegen
seinen Grenzsaum ab (cf. Fig. 17).
An vielen Gelenkstellen beginnt bereits die Anlage des
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 545
späleren Gelenkspaltes sich geltend zu machen. An anderen
Stellen dagegen kann man auch bei gut abgegrenzten Knorpel-
anlagen von einer Trennung in je 2 nachbarliche Grenzschichten
des Gelenkspaltes noch nichts erkennen.
Diese beiden Stadien der (Grewebsentwickelung sind aus
den beiden Figg. 17 und 18, die nach ziemlich benachbarten
Schnitten gezeichnet sind, wohl ohne weiteres aus den Hin-
weisen erkennbar.
(Ich habe absichtlich nicht eine Stelle im Zwischenraum
zwischen Calcaneus und Naviculare ausgesucht, um dies nicht
besonders ın den Vordergrund treten zu lassen. Die betreffende
Stelle weist hier ebenfalls noch keine Anlage eines (Gelenk-
spaltes auf; es liegt mir aber gerade daran, die Aufmerksamkeit
auch auf die vielen anderen Stellen des Tarsus zu lenken,
in denen zu dieser Zeit die Anlage des Gelenkspaltes eben-
falls noch nicht begonnen hat. Unbeschadet einer abschliessen-
den Zusammenfassung möchte ich aber doch schon jetzt be-
merken, dass ın diesen Stadien (27 mm grösster Länge), in
denen schon so reichlich Gelenkspalten auftreten, dort, wo
sich diese finden, an eine nunmehr einsetzende Verschmelzung
zweier Knorpel doch gar nicht mehr zu denken ist. Aber
auch da, wo noch kein Gelenkspalt aufgetreten ist (8. en
Fig. 18), da ist doch die Knorpelabgrenzung so vorherrschend,
dass auch hier ein Verschmelzen im weiteren Entwickelungs-
verlauf kaum zu erwarten ist!
Aber ich will nicht weiter vorgreifen.)
Etwas später bei Embryo E, (grösste Länge 37,6 mm)
ıst entsprechend alles wesentlich weiter fortgeschritten. An
den Gelenkstellen kann man teilweise schon sehr deutliche
Spaltbildungen wahrnehmen; wo dies nicht der Fall ist, so
heht sich doch das am späteren Gelenkspalt befindliche Ge-
webe durch seine viel lockere Konsistenz von den (renz-
schichten der beteiligten Knorpel sehr viel deutlicher ab als
36*
546 RUPPRICHT,
früher. Die Stellen der Tarsalgelenke aber, bei denen eine
Differenzierung des Gewebes der Gelenkanlage noch gar nicht
stattgefunden hat, sind weniger zahlreich. Ich füge zwei Ab-
bildungen (Figg. 19 und 20) bei, aus denen man diese Ver-
hältnisse ersehen kann. Es sind im Vergleich zu den vielen
Durchschnitten von Gelenkflächen, die ins Gesichtsfeld treten,
nur wenige Stellen, die noch undifferenziert geblieben sind.
Auch der Raum zwischen Calcaneus und Naviculare ıst an
manchem Durchschnitt noch nicht gesondert; allein eine Reihe
anderer Stellen verhalten sich ebenso. (Gerade hier ist aber
an das weiter oben {S. 544) Ausgeführte zu denken. Neben
schiefen Schnittebenen, welche die Grenzen verdecken, kommt
hier besonders die Anlage der verbindenden Ligamente in
Betracht.
So findet man mit der nächsten Serie (menschl. Embryo
68 mm Steiss-Scheitellänge), die naturgemäss schon eine viel
spätere Entwickelung darstellt, und nicht völlig ausgebildete
Gelenkspalten schon sehr in der Minderheit, fast nur aus-
nahmsweise, aufweist — ein Paar interessanter Bilder, die
auch ein gewisses Licht auf die Lageverhältnisse zu dieser
Zeit werfen, die Berührungsflächen von Naviculare, Cuboid,
Calcaneus und Talus dicht beieinander übersehen lassen. Auf
den ersten Blick (Fig. 21), bei schwacher Vergrösserung will
es scheinen, als ob hier ein auffallendes Zurückbleiben der
Gewebsdifferenzierung an den zentralen Kanten von Calcaneus,
Cuboid und Naviculare bestünde. Man könnte zu der An-
nahme kommen, dass sich dabei die Scheidung der Knorpel-
erenzen noch nicht entschieden hätte. Bei einer stärkeren Ver-
erösserung dagegen (Fig. 22) erkennt man, dass das Zwischen-
oewebe hier in einer ganz anderen Weise entwickelt ist. Es
handelt sich hier wohl um die Anlage kollagener Elemente,
besonders für die Pars calcaneo-navicularıs des Ligament.
interosseum (bifurcatum).
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 547
Eine Schnittserie eines noch späteren Stadiums — Embryo
von ca. 100 mm Steiss-Scheitellänge — zeigt den knorpeligen
Tarsus bereits ziemlich fertiggestellt. Wenn somit auch von
späteren Stadien ein weiterer Aufschluss nicht zu erwarten
war, so untersuchte ich doch, der Vollständigkeit halber, auch
solche, und zwar durch Präparation unter der Lupe. Im ganzen
wurden hierzu 45 fötale Füsse untersucht, und zwar:
21 Füsse bei 120 mm Steiss-Scheitellänge
4 R „150. mm 4:
5 n Anealen *
4 e + 1170: mm a
4 ; +4 980) mm *
2 je , 5190 mm er
45 Füsse im ganzen.
Es ergab sich für die Lage und die Beziehungen des
Kahn- zum Fersenbeine nichts Besonderes, nur bei einem Fuss
eines Fötus von 170 mm Steiss-Scheitellänge konnte ich eine
geringe Verlängerung des Proc. ant. des Calcaneus nach distal
zu feststellen.
Ehe ich nun all diese Befunde zusammenfasse, muss ich
noch vielmals um Verzeihung bitten, dass ich durch die Dar-
stellungen einiger eigener Untersuchungen mich bei der Onto-
genese so lange aufgehalten habe. Es fällt das ja eigentlich
aus dem Rahmen einer kleinen Notiz über eine Varietät elwas
heraus ')! Ich wollte aber bei einer eventuellen Deutung doch
recht sicher gehen, — und so Vieles und Bedeutendes auch
über Carpus und Tarsus geschrieben worden ist, so liegt doch
speziell über die Entwickelung des menschlichen Tarsus an
eingehenderen Untersuchungen wenig vor. Sonst hätte ich mich
lieber und unter Zeitersparnis auf Befunde und besonders auf
Abbildungen der Autoren beziehen können.
!) Auch soll diese kleine Arbeit ja durchaus keine embryologische Unter-
suchung darstellen.
348 RUPPRICHT,
Zusammengefasst kann ich nach dem von mir durch-
musterten Material nur sagen, dass sich im reinen Entwicke-
lungsverlauf irgend eine Neigung zur Verschmelzung weder
bei den Tarsalknorpeln im allgemeinen, noch besonders in
der Umgebung des Os naviculare tarsı zeigt. In ausgeprägter
Weise schreitet die Knorpeldifferenzierung und Spaltbildung
immer weiter vor: ein stetig und sicher fortschreitender Son-
derungsprozess im Werdegang des Tarsalskeletes.
Nach den bisherigen Erfahrungen halte ich daher eine
Entstehung eines Calcaneonaviculare durch Verschmelzung im
Verlaufe des rein ontogenetischen Entwickelungsganges (etwa
anklingend an Vorgänge wie z. B. beim Os centrale carpı oder
beim Tritibiale tarsı Rabl) für nicht erwiesen.
Die Ontogenese gibt uns für die Ursachen unserer Varietät
keine Auskunft, es erhebt sich somit die Frage, ob wir zur
Erklärung unseres Falles an phylogenetische kausale Momente
denken können.
Nimmt man einen Verschmelzungsprozess an, so leuchtet
ein, dass hier die accessorischen Tarsalia eine grosse Rolle
spielen können. Das palingenetische Auftauchen eines alten
Tarsalelementes zwischen den Knorpelanlagen des Kahn- und
Fersenbeines kann wohl den Anstoss zu einer Verschmelzung
geben.
Es ist ein besonderes Verdienst Pfitzners, die engen
Beziehungen zwischen Verschmelzungen unter kanonıschen
Fuss- und Handwurzelknochen — und dem Auftreten accessori-
scher Elemente wesentlich in den Vordergrund gerückt zu haben.
Hier näher auf den Modus einzugehen, besonders auch zu er-
örtern, wie weit dabei Erscheinungen des Rudimentärwerdens
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 549
und Abortivwerdens ete. mitspielen das würde jetzt zu weil
führen. Es fragt sich nur, ob ein solches Accessorium und
welches in Betracht käme?
Nach Pfitzner sind es zwei: der Calcaneus secundarius,
der schon eingehend von W. Gruber beschrieben und mit
Verschmelzungen in Beziehung gebracht wurde, und das Cu-
boides secundarium, letzteres besonders bei erösseren kom-
pakten Verschmelzungen. Bei der vorliegenden, doch recht kom-
pakten Knorpelvereinigung müsste es sich vornehmlich um
ein solches Cuboides secundarium als Ursache der Verschmel-
zung handeln.
Um dies aber näher beurteilen zu können, ist es gut, sich
über Form und Ausdehnung dieses inkonstanten Tarsalele-
mentes unterrichten zu können. Das ist aber insofern nicht so
leicht, als dieser Knochen ein äusserst seltener ist.
Ich hatte nun die Freude, beim Durchsehen unserer Mu-
seumsbestände ein paar Fussskelete aufzufinden, die diese Varie-
tät zeigen, und ich bringe beiliegend (Fig. 23) eine Photographie
derselben von der Plantarseite. Im Katalog sind sie folgender-
massen angeführt:
416. Rechtes und linkes Fussskelet ohne Zehen ‘eines und
desselben Individuums. Überzä hliger Tarsalknochen
an der Plantarseite, zwischen Naviculare. Cuboideum
und Calcaneus eingefügt und mit den zwei letztgenannten Kno-
chen artikulierend. 1887-1889.
Um nicht durch Wiederholungen zu ermüden, will ich die
erforderlichen Erklärungen gleich mit denen des folgenden
alles verbinden.
Ein Fuss, der schon bei der Präparation im Seciersaal
des letzten Winters durch Besonderheiten auffiel, wurde des-
halb sorgsam maceriert. Hierbei hatte ich das Glück, wieder
ein Cuboides secundarium zu finden.
550 RUPPRICHT,
Alle drei Knochen der Figuren 23 und 24 sind in ihrer Art
gut entwickelt; sie gleichen einander in Grösse, Form, Ge-
stalt und Lagerung ziemlich genau.
Die Form ist vergleichbar mit einer spitzen Pyramide:
Die Spitze ist distalwärts gerichtet, die Basis ist etwa halb-
kugelig abgerundet. Die plantare Fläche des Knochens passt
sich dem Niveau der Planta sehr gleichmässig an, die «dorsale
weist (in der Nähe der „Pyramidenbasis“) die Gelenkfacetten
auf. Es gibt deren zwei, je eine zur Artikulation mit den Cu-
boid und dem Calcaneus, sie sind ziemlich plan, ihre Anord-
nung am besten auf Fig. 24 ersichtlich !).
Im nicht skeletierten Zustand waren die Accessoria wohl
durch kräftige Bandmassen mit dem Tarsalskelet versichert,
teilweise sind diese bei dem linken Fuss der Fig. 23 noch
jetzt erhalten, wodurch uns auch ein guter Anhalt für den
Situs des überzähligen Knochens gegeben ist. Es erhellt der-
selbe aber auch aus der allgemeinen Anpassung an den ge-
sebenen Raum, wie man dieses aus einem Vergleich der beiden
Figuren 25 und 26 erkennen kann. Fig. 25 zeigt das Cuboides
secund. in situ, Fig. 26 dasselbe Fussskelet nach Entfernung
des überzähligen Tarsale. Diese Lagebeziehungen sind bei allen
drei Knochen dieselben.
Von den Maassen will ich hier nur die des letzten der drei
überzähligen Cuboiden anführen. Die grössten Durchmesser
betragen bei ihm:
distal-proximal 20,5 mm,
medio-lateral 11,2 mm,
dorso-plantar 14,0 mm,
also ein recht grosser überzähliger Tarsalknochen.
!) Beim rechten Fuss der Fig. 23 erschienen die Anlagerungsflächen an
ans Naviculare einigermassen eingeschränkt und diese könnten auch sonst
nach ihrem Aussehen für Koalescenzflächen im Sinne Pfitzners angesprochen
werden.
Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 43.
C alcaneus.
Fig. 2.
Ruppricht.
Kö “ L.U . Den Part a. an r H 1
önigl.Universitätsdruckerei H,Stürtz AG Würzburg, Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
ot
I no
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 9:
Sind nun diese drei Knochen als Cuboidea secundaria
zu bezeichnen ?
Wie ich schon oben erwähnte, ist das Cuboides secund.
sehr selten. Pfitzner hat es früher beschrieben und re-
eistriert, als es entdeckt wurde. Er hatte es theoretisch jahre-
lang voraus berechnet, aus Beobachtungen einer Knochenparlie,
die bald als Fortsatz des Naviculare (auch Morestin), bald als
Fortsatz des Cuboids (auch Sutton, Thane, Macalister)
auftritt. Entdeckt wurde es erst 1897/98 durch Schwalbe,
als selbständiger Knochen. Da Pfitzner wenige Jahre später
starb und nach 1900 meines Wissens nichts mehr Ausführ-
liches über die Tarsalaccessoria veröffentlichte, ıst dies die
einzige mir bekannte Notiz über ein selbständiges Cuboides
secundarıum. Ausserdem liegen natürlich die bekannten Sche-
mata Pfitzners für Hand und Fuss (deren Originalpublika-
tionen ich leider nicht erreichen konnte) vor.
Aus diesen Abbildungen, dıe das Cuboid. sec. sehr deutlich
an der Planta ın einer unseren dreı Fällen recht ähnlichen Art
darstellt — ferner aus der Schwalbeschen Erwähnung, dass
sein Cub. acc. mit Calcaneus, Naviculare, Cuboid und Cuput
talı artikulierte, sich also auch in denselben Raume einfügte,
kann ich wohl ziemlich sicher annehmen, dass es sıch bei
meinen Fällen wohl um dasselbe handelt !).
Wenn ich nun auf einige, eingangs gemachte Bemerkungen
über das eigentümliche Verhalten der Tarsalia bei abnormen
Berührungen und Koalescenzen, auf das Entgegenwachsen von
Tuberositas oss. navic. mınor und Sustentaculum tal. antı-
cum (Gruber, Zuckerkandl) in den Raum zwischen
1) Kurz vor Ausbruch des Krieges konnte ich — dank dem liebenswürdigen
Entgegenkommen des Herrn Geheimrat Schwalbe — auch die Strassburger
trefflichen Präparate besichtigen; leider durch den Drang der Ereignisse nur
zu kurze Zeit! Meine betreffenden Aufzeichnungen sind mir jetzt nicht zur
Hand: ich muss mir vorbehalten erforderlichen Falles später hierauf zurück-
zukommen.
552 RUPPRICHT,
Taluskopf und mediale Cuboidecke erinnern darf, so kann die
weitere Kenntnis vom Auftreten eines Accessorium an dieser
Stelle-den Vorgang einer Verschmelzung dem Verständnis wohl
näher bringen. Auf Fie. 26 sieht man die Planta ohne das
Accessorium; der freie Raum ist dort recht beträchtlich: eher
also ein Weiterabstehen der betreffenden Knochenecken. Das
Cuboides secundarium ist dafür aber so ausreichend gross,
dass es die Lücke überreichlich ausfüllt. Kommt nun in früher
embryonaler Zeit zu den Knorpelanlagen der kanonischen Tar-
salia dort der Knorpelkern eines solchen überzähligen Elementes
hinzu, so kann man sich wohl vorstellen, dass dies gegebenen-
falls den Anstoss zu einer kompakten Verschmelzung der An-
lage des Naviculare und der des Calcaneus geben kann.
Soweit kann man dem Gedankengang einer phylogeneti-
schen Deutung wohl folgen, aber so ansprechend dieselbe —
besonders im Verfolg der Pfitznerschen Theorie — auch
ist, vollkommen erklärt sie die Entstehung der uns vorliegenden
Varietät doch nicht. Ja man kann auch mancherlei dagegen
einwenden.
Der stärkste Einwand ist der: wenn in der noch nicht
definitiv differenzierten (Grewebsmasse zwischen den Anlagen
für Calcaneus und Naviculare eine solche für ein Os cuboides
secundarium auftritt, so ıst das doch eher ein Zeichen einer er-
höhten Sonderung (Differenzierung), als das einer Neigung zur
Verschmelzung. Hier muss man sich nun allerdings erinnern,
dass, wie Pfitzner und Thilenius zeigten, die Accessoria
bei der Weiterentwickelung grosse Neigung zur Verkümmerung
und dann weiterhin zur Verschmelzung zeigen.
Immerhin lehren alle Einwände, wie gut es bei jeder Deu-
tung ist, ehe man sich ins Ungewisse verliert, sich immer
wieder an den objektiven Befund zu erinnern. Was uns vor-
liegt, ist ein wohlentwickelter jugendlicher Knorpel, dessen Navı-
cular- und Calcaneusanteil gleichmässig ineinander übergehen,
>ı]
os
Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. Id:
an dem auch kein Formbestandteil irgendwelche Teile oder Um-
rısse eines überzähligen Tarsale erkennen lässt. Das ist die
vorliegende Wirklichkeit.
Es kann daher — kritisch streng genommen — die Er-
fahrung vom Vorkommen der Ossa cuboid. secund. lediglich
ein weiterer Beweis dafür sein, dass am Orte „der noch
nicht definitiv differenzierten Gewebsmasse zwischen Calca-
neus- und Navicularanlage‘“ auch etwas anderes als das nor-
male Tarsalskelet, dessen Ligamente etc. entstehen kann.
Es können also erfahrungsgemäss hier vorkommen:
a) vergrösserte Dimensionen des Calcaneus (z. B. stark
entwickeltes Sustentaculum tali anficum: Gruber,
Zuckerkandl),
b) vergrösserte Dimensionen des Cuboids (z. B. ein me-
dialer Fortsatz: Pritswer!Sutton, Thaneree),
c) ähnliche Erscheinungen am Naviculare (Tuberositas
0ss. navic. minor: Gruber, Pfitzner, Morestin),
wobei a, b und e zu Berührungen, Koalescenzflächen, Gelenke,
Syndesmosen der betreffenden Tarsalia führen.
d} Os calcanei secundarium (Gruber, Pfitzner),
e) Os cuboides secundarium (Pfitzner, Schwalbe,
diese Arbeit),
f) gemeinsamer Calcaneo-Navicularknorpel (z. B. Le-
boucgq, diese Arbeit).
Mit Sicherheit sind nur d und e phylogenetisch zu erklären,
beı den anderen Formen lässt sich nur vermuten, dass ein
nicht genügend intensiver, phylogenetischer hückschlag zu ihrer
Entstehung geführt hat.
Eine weitere Untersuchung dieses Zwischengewebes, wie
überhaupt der Genese des menschlichen Tarsus, wäre sehr
erwünscht.
og:
10.
Literatur.
Cruveilhier, ‚J., Anatomie pathologique du corps humain. Vices de
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Über Variationen im Aufbau des menschlichen Hand- und Fuss-
skelettes. In Verhandl. d. anat. Gesellsch. 5. Vers., München 189].
Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3). Tafel 44.
Accessorium
Accessorium
Ilier auch z. T. Gelenk-
lacette zu erkennen
distal
y
lateral —
G. F. cub.———
ie ehircale:
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3). Tafel 45
Cuboideum
secundarium
Fig
Q
20:
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
18.
19.
Literatur. 555
Thilenius, G., Die „überzähligen‘ Carpuselemente menschlicher Em-
bryonen. In Anat. Anz. Bd. 9. 1894.
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Elemente am menschlichen Carpus (und Tarsus). in Schwalbes Morphol.
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— Über einen Fall von Synostose zwischen Talus und Calcaneus. In
Allgemeine Wiener med. Zeitschr. 1877.
Neue Mitteilungen über Koalition von Fusswurzelknochen. In Wiener
med. Jahrbücher 1880.
Über eine typische Varietät des Chopartschen Gelenkes. In Mediz.
Jahrb. N. F. 1888, Wien.
Abgeschlossen: Juli 1914.
Die Aufstellung des Literaturverzeichnisses konnte erst nach Kriegsaus-
bruch, ebenso wie die endgültige Redaktion und Fertigstellung der Arbeit,
während des Kriegsdienstes des Verfassers bei gelegentlich sich ergebender
freier Zeit vollendet werden. Er bittet daher mancherlei Mängel und Unvoll-
kommenheiten zu entschuldigen.
Im Februar 1916.
Tafelerklärune.
Fig. 1. Rechter, skeletierter Fuss in Dorsalansicht mit Koalescenz von
Naviculare und Calcaneus. Sehr deutlich ist die breite Ausladung des Navi-
culare an seiner lateralen Seite zum Kontakt mit dem Calcaneus zu erkennen.
(Photographie; etwa °/,; natürliche Grösse.)
Fig. 2. Derselbe Fuss in plantarer Ansicht (Reproduktion wie oben).
Katalog-Nr. des Wiener anatomischen Museums: 271. Der laterale Teil des
Naviculare greift weit zum Calcaneus herüber und erfüllt den Raum zwischen
Talus und Cuboid in ansehnlicher Breite: sehr starke Tuberositas navicularis
minor Gruber (a).
Fieg. 3 und 4. Linker skeletierter Fuss. Präparat des Wiener Anato-
mischen Museums (Kat.-Nr. 272); als linker zum rechten der Figg. 1 und 2
gehörig. Fig. 3 dorsolaterale Ansicht, Fig. 4. Plantaransicht ?/,; natürliche Grösse.
Im Katalog als normal bezeichnet, jedoch deutliche Berührung bei a (Fig. 3).
Fig. 5. Skeletierter rechter Fuss ohne Phalangen. Präparat des Wiener
Anatomischen Museums (Kat.-Nr. 282) bezeichnet: Kongenitale Syndesmose
durch straffe Bindegewebsmassen. Kräftig entwickelte Tuberositas navicularis
minor (Gruber), die sich zwischen Taluskopf und Cuboid schiebt.
Fig. 6. Skeletierter linker Fuss. Nr. 283 des Wiener Anatomischen
Museums. Deutliche Koalescenz, die die Chorpatsche Fläche völlig unter-
brieht. (2/.)
Fig. 7. Skeletierter linker Fuss ohne Phalangen (Wiener Anatomisches
Museum Nr. 284), besonders von Zuckerkandl beschrieben. Bei a das Susten-
taculum tali anticum Gruber-Zuckerkandl.
Fig. 8. Dasselbe Präparat in dorsolateraler Ansicht (°/z).
Fig. 9. Plantaransicht des skeletierten Talus und eines zweiten Knochens,
der eine Vereinigung von Naviculare und Calcaneus ist. Linker Fuss. Präparat
des Wiener Anatomischen Museums Nr. 292. Von Holl näher beschrieben. (!/,).
Fig. 10. Anschnitt eines rechten kindlichen Fusses von etwa 1!/, Jahren.
Schnittrichtung ungefähr parallel zum Dorsum pedis. Bei a die Stelle an der
sonst Naviculare, Cuboid und Calcaneus getrennt erscheinen; hier ein einheit-
licher Knorpel. Navieulare und Calcaneus sind nur durch die Formen der
Randteile bestimmbar (ca. 1,2).
Tafelerklärung. 557
Fig. 11. Plantaransicht des proximalen Tarsalteiles desselben Fusses
Bänder und Gelenke dargestellt, 1 — lateral, m — medial, d — distal, p =
proximal. Bei x—x Teil des gemeinsamen Calcaneus- und Navicularknorpels.
Fig. 12. Ansicht des distalen (Gelenkflächen-) Teiles desselben gemein-
samen Knorpels, nach starkem Auseinanderdrängen der proximalen und distalen
Knorpelreihen. Die distalen Tarsalia in Umrissen angedeutet. I, II, III die
Gelenkfacetten für die entsprechenden Cuneiformia; cu für das Cuboid; |, m:
lateral, medial; dors.: nach dem Dorsum pedis zu gelegene Fläche.
Fig. 13. Pause einer Abbildung von Leboucq (Bulletin de l’academie
de medecine de Bruxelles 1890), die einen Serienschnitt eines seiner Präparate
von einem menschlichen Embryo von 25 mm grösster Länge darstellt. As —
Talus, Ca = Calcaneus, Cu = Cuboid, F = Fibula, T = Tibia, S = Naviculare,
l, 2, 3 = Cuneiforme primum, secund., tert., I, II, III, IV, V = erster bis
fünfter Metatarsus um !/, verkleinert.
Fig. 14. Abbildung eines Serienschnittes durch den Fuss eines mensch-
lichen Embryo von 27 mm Länge (Steiss-Scheitel). Präparat der Sammlung
Hochstetter: Ha®. Vergr. 20. Hier sind im Gegensatz zu dem Leboucgschen
Falle Calcaneus- und Naviculareanlage, wie üblich, völlig getrennt. Der aus-
gewählte Schnitt entspricht dem von Leboucq am besten; Metatarsus IT—V
wurden nicht gezeichnet. Auch an den vorhergehenden und folgenden Schnitten
sind die beiden Knorpel getrennt angelegt wahrzunehmen. Die Beschriftung
entspricht der von Fig. 13. Um !/, verkleinert.
Fig. 15. Schnitt einer Serie durch die untere Extremität eines mensch-
lichen Embryos von 12,5 mm grösster Länge. Präparat der Sammlung Hoch-
stetter (Ma. 1. IV. Reihe. Nr. 4). Vergrösserung Zeiss Obj. A. Oc. 2. Tisch-
höhe.
Fig. 16. Schnitt einer Serie durch die untere Extremität eines mensch-
lichen Embryos von 19.4 mm grösster Länge. Aus der Sammlung Hoch-
stetter (Ma. 2, aus der Mitte der Serie). Orientierung über Metatarsal-Pha-
langenanlage etc., besonders auf der Seite des Randgefässes ist wohl unschwer.
Vergrösserung wie Fig. 15 um !/, verkleinert:
Fig. 17. Aus einem Serienschnitt der unteren Extremität. Menschlicher
Embryo von 27 mm grösster Länge (Sammlung Hochstetter: Ha? Nr. 6,
II. Reihe), Obj. ©.—0Oc2, um !/, verkleinert, frei gezeichnet, halb schematisch.
Cun I = erstes Keilbein; Nav — Kahnbein.
Fig. 18. Aus derselben Serie Obj. C—Oc2, um !/, verkleinert, frei ge-
zeichnet, halb schematisch. G. St— Anlage der Gelenkspalte, spätere Gelenk-
stelle, Rd— Sch Randschicht des Knorpels, Met I — Metatarsus I, Cun I =
erstes Keilbein.
Fig. 19. Aus einem Serienschnitt durch den Fuss eines menschlichen
Embryo von 37,6 mm grösster Länge (Sammlung Hochstetter, embr. hum.
E 1), Cale = Calcaneus, Tal — Talus, Cub — Cuboid, Nav — Naviculare, Cun 3
— Cuneiforme III. (Objektträger 3, II. Reihe, Nr. 6.) Vergrösserung 50 : 1.
Camera obscura — Pause, um !/, verkleinert.
Tafelerklärung.
Qu
a
[6°o)
Fig. 20. Aus derselben Serie, bei gleicher Vergrösserung und Wiedergabe.
Mall — Malleolus med., Astr = Talus, Sca = Naviculare, Cu, Cu, = Cunei-
forme I bez. III, M,,;,4,; = Metatarsus 1, 3, 4 und 5. Sonst Beschriftung
wie Fig. 19.
Fig. 21. Längsschnitt durch den Fuss eines menschlichen Embryo von
68 mm Steiss—Scheitellänge (Sammlung Hochstetter, Obj. 18, Schnitt
Nr. 9). Färbung nach Mallory. Vergrösserung Oc2—-Obj. A. Zeiss-Kammer.
Fig. 22. Derselbe Schnitt; stärkere Vergrösserung, Ocular 2—Objektiv €.
Fig. 23. Rechter und linker skelettierter Fuss (ohne Zehen) von dem-
selben Individuum. Präparate des Wiener Anatomischen Museums (Kat.
Nr. 416). Photographie; etwa °/; natürliche Grösse.
