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Full text of "Anatomische Hefte"

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ANATOMISCHE HEFEE 


ERSTE ABTEILUNG. 


ARBEITEN AUS ANATOMISCHEN INSTITUTEN. 


ANATOMISCHE HEFTE, 


BEITRÄGE UND REFERATE 


ZUR 


ANATOMIE UND ENTWICKELUNGSGESCHICHTE. 


UNTER MITWIRKUNG VON FACHGENOSSEN 
HERAUSGEGEBEN VON 


FR. MERKEL UND R. BONNET 


0. Ö. PROFESSOR DER ANATOMIE IN GÖTTINGEN 0. Ö. PROFESSOR DER ANATOMIE IN BONN. 


ERSTE ABTEILUNG. 


ARBEITEN AUS ANATOMISCHEN INSTITUTEN. 
54. BAND (162., 163,, 164, HEFT). 


MIT 49 TAFELN UND ZAHLREICHEN TEXTFIGUREN. 


WIESBADEN. 
VERLAG VON)JF.BERGMANN. 
1917. ; 


Nachdruck verboten. 


Das Recht der Übersetzung in alle Sprachen, auch ins Russische und 
Ungarische, vorbehalten. 


Druck der Königl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. 6., Würzburg. 


Inhalt. 


162. Heft (ausgegeben im Juni 1916). Seite 
R. Zander, Versuch der Erklärung eines Falles von seltener Lage- 
abweichung des Colon descendes und des Colon sigmoideum 
beim erwachsenen Menschen aus der Entwickelungsgeschichte 

des Darmes. Mit 5 Figuren auf Tafel 12 . .. .... 1 


Harry Sicher, Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 
Mıt 20 Textabbildungen und 36 Figuren auf den Tafeln 3—6 51 
H. Strahl, Über einen jungen menschlichen Embryo nebst Be- 
merkungen zu Ü. Rabl's Gastrulationstheorie. Mit 1 Abbildung 
in ext und 2. Abbildungen auf Tafel 8 Er 
H. Triepel, Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. 
Chordulation. Mit 1 Textfigur und 11 Figuren auf Tafel 9/11 149 


163. Heft (ausgegeben im September 1916). 


Knud H. Krabbe, Histologische und embryologische Unter- 
suchungen über die Zirbeldrüse des Menschen. Mit 28 Figuren 


auiedenzfkafeln 12—-26:.: ...2° 02 2 ST 
Th. E. Hess Thaysen, Über den Bau und die Entstehung der 
Hasstra coli.  Mit:15. Figuren im Text rer an 


J. Sobotta, Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der 
Säugetiere in den Eileiter und des Transportes durch diesen 
in den Uterus. Mit 16 Figuren auf Tafel 27—34. . ... 5359 


164. Heft (ausgegeben im April 1917). 

Elisabeth Herzfeld, Über die Natur der am lebenden Tier 
erhaltenen granulären Färbungen bei Verwendung basischer 
und saurer Farbstoffe. Mit 3 Abbildungen im Text und 21 Ab- 
hildungen, auf Tafel 35/367. 2.2 7a00. a re ee AA 

Dr. Ruppricht, Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikular- 
knorpel nebst Bemerkungen über das Os ceuboides secund. 

Mit 26 Figuren auf den Tafeln 7—45 . . . 2. ..2......524 

L. Grünwald, Die Nasenmuscheln des Menschen, dargestellt auf 
Grund der Entwiekelung und des Vergleichs. Mit 52 Abbil- 
dungen im Text und auf Tafel 46-49. . . . 2.....55 

W. A. Mysberg, Über die Verbindungen zwischen dem Sitzbeine 
und der Wirbelsäule bei den Säugetieren. Mit 6 Abbildungen 
im Text ROTE een 


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VERSUCH DER ERKLÄRUNG EINES FALLES VON SELTENER 

LAGEABWEICHUNG DES COLON DESGENDENS UND DES CGOLON 

SIGMOIDEUM BEIM ERWACHSENEN MENSCHEN AUS DER ENT- 
WICKELUNGSGESCHICHTE DES DARMES. 


VON 


R. ZANDER, 


KÖNIGSBERG ı. P. 


Mü 5 Figuren auf Tafel 1/2. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd, H. 1). 


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zum 5. April 1915 


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Bei der Erklärung der Lage der Baucheingeweide an der 
Leiche eines erwachsenen Mannes während der Präparier- 
übungen im Winter 1912/1913 fand ich eine bis dahin von 
mir noch nicht beobachtete Lageabweichung des Dickdarmes. 
Die Durchsicht der Literatur, zu der mich die Beobachtung 
veranlasste, bestätigte meine Annahme, dass es sich um ein 
seltenes Vorkommnis handele. Bei der ausserordentlich grossen 
Häufigkeit von Lageabweichungen des Dickdarmes war es mir 
zweifelhaft, ob eine Veröffentlichung der Beobachtung von 
Interesse wäre, und ich habe darum mit einer Mitteilung ge- 
zögert. Schliesslich habe ich mich doch dazu entschlossen, 
weil die eigentümliche Verlagerung des unteren Dickdarm- 
abschnittes, die die wesentlichste Erscheinung dieses Falles 
darstellt, mir nicht ohne praktisch medizinische Bedeutung 
zu sein scheint, was mir auch von Chirurgen bestätigt wurde, 
vor allem aber weil ich den Fall für geeignet halte, um eine 
entwickelungsgeschichtliche Erklärung der abweichenden Ver- 
hältnisse zu versuchen. 

Nach Eröffnung der Bauchhöhle erblickte man die normal 
aussehende Leber im rechten Hypochondrium und in der 
Regio epigastrica, unter dem rechten Leberlappen einen Dick- 
darmabschnitt, der einen kleinen oberen Teil der rechten Regio 
abdominalis lateralis einnahm, den stark ausgedehnten Magen 
in der gewöhnlichen Lagerung im linken Hypochondrium und 
im Epigastrium und das wenig fetthaltige grosse Netz, das 
bis zum kleinen Becken hinabreichte und seitlich in die Regiones 


6 R. ZANDER, 


abdominales laterales sich erstreckte. Nachdem das Netz em- 
porgehoben war, fanden sich an der rechten Seitenwand der 
Bauchhöhle und in der rechten Hälfte der Beckenhöhle mässig 
geblähte Diekdarmabschnitte, während das mittlere Gebiet der 
Bauchhöhle und die linke Seite der Bauch- und Beckenhöhle 
von Dünndarmschlingen erfüllt waren. Sobald die Dünndarm- 
schlingen herausgehoben waren, fiel zunächst der ungewöhn- 
liche Verlauf der Radix mesenterii und des Dickdarmes von 
der Flexura coli sinistra ab und das Fehlen des Dickdarmes 
in der Regio abdominalis lateralis sinistra und in der linken 
Fossa iliaca in die Augen (s. Fig. 1). 

Die nähere Untersuchung ergab folgendes: 

Das hufeisenförmige Duodenum hatte die übliche Lage 
(vgl. Fig. 2): Seine Pars superior krümmte sich in der Höhe 
des Körpers des ersten Lendenwirbels über die vordere Fläche 
der rechten Niere hinweg zuerst nach oben, dann nach hinten 
und rechts. Der absteigende Teil des Duodenums verlief, wie 
sich nach Ablösung der Flexura coli dextra zeigte, an dem 
lateralen Rande der unteren Hälfte der Niere. In der Höhe 
zwischen zweitem und drittem Lendenwirbelkörper bog als- 
dann das Duodenum um den unteren Nierenpol herum, zog, 
medialwärts und ein wenig cranialwärts verlaufend, in der 
Höhe des unteren Randes des Körpers des zweiten Lenden- 
wirbels über die Mittellinie hinweg. Auf der linken Seite 
der Wirbelsäule ging der Darm in stumpfem Winkel aus der 
äufsteigenden in die rein quere Richtung über, die er 4 cm 
weit einhielt. Darauf bog er, direkt in die entgegengesetzte 
Richtung umkehrend, etwa 8 cm von der Mittelebene und 
fast ebensoweit (7,5 cm) von der linken Seitenwand der Bauch- 
höhle entfernt, unter ganz spitzem Winkel nach rechts zurück. 
Diese Umbiegungsstelle des Dünndarms lag zwischen dem 
oberen Pol der linken Niere und dem Colon transversum. 
Die von hier aus in querer Richtung nach rechts zurück- 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum ete. 7 


laufende Darmschlinge war mit ihrer hinteren Fläche durch 
lockeres Bindegewebe an die vordere Fläche der dahinter ge- 
legenen Darmschlinge befestigt. Die obere Hälfte ihrer vorderen 
Fläche befand sich hinter dem Anheftungsrande des Mesocolon 
transversum, die untere Hälfte unter ihm und dicht hinter 
dem Peritonaeum parietale. Ihre untere Fläche grenzte eben- 
falls an das Peritonaeum und sprang als Kante nach unten 
zu vor. Der von Peritonaeum bedeckte Teil der Dünndarm- 
schlinge bildete die dorsale Wand eines Recessus (vgl. Fig. 1- 
und 3), den nach vorn das Mesocolon transversum, nach unten 
eine Peritonaealfalte begrenzte, die am oberen Rande des Colon 
transversum ca. 2 cm breit begann und, allmählich niedriger 
werdend, schräg nach abwärts gegen die Mittellinie zu verlief 
und in der Radix mesenterii verschwand. Der freie scharfe 
bogenförmige Rand dieser Falte richtete seine Concavität nach 
oben. Geöffnet war dieser Recessus nach rechts; sein blindes 
Ende lag links, zwischen dem medialen Rand der Flexura 
coli sinistra und der vorderen Fläche des oberen Nierenpoles. 
Der Eingang zum Recessus hatte einen Durchmesser von 
ca. 5 cm. Nachdem der ventrale Schenkel der querverlaufenden 
Dünndarmschlinge, vor der Arteria und Vena mesenterica 
superior hinziehend, die Mittellinie gekreuzt hatte (vgl. Fig. 2), 
bog er 2 cm nach rechts von ihr nach vorn und unten um 
und erhielt nun einen vollständigen Peritonaealüberzug. 

Die Anheftungslinie des Mesenterium (vgl. Fig. 1) hatte 
ihren oberen Fusspunkt rechts von der A. und V. mesenterica 
superior an der rechten Seite des unteren Randes des Körpers 
des zweiten Lendenwirbels. Sie wandte sich zunächst schräg 
nach links und caudalwärts bis zur linken Seite des unteren 
Randes des Körpers des dritten Lendenwirbels und bildete 
dann einen flachen, nach rechts concaven Bogen, der an der 
rechten Articulatio sacroilica die Linea terminalis erreichte. 
Der Peritonaealüberzug der rechten Fläche des Mesenterium 


8 R. ZANDER, 


bog entlang der Anheftungslinie in das Peritonaeum parietale 
der Rückwand um. Der Peritonaealüberzug der linken Fläche 
des Mesenterium zog im obersten Abschnitt auf der Rück- 
wand bis zur Radix des Mesocolon transversum und stellte 
die Rückwand des vorher erwähnten Recessus dar. Es folgte 
dann die dreieckige Peritonaealplatte, die von der Wurzel des 
Mesenterium zum oberen Rande der Flexura coli sinistra sich 
hinüberspannte und den Recessus von unten her begrenzte. 
Vom unteren Rande des Körpers des dritten Lendenwirbels 
ab war der Wurzel des Mesenterium der Colonabschnitt, 
weicher von der Flexura coli sinistra schräg über die Rück- 
wand hinweg gegen die rechte Articulatio sacroiliaca hin ver- 
lief, dicht angelagert. Das Peritonaeum zog darum von der 
linken Fläche des Mesenterium aus über die vordere Fläche 
des Dickdarmes hinweg in das Peritonaeum parietale der 
Rückwand. Das Mesenterium war demnach auf der linken 
Seite niedriger als auf der rechten. 

Die letzte Schlinge des Intestinum ileum stieg (vgl. Fig. 1) 
vor der ventralen Fläche des Dickdarmes aus der Beckenhöhle 
empor und mündete vor der Articulatio sacroiliaca dextra, 
von unten nach oben und lateralwärts ziehend, in die mediale 
Seite des Cäcum ein. 

Das Cäcum war 41/, cm lang und erreichte mit seinem 
unteren freien Rande, der medialwärts gekehrt war, die Linea 
terminalis. Es war vollkommen von Peritonaeum bekleidet. 

Hinter dem Cäcum und dem unteren Abschnitt des Colon 
ascendens war eine sehr umfangreiche Peritonaealtasche von 
11 cm Länge und 5 cm Breite vorhanden, die bis zur Crista 
iliaca emporstieg. Die Rückwand dieser Tasche bildeten zwei 
an der Fascia iliaca befestigte, einander parallel verlaufende 
Dickdarmschlingen, die an der Crista iliaca ineinander um- 
bogen. Die vordere Wand der Peritonaealtasche bildeten medial- 
wärts das Cäcum, lateralwärts eine dünne Bindegewebsplatte, 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 9 


die sich vom lateralen Rande des Cäcum zum Darmbeinkamm 
erstreckte und von beiden Seiten mit Peritonaeum bekleidet 
war, das an dem unteren freien Rande der Platte zusammen- 
kam. Diese Verbindungsplatte des Cäcum mit der Seitenwand 
der Bauchhöhle endigte mit einem freien sichelförmigen Rande, 
der seine Concavität nach links gerichtet hatte. Zwischen der 
medialen unteren Seite des Cäcum und dem Endabschnitt 
des Illeum einerseits und der vorderen Fläche des oberen 
Dickdarmschenkels in der Hinterwand der Peritonaealtasche 
andererseits spannte sich eine Peritonaealplatte aus, deren 
linker freier Rand mit dem unteren Ende des Mesenteriums 
verschmolz und ins kleine Becken hinabzog, wo er im Peri- 
tonaeum parietale verschwand. Diese Peritonaealplatte stellte, 
nachdem der Dickdarm vom lleum aus mit Luft aufgeblasen 
war, die linke Seitenwand der Peritonaealtasche dar. 

Der Processus vermiformis ging von der hinteren Wand 
des Cäcum ab in der Höhe des unteren Randes des Ileum 
und 11/, cm lateralwärts von ihm. Er war 5!/, cm lang 
und verlief quer lateralwärts an der hinteren Fläche des 
Cäcums. 

Das Colon ascendens stieg in der rechten Regio abdomi- 
nalis lateralis zur Leber empor, bedeckte den lateralen Rand 
der rechten Niere und bog an der unteren Fläche des rechten 
Leberlappens in üblicher Weise spitzwinklig in das Colon 
transversum um. Das Colon ascendens war nicht von der 
Rückwand der Bauchhöhle abhebbar. Seine vordere und seine 
beiden seitlichen Flächen waren von Peritonaeum überzogen, 
seine hintere Fläche nur soweit, als die eben beschriebene 
Peritonaealtasche emporstieg, nämlich bis zur Höhe der Crista 
iliaca. Die Flexura coli dextra war durch eine ausgedehnte 
Peritonaealfalte, die nahezu transversal verlief, mit der unteren 
Fläche des rechten Leberlappens verbunden. 

Das Colon transversum zog von der Flexura dextra nach 


10 R. ZANDER, 


vorn und unten zur Gegend des Nabels und stieg von hier 
nach links und hinten zur Regio hypochondriaca sinistra 
empor, wo es durch ein kurzes Ligamentum phrenicocolicum 
an das Zwerchfell befestigt war. An der Spitze der 11. Rippe, 
2 em von der seitlichen Bauchwand entfernt, dicht unter dem 


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vorderen-unteren Pol der Milz bog das Colon spitzwinklig nach 


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unten um. 
Von hier aus verlief es schräg nach unten und rechts 


über die vordere Fläche der Niere, die Aorta und die vordere 
Fläche des fünften Lendenwirbels zu der Stelle, wo die rechte 
Articulatio sacroiliaca an die Linea terminalis anstösst. Tänien 
und Haustra, die am Cäcum, Colon ascendens und Colon 
transversum die gewöhnliche Ausbildung zeigten, fehlten diesem 
Dickdarmabschnitt. Seine Befestigung an der Rückwand war 
so innig, dass es nicht von ihr abgehoben werden konnte. 
Das Peritonaeum bedeckte nur seine vordere Fläche. Beim 
Aufblasen des Darmes mit Luft vom Ileum aus wölbte sich 
nur die Vorderfläche dieses Darmabschnittes ein wenig her- 
vor. Die Ausdehnung erfolgte retroperitonaeal. 

Um das untere Ende der Radix mesenterii herum krümmte 
sich sodann das Colon in nahezu rechtem Winkel und stieg, 
nachdem es die Vasa iliaca externa und den M. psoas ge- 
kreuzt hatte, auf der linken Seite der Rückwand der grossen 
Bauchfelltasche hinter dem Cäcum und Colon ascendens schräg 
nach rechts und oben über die Mitte der Fossa iliaca dextra 
bis zur Crista iliaca dextra empor. Dieser aufsteigende Dick- 
darmabschnitt bog in der Höhe der Crista iliaca spitzwinklig 
in einen absteigenden um, der jenem parallel auf der rechten 
Seite der Bauchfelltasche im lateralen Teil der Fossa iliaca 
vor- und lateralwärts von dem aufsteigenden Abschnitt herab- 
zog. Dicht hinter dem Ligamentum inguinale kreuzte er den 
M. psoas und die Vasa iliaca externa und trat dicht hinter 
der Eminentia ileopectinea über die Linea terminalis ins kleine 


11 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 


Becken. Hier lag er an der rechten Seitenwand und zog 
nach hinten und medianwärts, um an der Grenze vom dritten 
und vierten Kreuzbeinwirbel in das Rectum überzugehen. Die 
auf der rechten Darmbeinschaufel emporsteigende linke Dick- 
darmschlinge war im unteren Abschnitt auf ihrer rechten und 
hinteren Fläche von Peritonaeum überzogen. Die an ihrer 
hinteren Wand gelegene Abzweigung der Bauchfelltasche (vgl. 
Fig. 4) breitete sich nach links aus und drang unter dem 
Peritonaeum parietale bis zum Ureter vor. Die rechte ab- 
steigende Diekdarmschlinge war an der Rückwand durch Binde- 
gewebe fixiert und nur an der vorderen und den seitlichen 
Flächen von Peritonaeum überzogen. Der Dickdarmteil, der 
um die Linea terminalis sich krümmte, war an der Becken- 
wand breit angeheftet. Innerhalb der Beckenhöhle besass er 
ein niedriges (1 cm), sehr dickes Mesocolon. 

Das Rectum war wieder fest angeheftet. 

Auch dieser ganze Dickdarmabschnitt besass keine deut- 
lich ausgebildeten Tänien und Haustra. 

Eine ganz ungewöhnliche Ausbildung und Gestaltung 
wiesen die Appendices epiploieae auf. Am Übergang des 
Peritonaeum viscerale in das Peritonaeum parietale- am late- 
ralen Rande des schräg absteigenden Colonteiles, an den 
beiden einander zugekehrten Schenkeln des in der Peritonaeal- 
tasche gelegenen Colonabschnittes und an der hinteren Seite 
des Beckenabschnittes des Diekdarms sassen Appendices epi- 
ploicae von lappenförmiger Gestalt, die mit quergestellter breiter 
Basis von der Darmwand und dem angrenzenden Peritonaeum 
parietale ausgingen und sich gegen ihren gelappten, in mehrere 
Zipfel auslaufenden freien Rand hin verbreiterten. Zumeist 
hatten sie die Form ungleichseitiger Vierecke, deren Basis 
am kürzesten und deren eine freie Seite am längsten war. 
Die Basis mass 3—4 cm, die längste Seite 6—7 cm. Einzelne 
Appendices hatten dreieckige Gestalt. Ihre Zahl war beschränkt. 