Fig. 24. Os cuboides secundarium. Präparat des Wiener Anatomischen
Museums (neuer Zuwachs von 1914), linksseitig. Zeichnung nach der Natur,
Vergrösserung 2: 1!). G. F. cub: Gelenkfacette für das Cuboid; G. F. cale:
Gelenkfacette für den Calcaneus.
Fig. 25. Linker sleketierter Fuss von der Plantarseite mit überzähligem
Tarsalknochen — Os cuboides secundarium (dasselbe der Fig. 24). Präparat
des Wiener Anatomischen Museums (neuer Zuwachs 1914). Photographie etwa
3/, natürl. Grösse.
Fig. 26. Derselbe Fuss ohne den überzähligen Tarsalknochen.
!) Durch ein Versehen des Lithographen ist Zeichnungsvergrösserung
von 2:1 noch einmal auf dem Stein auf 2:1 vergrößert worden; das
Bild stellt also die 4fache Vergrösserung des kleinen überzähligen Fuss-
wurzelknochens dar.
AUS DEM ANATOMISCHEN INSTITUT IN MÜNCHEN.
VORSTAND: PROF. RÜCKERT.
DIE NASENMUSCHELN DES MENSCHEN
DARGESTELLT AUF GRUND DER
ENTWICKELUNG UND DES VERGLEICHS
VON
L. GRÜNWALD.
Mit 52 Abbildungen im Text und auf Tafel 46/49.
Anatomische Hefte, I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H, 3. 37
Y HAuM Ar Tr nt RE wi
rau BLU: ija#
-
eN
Inhaltsverzeiehnis.
Einleitung a a ll
I. Die Muscheln der Wirbeltiere
a) Definition und Benennung.
b) Muschelbesitz
1. Atrio-Turbinale
. Limino-Turbinale
. Septo-Turbinalia .
. Naso-Turbinale
. Maxillo-Turbinale
6. Ethmo-Turbinalia 5 2
II. Ursprüngliche Gestaltung dee eh Netenienn
III, Die Ethmo-Turbinalia des Menschen .
a) Die bisher geltende Lehre
b) Die Typen der Ethmo-Turbinalia .
e) Untergeordnete Bildungen . ;
E Zwischenfurchen und Teilw ülste i
Sekundärfurehen und Sekundärwülste .
oe vu N
ww
|
Einleitung.
Die Kinteilungen des inneren Nasenaulbaues seilens ver-
schiedener Autoren sind bisher grösstenteils, ja fast ausschliess-
lich, auf jeweils anderen Grundlagen erfolgt; fast jeder Forscher
hal sie vorzugsweise auf jener Gruppe von Erscheinungen aul-
gebaut, aus der er selbständige Neufunde beigebracht hatte.
Nach und nach wurden in dieser Weise Teile der Verte-
bratenreihe verwendet (Gegenbaur [1871], Seydel ;1891|,
Paullı|1900]); dann haben einzelne Abschnitte der Ontogenese
des Menschen (G. Killian [18935 —96|) und der niederen
Säuger (Peter |1902]), ja sogar die rein deskriptive mensch-
liche Anatomie (Zuckerkandl [1893
meiner Einteilung dienen müssen; und auch die Verknüpfung
) als Unterlage allge-
der jeweiligen eigenen Befunde mit denen der anderen Forscher
litt darunter, dass überall nur mehr oder weniger beschränkte
Ausschnitte der Vergleichsreihen zu Grebote standen oder heran-
gezogen wurden.
Auf dieser, häufig wankenden, immer unzulänglichen, meist
ganz einseitigen Grundlage hat man dann Definitionen errichtet,
die unmöglich alle vorkommenden Verhältnisse decken konnten.
Zu diesem Mangel an der notwendigen Kenntnis allgemein
vorhandener Verhältnisse kommt noch ein weiterer Umstand,
der bisher gar nicht gewürdigt worden ıst: das Vorhandensein
individueller Variationen, wie sie sich nur bei der
Untersuchung mindestens mehrerer, womöglich aber sehr vieler
Individuen derselben Altersstufe einer Species erkennen lassen.
561 L.. GRUNWALD,
Gerade diese Variationen aber kommen (soweit bekannt!) bei
niederen Säugern und Primaten bereits nicht selten, beim Men-
schen sogar überaus häufig vor und haben ganz anderen als
Zufallswert.
Ferner hat es an der genügenden Rücksicht darauf gefehlt,
dass die einander ähnelnden, aber auch wieder ganz prinzipiell
verschiedenen Bildungen der ganzen Vertebratenreihe im
Laufe der Ontogenese Veränderungen, oft recht
erheblicher Art, unterworfen sind. Das gilt schon für niedere
wie für höhere Säuger häufig; ob durchgehend, wissen wir
noch nicht. Beim Menschen aber ist es die Regel.
Ks sınd also überaus mannigfache Vorkommnisse, mit denen
wir zu tun haben. Nur Definitionen, die alldiesen
Vorkommnissen gerecht werden, können all-
gemeine Geltung gewinnen.
Verfügen wir bereits über diese als Vorbedingung jeder
Einteilung aufzustellende Kenntnis sämtlicher Vorkommnisse ?
Leider noch nicht, soweit es die Säuger, auch nur die
repräsenlativen Species der verschiedenen Familien betrifft.
Hier sind nur Fragmente vorhanden und die riesige Grösse der
Aufgabe, wenn man sie voll erfasst, lässt die Möglichkeit ihrer
Lösung erst in dunklen Fernen erscheinen. Die Variationsbreite
menschlicher Verhältnisse aber und die Erscheinungen ihrer
Ontogenese können jetzt den Anspruch auf annähernd lücken-
lose Darstellung erheben; höchstens, dass vereinzelte, ganz
seltene Varianten im Laufe der Zeit sich hinzugesellen mögen ;
als quantıtative, kaum mehr als qualitative Bereicherung.
Diese Darstellung zu geben, und zwar auf Grund eigener
Untersuchungen, wird die Hauptaufgabe dieser Mitteilungen sein.
Sie war bisher nicht erfüllt. Und doch ist sie Voraussetzung
für das bisher geübte Vorgehen, welches jeweils ein Verständ-
nis für die Gesamtheit der Ereignisse zu geben suchte, ohne
Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 565
Rücksicht auf die weitklaffenden Lücken in der Kenntnis jener
und auf ihre Vieldeutigkeit.
Diese letztere immer wiederkehrende Tatsache bezeugt aber
das Bedürfnis nach Aufklärung der Zusammenhänge; nach
einem Verständnis. Es wird also auch unsere Aufgabe sein,
ein solches Verständnis anzustreben, nachdem wir die Lösung
der Gleichung wenigstens durch Ausschaltung einer Unbe-
kannten nähergerückt sehen.
Vorausgesetzt selbst, dass uns auch alle Tatsachen der
vergleichenden Anatomie und vergleichenden Entwickelungs-
geschichte bereits in Ähnlicher Weise zur Verfügung ständen,
wie (jetzt) diejenigen der menschlichen Anatoniie und Onto-
genese, muss ihre Verwertung für das Verständnis der mensch-
lichen Tatsachen in anderer Weise erfolgen, als dies in unserer
Frage bisher geschehen ist: Die Auskünfte der vergleichenden
Tierkunde brauchen und dürfen nicht einseitig vom phylo-
genetischen Gesichtspunkte aus betrachtet werden. Es muss
auch für unser enges Gebiet zur Geltung kommen, was sonst,
auf anderen Gebieten, längst unbestritten ist: Die Ontogenese
ist weder der treue und lückenlose, noch überhaupt der not-
wendige Abklatsch einer ins einzelne gehenden Phylogenese.
Wollte man ein derartiges Verhältnis nicht nur aufstellen, son-
dern auch nachweisen, so müsste man ın erster Linie einen
phylogenetischen Stammbaum besitzen; und der fehlt uns.
Solange nicht für unsere Species die Glieder ihrer Ab-
stammung mit Sicherheit nachgewiesen sind, können wir uns
nicht wahllos, oder vielmehr zweifellos, auf Vorkommnisse an
anderen „niederen“ Species beziehen, von denen die eine oder
andere möglicherweise überhaupt nicht in der Ahnenreihe ver-
(retfen, sondern Glied einer Nebenreihe ist.
Noch unsicherer werden diese Beziehungen, wenn sie Or-
gane betreffen, die ihrer Konstruktion nach als relativ jung
betrachtet werden müssen : die innere Nase erscheint im grossen
966 l.. GRÜNWALD,
und ganzen gleichartig kaum von den Vögeln ab, eigentlich
erst in der Säugerreihe.
Übereinstimmungen der Entwickelung mit den vergleichend-
anatomischen Befunden können wir schon aus diesen Gründen,
wenn überhaupt, dann nur in den grossen Zügen, aber nicht
in Einzeiheiten erwarten.
Treffen wir nun wirklich solche Übereinstimmungen in
Kinzelheiten an, so erhebt sich die Frage, ob sie im Sinne des
biogenetischen Grundgesetzes für die Ontogenese der höheren
Art massgebend sind. Diese Bestimmung prospektiv oder, mil
anderen Worten, spekulativ zu treffen, ist nicht leicht und
nicht immer einwandfrei; es heisst ja voraussagen, welche
l"ormen der Ontogenese niederer Arten elektiv zur Wieder-
kehr in der Ontogenese der höheren Art bestimmt sind. Am
ehesten liesse sich die Wiederholung früher, primitiver Formen
erwarlen, als Rückgriff auf den phylogenetischen Ausgangs-
punkt. Aber gerade hier fehlt uns die Anknüpfung: Die den
Sauropsiden eigentümlichen Bildungen des Naseninneren suchen
wir. vergeblich ın unserer Ontogenese. Diese lässt über die
menschliche Nase nichts weiter aussagen, als dass sie eine
Säugernase ist.
Das ıst also keine prospektive, sondern allein eine retro-
speklive Bestimmung. Wenn wir aber in der Retrospektive
weiter gehen und den einzelnen ontogenetischen Erscheinungen
entsprechende phyletische Formen suchen wollten, stossen wir
auf ein weiteres Hindernis:
in der Entwickelung kann zu den (phylogenelischen) Er-
innerungsbildern noch eine Reihe weiterer, nur für die be-
(reffende Gattung oder Species charakteristischer Formen hin-
zutreten; selbstverständlich am Schluss, wo die bis dahin vor-
liegende Entwickelungshöhe überschritten werden muss, oder
an diejenigen Stellen, wo die seitliche Abzweigung erfolgt;
ausserdem aber aus anderen Gründen :
Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 567
Erstens werden schon die Erinnerungsbilder von vornherein
durch die prospektive Tendenz zur späteren Abweichung be-
einflusst: später vollwertige Organe werden auf der onto-
venelischen Gleichstufe bereits reicher differenziert angelegt
sein als solche, die später zum Verschwinden oder Rudimentär-
bleiben bestimmt sind; später reich gegliederte Teile werden
wir schon auf der Gleichstufe ım Besitze von mehr Material
zu sehen erwarten dürfen, als später einfach bleibende; u. U.
zeieen sie auch schon Ansätze zur definitiven Gliederung,
die den später einfachen sowohl dauernd als ontogenetisch
[ehlen können.
Auf diese Weise gesellen sich zu den palingenelischen Er-
innerungsbildern känogenetische Vorgänge, nicht nur in der
"orm der Aufpfropfung auf bisher bekanntes, sondern als derar|
qualitative und weit zurück verfolebare Veränderungen, «dass
sie den Ausdruck nahelegen: jede Species unterliege,
neben den allgemeinen, füralle Arten eültieen,
noch besonderen, nur für sie gültigen Gesetzen.
Finden wir nun, trotz all diesen notwendigen und häufigen
Abweichungen vom biogenetischen Grundgesetz, ähnliche oder
ganz übereinstimmende Formen der Onto- und Phylogenese,
so darf die weitere Möglichkeit von Konvergenzwir-
kungen nicht ausser acht gelassen werden: Kirgebnissen
gleicher Art und Gestalt auf Grund gleicher von aussen, d.h.
von der Nachbarschaft herwirkender mechanischer (u. a. sta-
lischer) Momente.
Selbst dort also, wo die vergleichende Anatomie Ähnliche
oder annähernd oder ganz gleiche Erscheinunsen mit «denen
der menschlichen Ontogenese darbietet, sind wir durchaus nich!
gezwungen, also auch nicht berechtigt, jene als die notwendigen
Vorbilder dieser anzusehen. Noch weniger liegt diese Berech-
ligung dort vor, wo die menschlichen Verhältnisse nur zwangs-
weise, durch Recken und Drücken, zur Deckung mit irgend-
568 L. GRÜNWALD,
welchen, noch dazu nur an einzelnen Species der Tierwelt
zu beobachtenden, Vorkommnissen gebracht werden können.
Besonders wird ein solches Postulat dort abzuweisen sein, wo
es sich nur um vorübergehende und ganz vereinzelte Erschei-
nungen in der Ontogenese des Menschen handelt. Speziell für
(diese, aber auch für viele dauernde Tatsachen der menschlichen
Anatomie wird die Tieranatomie uns nichts anderes als Ver-
sleichswerte liefern, die wir zur Erklärung jener in ver-
schiedener Weise zu würdigen haben werden, ohne uns in
mechanisch-phylogenetischer Weise zu binden.
Diese Auffassung rechtfertigt es, wenn wir heule, ausser
der völligen Darstellung der menschlichen Verhältnisse, zwar
auch vielfach die tierischen, aber nur zur Herstellung des
Verständnisses heranziehen, da in diesen uns bereits zahlreiche
Vergleichswerte zu (Gebote stehen, auf deren Grundlage ratio-
nelle Erkiärungen für das Zustandekommen der menschlichen
Formen gegeben werden dürfen.
So kann unsere Darstellung ungebunden zunächst den wirk-
lichen und rein menschlichen Verhältnissen und den für diese
Species allein gültigen (Gresetzen gerecht werden, ohne sich
nach irgend einer Seite von vornherein zu binden, wie dies
bei einer rein phylogenetischen Auffassung der Fall ıst. Es
wird interessant genug sein, die aus der lückenlosen Betrachtung
sich von selbst ergebenden gesetzmässigen Anordnungen zu
(ypischen Gruppen von Varianten zu erkennen und nur dort,
wo es wirklich zwingend nötig ist, die Entstehung mensch-
lıcher aus tierischen Verhältnissen festzustellen.
I. Die Muscheln der Wirbeltiere.
a) Definition und Benennung.
Die Schilderung und Benennung der auffälligen Vorsprünge
des Naseninneren wurden zunächst den rein deskriptiv-anatomi-
Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 360)
schen Befunden beim Menschen entnommen. Der in aul-
fälligster Weise sich darbietenden Beschäffenheit eines Teiles
der überziehenden Schleimhaut entsprach der von A. Haller
(1749) gewählte Ausdruck „Corpus spongiosum”. Es war
wohl weniger die kritische Erwägung, dass diese Bezeichnung
eben nur einen Teil der Erscheinungen decke, die die allgemeine
Annahme dieser Benennung hinderte, als die viel oberfläch-
lichere Betrachtungsweise der Anatomen jener Zeit, denen der
erosse physiologische Anatom weit vorauseilte.
Vergleichende Betrachtungen der rein äusserlichen Form
halten nämlich schon vorher den Franzosen das Bild eines
Hörnchens, „Cornet“, ergeben; wir begegnen dieser Bezeich-
nung bereits in der im Jahre 1733 erschienenen Übersetzung der
zweiten Auflage des Werkes von Winslow durch Petit,
[3
während die Deutschen das Bild einer „Muschel“ zutreffender
gefunden zu haben scheinen. Beide Sprachen haben bis heute
diese Vergleichsbenennungen beibehalten.
Im Jahre 1866 führte Owen auf Grund der Betrachtung
lierischer Verhältnisse ein neues Vergleichswort ein: in An-
betracht der Ähnlichkeit der dort vorkommenden Formen mit
einem Kegel nannte er die Vorsprünge „turbinal“. Das
grammatikalisch gut wandelbare, speziell als Affıx sich leicht
anschmiegende Wort hat wegen dieser Eigenschaften besonders
dort rasch Bürgerrecht erworben, wo es auf die Bezeichnung
homologer Erscheinungen ankommt, also in der vergleichenden
Anatomie.
Die unterschiedslose Anwendung jeder dieser Bezeich-
nungen auf alle Vorsprünge des Naseninneren entsprach, be-
wusst oder unbewusst, ihrer gleichen Bewertung.
Erst Gegenbaur stiess sich daran, die augenscheinliche
Ungleichwertigkeit der verschiedenen Gebilde durch ge-
meinsame Benennung zu verschleiern. Nur den vom Kiefer-
knochen ausgehenden und allenfalls noch den im Nasenvor-
70 li. GRÜNWALD,
hofe liegenden Waulst wollte er „Muschel“ genannt wissen.
Damit stellte er erstmals die Muschelfrage als solche auf,
die wir jetzt dahin präzisieren können:
l. Der Begriff einer „Muschel“ ist zu umgrenzen.
2. Die Gleichwertigkeit oder Ungleichwertigkeit der ver-
schiedenen Wülste muss bejaht oder verneint werden.
3. Im Falle der Anerkennung der Ungleichwertigkeit
müssen die fraglichen Vorsprünge auch ungleich benann!
und bei Aufstellung eines Systems ungleich bewertet werden.
Wichtiger als die Ungleichheiten der äusseren Form er-
schien die Ungleichheit der Funktion. Mit Recht hat Born
(die Forderung aufgestellt, diese wichtige Kigenschaft der Kin-
leiılung zugrunde zu legen.
Gegenbaur halle das schon getan, als er die ‚„Riech-
hügel der Vögel von den echten (die Trigeminusverbreitung
‘
Iragenden) „Muscheln“ unterschied. Aber er fügte dieser
physiologischen Scheidung sofort die (zugleich erste) morpho-
‘
loeısche Definition der „Muscheln“ hinzu als „von der Wand
her entispringender selbständiger, von einer einfachen Fort-
setzung des Skeletes der Wand gestützter Einragungen“.
Wie man auch über diese Art der Definition denken mag,
so wäre doch zu fordern gewesen, dass nur die eine Art der
Unterscheidung zur Einteilung und die andere höchstens zur
Untergruppierung verwendet wurde. Statt dessen stossen wir
in der nun folgenden und für lange Zeit, ja teilweise bis heute
massgebend gewordenen Darstellung Schwalbes (1882) auf
die Homologisierung von „Riechwülsten“ der Vertebraten mil
„Muscheln“ des Menschen; mit dieser Mischung von morpho-
logischen und funktionellen Grundlagen der Einteilung musste
die grösste Verwirrung einreissen.
Zunächst geschah es allerdings, dass die Erörterungen so-
wohl als die Definitionsversuche sich auf die physiologisch
sowohl als morphologisch interessanteren „Riechwülste“ kon-
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. Hym!
zentrierten, unter Vernachlässigung der ‚indifferenten“ Wulst-
bildungen. Seydels (1891) sowohl als Paullis (1900) ver-
dienstvolle Arbeiten haben sich vornehmlich mit den Sıeb-
beinwülsten beschäftigt und brauchten dem Muschelproblem
als solehem noch nicht nahezutreten, haben das wenigstens
nicht ausdrücklich getan. Immerhin vermischten auch sie wieder
das funktionelle mit dem morphologischen Element, indem sie
‘
[raglos das Wort „Riechwülste“ in morphologischem Sinne,
wenn auch in anderer Weise als Schwalbe benutzten.
Der Versuch Borns, die Funktion als Hauptkriterium
und durchgehend zu verwerten und erst ınnerhalb der zwei so
geschaffenen Hauptgruppen das morphologische oder topo-
eraphische Moment vortreten zu lassen, blieb lange unbeachtet.
Krst Peter (1902) hat diesen Versuch wieder aufgenommen
und den Muscheln mit indifferentem Epithel diejenigen mit „ur-
sprünglichem Sinnesepithel“ gegenübergestellt. Auch dieser Vor-
schlag ist nicht einwandfrei: Zunächst waren hier die von nur
sensiblen Nervenfasern versorgten Partien funktionell mit den
rein olfaktorischen Wülsten vereinigt, obgleich man doch nur
(den letzteren spezifisches Sinnesepithel zubilligen kann; ferner
beschränkt sich die Verteilung des letzteren durchaus nicht auf
die Wülste, sondern erstreckt sich auch auf freie Flächen der
Scheidewand; endlich aber ist die Verteilung olfaktorischer
ndorgane makroskopisch nicht erkennbar, denn die gelbe
„Riech“schleimhaut, d. h. die Verbreitung von Pigment ent-
spricht nicht dem Vorkommen von Riechzellen, sondern ist im
(regenteil nur an indifferente Epithelien gebunden (v. Brunn
11875, 1892
unktionelle Einteilung vorzunehmen. Zur Einteilung
). Diese Verhältnisse verbieten also überhaupt, eine
bleibt nur die Morphologie und Topographie
verwertbar.
kin grosser Vorteil an Peters Einteilung ist allerdings
der, dass wenigstens sprachlich nicht mehr die Trennung
572 L: &RÜNWALD,
zwischen den ominösen und problematischen ‚„Riechwülsten‘
und „Muscheln“ festgehalten wurde. Es musste demnach auch
eine neue Definition für dieses nicht mehr partiell gültige,
sondern gemeinsame Gestaltelement gefunden werden.
Dies unternahm wiederum Peter (1912), indem er als
Muscheln „alle Einragungen der lateralen Nasenwand“ be-
zeichnete.
Diese Definition kann allerdings nur die Erscheinungen
am voll entwickelten menschlichen Körper decken, sie trifft
aber nur zum Teil die Tatsachen der frühen Entwickelungs-
stufen, an deren Erforschung ja gerade Peter so hervorragend
beteiligt ist, und sie vernachlässigt völlig eine Reihe von Ge-
bilden der Säugernasen.
Die primitiven „Siebbeinmuscheln‘ des Menschen sowohl
als des Kaninchen (Peter |1902]|) und der Ratte (Glas) sitzen
teils dem (späteren) Septum, teils dem Hintergrunde der Nasen-
höhle auf; in der Reife treffen wir das gleiche Verhalten bei
Pferd und Kaninchen u. a.; bei Echidna und Choloepus finden
sich nach der Angabe von Paulli (1900, S. 165) „typisch ge-
baute Ethmoturbinalien“, sogar mit Geruchsepithel, auf der
l,amina perpendicularis und Lamina eribrosa; und das Naso-
turbinale findet sich in überraschender Häufigkeit (beim Igel,
Hund, Löwen, Pferd, Halichoerus u. a.) an ersterer Stelle vor
(vgl. Paulli S. 190, 484, 491, 504, 506, 513).
Peters Definition ist also zu eng. Wollten wir sie im
Sinne der eben angeführten Tatsachen erweitern, so wären
„alle Einragungen der Nasenwände“ als Muscheln zu bezeich-
nen. Aber auch diese Definition ist unbehilflich; sie ist (wie
andererseits wieder diejenige Peters) viel zu weit; die Ein-
ragungen der Nasenwände sind zu ungleichartig, um gleich
bewertet und benannt werden zu können:
Erstens trifft man bei vielen niederen Säugern (Reh, Hund,
Igel, Dasypus, s. Paulli S. 484-511) Verdickungen der
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. He
Schleimhaut der Scheidewand an, die sich in die gegenüber-
liegenden Furchen zwischen den „Muscheln“ hineinlegen, aber
von keiner skeletären Stülze getragen sind und bei näherer Be-
trachtung nichts anderes vorstellen als Grenzwälle zwischen
Kindrücken, die dem Septum von den weit vorragenden Firsten
der „Muscheln“ eingeprägt werden; es handelt sich also um
zwar auffallende, aber rein passiv-sekundäre Bildungen, die
(trotz ihrer Konstanz innerhalb der betreffenden Species nich!
den, wie immer, doch unzweifelhaft funktionell wichtigen und
skeletär gestützten Muscheln gleichgestellt werden dürfen. Aller-
dings kommen auch hier Übergangsformen vor: abgerundete
knöcherne Wälle in der Basıs der Vorragungen; in grösseren
kammförmigen derartigen Wülsten dünne Knochenblätter; und
endlich gar die schon oben erwähnten Scheidewand-Turbinalien
von Echidna und Choloepus. Aber alles das erhöht nur noch
mehr die Notwendigkeit, diesen verschiedenartigen und ver-
schiedenwertigen Bildungen durch verschiedene Nomenklatur
gerecht zu werden, sie nich! in den gemeinsamen „Muschel“-
Topf zu werfen.
Zweitens aber sieht man bei Menschen sowohl als bei
Tieren (mir liegt eine derartige Beobachtung beim Kalbe gegen-
über dem erwachsenen Rind vor) ım Laufe der Entwickelung
gut differenzierte Wulstungen auftreten, später aber wieder völlig
verschwinden; ıhre rein temporäre Existenz gestattet demnach
nicht, ihnen das Recht eigener Benennung zuzuerkennen, sicher
aber nicht im Sinne gleicher Benennung mit den Gebilden von
dauerndem Wert.
Endlich wird die Gleichwertigkeit jener Einragungen zu
bestreiten sein, die zunächst zwar durch deutliche Aberenzune
und häufiges Vorkommen auffallen, sich bei näherer Betrachtung
aber nur als Teile anderer Wülste darstellen. Zumeist werden
diese, tatsächlich unselbständigen, Teilwülste mit den nur tem-
porär existierenden identisch sein.
974 L. GRÜNWALD.
Wir werden demnach unsere Erweiterung der Peterschen
Definition dahin einzuschränken und zu formulieren haben:
„Muscheln sind alle innerhalb einer Species Kon-
stanten, dauerhaften und selbständigen Einragungen der
Nasenwände.
In dieser Definition bedarf das Prädikat der Selbständie-
keit noch einer besonderen Festlegung. Dass Geeenbaurs
Definition der Selbständigkeit (die ın seiner Erklärung zwar nur
heigefügt, aber offenbar definierend gemeint ıst) — Stützung
der KEinragung durch eine einfache Fortsetzung des Wand-
skelels nicht zureicht, ergibt sich schon aus dem erwähnten
Vorkommen solcher knöchern gestülzter, aber doch bedeutungs-
loser Prominenzen an der Scheidewand. Es wird kaum etwas
anderes übrig bleiben, als die Selbständigkeit in guter und
dauernder Abgrenzung einer Vorragung zu suchen
und auf die Heranziehung der skeletären Stützen um so mehr
zu verzichten, als wir dıe fraglıchen Gebilde auch schon in der
Embryonal- und frühen Fötalzeit unterscheiden wollen, während
welcher das Skelet noch ganz fehlt oder nur knorpelig angelegt
ist oder nur provisorisch besteht, um später am fraglichen
Ort wieder zu verschwinden.
Ich verhehle mir dabeı nicht, dass dem derart bestimmten
Merkmal der Selbständigkeit eine gewisse Dehnbarkeit zu-
kommt. Aber darın liegt kein besonderer Schaden; der Raum
für abweichende Auffassungen ist einerseits doch recht be-
schränkt und erstreckt sich nicht auf Wichtiges; andererseits
wird eine Divergenz der Ansichten in untergeordneten Einzel-
heiten der Muschelfrage nie völlig auszuschalten sein.
Als Synonym der Worte Muschel, Concha oder Cornet, wie
sie sozusagen dialektisch in den Sprachgebrauch übergegangen
sind, wird es sich, besonders im Hinblick auf die Vergleichs-
werte der Zoologie, empfehlen, Owens „Turbinale“ in der
Nomenclatur in den Vordererund zu stellen und daher auch die
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 575
auf die Topographie bezüglichen Präfixe weiter in Verbindung
mit dem Hauptwort zu verwenden, wenngleich sie nicht immer
oanz korrekt der Lage der Turbinalıa entsprechen. Das gilt
besonders für das Naso-Turbinale, dessen Ausdehnung bei
vielen Tieren weitaus die Erstreckung des Nasenbeins über-
schreitet. ebenso auch für Maxillo- und besonders wiederum
für das Ethmo-Turbinale. Da aber die benennenden Knochen-
teile die Haupt-, jedenfalls aber die am meisten charakteristische
Reeion des Sitzes der betreffenden Gebilde darstellen, mag es
sein Bewenden bei den bereits eingeführten Namen haben;
nur muss man sich über ihre Fehlerhaftigkeit klar sein.
Die seit Owen erheblich gewachsene Kenntnis verlangt
aber die Erteilung neuer Nomenclaturen für neu hinzu ge-
kommene Beeriffe.
Zunächst finden sich ausser den selbständigen Einragungen
einerseits, den konstanten und dauerhaften andererseits, (re-
bilde von untergeordneter Art. Jene werden wir demnach nach
ihrer übergeordneten Bedeutung als Hauptwülste (Haupt-
turbinalia ete.) zu bezeichnen haben.
Während sie beim Menschen fast durchweg ungegliedert
sind, ist dagegen bei Säugern, von den Primaten und Prosimiern
abwärts, eine mehr oder weniger weitreichende Gliederung die
Regel. Hierfür (allerdings ebenso wie für die einfachen, von
Schwalbe bereits als Riechwulst bezeichneten Einröllungen
der Ethmoturbinalia) hat Paulli (l. ec. S. 158) den Namen
„Riechwülste“ gewählt. Da hierin ein möglicherweise gar nicht
haltbares Präjudiz der Funktion liegt, ist dieser Name für uns
nicht annehmbar, abgesehen davon, dass er ausserhalb des
Rahmens einheitlicher morphologischer Einteilung fällt. Wir
werden die für verschiedene Species konstanten und, unter
Umständen wenigstens, zwar dauerhaften, aber unselbständigen
und daher untergeordneten Abspaltungen der Hauptwäülste als
Teilwülste, Tori partiales, oder Turbınal-(Muschel-)Blätter
Anatomischo Heftes I. Abteilung. 164. Heft (54. Rd. H. 3). 38
576 l,. GRÜNWALD,
bezeichnen. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob ein oder mehrere
solche Blätter durch Spaltung oder Einrollung oder Einstülpung
entstanden sind. — Auch diese untergeordneten, unselbständigen
Wiülste können konstant und dauerhaft sein, sind es auch
meistens.
Nun kommen aber ausserdem Wulstungen nur zu gewissen
Zeiten der Entwickelung vor, um später wieder zu verschwinden.
Welche Bedeutung diesen (rebilden auch immer zukommen
mag — und es ist durchaus nicht leicht, noch immer einwand-
[rei, ihnen eine bestimmte Bedeutung zuzuerkennen — sicher
ist das, dass diese nurtemporäre Existenz ihnen wiederum
nur einen untergeordneten Charakter verleiht: ıch bezeichne
sie als Sekundärwülste, soweit sie Regelmässigkeiten im Vor-
kommen und ın der Form nicht verkennen lassen. Wo auch
letzteres fehlt, wo es sich also um Gebilde handelt, die sowohl
inkonstant in der Form, als nur vorübergehend von Erscheinung
sind, wird die Bezeichnung als akzidentelle Wülste dem
Wesen der Sache konform erscheinen.
Zwischen den Wülsten finden sich Furchen. Auch diese
werden wir sinngemäss als Haupt-, Zwischen-, sekundäre
und akzidentelle Furchen anzusprechen haben. Darauf des
näheren einzugehen, bleibe der Darstellung der menschlichen
Ontogenese vorbehalten.
Auch die Hauptwülste sind, unter sich verglichen, un-
gleichwertig. Das müssen wir wiederum einerseits anerkennen,
andererseits durch Benennung zum Ausdruck bringen. —
Bereits Owen (1866—68) und Allen (1882, 1883) haben
die Zusammengehörigkeit der ethmoidalen Wülste erkannt und
ihr dadurch Rechnung getragen, dass sie den Gesamtkomplex
als Ethmoturbinale bezeichneten ; da sie diese Benennung aber
ın gleicher Weise für jeden einzelnen ethmoidalen Hauptwulst
verwendeten, kann die gleiche Verwendung für den Komplex,
als irreführend, nicht zugelassen werden. Aktuell ist übrigens
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 577
diese Frage und die nach der Berechtigung der ihr zugrunde
liegenden Auffassung erst geworden, als Schönemann an-
nahm, dass die Einzelwülste des Siebbeinkomplexes erst sekun-
där aus einem zunächst einheitlichen Wulst herausgeschnitten
wurden. Als Ausdruck dieser Annahme verlangte er die Be-
zeichnung des supponierten gemeinsamen Primärwulstes mit
dem Namen „Basiturbinale‘“.
Peter hat die Irrigkeit dieser Annahme erwiesen; tat-
sächlich legen sich die Muschelwülste einer nach resp. neben
£
F
Bıozle
Kalb.
Ia, Ib— Geteiltes 1. Ethmoturbinale. IIa, IIb = Geteiltes 2. Kthmoturbinale.
IIT=3. Ethmoturbinale. e— Lamina terminalis. b—a = Aufgeklappter
recessus posterior.
dem anderen, jeder für sich an, und damit musste auch der ver-
langte Namen fallen. Für uns wäre er ausserdem schon deshalb
nicht haltbar, weil wir festhalten wollen, dass eben nur der
einzelne Hauptwulst Turbinale heissen darf.
Aber die Zusammenfassung der Ethmoturbinalia in einem
gemeinsamen Begriff bleibt trotzdem ein Postulat. Wenn auch
nicht in der ersten Anlage, so doch in späteren Stadien der uns
bekannten Entwickelungsreihen der Säuger inkl. des Menschen,
und ganz besonders im Reifezustand vieler Species bildet der
Komplex ein zusammengehöriges Ganzes, dessen einzelne Teile
nur unter weitreichender Zerstörung getrennt werden können.
38%
L. GRÜNWALD,
578
Das eilt vielfach, ja zumeist schon für die Zustände in der
Nase des erwachsenen Menschen; die Untrennbarkeit des Kom-
plexes drängt sich dem Betrachter aber vollends beim Anblick
TEC)
Fie. 2:
Neugeborenes Kaninchen. A.-T. = Atrioturbinale.
Seitenraum
EEE EEE nun Sr NETT I
zu
nu . ‘>
Fig. 3.
Neugeborener Hund.
der meisten niederen Säuger aul, wo die Lamina terminalıs
mit dem Körper des ersten Ethmoturbinale vereinig! eine Schale
bildei, in der sich die übrigen Eihmoturbinalia eingebettet
finden (vel. Fig. 1, 2, 3). Im Hinblick darauf, dass die ursprüng-
Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 579
lichen Anlagen der einzelnen Ethmoturbinalia aus dem mittleren
Stirnfortsatze, also einer Vorragung der Schädelbasıs, und
ausserdem unmittelbar aus der letzteren herausgeschnitten
werden, habe ich die komplexe Einheit als „Basalwulst” be-
zeichnet (Grünwald [1912, S. 40]). Der innige Zusammen-
hang des Komplexes mil der basalen Bildung, wie sie die
Seitenraum
Fig. 4.
Ausgewachsener Hund.
Frontalsehnitt.
Scheidewand darstellt, erhellt unter anderem am besten aus
der Betrachtung der Verhältnisse beim Hunde, wo man Lamina
terminalis und Septum noch untrennbar vereinigt sieht (Fig. 4).
Dasselbe Verhältnis findet sich auch beim Schwein (Fig. 5).
Übrigens empfiehlt sich diese Zusammenfassung und zu-
sammenfassende Bezeichnung ausserdem noch dadurch, dass
sie sowohl das Verständnis für die Pneumatisationsvorgänge als
580 L. GRÜNWALTD,
die klinische Darstellung sehr wesentlich erleichtert, wie sich
an entsprechender Stelle ergeben wird).
> Seiten-
raum
Fie. 5.
Ausgewachsenes Schwein.
Frontalschnitt.
a= 1]. Ethmoturbinale b == Maxilloturbinale.
Schon Zuckerkandl (1887) war bekannt, dass ausser
(len vom längserölfneten Naseninneren aus sichtbaren Wülsten
eine Reihe lateral gelegener, zunächst nicht, sondern erst nach
!) Auch Peter (13) empfindet neuerdings die Notwendigkeit einer Kollek-
tivbezeichnung und spricht deshalb im Frühstadium von Ethmoturbinalfläche.
Da diese Bezeichnung nur frühesten Verhältnissen entspricht, spätere und
tierische nicht deckt, sehe ich keinen Grund, die von mir aus rein praktischen
Gründen gewählte und der Genese ebensowenig wie Peters neuer Name
präjudizierende Benennung zu ändern.
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 581
luntfernung der unmittelbar sichtbaren, oder auf dem Querschnitt
(larstellbarer Wülste vorkommen. Paulli hat den Unterschied
beider Komplexe durch die Namen ‚„Endoturbinalia‘ und ‚„Eeto-
turbinalia“ zu decken versucht; Peter hat an Stelle dieser
letzteren Bezeichnung diejenige der „Conchae obtectae“ zu
setzen vorgeschlagen. Es ist gegen die eine sowohl als die
andere Benennung nichts einzuwenden, soweit sie die Ver-
hältniısse an erwachsenen Säugern betreffen. Aber in der
Ontogenese lassen beide im Stich: im Fötal- wie im Kindheits-
zustand mancher Säuger (Kaninchen, Hund) sieht man die später
allerdings verdeckten seitlichen Muscheln offen zutage liegen,
so dass die erwähnten Bezeichnungen für diese Verhältnisse
absolut nicht zutreffen und daher für unser System, das alle
Vorkommnisse decken soll, nicht brauchbar erscheinen. Ich
ziehe daher vor, diese Wülste nach ihrem Situs zu bezeichnen :
Soweit sie zwischen den Hauptwülsten stehen, wird der Name
„Interturbinalia® oder „Zwischenmuscheln“ zutreffen.
Ausserdem aber liegt die Tatsache vor, dass ein grosser Teil
solcher Zwischenwülste — u. U. die einzigen Vorkommnisse
dieser Art — in dem Raum vor dem Basalwulst, eventuell
zwischen diesem und dem Nasoturbinale, vorhanden oder an-
gehäuft sind. Nun ist aber diesem Raum ein besonderer Platz
ın der Morphologie des Naseninneren zuzuweisen. Für Paulli,
der «das Nasoturbinale nicht. als besonderen Bestandteil, sondern
einfach als ersten Ethmoidalwulst ansah, ebenso für Killian,
der dieser Auffassung schon früher folgte, besteht zwar dieses
Bedenken nicht; für sie war hier nichts zu sehen, als die, den
weiter hinten folgenden, gleichwertige, erste Ethmoidalfurche.
Mit Rech! hat aber Peter das Nasoturbinale als besonderen
morphologischen und genetischen Wert (s. u.) den Ethmo-
turbinalien gegenübergestellt. Tut man das, so darf man auch
den weiteren Schritt nicht. verweigern und muss dem zwischen
dem Ethmoidalkomplex (dem Basalwulst) und dem selbständigen
582 L. GRÜNWAELD,
Nasoturbinale sıch erstreckenden Zwischenraum eine besondere
Würdigung zuteii werden lassen. Das ist um so notwendiger,
als. dieser Raum sowohl durch Ausdehnung als durch Form und
Inhalt schon sich aufs lebhafteste von den Ethmoidalfurchen
unterscheidet. Ein Blick auf die zahlreich bei Paulli abee-
bildeten Querschnitte lehrt dies ebenso wie die Betrachtung von
"rontalschnitten der menschlichen Nase; ganz besonders aber
N
Seiten-
raum
I
Fig. 6.
Embryo von 11 mm Ges.-Länge. Alter ca. 35 Tage.
der Anblick von Frontalschnitten aus der Zeit, in welcher der
[raglıche Raum noch frei von Wulstbildungen ist und doch
schon die im Verhältnis zu den spaltförmigen Ethmoidalfurchen
relativ grosse Flächenerstreckung erkennen lässt (Fig. 6, 7, 8),
ebenso wie die relativ grosse Seitenausladune, die besonders
bei niederen Säugern in hohem Masse auffällt (vel. Fie. 4
und 5).
Die bisher, wenigstens auf menschliche Verhältnisse ange-
wandte, Bezeichnung als ‚mittlerer Gange“ kann wiederum des-
F’
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 5). Tafel 46.
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Fig. 13.
Embryo von 10,5 mm Ges.-Länge.
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Fig. 14.
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Fig. 15.
Embryo von 12,2 mm Ges.-Länge. P;
“
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 583
halb nicht als geeignet betrachtet werden, weil sie ıhn den,
doch absolut ungleichwertigen, Ethmoidalfurchen, dem „oberen“
und (eventuell) „obersten“ Gange gleichstellt, von denen ihn ein
EEE
EHRT 0:
IS
Fötus von ca. 55 Tagen.
ang. lat. — angulus lateralis. f. e
idalis inferior.
S.-R. = Seitenraum. . 1. = fissura ethimo-
wesentliches unterscheidet: Jene liegen zwischen den Ethmoidal-
wülsten, dieser ausserhalb des Ethmoidalkomplexes oder, wie
ich ihn nenne, Basalwulstes; also auch genetisch besteht völlige
Ungleichheit.
Aus al! diesen Gründen muss ich auf Durchführung meines
84 1. GRÜNWALD,
schon früher (l. e.) gemachten Vorschlages der Isolierung und
Sonderbezeichnung des Raumes als Seitenraum bestehen. In
den Rekonstruktionen aus früher Zeit (Fig. 21, 22, Taf. 49) sieht
man deutlich seine breite und noch inhaltlose Erstreckung
zwischen dem medial liegenden Basalwulst und den late-
ralen Vordermuscheln.
Fig. 8.
Schnitt etwas weiter vorne als in Fig.
t. 1. = torus lateralis im Seitenraum.
Eine weitere Konsequenz aber führt zu besonderer Würdi-
eung der Wülste, die in diesem Seitenraume liegen. Sie pflegen
durch besondere Grösse, Mannigfaltigkeit der Gestalt, vor allem
aber dadurch ausgezeichnet zu sein, dass man sie individuell‘
sowohl als nach Species verschieden, häufig auch dort antrifft,
wo keine anderen Zwischenmuscheln gebildet werden. Ich halte
es daher für zweckmässig und organisch begründet, diese
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 585
solitären oder komplexen Wülste als Paraturbinalia auch
namentlich von den anderen abzuscheiden.
b) Muschelbesitz.
In der (tesamtreihe der Vertebraten, allerdings nicht als
gemeinsamer Besitz, treffen wir folgende Arten von Turbinalia:
I. Die Eingangsmuschel oder «das Atrioturbinale stell
sich als leicht in S-Form geschwungener Wulst dar, der
vom Innenrande des Nasenflügels, parallel dem Nasenboden,
bis zur Apertura piriformis hinzieht. Bei vielen Säuger-
Rie,. 9.
Grünaffe.
species in mehr oder weniger starker Ausbildung, erhält diese
Muschel ihre deutlichste Ausprägung wohl bei den Primaten
(s. Fig. 9), und zwar der verschiedensten Gattungen: Semno-
pithecus, Cercopithecus, Cynocephalus. Hier sieht man den
Wulst überall deutlich isoliert in voller Selbständigkeit, während
er bei niederen Säugern häufig nur eine vordere Abschnürung
der unteren Muschel (Maxilloturbinale) darzustellen scheint
(vel. Fig. 1) und bei den anderen gar nur als Verbindungsfalte
des oberen Körpers des Maxilloturbinale zur Wand «der Nasen-
öffnung hin erscheint (Fig. 2, A.—T.). Im letztiargestellten Falle
würde es überhaupt nicht möglich sein, diese unscheinbare
Falte richtig anzusprechen, wenn wir nicht durch den im frühen
Fötalzustand gut ausgebildeten Stützknorpel darauf hingewiesen
986 L. GRÜNWALD,
würden, wie er sich in Voits (1909) Rekonstruktion des
Primordialeranıum des Kaninchens erkennen lässt.
Auch manche Affenart, z. B. Semnopithecus nasıicus, lässt
kaum eine Spur bemerken, bei anderen wieder ist der Wulst
zwar deutlich, aber unauffällig (Fie. 10) und in dieser Form
Fig. 10.
Meerkatze.
für uns sehr bedeutungsvoll, weil nur ein kleiner Schritt weiter
im Rudimentärwerden zu der Erscheinung führt, wie sie mil-
unter beim Menschen beobachtet werden kann (Fig. 11). Die
Fig. 11.
Ähnlichkeit der beiden letzten Bilder springt in die Augen;
sie ist eigentlich noch deutlicher, als beim Betrachten der
stärkeren Wülste, wie wir sie mitunter im Fötalleben antreffen
(Fig. 12). Während nun bei einer Reihe von Tieren, offen-
sichtlich besonders bei den Primaten, diese Vorhofsmuschel
ein stark differenziertes Organ ist, kann das von dem, der Er-
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 587
scheinung nach gleichen, Gebilde beim Menschen nicht
oesagt werden. Was wir bei diesem an entsprechender Stelle
S. 38) als
sehen, ist nichts anderes als das, was ich (l. e. [1912
Limen vestibuli bezeichnet habe), d. h. ein Vorsprung,
der der unteren, nach dem Lumen vorspringenden Kante des
lateralen Flügels der Cartilago triangularis entspricht und keine
wesentlichen Bestandteile von Gefässen oder Nerven enthält;
und zwar entspricht dem Vestibuloturbinale nur der seitlichste
Teil des „Limen“. Es ist nach alledem nicht mit Sicherheil
möselich, von einer Analogie oder Homologie, sondern nur von
Homotopie des Gebildes beim Menschen zu sprechen, wenn-
oleich die grosse Ähnlichkeit mit der primordialen Atrioturbinal-
bildung beim Kaninchen zu denken gibt.
2. Als Schwellenmusehel oder Liminoturbinale: möchte
ich die sog. vordere Muschel der Vögel und Schildkröten be-
zeichnen. Dieses Gebilde stellt sich als glatter Wulst dar,
der vom vorderen Rande der bei den Sauropsiden hoch oben
am Oberkieferansatz einmündenden Nasenöffnung quer durch
die Nasenlichtung zur Scheidewand hinzieht. Im ganzen Be-
reiche der Säugerreihe findet sich keine sicher ähnliche Bildung ;
eine Analogie mit der Lamina transversa anterior, die im
Chondrocranium des Kaninchens von der Cartilago para-
!) Zuckerkandl hat das gleiche Gebilde, aber in undeutlicher Abbildung,
als plica vestibuli heschrieben. Ich habe eine genaue Auseinandersetzung
der Verhältnisse und der wünschenswerten Nomenelatur in einer Mitteilung
in der Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1914, Nr. 2 gegeben.
588 L. GRÜNWALD,
sphenoidalis zum Atrioturbinale hinzieht (s. Voit, Fig. 8),
liegt nahe, ist aber nicht mit Sicherheit aufzustellen.
Noch weniger gilt dies für Zuckerkandls (189)
Cristanasodentalis; der Verlauf des Ramus nasalıs des
Nervus dentalis nebst den entsprechenden Gefässen innerhalb
(dieses Wulstes dürfte ihn eher als Ergebnis nicht nasal-funktio-
neller Beanspruchung erscheinen lassen.
Das häufige Vorkonmen einer Grista intermaxilla-
is (Holl |1882]), die etwas weiter vorne liegt und allerdings
keine funktionelle Deutung zulässt, gibt dem Gedanken an eine
rudimentäre Erinnerungsbildung zwar eher Raum, aber doch
keine zwingende Unterlage. ;
3. Scheidewandmuscheln oder Septoturbinalia be-
schreibt oder erwähnt vielmehr Paullı (S. 165) bei Echidna
und Choloepus in voller Ausbildung, in rudimentärer auch bei
anderen Säugerarten. Das, nur theoretisch gestützte, Postulat
einer knöchernen oder mindestens knorpeligen Stütze zur An-
erkennung des Muschelbegriffes hat es bisher verhindert, all
diesen sehr verschiedenartigen Gebilden irgendwelche Aner-
kennung innerhalb der Muschelreihe zu verschaffen. Nach
unserer mehr Raum gebenden Definition müssen wir aber
allen in Betracht korimenden Vorragungen unsere Beach-
tung schenken, sofern sie nur die Erfordernisse der Kon-
stanz, Dauerhaftigkeit und Selbständigkeit, d. h. guter und
dauernder Abgrenzung, aufweisen. Das ist nun beim Menschen
mit dem sog. Tuberculum septi der Fall. Es enthält
Iymphadenoides Infiltrat, entbehrt aber nicht, wie Zucker-
kandl behauptet, einen Schwellkörper gänzlich, sondern be-
sitzt ihn im Gegenteil sehr häulig, wie man am Lebenden ganz
deutlich durch die auf anämisierende Einwirkungen fast voll-
kommen eintretende Schrumpfung nachweisen kann. Gerade
dieser Umstand aber ist es, der an der Leiche den Vorsprung
nur selten, und dann sehr unbedeutend erscheinen lässt. Ob
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 589
er bei Säugern häufiger vorkommt, ist aus eben demselben
(runde — es liegen nur Leichenuntersuchungen vor — nicht
zu beurteilen. Die Ubiquität (wenn auch wechselnde Grösse)
des Wulstes aber, sowie seine häufige Versorgung mit Schwell-
sewebe legt aber doch recht nahe, in ihm ein echtes, wenn
auch rudimentäres Septoturbinale anzuerkennen.
Es verstärkt nicht nur, sondern beweist die Gültigkeit dieser
Auffassung, dass die genaue Durchmusterung von acht aus dem
zweiten Fötalmonat stammenden Serien (Föten von 11 bis
23 mm Gesamtlänge) das Vorhandensein von Wülsten an der
vordersten Septumpartie feststellen liess, die in ihrem ganzen
Aussehen den, (derselben niederen Entwickelungsstufe ent-
sprechenden, anderen Turbinalien ähneln, also als echte Septo-
turbinalien anzusprechen sind. Nur zwei der Serien lassen
diese (rebilde vermissen, im Einklange mit der später |des
näheren zu erörternden Tatsache, dass sowohl innerhalb der
Entwickelungszeit, als in der Reife nur wenige Muschelarten
beim Menschen vollständige Konstanz des Vorkommens auf-
weisen.
Sehr merkwürdig ist das (scheinbar) völlige Verschwinden
des Gebildes aus den späteren, der eigentlichen Entwickelung
des Naseninneren gewidmeten Stadien des Fötallebens, so dass
es erst in der Kindheit wieder auftaucht; ein Verhalten, das von
der anderen, ebenfalls beim erwachsenen Menschen rudimentär
bleibenden Muschel, dem Nasoturbinale (s. u.) geteilt wird.
Man darf wohl gerade in diesem Verhalten die (materielle)
Bedingung für die mangelhafte Ausbildung des bleibenden Vor-
sprunges, dem eben in der Hauptentwickelungszeit zu wenig
Bildungsstoff geliefert wird, erblicken.
Die fötalen Varianten ‘der Form ersieht man aus Fig. 14c,
15a, 16d, 17f (Taf. 46, 47, 48). Eine genaue Darstellung ihrer
Erscheinung ergibt die photographische Abbildung Fig. 18 (aus
derselben Serie, deren Reihenfolge in Fig. 14 dargestellt ist),
590 L. GRÜNWALD,
besser noch als die plastische Darstellung in der Rekonstruk-
tion: der gelbe Wulst in Fig. 21a (Taf. 49). Im ganzen erstreckt
er sich in der hier vorliegenden, einem Individuum von 12,2mm
(Gesamtlänge entstammenden, 465 u langen Nasen,,höhle“ über
75 u und ist durch einen nicht weniger als 225 u langen
Frontalsehnitt aus einer Schnittserie eines Embryo von 11 mm Ges.-Länge.
Lateral Nasoturbinale, medial Tubereulum septi.
Fig. 19.
Frontalschnitt aus einer Schnittserie eines Embryo von 9 mm Ges.-Länge.
Oberes und unteres Septoturbinale, die Jacobsonsche Furche umgrenzend.
[lachen Zwischenraum von dem septal gebildeten (zweiten)
Kthmoturbinale geschieden, so dass von einem Zweifel über
die selbständige Natur der Bildung in diesem (wie in den
anderen einschlägigen Fällen) keine Rede sein kann. —
Im selben Frühstadium, sogar schon bei einem Embryo
von 9 mm Gesamtlänge (also wohl noch vom Ende des ersten
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 591
Lunarmonats herrührend), zum erstenmal vorkommend, fällt
eine weitere, meistens als Doppelvorsprung erscheinende Ge-
staltung auf, die an die Jacobsonsche Furche gebunden, als
eine Art oberer (und unterer) Lefze diese begrenzt. In hoher
Ausbildung zeigt sich ein solcher zungenförmiger oberer Wulst
ın Fig. 19, während dem unteren nur ein flacher Hügel entspricht.
Im allgemeinen bleibt überhaupt der untere Vorsprung immer
an Grösse hinter dem oberen zurück. In mächtigster Entfaltung
Fig. 20.
T. s. = Tubereulum septi. S.-T. = Septoturbinale.
zeigt sich dieser weiter vorne in Fig. 20 rechts, wo er nur
durch eine seichte Furche vom Tuberculum septi geschieden
wird. Rekonstruktiv zeigt sich das Verhältnis in Fig. 21a,
Taf. 49: der rote Wulst gegenüber dem gelben, oben erwähnten.
In klarer Formung erhalten sich diese beiden Septo-
turbinalien im allgemeinen nur, so lange das Jacobsonsche
Organ in Rinnenform besteht; übrigens nicht ausnahmslos:
von 9 mm bis 19 mm fehlten sie in einem 14,5 mm langen
Fötus und waren im nächsten, 16 mm langen, kaum bemerk-
bar (Fig. 16e, Taf. 47), liessen sich an einem 23 mm langen
Fötus gar nicht finden, waren aber wieder in einem 27 mm
messenden deutlich ausgebildet.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H. 3). 39
592 L. GRUNWALD,
Der Übergang der Furche zur Röhre am fraglichen Organ
scheint dem Dasein dieser Gebilde ein Ende zu setzen; beim
Fötus von 23 mm Länge wenigstens ist der letzte Rest einer
Wulstung nur am Eingangswall in dürftiger Erstreckung sichtbar.
Es läge nahe, diese (Gebilde als Vorläufer der von G.
Killıian zuerst beschriebenen, in den späteren Fötalmonaten
auftauchenden Plicae septi aufzufassen, besonders wenn
.. *)
Io
F IS. od.
Hintere Ohoane mit Tubereulum vomeris beiderseits.
man erwägt, dass der Übergang aus der Rinnen- in die Rohr-
[form beim Jacobsonschen Organ dadurch erfolgt, dass nur
der hintere Teil sich zu letzterer Form ausbildet, während der
vordere verstreicht (Peter [1913] S. 62). Doch steht dem
entgegen, dass ım Fötus von 27 mm Länge Bildungen, welche
man einerseits als Reste der Septoturbinalien, andererseits als
Beginn von Faltenbildung auffassen könnte, weit vor dem
vordersten Ende des Rinnenteils des Jacobsonschen Organs
stehen. Über ein Verstreichen der Rinne gerade in ihrer Mitte
ıst aber nichts bekannt, es scheint im Gegenteil von vorne
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 593
nach hinten gleichmässig vor sich zu gehen und ausserdem
sind die (späteren) Plicae gerade im hinteren Septumabschnitte
zu finden. So ist ein Zusammenhang zwischen den Plicae und
den primitiven Septoturbinalien abzuweisen. Man hat überhaupt
kaum das Recht, ersteren einen höheren Platz als den von
akzidentellen Furchenbildungen, wie sie an den Ethmoturbinalia
vorkommen (s. u. S. 628 f.), zuzuerkennen.
Ebensowenig will es gelingen, das sog. Tuberculum
vomerıs den Turbinalien gleichzusetzen, obwohl es immer
an typisch gleicher Stelle und, soweit stärker entwickelt, auch
von typisch gleicher Gestalt (Fig. 23) erscheint. Da diesem
Wulst nichts Gleiches in der Tierreihe entgegensteht, darf es
als Neuerwerbung im Sinne einer stärkeren Benutzung der,
gegenüber den niederen Säugern weitaus grösseren, hinteren
Choane des Menschen angesehen werden.
4. Das Nasoturbinale war bereits von Schwalbe
in Gegensatz zu den ethmoidalen „Riechwülsten“ gestellt
worden; es wurde ihm keine Riechschleimhaut zuerkannt.
Die Unhaltbarkeit dieser physiologischen Unterscheidung habe
ich schon oben dargelegt: abgesehen vom Mangel des Nach-
weises fehlender Verbreitung des Sinnesepithels in den frag-
lichen Regionen ist auch gar nicht mit der sicher höchst ver-
schiedenen Anordnung innerhalb der verschiedenen Species ge-
rechnet. Damit ist aber andererseits noch nicht die Berech-
tigung gewonnen, das Nasoturbinale mit den Ethmoturbinalien
zusammenzuschlagen, wie das Killian und ebenso Paulli
getan haben. Wir haben uns schon oben Peters aus der
(senese gewonnenem Gegenargument angeschlossen: das Naso-
turbinale entsteht, auch bei den Säugerembryonen, im Geeen-
satz zu den medial angelegten Ethmoturbinalien lateral (S.