12 R. ZANDER, 


Das von der Flexura lienalis aus schräg absteigende Stück 
besass, und zwar nur in seinem unteren Abschnitt, fünf 
solcher gewaltigen Appendices. Am linken Colonschenkel in 
der rechten Fossa iliaca waren zwei vorhanden, am rechten 
fünf. 

Das Colon ascendens besass vier Appendices. Sie waren 
vom medialen Rande der Taenia libera aus quer gegen die 
mediale Anheftungslinie des Darmes hin, die sie indessen 
nicht erreichten, angeheftet. Bei den grössten dieser Appen- 
dices war die Basis 4 cm, die gegenüberliegende freie Seite 
6 cm und die beiden verbindenden Seiten 4 und 8 cm lang. 
Die mediale Seite des Cäcum wies eine einzige kleine Appendix 
auf. Die von der hinteren Fläche des Cäcums ausgehende, 
mit dem unteren Ende der Radix mesenterii verschmolzene 
Peritonaealfalte trug auf ihrem freien Rande eine mittelgrosse 
lappenförmige Appendix. 

In der Abbildung Fig. 1 sind die Appendices epiploicae 
weggelassen, um das Wesentliche des Falles möglichst deut- 
lich hervortreten zu lassen. 

Anzeichen von abgelaufenen entzündlichen Vorgängen an 
dem Bauchfell konnten nicht nachgewiesen werden. 

Das Wesentliche des vorliegenden Falles ist das ab- 
weichende Verhalten des Anfangsteiles des Dünndarmes und 
des Endabschnittes des Dickdarmes. 

Die Pars ascendens duodeni krümmte sich nicht wie ge- 
wöhnlich auf der linken Seite der Vasa mesenterica superiora 
nach vorn zur Flexura duodenojejunalis, sondern setzte sich 
in eine Darmschlinge fort, die in transversaler Richtung gegen 
die Flexura coli sinistra hin verlief und alsdann bis rechts von 
den Vasa mesenterica superiora zurückverlief, um dort sich 
nach vorn zu wenden und den vollständigen Peritonaealüber- 
zug zu erhalten. Als Anfang des Jejunum bezeichnet die be- 
schreibende Anatomie die Stelle des Dünndarmes, wo er ein 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 13 


freies Mesenterium erhält. Es kann keinem Zweifel unter- 
liegen, dass in dem vorliegenden Falle der Anfang des 
Jejunums nicht an der Stelle, wo das Mesenterium beginnt, 
gelegen war, sondern da, wo die Pars ascendens duodeni 
aus der aufsteigenden Richtung links von der Wirbelsäule 
in die transversale umbog. Es handelte sich also um eine 
abnorme Schlingenbildung des Jejunum innerhalb des retro- 
peritonaealen Bindegewebes. 

Die eigentümliche Gestaltung der Anheftungslinie des 
Mesenteriums ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass 
ihr oberer Fusspunkt nach rechts verschoben war. 

Die Lage der Dünndarmschlingen konnte leider nicht sicher 
festgestellt werden. Es wurde zu spät auf sie geachtet, weil 
die Abweichungen erst nach dem Herausheben der Dünndarm- 
schlingen bemerkt worden waren. 

Die Deutung der Befunde am Diekdarm bot keine Schwierig- 
keit. Cäcum, Colon ascendens und Colon transversum wiesen 
die gewöhnlichen Verhältnisse auf. Der Dickdarmabschnitt, 
der von der Flexura coli sinistra aus nach der rechten Arti- 
culatio sacroiliaca zog, war nur als abnorm verlaufendes Colon 
descendens aufzufassen. Die beiden Diekdarmschlingen, welche 
hinter dem Cäcum und Colon ascendens in der rechten Darm- 
beinschaufel lagen und der Darmteil, der über die rechte Linea 
terminalis in die Beckenhöhle hinabstieg, waren nur als Colon 
sigmoideum zu deuten. 

Von Besonderheiten des Peritonaeums war vor allem die 
ungewöhnlich umfangreiche Taschenbildung hinter dem Cäcum 
und Colon ascendens (siehe oben S. 8) beachtenswert. Es 
handelte sich offenbar um einen ganz ausserordentlich weiten 
Recessus retrocaecalis, der sich in einen Recessus retrocolicus 
fortsetzte. Diese Bezeichnungen sind von Broesiket) vor- 


2) Broesike, G., Über intraabdominale (retroperitoneale) Hernien und 
Bauchfelltaschen nebst einer Darstellung der Entwickelung peritonealer For- 
mationen. Berlin 1891. p. 62. 


14 R. ZANDER, 


geschlagen und wohl allgemein übernommen worden. Freilich 
soll nach Broesike dieser Recessus zwischen Cäcum und 
Colon ascendens und der hinteren Bauchwand gelegen sein, 
während in meinem Falle die Schlingen aes Colon sigmoideum 
die Rückwand bildeten. Doch ist dieser Zustand offenbar ein 
secundärer. 

Die Verbindungsplatte der lateralen Wand des Cäcum und 
Colon ascendens mit der lateralen Bauchwand entspricht wohl 
der Bildung, die Broesike als Ligamentum oder als Plica 
parietocaecalis bzw. parietocolica bezeichnet hat, und für die 
jetzt die Bezeichnung Plica caecalıs in Gebrauch ist. 

Die Falte, in welche die Verbindungsplatte zwischen Cäcum 
und Ileum und Colon sigmoideum nach unten ausging, ist wohl 
mit der von Broesiket) als Plica angularıs und von Jon- 
nesco als Plica mesenterico parietalis bezeichneten Bildung 
zu identifizieren. 

Schwieriger zu deuten waren die Falte und der Recessus 
rechts von der Flexura coli sinistra (vgl. oben S. 7). Ich 
möchte die Peritonaealfalte zwischen der Radix mesenterii 
und dem oberen Rande des linken Endes des Colon trans- 
versum mit Rücksicht auf ihre Lage als Plica mesenterico- 
colica bezeichnen. Möglicherweise entspricht sie der Plica 
inframesocolica transversa Broesikes. Broesike?) schlug 
diesen Namen für eine Falte vor, „welche die untere Fläche 
des Mesocolon transversum mit der Flexur und der Wurzel- 
linie des Mesojejunum verbindet‘ und die vordere Wand einer 
von ihm 6 mal beobachteten Bauchfelltasche von respektabler 
Grösse bildet. Diese Tasche war in drei Fällen gänzlich rechts 
von der Flexura duodenojejunalis gelegen und hätte somit 
ohne weiteres als Recessus duodenojejunalis dexter bezeichnet 
werden können, wenn sich nicht in den drei anderen Fällen 


das blinde Ende noch oberhalb der Flexur zwischen die letztere 
und das Mesocolon transversum beträchtlich nach links hin- 
übergeschoben hätte. Aus diesem und aus genetischen Gründen 
schlug Broesike für diese Tasche die Bezeichnung Re- 
cessus intermesocolicus transversus vor, weil sie sich gewisser- 
massen von rechts nach links in die Wurzel des Mesocolon 
transversum hineinschiebt und in transversaler Richtung ver- 
läuft. Die Eingangsöffnung dieser Tasche ist somit rechts, 
ihr blindes Ende links gelegen. Ihre obere bzw. hintere Wand 
wurde von dem Mesocolon transversum und dem Pankreas, 
die untere Wand von dem oberen Abschnitt der Pars ascendens 
duodenı und der Flexura duodenojejunalis gebildet. ‚Das 
blinde Ende des Recessus erstreckte sich in drei Fällen bis vor 
die Vorderfläche der linken Niere.“ In allen von Broesike 
beobachteten Fällen lag die Flexura duodenojejunalis sehr weit 
links. „In einem von diesen Fällen zog der Darm von der 
weit nach hinten gelegenen Flexur zunächst in transversaler 
Richtung nach rechts bis an die Wirbelsäule, um erst dort 
ein Mesenterium zu bekommen, somit nach der landläufigen 
Terminologie in das Jejunum überzugehen. An dieses trans- 
versale Übergangsstück zwischen Duodenum und Jejunum in- 
serierte sich alsdann erst die Plica inframesoeolica.‘“ Offen- 
bar entspricht mein Fall dieser zuletzt angeführten Beobachtung 
Broesikes. Da von einer Verlagerung des Duodenums nichts 
erwähnt wird, so ist wohl anzunehmen, dass die vonBroesike 
als Flexura duodenojejunalis gedeutete Umbiegung des Dünn- 
darmes wie in meinem Falle eine Umbiegung des Jejunums 
darstellte. Ich trage nicht Bedenken, den von mir beobachteten 
Recessus den von Broesike als Recessus intermesocolicus 
transversus bezeichneten Peritonaealtaschen zuzurechnen. 
Broesike konnte in keinem der sechs Fälle „peritonitische 
Residuen oder sonstige Adhäsionen‘“ konstatieren, was auch 
für meine Beobachtung zutrifft (vgl. oben S. 12). 


16 R. ZANDER, 


Die transversale Peritonaealfalte zwischen Flexura coli 
dextra und unterer Fläche des rechten Leberlappens in meinem 
Falle (vgl. oben $. 9) konnte ebenfalls nicht auf entzünd- 
liche Vorgänge zurückbezogen werden und wurde von mir 
als ungewöhnlich grosses Ligamentum hepatocolicum auf- 
gefasst. 

Die Untersuchung der Blutgefässe des Darmkanales in 
meinem Falle ergab nichts Besonderes, ist aber mit Rücksicht 
auf die ungewöhnliche Lagerung des Dickdarmes nicht ohne 
Interesse. 

Die A. und V. mesenterica superior traten, wie oben 
(S. 7) gezeigt wurde, auf der linken Seite des oberen Endes 
der Radix mesenterii hervor. Die A. ileocolica und die 
A. colica dextra entsprangen aus einem gemeinsamen Stamm, 
die A. colica media verhielt sich wie gewöhnlich. 

Die A. mesenterica inferior (vgl. Fig. 5) gab bald nach 
ihrem Austritt aus der Aorta die unter spitzem Winkel zurück- 
verlaufende A. colica sinistra ab. Diese zog in leicht welligem 
Verlauf gegen die Flexura coli sinistra, bog hier nach rechts 
um und verband sich mit der A. colica media. Auf dieser 
Strecke gab sie mehrere starke Zweige an das Colon descendens 
ab. Einer dieser Zweige lieferte einen rücklaufenden Seiten- 
zweig, der am rechten Rande des Colon descendens verlief 
und sich mit einem aufsteigenden Zweige der linken A. sig- 
moidea verband. Dieses Gefäss könnte als Ramus descendens 
der A. colica sinistra aufgefasst werden. 

Von der Rückseite der A. mesenterica inferior ging die 
A. haemorrhoidalis superior hervor; ihr Stamm wandte sich 
leicht nach links und teilte sich in eine linke und eine rechte 
A. sigmoidea. 

Die linke A. sigmoidea zog rechts von der A. haemor- 
rhoidalis superior nach unten, gab links einen starken Ast 
ab, der zum rechten Rande des Colon descendens zog, längs 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum ete. 17 


desselben emporstieg und in den Ramus descendens der 
A. colica sinistra überging. Das Endstück der linken A. sig- 
moidea teilte sich dicht oberhalb der Umbiegung des Colon 
descendens in den Colonschenkel des Colon sigmoideum in 
einen linken Zweig, der zum Colon descendens zog, und in 
einen rechten, der in der hinteren Wand des Colonschenkels 
emporstieg. 

Die rechte A. sigmoidea zog cranialwärts von der linken 
auf das Colon ascendens zu und verlief dann, hinter dem 
Colonschenkel hinweg, zum Rectumschenkel des Colon sig- 
moideum, hinter dessen Rückwand sie sich in einen aufsteigen- 
den und in einen absteigenden Zweig teilte. 

Die A. haemorrhoidalis superior zog in direkter Fort- 
setzung des Anfangsstückes der A. mesenterica inferior nach 
unten, anfangs gedeckt von der A. mesenterica inferior, dann 
links von der linken A. sigmoidea, hinter der Rückenfläche 
des Colon descendens ein wenig links von der Articulatio 
sacroiliaca in die Beckenhöhle. Dicht unterhalb der Linea 
terminalis gab sie nach rechts einen Zweig zum Rectumschenkel 
des Colon sigmoideum ab und zog dann zum Rectum hinab. 

Die Venen verliefen. entsprechend den Arterien. 

Die Annahme, dass in meinem Falle eine Hernia retro- 
caecalis vorliege, zu der ich beim ersten Anblick kam, erwies 
sich bei näherer Betrachtung des Präparates als unhaltbar. 
Die Weite des Einganges des Recessus retrocaecalis und die 
Anordnung des Peritonaeums sprachen dagegen. Ausserdem 
zeigte sich, dass beim Aufblasen des Dickdarmes mit Luft 
vom Ileum aus das Cäcum und die beiden Schenkel des Colon 
sigmoideum trotz stärkster Ausdehnung doch nicht am Ein- 
gang des Recessus eine Einschnürung erfuhren. Es handelt 
sich, wie ich unten zeigen will, wahrscheinlich nicht um ein 
Eindringen des Colon sigmoideum in den Recessus, sondern 
um Vorlagerung des herabwachsenden Cäcum und Colon 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162, Heft (54. Bd. H. 1). 2 


18 R. ZANDER, 


ascendens vor das in der rechten Fossa ilıaca fixierte Colon 
sigmoideum. 

Eine Beobachtung, die mit der meinen vollkommen hin- 
sichtlich des Verhaltens des Dickdarmes übereinstimmt, habe 
ich in der Literatur nicht finden können. Dagegen gibt es 
einige Mitteilungen, in denen das Fehlen des Colon in der 
linken Regio abdominalis lateralis und Fossa iliaca beschrieben 
wird, was von praktisch medizinischer Bedeutung ist. 


Hamdy und Sorour!) berichteten 1909 über ‘einen 
Fall, in dem das Colon descendens ebenfalls von der Flexura 
coli sinistra an schief nach unten und medianwärts fast in 
gerader Linie zur lleocäcalvereinigung zog. Das Colon des- 
cendens berührte dabei zunächst das Endstück des Duo- 
denums?), dann die Radıx mesenterii und unten das Ende 
des Ileum und den Processus vermiformis und war nur an 
seiner vorderen Fläche von Peritonaeum bedeckt. Das stark 
ausgedehnte Colon sigmoideum bildete eine an der rechten 
Seite der Bauchhöhle gelegene umgekehrt U-förmige Schlinge, 
die das Cäcum vollkommen verdeckte. Die Wurzel des Meso- 
colon sigmoideum war in Berührung mit dem Cäcum. Zwischen 
beiden war eine tiefe schmale Spalte, die von dem Processus 
vermiformis eingenommen und zum Teil von einer Peritonaeal- 
falte bedeckt wurde, die vom Mesocolon sigmoideum zur 
vorderen Fläche des Ileum und Cäcum zog. Die ganze linke 
Bauchseite enthielt unterhalb der Ebene der Nieren keinen 
Diekdarm, sondern nur Dünndarmschlingen. 

Aus der kurzen Beschreibung des Falles, die durch eine 
schematische Abbildung vervollständigt wird, lässt sich ent- 
nehmen, dass das Verhalten des Colon descendens dem in 


!) Mahmud Hamdy and Mustafa Fahmy Sorour, On a Case of 
Displacement of the Descending Colon. Journal of Anatomy and Physiology 
Vol. 43. 1909. p. 242—243. 1 Fig. 

®) Nach der Zeichnung die Flexura duodenojejunalis. 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 19 


meiner Beobachtung vollkommen entspricht, während die Lage- 
beziehungen des Colon sigmoideum und des Cäcum) umge- 
kehrte sind: in dem Falle von Hamdy und Sorour lag das 
Colon sigmoideum ventralwärts vom Cäcum und Colon as- 
cendens, in meinem Falle dorsalwärts. 

Sehr ähnliche Verhältnisse schildert wahrscheinlich eine 
Mitteilung von P. Aglavet), die mir leider im Original nicht 
zugängig war und von der ich auch kein Referat aufzufinden 
vermochte. 

. Cruveilhier?) beschreibt in seinem Lehrbuch der Ana- 
tomie als „sehr bemerkenswerte Anomalie“ folgenden Fall: 
Bei einer Person, deren Colon ascendens und transversum 
normale Anordnung zeigten, zog das Colon descendens statt 
senkrecht nach unten schräg von oben nach unten und von 
links nach rechts und senkte sich in die Dicke des Anheftungs- 
randes des Mesenteriums ein, wobei es vor der Portio trans- 
versa des Duodenum verlief. Darauf legte es sich an das 
Cäcum an, um sich dann ins kleine Becken zu senken. 
Cruveilhier meint, dass hier das Colon sigmoideum fehlte 
und das Rectum sich an das Colon descendens unmittelbar 
anschloss. 

Dieser Fall und der meinige haben den schiefen Verlauf 
des Colon sigmoideum gemein. 

Einen weiteren Fall von Schrägverlauf des Colon des- 
cendens von der linken Flexura coli an hat Toldt?) be- 
obachtet. An einer Leiche, deren Leber, Magen und Duo- 
denum sich normal verhielten, zeigte der ungewöhnlich kurze 


!) Aglave, P., Presence simultande de l’S iliaque et du coecum dans la 
fosse iliaque droite adherente entre eux et A la fosse iliaque. Bull. et mem. 
Soc. anat. Paris. Juillet 1906. 

2, Cruveilhier, J., Trait d’anatomie descriptive. IIe Edit. Paris 1843 
Tome 3. p. 348. 

®) Toldt, C., Die Darmgekröse und Netze im gesetzmässigen und im 
gesetzwidrigen Zustand. Mit 8 Tafeln. Denkschriften der Wiener Akademie 
der Wissenschaften. Math.-nat. Klasse. 56. Bd. p. 1-46 ($. 43). Wien 1889. 

9* 


20 R. ZANDER, 


Dickdarm folgende Lage: Der Blinddarm war unmittelbar unter 
dem rechten Leberlappen an das Duodenum und an das Perito- 
naeum parietale vor der rechten Niere angeheftet. Das untere 
Ende des lleum, das in der rechten Darmbeinschaufel fest- 
geheftet war, stieg von da bogenförmig zum Cäcum empor. 
Der dem Colon ascendens entsprechende Dickdarmteil zog an 
der unteren Fläche der Leber schräg aufwärts zur Mittellinie. 
Sein Gekröse war an die vordere Fläche des Duodenalgekröses 
angewachsen. Das Colon transversum erstreckte sich mit 
freiem Gekröse von der Mittellinie nach links und oben .bis 
zu der an normaler Stelle gelegenen Flexura coli sinistra. Von 
dieser aus zog das Colon descendens schief nach unten gegen 
die Wirbelsäule, lagerte sich dann vor derselben dicht an 
die Haftlinie des Dünndarmgekröses und stieg mit diesem innig 
verschmolzen bis an das Promontorium herab, wo es rechts 
von der Mittellinie in das Colon sigmoideum überging. Im 
Bereiche des Colon descendens war ein Mesocolon nicht dar- 
stellbar. Die beiden Schlingen des Colon sigmoideum lagen 
im Becken. Sie waren durch eine kurze Bauchfellbrücke der- 
art unter sich verbunden, dass sie mit ihrem eigenen freien 
Gekröse eine tiefe - trichterförmige Bucht begrenzten. Die 
A. mesenterica inferior entsprang an normaler Stelle, zog aber 
in der Mittellinie vor der Aorta gerade nach unten und gab 
an der Teilungsstelle der Aorta die A. colica. sinistra ab und 
zerfiel bald darauf in zwei Zweige für das Colon sigmoideum 
und für das Rectum. Die A. colica sinistra zerfiel sehr bald 
in einen aufsteigenden und absteigenden Ast, die senkrecht 
neben der Mittellinie und unmittelbar am Colon descendens 
verliefen, dem sie eine Reihe von Zweigen lieferten. 