Fi 18.215 22):
Hohen, wenn auch nicht durchschlagenden Wert muss man
auch der fast durchgehend grossen Gestaltabweichung zwischen
39
>94 L. GRÜNWALD,
beiden Arten von Bildungen zumessen; vereinzelt allerdings,
z. B. beim Igel, ist die gestaltliche Verschiedenheit zwischen
dem Nasoturbinale und dem ersten Ethmoturbinale nicht sehr
erheblich.
Entscheidend in morphologischer Beziehung ist aber der
Umstand, dass das Nasoturbinale niemals Bezie-
hungen zur Lamina terminalis besitzt, welcher
doch, im Gegensatze hiezu, jedes einzelne Ethmoturbinale mit
seiner „Haftfalte“ (Schwalbe) verbunden ist. Diese Tatsache
steht in engem Korrelat zu derjenigen der basalen Entstehung
und zugleich komplexen Natur der Ethmoturbinalia.
Wenn Paulli im, allerdings unbewussten, Gegensatz zu
dieser meines Erachtens entscheidenden Tatsache die Kinord-
nung des Nasoturbinale in die Ethmoturbinalia damit begründet,
dass jenes, ebenso wie diese, mit seinem hinteren Ausläufer
an der Lamina cribrosa haftet, so liegt in dieser rein osteo-
logischen, also späten Tatsache, kein entscheidendes Argument
für die Gleichheit der Gebilde, sondern nur ein Einwand gegen
die Nomencelatur: infolge dieser Anheftung müsste allerdings
das Nasoturbinale zum Siebbein gerechnet und könnte nicht
von „Siebbein“-Muscheln getrennt werden. Dem wäre sofort aus-
zuweichen, wenn wir die letzteren in genetisch richtiger Weise
nicht Ethmo-, sondern Basıturbinalia nennen würden:
ihre osteale Zusammensetzung aus ethmoidalen Elementen ist
ja tatsächlich von ganz untergeordneter Bedeutung. Und ich
würde nicht zögern, diese Lösung der Frage durch konsequente
Nomenelatur auch hier vorzuschlagen, wenn nicht der Name
„Ethmoturbinahla‘“ bereits zu stark eingeführt wäre und wenn
wir nicht auch die anderen Muschelarten bereits mit topo-
graphisch-osteologischen, nicht genetischen Namen belegt
hätten; dass man sich dabei der stattfindenden und willkür-
lichen Fehlerhaftigkeit bewusst bleiben muss, habe ich bereits
betont.
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 595
Die Identität dieser bei Säugern hoch ausgebildeten Muschel
mit dem rudimentären, oft kaum festzustellenden Agger nası
des erwachsenen Menschen hat bereits Schwalbe dargetan;
begreiflicher wird sie beim Anblick der Übergangsformen, wie
sie sich an der fötalen Nase und in mehr (Fig. 24) oder weniger
(Fig. 9) deutlicher Ausbildung bei Primaten vorfinden. Homo-
loger Besitz bei Sauriern und Vögeln („obere Muschel‘ ?) ist
zweifelhaft.
Fig. 24.
Pavian.
N.-T. = Nasoturbinale.
Der späteren minimalen Grösse dieser Muschel (oder viel-
mehr des ihr entsprechenden Vorsprunges) entspricht auch ihre
primitive Anlage beim Menschen: ein kaum unterscheidbarer
Hügel, weit vor dem ersten Ethmoidalwulst (Fig. 21 und 22),
der sich am besten noch ım Durchschnitt (Fig. 16e links und
18). erkennen lässt. Bemerkenswert ist die Pneumatisations-
fähigkeit dieser Muschel, die bei niederen Säugern erheblich
ist, aber auch beim Menschen trotz der rudimentären (Be-
schaffenheit des Organs gelegentlich nicht vermisst wird. Hier-
über a. a. 0.
5. Maxilloturbinale der Säuger und untere Muschel
der Menschen sind schon seit langem als identisch anerkannt.
596 L. GRÜNWALD,
Von niederen Vertebraten finden wir sie bei Sauriern und
Schlangen als „untere“, bei Vögeln als „mittlere“ Muschel vor.
Beim Menschen und allen Primaten bleibt diese Muschel ein-
fach, undifferenziert; der Ausbildung einer Leiste am oberen
Rande in Analogie zu der doppelten Abbiegung bei einigen
Säugern (so auch noch bei einigen Primaten) ist man auch
seit Dursys Entdeckung dieser Tatsache noch nie anders
als im Fötalzustand begegnet.
Vorgreifend ist hier zu bemerken, dass bei einigen Säuger-
arten (Schaf, Rind u. a.) die Differenzierungsvorgänge an dieser
Muschel sich in Form von Einrollungen abspielen, die schliess-
lich zu dütenförmigen Hohlraumbildungen mit minimalem Zu-
gang, also zu echten Höhlengestaltungen führen. Die allerdings
sehr seltenen Befunde von Hohlräumen der unteren Muschel
(auf die wir erst bei Besprechung der Pneumatisationsvorgänge
näher eingehen können) lassen an die Möglichkeit denken, dass
solche Einrollungen auch beim Menschen der Oberflächenver-
erösserung dienen. Phyletische Folgerungen aus diesen, noch
dazu enorm seltenen und ihrer genetischen Art nach durchaus
problematischen Vorgängen zu ziehen, geht natürlich nicht an.
Ebensowenig aus dem zwar etwas häufigeren, doch immerhin
noch recht seltenen Vorkommen von Spalt- und Furchen-
bildungen der freien Fläche, die morphologisch der bei den
meisten anderen Säugerarten üblichen Oberflächenvermehrung
durch Spaltung in einzelne Blätter entspricht (vgl. Fig. 2). Die
weitere Entwickelung einer solchen Furchenbildung führt
schliesslich wieder zur Pneumatisierung, einem jedenfalls sehr
seltenen Ereignis, dessen Vorkommen in einem Fall von Eiter-
höhle der unteren Muschel (Baurowicz [1906], Arch. £.
Laryngol., XVIIl., S. 388) mir aber gesichert erscheint.
6. Die Ethmoturbinalia geben dem Naseninneren sein
wesentliches Gepräge. Ihre Ausbildung kann nur im Zusammen-
hange mit dem Aufbau des ganzen Naseninneren verfolgt werden.
597
Die Nasenmuscheln des Menschen ete.
Il. Ursprüngliche Gestaltung des menschlichen
Naseninneren.
Das Riechfeld versinkt in den Grund einer flachen, dorsal-
wärts vertieften Grube, indem sich mittlerer Stirnfortsatz einer-
und Oberkieferfortsatz anderer-
seits, lateraler Stirnfortsatz
Y
a a
N
N
Rn
erh
” a %
x
Fig. 25.
Embryo von 9,1 mın Ges.-Länge. Alter ca. 30—32 Tage.
seits zur Umwallung vereinigen (Fig. 25). Dies geschieht un-
gefähr am 30.32. Tage. Durch Vorwachsen der Umwallung
sinkt der Grund der Nasengrube immer tiefer, so dass diese zur
zunächst nur vorne offenen Nasenhöhle, also einem Blindsack
wird. Alle Einzelheiten dieses Vorganges zu kennen, ist für
das allgemeine Verständnis nicht wichtig. Die Untersuchung
598 L. GRÜNWALD,
der Schnittserien aus dem entsprechenden Lebensalter bestätigt
die von Hochstetter (1891, 1892) und Peter (1902) darüber
erhobenen Befunde.
Unmittelbar nach der Vertiefung zum Blindsack beginnt
schon die Wulstung der Innenflächen, und zwar zunächst am
medialen und cranialen Teil des hintersten Teiles des Sackes.
Diese letztere Partie bildet nämlich eine beim frühfötalen Men-
schen sehr geringfügige, aber doch deutliche Ausbuchtung, den
„Recessusposterior“. In der Rekonstruktion tritt sie nicht
sehr auffallend hervor, immerhin wird sie auch hier deutlich
ersichtlich, wie die Abbildungen Nr. 44, 45, 66 und 67 beı
Peter (1913) zeigen. Nach unten abgeschlossen und damit
in deutlicher Abgrenzung auf Frontschnitten erkennbar, er-
weist sich dieser Recessus nur ım zweiten Lunarmonat.
Eshandeltsichalso m.a. W.um die Tatsache,
dassdieNasenhöhle des Fötusimzweiten Monat
nicht mit der (primitiven) Choane ihr Ende er-
reicht, wiedasspäterhin und durchweg beimer-
wachsenen Menschen der Fallist, sondern dass
sie sich hinter und über der hinteren Nasen-
(Rachen-)Öffnung noch ein Stück weit fortsetzt.
Entsprechend dem nur zeitweiligen Vorkommen ist diese
eigentümliche Partie des Naseninneren individuell sehr ungleich-
artıg entwickelt, fehlt sogar vereinzelt gänzlich, so bei je einem
Fötus von 11 bzw. 14,5 mm meiner Beobachtung. Bei den
anderen steht sie in jeweils sehr verschiedenem Verhältnis zu
den Ausmassen des übrigen Naseninneren, das von 3—-300%e
der Länge schwankt und sogar auf den beiden Seiten desselben
Präparates Verschiedenheiten um das Doppelte bis sogar zum
Siebenfachen aufweist.
Über ihre Erscheinung gibt die Betrachtung von, den ver-
schiedenen aufeinanderfolgenden Teilen des Naseninneren ent-
nommenen, Schnitten (Taf. 46--48) den besten \ufschluss:
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Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164, Heft (54. Bd., H. 3). > 2 Tafel 47.
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Fig. 16.
Embryo von 16 mm Ges.-Länge.
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Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 599
In Fig. 13 sehen wir bei einem 10,5 mm langen Fötus
zunächst eine offene Rinne (a); diese wird weiter hinten durch
Zusammenschluss der unteren Ränder zur geschlossenen
Röhre (b), um wiederum in eine nach unten klaffende Spalte (ec)
überzugehen ; die drei nächsten Stadien, d, e, f, zeigen wiederum
einen geschlossenen Hohlraum.
a entspricht der offenen Nasengrube, b der über dem
primitiven Gaumen verlaufenden Strecke, c der primitiven
Choane und von hier ab erstreckt sich in d—-f der Recessus
posterior.
Fig. 14 zeigt die entsprechenden Verhältnisse bei einem
Fötus von 11 mm: in a die offene Nasengrube; in b und «
beginnend, in d vollkommen ausgebildet den geschlossenen
Verlauf über dem primitiven Gaumen, in e—g den teils be-
ginnenden, teils vollendeten Durchbruch der Membrana bucco-
nasalis zur primitiven Choane und dahinter in g und h nur
mehr einen ganz kurzen Epithelpropf, aber kein Lumen mehr.
Der nur wenig grössere Fötus von 12,2mm Länge in Fig. 15
zeigt hinter dem primitiven Gaumen (b, ec) den Durchbruch zur
primitiven Choane in d und dahinter (in ziemlich weiter Er-
streckung) den Recessus posterior.
Das Verhalten des Recessus gegenüber der voll ausgebil-
deten primitiven Choane zeigt die von einem 23 mm langen
Fötus herrührende Fig. 17. Hier besteht keine Nasengrube
mehr, die vorher offene Rinne ist durch den Zusammenschluss
der Mesodermmassen ganz in die Tiefe versenkt worden (b—e),
ausserdem die so entstandene Röhre durch Epithelwucherung
ganz oder grossenteils ausgefüllt, und diese Epithelwucherung
erfüllt auch den vordersten kurzen, noch an die frühere Nasen-
grube erinnernden Teil a. Auf einer weiten Strecke verläuft dann
die offene Nasenhöhle mit reich differenzierten Wandungen
im Mesoderm (f) und öffnet sich, wiederum unten, zu einem
langen, der primitiven Choane entsprechenden Spalt (g, h, i),
600 L. GRÜNWALD,
dem dann ein geschlossener Spalt von ganz ähnlicher Gestalt (k)
in sehr ausgiebiger Erstreckung (rechts 12, links 22%0 der
(Gesamtlänge der Nase) folgt, dessen Verschluss ganz deutlich
am unteren Ende zunächst durch Verschmelzung der epithelialen
wänder zu erfolgen — scheint. Denn dieser Vorgang kann auch
anders gedeutet werden, nämlich als Beginn des sekundären
Durchbruches des zum Recessus posterior geschlossenen hin-
teren Röhrenteiles, wodurch dieser schliesslich als solcher ver-
schwinden und der ganze hintere Nasenteil sich über die, da-
durch wesentlich verlängerte, primitive Choane erstrecken wird.
Ein Vergleich mit Fig. 15 erläutert die Wahrscheinlichkeit, dass
es sich um letzteren Vorgang handelt; denn der in einem grossen
Teil des Recessus posterior dieses Präparates sich von seinem
Boden zur unteren Schädelfläche hinunter erstreckende Epithel-
fortsatz (e) lässt kaum eine andere Deutung zu, da hinter sowohl
als vor ihm dicke Mesodermmassen den Boden bilden. Nur
würde hier der Durchbruch in der Mitte des Recessus beginnen,
was gar nicht ausschliesst, dass er dann nach vorne fortschreitet
und erst von der, so schon erheblich erweiterten, primitiven
Choane aus die weitere Spaltung nach rückwärts erfolgt.
Der Umstand, dass Fig. 13 von einem soviel kleineren
Fötus, als der der Fig. 17 ist, herstammt und andererseits die,
jenem fast gleichgrossen, Föten der Figg. 14 und 15 nur ganz
einfache Verhältnisse erkennen lassen, ın denen die Bildung
des Recessus posterior offenbar eben erst erfolgt ist, spricht
gar nicht dagegen, dass der Fötus der Fig. 13 bereits ein vor-
geschritteneres Entwickelungsstadium aufweise: seine Wände
sind jedenfalls ganz erheblich differenzierter, als die des in
Fig. 14 dargestellten, nur eine Kleinigkeit grösseren. Schliess-
lich sind ja ausserdem die Verhältnisse des Recessus posterior
individuell so sehr verschieden (s. o.), dass daraus allein schon
die Inkongruenz seiner Entwickelung gegenüber den allgemeinen
intwickelungsfortschritten erklärbar wird.
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 601
Auf diesem Umstand beruhen offenbar auch die Verhältnisse
der Fig. 16. Diese, dem früheren Stadium einer Gesamtlänge
von 16 mm entstammend, lässt überhaupt keinen Recessus
erkennen, hinter dem letzten offenen Choanenabschnitt ist nur
ein einziges, von solidem Epithel ausgefülltes Segment (hier
nicht abgebildet) erhalten; es würde demnach entweder die
Bildung des Recessus völlig ausgeblieben oder seine Rück-
bildung schon vollständig ausgesprochen sein; letzteres Ver-
halten würde der allgemeinen Entwickelung allerdings voraus-
eilen, jedoch ist das nach den eben erörterten Allgemeinver-
hältnissen des Recessus nicht undenkbar. Jedenfalls kann man
sich immer noch eher diese beiden Modalitäten vorstellen, als
die dritte, der Annahme eines sekundären, die Choane ver-
kürzenden Verschlusses des Spaltes von unten her ent-
sprechende. Denn für diesen Verschluss, der doch im allge-
meinen sehr frühzeitig (vgl. Fig. 13) einsetzen müsste, erschiene
selbst bei Bewilligung grössten Spielraums die Reifezeit doch
schon zu vorgeschritten.
Es wäre wenig wichtig, diese Frage, ob der Hecessus
also durch Ausbohrung der soliden Schädelmassen oder durch
sekundären Verschluss einer zunächst offenen Röhre zustande
kommt, zu erörtern oder zu entscheiden; aber die eigentüm-
lichen, sonst unerklärbaren Zwischenstadien der Fig. 13 drängen
einerseits dazu, andererseits der Umstand, dass gerade ım
Recessus die ersten Anfänge der ethmoidalen
Nulkstungen auftreten:
In den vorderen offenen und geschlossenen Abteilungen
der Fig. 14 (a—d) fehlt noch jede Wulstung, ausser der dem
Tuberculum septi entsprechenden in e; erst in den der primitiven
Choane entsprechenden und den darüber liegenden, dem
Recessus angehörigen Durchschnitten, e—g, treten die primitiven
Ethmoturbinalien in Erscheinung.
(Ganz Ähnlich verhalten sich die Strecken a-—e zu d—f ın
602 L. GRÜNWALD,
Fig. 15, nur dass hier im vorderen Abschnitt neben dem
Tuberceulum septi auch Septoturbinalien auftauchen; die Ethmo-
turbinalien bilden sich auch hier erst über der primitiven Choane
und im Recessus selber.
In der Fig. 13 endlich sieht man Ethmoidalien nur in
der Recessus-Strecke d--e, während die Decke der primitiven
Choane, ce, ganz wulstlos verläuft und im vorderen Anteil neben
septalen Wulstansätzen ein nasoturbinaler Vorsprung sichtbar wird.
Sehr bemerkenswerterweise erscheinen nun in Fig. 16 die
Ethmoturbinalien erst in jenem Teil der geschlossenen Röhre,
an dessen Grunde der Epithelstrang zur Basis hinführt, während
der davor liegende Teil der Wandungen zunächst undifferenziert
ist, weiter vorne aber (in e) nur das Nasoturbinale erkennen
lässt. Nach rückwärts aber setzen sich die Ethmoturbinalien
noch eine Strecke weit in den oberen Partien des offenen
Spaltes fort, um erst in dessen hinterem Abschnitt ganz zu
verschwinden. Wenn in diesem Entwickelungsstadium also Kth-
moidalien dort sitzen, wo gar kein Recessus sichtbar ist — es
fehli ja im vorliegenden Präparat überhaupt gänzlich —, so
spricht der Vergleich mit den früheren Stadien dafür, dass die
von den fraglichen Wulsten eingenommene Strecke der Nasen-
höhle dem früheren, teils schon nach unten eröffneten, teils
eben in der Eröffnung begriffenen Recessus entspricht und
dass der dahinter befindliche offene Abschnitt einem auch nach
der Wanddifferenzierung noch fortdauernden Wachstum des
Epithelschlauches nach rückwärts entstammt. Durch letzteres
würde ein hinterer glatter Abschnitt geschaffen, der jedenfalls
bestimmte Beziehungen zum späteren Epipharynx besitzt.
Die Verhältnisse der Fig. 17 bestätigen diese Auffassung:
in dem vordersten Teil des Recessus, k, sitzen gerade noch
die letzten Reste der Ethmoidalia, während der grösste Teil
der Recessuswandungen undifferenziert ist und sich anderer-
seits die eigentliche Ethmoidalwulstung weiter vorne über der
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 603
Choane (i) entfaltet: ein neuer Hinweis auf die ursprüngliche
Zugehörigkeit dieser Partie zum Recessus.
Es besteht also ursprünglich ein enges Ver-
hältnis des Recessus posterior zur Ethmoturbi-
nalanlage und dieses Verhältnis müsste weiter andauern
oder gar auf Lebenszeit bestehen, wenn dem Recessus beim
Menschen nicht gar so kurze Lebensdauer beschieden wäre.
Das ist ganz anders bei den niederen Säugern. Bei diesen
besteht der Recessus in der Reife fort, und entsprechend den
ursprünglichen Beziehungen zur Ethmoidalwulstung dient er
der grössten Menge der Ethmoidalia dauernd zur Behausung.
(Vgl. Fig. 1—3, in denen die mediale, aus dem hinteren Sep-
tumabschnitt gebildete Wand aufgeklappt bzw. weggeschnitten
ist, so dass der Recessus ganz frei liegt.)
Hand in Hand damit geht, dass diese hier eine relativ
viel grössere Ausdehnung erreichen, als beim Menschen. Bei
den niederen Säugern ähnelt also das Verhältnis der Ethmoidalia
zum Recessus posterior noch in der Reife demjenigen der
Frühentwickelung, beim Menschen ändert es sich, und zwar
deswegen, weil hier der ganze Vorderhirnschädelabschnitt die
grössten Veränderungen erfährt. Nach aussen zeigen sich diese
in der Ausbildung des „Gesichtes‘‘ an, dessen am meisten
charakteristische Funktion die Erhebung der Stirn nahezu in
die Frontalebene zugleich mit der in der Tiefe erfolgenden
Verlängerung des subfrontalen Basisanteils nach vorne darstellt.
Der dadurch bedingten Verschiebung der Lamina ceribrosa folgen
diejenigen Teile, an denen die Endausbreitungen des Riech-
nerven verlaufen, nämlich das hintere Drittel des Septum und
fast das ganze zweite (resp. dritte) Ethmoturbinale (Effie
Read [1908] S. 17) und entwachsen damit dem Bereiche des
Recessus. In der Ontogenese kommt dieser Vorgang nur indirekt
zum Vorschein: der Recessus, der ja durch diese Entwickelungs-
verhältnisse überflüssig wird, bildet sich — wie wir sahen,
604 L. GRÜNWALD,
sehr frühzeitig zurück: nur kurze Zeit hindurch deutet sich
in einzelnen Fällen die Vertiefung, der aber der Wulstinhalt
rasch entwächst, als parasphenoidaler Recessus
(Fig. 26) noch an, aber selbst jetzt noch fällt die stark rück-
wärtige Lage der Ethmoturbinalien, die sogar die (sekundäre)
Choane noch etwas nach hinten überragen, auf, während die
vordere Hälfte des Maxilloturbinale nach oben völlig frei liegt:
hier wie beim Säuger besitzen die letzteren Muscheln keine
Beziehungen zum olfaktorischen Bereich, gehören nur dem Ober-
kiefer an und teilen daher sein Verhältnis zur Schädelbasis;
Fig. %6.
Fötus von ca. 60 Tagen. r. p.-s. = recessus parasphenoidalis.
so lange diese den Oberkiefer nicht überragt, bleiben auch jene
von der Basis und ihren nasalen Anhängen nach oben hin frei.
Die im vorliegenden Präparat vom 60. Tage erreichte Höhe
der Entwickelung liesse sich annähernd als Indifferenz-
stadıum bezeichnen, von dem aus beim Menschen dann das
Vorwärtswachstum energisch einsetzt, während bei den niederen
Säugern im Gegenteil nur das junge Individuum kurze Zeit eine
Art von „Gesichts“bildung aufweist (s. Fig. 1 u. 3), aus der die
einseitig, ohne Mitwachstum des Stirnschädels verlaufende Aus-
bildung der Kiefer die tierische Physiognomie entstehen lässt:
das Entwachsen des Schnauzenteils aus dem Bereich der Basis,
innerhalb dessen aber die Ethmoturbinalia zurückbleiben.
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 605
III. Die Ethmoturbinalia des Menschen.
Reiche Gliederung sowie enge Beziehungen zum Riech-
nerven lassen diese Gruppe der Turbinalia als die wichtigste,
besonders in vergleichender Hinsicht, erkennen. Es wäre des-
halb, besonders im Hinblick auf Fragen der Stammesgeschichte,
eigentlich notwendig, die Verhältnisse der verschiedensten Men-
schenrassen zu erforschen. Es ist aber schon schwer genug
gewesen, das heimische Material in genügender Menge zu unter-
suchen und den nachfolgenden Bemerkungen zugrunde zu legen.
Dass es im grossen ganzen dem Verhalten des europäischen
Menschen überhaupt entspricht, lässt sich aus dem Vergleich
mit Mitteilungen der Forscher benachbarter Länder und auch
von Amerika entnehmen, wenngleich diese jeweils nur einem
Teile des (resamtmaterials entstammen.
I
Vergleichen wir nur eine kleine Reihe von menschlichen
Naseninneren der Erwachsenen, so fällt sofort eine Reihe von
Verschiedenheiten des Vorkommens auf, Verschiedenheiten, die
nur an der Hand einer grossen Individualreihe
nach ihrer Gesetzmässigkeit gewürdigt werden können. Schon
diese ohne weiteres sich ergebende Notwendigkeit zeigt den
durchaus problematischen Wert von Betrachtungen und Folge-
rungen, die auf der Kenntnis nur einiger oder bestenfalls weniger
Dutzend Individualfälle aufgebaut werden. Wir glaubten mil
der immerhin recht eintönigen Durchmusterung der Köpfe erst
dann Halt machen zu dürfen, als auch dıe seltener beobachteten
Vorkommnisse in unserem Gesichtskreis zu wiederholten Malen
auftauchten, so dass, mit vielleicht seltensten Ausnahmen, alle
Eventualitäten sowohl an sich, als ın ıhrem Verhältnis zur Ge-
samtzahl, sich darstellten }).
!) Die vorliegenden Beobachtungen entstammen 32 Präparaten aus dem
2. u. 8, 18 aus dem 4., 17 aus dem 5., 45 aus dem 6. u. 7., Si aus dem
S.—10. Intrauterinmonat; 22 aus dem Alter bis zu 9 Jahren; 133 von Er-
wachsenen; im ganzen also 348 Präparaten.
606 L. GRÜNWALD,
Dasselbe gilt in erhöhtem Masse für die Stufen der Ent-
wiekelung. Je näher dem ursprünglichen Zustande unsere Unter-
suchungen führten, desto deutlicher wurde auch hier das Vor-
handensein einer Anzahl von eigentümlichen, aber fast in jedem
Alter wiederkehrenden Formen erkennbar, von deren keiner
also hätte gesagt werden dürfen, dass sie „die“ Form der vor-
liegenden Altersstufe sei. Es konnte also zunächst für jedes
Entwickelungsstadium das Vorkommen einer Anzahl von Ge-
staltungstypen festgestelit werden, die untereinander, zwar
nicht dem prozentualen Vorkommens nach, aber nach der Ge-
setzmässiekeit ihres Auftauchens, durchaus gleichwertig er-
scheinen.
Was diesen Beobachtungen des Vorhandenseins verschie-
dener Typen aber erst ihren vollen Wert verlieh, war der Um-
stand, dass sie ın jeder Altersstufe immer wıiederkehrten, wenn-
gleich die frühen Entwickelungsstadien häufig, die frühesten
immer, eine scharfe Ausprägung nur der Hauptzüge aufweisen,
ın den feineren Formen aber mehr oder weniger Verwischungen
zeigen. Dieser Umstand hat es auch gestattet, die naturgemäss
viel schwierigere Untersuchung der Frühformen (an lücken-
losen Schnittserien und ın Rekonstruktionen) auf bedeutend
weniger (15) Individuen zu beschränken, da die Varianten sich
hier viel rascher erschöpfen. Dasselbe gilt für die postfötalen
Entwickelungsstufen: Schädel von Kindern sind einerseits viel
schwerer zu beschaffen, andererseits sind die an ihnen vor-
findlichen Gestaltverschiedenheiten der Muscheln kaum mehr
von denen der Erwachsenen zu trennen.
Die sonach erschöpfend durchgeführte Untersuchung sämt-
licher Entwickelungsstufen hat weiter zu der Erkenntnis ge-
führt, dass den verschiedenen, wie schon erwähnt, jedem Alter
eigentümlichen Gestaltungstypen ganz gleiche bzw. nur, der
Entwickelung entsprechend, ähnliche Typen der anderen Alters-
stufen entsprechen, mit anderen Worten, dass eine Anzahl
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 607
von-Typen durch dieganze Entwickelung durch-
laufen.
Sobald dies zu klarer Erkenntnis gekommen war, wurde, auch aus diesem
Grunde, die Möglichkeit hinfällig, sich Killians Ansichten anzuschliessen.
In seinen Beobachtungsreihen war natürlich auch ihm die große Anzahl ver-
schiedener Bilder aufgefallen, ihre scheinbare Regellosigkeit liess ihm aber
die Deutung mehr oder weniger vollkommener Rückbildungsvorgänge aus
einem (tierischen) Frühtypus, seinen evolutionischen Voraussetzungen ent-
sprechend, zu. Wie immer die Entwickelung stattgefunden habe, dass sie
nicht auf eine einzige Frühform zurückzuführen ist, das geht mit Sicherheit
aus unserer Typenreihe hervor.
Die Gesetzmässigkeit im Vorkommen einer grösseren Reihe
von Gestaltungen des Reifealters nötigt dazu, eine jede einzelne
dieser Gestalten besonders zu kennzeichnen. Der Umstand, dass
jeweils mehrere von ıhnen im Laufe der Entwickelung sich
nur als Differenzierungen gröberer Formen darstellen, gestattete,
die Zahl der Typen (die unter sich keinen wesentlichen Zu-
sammenhang mehr zeigen) auf nur vier zu beschränken und
schliesslich in der Hauptsache zwei Gruppen zu unterscheiden.
Näher auf diese Verhältnisse einzugehen und sie zu be-
gründen, gestattet erst die unten folgende zusammenhängende
Darstellung; einzelne Hauptzüge mussten schon vorwegge-
nommen werden, weil jener zunächst eine Auseinandersetzung
mit den bis heute massgebenden, aber sehr abweichenden An-
schauungen Killians vorausgehen muss, von denen anderer-
seits einiges, als bleibender Erwerb, auch in unsere Auffassung
übergehen durfte.
a) Die bisher geltende Lehre von den Siebbeinmuscheln
des Menschen.