Toldt führte ausser dieser eigenen Beobachtung zwei 
von Valleix und von Mascarel beschriebene Fälle an, 
in denen das Colon descendens neben dem Colon ascendens 
auf der rechten Bauchseite lag. 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 21 


Valleix!)fand an der Leiche eines 8 Tage alten kräftigen 
Knaben mit doppelter Hasenscharte das Cäcum in der rechten 
Leistengegend an dem Mesenterium des Dünndarms hängend. 
Von da stieg der Dickdarm etwas in die Höhe und bog dann 
nach links um. Sobald er die Mittellinie erreicht hatte, bog 
er um und verlief wieder nach rechts zurück und ging dann 
unter mehrfacher Schlingenbildung in das auf der rechten 
Seite gelegene Colon sigmoideum über. Die Milz fehlte und 
die Leber war transponiert. 

Die Beobachtung von Mascarel?) wurde an der Leiche 
einer 51 Jahre alten Frau erhoben. Das Colon transversum 
wandte sich in der Gegend der Gallenblase mit einer Schlinge 
nach rechts zurück, so dass das. Colon descendens auf der 
rechten Seite parallel dem Colon ascendens zu liegen kam. 
Das Colon sigmoideum lag neben dem Cäcum und das Rectum 
befand sich am gewöhnlichen Platz. Die Dünndärme nehmen 
die linke Lenden- und Darmbeingegend ein. 

Das Gemeinsame der Beobachtungen von Hamdy und 
Sorour, Cruveilhier, Toldt, Valleix und Mas- 
care] und meiner Beobachtung ıst das Fehlen von Dickdarm 
in der Regio ilıaca und abdominalis lateralis sinistra. Dass 
diesem Umstande eine gewisse praktische Bedeutung zukommt, 
ist klar. Handelt es sich doch gerade um das Gebiet, in dem 
am häufigsten der Anus praeternaturalis angelegt zu werden 
pflegt. 

Die Erklärung für das Zustandekommen dieser Verlage- 
rung des Colon descendens und des Colon sigmoideum nach 
rechts ist nicht für alle sechs Beobachtungen die gleiche. 

Die beiden Fälle von Valleix und Mascarel unter- 


} !) Valleix, Bulletins de la societe anatomique de Paris 9e ann&e (1834). 
Editio II. Paris 1852. p. 264 (zitiert nach Toldt). 

?) Mascarel, Bulletins de la societe anatomique de Paris. 15e annde 
(1840) p. 215 (zitiert nach Toldt). 


22 R. ZANDER, 


scheiden sich von den vier anderen dadurch, dass die Um- 
biegungsstelle des querverlaufenden Colon in das absteigende 
nicht links, sondern rechts von der Mittellinie sich fand. 


Die aus dem dorsalen Abschnitt des cranialen Schenkels 
der primären Darmschlinge entstehenden Schlingen des Je- 
junum schieben sich nach links und hinten unter Leber und 
Magen und drängen dabei die Flexur und das Colon des- 
cendens mit ihrem Mesocolon nach links. Schon in der zweiten 
Hälfte des vierten Embryonalmonates, meistens jedoch erst 
im Beginn des fünften kommt es dann zu einer Verwachsung 
zwischen der ursprünglichen linken Fläche des Colon des- 
cendens und dem Peritonaeum parietale an der Stelle, wo 
Niere und Nebenniere sich am stärksten vorwölben. 


Wenn nun in den Beobachtungen von Valleix und 
Mascarel das Colon transversum in der Mittellinie bzw. 
in der Gegend der Gallenblase umbog und nach rechts ver- 
lief, so kann dies nur dadurch zustande gekommen sein, dass 
die Verlagerung in umgekehrter Richtung stattgefunden hat. 
Veranlasst könnte das sein durch eine abweichende Bildung 
der Leber oder durch eine ungewöhnliche Lagerung der Dünn- 
darmschlingen. Im Falle Valleix ist im Referat von Toldt 
ausdrücklich angegeben, dass die Leber ‚transponiert‘ war. 
Ob Valleix nähere Angaben über die Transposition der 
Leber gemacht hat, weiss ich nicht, weil die Arbeit mir nicht 
zugänglich war. Aus dem Referat über den Fall Mascarel 
kann ich wegen der Unvollständigkeit des Sektionsbefundes 
mir kein Urteil über die Entstehungsweise der Abweichungen 
bilden. Auch diese Arbeit konnte ich nicht im Original ein- 
sehen. 


In den vier von Cruveilhier, Toldt, Hamdy' und 
Sorour und mir "beobachteten Fällen ist der überein- 
stimmende Befund der schräge Verlauf des Colon descendens. 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 23 


Nach den Angaben von Toldt!), die ich auf Grund 
von neuerdings ausgeführten Untersuchungen an einer Reihe 
menschlicher Feten vom vierten Entwickelungsmonat ab in 
allen wesentlichen Punkten durchaus bestätigen kann, schreitet 
die Verwachsung des Colon descendens vom Anfang des 
fünften Monats an nach unten zu fort. Gewöhnlich ist das 
Mesocolon descendens im sechsten Monat noch vom unteren 
Nierenpole ab frei und verschmilzt mit dem Peritonaeum parie- 
tale bis zum Ende der Fetalzeit mehr oder weniger weit unter 
dem Darmbeinkamm hinab. 

Die Entstehungszeit der Schräglagerung des Colon des- 
cendens ist hiernach auf die Entwickelungszeit vom Anfang 
des fünften Monats ab zu verlegen. Die veranlassende Ursache 
kann wohl nur ein Zug an dem unteren Ende des Colon 
descendens nach rechts oder seine Verdrängung aus der linken 
Fossa iliaca sein. 

Eine solche Zugwirkung wird nun durch den von mir 
beobachteten Fall in überzeugender Weise demonstriert. Auf 
der rechten Darmbeinschaufel waren die beiden Schenkel des 
Colon sigmoideum fixiert. Das Colon descendens, das an 
beiden Enden, oben an der Flexura coli sinistra, unten durch 
Vermittelung des cranialen Schenkels des Colon sigmoideum 
an der rechten Fossa iliaca befestigt war, musste, sobald 
diese beiden Stellen infolge des Längenwachstums auseinander- 
rückten, in Schrägstellung geraten, falls das Längenwachstum 
vor der Verwachsung des Colon descendens mit der Rücken- 
fläche der Bauchwand eintrat, also vor dem sechsten Ent- 
wickelungsmonat. 

Die Voraussetzung, dass zu diesem Zeitpunkt auch die 
abnorme Befestigung des Scheitels des Colon sigmoideum in 


1) Toldt, C., Bau und Wachstumsveränderungen der Gekröse des mensch- 
lichen Darmkanales. Denkschriften der Wiener Akademie der Wissenschaften. 
Mathem.-naturw. Klasse, 41. Bd. 1979. 56 Seiten. 2 Tafeln. 


24 R. ZANDER, 


der Fossa iliaca dextra schon vorlag, widerspricht nicht tat- 
sächlichen Verhältnissen. 

Seit Winslow!t) zuerst darauf aufmerksam gemacht hat, 
dass die Schlinge des Colon sigmoideum bis auf die rechte 
Seite des Beckens reichen kann, und seit Meckels?) An- 
gabe, dass sie bisweilen mit dem Cäcum verwachsen ge- 
funden werde, ist immer wieder und wieder in anatomischen 
Handbüchern und Sonderarbeiten auf dieses Vorkommnis hin- 
gewiesen worden. Engel?°) fand unter 100 Leichen die 
Schlinge des Colon sigmoideum sechsmal vor dem Blinddarm. 
Gysi®), der vor kurzem an 100 Leichen Erwachsener das 
Colon sigmoideum untersuchte, beobachtete diese Lagerung 
niemals. Ich selbst habe seit 35 Jahren auf Lageabweichungen 
des Colon sigmoideum mein Augenmerk gehabt. Im Beginn 
meiner anatomischen Tätigkeit erlebte ich bei einer mir nahe- 
stehenden Person den unglücklichen Ausgang einer Darm- 
operation, der darauf zurückzuführen war, dass eine Lage- 
anomalie des Colon sigmoideum nicht richtig erkannt worden 
war. Seitdem habe ich bei der Erläuterung der Lage der 
Baucheingeweide meine Schüler stets auf die wechselvolle 
Lage und Gestaltung des Colon sigmoideum und seine zahl- 
reichen Varietäten mit Rücksicht auf ihre praktische Bedeu- 
tung hingewiesen. Meine Beobachtungen beziehen sich auf 
mehr als 1000 Leichen Erwachsener. Leider kann ich keine 
zahlenmässigen Angaben über meine Befunde machen, weil 


!) Jaques-Benigne Winslow, Expositions anatomiques de la struc- 
ture du corps humain. Nouvelle edition. Amsterdam 1752. p. 341. 

®2) Meckel, J. F., Handbuch der menschlichen Anatomie. 4. Bd, Halle 
und Berlin 1820. p. 287. 

®) Engel, Einige Bemerkungen über Lageverhältnisse der Baucheinge- 
weide im gesunden Zustande. Wien. med. Wochenschr. VII. Jahrgang 1857. 
Nr. 30, 32, 33, 35, 37, 39, 41. p. 573. 

*) Gysi, H., Variationen und Anomalien in der Lage und dem Verlauf 
des Colon pelvicam. Arch. f. Anat. u. Physiolog., Anat. Abt. Jahrg. 1914. 
p. 157—188. 4 Tafeln. 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 1. 


Omentum majus 
emporgeschlagen 


‚olon transversum, 
emporgeschlagen 


Jejunum Jejunum 


Recessus Flexura coli sin. 


A. coliea media 


—_ Ansatzstelle des 
Mesenterium 


A. colica dextra ___ — A. colica sinistra 


Colon ascendens 


A. ileocolica Colon descendens 


A. sigmoidea A. haemor- 


-rhoidales sup. 


A. sigmoidea 
Caecum 


Eingang zum 
Recessus retro- 
caecalis 


Plica caecalis — 


Ileum 


- Fossa iliaca 


Rektumschenkel / 


des Colon / 
sigmoideum 


Rektum 


Colonschenkel des 
Colon sigmoideum 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden, 


ER 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft -(54. Bd,, H. 1), 
Fig. 2. 


Pankreas 


Duodenum __ 


erste Schlinge 
” des Jejunum 


>... 


erste freie Schlinge 


= A. mesenterica sup. 
des Jejunum 


- V. mesenterica sup. 
IS e 
Pars ascendens duodeni 


ea 
Pankreas __ y2 Ä 


6 5 


Dorsaler Schenkel der _ 


ersten Jejunumschlinge Mesocolon 


Fig. 3. Ventraler Schenkel der _—— 
ersten Jejunumschlinge 


” 
- 


Recessus intermesoeoliens — 
transversus 


Caecum 


f 


Proc. vermiformis — — _ Teum 3 
Fig. 4. 

Rektunischenke] 2 2 

des Colon sigmoid. —  Colonschenkel 


des Colon sigmoid. 


A. mesenterica superior 


— R, ascendens 
a. col. sinist. 


A. mesenterica inf. — 2 SE 
— A. colica sinistra 


Colon descendens 


R. descendens 
a. col. siuist. 


Aa. sigmoideae A. haemorrhoidalis sup. 


Colonschenkel 
des Colon sigmoid. 


Rektumschenkel des 
Colon sigmoid. > 


Fig. 5. 


Rektum —— 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden 


Tafel 2. 


Plica mesenterica-mesocoliea 


— .. Colon transversum 


N Flex. coli sinist. 


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Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 25 


ich über sie keine Notizen besitze; aber aus der Erinnerung 
kann ich angeben, dass ich einige Male den Scheitel des 
Colon sigmoideum in Berührung mit dem Blinddarm oder in 
der rechten Fossa iliaca, aber doch immerhin sehr selten; 
gefunden habe. 

Cruveilhier!) warf wohl zuerst die Frage auf, ob 
diese Lage des Colon sigmoideum als zufälliges Vorkommnis 
oder als eine von der Entwickelungszeit her sich erhaltende 
Bildung anzusehen sei. Diese Frage schien im letzten Sinne 
entschieden zu sein durch die Behauptung des Pariser Chirurgen 
Huguier, der bei Neugeborenen die Flexur, wenn auch 
nicht ganz konstant, so doch jedenfalls so häufig in der 
rechten Fossa iliaca fand, dass er die Anlegung eines Anus 
praeternaturalis bei Atresia anı in der rechten und nicht in 
der linken Leistengegend empfahl. Die Diskussion der fran- 
zösischen Chirurgen über diese Angelegenheit am 25. I. und 
1. Il. 1859 in der Acad&mie Imperiale de Medecine ?2) und 
am 25. Ill. und 2. IV. 1862 in der Societe de la Chirurgie 
de Paris °®), die zu keiner Entscheidung führte, hatte zur 
Folge, dass die Anatomen sich mit der Frage beschäftigten. 
Aber auch diese Untersuchungen, die bis in die neueste Zeit 
reichen, haben eine endgültige Entscheidung nicht gebracht. 
Sappey*) fand die Schlinge des Colon sigmoideum in der 
rechten Darmbeinschaufel Smal bei 14 reifen Feten, Stoce- 
quart°} bei Kindern bis zum 7. Lebensjahre unter 20 Fällen 


!) Cruveilhier, J., Traite d’anatomie deseriptive. IIe Edit. Tome 3. 
p- 342. Paris 1843. 

2) Bulletin de l’Acad&mie Imperiale de Medeeine 1859. Tome 24. Nr. IX. 
p. 435. 

®) Gazette des höpitaux 1862. p. 156 und 171. 

*) Sappey, Ph. C., Traite d’anatomie descriptive. IIIe Edit. Paris 1879 
p- 269. 

®) Stocquart, Note sur l’anatomie de 1’S iliaque et du rectum dans 
l’enfance. Journal de medecine, de chirurgie et de pharmacie. Bruxelles 1880. 
p. 948. 


26 R. ZANDER, 


1Omal, v. Samson!) bei 23 Kindern bis zu einem halben 
Jahre in allen Fällen. Jonnesco?°) erklärte die Lage für 
die häufigste bei Neugeborenen. Bourcart?) dagegen fand 
sie bei 295 Neugeborenen nur 59mal und Gysi®) bei 100 
älteren Feten nur 4mal. Nach meinen eigenen langjährigen 
Beobachtungen, die sich auf viele Hunderte von älteren Feten 
und Neugeborenen beziehen, scheint diese Lagerung keines- 
wegs häufig zu sein. Da ich mir keine Notizen von diesen 
Beobachtungen gemacht hatte, so habe ich in den letzten 
Wochen an 25 Neugeborenen, ausgetragenen Kindern und vor- 
zeitig geborenen, das Colon sigmoideum untersucht und 6 mal 
die fragliche Lagerung in der rechten Fossa ilıaca gefunden. 
Selbstverständlich sind aber so kleine Untersuchungsreihen, 
bei denen der Zufall eine grosse Rolle spielt, ganz ungeeignet, 
um über die relative Häufigkeit Auskunft zu geben. 


Für die Beurteilung meines oben mitgeteilten Falles ist 
aber das Vorkommen dieser Lagerung des Colons sigmoideum 
sowohl beim Erwachsenen als auch bei Neugeborenen und 
älteren Früchten nicht von Bedeutung. Die schräge Lage des 
Colon descendens kann durch die Fixierung des Colon sig- 
moideum in der rechten Darmbeinschaufel nur dann ver- 
anlasst worden sein, wenn diese Fixierung bereits zu einer 
Zeit bestand, wo das Colon descendens noch ein freies Mesen- 
terium besass, also im sechsten Entwickelungsmonat oder 
vorher. 


!) Samson, S. v., Einiges über den Darm, insbesondere die Flexura 
sigmoidea. Arch. f, klinische Chirurgie. 44. Bd. 1892. p. 146—221 und p. 386 
bis 409. 2 Tafeln und Holzschnitte (p. 177). 


®2) Jonnesco, T., Tube digestif, in R. Poirier. Traite d’anatomie 
humaine. Tome 4. Ie Fasc. Paris 1895. 

®) Bourcart, De la situation de l’S iliague chez le nouveau-ne dans 
ses rapports avec l’ötablissement d’un anus artificiel. Thöse de Paris 1863. 

FEN 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 27 


In Toldts!) Arbeiten, die sich auf Entwickelung des 
Darmes beziehen, findet sich keine Angabe über das Vor- 
dringen des Colon sigmoideum in die rechte Fossa iliaca. 

v. Samson?) gab an, dass bei einem 10 cm langen 
Fetus das Colon sigmoideum über den Beckeneingang hin- 
weg „nach rechts gerichtet‘‘ war, so dass also der Darm in 
die rechte Körperhälfte hineinragte und von rechts her ins 
Becken trat. „Bei zwei weiteren Feten von 13 und 14 cm 
Länge war die Lage des Darmes wie im vorigen Fall.“ Bei 
einem 22 cm langen Fetus reichte der Darm wiederum in 
die rechte Körperhälfte hinüber und stieg von rechts ins 
Becken. 

Jonnesco?°) fand bei drei Embryonen von 18,3, 23,7 
und 26 cm Länge folgende Lagerung des Colon sigmoideum, 
die er als die häufigste für die mittlere Entwickelungsperiode 
(periode de transition) ansieht: Das zukünftige Colon pelvinum 
geht aus von der Crista iliaca, durchzieht die linke Fossa 
iliaca, verläuft oberhalb des Beckeneinganges nach rechts von 
der Mittellinie bis nahe an die rechte Fossa iliaca und wendet 
sich dann dorsal- und medialwärts und dringt in das Becken 
ein. Kurz, es bildet eine grosse Schlinge, die den Becken- 
eingang abschliesst und dessen vordere Convexität die vordere 
Bauchwand berührt. Bei einem Embryo von 32,5 cm Länge 
fand er ausserdem folgendes: Das zukünftige Colon pelvinum 
beschreibt zwei Schlingen, eine erste in der linken Fossa 
iliaca, zieht dann über den Beckeneingang hinweg nach der 
rechten Fossa iliaca, wo es eine zweite Schlinge bildet und 
dann ins Becken tritt, an dessen rechter Seite es herabsteigt. 

Andere Angaben über die Lagerung des Colon sigmoideum 
bei jüngeren Feten kenne ich nicht. 


!) Denkschriften der Wiener Akademie 1879 und 1889 s. oben I. c. 
2) le, p. 174/175: 


°) Jonneseo, Th., Le cölon pelvien pendant la vie intrauterine. Thöse 
de Paris 1892. p. 30. 


28 R. ZANDER, 

Um mir ein eigenes Urteil zu bilden, habe ich an 50 Feten 
von 10-27 cm Körperlänge, die einem Alter von 4 bis 
6 Monaten entsprechen, neuerdings das Colon sigmoideum 
untersucht und bin dabei zu folgendem Ergebnis gelangt: 

Wenn man vom Rectum ausgehend das Colon sigmoideum 
verfolgte, so stieg sein Endstück in 32 Fällen genau in der 
Mittellinie oder dicht neben ihr senkrecht empor und ver- 
band sich nach kurzem Verlauf in der Nähe des Becken- 
eingangs (in 12 Fällen) oder mehr oder weniger weit darüber 
(in 20 Fällen) mit dem Colon descendens durch ein gerades 
oder nach oben concaves oder convexes oder durch ein un- 
regelmässig gewundenes Querstück. In 6 Fällen zog das Colon 
sigmoideum vom Rectum aus in schräger Richtung nach links 
zum Colon descendens empor. 12mal beobachtete ich, dass 
sich das Endstück des Colon sigmoideum vom Rectum aus 
nach rechts wandte. In 8 Fällen stieg es mehr oder weniger 
weit über den Beckeneingang empor und verband sich dann 
durch ein verschieden gekrümmtes Zwischenstück mit dem 
Colon descendens. Nur in 4 Fällen stellte das Colon sig- 
moideum eine horizontal über dem Beckeneingang gelegene 
Darmschlinge dar, deren Scheitel bis zur rechten Fossa iliaca 
reichte. Die betreffenden Feten waren 10, 14, 20 und 20 cm 
lang. Bei dem 14 cm langen und bei einem der 20 cm 
langen Feten lag die Darmschleife unmittelbar über dem Becken- 
eingang, in den beiden anderen Fällen eine Strecke darüber 
in der Höhe der Crista iliaca. 


Auf Grund dieser Beobachtungen darf angenommen werden, 
dass die Lagerung des Scheitels des Colon sigmoideum in 
der rechten Darmbeinschaufel bei vier- bis sechsmonatlichen 
Feten vorkommt. Gysi hat die Ansicht geäussert!), dass 
diese „Variation“ (die er nur bei 4 von 100 älteren Feten. 


a1. e.’p. 179, 


Lageabweichung des Colon descendens und des Colon sigmoideum etc. 29 


und Neugeborenen fand) dadurch entstehe, dass der Scheitel 
einer ursprünglich nach oben ragenden Colonschlinge durch 
die Füllung mit Meconium und durch stärkeres Wachstum 
allmählich an der Radix mesenterii entlang nach unten rechts 
geschoben werde, bis er an den freien Rand des Mesenteriums 
kam, diesen überschritt, und so in die Fossa iliaca dextra 
gelangte. Ich kann dieser Ansicht insofern nicht zustimmen, 
als die Mitwirkung des Meconium für so junge Stadien, wie 
ich sie beobachtet habe, nicht in Frage kommt. Das Meconium 
dringt erst während der letzten Fetalmonate auch in den Dick- 
darm ein (Bromant)); der Scheitel des Colon sigmoideum 
wird aber bereits bei 4—6 Monate alten Feten in der rechten 
Darmbeinschaufel angetroffen. 

Warum in meinem Falle das Colon sigmoideum in der 
Fossa iliaca dextra fixiert wurde, vermag ich nicht anzu- 
geben. Entzündliche Vorgänge waren, wie ich schon mehr- 
mals erwähnt habe, nirgends in der Bauchhöhle nachweisbar. 

Wenn man annimmt, dass diese Fixierung sogleich oder 
sehr bald, nachdem das Colon sigmoideum die Fossa ıiliaca 
dextra erreicht hatte, erfolgt ist, so darf die Erklärung für 
das Zustandekommen der abweichenden Lage des Colon des- 
cendens in meinem Falle als gelungen angesehen werden. 

Zu erledigen ist noch die Frage, ob der Recessus retro- 
caecalis und der Recessus retrocolicus schon vorhanden waren 
als das Colon sigmoideum seine endgültige Lagerung erhielt 
oder nicht. Ich halte dies für ausgeschlossen. Im ersten 
Falle würde es sich um eine Hernie retrocaecalis gehandelt 
haben. Dier wesentlichste Grund, den ich dagegen anzuführen 
habe, ist, dass das Cäcum erst im 8. oder 9. Entwickelungs- 
monat über den Darmbeinkamm hinabzurücken pflegt. In der 
Zeit, in die die Ausbildung der Abnormitäten in meinem 


!) Broman, Ivar, Normale und abnorme Entwickelung des Menschen. 
Wiesbaden 1911. S. 344. 


30 R. ZANDER, Lageabweichung des Colon descendens etc. 


Falle nach den bisherigen Erörterungen zu verlegen ist, be- 
findet sich das Cäcum noch vor oder höchstens unter dem 
unteren Pol der rechten Niere. Es ist darum sehr wahr- 
scheinlich, dass das Cäcum und das Colon ascendens ihre 
endgültige Lagerung erst zu einem Zeitpunkt erreichten, als 
das Colon sigmoideum bereits in der Fossa iliaca dextra fixiert 
war. Die secundäre Verbindung mit dem Peritonaeum parie- 
tale führte dann zur Bildung des Recessus retrocaecalis und 
retrocolicus. 

Die Beobachtungen von Hamdy und Sorour, von 
Cruveilhier und Toldt stimmen mit meinem Falle zwar 
darin überein, dass auch sie den schrägen Verlauf des Colon 
descendens zeigten, doch dürfte es sehr fraglich sein, ob für 
diese Abweichung die gleiche Entstehungsweise wie in meinem 
Falle angenommen werden darf. Hamdy und Sorour haben 
nicht mitgeteilt, ob die vor dem Cäcum gelegene Schlinge 
des Colon sigmoideum fixiert war. Selbst wenn dies der Fall 
gewesen wäre, so hätte diese Fixierung zu einem so späten 
Zeitpunkt erfolgt sein müssen, dass ein Einfluss auf die Ver- 
lagerung des Colon descendens nicht mehr in Frage kommen 
konnte, nämlich erst nachdem das Cäcum in die rechte Darm- 
beingrube gelangt war, also nicht vor dem 8. oder 9. Ent- 
wickelungsmonat. Die sehr kurze Beschreibung des Falles 
bietet keinen Anhalt für die Feststellung der Entstehungs- 
ursache der Abweichungen. Das gleiche gilt für die beiden 
Fälle von Cruveilhier und Toldt. 


AUS DEM ERSTEN ANATOMISCHEN INSTITUT DER WIENER UNIVERSITÄT. 
VORSTAND: PRÖF. DR. JULIUS TANDLER. 


DIE ENTWICKELUNG DES GEBISSES 
VON TALPA EUROPARA. 


VON 


HARRY SICHER. 


Mit 20 Textabbildungen und 36 Figuren auf den Tafeln 3—6. 


Lu Teen A Re 
hau Kilg, 2 


Einleitung. 


Vielleicht in keinem Kapitel der Entwickelungsgeschichte 
hat in der letzten Zeit die ontogenetische Forschung so viel 
zur Beleuchtung phylogenetischer Probleme beigetragen, als 
in der Odontogenese. Ich brauche hier nur an die Namen von 
Röse, Leche, Kükenthal, Adloff, Bolk zu erinnern, 
um die Fülle von Arbeit zu charakterisieren, die für die Lösung 
dieser Fragen aufgewendet wurde. Dass bisher noch keine 
Einigung erzielt wurde, liegt zum Teil natürlich an den 
Schwierigkeiten der aufgeworfenen Fragen selbst, die ja fast 
alle nur hypothetisch zu lösen sind. 

Zum anderen Teil liegt es aber doch auch in der Methodik 
gerade bei dem Studium der ontogenetischen Fragen. 

Wenn man die diesbezügliche: Literatur durchsucht, so 
findet man immer wieder die Beschreibung von Einzelbefunden, 
das heisst die Beschreibung von Befunden an vereinzelten 
Embryonalstadien einer Spezies. Meist handelt es sich um 
ältere Stadien, während jüngere nicht zur Verfügung standen. 
Und doch haben die Autoren nicht gezögert, solche Befunde 
zur Grundlage für weitgehende phylogenetische Betrachtungen 
zu machen. j 

Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich der Meinung Aus- 
druck gebe, dass die phylogenetische Spekulation für einige 
Zeit Halt machen sollte. Jetzt wäre es an der Zeit neues 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162, Heft (54. Bd, H. 1). 3 


34 HARRY SICHER, 


Material zu sammeln und zuerst das kritisch zu sichten, was 
bisher oft auf ungenügender Grundlage aufgebaut wurde. Erst 
wenn wir an einer grösseren Zahl von Spezies, bei jeder aber 
an einer möglichst geschlossenen Stadienreihe, mit allen tech- 
nischen Hilfsmitteln die tatsächlichen Vorgänge einwandfrei 
studiert haben, erst dann soll die phylogenetische See des 
Problems wieder zur Geltung kommen. 

Und diese Überlegung war es, die mich veranlasste, die 
Entwickelung des Gebisses an einer Spezies möglichst syste- 
matisch zu untersuchen. Es ist nicht meine Absicht — und 
dies möchte ich besonders betonen —, auf Grund dieser Unter- 
suchung die Zahl der phylogenetischen Theorien um eine zu 
vermehren. Aber es war doch schon auf Grund dieser Unter- 
suchung möglich, gewisse Punkte anderer Theorien einer Kritik 
zu unterziehen und eventuell abzulehnen, wenn sie mit den 
hier gefundenen Tatsachen in Widerspruch stehen. 

Dass ich zu dieser Untersuchung gerade Talpa europaea 
wählte, hat zunächst als äusserlichen Grund den, dass mir an 
der I. anatomischen Lehrkanzel in Wien eine geschlossene 
Reihe von Talpa-Embryonen zur Verfügung stand. Für die 
Überlassung dieses kostbaren Materiales muss ich auch an 
dieser Stelle meinem verehrten Lehrer und früheren Chef, 
Herrn Professor Tandler, ebenso herzlichst danken, wie für 
sein reges Interesse, das er meinen Untersuchungen entgegen- 
brachte und für die vielfachen Unterstützungen, die er mir 
zuteil werden liess. 

War also einerseits die Quantität des Materials bei der 
Wahl massgebend, so musste ich mir andererseits sagen, dass 
gerade bei einem primitiven Säuger die Verhältnisse für die 
Erforschung der Zahnentwickelung besonders günstig sind. — 

Mit der Entwickelung des Talpa-Gebisses hatten sich zu- 
dem die früheren Autoren nur in beschränktestem Masse be- 
schäftigt. Wohl liegt eine ausführliche Arbeit über diesen 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 39 


Gegenstand vor, die wir Kober aus dem Jahre 1882 ver- 
danken, doch finden hier einerseits nur die gröbsten Verhält- 
nisse an älteren Stadien Berücksichtigung, andererseits steckt 
die Arbeit so voller Irrtümer, dass wir sie füglich vernach- 
lässigen können. So sei nur erwähnt, dass Kober von einem 
verspäteten Auftreten eines unteren Schneidezahnes spricht, 
der sich von aussen zwischen den zweiten und dritten In- 
cisivus einschiebt, womit er die Vermehrung der unteren 
Schneidezähne gegenüber den oberen begründet. Tatsächlich 
ist der neu auftretende Schneidezahn der von Anfang an vor- 
handene Incisivus deciduus 3 (ld,), während der „vierte 
Schneidezahn“ der Caninus ist. 


Die beiden anderen Arbeiten beschäftigen sich hauptsäch- 
lich mit der Dentition von Talpa. Dazu ist es notwendig, zu- 
nächst einige Worte über das Gebiss des erwachsenen Tieres 
zu sagen. Als Formel muss uns hier wohl die jetzt allgemein 
akzeptierte Owensche Formel gelten: 


Dazu ist nun folgendes zu bemerken (Tafel 3, Fig. 1): 

Im Öberkiefer nehmen die Schneidezähne von vorne nach 
hinten an Grösse ab. Der Caninus ist mächtig, zweiwurzelig. 
Von den Prämolaren ist der erste etwas grösser als die beiden 
mittleren, der vierte jedoch der grösste. Die Molaren sind 
dreiwurzelig. Ihre Krone trapezförmig (Tafel 3, Fig. 2). Sie 
sind vielspitzig, doch ragen zwei buccale und ein lingualer 
Haupthöcker am meisten vor. 

Im Unterkiefer (Tafel 3, Fig. 3) ist der Eckzahn in seiner 
Form fast vollkommen schneidezahnähnlich. Der Form nach 
wird der Caninus durch den mächtigen ersten Prämolaren 
vertreten. Die drei anderen Prämolaren nehmen von vorne 
nach hinten an Grösse zu. Die Molaren zeigen eine deutliche 


3* 


36 HARRY SICHER, 
Unterteilung ihrer Krone in eine mesiale und eine distale 
Partie, deren jede einen buccalen Haupthöcker trägt. 

Das Milchgebiss wurde von Spence Bate als vollständig 
beschrieben. Im Milchgebiss trägt im Unterkiefer der vierte 
Zahn noch deutlicher Eckzahncharaktere. Während aber 
Spence Bate im Öberkiefer und Unterkiefer einen ersten 
Milchprämolaren abbildet, leugnet Woodward dessen Vor- 
kommen auf Grund seiner Untersuchungen an alten Embryonen 
und geworfenen Jungen. 

Da wir bei der Untersuchung auch die Entwickelungs- 
vorgänge im Bereiche des Vestibulum oris besprechen wollen, 
sei hier kurz über sein Verhalten am erwachsenen Tiere be- 
richtet. Im Oberkiefer (Tafel 3. Fig. 4) fällt vor allem eine 
Falte auf, die im Vestibulum oris vorspringt und die Schneide- 
zahngegend umgreift. Diese ‚Plica vestibularis“ reicht über 
die Mittellinie weg und läuft mit ihrem hinteren Ende unge‘ähr 
in der Eckzahngegend in den Lippenrand aus. Hinter ihr finden 
wir das Vestibulum oris im engeren Sinne, vor ihr eine an 
der Schnauzenunterfläche gelegene tiefe dreieckige Grube. Es 
erscheint nicht ausgeschlossen, dass wir in dieser Falte eine 
dem Graben angepasste Einrichtung haben, welche vielleicht 
das Eindringen der Erde in den Mund verhindern soll. 

Im Unterkiefer reicht das Vestibulum oris nur bis in die 
Eckzahngegend nach vorne. Im Bereiche der Schneidezähne 
geht die Gingiva von der Innenseite des Alveolarfortsatzes 
zwischen den Zähnen hindurch direkt in die Lippenschleim- 
haut über, ohne die vordere Wand des Alveolarfortsatzes zu 
bekleiden. 

Die Embryonen, die für die vorliegende Untersuchung be- 
nützt wurden, sind sämtlich lebend in Formalin - Alkohol 
(Schaffer), in Zenkerscher Flüssigkeit oder in Pikrin- 
Sublimat-Eisessig konserviert. Die jüngeren waren in toto in 
Frontalschnitte zerlegt, von den älteren (a—ı) habe ich die 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 37 


Köpfe frontal geschnitten. Alle Serienschnitte sind 10 u dick 
und wurden mit Hämalaun-Eosin gefärbt. Im folgenden gebe 
ich eine Übersicht über das verwendete Material. 


Übersicht über die untersuchten Embryonen. 


| en | Scheitel- Kopf- 
Stadium | Bezeichnung | nn | Steisslänge länge | Anmerkung 
| | in mm in mm | 
\ 77 
I, UV? | _ | 8 — 
TE _ 8 | — ee 

III. — = 11 u 

II UV | = 11,5 2 

III _ _ 12,0 ve; 

| A. 13,5 — So 

VE SB: 13,5 - Sa 

1% C. 13 _ 75 

IV. 1D). 13:5 _ 8,5 

INNE E. 13,5 —- | 85 | modelliert 

V. a. 16 | 9,75 modelliert 
va a 16 _ | 95 | Detailmodell 

VI. b. 17,5 _ | >= ‚ modelliert 

VI. b’ 17,5 _ — 

VL c. 18,5 _ IT : 
VIE, d. 21 —_ ' 11,5 modelliert 
VI. e. 22 & 119 
vn f. 23 — El? modelliert 

VIH. 2. 26 — | 13,5 _|modelliert 

IX. h. 28 — 14 | 

X i 30 — 15 | modelliert 


Die Modelle stellen immer die epithelialen Gebilde dar, so 
dass man bei der Betrachtung des Modelles die in das Meso- 
derm eingedrungenen epithelialen Schmelzorgane sieht. 

Die Zeichnungen der Modelle sowie die der Schnitte — 
letztere nach Konturzeichnung mit dem Abbeschen Apparat 
— wurden von Maler Hajek hergestellt. 


38 HARRY SICHER, 


Beschreibung der Stadien. 


IrStadrum: 


Die erste Anlage der Zahnleisten findet sich an einem 
Embryo von 8 mm Scheitel-Steisslänge. Am Querschnitt er- 
scheint sie als eine breite, aber flache Epithelverdickung, die 
ohne Grenze in das normale Mundhöhlenepithel übergeht. 
Während die Mundhöhlenoberfläche keine Veränderung zeigt, 
springt die Epithelverdickung gegen das Mesoderm vor, das 
in diesem Stadium noch keine histologische Differenzierung 
erkennen lässt. Das Epithel der Mundhöhle, das an anderen 
Stellen aus einer basalen Lage von Cylinderzellen — Stratum 
germinativum — und einer darübergelagerten Schichte flacher 
Deckzellen besteht, hat an der Stelle der Zahnleistenanlage 
eine Vermehrung der Schichten erfahren. Die basale Schicht 
ist zwar noch als regelmässige Reihe cylindrischer Zellen vor- 
handen, doch liegen nun über ihr eine zwei- bis dreifache 
Reihe polygonaler Zellen, die erst von der Schichte der Deck- 
zellen überlagert sind. Letztere haben hier den Charakter 
kubischer Zellen. Das ganze Epithel ist wie an allen Stellen 
durch eine mit Eosin lebhaft gefärbte, am Querschnitt lineare 
strukturlose Schichte gegen das Mesoderm geschieden. Zahl- 
reiche Mitosen im Epithel beweisen, dass die Vermehrung des 
Zellbestandes der Zahnleiste eine lebhafte ist. 


Die Epithelverdickungen der beiden Kiefer stehen einander 
nicht gegenüber, vielmehr ist die Zahnleistenanlage des Ober- 
kiefers beträchtlich peripherwärts verschoben. Die Zahnleiste 
des Unterkiefers ist in ihrer Entwickelung hinter der des Ober- 
kiefers bedeutend zurück. Dieser Umstand spricht wohl dafür, 
dass die Anlage der beiden Zahnleisten nicht gleichzeitig er- 
folgt ist, sondern dass die Leiste des Oberkiefers als erste 
angelegt wird. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 39 


II. Stadium. 


Der Embryo, dessen grösste Länge mit 8 mm angegeben 
ist, ist trotz des annähernd gleichen Masses in der Entwicke- 
lung gegenüber dem I. Stadium ziemlich weit vorgeschritten. 
Am Querschnitt hat sich die Zahnleistenanlage vor allem in- 
sofern verändert, als sie schmäler, aber tiefer geworden ist 
und gegen die Nachbarschaft eine schärfere Abgrenzung ge- 
wonnen hat. Ihre histologische Struktur hat sich, von der 


Fig. 1. 


Zehn aufeinanderfolgende Schnitte durch die obere Zahnleiste eines 8mm langen 
Talpa-Embryo. Die Schnitte c—h enthalten die Eckzahnanlage in Form einer 
Verdickung der Zahnleiste. Vergrösserung 100 fach. 


Vermehrung ihrer zelligen Elemente abgesehen, nicht verändert. 
Ebensowenig ist am umgebenden Mesoderm eine Differenzierung 
zu erkennen. 