Zunächst ist der prinzipielle Gegensatz unserer (mit der-
jenigen Peters übereinstimmenden) Auffassung und der von
Kıllıan und Paullı vertretenen hier nochmals mit aller
Schärfe festzulegen : Diese rechnen das Nasoturbinale den Sieb-
beinmuscheln, deren Zahl dadurch allein schon um eine ver-
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft. (54. Bd., H. 3.) 40
608 L. GRÜNWALD,
mehrt wird. hinzu. Dass und warum das nicht zulässig ist,
wurde schon oben (S. 593) erörtert. Dass es überhaupt ge-
schehen konnte, erklärt sich allein schon daraus, dass die
Nomenklatur nicht allein, sondern auch die anatomische Be-
trachtung dieser Autoren auf das Skelet zurückgreift und da-
mit auf sehr spät zur Entwickelung kommende Verhältnisse;
selbst die frühesten Kıllıanschen Rekonstruktionen be-
treffen solche, ausschliesslich in der Tiefe sich abspielende Vor-
gänge und Zustände. Erst die mit Peter beginnende Unter-
suchung frühester Stadien liess die primäre Existenz von
Furchenbildung der Oberfläche, bevor noch in der Tiefe Ver-
änderungen sichtbar werden, erkennen.
Zwar kann ich mich Peters Anschauung, dass die später
als Siebbeinmuscheln ıimponierenden Einzelwülste nur durch
Tieferdringen dieser Furchen aus der vorhandenen Gewebsmasse
in vollem Umfange herausgeschnitten werden, nıcht rückhaltlos
anschliessen; das verbietet schon die Betrachtung einzelner
Exemplare frühester Stadien, die bereits schmale Vorragungen
zwischen breiten Gruben zeigen, deren gegenseitige Entstehung
doch nur durch einen mindestens gleichwertigen Vorgang von
Vertiefung einerseits, (Gewebsvermehrung der Vorragungen
andererseits erklärbar ıst (vel. Fig. 18, 19 ete.); ferner müsste
das Bild, soweit es durch Herausschneiden allein erzeuebar ist.
mehr oder weniger einer Basreliefform entsprechen, d. h. die
Oberfläche müsste nahezu eben oder doch, auch in späteren
Stadien, nahezu den frühesten Stadien gleich gestaltet sein. Das
trifft (im Gegensatz zu manchen derartigen Bildern bei Tieren |
u. a. beim Menschen nicht zu, und zwar schon in sehr frühen
Zeiten (s. Fig. 27); speziell aber und ausschliesslich beim sog.
l,obulus (s. u.) der ‚mittleren‘ Muschel, der sich als Hautrelief
plastisch von der im übrigen noch ziemlich flachen Umgebung
abhebt (s. Fig. 30). Dass in späteren Zeiten auch ein selbst-
verständlich nicht nur absolutes, sondern auch relatiıves Wachs-
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 609
tum der ausgeformten Muschelmassen besteht, davon ist hier
abzusehen ; die angeführten Tatsachen beweisen das Vorhanden-
sein solcher Vorgänge auch in Anfangsstadien.
Doch besteht trotz der Betonung dieser Abweichung durch-
aus kein prinzipieller Gegensatz zwischen meiner und Peters
Auffassung: gestaltgebend ist und bleibt, zwar nicht
ausschliesslich, aber primär und auch weiterhin die
bereits in der indifferenzierten Gewebsmasse
E.-T. I
\
Fig. 27.
Embryo von 11 mm Ges.-Länge. Frontalsehnitt. Linke Seite,
E.-T. I= Ethmoturbinale primano.
erkennbare Furche. Der Inhalt, das Skelet, der zwischen
den Furchen ausgeschnittenen Masse, bildet sich zeitlich se-
kundär und kann demnach nicht, selbst soweit es aus Primordial-
knorpel besteht, das Kriterium der Entwickelungsvorgänge ab-
geben, schon weil es den frühesten fehlt. Alle Folgerungen, wie
sie Kıllıan aus den frühesten, von ihm rekonstruierten Skelet-
bildern, Paulli gar nur aus dem reifen Skelet zieht, sind da-
mit für eine voll evolutionistische Darstellung hinfällig.
Wir müssen die Gliederung der primitiven
Ethmoturbinaliaallein auf die Furchen stützen.
Aber auch auf die Verhältnisse späterer Entwickelungs-
stufen und der Reife darf dasselbe Einteilungsprinzip übertragen
40*
610 L. GRÜNWALD,
werden, weil, wie die nachfolgende Einzelerörterung ergeben
wird. hier dieselben Furchen, soweit sie als Haupt- oder Teil-
furchen zu bezeichnen sind, erhalten bleiben und nur die se-
kundären und accidentellen Furchen (s. 0. 5.576) verschwinden.
In der Anerkennung eines solchen qualitativen Unter-
schiedes in der Furchenbildung liegt ein weiterer prinzipieller
und erklärender Gegensatz zu Killıans Darstellung, dass,
bei qualitativ unfraglicher Gleichheit aller Furchen, nur ein
formaler Unterschied zwischen Hauptfurchen der Oberfläche
und Nebenfurchen der Tiefe (dementsprechend oberflächlichen
Haupt- und verborgen liegenden Nebenmuscheln) vorschwebt.
Killians, auf die Voraussetzung der ım wesentlichen
völligen Identität tierischer und menschlicher Verhältnisse ge-
stützte Lehre vom Siebbein lässt sich folgendermassen zu-
sammenfassen:
An den reifen Siebbeinmuscheln der Säuger läßt sich eine längere, dor-
salwärts gerichtete und eine kürzere ventral gerichtete Kante unterscheiden,
denen gleichlaufende Furchen entsprechen (vgl. Fig. 2, 3).
Beim Menschen ändern sich, entsprechend der Umlagerung der Lamina
cribrosa aus einer steil aufrechten in wagerechte Lage, die Richtungen sowohl
dieser Kanten, als der entsprechenden Furchen und ausserdem wird die Ge-
stalt der von letzteren eingeschlossenen Wülste durch die Umlagerung wesent-
lich, ja fast bis zur Unkenntlichkeit geändert, wozu besonders noch die Ver-
kürzung der oberen, beim Menschen vorderen, Kante zugunsten der unteren
beiträgt. An den so neu orientierten Gebilden ist ein auf- und ein ab-
steigender Schenkel bzw. Äst zu unterscheiden, und zwar sowohl
an Muscheln als an Furchen.
Diese rein semiotischen Bezeichnungen drücken die sıcht-
baren Verhältnisse im allgemeinen sehr gut aus und werden
daher hier, wie bei früheren Autoren, weiterhin gebraucht,
nur mit der Modifikation, dass wir anstatt von absteigenden
bzw. aufsteigenden Schenkeln und Ästen besser von hin-
teren und vorderen sprechen, da letztere nicht selten einen
ganz horizontalen, zur Schädelbasis parallelen Verlauf zeigen.
Nun sind aber die ursprünglichen Verhältnisse beim Menschen schon
derart reduziert, dass sie, auch auf frühen Entwickelungsstufen bereits, nur
zum Teil mehr deutlich, teilweise aber nur mehr lückenhaft erscheinen. Be-
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 6ll
sonders die aufsteigenden Furchenschenkel verschwinden ganz oder büssen
ihren zusammenhängenden Verlauf ein; jedoch bleibt vielfach noch so viel
von ihnen übrig, dass der eigentliche Gesamtverlauf daraus hergestellt werden
kann: wo auch das nicht mehr möglich ist, sind sie nach dem aus weniger
rudimentären Bildungen konstruierten Schema zu ergänzen.
So gelangt Killian zu dem Ergebnis, dass im Laufe der ganzen Entwicke-
lung 6 Hauptwülste (nebst den entsprechenden 6 Hauptfurchen) erkennbar
oder doch ergänzbar sind (immer das N.-T. mitgerechnet), deren phylogenetische
„Verwachsung‘‘ weiterhin eine definitive geringere Zahl von Wülsten ergibt.
Die auch Killian selbst nicht unbedenkliche, weil zu
Missverständnissen verleitende Annahme phylogenetischer „Ver-
wachsung“ der Wülste würde, unserer Auffassung der primi-
tiven Existenz der Furchen entsprechend, besser durch den
Ausdruck phylogenetischen Verstreichens der
Furchen ersetzt.
Abgesehen hiervon, bestehen erhebliche Einwände gegen
die Konstruktion der sechs (bzw. 5!) Hauptwülste, wenn man
die von ihrem Autor selbst angeführten Unterlagen auch nur
quantitativ würdigt:
ls besteht an sich kein prinzipielles Bedenken dagegen,
auch rudimentäre Formen zu homologisieren; doch sind ge-
rade solche Formen mit äusserster Vorsicht zu verwerten und
müssen mindestens mehrfach beobachtet und ihrem Vorkommen
nach einwandfrei sein, um beweiskräftig zu wirken.
In Killians Sammlung befindet sich aber nur ein eıin-
ziges Präparat, „welches gleichzeitig alle sechs Haupt-
furchen zeigt, wenn auch zum Teil in mangelhafter Ausbildung
(wie namentlich die vierte)“. Das ist doch wohl zu wenig, be-
sonders wenn man weiss, dass gerade für diese vierte Furche
kein Vollbeispiel zur Verfügung steht; ihr aufsteigender Ast
findet sich nirgends in Killians Beobachtungen vollausge-
bildet vor: „Seine Existenz und sein Aufsteigen bis ins Bereich
der Lamina ceribrosa sind jedoch durch die lurchenreste in
den Figuren 3 und 4 hinreichend dargetan“ (sic!). Die Ver-
einzelung dieser Vorkommnisse allein schon, abgesehen von
612 L. GRÜNWALD,
ihrer Undeutlichkeit, würde ihre Beweiskraft unzulänglich er-
scheinen lassen.
Ebensowenig als die Annahme der hohen Zahl der Haupt-
furchen und damit der Hauptwülste, kann die weitere Folge-
rung Killians zugelassen werden: „Somit haben alle
sechs Hauptfurchen ursprünglich einen zur La-
mina cribrosa aufsteigenden Ast besessen.
Die Bedeutung dieser Aufstellung wird erst dann klar, wenn
man sich daran erinnert, dass die Siebbeinmuscheln der Säuger
je eine dorsale und ventrale Kante besitzen, denen bei voller
Homologie des Menschen ein auf- und ein absteigender Furchen-
teil entsprechen müsste (vgl. Fig. 1—3 mit Fig. 43).
Tatsächlich ist das auch an mehreren Furchen zu beob-
achten, ebenso wie der den auf- vom absteigenden Furchen-
teil trennende, von Killian „Knie“ benannte Winkel; aber
nicht in der Anzahl, wie sie nach Killıan ver-
forderlich wäre, um den Nachweis der Existenz von
sechs aufsteigenden Ästen (s. o.) zu liefern. Tatsächlich
verlaufen Killians ‚fünfte und sechste“ Haupt-
furche nämlich ganz geradlinig und das für ihre
HomologisierungerforderlicheKnieistnurkon-
struiert: Eine die Knie der 1.4— „Hauptfurche“ verbın-
dende Linie schneidet an der 5. und 6. „Hauptfurche‘“ obere
Stücke ab; diese oberen Abschnitte „entsprechen demnach dem
fünften bzw. sechsten Ramus ascendens“.
Das ist eine Konstruktion von blendender KEindrucksfähig-
keit, aber kein Befund von zwingender Beweiskraft! —
Immerhin liegt, trotz der Anfechtbarkeit dieser Konstruk-
tionen, soviel erklärender Sinn in der Durchführung der Homo-
logie, dass man geneigt sein könnte, ausser über den Wert
der rudimentären Formen auch über die Schwäche mancher
Beweisversuche hinwegzugehen. Wie steht es aber mit den
der angeblichen Homologie zugrunde liegenden (regenwerten ?
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 613
Besitzen die Säuger überhaupt oder wenigstens die dem Genus
homo zunächst stehenden Arten sechs Siebbeinmuscheln ?
Weder das eine noch das andere ist der Fall:
Erstens sind diese Verhältnisse bei einer ganzen Anzahl
von Säugerarten verschieden: Die Chiropteren, Insectivoren
und Hyracoıden haben 4, die Carnivoren teils 4, teils 6, die
Pinnipodien 5 Siebbeinmuscheln ; unter den Edentaten gıbl es
Species mit je 5, 6, 7 und 8 Ethmoturbinalien (immer das
N.-T. mitgerechnet), unter den Nagern solche mit je 1, 2, 3
4, 5 und 6 Wülsten. Von den dem Menschen nahestehenden
Arten endlich tragen die Prosimier 5, die Primaten je 2, 3
und 4 Sıebbeinwülste, bei manchen lässt sich mit Sicherheit
nur ein einziger unterscheiden! In der durch die ganze Säuger-
reihe ziehenden Vierzahl der Extremitäten, also einer kon-
stanten Grösse, liegt wohl das Postulat, eine Homologie
auch dort zu finden, wo sie zunächst durch rudımentäre Bil-
dung verschleiert ist; in der ganzen Reihe inkon-
stante Befunde aber können keine Homologie-
Ansprüche erheben. Mit dieser Feststellung allein fällt
der beste Teil der Kıllianschen Konstruktionen, ihr ge-
danklicher. —
Den Killianschen Betrachtungen liegt durchweg der Ge-
danke zugrunde, dass seine Befunde nur so, wie er sie darstellt,
gedeutet werden können und nicht anders. Er legt auch be-
sonderen Wert auf die Kontrolle, die er selbst der Richtigkeit
der als Beweisobjekte dienenden Zeichnungen gewidmet hat.
Das Ergebnis dieser Beobachtungen ist die Gleichwertigkeit und
damit Eindeutigkeit aller der von ihm und seinem Zeichner ge-
sehenen Furchen und Wülste. Ich kann diese Eindeutiekeit
nicht anerkennen. Die gleichen Befunde stellen sich, mir wenig-
stens und wie ich denke manchem Betrachter, ganz anders dar,
besonders da, wo sie sich in der unretouchierten photographi-
schen Platte widerspiegeln. Zwar schaltet auch diese die ge-
614 L. GRÜNWALD,
dankliche Subjektivität in der Deutung nicht aus, doch kommen
die auf diese Weise gewonnenen Abbildungen immerhin der
Objektivität näher. Eines wird man sicher aus ihnen ersehen:
den nicht geringen Spielraum für Deutungen, der allein schon
es ausschliesst, jeder während der Entwickelung auftretenden
F"urchenbildung ohne weiteres tiefen, phylogenetischen Wert zu-
zubilligen. Wollten wir letzteres tun, so müssten wir bald For-
derungen erheben, die weit über Killians Schemata hinaus-
gingen:
Es finden sich nämlich mehrfach Furchen- und Wulst-
bildungen von genau demselben (hohen oder geringen) morpho-
logischen Wert, wie die von Kıllıan beschriebenen, auch
Schwelle _
Fig. 28.
an anderen Stellen: In Fig. 29 (s. S. 617) schnürt sich un-
mittelbar hinter der ziemlich seichten Furche a eine etwas mehr
geneigt verlaufende tiefere b ab; während die erstere nach Lage
und Verlauf dem Rudiment eines Crus ascendens S3Killians
entsprechen würde, ist es ganz unmöglich, die b-Furche mit
irgend einem Crus ascendens zu identifizieren. In Fig. 28 sieht
man aufs schärfste ausgesprochen eine eigentümliche Bildung,
der wir ın mehr oder weniger deutlicher Ausprägung sonst
noch mehrfach (14 mal) begegnet sind: der obere Teil der
Seitenwand ist durch eine ziemlich stark vorspringende
Schwelle gegen den unteren, die Muschelwülste tragenden
Teil abgegrenzt. Kein Zweifel, dass dieser obere Abschnitt mit
Muschel- und entsprechender Furchenbildung gar nichts zu
tun hat. Und doch finden sich hier eine Anzahl zur Lamina
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164, Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 48.
Fig. 17.
Einbryo von 23 mm Ges.-Länge.
Se
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden,
I
RN KR
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 615
cribrosa hinziehender Gruben, die schliesslich jeder Deutung
zugängig wären.
An derselben Stelle der Fig. 45 findet sich eine ziemlich
tiefe Furche, darüber einige seichtere. Besonders interessierl
die nahezu horizontale Tiefenfurche, da sie sehr an diejenige
in Killians Fig. 4 erinnert, wo sie als Urus ascendens 4 an-
gesprochen wurde (s. ©. S. 611).
Ähnliche multiple Furchen, die aber nur auf gewaltsamste
Weise einem Schema einzupassen wären, sieht man in Fig. 43,
ebenso auf dem vorderen Teil der Basalplatte in Fig. 52.
Die Anerkennung känogenetischer Vorgänge würde uns
hier aus der Verlegenheit helfen. Da wir aber gar nicht im-
stande sind, den Erscheinungen irgend einen plausiblen Wert
beizulegen, ist es jedenfalls besser, unsere lenoranz einzuge-
stehen, als gewaltsam zu deuten; besonders dort, wo solche
Vorkommnisse nur vereinzelt auftauchen.
Anders mit Erscheinungen, die immer oder doch häufig
in der Entwickelung wiederkehren. Für sie werden wir gerne
Erinnerungsbilder zur Erklärung verwenden, ohne zu vergessen,
dass jede neue („höhere“) Art auch im einzelnen sich nach
neuen, nur ihr eigenen Gesetzen formen können muss, sonst
wäre ja ihrer Erscheinung nichts eigentümlich.
All die anderen, eben geschilderten Formen sind für uns
nunsarceıidentelle (s. S. 576).
b) Die Typen der Siebbeinmuschelformen.
Auch am Basalwulst (s. S. 579) des Menschen unterscheiden
wir, wie im allgemeinen, Haupt- und Teilwülste und Furchen
als dauernde - , sekundäre und aceidentelle als vorübergehend
vorhandene Formen.
Jede kann entweder einen vorderen und einen hinteren
Schenkel bzw. Ast besitzen oder ungebrochen verlaufen.
616 L. GRÜNWALD,
Letztere Bezeichnung ziehe ich derjenigen Killians vor, der in solchen
Fällen vom Vorhandensein nur eines absteigenden Schenkels bzw. Astes spricht.
Das setzt voraus, dass der aufsteigende Teil phylogenetisch vorhanden gewesen
und nur verkümmert sei. Nach meiner Auffassung aber darf einerseits gar
keine Voraussetzung in die Darstellung hereinspielen, anderseits spricht gegen
die Richtigkeit dieser Voraussetzung im besonderen der Umstand, dass bei
allen mehr- oder vielmuscheligen Säugern die letzte, oft auch die vorletzte
Furche ohne Winkel verläuft. Auch hier fehlt also einer angenommenen Ver-
kümmerung der phylogenetische Gegenwert.
Mit Killian darf man annehmen, dass bei den Säugern dem (,„aufsteigen-
den‘) vorderen Schenkel jedes (gebrochenen) Wulstes der obere, von Schwalbe
als Stiel, dem (‚‚absteigenden‘‘) hinteren Schenkel der untere, von diesem als
Haftfalte bezeichnete Teil entspricht.
Ebenso kann der Ausdruck „Lobulus“ für jenen öfter zu
beobachtenden läppchenartigen Vorsprung am „Knie“ der
menschlichen Muschel unbedenklich übernommen werden.
Selbstverständlich setzt also die Erwähnung eines Liobulus
voraus, dass der betreffende Schenkel und die ıhm zuge-
hörige Furche gebrochen verlaufen.
Wenn man nicht vorgreifen will, darf man die innerhalb
der Entwickelung sichtbaren Formen nicht bereits als Haupt-
oder sekundäre Gebilde bezeichnen, da ja zunächst noch frag-
lich bleibt, ob sie dauernden Erscheinungen des Reifealters ent-
sprechen, oder sich in diesem nicht mehr vorfinden. Hier
müssen wir uns damit begnügen, zunächst nur von tiefen oder
Schnür-Furchen und vorspringenden oder vollen Wülsten rein
erscheinungsmässig zu sprechen, denen seichte Furchen gegen-
überstehen, die nur basreliefartig in die Masse einschneiden,
ohne dass ihnen vorspringende Wülste entsprächen.
Dies vorausgeschickt, trifft man im gesamten fötalen Ma-
terial wenigstens eine und höchstens zwei tiefe
Furehen an und kann hiernach zweı Hauptgruppen unter-
scheiden, innerhalb deren sich wieder die ungebrochenen Fur-
chen von den zweiästigen abheben.
Danach begründet sich folgende Einteilung:
Die Nasenmuscheln des Menschen etc.
617
Gruppe A. Es existieren (primär) 2 tiefe Furchen und
3 volle Wülste.
1: Untergruppe: Eine oder beide Eurchen ver-
laufen gebrochen:
Typ la. Beide Furchen sind gebrochen, haben also je
einen vorderen und hinteren Ast, die Wülste sind dement-
sprechend durch je einen Lobulus markiert: Fig. 29. Es kommt
Fig. 31.
vor, dass die zweite (hintere) Furche sich nur durch ihren vor-
deren Ast markiert, während der hintere kaum oder gar nicht
hervortritt: Fig. 30.
Typ Ib. Nur eine Furche zeigt gebrochenen Verlauf, dem
die Bildung eines Lobulus am Knie des darüberliegenden
Wulstes entspricht.
Von den beiden in diesem Bereiche liegenden Möglichkeiten
ist in meinem Material nur die eine vorgekommen, dass näm-
lich die erste (untere) Schnürfurche ungebrochen bleibt, der
618 L. GRÜNWALD,
Lobulus sonach am zweiten Wulst fehlt, nur dem dritten (hin-
tersten) aufsitzt: Fig. 31. Auch bei diesem Typ kann die Aus-
bildung des hinteren Schenkels des dritten Wulstes ausbleiben,
so dass er seitlich fast verschwindet: Fig. 32. (In der Reife
ist dieser Typus verschwindend selten; in meinem Material,
ebenso in der Literatur, stellt der in Fig. 33 abgebildete Fall
ein Unikum dar.)
2. Untergruppe: Beide Furchen verlaufen unge-
brochen. |
Die Furchen erreichen mit ihrem vorderen Ende noch
die freie Oberfläche des Basalwulstes:
Typ Ila. Die zweite Furche ist nach oben convex ausge-
buchtet, so dass der dritte Teilwulst median mehr oder weniger
stark vorspringt: Fig. 34, 35. (In der Reife ist dieser Typus
nıcht selten anzutreffen, er stellt sich beim Erwachsenen in
derselben Form wie beim Kinde dar: Fig. 36.)
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 619
Typ IIb. Die zweite Furche schneidet nur ganz seicht
ein, so dass der dritte Teilwulst nur wenig vorspringl (Fig. 37),
oder nur mehr angedeutet wird: Fig. 12.
Fig. 39. Fig. 40.
Fig. 41. Fig. 42.
Typ He. Die zweite Furche verläuft nahezu oder ganz
parallel zur Schädelbasis: der zweite Teilwulst ist meistens
sehr schmal: Fie. 38, 39. (Letztere Erscheinung gibt dem ın
der Reife erhaltenen Typus seinen besonderen Charakter:
Fig. 40.)
620 L. GRÜNWALD,
Ill. Die zweite (hintere) Furche erreicht die freie Fläche
des Basalwulstes nicht mehr; ınfolgedessen verschwindet der
zweite Teilwulst seitwärts ın der Tiefe:
Fig. 48.
Typ IHla. Die zweite Furche ist stark vertieft bzw. ver-
breitert und dementsprechend der zweite Teilwulst wohl aus-
gebildet: Fig. 41. (In der Reife kommt dieser Typus zwar sehr
selten, aber in guter Entwickelung vor: Fig. 42.)
Typ Ilb. Zweite Furche und zweiter Wulst zeigen nur
mehr rudimentäre Andeutung: Fig. 43.
Gruppe B. Es existiert (primär) nur eine tiefe Furche
zwischen zwei vollen Wülsten.
Diese einzige Furche könnte verschiedenartig verlaufen ;
jedoch kam bisher nur ein einziger
Typ IV zur Beobachtung, der einen gebrochenen Verlauf
Fig. 44.
der Furche zeigt; wobei der vordere Ast aber anstatt nach oben,
sıch nach vorne wendet, so dass, im Gegensatz zu den Typen I,
der Winkel nicht nach oben, sondern nach unten sich öffnet.
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 621
Auch hier kann die Furchenbildung die Fläche des Basal-
wulstes erreichen (Fig. 44) oder hinter ihr zurückbleiben, in
welch letzterem Falle der zweite Teilwulst in der Tiefe ver-
schwindet: Fig. 45.
Das Bild des Typus wird wesentlich durch die reiche Aus-
bildung accidenteller Furchen und Wülste, auf die weiter unten
zurückzukommen ist, getrübt; erst wenn man sich diese weg-
denkt, ergibt sich die klare Erscheinung des Typus, der in der
teife dann am häufigsten in Form zweier Siebbeinmuscheln
Siehrdarstellt. ==
Fig. 45.
Überblickt man die durch die Anordnung einigermassen
übersichtlich gewordenen Formenmengen, so ist es zunächst
die Möglichkeit der Gruppierung in Individuen mit zwei und
mit drei Wülsten, die ihre wahre Bedeutung dadurch erhält, dass
wir jede dieser beiden Hauptformen in jeder Altersstufe der
Entwickelung sowohl als wiederum beim erwachsenen Men-
schen antreffen.
Nun ist zwar, wie ein Blick auf Tabelle I lehrt, die Zahl
zweiwulstiger Individuen in der Vollreife gegenüber der drei-
wulstiger relatıv unvergleichlich grösser als während der Ent-
wickelung und besonders auf einzelnen ihrer Stufen. Es lässi
sıch also ohne weiteres annehmen, dass ein Teil der Zweiwulst-
bildungen durch Reduktion aus drei primären Wailsten hervor-
gegangen ist; aber nur ein Teil. Für den anderen Teil besteht
622 L. GRÜNWALD,
bereits in der frühesten Differenzierung die Grundlage in Form
zweier wohlgebildeter Wülste, wie wir ihnen dann in jeder
Altersstufe wieder begegnen (vgl. Tabelle I). Es gibt dem-
nach von vornherein und dauernd Individuen
mit zwei rund andere - mit .drer ethmoidalen
Wülsten!).
Dies von vornherein festgestellt, empfiehlt es sich, erst zu
untersuchen, ob in dem durch die beschriebenen Typen darge-
stellten Formenreichtum nicht noch weitere vereinfachende Züge
erkennbar sind, bevor wir dem Verhältnis der Dreimuschel-
formen zu den Zweimuschelformen ım ganzen nähertreten.
Mehrfach lässt sich beim Vergleich der einzelnen Typen
die Richtung zu bestimmten Entwickelungen hin feststellen:
1. Typ Ib findet sich bereits am 75., weiter am 80., 105.,
108 und 110. Tage, am Ende des 5. Monates, im 6.—-7., 8.—10.
Monate. In Gegensatz zu der Häufigkeit dieses Typus während
der Fötalperiode steht es, dass er bei den Kindern meiner Be-
obachtung gar nicht, bei Erwachsenen nur ein einziges Mal
(Fig. 33) gesehen werden konnte. Es muss demnach die Ent-
wickelungstendenz dieses fötalen Typus im allgemeinen in einer
ganz anderen Richtung liegen: man braucht sich nur den Lo-
bulus des dritten Hauptwulstes verstrichen zu denken, um
sofort den durch Typus Ila in der Reife repräsentierten Ab-
schluss erzielt zu sehen. Es ist demnach wahrscheinlich, dass
ein Teil der nach diesem letzteren Typus gebildeten Reife-
zustände auf dem Umwege über den Typus Ib durch Reduk-
tıon zustande gekommen ist.
!) Diese Tatsache hatte ich (als vorläufige Mitteilung) bereits im Jahre
1910 im Manuskript zu Bd. IV der Lehmannschen Handatlanten, Teil I,
S. 43 niedergelegt, der dann im November 1912 im Druck erschien. Unter-
dessen hat auch Peter (1912) den bis dahin von ihm eingenommenen Standpunkt
Killians (s. o.)„.aufgegeben und die Höchstzahl von 3 Hauptmuscheln aner-
kannt. Wenn Peter (1913) neuerdings die dritte Muschel nur als ‚‚,Nebenmuschel“
bezeichnet, so fehlt dafür sowohl Definition als Begründung.