Die Verfolgung der Serie von dem hinteren Zahnleisten- 
ende lehrt uns, dass die Differenzierung der Zahnleiste in den 
distalen Partien weniger weit vorgeschritten ist als in den 
mesialen. Besonders auffällig aber sind die Verhältnisse in 
der Gegend, die der Stelle der Schneidezähne und Eckzähne 
im Oberkiefer entspricht. Hier kann man konstatieren, dass 


40 HARRY SICHER, 


die Zahnleiste zunächst an der Stelle des Eckzahnes eine be- 
trächtliche Verdickung aufweist, die sich, wie die Abbildung 
(Textfig. 1) lehrt, über sechs Schnitte verfolgen lässt. Dass 
die Zahnleiste auch im Bereiche der Incisivi bereits weiter 
differenziert ist, zeigt besonders deutlich ein Schnitt, welcher 
die hier fast frontal eingestellte Leiste der Länge nach trifft 
(Textfig. 2). Hier finden wir jederseits der Mittellinie zwei 
deutliche Verdickungen der Leiste, die nur den ersten Anlagen 
der beiderseitigen Id, und Id, entsprechen können. 

Wir sehen, dass es also bei Talpa schon sehr frühzeitig 
zu einer Differenzierung der Zahnleiste in dem Sinne kommt, 


De 
Fig. 2. 


Frontalschnitt durch die vordere Partie der oberen Zahnleiste eines 8 mm 
langen Talpa-Embryo. Man sieht jederseits zwei Verdickungen der Leiste als 
Anlagen der ersten beiden Schneidezähne. Vergrösserung 50fach. 


dass an den Stellen der Zahnanlagen ein intensiveres Wachs- 
tum der Leiste einsetzt. Wir sehen aber auch, dass die Diffe- 
renzierung vorne beginnt und von hier im allgemeinen nach 
hinten fortschreitet. Auch jetzt ist die Leiste des Oberkiefers 
in ihrer Entwickelung der unteren voraus, da wir an der 
letzteren noch keine weitere Differenzierung konstatieren 
können. 


IT. Stadaum. 


Bei Embryonen von 11—12 mm Scheitel-Steiss-Länge ist 
die Zahnleiste am Querschnitt zu einer zapfenförmigen Epithel- 
einsenkung geworden. Das cylindrische Epithel des Stratum 
germinativum ist als eine Falte in das Mesoderm eingesunken. 
Zwischen den beiden Blättern der Falte finden wir die poly- 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. l). Tafel 3. 


mb 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 4. 


Fig. 13. Fig. 15. ; Fig. 16. Fig. 18. 


Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden, 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 41 


sonalen Zellen der Deckschicht, welche auch die der Mund- 
höhlenoberfläche zugekehrte Einsenkung ausfüllen und aus- 
gleichen. Das Epithel ist überall scharf gegen das NMiesoderm 
abgegrenzt. Die Grenze bildet eine mit Eosin lebhaft rot ge- 
färbte Grenzschichte. In diesem Stadium ist nunmehr auch 
das Mesoderm eine Differenzierung eingegangen. Die dem 
freien Schmelzleistenende anliegenden Zellen erscheinen dicht 
gedrängt und umgeben die Zahnleiste in einem am (uer- 
schnitte sichelförmigen Areale. Zahlreiche Mitosen in diesem 
Anteile des Mesoderms deuten auf eine Zellvermehrung, doch 
ist für den Anfang die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass 
die Zusammendrängung mesodermaler Elemente durch das 
aktiv einwachsende Epithel eine gewisse Rolle spielen könnte. 

Verfolgt man die Querschnittserie, so kann man zunächst 
konstatieren, dass obere und untere Zahnleiste an der Stelle 
der Schneidezähne und Eckzähne deutliche Anschwellungen 
zeigen, wie sie an der oberen Leiste bereits im früheren Sta- 
diun, zu finden waren. Hierzu ist aber in beiden Kiefern noch 
im distalen Anteil der Leisten eine Anschwellung gekommen, 
welche der Topographie nach und durch den Vergleich mit 
älteren Stadien als Anlage des vierten Milchprämolaren gekenn- 
zeichnet ist.. Aus dem Vergleich mit späteren Entwickelungs- 
stadien wird auch klar, dass dieser Zahn sein frühes onto- 
genetisches Erscheinen seiner mächtigen Ausbildung verdankt. 

Die Zannleiste dringt in ihrem Verlauf nicht überall in 
derseiben Richtung. in das Mesoderm ein. Während sie in 
ihrem hinteren Abschnitt ziemlich genau unter rechtem Winkel 
vom Mundhöhlenepithel abzweigt, ist sie in ihrem vorderen 
grösseren Anteil derart schräg eingestellt, dass ihr freies Ende 
nach innen geneigt ist. Dieses Verhalten zeigt sowohl die obere 
als die untere Leiste. 

Zwei epitheliale Bildungen in der Gegend der Schneide- 
zahnanlagen des Unterkiefers verdienen noch eine spezielle 


42 HARRY SICHER, 


Beschreibung. Verfolgt man die Serie von hinten nach vorne, 
so sieht man, wie von der Zahnleiste an der Stelle des Milch- 
eckzahnes eine lateral gelegene Epithelleiste abzweigt, die sich 
von der Zahnleiste immer mehr entfernt. Sie zerfällt selbst 
wieder nach kurzem Verlauf in zwei Leisten, eine mediale, 
die eigentliche Fortsetzung der Hauptleiste, und eine laterale, 
die sehr bald verflacht und verschwindet. Beiden Leisten ent- 
sprechen Furchen an der Oberfläche, ein Umstand, der sie 
von der Zahnleiste morphologisch unterscheidet. In diesem 
eigentümlichen Leistensystem haben wir, wie spätere Stadien 
zeigen, eine passagere Bildung vor uns, deren Bedeutung un- 
klar ist. 


Zwischen den Anlagen der inneren Schneidezähne er- 
scheint an der Serie jederseits eine kurze Einstülpung des 
Epithels, die durch die geringere Grösse und dichtere An- 
ordnung ihrer Zellen von der Zahnleiste leicht zu differen- 
zieren ist. Diese Einstülpung, die der Anlage einer Drüse 
ausserordentlich ähnlich sieht, stellt die erste Anlage eines 
paarigen soliden Epithelstranges dar, wie ihn Arnbach- 
Christie-Linde bei Beutlern und Sorex beschrieb. Bolk 
bildet ihn neuerdings bei Ovis aries ab, ohne ihn zu beschreiben. 
Seine Bedeutung ist vorläufig unklar. 


IV. Stadium. 


Diesem Stadium gehören Embryonen von 13—13,5 mm 
Länge an. Ihre Kopflänge beträgt zwischen 7,5 und 8,5 mm. 
Das Stadium ist charakterisiert durch das erste Auftreten von 
Fortsätzen der Zahnleiste, die wir in der folgenden Beschreibung 
zunächst als Nebenleisten bezeichnen wollen. Um die Kon- 
stanz dieser Gebilde zu erweisen, wurden fünf Embryonen 
(A—E) desselben Entwickelungsstadiums in Frontalserien zer- 
legt und untersucht. Die Zahnleisten des Oberkiefers und 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 43 


Unterkiefers des Embryo E wurden bei 200 facher Vergrösserung 
rekonstruiert. 

Betrachten wir zunächst das Modell der oberen Zahnleiste 
(Tafel 3, Fig. 5), so sehen wir, dass die Anlagen aller Milch- 
zähne bereits als Verdickungen des Leistenrandes deutlich ent- 
wickelt sind. Die Anlagen der drei Milchschneidezähne, welche 
lateral von einer leichten Vorwölbung, der ersten Anlage der 
Vestibularleiste, flankiert sind, sitzen dem Mundhöhlenepithel 
direkt auf, so dass wir in ihrem Bereich von einer Zahnleiste 
nicht sprechen können. Sie werden von der Eckzahnanlage 
bei weitem überragt. Der Eckzahn eilt in seiner Entwickelung 
auch weiterhin den Nachbarzähnen voraus. Die Anlagen der 
Milchprämolaren nehmen von vorne nach hinten an Grösse 
rasch zu. Die Anschwellung der Leiste, welche dem ersten 
Prämolaren entspricht, ist noch kaum kenntlich, die Anlage 
des vierten übertrifft alle anderen an Grösse. Hinter dem 
vierten Milchprämolaren setzt sich die Zahnleiste noch ein 
beträchtliches Stück weit fort, um mit einer Verdickung zu 
enden. 

Von besonderem Interesse sind nun die beiden Fortsätze 
der Zahnleiste, die wir als Nebenleisten bezeichnen wollen. 
Die distale der beiden Leisten haftet an der lateralen Fläche 
der Zahnleiste hinter dem vierten Prämolaren. Mit ihrem 
vorderen Ende läuft sie an der distalen Fläche der Anlage 
des letzten Prämolaren aus, ihr hinteres Ende verliert sich 
an dem vorderen Abhang der endständigen Verdickung der 
Zahnleiste. Die Nebenleiste verläuft ungefähr entsprechend der 
Mitte zwischen Ansatz der Zahnleiste am Mundhöhlenepithel 
und freiem Rand, dem ‚letzteren etwas genähert. Wir wollen 
sie mit Rücksicht auf die folgenden Stadien als mittlere Neben- 
leiste bezeichnen. 

Die vordere Nebenleiste beginnt unter dem vorderen Ende 
von Pd, und zieht von hier unter Pd, nach vorne, um sich 


44 HARRY SICHER, 


zwischen Pd, und Pd, zu verlieren. Sie ist nicht ganz ein- 
heitlich entwickelt, sondern zeigt vor ihrem hinteren verdickten 
Ende eine Erniedrigung, um erst unterhalb von Pd, an Höhe 
zu gewinnen. 

Das Modell der unteren Zahnleiste (Tafel 3, Fig. 6) zeigt 
uns prinzipiell gleiche Verhältnisse. Von den Anlagen der drei 
Milchschneidezähne ist die des dritten, die kleinste, ein wenig 
nach lateral aus der Reihe gedrängt, ein Verhalten, das in 
späteren Stadien noch deutlicher wird. Die Eckzahnanlage ist 
zwar auch kräftiger entwickelt als die der Nachbarzähne, doch 
ist sie bedeutend kleiner als die Anlage des oberen Eckzahnes. 
So wie im Oberkiefer nehmen die Milchprämolaren distalwärts 
an Grösse zu. Die Zahnleiste endet auch im Unterkiefer nicht 
mit dem letzten Prämolaren, sondern setzt sich nach hinten 
ein Stück weit fort, um ein wenig verdickt zu enden. 

Die laterale Fläche der Leiste zeigt uns die beiden Neben- 
leisten. Die mittlere Nebenleiste, die wie im Oberkiefer hinter 
dem vierten Prämolaren beginnt und bis nahe an das Ende 
der Zahnleiste reicht, ist hier aber mit ihrem Ansatz dem 
freien Rand der Zahnleiste so weit genähert, dass man den 
Eindruck gewinnt, als spalte sich die Zahnleiste nahe ihrem 
freien Ende in zwei fast gleich starke Ausläufer. 

Die vordere Nebenleiste ist noch nicht so deutlich ent- 
wickelt als im Oberkiefer. Wir finden einen Anteil der Leiste 
unterhalb des dritten Prämolaren, einen zweiten unterhalb des 
vierten Prämolaren durch ein glattes Stück der lateralen Zahn- 
leistenfläche getrennt. 

Die Durchsicht der Serien ergibt folgendes: Der histo- 
logische Charakter der Zahnleiste und der Zahnanlagen ist noch 
ein primitiver. Die Schicht des Stratum germinativum lässt 
sich ununterbrochen von dem Mundhöhlenepithel durch den 
Querschnitt der Zahnleiste verfolgen. Die Falte, die durch 
diese Schichte gebildet wird, ist von den Abkömmlingen der 
Deckschichte erfüllt. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 45 


Die Nebenleisten des Oberkiefers erscheinen auf dem 
Querschnitt als zapfenförmige Ausstülpungen der Zahnleiste, 
ihre histologische Struktur gleicht der der Hauptleiste (Tafel 3, 
ie). 

Im Unterkiefer lässt die mittlere Nebenleiste deutlich ihren 
Ansatz nahe dem freien Zahnleistenende erkennen. Noch mehr 
als nach der Betrachtung des Modells machen Haupt- und 
Nebenleiste den Eindruck gleichwertiger Gebilde. Dabei ist 
zu bemerken, dass die Nebenleiste an ihrem freien Ende ver- 
dickt ist, so dass sie im (Querschnitt wie mit einem kurzen 
Stiele der Hauptleiste aufsitzt (Tafel 3, Fig. 8). 


a 4 


Dt 


Fig. 3. 
a Schnitt entsprechend Pd,. b Schnitt entsprechend Pd,. c Schnitt ent- 
sprechend Id,. Die Schnitte zeigen das verschiedene Verhalten der Vestibular- 
anlage zu der Zahnleiste an Embryo E. Vergrösserung 50 fach. 


Was die Entwickelung des Vestibulum oris anlangt, so 
sind zunächst im Oberkiefer zwei Stellen zu unterscheiden 
(Textfig. 3). Im Bereiche der Frontzähne deutet eine bereits 
bei der Modellbeschreibung kurz erwähnte plumpe Leiste, 
welche sich lateral vom Ansatze der Zahnleiste mit ihr in 
unmittelbarem Zusammenhang in das Mesoderm vorstülpt, die 
ersie Anlage der Vestibularleiste an (Textfig. 3c). Ganz anders 
verhält sich der distale Abschnitt des Oberkiefers. Hier finden 
wir weit lateral von der Zahnleiste eine Furche vor, die von 
normalem Mundhöhlenepithel ausgekleidet ist (Textfig. 3a). 
Medial ist die Furche von einer Konvexität begrenzt, welche 
dem Alveolarwall entsprechen muss. Die Zahnleiste entspringt 
ungefähr an der Stelle der höchsten Konvexität vom Epithel 
des Alveolarwalles. Die ganze Bildung erstreckt sich über die 


46 HARRY SICHER, 


Gegend der letzten zwei Prämolaren. Vor dieser Gegend laufen 
Furche und Wulst allmählich aus (Textfig. 3b). 

Im Unterkiefer finden wir im vorderen Abschnitt jene 
Epitheleinsenkungen wieder, die wir im früheren Stadium be- 
schrieben haben. Lateral vom Eckzahn beginnt eine Epithel- 
leiste, der an der Oberfläche eine Furche entspricht; diese 
Leiste zeigt hier nicht mehr den engen Zusammenhang mit 
der Zahnleiste wie im nächst jüngeren Stadium. Der lateral 
verlaufende Ast dieser Leiste ist am jüngsten Embryo dieses 
Stadiums (C) noch vorhanden, verstreicht jedoch bald. 

Zwischen den mittleren Schneidezähnen hat sich die 
Epithelknospe des früheren Stadiums zu einem kurzen distal 
gerichteten Epithelstrang verlängert. 


V. Stadıum. 


Der diesem Stadium angehörige Embryo a besitzt eine 
grösste Länge von 16 mm und eine Kopflänge von 9°/, mm. 
Die Zahnanlagen des Oberkiefers und des Unterkiefers wurden 
bei 200 facher Vergrösserung rekonstruiert. 


Das Modell des Oberkiefers (Tafel 4, Fig. 9) zeigt uns 
die wesentlichen Fortschritte gegenüber dem nächst jüngeren 
Stadium. Die Schneidezähne nehmen von vorne nach hinten 
an Grösse ab. Der erste und zweite zeigen an ihrer dem 
Mesoderm zugekehrten Fläche bereits eine leichte Delle als 
ein Zeichen dafür, dass die weitere formale Ausgestaltung des 
Schmelzorganes, die zur Umfassung der Zahnpapille führt, be- 
reits begonnen hat. Lateral von den beiden vorderen Incisivi 
erhebt sich eine Epithelleiste, die vor dem Id, über die Mittel- 
linie hinwegreicht. Es ist dies die Vestibularleiste. Wichtig 
sind ihre besonders intimen Beziehungen zu den Schmelz- 
organen der Schneidezähne. Diese erklären sich meiner Meinung 


nach vor allem daraus, dass wir, wie schon früher erwähnt, :m 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 47 


Bereiche der Schneidezähne eine Zahnleiste nicht vorfinden, 
dass vielmehr die Schmelzorgane dem Mundhöhlenepithel direkt 
aufsitzen. Entwickelt sich nun die Vestibularleiste hart lateral 
von den Schmelzorganen, dann übertragen sich die intimen 
Beziehungen, die bei anderen Spezies zwischen Vestibular- und 
Zahnleiste bestehen, hier direkt auf die laterale Fläche der 
Schmelzorgane. Es sieht hier so aus, als seien die Schmelz- 
organe der inneren Fläche der Vestibularleiste förmlich an- 
geklebt. Die Haftfläche des Schmelzorganes am Mundhöhlen- 
epithel reicht auf die Vestibularleiste hinüber. Die Bilder, 
welche man dadurch erhält, sind ohne Zweifel besser ver- 
ständlich, wenn man sich für den Augenblick die Vestibular- 
leiste entfaltet, also ein Vestibulum oris entstanden denkt; dann 
ist das Epithel der Vestibularleiste wieder zum freien Mund- 
höhlenepithel (des Vestibulums) geworden, zu welchem von 
Anfang an die Schmelzorgane der Milchschneidezähne direkte 
Beziehungen hatten. 

Die mächtig entwickelte Eckzahnanlage ist in ihrer Ent- 
wickelung den Schneidezähnen weit voraus und trägt an ihrer 
Oberfläche bereits eine deutliche Konkavität. 

Die vier Milchprämolaren zeigen von Pd, bis Pd, nicht 
nur eine kontinuierliche Grössenzunahme, sondern der letzte ist 
es auch, der am weitesten in der Differenzierung fortgeschritten 
ist. Gerade dieser Embryo lässt den ersten Prämolaren nur 
mit grösster Mühe als ganz leichte Anschwellung der Zahn- 
leiste erkennen. Der vierte Milchprämolar zeigt bereits eine 
deutliche Grube an seiner mesodermalen Fläche. Hinter ihm 
hat sich die Zahnleiste beträchtlich weiter verlängert und trägt 
die Anlage des ersten bleibenden Molaren in Form einer plumpen 
mächtigen Verdickung. 

Die beiden Nebenleisten des jüngeren Stadiums haben an 
diesen Embryo den Höhepunkt ihrer Entwickelung erreicht. 
Die vordere Nebenleiste besetzt die laterale Zahnleistenfläche 


48 HARRY SICHER, 
in der Reeion der beiden hinteren Prämolaren, zwischen dem 
Mundhöhlenepithel und den Schmelzorganen gelegen. Ihr 
vorderes und hinteres Ende laufen allmählich aus. Knapp vor 
ihrem hinteren Ende — hinter dem Schmelzorgan des vierten 
Prämolaren — beginnt nahe dem freien Zahnleistenende die 
mittlere Nebenleiste. Sie verläuft entlang der labialen Fläche 
der Zahnleiste distalwärts bis über die Mitte des Schmelz- 
organes von M, hinaus. 

Die Zahnanlagen des Unterkiefers sind in ihrer Entwicke- 
lung hinter denen des Oberkiefers deutlich zurückgeblieben. 
Von den drei Milchschneidezähnen, welche, wie die des Ober- 
kiefers, dem Mundhöhlenepithel direkt, ohne Vermittelung einer 
Zahnleiste, aufsitzen, ist der dritte, kleinste, wieder lateral 
aus der Reihe gedrängt. Die Eckzahnanlage übertrifft zwar den 
letzten Schneidezahn an Grösse, steht aber in ihrer ganzen Aus- 
bildung weit hinter der des Oberkiefers zurück. Von den vier 
Milchprämolaren ist eine Anlage des ersten mit Sicherheit über- 
haupt nicht nachzuweisen. Der vierte, grösste Prämolar ist an 
der dem Mesoderm zugekehrten Fläche abgeplattet und leicht 
konkav. Hinter ihm reicht die Zahnleiste weiter in einer Länge, 
die fas: der Ausdehnung der vier Prämolaren entspricht. Sie 
trägt hier eine lange, schlanke, spindelförmige Verdickung, die 
Anlage des M.. 