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 623
Da der Typ la ebenfalls nur (ausschliesslich) fötale Exi-
stenz aufweisen kann und seine Reduktion, durch Verstreichen
der beiden vorhandenen Lobuli, zu demselben Bilde führen
muss, darf auch für diesen Typus die gleiche Annahme Platz
greifen: er dient höchstwahrscheinlich ebenfalls nur dem
Typus Ila der Reife als Vorläufer.
2. Im übrigen entsteht jedenfalls ein Teil der nach
Typus lla, also als dreiwulstige, ausgebildeten Formen der
Reife auf geradlinigem Wege ohne zwischentretende Reduk-
tionen; denn bereits mit 90, dann mit 115 Tagen, weiter im
ganzen Verlaufe der Entwickelung, lückenlos, tritt der fragliche
Typ auf. Wenn dabei der Prozentsatz seiner Häufigkeit mit
zunehmendem Alter wächst (s. Tabelle II), so entspricht das
gut der Vermutung, dass ihm eben unterwegs sukzessiv Zu-
wachs aus den Formen la und Ib entsteht.
Das Endergebnis dieser Formenkonvergenz bzw. Formen-
gebung ist in der vollen Ausbildung dreier Hauptwülste —
mittlere, obere und oberste Muschel — zu suchen, deren tiefe
Zwischenfurchen — ‚obere‘ und ‚oberster‘ Gang — Raum
und Gelegenheit zu ausgiebiger Ausdehnung in die Tiefe —
Pneumatisierung -—- gewähren.
3. Als nächste geschlossene Reihe stellt sich der zum
Typus Ile konvergierende Komplex 'IIb, Il b’, Ice dar {siehe
Tabelle II). Im ganzen Fötalstadium finden sich Repräsen-
tanten dieser durchweg mehr oder weniger dem in Fig. 40
dargestellten Bilde, welches dem Typus Ile angehört, ähneln-
den Formationen. In der Vollreife, bei Erwachsenen findet
sich dieser letztere Typus in 10% der Fälle, in der Unreife da-
gegen nur in 5% vor (s. Tabelle II). Vorläufer dieses Typus
müssen daher in den anderen, ähnlichen, Typen IIb und IIb’
gesucht werden. Jedoch ist das Gesamtvorkommen der Typen
IIb—e mit 23% wiederum zu hoch, um den 10% der Reife
zu genügen. Es kann also nur ein Teil des Komplexes zur
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H. 3), 41
624 L. GRÜNWALD,
Bildune von Ile verwendet werden, 18% müssen einem an-
deren Endziel zuneigen; welchem, werden wir gleich weiter
unten zu erörtern haben. Wahrscheinlich ist es, dem ganzen
Anblick nach, dass im wesentlichen der Typus Ilb (oder doch
ein Teil von ihm) der progressiven, in Vertiefung der zweiten
Hauptfurche bestehenden Veränderung unterliegt, die dann mit
IIc zusammen zu folgendem Endergebnis führt:
Es existieren drei Hauptwülste -—- mittlere, obere und
oberste Muschel deren oberster aber nur wenig ausgeprägt
erscheint; dementsprechend zwei Hauptfurchen —- „oberer“
und „oberster“ Gang —-, deren obere aber keine Tiefenaus-
dehnung voraussehen lässt.
Noch in der Reife wird man daran erinnert, dass ein Teil
des hier allein herrschenden Komplex-Typus aus Ib, ein an-
derer aus Il c hervorgegangen sein muss, Je nachdem die zweite
Hauptfurche (oberster Gang) mehr gebogen oder gerade verläuft.
Doch gestatten diese nicht sehr erheblichen Unterschiede jeden-
falls keine Differenzierung des Endtypus.
4. Eine völlig lückenlose Reihe stellt der Typus llla im
lötalleben vor, wo er noch dazu in der verhältnismässig er-
heblichen Häufiekeit von 14% auftrıtt. Um so auffallender er-
scheint sein geringzähliges Vorkommen mit nur 1,500 ın der
Vollreife. Es muss also der grösste Teil der nach IlTa ge-
bildeten Formen Veränderungen erleiden, die sie zu ganz
anderen Bildungen führen. Das können nur Reduktionen sein,
denn der ganze Tvpus trägt bereits einen rudimentären
Charakter zur Schau: der mangelhaft und nur ım hinteren
(absteigenden) Teile mehr entwickelte zweite Hauptwulst ver-
schwindet unter der freien Fläche des dritten Hauptwulstes.
Das überaus seltene Vorkommnis, dass diese Reduktion in der
Reife noch nicht völlig durchgeführt erscheint (Fig. 42), ist
ohne Kenntnis des fötalen Bildes kaum verständlich ; man würde
zur bequemen, aber durch nichts bewiesenen Annahme einer
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 625
„Nebenmuschel“ zu greifen haben. Tatsächlich ist das, wenn
auch sehr seltene Endergebnis der Entwickelungsreihe Ill a dies:
Zwei Wülste, deren mittlerer aber so reduziert in der Grösse
ıst und gegen die Oberfläche zurückweicht, dass praktisch nur
von zwei Hauptwülsten und einem Zwischenwulst gesprochen
werden kann; infolgedessen auch nur eine, zwischen dem
unteren Haupt- und dem Zwischenwulst gelegene Furche. Mit
anderen Worten: mittlere und oberste, dazwischen verborgen
die verkümmerte obere Muschel; von Gängen nur der „obere“
vertieft und zu weiterer Tiefenausdehnung geeignet.
Was geschieht nun mit den übrigen 12-13% des Typus
Illa, wo führt die völlige Reduktion seiner rudimentären
Formen hin? Verstreicht der ohnedies nur wenig vorspringende
zweite Wulst, so konfluieren einerseits die vorher durch ihn
geschiedenen zwei Furchen zu einer einzigen, andererseits treten
nur zwei Hauptwülste mehr hervor: mittlere und oberste
(nicht obere) Muschel, dazwischen ein Gang, der genetisch
entweder als „oberer“ oder als Konfluenz von ‚oberem“ und
„oberstem“ Gange aufzufassen ist. Dass dieser restierende
oder konfluierende Gang erheblich weiter sein muss als ein
solcher, der in gewöhnlicher Weise zwischen zwei wohlaus-
gebildeten Wülsten entstanden ist, und dass hier der Tiefen-
ausdehnung ein besonders weites Feld offen steht, darf man
ohne weiteres annehmen.
Äusserlich betrachtet, sind die auf diese Weise entstandenen
Reiteformen praktisch nicht von denen nach Typus IV zu unter-
scheiden ; ebensowenig als diejenigen, die durch Reduktion
aus dem Typus IIlb hervorgehen. Dieser, von dem überhaupt
nur das Fötalleben, noch dazu wenige, Exemplare aufweist,
führt zur gleichen Gestaltung, wenn auch auf anderem Wege,
hin: die seichte zweite Furche verstreicht, so dass der schmale
zweite Wulst mit dem dritten zusammenfliesst. Wir haben es
wiederum mit zwei Hauptwülsten, deren oberer aber relativ
41%
626 L. GRÜNWALD,
grössere Mächtigkeit besitzen muss, da er aus der Vereinigung
des obersten starken und oberen rudimentären hervorgegangen
ist, zu tun und mit nur einer Furche, dem „oberen“ Gange:
äusserlich wiederum dasselbe Bild, wie es Typ IV bereits
fötal zeigt.
Nicht unwahrscheinlich ist es übrigens, dass ein kleiner
Teil der Fälle vom Typ Illa auf dem Wege über Typ IIIb
die Gestaltung des Typ IV gewinnt; denn den letzteren sehen
wir erstmals nur vom 108. bzw. 115. Tage an auftreten, wäh-
rend der erstere bereits am 70. Tage angetroffen wird.
So kommen wir zum Typ IV: zwei Hauptwülsten —
mittlerer und oberer Muschel — mit einer Hauptfurche —
‚oberem‘“ Gange, der, in voller Ausbildung vorhanden, Raum
zur Tiefenausdehnung darbietet.
Dieser Typus nimmt mit 60% den verhältnismässig grössten
Raum beim Erwachsenen ein, dagegen kann er nur zum
kleinsten Teile auf ursprünglich gleiche Verhältnisse zurück-
oeführt werden, denn die in den Frühmonaten feststellbare
Verhältniszahl von 8% sinkt kurz vor der Geburt sogar auf
5% herab, und im ganzen. stehen nur 13% zur Deckung eines,
also nur kleinen, Teiles der Frequenz in der Reife zur Ver-
fügung. Nun konnten wir schon den grössten Teil der ur-
sprünglich nach IHa und Illb gebildeten Formen zur Ge-
staltung nach IV heranziehen. Immerhin blieben auch hiernach
noch ungefähr 30 von den fraglichen 60% ungedeckt. Da
haben wir uns zu erinnern, dass uns aus der Gruppe II ein
erosser, nicht zur Bildung des Endtypus Ilc verwendeter Rest
von 18% zur Verfügung steht. Tatsächlich braucht auch die
im Typ IIb’ sichtbare oder vielmehr oft schwer sichtbare
zweite Furche, die augenscheinlich im Verschwinden begriffen
ist, nur zu verstreichen und wir haben wiederum das Bild
zweier Hauptwülste — der mittleren und einer oberen (oberen
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 627
und obersten) Muschel und einer Hauptfurche — des
„oberen“ (ranges.
Schliesslich fehlen nur noch 12%, um die grosse Häufig-
keit des äusserlich gleichartig scheinenden, innerlich aber recht
verschiedenartigen Typ IV zu erklären. Da ist auf die Typen la
und Ib zurückzugreifen, von denen wir nur den geringsten Teil
in der Reife erhalten, einen anderen ebenfalls nicht beträcht-
lichen Teil in der Gestaltung des Typus Ila und IIb aufgehen
sehen. So reich die Gliederung im Typ I auch ist, so sehr trägt
sie doch schon ın der Ungleichmässigkeit der Wülste den
Stempel der Vergänglichkeit in sich, der auch durch das Zu-
rückweichen des zweiten Wulstes unter den ersten im Typ la
besondere Prägung erhält. Sehr leicht kann es zum Verstreichen
der zweiten Furche, zum völligen Zurücktreten des zweiten,
dann ‘ohnedies nicht mehr differenzierten Wulstes kommen,
wie ja auch die, doch so markante, Lobulusbildung erfahrungs-
gemäss fast durchweg zurücktritt; dann haben wir wiederum,
in der Reduktion, die äusserlich den anders entstandenen Bil-
dern vom Typ IV gleiche Gestalt vor uns.
So kommen wir schliesslich auf dem Wege der Verglei-
chung der Formen zu dem gleichen Resultate, wie es uns
schon zu Anfang der einfache Zahlenüberblick lieferte und das
wir jetzt noch weiter ergänzen können:
Es gibt von vornherein und dauernd Indivi-
duen mitzwei und andere mit drei ethmoidalen
Wülsten. Von den zweiwulstigeen Dauerformen
Psanur ein kleiner Teil’ orıeinar angeleot, der
andere grössereistaufdem Wegeder Reduktion
aus dreiwulstigen hervorgegangen.
Stellt man die geringe Zahl originär zweiwulstiger Formen
der grossen der dreiwulstigen gegenüber, die im Laufe der
Ontogenese in jene übergehen, so liegt es nahe, auch die
originäre Zweiwulstform als Produkt eines Reduktionsvorganges
628 L. GRÜNWALD,
anzusehen, der sich schon vor der Embryogonie, also phy-
letisch, abgespielt hat. Das würde voraussetzen, dass der
Species homo (nicht aber etwa den Säugetieren im allgemeinen)
ein dreiwulstiger Typ eigen gewesen sei, der phylogenetisch
teils schon zur Zweiwulstigkeit reduziert wäre, teils noch diese
Reduktion — ontogenetisch erwiesen — im Hliessen zeigte.
Analoga gerade beim Menschen fehlen ja nicht, so besonders
am Gebiss, dessen Reduktionsvorgänge sich im individuell
verschiedenen Vorkommen und Grössenunterschied, sowie
voller und rudimentärer Ausbildung der dritten Molaren und
der Präcaninen aussprechen.
Dass es sich um solche fliessende Reduktion handle, da-
für spricht auch das Verhalten der definitiven Morphologie
der dreiwulstigen Formen:
Es findet sich kein einziges Exemplar mit Erhaltung beider
Schenkel in beiden tiefen Furchen und entsprechenden Lobulis
am zweiten und dritten Wulst; sehr selten ıst die Erhaltung
auch nur eines einzigen Lobulus am (zweiten oder) dritten
Wulst, obgleich in der Frühzeit an den entsprechenden Typen
genug solcher Bildungen anzutreffen sind.
c) Untergeordnete Bildungen.
1. Zwischenfurchen und Teilwülste.
Im Sinne unserer Definition (s. S. 576) verstehen wir hier-
unter Furchen, die auf einem Vollwulst verlaufen, ohne seine
Selbständigkeit aufzuheben, die aber doch imstande sind, eine
mehr oder weniger weitgehende Spaltung in Teilwülste herbei-
zuführen, die ihrer Form und Lage nach konstant sind und,
wenn auch nicht ebenso vollzählig, noch in der Reife ange-
troffen werden.
1, Den ersten Platz unter ihnen nımmt eine auf dem ersten
Vollwulst (mittlerer Muschel) nicht zu selten, jedenfalls am
Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 629
häufigsten unter allen, anzutreffende und häufig tief, in fast
der ganzen Länge, einschneidende Furche ein, der eine Teil-
wulstung (s. S. 575) entspricht.
Die erste bewusste Erwähnung dieser Furche findet sich bei Killian.
Wenn er sie nicht im Sinne seines Systems als „„Hauptfurche“ anerkannt hat,
so liegt das wohl daran, dass, in seinen Beobachtungen wenigstens, diese Furche
keinen Ramus ascendens und Ramus descendens aufweist, so dass die Erforder-
nisse der Homologie mit den tierischen Vorkommnissen nicht erfüllt werden.
Daß diese Unvollkommenheit übrigens nicht immer besteht, ist aus der Betrach-
tung der Figg. 46, 47 ersichtlich. Hätte Killian solche Bilder, etwa gar noch
innerhalb der Entwickelungsperiode, gesehen, so wäre die Einreihung dieser
Furche in die Zahl seiner Hauptfurchen wohl kaum zu umgehen gewesen: um
so mehr als einerseits in dem einen meiner Präparate die Furche einer Pneu-
matisierung als Ausgangsstelle dient und anderseits in frühen Zeiten bereits
das Skelett an der entsprechenden Stelle eine Vorragung aufweist, die, wiederum
in Killians Sinne, wohl als Rudiment einer Hauptwuistbildung aufgefasst
werden müßte (s. Schaeffer !), Fig. 19). Besonders aber wäre der, zu Killians
Zeiten noch unbekannte, Umstand des Vorkommens analoger Bildung bei
Säugern (s. u.) geeignet gewesen, auch dieser Furche einen eigenen Platz im
phylogenetischen Schema anzuweisen. Gesehen hatte vor Killian die Furche
bereits Zuckerkandl), jedoch ganz irrig gedeutet. Seine, noch keiner aus
Entwickelung und Vergleich entstammenden Kritik unterworfene, rein semio-
tische Betrachtung liess ihn den durch die Furche abgespaltenen Wulst einfach
als „vierte Siebbeinmuschel, die sich zwischen die mittlere und obere Concha
ethmoidalis einschiebt‘ (l. e. S. 68), bezeichnen. So einfach läßt sich natürlich
diese schwierige Frage nicht abfertigen.
Nahezu konstant findet sich die Spaltung des ersten Eih-
moidalwulstes in zwei Teilwülste durch diese Furche in der
Säugerreihe vor. Die grosse Reihe der in Paullis Arbeit ab-
gebildeten Durchschnitte liefert die Belege. Ausnahmen bilden
dort die folgenden Arten: Echidna, Dicotylus, Cholovepus,
Equus und Petrogale; ferner scheinen sämtliche Prosimier und
Primaten keine Teilung zu besitzen oder doch nur vereinzelt
und in rudimentärer Form, wie sie die Abbildungen vom Schim-
panse (und Hylobates?) bei Zuckerkandl (1893), Taf. VI,
Fig. 6, 8, erkennen lassen. Die Teilwulstung ist bei den niederen
Säugern so ausgiebig, dass erst näheres Zusehen sie von
völliger Hauptwulstbildung unterscheiden lässt; das lehren
Blicke aul unsere Präparate vom Kalb (Fig. 1), Hund (Fig. 3)
630 L. GRÜNWALD,
und Kaninchen (Fig. 2). Durchweg aber besteht nur ein einziger
gemeinsamer Stiel und ebensolche Haftfalte; ebenso wie der
beim Kaninchen bereits im Chondrocranıum ausgesprochenen
Spaltung (Voıit [1909
einheitlicher Vorsprung der Seitenwand entspricht (Peter
11902]).
Wo sich zugleich ein doppelter Skeletstiel vorfindet, wie
S. 488) primär nur ein einziger, also
bei einer Reihe von Zweihufern (vgl. bei Paulli Fig. 20-43),
handelt es sich jedenfalls nur um sekundäre, durch Pneumati-
sation erzeugte Vorgänge, wie das besonders der Vergleich
mit den ähnlichen Erscheinungen beim Kamel, Lama und
Wasserschwein lehrt (s. Fig. 14, 15, 18 und 31 auf S. 204
bis 208 und S. 520 ebendort).
Die echte Teilwulstung bei Säugern ist nicht durchweg be-
ständig; beim Kalb z. B. stellt sich das erste Ethmoturbinale
individuell auch einfach dar. Ähnlicherweise liegen die ent-
sprechenden Verhältnisse beim Menschen recht verschieden-
artig:
Im 5. Fötalmonat fand sich die fragliche Furche unter
20 Fällen 10 mal = 50%, ım 6. und 7. Monat unter 42 Fällen
12 mal = 29%, kurz vor der Geburtsreife 3l mal in 85 Fällen
— 36%. Gegenüber dieser relativen Häufigkeit fällt um so
mehr der geringe Prozentsatz von 13 bei Kindern (3 mal an
22 Schädelhälften) und von 6 bei Erwachsenen (8 auf 133)
auf. Sehr bemerkenswert ist das Vorkommen der Spaltung
bereits am Ende des zweiten Fötalmonates, wie es sich in
einer meiner Serien (Präparat Nr. 338) beiderseits gleichmässig
zeigte. Alles weist jedenfalls auf den hohen phylogenetischen
Wert der Bildung hin, der jedoch meist nicht stark genug ist,
um voll ausgeprägte Veränderungen zu setzen, so dass die in
der überwiegenden Mehrzahl bereits von vornherein nur rudi-
mentären Furchen und Wülste dann wieder völliger ontogene-
tischer Reduktion unterliegen. —
164. Heft (54. Bd., H. 3).
Anatomische Hefte. I. Abteilung.
Tafel 49.
22
lateral ———
Fig. 21a.
Embryo von 12,2 mm Ges.-Länge. (Anblick vom Hinterhaupt aus.)
rot = Maxilloturbinale orange = Tubereulum septi
grün = Nasoturbinale
rot = Septoturbinale super,
blau = Ethmoturbinale II
grün = Ethmoturbinale I
medial
— - lateral
Fig. 21b.
(Anblick vom Gesicht aus.)
dunkelrot = Tubereulum septi grün = Nasoturbinale
blau = Ethmoturbinale I rot = Maxilloturbinale
hellrot = Septoturbinale
grün = Ethmoturbinale II
er,
medial u lateral
ee
—
Mn — et
Fig. 22.
Embryo von 19 mm Ges.-Länge.
rot = Tuberculum septi
blau =
grün = Ethmoturbinale I
Septoturbinale blau = Nasoturbinale
schwarz = Ethmoturbinale II
rot = Maxilloturbinale
(Anbliek vom Gesicht aus )
Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden,
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h y
Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 631
Morphologisch bietet sich in der Reife am häufigsten das
Bild eines auf der „mittleren“ Muschel längsverlaufenden
Spaltes von grösserer oder geringerer Breite (Fig. 46), während
in der Entwickelung meistens nur schmale, mitunter allerdings
Fig. 46,
recht tiefe, in der Mehrzahl aber sehr seichte Längseindrücke
bestehen (vel. Ries} 12, 29, 30, 32,35, 39, 40, 41, 48, 44), In
einzelnen Fällen sieht man nur eine auf die Mitte der medialen
lläche beschränkte, wenn auch etwas breitere Einsenkung,
Fig. 47.
sehr ähnlich dem Bilde beim Schimpanse; andere Male ent-
wickelt sich diese Vertiefung sogar bis zur Aushöhlung des
Muschelkörpers (Fig. 47), ohne dass jedoch der Gesamteindruck
seiner Einheitlichkeit gestört würde.
Das beginnt erst dort, wo die Spaltung die hintere oder
632 L. GRÜNWALD,
vordere Grenze des Vollwulstes überschreitet (Fig. 48); hier
ist nur der geschlossene ‚Stiel‘ noch imstande, die Kontinuität
zu wahren; würde die Spaltung sich, ähnlich wie in Fig. 50,
auch auf den ‚Stiel‘ nach hinten fortsetzen, so wäre die Vor-
.
Fig. #8.
stellung einer Teilwulstbildung des ersten Kthmoturbinale nur
mehr durch Fiktion systematischer Vorstellungen aufrecht zu
erhalten. Es ıst zwar bisher noch kein derartiges Bild be-
kannt geworden, doch lässt der Anblick des letzten Präparates
die Möglichkeit, dass eine solche einmal zur Entwickelung
komme, nicht allzu entfernt erscheinen. Natürlich müsste dem
Oberflächenanblick auch eine volle Ausbildung zweier skele-
tärer, bis auf die Seitenwand reichender Stützen entsprechen.
Ob eine solche Gestaltung, die einer freien phylogenetischen
Weiterentwickelung in anderer als retrospektiver Richtung
keine Tierhomologie oder -Analogie stünde ihr bisher zur
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 633
Seite) überhaupt möglich ist, ist natürlich nicht diskutabel.
Sollte sie wirklich einmal zur Beobachtung kommen, so müsste
rückhaltlos vom Vorkommen einer vierten Siebbeinmuschel ge-
sprochen werden. Bis jetzt aber, das sei nachdrücklich betont,
berechtigt noch keine unserer Beobachtungen dazu.
2. Eine der beschriebenen morphologisch, vielleicht auch
phylogenetisch gleichwertige Furche zeichnet sich, allerdings
in viel seltenerem Vorkommen, an der unteren Fläche des
Fig. 50.
ersten Vollwulstes ab. Hier sah ich sie, isoliert, nur einmal
im 6. Monat, viermal bei (zwei) Neugeborenen und zweimal
an Erwachsenen. Ausserdem kommt sie neben der erstbe-
schriebenen Furche vor und trägt dann noch mehr zur Kom-
plizierung, ja Verwirrung des Bildes bei: Fig. 49.
3. Neben diesen einfachen Subdivisionen des ersten Ethmo-
turbinale in zwei Teilwülste kommen auch mehrfache Furchen-
bildungen, allerdings meist nur oberflächlichen Verlaufes, vor;
zunächst Kombinationen von Furchen der medialen Fläche und
der unteren Kante. Solche konnte ich einmal im 4. bis 5. Monat,
sechsmal im 8.— 10. Monat und einmal beim Erwachsenen ver-
zeichnen.
4. In ähnlicher Weise, wie eine untere Furche das Vor-
handensein einer medialen kompliziert, sind in einigen Fällen
(dreimal bei Neugeborenen, einmal beim Erwachsenen) zwei
mediale Furchen, übereinander verlaufend, zu sehen gewesen,
fast jedesmal nur von geringer Tiefenerstreckung. Sie unter-
634 L. GRÜNWALD,
liegen derselben Deutung, wie die einfachen Furchen dieser
Stelle. Wo einmal die Spaltung tiefer geht, wie in dem bereits
besprochenen, in Fig. 50 dargestellten Präparat, ist der Punkt
nicht mehr fern, an dem die volle Spaltung in drei Teilwülste
erreicht würde. Jedenfalls liegt in dem Vorkommnis ein sehr
deutlicher Hinweis auf die unscharfe Begrenzung der Bildungs-
möglichkeiten, die sich übrigens nicht ausschliesslich auf das
erste Ethmoturbinale beschränkt:
5. Denn auch am zweiten Ethmoturbinale kommt ähn-
liches vor: Die lobulusähnliche Verdiekung des Ethmoturbi-
nale II in Fig. 51 (aus dem 6. Monat) trägt eine zwar seichte,
doch recht scharf ausgeprägte Furche; das schon im Ethmo-
turbinale I so reich gegliederte Präparat der Fig. 49 zeigt auf
der lateralen, hier nicht darstellbaren Seite des Ethmoturbi-
nale II sogar drei Einschnitte; ob die auf den „oberen“
Muscheln der in Fig. 44 und 49 abgebildeten Präparate längs-
verlaufenden seichten Rinnen Reste einer echten zweiten Furche
oder nur Subdivisionen sind, die zu keiner selbständigen Wulst-
bildung geführt hätten, ist nicht ganz unzweifelhaft, doch spricht
der ganze Anblick sehr zugunsten der zweiten Auffassung.
Jedenfalls ist das Vorkommen von Subdivisionen mit unselb-
ständigen Abschnürungswulsten durch die Befunde der ersten
zwei Präparate erwiesen.
Was nun diesen Teilwulstungen am Ethmoturbinale I
erhöhtes Interesse verleiht, wohl auch ihr Vorkommen erklärt,
Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 635
ist die Tatsache, dass auch in der Säugerreihe (dort aber ver-
mutlich für die Species constante) Subdivisionen von einheit-
lich gestielten Siebbeinmuscheln, und zwar nicht bloss der
zweiten, sondern bis zur sechsten hin, beobachtet werden.
Beispiele dafür finden sich bei Paulli mannigfaltig; sie be-
treffen die Cerviden, Schafe, Musteliden u. a., am auffälligsten
ist wohl die beim Schwein auf sämtlichen, vom ersten bis zum
sechsten E.-T. sich vorfindende Spaltbildung oder Aufblätte-
rung. Es fehlt somit der, wenn auch seltenen Bildung beim
Menschen nicht an tierischer Analogie, vielleicht sogar Homo-
logie.
2, Sekundärfurehen und Sekundärwülste.
1. Nur zeitweilig während der Entwickelung, niemals bis-
her ım Zustande der Reife beobachtet sind einige Furchen und
Fie. 52.
zugehörigen Wulste, die unsere Aufmerksamkeit hauptsäch-
lich deshalb in Anspruch nehmen, weil sie im Killian schen
Schema der Aufstellung einer erweiterten Muschelzahl als
Hauptgrundlage dienen. Es handelt sich um annähernd radiär,
in sehr spitzem Winkel zueinander verlaufende, mehr oder
weniger seichte Furchen auf dem hinteren Schenkel des zweiten
Ethmoturbinale. In besonders ausgeprägter Form finden wir
sie in Fig. 45, weniger scharf in Fig. 43 und 52. Im ganzen
kommen sie in nur acht meiner Präparate vor, und zwar sieben-
636 L. GRÜNWALD,
mal davon in der unschärferen Form der Fig. 52, so dass die
erstabgebildete auffallende Gestaltung als Unikum erscheint.
Schon diese erosse Seltenheit des Vorkommens erschwert es,
hinter der Erscheinung etwas genetisch Wichtiges zu suchen,
noch mehr die Tatsache, dass es sich fast durchweg um Spät-
erscheinungen der Entwickelung handelt; denn vier der Fälle
voehören Neugeborenen an, drei stammen aus dem 7. und ein
weiterer aus dem 5. Monat. Halten wir damit zusammen, dass
mit zwei Ausnahmen nur je eine Seite der Föten mit der frag-
lichen Furchenbildung behaftet war, so fällt es, besonders im
Hinblick auf ihr ausnahmsloses Verschwinden mit Abschluss
der Entwickelung, schwer, irgend einen anderen Grund für
die Genese der Erscheinung als einen rein temporär-mechani-
schen zu vermuten. Es scheint mir, als ob ein besonders starkes
Wachstum des in der Tiefe (vgl. die Bilder!) liegenden hinteren
Schenkels bei zugleich die Ausdehnung beschränkender Um-
gebung (hinten liegt das feste Keilbein, vorne die Masse des
ersten Ethmoturbinale an) zureichen würde, um eine Faltung
ler Masse von der fraglichen Form hervorzubringen; Motive,
die beim Weiterwachstum verschwinden. Dafür spricht auch,
dass die Erscheinung gerade nur an den wenigst gegliederten
Typen Illb und IV beobachtet wird, wo also das wenigste
Material für definitive Differenzierung oder ihre Vorbereitung
verbraucht wurde; sie kann demnach als Besgleit-
erscheinung der Reduktion gelten.