Von den beiden Nebenleisten (Tafel 4, Fig. 10) zieht die 
vordere, vor dem Pd, beginnend, nach rückwärts und reicht, 
allmählich niedriger werdend, bis in die Mitte zwischen hinterem 
Ende von Pd, und vorderem Ende von M,. Ziemlich weit vor 
ihrem distalen Ende, dem freien Zahnleistenrand genähert, be- 
ginnt die mittlere Nebenleiste, um an der labialen Fläche des 
Schmelzorganes von M, auszulaufen. 

Während der Vergleich der Nebenleisten des Oberkiefers 
des eben besprochenen Embryo mit denen des jüngeren die 
Weiterentwickelung der Leisten klar zeigt, könnten bei der 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 49 


Betrachtung der unteren Nebenleisten Zweifel darüber ent- 
stehen, ob die niedrige mittlere Nebenleiste des Embryo a 
wirklich ein Derivat der mächtigen Nebenleiste des jüngeren 
Embryo ist. Hat es doch bei diesem Embryo den Anschein, 
als ob sich die Zahnleiste nahe ihrem Ende in zwei gleich- 
wertige Äste teilen würde. Eine Aufklärung dieser Verhältnisse 
bot ein Embryo von 9!/; mm Kopflänge, der in der allgemeinen 
Entwickelung des Zahnsystems kaum hinter dem Embryo dieses 
Stadiums zurücksteht. Das distale Ende der unteren Zahnleiste 
— von der Mitte des Pd, angefangen — wurde bei zweihundert- 
facher Vergrösserung rekonstruiert (Tafel 4, Fig. 11). An dem 
Modell sieht man an der labialen Fläche des vierten Prämolaren 
das hintere Ende der vorderen Nebenleiste auslaufen. Auch 
bei diesem Embryo ist bereits der erste Molar als spindelförmige 
Verdickung der Zahnleiste angelegt. Von dem hinteren Ende 
des Pd, zieht nun die mittlere Nebenleiste distalwärts, um 
an der labialen Fläche des M, zu. enden. Diese Nebenleiste 
liegt hier dem Rande der Zahnleiste noch viel näher als bei 
dem Embryo a, ähnelt also in dieser Hinsicht noch mehr dem 
jüngeren Embryo E. Doch tritt sie hier bereits an Mächtigkeit 
gegenüber dem freien Zahnleistenrande zurück, ein Umstand, 
der einerseits auf eine Rückbildung der Nebenleiste, anderer- 
seits auf ein rascher fortschreitendes Wachstum der Zahn- 
leiste zurückzuführen ist. Durch diese nun auftretende In- 
kongruenz zwischen Nebenleiste und Zahnleiste wird uns das 
Verhalten der Leisten an dem Embryo a des eben beschriebenen 
Stadiums erst recht verständlich. 

Die Durchsicht der Serie zeigt, dass in diesem Stadium 
auch die histologische Differenzierung des Schmelzorganes be- 
reits ihren Anfang macht. Verfolst man die Zahnleiste von 
distal nach mesial, so kann man zunächst an den Neben- 
leisten konstatieren, dass sie sich aus einer äusseren Schichte, 
dem Stratum germinativum, und einer Innenschichte, den Deri- 


Anatomische Hefte 1. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). 4 


50 HARRY SICHER, 


vaten der Deckschichte, aufbauen. Die Zahnleiste selbst zeigt 
in der Gegend des M, knapp nach ihrem Ursprung aus dem 
Mundhöhlenepithel eine Verdickung, die körperlich einen Wulst 
darstellt, der an der lingualen Seite der Zahnleiste weiter vor- 
springt als an der labialen, ein Verhalten, das an älteren 
Embryonen noch deutlicher wird. 

Eine innere Differenzierung hat das Schmelzorgan von 
Pd, Cd und Id, erfahren. Wir können hier bereits von 
einem hohen inneren, einem kubischen äusseren Schmelzepithel 
sprechen, während sich im Zentrum des Schmelzorgans bereits 
die Schmelzpulpa zu differenzieren beginnt: die Zellkerne 
rücken auseinander, zwischen ihnen treten helle Lücken auf. 
Im Hinblick auf die Publikationen über das Schmelzseptum 
Bolks wurde gerade dieses Stadium genau untersucht. Doch 
kann ich nur sagen, dass bei Talpa die Aufhellung, die zur 
Bildung der Schmelzpulpa führt, ungefähr im Zentrum des 
Schmelzorganes auftritt und von Anfang an einheitlich ist. 

Bezüglich der histologischen Differenzierung bleibt der 
Unterkiefer ebenso in seiner Entwickelung hinter dem Ober- 
kiefer zurück, als in bezug auf die formale Ausgestaltung. 
Eine Differenzierung des Schmelzorganes ist nur im Pd, vor- 
handen, und hier nur gerade angedeutet. 

Die Abgrenzung von Zahnleiste und Schmelzorganen gegen 
das Mesoderm ist eine vollständig scharfe. Die mesodermale 
Verdichtung folgt zwar noch dem freien Rand der ganzen Zahn- 
leiste, doch tritt sie bereits an den Schmelzorganen deutlicher 
hervor, als zwischen denselben. 

In den; Entwickelungsgang des Vestibulum oris ist kein 
wesentlich neuer Faktor hinzugetreten. Wir finden im Ober- 
kiefer in der distalen Partie seine Anlage als eine ohne Zu- 
sammenhang mit der Zahnanlage auftretende offene Furche, 
wie bei den Embryonen des jüngeren Stadiums. Im Bereiche 
der Schneidezähne hingegen sehen wir eine plumpe Epithel- 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. Sl 


leiste entstehen, die jenen innigen Zusammenhang mit den 
Schmelzorganen zeigt, wie wir ihn bei der Beschreibung des 
Modeils kennen gelernt haben. 

Im Unterkiefer sehen wir von dem Leisten- und Furchen- 
system der jüngeren Embryonen nichts erhalten als eine seichte 
Furche, die von der Eckzahngegend, allmählich verflachend, 
nach vorne zieht. Ihr entspricht eine leichte Epithelverdickung. 

Die Ductus incisivi inferiores, wie wir jene Epithel- 
einstülpungen nennen wollen, die wir schon bei jüngeren Em- 
bryonen zwischen den mittleren Incisivi fanden, haben sich 
zu soliden, etwa 100 u langen Strängen entwickelt. 


VI-Stadr um: 


Die rechte Hälfte der oberen und unteren Zahnleiste des 
Embryo b — 17,5 mm grösste Länge — wurde bei 200 facher 
Vergrösserung rekonstruiert. 

In der Schneidezahngegend des Oberkiefers (Tafel 4, 
Fig. 12) fällt zunächst die starke Grössenzunahme der Schmelz- 
organe auf. Das des ersten Milchincisivus ist schüsselförmig 
geworden, die des Id, und Id, tragen an ihrer Oberfläche 
leichte Grübchen. Die Vestibularleiste, welche peripher die 
Anlagen der Schneidezähne umgibt, reicht bereits neben dem 
dritten Incisivus distalwärts und verflacht allmählich vor dem 
Eckzahn. Ihre Beziehungen zu den Zahnanlagen sind weiter 
so enge geblieben wie in dem jüngeren Stadium. An der 
Stelle der Schmelzorgane der Schneidezähne fehlt eine Zahn- 
leiste. Nur zwischen den Zahnanlagen springt sie gegen das 
Mesoderm vor. Die Haftstelle des Schmelzorganes an dem 
Mundhöhlenepithel beschränkt sich aber nicht etwa auf das 
streifenförmige Feld, das normalerweise von der Zahnleiste 
besetzt wird, sondern jedes Schmelzorgan haftet auch an einer 
schräg von hinten, unten nach vorne, oben verlaufenden Linie 


4* 


52 HARRY SICHER, 

an der Innenfläche der Vestibularleiste. Wir haben schon bei 
der Besprechung des früheren Stadiums zu zeigen versucht, 
dass gerade das Fehlen der Zahnleiste in der Schneidezahn- 
gegend, d. h. die unmittelbaren Beziehungen zwischen Schmelz- 
organ und Mundhöhlenepithel es sind, welche diese eigen- 
tümlichen Beziehungen zwischen Schmelzorgan und Vestibular- 
leiste bedingen. 

Das Schmelzorgan des Eckzahnes zeigt bereits den Be- 
sinn der Ersatzzahnentwickelung. Lingual vom tief gehöhlten 
Schmelzorgan des Milchcaninus ragt der freie Zahnleistenrand 
in Form einer noch niedrigen Verdickung vor. 

Die Zahnleiste der Eckzahngegend selbst ist durch einen 
Aushöhlungsprozess in ihrem distalen Abschnitt zweigeteilt 
worden. Von distal senkt sich eine kurze blinde Bucht ein, 
die medial (lingual) von dem Hauptteil der Zahnleiste, lateral 
(labial) von einer Epithellamelle begrenzt ist, welche der 
Bolkschen lateralen Schmelzleiste entspricht. Die Bucht 
selbst ist nach Bolk als Schmelznische oder Schmelzkrypte 
zu bezeichnen. 

Während die ersten drei Prämolaren in ihrer Entwicke- 
lung nur wenig fortgeschritten sind, ist der vierte Milchprämolar 
bereits zu einem glockenförmigen Gebilde geworden, an dessen 
lingualer Seite überdies die Zahnleiste bereits als niedrige 
Ersatzleiste vorspringt. 

Das Schmelzorgan des ersten Molaren stellt eine plumpe, 
breite, leicht gehöhlte Platte dar. Wie die Besichtigung von 
oben lehrt (Tafel 4, Fig. 13), besitzt sie ein vorderes spitzes, 
ein hinteres. breites Ende. Von Interesse ist es, schon an 
diesem Stadium den Rand dieses Schmelzorganes zu betrachten. 
Dieser Randwulst ist an der labialen Seite nach vorne zu 
verfolgen, wo er um die mesiale Spitze des Organs nach 
lingual umbiegt. Linguodistal endet er verdickt. Distal jedoch 
bleibt zwischen den beiden Seitenrändern ein Defekt, so dass 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. bp} 


hier die flache Konkavität in eine offene Furche ausläuft. — 
Hinter dem Schmelzorgan des M, wird die Zahnleiste rasch 
niedriger. Knapp vor ihrem Ende trägt sie eine kurze labiale 
Leiste, die distal in die Zahnleiste übergeht. 

Was nun die beiden Nebenleisten anlangt, so können wir 
sagen, dass sie sich bereits im Stadium der Rückbildung be- 
finden. Die vordere Nebenleiste, welche die Schmelzorgane 
von Pd, und Pd, begleitet, ist bereits mehrfach unterbrochen. 
Neben Pd, erhebt sie sich zu einer ziemlich hohen, am Rande 
verdickten Falte, ähnlich neben dem distalen Anteil von Pd,. 

V.on dem hinteren Ende des vierten Milchprämolaren läuft 
die mittlere Nebenleiste distalwärts, um ungefähr in der Mitte 
des M, zu enden. 

Am Modell des Unterkiefers (Tafel 4, Fig. 14) sind in 
der Schneidezahngegend keine auffallenden Veränderungen 
wahrzunehmen, natürlich abgesehen von der Grössenzunahme 
der Schmelzorgane und ihrer Fortbildung durch das Auftreten 
der gegen das Mesoderm konkaven Grübchen. Der Unterschied 
in der relativen Entwickelung des oberen und unteren Eck- 
zahnes zu ungunsten des letzteren tritt immer deutlicher her- 
vor. Der untere Cd stellt in diesem Stadium noch immer eine 
rundliche Verdickung der Zahnleiste dar, befindet sich also 
noch immer in dem sogenannten ‚„knospenförmigen“ Stadium. 

Die vier Milchprämolaren nehmen ziemlich gleichmässig 
an Grösse zu, der letzte trägt bereits eine seichte Grube an 
seiner mesodermalen Fläche. 


Das Schmelzorgan des ersten Molaren stellt einen läng- 
lichen, bereits ziemlich tief gehöhlten Wulst dar, dessen Kon- 
kavität nach unten und lingual gekehrt ist. Die Besichtigung 
seiner konkaven Fläche (Tafel 4, Fig. 15) zeigt, ähnlich wie 
am oberen M,, dass eine scharfe Begrenzung des Schmelz- 
organes gerade .an seinem distalen Ende fehlt, während sie 


54 HARRY SICHER, 


lingual, labial und mesial von einem etwas verdickten auf- 
geworfenen Rand beigestellt wird. 

Hinter dem M, setzt sich die Zahnleiste noch ein Stück 
weit, allmählich niedriger werdend, fort. 

Die Nebenleisten des Unterkiefers sind gerade in diesem 
Stadium ausgezeichnet und in typischer Form entwickelt. Die 
vordere beginnt hinter dem Schmelzorgan des Pd, und endet 
hinter Pd,. Näher dem freien Zahnleistenende beginnt noch 
vor ihrem distalen Ende die mittlere Nebenleiste, um nach 


Fig. 4. 


Zwei übereinander gezeichnete Schnitte durch den vierten Milchprämolaren des 
Embryo a und des Embryo b. Vergrösserung 200 fach. 


kurzem Verlauf an der labialen Fläche des Schmelzorganes 
von M, auszulaufen. 

Die Zahnleiste hinter M, trägt eine stumpfe, wenig deut- 
liche Verdickung an ihrer labialen Fläche. 


Die Durchsicht der Serie des Embryo b sowie die eines 
etwas älteren Embryo c (Kopflänge 11 mm) ergibt zunächst 
in bezug auf die innere Differenzierung der Schmelzorgand, 
dass es im Oberkiefer bei Id,, Cd, Pd, und M, zur Aus- 
bildung einer Schmelzpulpa gekommen ist. Während dieser 
Vorgang bei M, erst gerade angedeutet ist, findet man ge- 
legentlich in den anderen Zähnen bereits echte Sternzellen. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 55 


Bei der Umwandlung des Schmelzorganes aus dem ‚kappen- 
förmigen“ Stadium in das „glockenförmige“, mit anderen 
Worten bei der Entstehung der für die Zahnpapille bestimmten 
Höhlung, spielt zweifellos das Epithel die Hauptrolle. Dass 
aber nicht alle Umgestaltungen durch das aktive Epithelwachs- 
tum erklärt werden können, dass vielmehr bis zu einem ge- 
wissen Grade in den Anfangsstadien auch dem Mesoderm eine 
aktive Rolle zufällt, ergibt sich wohl aus Textfig. 4. Hier 
wurden die Konturen eines mittleren Querschnittes von Pd, 


G £ B; 


f 4 


q 
AL 


| 


J 
ZN a SA 
aa u Rau zRerne: 


Fig. 5. 
Acht aufeinanderfolgende Schnitte durch den oberen Milcheckzahn des Embryo b 
Vergrösserung 66 fach. 


des Embryo a und b übereinander gezeichnet. Man sieht deut- 
lich, dass die Konkavität des Schmelzorganes nicht nur durch 
Vorwachsen der begrenzenden Ränder, sondern auch durch 
tieferes Eindringen der Papille vertieft wurde. 

Das Bild der „lateralen Schmelzleiste und der Schmelz- 
nische“, wie es sich bei der Verfolgung der Serie am Cd dar- 
stellt, zeigt am besten die Abbildung Textfig. 5 von acht auf- 
einanderfolgenden Schnitten durch diesen Zahn. 

Die eigentümlichen Beziehungen zwischen den Schmelz- 
organen der Schneidezähne zur Vestibularleiste bedingen in 
der Verfolgung der Serie nicht unwesentliche und im ersten 


56 HARRY SICHER, 


Augenblick schwer zu deutende Komplikationen. Dadurch, dass 
nämlich die Haftlinie jedes Schmelzorganes (der Incisivi) gegen 
die Vestibularleiste in Form einer schräg vorwärts verlaufenden 
Zacke ausgezogen ist, scheinen auf gewissen Schnitten zwei 
Zahnleisten, respektive zwei Zusammenhänge der Schmelz- 
organe mit der Zahnleiste zu bestehen (Textfig. 6). Nur die 


Fig. 6. 
Zwölf aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende von Id, und das 
vordere von Id, des Embryo b. E = Ersatzleiste. V — Vestibularleiste. Ver- 
grösserung 66 fach. 


plastische Rekonstruktion kann hier Klarheit schaffen. Diese 
Verhältnisse, welche im älteren Stadium noch deutlicher 
werden, haben scheinbar schon zu Irrtümern Anlass gegeben 
(Adloff beim Schwein). 


Im Unterkiefer zeigen die beiden Embryonen im distalen 
Abschnitt keine Besonderheiten. In der Schneidezahngegend 
ist es nun auch im Unterkiefer zur Ausbildung einer Vestibular- 
leiste gekommen, welche ebenfalls innige Zusammenhänge mit 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd,, H. 1). Tafel 5. 


M, Pd, Pd, 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden, 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 


ı oO 
De | 


Id, und Id, zeigt, die wohl auf dieselben Ursachen zurück- 
sehen wie die gleichen Verhältnisse im Oberkiefer. 
Während die Nebenleisten beider Embryonen in ihrer 
histologischen Struktur nur Bekanntes bieten, ist es bei einem 
dritten Embryo desselben Alters (Embryo b’) zu einer eigen- 


\ 


A 
Ren. 
er 


N 
AN 
ar 


ioad: 
Schnitte durch den Unterkiefer des Embryo b‘. Die Zahlen zwischen den 
Schnitten bedeuten die Zahl der nicht abgebildeten, dazwischenliegenden 
Schnitte. Vergrösserung 66fach. ,b,c= Pd, d=Pd, e&8,f-v = Pd, 
w—z = M.. 


tümlichen Differenzierung der vorderen unteren Nebenleiste ge- 
kommen. Sie fällt hier bereits durch ihre mächtige Längen- 
entwickelung auf, da sie, wie die Abbildung lehrt, noch neben 
Pd, nach vorne reicht. Neben dem distalen Anteil von Pd, 
zeigt nun ihr freies Ende eine deutliche Zweiteilung, die sich 


58 HARRY SICHER, 


auf zehn Schnitte, also über 100 u, verfolgen lässt. An diesen 
Schnitten (Textfig. 7) sieht die Nebenleiste bei oberflächlicher 
Betrachtung ganz wie das Miniaturbild eines Zahnkeimes aus. 
Jede Verdichtung im Bereiche des umgebenden Mesoderms 
aber, jede Andeutung einer papillenähnlichen Struktur fehlt 
vollkommen. Weiter distal tritt noch vor dem Ende der vorderen 
Nebenleiste die mittlere Nebenleiste auf, so dass eine Zeit- 
lang die labiale Schmelzleistenfläche zwei Nebenleisten zu 
tragen scheint. An der lateralen Wand von M, verstreicht die 


hintere Nebenleiste allmählich. 


vu Stadıum 


Die drei mit d, e und f bezeichneten Embryonen zeigen so 
wenig prinzipielle Verschiedenheiten, dass sie bei der Be- 
schreibung in ein Stadium zusammengefasst werden können. 
Das Zahnsystem des Embryo d, 21 mm grösste Länge, 11,5 mm 
Kopflänge, sowie das des Embryo f, 23 mm grösste Länge und 
12 mm Kopflänge, wurde bei 150facher Vergrösserung rekon- 
struiert. Embryo e ist zwar etwas grösser als d — er misst 
22 mm grösste Länge und 12 mm Kopflänge —, ist jedoch in 
bezug auf die Entwickelung seines Zahnsystems etwas jünger 
als dieser. 