Den sehr wesentlichen Unterschied dieser sekundären Fur-
chen gegenüber den tiefen von bleibender Bedeutung illustriert
Fig. 43 und 52, wo die den schmalen zweiten Hauptwulst ab-
schneidende Hauptfurche sich sowohl durch Verlauf, als Länge
und Tiefe deutlich von dem Komplex radiärer seichter Ein-
drücke abhebt.
Die Zahl der fraglichen Furchen schwankt zwischen zwei
(Fig. 43, und fünf (Fig. 52).
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 637
2. Auf der freien Fläche des vorderen Schenkels des ersten
thmoturbinale besteht zwar keine Einengung, wie an der
eben geschilderten Stelle, wohl aber können auch hier zeit-
weilig Überbildungen von Grewebsmasse in Gegensatz zum vor-
handenen Raum treten und in Faltenbildung ausarten. Wenn
wir daher an diesem Platze hie und da sehr seichten Furchen
mit leicht gewölbten Zwischenflächen begegnen (Fig. 34), die
im übrigen nach Gestalt und Anordnung ebenfalls fächerartig
und in gewisser Regelmässigkeit verlaufen, so liegt es nahe,
auch dieser Erscheinung die oben angezogenen mechanischen
Motive von temporärer (Geltung zu unterlegen.
Es sind gleichfalls nur sieben Vorkommnisse dieser Art
unter meinen Präparaten zu verzeichnen gewesen, diesmal aber
nur auf vier Individuen verteilt, d. h. je dreimal beiderseitig.
In einem, aus dem 7. Monat stammenden Falle traten diese
Sekundärwülste gleichzeitig (und beide Arten beiderseitig) mit
jenen der ersten Art auf; sonst handelte es sich um zwei Neu-
geborene und einen 6'/, monatigen Fötus; ım ganzen also Ähn-
lıche Verhältnisse, wie sie oben geschildert wurden.
Die grosse Regelmässigkeit in der Form der Erscheinung
würde es nahelegen, hinter ıhr einen höheren Grad genetischer
Bedeutung zu suchen. Keinerlei, auch nur scheinbare Analogien
aber sprechen dafür, noch verlocken dazu, und der Mangel
jeder, auch nur rudimentärsten Bildung ähnlicher Art innerhalb
der Reife gestattet es, auch dieser Erscheinung dieselbe Rolle,
wie der erstbeschriebenen, also die einer nur mechanischen
Folgewirkung zuzuteilen.
Ich fasse die Ergebnisse kurz zusammen:
1. Die Berücksichtigung sämtlicher Tatsachen der ver-
gleichenden Anatomie, der Ontogenese und deskriptiven Ana-
tomie des Menschen erfordert einige Veränderungen bzw. Be-
reicherungen der Namengebung, wie sie hier gegeben werden.
638 l.. GRÜNWALD,
2, Im besonderen sind die neuen Begriffe des ‚„Recessus
posterior“, des „Basalwulstes“ und des „Seitenraumes“ einzu-
führen.
3. Die verschiedenen Formen der Ethmoturbinalia des Men-
schen lassen sich zwanglos in Gruppen von Typen, die durch
die ganze Entwickelung durchlaufen, einteilen.
4. In der Hauptsache gibt es Typen mit zwei und solche
mit drei Siebbeinmuscheln. Weniger oder mehr kommen weder
früh noch spät vor.
5. Aus den mannigfaltigen Typenreihen der frühen Ent-
wickelungszeit lassen sich die spärlichen der Reife teils durch
tück-, teils durch Ausbildung ableiten.
6. Es gibt Teilwülste und ihnen entsprechende Zwischen-
furchen von phyvlo- und ontogenetischer Bedeutung, besonders
am ersten, aber auch am zweiten Ethmoturbinale.
7. Sekundärwülste und entsprechende Sekundärfurchen
kommen während der Spätentwickelung vor, haben aber keinen
nachweisbaren phylogenetischen Wert, sondern sind wahr-
scheinlich nur Wirkungen reichlicher Materialanlage ohne ent-
sprechende Entfaltungsmöglichkeit.
8. Eine feste Beziehung der Erscheinungen der mensch-
lichen Ontogenese und Reife des Naseninneren zu bestimmten
Säugetierformen lässt sich auf Grund der bisher bekannten
Tatsachen nicht herstellen.
Ks ıst mir eine angenehme Pflicht, Herrn Professor
hückert für die freundliche Gewährung des zu vorliegender
Arbeit benötigten Materials und Arbeitsplatzes wiederum meinen
besten Dank auszusprechen.
Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 639
Tabelle I.
Zahl der Ethmoturbinalia.
PR 2 | 3 3 Prozentsatz der Fälle mit 2 E.-T.
der Bälle D) voll |das dritte | das dritte ee
> aus- | rudi- in im ganzen | voll | in der
im Alter von | gebildet | mentär!) |Redukvion ausgebildet) Ausbildung
|
2.u.3.Monat| 10 PP = 31%? | 31%? —
4. Monat 3 14 l — Zara, 0.1295 6%
5. Monat 5 8 3 l 53% 30% 23%
6.u.7.Monat| 11 19 — 15 51% | 24%, 33%
8.—10.Monat|] 10 38 — 33 D289% 40% 12%
Kinder bis 3 ee ar SE
zu 9 Jahren “ 3 l 6 51% 27% 24 %
Erwachsene | 100 23:15 SO 82, nl 7%?)
Sa. | 145 | 133 Dee
') Nicht alle rudimentären Formen verfallen vollständiger Reduktion.
°) Bei Erwachsenen ist natürlich nur an phylogenetische Ausbildung zu
denken.
Tabelle II.
Prozentuales Vorkommen der Ethmoturbinal-Typen.
In der Davon im Er- AR
Typus N Vom |wachs Zahl der Ethmoturbinalia
hreile | 2.-7.Monat|g Monat an | Vachsene
|
TE TE
Ia 3 2 1 _ 3
Ib 12 9 3 0,5 3
Ila 26 1l 15 28 3
IIb [7 | [7
IIb’ z a I | 10 \ 3 in der Unreife
2 2 ENDE [re i 2—3 beim Erwachsenen
IIe b 35 |
R 3 in der Unreife
IIla 14 9 2 1,5 2-3 beim Erwachsenen
IIIb 4 2 2 — 3
IV 13 8 on 60 B)
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd,, H. 3). 42
Ike
2
34
4
5
Literaturverzeichnis.
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Übers. Berlin.
3. Zuckerkandl (1893), Norm. u. path. Anat. d. Nasenhöhle etc. Wien.
AUS DEM ANATOMISCHEN INSTITUT IN AMSTERDAM.
ÜBER DIE VERBINDUNGEN ZWISCHEN DEM SITZBEINE
UND DER WIRBELSÄULE BEI DEN SÄUGETIEREN
VON
W. A. MYSBERG.
Mit 6 Abbildungen im Text.
nussaxata nad Marina Maaa
Ne ARE BR
lese ac 19a Rue
a8 Ye = Be RER Br, THIS, br DAT: 4 i m ie he A x 5 Alan a En Fa ns
be A a HR Age" A Erz Bi Kom = a Er ER
Es KEN RR, “ BsE n ei ar Be = di I Er RER EE
1030,
u Ben En Es a Amen
Ba
RT
h en 3 Rn 13
Die Beschaffenheit der Verbindungen zwischen dem Sitz-
beine und der Wirbelsäule ist innerhalb der Klasse der Säuge-
tiere eine sehr wechselnde. Während bei einigen Säugetieren
die genannten Skeletteile durch Muskeln verbunden sind, ist
bei anderen die Verbindung ligamentöser, knorpeliger oder
oar knöcherner Natur. Die Muskelmasse, welche vom Sitz-
beine entspringt und sich an der Schwanzwirbelsäule inseriert,
wurde früher als ein einheitlicher Muskel betrachtet, der als
M. ischiocaudalis bezeichnet wurde. Zuckerkandl (15, 16,
17) aber hat gezeigt, dass zwischen Sitzbein und Schwanz
zwei verschiedene Muskeln sich befinden, von ihm Mm. spinoso-
caudalis und ischiocaudalis genannt, von denen der M. spinoso-
caudalis gewöhnlich von der Spina ischiadica und Umgebung,
der M. ischiocaudalis vom Tuber ischii entspringt. Dass wirk-
lich zwei verschiedene Muskeln vorhanden sind, lässt sich
schliessen aus ihren Lagebeziehungen zum N. pudendus. Dieser
Nerv tritt durch das Foramen ischiadicum majus aus der
Beckenhöhle heraus, verläuft alsdann an der Aussenfläche des
M. spinosocaudalis, gelangt weiterhin an die Innenfläche des
M. ischiocaudalis, um alsdann seinem Endbezirke zuzueilen.
Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Muskeln ergibt sich
aus der Innervation. — Nicht immer, ja fast nur ausnahms-
weise, treten beide Muskeln nebeneinander auf, bald fehlt der
eine, bald der andere; ohne Rücksichtnahme auf die Topik
des N. pudendus ist es dann nicht möglich, mit Sicherheit die
Provenienz des vorliegenden Muskels zu bestimmen; dem Ur-
64 W. A. MYSBERG,
sprunge des Muskels ist zu diesem Zwecke kein grosser Wert
beizulegen, hat sich doch aus Zuckerkandls Untersuch-
ungen ergeben, dass bei einer Echidna aculeata der M. spinoso-
caudalis, der gewöhnlich nur von der Spina ischiadica und
Umgebung entspringt, seinen Ursprung in caudaler Richtung
stark ausgedehnt hatte, so dass die caudalen Fasern vom
unteren Sitzbeinaste entsprangen.
Die Bandverbindungen zwischen dem Sitzbeine und der
Wirbelsäule sind aus der menschlichen Anatomie, wo sie als
Ligamenta spinososacrum und tuberososacrum bezeichnet wer-
den, wohl bekannt. Zu vergleichend-anatomischen Zwecken
können diese Namen im Prinzip beibehalten werden; da aber
die Faserr bald am Sacralteile, bald am Caudalteile, bald an
diesen beiden Teilen der Wirbelsäule sich anheften, empfiehlt
es sich, die Bänder mit dem Sammelnamen Lig. spinososacro-
caudale und Lig. tuberososacrocaudale zu nennen und in Einzel-
fällen als Lig. spinoso- (bzw. tuberoso-) sacrale, -caudale und
-sacrocaudale zu bezeichnen. (Gewöhnlich ist das Lig. spinoso-
sacrocaudale an der Spina ischiadica und deren nächsten Um-
sebung, das Lig. tuberososacrocaudale am Tuber ischiadicum
befestigt; da aber dieser Unterschied der Festheftungsstellen
am Sitzbeine sich, ebenso wie bei den Sitzbeinschwanzmuskeln,
nicht immer bewährt, ist es empfehlenswerter, auch hier die
Topik der Bänder zum N. pudendus als Unterscheidungsmerk-
mal heranzuziehen.
Es erheben sich nunmehr gegen den von Zuckerkandl
dem dorsal vom ‘N. pudendus gelegenen Muskel gegebenen
Namen ,„M. ischiocaudalis“ einige Einwürfe, welche diese
Nomenclatur als eine weniger zutreffende erscheinen lassen:
Erstens könnte es zu Veerwirrungen führen, dass der „M. ischio-
caudalıs‘ früherer Autoren den ,M. ischiocaudalis“ Zucker-
kandls wie auch den M. spinosocaudalis dieses Autors um-
fasst, zweitens ist zu bedenken, dass nicht nur der Zucker-
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 645
kandlsche M. ischiocaudalis, sondern auch der M. spinoso-
caudalis vom Os ischii entspringt, drittens scheint es mir
wenig rationell, den dorsal vom N. pudendus gelegenen Muskel
als M. ischiocaudalis zu bezeichnen, hingegen ein sich in
denselben Verhältnissen befindendes Band Lig. tuberoso-
sacrocaudale zu nennen. Diese Einwände sind beseitigt, wenn
man den betreffenden Muskel mit dem Namen M. tuberoso-
caudalis andeutet, wodurch überdies der Ansatz am Sitzbeine
in den typischen Fällen bezeichnet ist. Es wird dann auch
letzterer Name in dieser Abhandlung beibehalten werden !).
Da bald Muskeln, bald Ligamente die Verbindung zwischen
Sitzbein und Wirbelsäule bilden, ist es fraglich, ob diese Bil-
dungen als homolog zu deuten seien. Dieselbe Frage tut sich
auf mit Bezug auf die knöcherne Verbindung, die man bei
einigen Säugetieren vorfindet. Ehe man zur Beantwortung
dieser Fragen schreiten kann, ist es notwendig, die Anatomie
der Sitzbeinwirbelsäuleverbindungen bei den Säugetieren ge-
nauer kennen zu lernen. Da den älteren Autoren die Unter-
scheidung der Verbindungen nach ihren Lageverhältnissen zum
N. pudendus nicht bekannt war, sind die älteren Angaben
ın der Literatur nur dann zu verwerten, wenn auch die Topik
des N. pudendus zu den betreffenden Muskeln und Bändern
erörtert ist. Dies aber ist nur selten der Fall; die meisten
Daten, die ich in den folgenden Zeilen mitteilen werde, ent-
stammen daher eigenen Untersuchungen
Ordnung der Monotremata. Zuckerkandl (16)
fand bei einer Echidna aculeata einen M. spinosocaudalıs,
welcher sich am 5. bis 11. Sacrocaudalwirbel inserierte und
dessen Ursprung am Sitzbein sich in caudaler Richtung aus-
gedehnt hatte, so dass die am meisten caudalen Fasern vom
MS 1) Es sei im Vorbeigehen bemerkt, dass ein von Kohlbrugge (7) bei
einem Cercopitheeus eynomolgus beobachteter Muskel, der seinen Ursprung
nahm vom Sitzbeinknorren und an der Schwanzwirbelsäule zur Anheftung
kam, von ihm unter dem Namen M. tuberosocaudalis beschrieben worden: ist.
646 W. A. MYSBERG,
el, med.
eu
o. i.+ gem. —
Fis.l:
Phalangista vulpina. Dorsalansicht der Beckenregion.
s. 1.1, 8.1. d.= Verstärkungsbänder der Artie. saeroiliaca. i.=N. ischiadicus.
p- = N. pudendus. gl. med. = M. glutaeus medius. gl. min. = M. glutaeus
minimus. ce. f£ = M, caudofemoralis. sp. e. = M. spinosocaudalis. o. i.
+ gem. = M. obturator internus und M. gemellus superior. s. t.=M. semi-
tendinosus.
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 647
unteren Sitzbeinaste entsprangen. Der M. tuberosocaudalıs
fehlte.
Ordnung der Marsupialia. In Fig. 1 sind einige
Muskeln der Beckenregion einer von mir zergliederten Pha-
langista vulpina dargestellt. Auf diesem Bilde ist es
deutlich, dass der M. spinosocaudalis, an dessen Aussen-
fläche der N. pudendus liegt, vom oberen Sitzbeinaste cranıal
von der Stelle, wo der M. obturator internus sich um den
Sitzbeinast herumbiegt, entspringt, während er sich an den
Querfortsätzen des 2. bis 4. Schwanzwirbels inseriert. Auf
der Abbildung ist auch der M. caudofemoralis dargestellt,
welcher beim Fuchskusu in zwei Teile gespalten ist, die von
den Querfortsätzen des 1. bzw. 2. Gaudalwirbels entspringen
und am Trochanter major bzw. an der lateralen Fläche des
Os femur zur Anheftung kommen. Bei allen Säugetieren, wo
er sich findet, liegt der Muskel latero-dorsal vom N. pudendus,
während der N. ischiadicus an seiner Aussenfläche verläuft.
Durch diese Lagebeziehung zum N. ischiadicus unterscheidet
er sich vom M. piriformis. Der M. tuberosocaudalis fehlt.
Auch bei Didelphys marsupialis und Petrogale
penicillata findet sich nur der M. spinosocaudalis, der
sich beim ersteren an den Querfortsätzen des 1. bis 5. Schwanz-
wirbels inseriert, beim letzteren an dem 1. und 2. Caudal-
wirbel zur Anheftung kommt. An dem Skelett eines Phasco-
lomys ursinus sah ich ein kurzes, kräftiges, fast gerade
transversal gerichtetes Band zwischen dem Sitzbeinknorren
und den Processus transversi von C, und C, ausgespannt. Auch
Lubsen (12, S. 75) beschreibt bei einem Wombat ein solches
Band. Nach der Anheftungsstelle am Sitzbeine könnte dieses
Band den Namen Lig. tuberosocaudale beanspruchen, doch
fehlt mir die Kenntnis seiner Lagebeziehung zum N. pudendus.
Beim Beutelmull, Notorryctestyphlops, ist das Sitzbein
mit den (Querfortsätzen der letzten zwei Sacralwirbel ver-
wachsen (Abel [1]).
648 W. A. MYSBERG,
Ordnung der Insectivora. Bei Talpa europaea
findet sich zwischen dem vorderen Teile des oberen Sitz-
beinastes und dem Seitenrande des Kreuzbeines eine fast trans-
versal gerichtete Knochenbrücke, welche die caudale Ab-
schliessung des Foramens bildet, durch welches die Nn. ischia-
dieus und pudendus aus der Beckenhöhle hinaustreten. Bei
gl. max. — — —
— — — — — — -gl med.
en nn EEE sic beer
LEN: Der:
mare en AS ht
sem. IT ——
—-.—— — — — —— ln
Fig. 2.
Talpa europaea. Dorsalansicht der Beckenregion.
gl. max. —= M. glutaeus maximus. |
ten. — M. tenuissimus. nach links umgeklappt.
sem. II = M. semitendinosus II |
xl. med. — M. glutaeus medius. i. =N. ischiadieus. p. —= N. pudendus.
ie —M. iliocoeeygeus und Lig. iliosacrale.
einem der von mir zergliederten Exemplare war ebenso wie
bei einem von Leche (9) untersuchten Objekt diese Brücke
einerseits zum Teile fibrös. Offenbar entsteht sie durch Ver-
knöcherung eines Bandes, das, wie seine Lage zum N. pudendus
beweist, als Lig. spinososacrale bezeichnet werden muss.
Ausserdem ist das Sitzbein noch durch einen Muskel und einem
Bande mit der Wirbelsäule verbunden; Abbildung 2 zeigt die-
selbe. Das Band spannt sich zwischen der Crista sacralis
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 649
zur Höhe des 5., zum Teil auch des 4. Wirbels und der medialen
Fläche des hinteren Teils des oberen Sitzbeinastes aus. {Nach
lLeche liegt der Ansatz des Bandes an der Wirbelsäule am
stark entwickelten Querfortsatze des 4. Sacralwirbels.) Un-
mittelbar ventral vom Ligament findet sich an der medialen
Fläche des oberen Sitzbeinastes hart am Rande des Foramen
obturatum die Ursprungslinie eines Muskels, dessen Fasern
in medio-caudaler Richtung verlaufen und sich an den vorderen
Schwanzwirbeln inserieren. Leche bezeichnet den Muskel
und das Band als M. ischiocaudalis, bzw. Lig. sacrotuberosum,
jedoch mit Unrecht, denn, wie Fig. 2 zeigt, verläuft der N.
pudendus dorsal vom Muskel und vom Bande. Auch der Ur-
sprung des Muskels hart am Rande des Foramen obturatum
stimmt nicht zu dem eines M. tuberoso- oder spinosocaudalis,
deren Ursprünge gewöhnlich am dorsalen Rande des oberen
Sitzbeinastes liegen. Offenbar ist der betreffende Muskel der
M. iliococcygeus, dessen Ursprung jedoch caudalwärts ver-
legt ist!), und das Band dessen craniale Partie, deren Fasern
infolge ihrer Insertion am immobilen Kreuzbeine fibrös um-
gewandelt worden sind. Beiläufig sei bemerkt, dass die Muskel-
masse, deren Fasern vom ventralen Rande und von der pel-
vinen Fläche des Ramus horizontalis ossis pubis entspringen
und sich an der Schwanzwirbelsäule sehnig inserieren, einen
einzigen Muskel, den M. pubococcygeus, repräsentiert. Wohl
mit Unrecht unterscheidet Leche in dieser Masse zwei
Muskeln: den M. iliococeygeus und den M. pubococeygeus.
Bei Erinaceus europaeus ist, wie Fig. 3 zeigt, die
Verbindung zwischen der Spina ischiadica und der Wirbelsäule
im cranialen Teile, wo die Fasern sich am Querfortsatze des
1. Caudalwirbels inserieren, fibrös; der caudale Teil hingegen,
2
dessen Fasern sich am 2. und 3. Schwanzwirbel inserieren,
') Über den Ursprung des M. iliococeygeus bei verschiedenen Säugetieren
berichtet Holl (5, S. 180 ff.)
650 W. A. MYSBERG,
ist muskulös. Der N. pudendus verläuft an der dorsalen Fläche
der Verbindung, sie muss also als Lig. bzw. M. spinosocaudale
(is) bezeichnet werden. Ausserdem findet sich dorsal vom
3.1. d.Ie=
Pr. zyg. Gı
gl. med. -
SDATH
o. i.+ gem. —
qu. fem.- —
Fig. >.
Erinaceus europaeus. Dorsalansicht der Beckenregion.
Sp: Ss — SP. 8, SP. €, Sp. & = Proc. spinosi Vert. sacr. 1—4 et Vert. caud.
1 et 2. pr. zyg. Sı, pr. zyg. c, = Proe. articularis anterior Vert. sacr. 1,
bzw. Vert. eaud. 1. gl. med. = M. glutaeus medius. 0. i.+ gem.—=M. ob-
turatur internus und Mm. gemelli. qu. fem. = M. quadratus femoris. 8. i.
d.1. = Lig. sacroiliacum dorsale longum. s. i. s. = Lig sacroiliacum superius.
t.s. e. — Lig. tuberososacrocaudale. sp. ec. =Lig. spinosoeaudale und M.
spinosocaudalis. sy. —= Symphysenknorpel.
N. pudendus ein Band vor, dessen Fasern vom Sitzbeinknorren
entspringen, in cranio-medialer Richtung verlaufen und in die
Fascie, welche die dorsalen Sacralmuskeln bekleidet, aus-
strahlen. Der grössere Teil der Fasern erstreckt sich in die
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 651
Richtung der Processus spinosi des 4. Sacral- bis zum 2. Caudal-
wirbel. Von diesem Lig. tuberososacrocaudale entspringen die
caudalen Fasern des M. glutaeus maximus. (Man siehe die
Abbildungen bei Leche |9, Fig. 89] und Cuvier et Lau-
rillard [3, Abb. 75].)
Aus Leches (9) Beschreibung und Abbildung ist er-
sichtlich, dass bei Tupaia der M. spinosocaudalis die einzig
anwesende Sitzbeinwirbelsäuleverbindung_ ist.
Ordnung der Chiroptera. „Bei mehreren Arten”,
schreibt Leche {11, S. 582), „vereinigen sich die hinteren
Ränder der Partes ventrales ischii mit der Wirbelsäule: bei
Desmodus und Noctilio verwachsen die besagten Ischium-
teile zu einem vertikalen Kamme, welcher mit der Wirbelsäule
verschmilzt; bei Pteropus und Phyllostoma ver-
wachsen die beiderseitigen Sitzbeine mit der Wirbelsäule, ohne
sich miteinander zu verbinden.‘ Jedoch sei hervorgehoben,
dass bei einem von mir zergliederten Pteropusedwardsii
die Verbindung den Typus aufwies, wie Leche sie bei Des-
modus beschreibt; ein Pteropus molossinus zeigte Je-
doch die von Leche dargestellten Verhältnisse. Ob die
knöcherne Verbindung entsteht durch Ligamentverknöcherung
wie bei Talpa, oder durch Ossification einer erst knorpeligen
Verbindung wie bei den Xenarthra, lässt sich mit Hilfe der
Daten, über die ich verfüge, nicht mit Sicherheit entscheiden,
doch ist letztere Entstehungsweise die wahrscheinlichere;
jedenfalls wäre es wohl kaum denkbar, dass die Verwachsung
der beiderseitigen Sitzbeine wie bei Desmodus und Noectilio
durch Bandverknöcherung entstanden wäre.
Bei Pteropus ist die knöcherne Verbindung die einzige
zwischen Sitzbein und Wirbelsäule befindliche, bei Vesper-
tilio murinus, wo die knöcherne Verbindung fehlt, fand
ich nur einen M. spinosocaudalıs.
652 W. A. MYSBERG,
Ordnung der Galeopithecidae. Bej dem von mir
untersuchten Pelzflatterer ist nur der M. spinosocaudalis an-
wesend. Seine Fasern inserieren sich am Querfortsatze des
1. Schwanzwirbels, während eine geringe Anzahl von cranialen
Fasern sich am allerhintersten Teile des Seitenrandes des
Kreuzbeines ansetzen. Die Fasern entspringen von der Spina
Fig. 4,
Tatusia novemeincta juv. Dorsalansicht des Beckens.
.—N. ischiadieus; p. = N. pudendus. Knorpel schraffiert.
ischiadica. {Man siehe die Abbildung bei Leche [10], wo
der Muskel entschieden kräftiger ist als bei dem von mir
zergliederten Exemplar.)
Ordnung der Xenarthra. Bei den Xenarthra, mit
Ausnahme nur des Cycloturus didactylus, verschmilzt bei er-
wachsenen Exemplaren der hintere Teil des Sitzbeines mit
dem Kreuzbeine; bei Bradypodidae ist diese Verbindung eine
weniger ausgedehnte als bei Dasypodidae. Fig. 4 zeigt die
Dorsalansicht des Beckens einer jungen Tatusia novem-
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 653
eincta: das Darmbein und das Sitzbein, welche beim er-
wachsenen Tiere mit dem Kreuzbeine verwachsen sind, waren
hier noch knorpelig mit dem Os sacrum verbunden, obwohl,
namentlich in der iliosacralen Verbindung, die Össification schon
angefangen hatte. Offenbar entsteht die knöcherne ischiosacrale
Verbindung bei den Xenarthra nicht durch Bandverknöcherung,
wie bei Talpa; sie kommt dadurch zustande, dass die Sitzbeine,
welche infolge irgend einer Ursache hart an die Wirbelsäule
herangerückt sind, sich mit ihr anfangs knorpelig, später knö-
chern verbinden. Ich hoffe bald über die Natur dieser Ursache,
welche mit statischen Einflüssen zusammenhängt, in einer Ab-
handlung über die Anatomie der Beckenverbindungen der
Säugetiere mit Bezug auf die statischen Einflüsse, denen sie
ausgesetzt sind, zu berichten. Ausser der genannten Sitzbein-
wirbelsäuleverbindung findet sich bei den von mir unter-
suchten Tatusia novemcincta und Bradypus tridactylus ein M.
tuberosocaudalis, welcher vom Sıtzbeinknorren und vom
unteren Sitzbeinaste entspringt und sich an den Querfortsätzen
der vorderen Schwanzwirbel inseriert. Beim Faultiere sind
die cranialen Fasern fibrös; sie setzen sich fest am ersten
Schwanzwirbel, bilden also ein Lig. tuberosocaudale.
Ordnung der Pholidota. Zwischen dem Sitzbein-
knorren und dem unteren Sitzbeinaste einerseits und den Quer-
fortsätzen des ersten und vieler folgenden Schwanzwirbel
andererseits erstreckt sich beim Schuppentiere der M.tuberoso-
caudalis. In eranialer Richtung schliessen sich an den Muskel
fibröse Fasern an, welche sich am letzten sacralen und am
ersten caudalen Wirbel inserieren, und also ein Lig. tuberoso-
sacrocaudale bilden. Von mehreren Autoren (siehe z. BOwen
13, Vol. II, S.:396|], Leche 11, S. 583]) ist bei Manis eine
Verwachsung des Sitzbeines mit dem Kreuzbeine beschrieben
worden, in neuerer Zeit aber wird das Bestehen einer solchen
Verschmelzung von Weber (14, S. 424) in Abrede gestellt.
654 W. A. MYSBERG,
Bei dem von mir zergliederten Schuppentiere fand sich un-
mittelbar ventral vom Lig. tuberososacrocaudale eine schmale,
feste Verbindung zwischen dem Tuber ischii und dem Quer-
fortsatze des letzten Sacralwirbels. Der mittlere Abschnitt
dieser Verbindung war weniger fest und bei der Untersuchung
der Konsistenz fiel er heraus; seine Form war die eines
Cylinders, 1 mm hoch und 2 mm im Durchmesser. Es zeigte
sich bei der mikroskopischen Untersuchung, dass er aus Binde-
gewebsfasern besteht, zwischen denen Knorpelzellen liegen.