Der Beschreibung wollen wir die Modelle des Embryo d 
zugrunde legen und nur die geringgradigen Veränderungen er- 
wähnen, die sich noch im Laufe dieses Entwickelungsstadiums 
abspielen. 

Unter den oberen Milchschneidezähnen tritt das relative 
Überwiegen von Id, immer mehr hervor. Er ist halbkugelförmig 
und tief gehöhlt. Id, und Id, stellen längsovale noch ziemlich 
flache schüsselförmige Gebilde vor, deren Längsachse etwas 
schräg von distal lingual nach mesial labial gerichtet ist. 

Labial sind die drei Schneidezähne von der Vestibular- 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 59 


leiste flankiert, auf welche die Haftstellen der Incisivi etwas 
übergreifen, wie in dem letzten Stadium (Tafel 4, Fig. 16). 
Die Vestibularleiste hat aber an Höhe bereits abgenommen. 
Die Furche, welche den Milchcaninus von der Ersatzzahn- 
anlage scheidet, ist tiefer geworden, wodurch die Ersatzleiste 
besser differenziert erscheint. Die Schmelznische, die wir an 
der distalen Seite des Caninus im früher beschriebenen Stadium 
fanden, ist seichter geworden, die laterale Schmelzleiste kaum 
angedeutet. Noch auffallender, als in den früheren Stadien, 
ist jetzt der Gegensatz in der Entwickelung zwischen Pd, und 
den drei ersten Milchprämolaren (Tafel 5, Fig. 17). Während 
der letzte Prämolar in seiner Grösse dem ersten Molaren kaum 
nachsteht, sind Pd, bis Pd, noch die kleinsten Zähne des Ge- 
bisses. Pd, ist noch immer nur als Verdickung der Zahnleiste 
vorhanden, Pd, und Pd, sind an ihrer Oberfläche flach konkav. 
Der vierte Prämolar besitzt ein in die Länge gezogenes 
Schmelzorgan, dessen Rand lingual und labial in Form einer 
Zacke vorspringt. Die beiden Zacken sind gegeneinander abge- 
bogen. Sie deuten an, dass bereits die Bildung des Wurzel- 
teiles der Epithelscheide beginnt. Ihre Vereinigung bedingt 
später das Auftreten einer mesialen und einer distalen Wurzel. 
Das Schmelzorgan des ersten Molaren ist eine breite, 
plumpe, konkave Platte (Tafel 4, Fig. 18). Ihr Rand um- 
greift wieder nur lingual, mesial und labial die Konkavität, 
während er distal fehlt. Die Konkavität selbst ist keine ein- 
heitliche. Sie ist in der mesialen Hälfte des Schmelzorganes 
zu einer Grube vertieft. Eine leichte Vorragung — des inneren 
Schmelzepithels — begrenzt sie gegen eine zweite distale Ver- 
tiefung, die entsprechend des Fehlens eines distalen Rand- 
wulstes nach hinten offen ausläuft. 
An der lingualen Seite von M, hat durch eine von distal 
einschneidende Furche die Abschnürung der Ersatzzahnleiste 
begonnen. 


60 HARRY SICHER, 


Hinter dem ersten Molaren hat sich die Zahnleiste weiter 
verlängert. Der kurze hakenförmige Fortsatz, den wir im 
früheren Stadium an ihrer labialen Fläche fanden, ist zu einer 
langen Leiste geworden. Sie beginnt niedrig am distalen Ende 
des ersten Molaren, haftet an der Zahnleiste knapp an deren 
Ansatz am Mundhöhlenepithel, und geht am hinteren Ende der 
Zahnleiste in diese selbst über. Der Rand der Zahnleiste selbst 
ist bereits deutlich verdickt und bildet so die Anlage des 
zweiten Molaren. 

Von der vorderen Nebenleiste ist nur mehr neben Pd, ein 
deutlicher Rest vorhanden. Die mittlere Nebenleiste zieht vom 
hinteren Ende des Pd, rasch verflachend distalwärts. 

Das Modell des Unterkiefers des Embryo d zeigt in der 
Schneidezahngegend eine laterale Falte, die mit den Schmelz- 
organen von ld, und Id, zusammenhängt. Es ist dies — wie 
auch die histologische Untersuchung zeigt — die Vestibular- 
leiste. Der dritte Schneidezahn behält weiter seine etwas nach 
lateral verschobene Lage bei. Der Eckzahn, der nur um weniges 
den letzten Schneidezahn an Grösse übertrifft, zeigt noch keine 
Andeutung einer Ersatzleiste. 

Die vier Prämolaren nehmen von vorne nach hinten an 
Grösse zu. Auch im Unterkiefer tritt jetzt das relativ ver- 
stärkte Wachstum des Pd, mehr hervor als früher. An diesem 
selbst ist durch eine seichte Furche eine Ersatzleiste bereits 
abgetrennt. 

Das Schmelzorgan des M, ist tief gehöhlt und sieht mit 
seiner Konkavität nach innen und unten. Die Höhlung selbst 
(Tafel 5, Fig. 19) wird von einer kürzeren labialen und einer 
längeren lingualen Wand begrenzt, die mesial ineinander über- 
sehen, distal jedoch die Grube unbegrenzt enden lassen. Da- 
durch resultiert ein ähnliches Verhalten wie am oberen ersten 
Molaren, nur ist am Unterkiefer die mangelhafte Begrenzung 
des Schmelzorganes an seinem distalen Umfang noch deutlicher. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 61 


Hinter M, trägt die Zahnleiste eine lange spindelförmige 
Verdickung, die Anlage des zweiten Molaren. 

Die vordere Nebenleiste ist noch ziemlich deutlich aus- 
gebildet. Sie zieht vom hinteren Ende des Pd, bis gegen M.- 
Näher dem Zahnleistenrande wird sie in ihrem letzten Stücke 
von der mittleren Nebenleiste begleitet, die an der labialen 
Fläche von M, ausläuft. 

Das Ende der Zahnleiste trägt im Gegensatz zum Ober- 
kiefer keine sekundäre Leiste. 

Die Veränderungen, welche die Zahnleiste und die Schmelz- 
organe bei dem ältesten Embryo dieses Stadiums — Embryo f 
— zeigen, sind, abgesehen von der Grössenzunahme, kurz 
folgende: | 

Die Vestibularleiste der Schneidezahngegend ist niedriger 
geworden und zeigt nur entsprechend den Schmelzorganen der 
Incisivi Erhöhungen. Dabei ist aber ihr Zusammenhang mit 
den Schmelzorganen vollkommen erhalten geblieben. 

Die Entwickelung der Ersatzleiste hat Fortschritte gemacht. 
Am Id, ist sie angedeutet, bei Cd und Pd, hat sie sich noch 
weiter von dem Schmelzorgan emanzipiert. Bei Cd trägt sie 
sogar eine Verdickung, die Anlage des bleibenden oberen 
Caninus. 

Auch am ersten Molaren ist sie weiter differenziert; sie 
lässt sich hier von distal her bis gegen das mesiale Drittel des 
Zahnes verfolgen. | 

Hinter M, ist die Zahnleiste und die sekundäre Leiste 
weiter verlängert, die Anlage des zweiten Molaren tritt als 
deutlichere Verdickung hervor. 

Die Nebenleisten sind bis auf Spuren gänzlich geschwunden. 

Im Unterkiefer sind die Veränderungen noch geringer. Nur 
lässt sich bereits jetzt erkennen, dass der erste Prämolar eine 
Beschleunigung seines Wachstums erfahren hat, da er den 
Pd, an Grösse bereits um ein Geringes übertrifft. 


62 HARRY SICHER, 


Die Anlage des zweiten Molaren ist bereits an ihrer meso- 
dermalen Fläche schwach gehöhlt. Nebenleisten fehlen voll- 
kommen. 

Die histologische Untersuchung des eben beschriebenen 
Stadiums an der Hand von Serien zeigt, dass mit Ausnahme 


von Pd, und M, alle Schmelzorgane bereits weit differenziert 


o 
Hd 
& 
Fig. 8. 


Zwölf aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende von Id, und das 
vordere von Id, des Embryo f. Vergrösserung 66fach. E = Eirsatzleiste. 
V = Vestibularleiste. 


sind. Am weitesten sind in ihrer inneren Differenzierung die- 
jenigen Zähne, welche auch formal den übrigen vorauseilen: 
Id,, Cd, Pd, und M,. Besonders an Cd und Pd, lässt sich 
der typische Aufbau des Schmelzorganes ausgezeichnet stu- 
dieren. Das innere Schmelzepithel besteht aus einer mehr- 
reihigen Schichte von Cylinderzellen. Ziemlich plötzlich geht 
es am Rande des Schmelzorganes in das platte äussere Schmelz- 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 63 


epithel über. Von den sternförmigen Zellen der Schmelzpulpa 
ist das innere Schmelzepithel durch die Schichten der poly- 
gonalen Zellen des Stratum intermedium geschieden. 


Verfolgt man die Serie von mesial nach distal, so kann 
man zunächst in der Schneidezahngegend des Oberkiefers die 
eigentümlichen Beziehungen der Schmelzorgane zur Vestibular- 
leiste gerade an diesem Stadium am deutlichsten studieren. 
So wie in dem jüngeren Stadium ergeben sich auch hier an 
einzelnen Schnitten Verhältnisse, die an eine Verdoppelung 
der Zahnleiste denken lassen (Textfig. 8). Die Erklärung dieses 
Verhaltens wurde bereits gegeben. 


Die eigentümliche akzessorische Leiste des distalen Zahn- 
leistenendes hinter M, ist am Embryo e wohl am besten ent- 
wickelt. Hier sehen wir, dass an der Zahnleiste, die mit breiter 
Basis dem Mundhöhlenepithel aufsitzt, ein Fortsatz entspringt, 
der an seinem freien Ende deutlich verdickt ist (Tafel 5, 
Fig. 20). Weiter distal wird der Fortsatz kleiner, löst sich 
aber endlich im Zusammenhang mit der Zahnleiste vom Mund- 
höhlenepithel ab. Das Ende der Zahnleiste gewinnt dann ein 
hakenförmiges oder kommaförmiges Aussehen (Textfig. 9). 

Die Bedeutung dieses Fortsatzes — richtiger dieser Leiste 
— wollen wir später im. Zusammenhange besprechen. Hier 
sei nur erwähnt, dass es sich um jenes Gebilde handelt, das 
Bolk der Zahndrüsenleiste der Reptilien homologisiert hat. 

Im Unterkiefer fehlt dem Ende der Zahnleiste ein solches 
Gebilde vollkommen. 


Die Anlage des Vestibulum oris wird wie in den früheren 
Stadien in der Schneidezahngegend des Ober- und Unterkiefers 
von der Vestibularleiste gebildet, die innige Beziehungen zur 
Zahnleiste, respektive dort, wo eine solche fehlt, zu den 
Schmelzorganen selbst aufweist. Im Unterkiefer finden wir, 
dass sich die Vestibularleiste, nach hinten allmählich ver- 


64 HARRY SICHER, 


flachend, längs einer seichten Furche bis in dıe Eckzahngegend 
verfolgen lässt. 

Im Oberkiefer reicht die Vestibularleiste bis an den dritten 
Schneidezahn — sie ist in dem beschriebenen Stadium niedriger 


Er ua BE 
Fig. 9. 
25 aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende der oberen Zahnleiste 
des Embryo e. Vergrösserung 66fach. a —= akzessorische Leiste. Z = Zahn- 
leiste. 


geworden. Im distalen Abschnitt der Mundhöhle hatte sich 
das Vestibulum oris in Form einer offenen Furche angelegt, 
die sich nunmehr nach mesial und distal verlängert. Sie reicht 
nun von der Mitte des M, nach vorne (Textfig. 10) bis neben 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 65 


Pd,; schon in der Gegend des Pd, ist es nicht mehr eine 
vollkommen offene Furche, vielmehr finden wir hier die Tiefe 
der Furche bereits durch eine Epithelmasse erfüllt. An ihrem 
mesialen Ende haben wir dann eine typische plumpe Vestibular- 
leiste vor uns. 


u [ 


e-72 


Fig. 10. 
Die Schnitte zeigen das verschiedene Verhalten von Vestibularleiste und Zahn- 


leiste im Oberkiefer. Embryo f. Vergrösserung 50fach. a —= Pd, b= Pd,. 
Ber —eM,. 


ERINE 


Fig. 11. 


a — Embryo c. b = Embryo f. Vergrösserung 50fach. A — Alveolarwall. 
Ps.-A — Pseudoalveolarwall. V = Vestibularfurche. 


Medial von dieser hinteren Vestibularfurche finden wir 
den Wulst des Alveolarwalles. In den vorderen Partien inseriert 
die Zahnleiste medial von diesem Alveolarwall. Dahinter ent- 
springt sie von der Kuppe des Wulstes, weiter distal sogar 
lateral neben ihm. Der Vergleich der Stelle des Pd, des 


Anatomischo Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). bi} 


66 HARRY SICHER, 


Embryo e mit der gleichen des Embryo f (Textfig. 11) zeigt 
uns aber, dass die Zahnleiste ihren Ansatz in bezug auf diesen 
Wulst geändert hat; sie ist scheinbar nach medial gewandert. 
In der Tat ist dieses Verhalten wohl darauf zurückzuführen, 
dass der zwischen Zahnleiste und Vestibularfurche gelegene 
Wulst immer mehr betont wird, während der medial von der 
Zahnleiste gelegene Anteil des Wulstes verstreicht. Dieser 
medial von der Zahnleiste gelegene Wulst ist nichts anderes 
als Bolks Pseudoalveolarwall. 


Ydı 
33 
Sn 
Fig. 12. 
Embryo f. Frontalschnitt durch Id,. Vergrösserung 33fach. V = Vesti- 
bularleiste. 


Im Schnauzenteil des Oberkiefers hat sich in diesem Sta- 
dium eine neue Epithelleiste (Textfig. 12) gebildet, die in 
weitem Bogen die Zahnanlagen umfasst. Sie bleibt nicht auf 
die Mundhöhle beschränkt, sondern läuft mit ihrem hinteren 
Ende auf die Aussenseite des Gesichtes aus. 

Die Ductus incisivi inferiores sind zu etwa 150 u langen 


soliden Strängen ausgewachsen. 


Yıl. Stadıum. 


Der Embryo g dieses Stadiums besitzt eine grösste Länge 
von 26 mm, eine Kopflänge von 12,5 mm. Sein Zahnsystem 
wurde bei 150 facher Vergrösserung modelliert. 

Der erste obere Milchschneidezahn (Tafel 5, Fig. 21) ist 
ein langgestrecktes Gebilde, dessen abgerundete Spitze nach 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 6 


vorne und abwärts sieht. Der freie Rand seines Schmelz- 
organes ist nicht gleichmässig abgeschnitten, sondern springt 
in Form von drei Zacken vor. Die beiden anderen Schneide- 
zähne — nur halb so gross als der erste — stellen tief aus- 
gehöhlte becherförmige Schmelzorgane vor. Die Ersatzzahn- 
leiste ist nunmehr in der ganzen Länge der drei Schneidezähne 
gut ausgebildet. Lingual und immer ein wenig distal von den 
Schmelzorganen der Milchzähne ist sie höher und verdickt, so 
dass ıhr Rand ım ganzen girlandenförmig verläuft. Die Ver- 
dickungen des Randes sind die ersten Anlagen der bleibenden 
Zähne. 

Die primäre Vestibularleiste ist zu einer unansehnlichen 
Verdickung geworden, die lateral neben den Milchschneide- 
zähnen verläuft. Nur an den Stellen, wo sich die schon des 
öfteren beschriebenen Verbindungen der Vestibularleiste mit 
den Schmelzorganen finden, ist die Vestibularleiste etwas 
erhöht. 

Das Schmelzorgan des Milcheckzahnes ist ein düten- 
förmiges Gebilde, das nur noch durch mehrere dünne, unregel- 
mässige Epithelbrücken mit der Zahnleiste in Zusammenhang 
steht. Die Anlage des bleibenden Caninus ist eine plumpe 
längsovale Verdickung, welche eine noch seichte, nach lingual 
und oben gerichtete Konkavität trägt. Einen interessanten Be- 
fund bietet die labiale Fläche des bleibenden Caninus (Tafel 5, 
Fig. 22). Hier erhebt sich eine nach vorne gerichtete Leiste, 
die mit dem Schmelzorgan eine nach vorne offene seichte 
Grube begrenzt. Bei der Besprechung der nächsten Stadien 
wollen wir diese Bildung noch genauer studieren. 

Von den Schmelzorganen der Milchprämolaren ist das erste 
noch immer auf dem Stadium der „knospenförmigen‘“ Anlage. 
Pd, und Pd, sind ungefähr gleich gross und tief gehöhlt. Vom 
mesialen Ende her bereitet sich die Abschnürung der Ersatz- 


leiste vor. Neben den drei ersten Prämolaren entspringt noch 


5* 


68 HARRY SICHER, 


aus dem Mundhöhlenepithel eine niedrige Leiste, die an der 
Implantationsstelle des Pd, und Pd, mit diesen selbst in Zu- 
sammenhang tritt. An der mesialen Seite der Prämolaren ist 
es wieder durch einen Aushöhlungsprozess der Zahnleiste zur 
Bildung von kleinen Gruben gekommen, welche wir als 
Schmelznischen nach Bolk bezeichnen müssen. Durch diesen 
Prozess entsteht natürlich eine Zweiteilung der Zahnleiste in 
eine mediale und eine laterale. Gerade die letztere ist es, 
welche mit der früher beschriebenen Längsleiste in Zusammen- 
hang tritt. 

Der freie Rand des mächtig entwickelten Schmelzorganes 
von Pd, trägt wieder eine linguale und eine labiale Zacke, 
welche die Zweiteilung der Wurzel vorbereiten. An seinem 
distalen Ende sehen wir ein ganz ähnliches Bild wie an dem 
mesialen Ende der vorangehenden Prämolaren: Eine seichte 
Schmelznische, lateral begrenzt von der lateralen Schmelzleiste, 
die sich als eine Leiste an der lateralen Fläche der Zahnleiste 
distal fortsetzt. Die Ablösung der Ersatzleiste längs der lingua- 
len Fläche des Zahnes hat weitere Fortschritte gemacht. 

Das Schmelzorgan des ersten Molaren zeigt ziemlich weit- 
gehende Formveränderungen. Bei der Besichtigung von oben 
(Tafel 5, Fig. 23) sieht man zunächst, dass der Rand des 
Schmelzorganes, der sich labial und mesial ziemlich gleich- 
mässig erhoben hat, lingual in eine vordere schmale und eine 
hintere breite Zacke ausgewachsen ist, während er zwischen 
beiden nach lingual ausgebogen erscheint. Distal ist zwar die 
aus früheren Stadien bekannte mangelhaft abgegrenzte Stelle 
schmäler geworden, doch fehlt auch jetzt noch ein deutlicher 
Rand. Die Konkavität des Schmelzorganes zeigt uns zwei ver- 
tiefte Stellen, die eine mesial, die andere distal gelegen, die 
durch einen leichten Grat getrennt sind. Diese zwei Ver- 
tiefungen entsprechen wohl den beiden grossen buccalen Mo- 
larenhöckern, der linguale Kronenteil ist erst in Bildung be- 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 69 


griffen durch die lingual auswachsende Partie des Schmelz- 
organes. Die beiden lingualen Zacken mit der noch weniger 
deutlich ausgesprochenen Erhebung des labialen Randes bilden 
die Vorbereitung zur Dreiteilung der Molarenwurzel. Lingual 
von M, ist eine Ersatzleiste deutlich durch eine tiefe Furche 
vom Schmelzorgan abgetrennt. 