Man dürfte nun meinen, dass hier ein verknorpelter Teil des
Lig. tuberososacrocaudale vorläge; das mikroskopische Bild
zeugt aber gegen diese Annahme, denn die Bindegewebsfasern
sind nicht parallel geordnet, sondern sie verlaufen in verschie-
dene Richtungen. Offenbar muss man die Verbindung als eine
primär faserknorpelige deuten, welche wahrscheinlich in einer
Weise, der Entstehungsweise der entsprechenden Verbindung
der Xenarthra analog, entstanden ist. Ob die genannte Ver-
bindung bei Manis später verknöchert, kann ich nicht ent-
scheiden; das von mir untersuchte Tier war noch nicht ganz
erwachsen, die iliosacrale Verbindung war immerhin fast völlig
verknöchert.
Ordnung der Rodentia. Lepuscuniculus und
Mus decumanus besitzen nur den M. spinosocaudalis, wel-
cher vom vorderen Teile des oberen Sitzbeinastes entspringt und
sich beim Kaninchen, wo ihnKrause(8) alsM. abductor caudae
anticus bezeichnet, an dem Seitenrande der letzten zwei Sacral-
wirbel und an den Querfortsätzen und den Seitenflächen der
Körper der vorderen drei bis vier Caudalwirbel, bei der Ratte
an den Processus transversi der vorderen zwei Schwanzwirbel
inseriert. Bei Dipus aegypticus verhält sich der Muskel
hinsichtlich Ursprung und Insertion wie bei Mus, jedoch be-
sitzt Dipus ausserdem ein Lig. tuberososacrocaudale, dessen
Fasern sich ausspannen zwischen dem Tuber ischii und den
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 65:
Querfortsätzen des ersten Caudal- und der hinteren Sacral-
wirbel. Bei Dasyprocta aguti und Hystrix cristata
finden sich der M. spinosocaudalis und der M. tuberoso-
caudalis; Cavia cobaya besitzt nur den M. tuberoso-
caudalıs. (Man vel. die Abbildungen Zuckerkandls.)
Ordnung der Carnivora. Felis domestica und
der von mir zergliederte Herpestes spec. besitzen nur
einen M. spinosocaudalis, der sich zwischen der Spina ischia-
dica und den Querfortsätzen der vorderen vier resp. sechs
Schwanzwirbel erstreckt. Bei Canıs familiariıs inseriert
sich der Muskel, von Ellenberger und Baum (4) als
M. abduetor caudae internus (anterior) s. coceygeus bezeichnet,
an den Processus transversi des zweiten bis vierten Caudal-
wirbels; beim Hunde ist ausserdem ein Lig. tuberososacro-
caudale zwischen dem Sitzbeinknorren und dem Seitenrande
des Kreuzbeines und dem Querfortsatze des ersten Schwanz-
wirbels ausgespannt. Beim Ursus malayanus findet sich
ausser dem an der Spina ischiadica entspringenden und sich
am ersten und zweiten Schwanzwirbel inserierenden M. spinoso-
caudalıs eine dreieckige Verbindung zwischen dem Sitzbein-
knorren und der Wirbelsäule, deren craniale Fasern, welche
vom Ursprunge aus ın medialer und mehr oder weniger
starker ceranialer Richtung zu ihrer: Insertion an dem Seiten-
rande des Kreuzbeines und den Querfortsätzen von C, und C,
gelangen, fibrös sind (Lig. tuberososacrocaudale), während die
caudalen muskulösen Fasern vom Tuber in medialer und cau-
daler Richtung am zweiten bis sechsten Caudalwirbel zur
Insertion kommen (M. tuberosocaudalis). Cuvier und Lau-
rıllard (3, Abb. 83 und 84) bilden beim Ursus americanus
einen Muskel ab, dessen Fasern von ihrem Ursprunge vom
Tuber ischiadicum aus in medialer und cranialer Richtung
der Wirbelsäule zustreben. Offenbar stimmt dieser Muskel
mit dem Lig. tuberososacrocaudale des Ursus malayanus überein.
Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H. 3). 43
656 W. A. MYSBERG,
Ordnung der Artiodactyla. Wie Fig. 5 zeigt, be-
sitzt Cephalophus maxwelli einen kleinen, schwachen
\M. spinosocaudalis, der vom vorderen Teile des dorsalen Randes
Fig. 5.
Cephalophus maxwelli, Seitenansicht der Beckenrevion.
fo)
tr. c, = Processus transversus Vert. eaud. 1. s. i. d. 1. = Dorsales Ver-
stärkungsband der lliosaeralverbindung. t. s. e. — Lig. tuberosacrocaudale.
sp. e. = M. spinosoeandalis. p. — N. pudendus: i. = N. isehiadiens.
(des oberen Sitzbeinastes entspringt und sich an den Querforl-
sälzen des zweiten, zum Teil auch des dritten Schwanzwirbels
inseriert. An der Aussenseite des Muskels ist der Raum zwi-
schen dem oberen Sitzbeinaste einerseits und dem Seiten-
rande des Os sacrum und den Querfortsätzen des ersten und
weiten Caudalwirbels andererseits erösstenteils durch ein
I
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 65
breites, dünnes Band abgeschlossen, das, weil der N. pudendus
auf seiner Innenfläche liegt, als Lig. tuberososacrocaudale be-
zeichnet werden muss. Das Band lässt dem N. ischiadieus ce. s.
nur geringen Raum zum Austritt aus der Beckenhöhle, heftet
sich weiter an dem eanzen dorsalen Rande des oberen
Sitzbeinastes an mit Ausnahme der Stelle, wo der M. spinoso-
caudalis vom Sitzbeine entspringt. Auch bei Sus scrofa
Fig. 6.
Sus serofa fera (neonatus). Ventralansicht der Sitzbeinwirbelsäule-
verbindungen.
s; = Corpus Vert. saer. 3. p.=N. pudendus. sp. e.—=M. spinosocaudalia.
sp. s. ©. — Lig. spinososaerocaudale. t. s. e. = Lig. tuberososaeroeaudale.
ist ein solches starkes, plattes Band vorhanden, wie aus Fig. 6,
welche die Abbildung der Ventralansicht der Sitzbeinwirbel-
säuleverbindungen eines neugeborenen wilden Schweines ist,
ersichtlich ist. An der linken Seite ist das Band dargestellt,
dessen caudaler Teil leider beschädiet war. Es zeigt sich,
dass im Ligament zwei Fasersysteme unterschieden werden
können: die Fasern des einen Systems entspringen von der
Umgebung der Spina ischiadieca, die des zweiten vom Sitz-
43*
658 W. A. MYSBERG,
heinknorren. Die Faserzüge der beiden Systeme sind im Bande
kreuzweise geordnet. Der N. pudendus tritt durch die Lücke
zwischen den Ursprüngen der Fasersysteme vom Sitzbeine
wieder in die Beekenhöhle hinein; offenbar müssen also die
Fasern des ersten Systems als Lig. spinososacrocaudale, die
‚les zweiten als Lie. tuberososacrocaudale bezeichnet werden.
Die caudale Grenze des Kreuzbeines war beim jungen Tier
noch nieht deutlich.) Auf der Innenfläche des Bandes liegt
ein Muskel, der von der Spina ischiadica, der Iigamentösen
Beerenzung des Hiatus zum Durchtritt des N. pudendus und
dem Sitzbeinknorren entspringt. Es ist klar, dass dieser sehr
besondere Ursprung des Muskels die Ursache davon ist, dass
man aus seiner Lagebeziehung zum N. pudendus nicht im-
stande ist, seine Provenienz zu bestimmen. Aus seiner Faser-
richtung, die mit der des Lig. spinososacrocaudale genau über-
einstimmt, lässt sich jedoch schliessen, dass der vorliegende
Muskel ein M. spinosocaudalis ist, dessen Ursprungslinie sich
in caudaler Richtung stark verlängert hat. Zuckerkand!
‘15, S. 665) berichtet, dass bei einem Huftiere der Familie
der Cervidae das Band zwischen Sitzbein und Wirbelsäule
nur durch ein Lig. spinososacrocaudale repräsentiert wurde.
Ordnung der Simiae. Bei Cebus capucinus eI-
streckt sich zwischen der Spina ischiadiea und den Querfort-
sätzen (des dritten Sacral- und des ersten bis zum vierten Caudal-
wirbels eine Verbindung, deren eraniale am Kreuzbeine sich an-
heftende Fasern fibrös und deren caudale muskulös sind. Durch
die Lage des N. pudendus an ihren Aussenflächen erweist
das Band sich als Lig. spinososacrale, der Muskel als M.
spinosocaudahs. Bei Cercopitheceus eynosurus findet
sich nur ein M. spinosocaudalis, der sich inseriert an den drei
vorderen Schwanzwirbeln. Bei Simia satyrus ist die spi-
nososacrocaudale Verbindung gebildet wie bei Cebus, es setz!
der muskulöse Teil sich aber nur an drei Schwanzwirbeln Test.
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 659
Ausserdem erstreckt sich zwischen dem Sitzbeinknorren und
der Schwanzwirbelsäule ein Lig. tuberosocaudale, von dessen
dorsaler Fläche die eaudalen Fasern des M. glutaeus maxımus
entspringen. Das Band lässt sich nicht scharf abgrenzen, weder
am Ursprunge vom Tuber ischiadieum, noch an der Insertion
an der Wirbelsäule, wo die Fasern sich in das Perimysium ex-
ternum verlieren, das die ventrale Fläche desjenigen Teiles
des M. glutaeus maximus, der vom letzten (dritten) Schwanz-
wirbel entspringt, überdeckt.
Übrige Daten, den Primaten betreffend, sollen später mit-
geteilt werden. Hier sei nur noch kurz erwähnt, dass beim
Menschen ein Lig. spinososacrum und ein Lig. tuberososacrum
vorhanden sind, während an der ventralen Fläche ersteren
Bandes namentlich im caudalen Teil Reste eines M. spinoso-
caudalis in wechselnder Stärke erhalten sind. Es sei jedoch
betont, dass diese Bänder eher die Namen Lig. spinososacro-
caudale und Lig. tuberososacrocaudale beanspruchen könnten,
da ihre caudalen Fasern sich am ersten bzw. ersten und zweiten
Steissbeinwirbel ansetzen.
In den folgenden Zeilen sollen die obigen Daten übersicht-
lich dargestellt werden. In dieser Übersicht werden die Liege.
spinoso- (bzw. tuberoso-) sacrale, -caudale und -sacrocaudale
unter den Namen Lig. spinoso- \bzw. tuberoso-) sacrveaudale
genannt werden.
Die Verbindungen zwischen dem Sitzbeine und der Wirbel-
säule werden gebildet durch:
1.M. spinosocaudalis und M. tuberosocaudalis.
Unter den Rodentia bei Dasyprocta agutı, Hystrix cristata.
2. M. spinosocaudalis:
Unter den Monotremata bei Echidna aculeata.
Marsupialia bei Phalangista vulpina, Didelphvs
marsupialis, Petrogale penicillata.
560 W. A. MYSBERG,
Unter den Insectivora bei Tupaia ferruginea.
Chiroptera bei Vespertilio murinus.
(aleopithecidae bei Galeopithecus volans.
Rodentia bei Lepus euniculus, Mus decumanus.
Carnivora bei Felis domestica, Herpestes spec.
x „ >Simiae bei Cercopithecus cynosurus.
3. M. spinosocaudalis und M. tuberosocaudalis
—+ Lig. tuberososacrocaudale:
Unter den Carnivora bei Ursus malayanus.
4. M. spinosocaudalis und Lig. tuberososacro-
caudale:
Unter den Rodentia bei Dipus aegypticus.
RE „ Carnivora bei Canıs familiarıs.
& „ Artiodaectyla bei Cephalophus maxwell.
5. M. spinosocaudalis — Lig. spinososacrocau-
dale:
Unter den Simiae bei Cebus capucinus.
6.M. spinosocaudalis 4 Lig. spinososacrocau-
dale und Lig. tuberososacrocaudale:
Unter den Insectivora bei Erinaceus europaeus.
5 ‚„ Artiodactyla bei Sus scrofa.
e „ Simiae bei Simia satyrus.
en „ Hominidae bei Homo recens.
7. Lig. spinososacrocaudale:
Unter den Insectivora bei Talpa. (Das Band ist gewöhn-
lich gänzlich verknöchert.)
s „ Artiodactyla bei einem Mitglied der Familie der
Cervidae (Zuckerkandl, 15, S. 665.)
8 M. tuberosocaudalis:
Unter den Rodentia bei Cavia cobaya.
9. Knöcherne Verbindung und M. tuberosocau-
dalis:
Unter den Xenarthra bei Tatusia novemeincta.
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 661
10. Knöcherne Verbindung und M. tuberosocau-
dalis — 'Lieistwberososacroeaudale:;
Unter den Xenarthra bei Bradypus tridactylus.
11. Knöcherne Verbindung:
Unter den Chiroptera bei Pteropus edwardsil.
12. Knorpelige Verbindung und M. tuberosocau-
dalıs Lig. tuberososacrocaudale:
Unter den Pholidota bei Manis spec. {Vielleicht findet bei
älteren Tieren Verknöcherung statt.)
Aus dieser Übersicht ergibt sich, dass die Formen, in
denen die Verbindungen zwischen Sitzbein und Wirbelsäule er-
scheinen, manniefaltig sind und dass auch innerhalb einer
Ordnung die Beschaffenheit der Verbindungen bedeutende
Unterschiede aufweist. Ks drängt sich uns nun die Frage auf
nach der Homologie der Verbindungen ; die Herkunft der knö-
chernen Verbindungen wurde schon erforscht; es erhebt sıch
aber die Frage, ob das Lig. spinososacrocaudale dem M. spinoso-
caudalis, das Lig. tuberososacrocaudale dem M. tuberosocau-
dalıs homolog zu betrachten sei.
Hinsichtlich der spinosocaudalen Verbindungen sind für
die Beantwortung dieser Frage die sub 5-7 verzeichneten
Säugetiere von Bedeutung; von den genannten sind die Ana-
tomie der Verbindung und ihre Entwickelung beim Menschen
am besten bekannt. Es empfiehlt sich daher, bei der Be-
sprechung von dem Zustand beim Menschen auszugehen. Beim
Neugeborenen ist die genannte Verbindung gewöhnlich gänz-
lich muskulös, es werden aber während der postnatalen Ent-
wickelung die muskulösen Elemente allmählich von Bandfasern
verdrängt: Beim Erwachsenen findet sich an der Stelle des
Muskels ein Band, an dessen innerer Fläche namentlich im
caudalen Teil Reste des Muskels {mit dem Namen M. coceygeus
bezeichnet) in verschiedener Stärke erhalten sind). Die Ent-
PeVvok Hall (5.8. KILfE)
662 W. A. MYSBERG,
wickelung des Bandes auf Kosten des Muskels beweist beider
innieen Zusammenhang. Die Ursache der fibrösen Umwandlung
der Muskelfasern lässt sich leicht erraten. Beim rezenten Men-
schen heften weitaus die meisten Fasern sich am unbeweg-
lichen Kreuzbeine an, bei Stammformen des Menschen aber
war das Kreuzbein aus einer geringeren Anzahl von Wirbeln
zusammengesetzt als beim rezenten Menschen und der M.
spinosocaudalis inserierte sich an beweglichen Schwanz-
wirbeln. Während der Phylogenie jedoch wurden diese Wirbel
in das sich nach hinten vergrössernde Kreuzbein aufgenommen.
Der M. spinosocaudalis verlor damit seine Funktion. In diesem
Verlust der Funktion liegt die Veranlassung zur fibrösen Um-
wandlung der Muskelfasern, ein Vorgang, der während der
ontogenetischen Entwickelung des rezenten Menschen erst ın
einem späten Stadium stattfindet. Die andern sub 5 und 6
genannten Tiere besitzen einen M. spinosocaudalis und ein
Lig. spinososacrocaudale, deren Ursprünge wie auch deren In-
sertionen sich kontinuierlich ineinander fortsetzen ; immer bildet
das Band den eranialen Teil der Verbindung, seine Fasern in-
serieren sich am Kreuzbeinseitenrand und bisweilen auch am
Querfortsatze des wenig beweglichen ersten Schwanzwirbels.
Auch hier ist also die Entstehung des Bandes durch fıhröse
Umwandlung cranialer Fasern des M. spinosocaudalis infolge
der Immobilisation ihrer Ansatzstellen sehr wahrscheinlich.
Auch bei den sub 7 genannten Tieren dürfte eine analoge Her-
kunft des Bandes angenommen werden, denn nichts wider-
spricht dieser Auffassung, während es, sofern ich sehe, keine
andere Entstehungsmöglichkeit gibt.
Die Frage, ob das Lig. tuberososacrocaudale dem M. tu-
berosocaudalis homolog sei, ist schwerer zu beantworten. In
einigen Fällen ist es sehr wahrscheinlich, dass das Band durch
fibröse Umwandlung von Fasern des M. tuberosocaudalis
entstand infolge Immobilisation der Ansätze: bei Manis und
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 663
bei Bradypus tridactylus schliessen sich an dem am Kreuz-
bein und am wenig beweglichen ersten Schwanzwirbel, bzw.
nur am ersten Schwanzwirbel, sich festsetzenden Lig. tuberoso-
sacrocaudale bzw. tuberosocaudale die Fasern des M. tuberoso-
caudalis unmittelbar an; auch beim Ursus malayanus ist dieses
der Fall: bei letzterem Tiere wird die Wahrscheinlichkeit der
genannten Annahme grösser durch den Umstand, dass beim
Ursus americanus an der Stelle des Bandes Muskelfasern liegen.
Dass jedoch bei allen Säugetieren die (renese des Bandes eine
solche sein sollte, ist nicht wahrscheinlich: beim Igel z. B.
setzt das Band sich nicht am Seitenrand des Kreuzbandes an,
und es strahlen die Fasern in die Fascie, welche die dorsalen
sacralen und caudalen Muskeln bedeckt, aus. Eine derartige
Ausbreitung dürfte man nicht von einem Bande erwarten, das
durch fibröse Umwandlung der Fasern eines sich an Querfort-
sätzen inserierenden Muskels entstanden wäre; zu bedenken
ist aber, dass die Ausbreitung eine sekundäre sein könnte.
Wo ein Lig. tuberososacrocaudale vorhanden ist, Findet
man es stets in enger Beziehung zum M. glutaeus maximus,
und zwar so, dass die caudalen Fasern des Muskels vom
Bande entspringen !). Beim Ursus malayanus, wo das Band
sehr wahrscheinlich aus dem M. tuberosocaudalis hervorge-
oangen ist, ist die genannte Beziehung oftenbar eine sekundäre:
es fragt sich aber, ob dieses immer der Fall ıst. Das Gewicht
dieses Punktes wird sich aus den Betrachtungen über die
Homologie der tuberososacrocaudalen Verbindungen der Pri-
maten, mit welchem Thema wir uns ın den folgenden Zeilen
näher beschäftigen werden, zeigen. Beı den Primaten fehlt
gewöhnlich ein M. tuberosocaudalis. Kohlbrugge 7) je-
!) Bei Manis ist dies nicht der Fall. Der M. femorococeygeus (der
caudale Teil des M. glutaeus maximus) entspringt von den Seitenrändern der
stark entwickelten Querfortsätze von S;,, C, und Ö,, während das Band sich
an den ventralen Flächen der Querfortsätze von S, und C, ansetzt. Bei
Bradypus habe ich den Ursprung des Muskels nicht bestimmt.
664 W. A. MYSBERG,
doch bildet ab und beschreibt bei einem Cercopithecus cyno-
molgus einen „M. tuberosocaudalis“, der vom Sitzbeinknorren
entspringt und sich an den (Querfortsätzen des zweiten und
dritten Schwanzwirbels inseriert. Holl \5, S. 173) erwähnt
beiläufig, dass bei einem von ihm zergliederten Cercocebus
sinicus sich an der Stelle des menschlichen Lig. tuberoso-
sacrum ein Muskel gefunden habe. In der reichhaltigen Pri-
matenliteratur sind mir keine anderen Mitteilungen über das
Vorkommen eines solchen Muskels begegnet, auch fehlte der
Muskel bei einem von mir zergliederten Cercopithecus ceyno-
surus. Unzweifelhaft ist der M. tuberosocaudalis Kohl-
brugges und Holls als eine Variation zu betrachten. Das
variationsweise Auftreten eines normaliter fehlenden M. tube-
rosocaudalis ist auch beim Kaninchen beobachtet worden: ge-
wöhnlich fehlt diesem Tier jegliche tuberososacrocaudale Ver-
bindung, jedoch berichtet Lubsen (12, S. 95): „Daneben“
ıd. h. neben dem M. spinosocaudalis) „fand Prof. Bolk bei
Untersuchungen, deren Ergebnisse er mir freundlichst zur Ein-
sicht überliess, einen M. tuberososacrum, der am Tuber ischi
zur Anheftung kam.“ »— Über das Vorkommen eines Lig.
tuberososacrocaudale und ın Zusammenhang damit über die
Beschaffenheit des caudalen Randes des M. glutaeus maximus
kann folgendes bemerkt werden: Unter den Platyrrhina fand
vandenBroek (2) bei Cebus apella kein Lig. tuberososacro-
caudale, der caudale Rand des M. glutaeus maximus war nich!
verdickt oder verstärkt. Bei dem von mir zergliederten Cebus
capucinus aber ist dieser Rand von der Wirbelsäule an eine
kleine Strecke entlang fibrös. Ateles ater besitzt nach van
den Broek ein kräftiges Lig. tuberosocaudale zwischen den
Querfortsätzen einiger Caudalwirbel und dem Sitzbeinknorren
ausgespannt; die caudalen Fasern des M. glutaeus maxımus
entspringen vom Bande. Unter den Katarrhina beschreibt
Keith /6, S. 159) bei den UCynomorpha das Band als den
Über d. Verbinduneen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 665
verdickten unteren Teil der Fascie des M. glutaeus maxımus.
Beim von mir zergliederten Cercopithecus eynosurus fehlte das
Band und zeigte der Rand des M. glutaeus maximus keinen
besonderen Bau; über einen Macacus rhesus berichtet van
den Broek (2, S. 97): ‚Zwar waren im unteren Rande
des M. glutaeus maximus, welcher von den Schwanzwirbeln
seinen Ursprung nimmt, die Fasern etwas fester gefügt, aber
von einem richtigen Ligamente konnte eigentlich nicht ge-
gesprochen werden.“ Bei Hylobates fand er ein kräftiges Lig.
tuberosocaudale, das sich am ersten Schwanzwirbel ansetzte.
Orang Utan und Schimpanse besitzen nach diesem Autor ein
Lig. tuberosocaudale, dessen craniale Fasern das Kreuzbein
erreichen. Beim von mir präparierten Simia satyrus konnte
das Band nicht scharf abgegrenzt werden: es verlor sich ın
das Perimysium externum des M. glutaeus maxımus in der
Gegend des dritten Schwanzwirbels. Beim Menschen heftet
sich das Band am Seitenrande des Kreuzbeines und an den
oberen zwei Steissbeinwirbeln an.
Die gesammelten Daten können folgenderweise zusammen-
oefassit werden:
1. Wenn bei den Primaten eine Bandverbindung zwischen
dem Sitzbeinknorren und der Wirbelsäule ausgespannt ist, zeigt
sie sich nach ihrem Wesen als ein Lie. tuberosocaudale; beı
den Anthropomorpha erreichen nur die cranıalen Fasern das
Kreuzbein; beim Menschen jedoch ist die Hauptmasse des
Bandes am Os sacrum befestigt.
2. Die Bandverbindung findet sich beim Menschen, bei
den Anthropomorphen und den Hylobatiden, nur ausnahms-
weise bei den niederen "Affen \Ateles); wohl aber ist bei
ihnen der caudale Rand des M. glutaeus maxımus je nach dem
Repräsentanten mehr oder weniger fibrös verstärkt.
3. Ist ein Lig. tuberososacrocaudale anwesend, so ent-
springen vom Bande die caudalen Fasern des M. glutaeus maximus.
666 W. A. MYSBERG,
Die Befestigung des Bandes ausschliesslich oder doch
fast ausschliesslich an der Schwanzwirbelsäule an einem
Puncto mobil also ‚die starke Ausbreitung des mensch-
lichen Bandes den Kreuzbeinseitenrand entlang ist wohl sekun-
där) macht eine Entstehung durch fibröse Umwandlung der
Fasern des M. tuberosocaudalis sehr unwahrschemlich, denn
ausser Verlust der Beweglichkeit liesse sich keine andere Ür-
sache einer solchen Umwandlung denken. Gegen diese Ent-
stehungsmöglichkeit spricht auch die Tatsache, dass niemals
Reste eines M. tuberosocaudalis neben dem Bande vorhanden
sind, was doch mit Rücksicht auf die Beweglichkeit der In-
sertion erwartet werden (dürfte. Hingegen zeugen diese Er-
wägungen für eine andere Auffassung, nämlich diese, dass
das Band entstanden sei durch fibröse Verstärkung des
caudalen Randes des caudalen, von Schwanzwirbeln ent-
springenden Teiles des M. glutaeus maxımus vielfach als
M. femorococeygeus unterschieden , ein Prozess, der schon
bei den niederen Affen anfängt und fortschreitet bis die fibrösen
Fasern einen Ansatz am Sitzbeinknorren gewinnen. Aus
welchem Substrat die Fasern hervorgehen, lässt sich nicht
so leicht feststellen: dass fibrös umgewandelt gewordene Fasern
des M. glutaeus maximus einen neuen Ansatz am Tuber ischia-
dieum gewinnen dürften, erscheint mir sehr unglaublich;
wahrscheinlicher ist, dass die Bandfasern sich aus dem Binde-
voewebe der Umgebung differenzieren. Keith spricht sich be-
züglich dieser Frage folgenderweise aus: „Es kommt mir vor,
dass das Substrat, aus welchem das Band hervorgegangen ist
(the real basis of the ligament), das grosse laterale intermusku-
läre Septum ist. Die Tatsache, dass das Band von den
Spitzen der Querfortsätze entspringt und dass es durch die Lige.
sacroiliaca in dieses Septum der Lumbalregion sıch fortsetzt,
heweist einen solchen Zusammenhang“ !). Meines Erachtens
Fur S
I) Die Übersetzung ist von mir.
Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 667
liegt die Sache viel einfacher und ist es das Perimysium
externum des M. glutaeus maximus, welches selbstverständ-
lich mit dem Tuber ischiadieum mittels lockeren Bindegewebes
verbunden ist, aus welchem das Band hervorgegangen ist. Die
oben erwähnten, von mir beim Orange Utan angetroffenen Ver-
hältnisse des Bandes stützten diese Annahme.
Die Anatomie des Ligaments beim Igel dürfte zu der
Annahme einer der bei den Primaten dargetanen analogen Ent-
stehungsweise berechtigen. Bei den übrigen Säugetieren ist die
Entstehungsweise einstweilen nicht festzustellen.
Aus unseren Untersuchungen ergeben sich folgende Re-
sultate:
l. Das Lig. spinososacrocaudale ist dem M. spinoso-
caudalis homolog und entstand durch fihröse Umwandlung
von Muskelfasern infolee Immobilisation ihrer Insertion.
2. Das Lie. tuberososacrocaudale ist bei einigen Tieren
(Bradypus, Manis) dem M. tuberosocaudalis homolog und ent-
stand in einer Weise der Bildungsart des Lig. spinososacrocau-
dale analog; bei anderen (Primaten, Erinaceus| ? |) entstand es
durch fibröse Verstärkung des caudalen Randes des M. glu-
faeus maxımus \M. femorococeygeus); bei einer dritten Gruppe
lässt sich die Entstehungsweise nicht feststellen, dürfte je-
doch eine der beiden eenannten sein.
3. Die knöcherne Verbindung zwischen Sıtzbein und
Wirbelsäule entsteht durch Bandverknöcherung (Talpa), oder
sie kommt dadurch zustande, dass Sıtzbein und Wirbelsäule,
welche einander dicht genähert sınd, sich erst knorpelig, dann
knöchern mit einander verbinden (Xenarthra, Chiroptera |? |).
Über den Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit
der Sitzbeinwirbelsäuleverbindungen und den statischen Ein-
flüssen, denen das Becken ausgesetzt ıst, hoffe ich bald ın
einer Abhandlung zu berichten, welche ausser obenerwähnten
auch die übrieen Beckenverbindungen berücksichtigen soll.
18.
. Weber, M., Die Säugetiere. Jena 1904.
16.
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