Hinter dem ersten Molaren ist die Zahnleiste stark ver- 
dickt zur Anlage von M,. Dieser längsgestellte plumpe Wulst 
beginnt bereits vor dem Ende von M,, welcher lateral nach 
distal ausgewachsen ist. Die in den früheren Stadien be- 
schriebene Epithelleiste, welche an der Haftstelle der Zahn- 
leiste am Mundhöhlenepithel von ihr entspringt und an ihrem 
Ende in die Zahnleiste übergeht, ist auch bei diesem Embryo 
vorhanden und ist entsprechend der Verlängerung der Zahn- 
leiste selbst länger geworden. Zwischen ihr und dem Zahn- 
leistenrande finden wir eine Reihe unregelmässiger Erhebungen 
der lateralen Zahnleistenfläche, von welchen zwei deutlicher 
hervortreten. Die eine beginnt mesial etwa in der Mitte des 
Schmelzorganes von M, und verliert sich noch vor dem Be- 
ginne des M,, die andere, näher dem Rand gelegen, ist gerade 
unterhalb M, am besten entwickelt und flacht nach vorne 
und hinten allmählich ab. Sie ist wohl zu homologisieren mit 
der ‚mittleren Nebenleiste‘“‘, da sie zu M, ganz ähnliche Be- 
ziehungen zeigt wie die genannte Leiste zu M, (vergleiche 
Embryo A). Man kann sie daher als hintere Nebenleiste be- 
zeichnen. 

Am Unterkiefer ist die Ersatzleiste im Schneidezahngebiet 
bereits voll ausgebildet. Linguo-distal von jedem der drei 
Schmelzorgane finden wir auch hier die Ersatzleiste stark er- 
höht und verdickt zu den Anlagen der Ersatzzähne. Lateral 
von Id, erhebt sich die Vestibularleiste, die mit dem Schmelz- 
organ des ersten Schneidezahnes noch in Verbindung steht, 
aber schon vor Id, endet. 


70 HARRY SICHER, 


Das Schmelzorgan des Caninus sowie die Anlage seines 
Ersatzzahnes bleiben durchaus auf der Stufe der Schneide- 
zähne, ein Gegensatz zum Verhalten des oberen Eckzahnes, 


der immer deutlicher hervortritt. 


Auffällig ist das Verhalten des ersten Prämolaren. Konnte 
man schon in dem nächstjüngeren Stadium erkennen, dass 
sein Wachstum eine Beschleunigung erfahren hatte, so ist er 
jetzt so weit ausgebildet, dass er an Grösse die beiden folgen- 
den Prämolaren übertrifft. Er stellt ein flach muldenförmiges 
(Gebilde dar, an welchem irgend eine Andeutung einer Ersatz- 
leiste fehlt. 

Bei Pd, und Pd, hat die Bildung der Ersatzleiste be- 
gonnen, doch schneidet hier — im Gegensatz zum Oberkiefer 
— die Furche, welche die Ersatzleiste vom Schmelzorgan des 
Milchzahnes abtrennt, nicht von mesial her, sondern von distal 
her ein. Lingual von Pd,, der in seiner Form dem letzten 
oberen Milchprämolaren ähnelt, jedoch nur halb so gross ist 
als dieser, ist die Ersatzleiste bereits vollkommen vorhanden. 


Dem Schmelzorgan des ersten Molaren (Tafel 5, Fig. 24) 
fehlt noch immer eine distale Abgrenzung, so dass seine Höhlung 
nach distal offen ist. Der linguale und labiale Rand sind 
zu je einer Zacke erhoben, deren spätere Vereinigung die Zwei- 
zahl der Wurzeln bedingt. Die mesiale Partie des Schmelz- 
organes trägt eine deutliche Vertiefung, eine distale Vertiefung 
ist erst durch das Distal-Wachsen des hinteren Schmelzorgan- 
randes in Bildung begriffen. 

Die Anlage des zweiten Molaren ist nunmehr flach gehöhlt; 
auch hier fehlt vorläufig die Abgrenzung nach distal. Auf- 
fällıg ist, dass gerade in der Entwickelung des zweiten unteren 
Molaren der Unterkiefer dem Oberkiefer vorauseilt. 

Die laterale Zahnleistenfläche im Bereiche von Pd, bis 


M, trägi noch deutliche Rudimente der beiden Nebenleisten 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 7l 


der jüngsten Stadien, in Form zweier ganz feiner Leisten, 
welche eine Strecke weit nebeneinander herlaufen. 

Zwischen M, und M, (Tafel 5, Fig. 25) finden wir hier 
eine kräftige hintere Nebenleiste, welche überdies an ihrem 
Rande durch eine Längsfurche zweigeteilt ist. 

Serienbeschreibung: Das Schmelzorgan des ersten 
oberen Milchschneidezahnes zeigt an seiner Spitze bereits deut- 
lich eine Dentinkappe, während Id, und Id, noch keine An- 
deutung einer Verkalkung erkennen lassen. Der Milchcaninus 
hat dagegen auch bereits mit der Zahnbeinbildung begonnen. 
Hier ist deutlich die Rückbildung der Zahnleiste zu beobachten. 
Der Zusammenhang des Milchzahnes mit der Leiste ist nur 
durch eine Reihe von unregelmässigen Epithelsträngen ver- 
mittelt. Die Zahnleiste selbst steht an dieser Stelle mit dem 
Mundhöhlenepithel nicht mehr in Zusammenhang. 

Die Leiste, welche wir am Modell längs der oberen Pd,, 
Pd, und Pd, verfolgen konnten, zeigt im histologischen Bild 
deutlich ihren Zusammenhang mit dem Mundhöhlenepithel. 
Nicht nur der Umstand, dass sie neben der Zahnleiste vom 
Epithel des Munddaches entspringt, sondern vor allem die Tat- 
sache, dass sie in ihrer Struktur so ganz von der der Zahn- 
leiste abweicht und ganz dem Mundhöhlenepithel - gleicht, 
spricht dafür, dass wir es hier nicht mit dem Rudiment der 
früher beschriebenen Nebenleisten zu tun haben. Bei der zu- 
sammenfassenden Beschreibung der Entwickelung des Vesti- 
bulum oris werden wir auf diesen Punkt noch zurückkommen. 

Im Unterkiefer finden wir noch an keinem der Zähne 
Spuren von Verkalkung. Im übrigen zeigt die histologische 
Untersuchung der Schmelzorgane in diesem Stadium durchwegs 
nur typische Verhältnisse: 

Was die Entwickelung des Vestibulum oris anlangt, so 
hat uns schon die Betrachtung des Modells gelehrt, dass die 
primäre Vestibularleiste in der Schneidezahngegend im Schwin- 


72 HARRY SICHER, 


den ist. Die offene Vestibularfurche im hinteren Mundhöhlen- 
abschnitt ist, nach distal allmählich verflachend, bis in die 
Gegend von M, zu verfolgen. Nach vorne reicht sie bis zwischen 
Cd und Pd;, durchzieht also bereits den grössten Anteil der 
Mundhöhle. 


Weiter vorne finden wir neben Cd und Id, lateral von 
der schwindenden primären Vestibularleiste eine seichte 
Furche, welche aber nicht in die früher beschriebene über- 
geht, sondern medial von ihrem vorderen Ende ausläuft. Noch 
weiter peripher als diese vordere Furche finden wir die schon 
früher erwähnte Epithelleiste, die, die Schneidezähne im Bogen 
umfassend, distal in das Gesicht ausläuft. 


Der Alveolarwall ist wie früher in der Prämolarengegend 
rein lateral von der Zahnleiste, zwischen ihr und der Vesti- 
bularfurche, gelegen, während sich distal die Zahnleiste der 
Furche immer mehr nähert und zunächst auf der Kuppe, noch 
weiter distal lateral vom ‚„Alveolarwall‘ inseriert. Dass wir 
in dieser Gegend den Wulst nicht mehr als Alveolarwall be- 
zeichnen dürfen, sondern dass der Alveolarwall aus dem Meso- 
derm zwischen Zahnleiste und Vestibularfurche entsteht, hat 
schon Bolk gezeigt. Wie bereits erwähnt, müssen wir den 
medial von der Zahnleiste gelegenen Anteil des Wulstes als 
Pseudoalveolarwall (Bolk) bezeichnen. 


Auch im Unterkiefer hat sich neben den beiden Molaren 
lateral von der Zahnleiste eine Vestibularfurche etabliert, die 
nach vorne bis neben Pd, zu verfolgen ist. Die Vestibularleiste 
in der Frontzahngegend ist wie im Oberkiefer reduziert. Neben 
Id, und Id, finden wir lateral ohne Zusammenhang mit der 
Zahnleiste ebenfalls eine seichte Vestibularfurche vor. 


Die Ductus incisivi sind kürzer geworden. Sie messen 
noch ungefähr 100 u. 


Anatom, Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 6. 


Fig. 36. 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa veuropaea. 73 


IX. Stadium. 


Die Durchsicht der Serie des Embryo h — grösste Länge 
28 mm, Kopflänge 14 mm — zeigt uns das Zahnsystem vor 
allem in der inneren Differenzierung fortgeschritten. 

Im Oberkiefer kann man nun ausser an dem ersten 
Schneidezahn auch an den beiden anderen die Anfänge der 
Verkalkung konstatieren. Dieser Prozess ist am Milcheckzahn 
schon ziemlich weit fortgeschritten. Während die Ersatzzähne 
der Incisivi nur als Verdickungen der FErsatzleiste erkennbar 


IS 
=as7 


Fig. 13. 


Sechs aufeinanderfolgende Schnitte durch den Milcheckzahn und bleibenden 
Eckzahn des Embryo h. Vergrösserung 50fach. 


& 


x 


sind, ist die Ersatzzahnanlage des Caninus mächtig entwickelt; 
sie repräsentiert den Übergang aus dem ‚kappenförmigen“ 
Stadium in das „glockenförmige‘. Die Leiste, welche sich schor 
bei dem jüngeren Embryo an der labialen Fläche dieses Schmelz- 
organes fand, hat sich jetzt deutlicher abgegrenzt (Textfig. 13), 
so dass sich die Grube zwischen Leiste und Schmelzorgan 
zu einer Schmelznische vertieft hat. 

Die ersten drei Prämolaren weichen kaum von den bei 
dem jüngeren Embryo beschriebenen Verhältnissen ab. Der 
vierte trägt bereits eine deutliche Dentinkappe. Dem ersten 
Milchprämolaren fehlt jede Andeutung einer FErsatzleiste, die 


74 HARRY SICHER, 
an Pd, und Pd, deutlich vorragt, bei Pd, sogar eine starke 
Anschwellung als Anlage des bleibenden Zahnes trägt. 

Auch lingual von M, finden wir eine typische Ersatzleiste 
vor. Der zweite Molar besitzt bereits eine tiefe Aushöhlung 
an seiner mesodermalen Fläche. Die accessorische Leiste, die 
wir am hinteren Ende der Zahnleiste gefunden haben, ist deut- 
lich entwickelt. Sie wird lateral begleitet von der Vestibular- 
{urche und -leiste, mit der sie jedoch an einer Stelle zu ver- 
schmelzen scheint. Ihr Ende löst sich wieder im Zusammen- 
hang mit dem Zahnleistenende vom Mundhöhlenepithel ab 


(Textfig. 14). 
Den: 
a3 2 a 
era 
— = zz 


Fig. 14. 
Sehnitte durch das hintere Ende der oberen Zahnleiste des Embryo h mit 
der accessorischen Leiste. Vergrösserung 50fach. a — accessorische Leiste. 


Z = Zahnleiste. 


Auch an den Milchzähnen des Unterkiefers hat in diesem 
Stadium der Verkalkungsprozess bereits begonnen, und zwar 
betrifft er dieselben Zähne wie im Oberkiefer: Id,, Id,, Id,, 
Ca und Pd;- 

Ersatzzähne sind an allen Milchzähnen angelegt mit Aus- 
nahme von Pd,. 

Auch lingual des ersten Molaren hat die Abschnürung der 
Ersatzleiste Fortschritte gemacht, doch ist sie noch nicht in 
der ganzen Länge des Zahnes vorhanden. Hinter M, zeigt die 
Zahnleiste ein Verhalten, das dem im Oberkiefer beschriebenen 
ähnelt. Die Beschreibung des nächsten Stadiums soll diesen 


Befund veranschaulichen. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 


3 


ı Qu 


Auch die Verhältnisse der Anlagen des Vestibulum oris 
haben sich wenig geändert. Die primäre Vestibularleiste des 
Oberkiefers ist noch weiter in ihrer Reduktion vorgeschritten, 
peripher von ihr hat sich in der Gegend von Id, und Id, 
eine Furche als Vestibularfurche gebildet (Textfig. 15), die 
von der Zahnleiste durch einen leichten Wulst, den Alveolar- 
wulst, getrennt ist. Während in der Gegend des Eckzahnes 
eine Anlage des Vestibulum oris fehlt, treffen wir vom Pd, 
distalwärts auf die schon früher beschriebene offene Vestibular- 
furche; ihr Verhalten zu dem Alveolarwall, sowie die Be- 
ziehungen des letzteren zur Zahnleiste haben sich nicht wesent- 
lich verändert. 


hs 


Fig. 15. 


Embryo h. Frontalschnitt durch Id,. Vergrösserung 50fach. E = Eiısatz- 
leiste. V-F — sekundäre Vestibularfurche. V-L — primäre Vestibularleiste. 


Im vorderen Mundhöhlenabschnitt tritt auch an diesem 
Embryo jene bogenförmige Epithelleiste hervor, die mit ihrem 
hinteren Ende in das Gesicht ausläuft. Hinter ihr ist das Meso- 
derm zu einer Falte vorgewölbt (Plica vestibularis). 


Im Unterkiefer zeigt die Anlage des Vestibulum neben und 
vor Id, noch die Form einer Epithelleiste, die ihre engen Be- 
ziehungen zu dem Schmelzorgan dieses Zahnes bewahrt hat. 
Weiter distal geht sie in eine Furche über, die von der Zahn- 
leiste durch einen sich distalwärts verbreiternden Alveolarwall 
geschieden ist. Diese Furche verliert sich allmählich in der 
Gegend des Eckzahnes. Noch weiter distal finden wir erst in 
der Molarengegend wieder die Anlage einer Vestibularfurche. 


76 HARRY SICHER, 


X. Stadium. 

Der älteste Embryo, der mir zur Verfügung stand, misst 
30 mm grösste Länge und 15 mm Kopflänge. Sein Zahnsystem 
wurde bei 100 facher Vergrösserung rekonstruiert. 

Der erste Milchschneidezahn des Oberkiefers ist in seiner 
vorderen Partie kolbig aufgetrieben (Tafel 5, Fig. 26). Der 
freie Rand des Schmelzorganes, besser der Epithelscheide, ist 
auch an diesem Embryo kein gleichmässiger. Er ist vielmehr 
an der medialen Seite geschlitzt. Der zweite Milchschneide- 
zahn stellt ein mehr ovales, der dritte ein kugelähnliches Ge- 
bilde vor. Die Ersatzzähne sind als kräftige Verdickungen der 
Ersatzleiste angelegt. Die primäre Vestibularleiste ist nur mehr 
angedeutet und erhebt sich nur an den Stellen zu einiger Höhe, 
an welchen sich die oft besprochenen Zusammenhänge zwischen 
ihr und den Schmelzorganen finden. Der Milcheckzahn sieht mit 
seiner Spitze nach vorne und abwärts. Er hängt nur durch 
einen dünnen Epithelfaden mit der Zahnleiste zusammen. Das 
Schmelzorgan seines Ersatzzahnes ist stark konkav gehöhlt. 
Interessant ist die Betrachtung seiner lateralen Wand, an 
welcher wir in den früheren Stadien eine Leiste vorgefunden 
haben (Tafel 6, Fig. 27). Durch einen Aushöhlungsprozess 
ist diese Leiste immer deutlicher vom Schmelzorgan und der 
Zahnleiste abgehoben worden. Jetzt finden wir eine nach vorne 
offene ziemlich tiefe Bucht, die mehr als ein Drittel der Längen- 
ausdehnung des Eckzahnes einnimmt. Diese Bucht — die 
Schmelznische Bolks — ist medial von der Zahnleiste, lateral 
von der „lateralen Schmelzleiste‘, dem Dierivat der früher 
beschriebenen Leiste, und oben von dem Schmelzorgan des 
bleibenden Eckzahnes begrenzt. 

Der erste Milchprämolar ist stark gewachsen. Wenn er 
auch formal noch nicht so weit differenziert ist als Pd, und 
Pd,, so übertrifft er nun doch beide an Grösse. Eine Ersatz- 
leiste fehlt ihm. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 77 


Der zweite und dritte Prämolar sind die kleinsten Zähne 
des Oberkiefers. Sie sind zwei fast gleich grosse und gleich- 
gestaltete kugelförmige Gebilde. An ihrer lingualen Seite ist 
die Ersatzleiste voll entwickelt. 

Pd, hat seine Form und Grösse nicht wesentlich gegenüber 
dem jüngeren Stadium geändert. Die Annäherung der lingualen 
und labialen Zacke seines Schmelzorganes ist weiter fortge- 
schritten, so dass wohl bald ihre Vereinigung und damit die 
Teilung des Schmelzorganes in die beiden Wurzelscheiden zu 
erwarten ist. Seine Ersatzleiste trägt am Rand eine längs- 
gestellte wulstförmige Verdickung, die Anlage des bleibenden 
vierten Prämolaren. 

Der erste Molar, der lingual eine typische Ersatzleiste 
trägt, ist in seiner formalen Ausgestaltung weiter vorgeschritten. 
Die Ansicht der Zahnanlage von oben zeigt (Tafel 6, Fig. 28), 
dass die Umrandung nunmehr distal eine scharfe ist. Nur in 
der vorderen Hälfte des lingualen Randes finden wir einen 
Defekt, der dadurch zustande kommt, dass hier der Rand nach 
lingual ausgebogen ist. Dieses Verhalten ist wohl der Beweis 
dafür, dass der linguale Kronenabschnitt noch nicht voll aus- 
gebildet ist. Labial, linguo-mesial und linguo-distal springt der 
Rand des Schmelzorganes in drei Zacken vor, die, mit ihrem 
Ende horizontal umgelegt, einander entgegenwachsen. Ihre Ver- 
einigung, die nicht mehr ferne ist, wird die Dreiteilung der 
Wurzel besorgen. Die Ebene der Zackenenden ist die Grenze 
der Krone. Das Schmelzorgan des zweiten Molaren ist schüssel- 
förmig und rekapituliert sozusagen die Anfangsstadien der Ent- 
wickelung des ersten Molaren, insofern, als wir auch hier, 
wie früher bei M,, ein Fehlen der distalen Begrenzung der 
Konkavität finden. Hinter M, endet die Zahnleiste bald. Hier 
vereinigt sie sich mit dem Ende der von früher bekannten 
Nebenleiste. Diese selbst beginnt, ungefähr entsprechend der 
Mitte von M,, medial von der Vestibularleiste, verschmilzt 


78 HARRY SICHER, 


später mit dieser, respektive findet später ihren Ansatz an 
dieser, um sich noch weiter distal im Zusammenhang mit der 
Zahnleiste von ihr wieder loszusagen. Die Nebenleiste ist in 
zwei Zacken erhoben und an ihrem Rande im Bereiche dieser 
Zacken etwas verdickt. 

Das Modell des Unterkiefers (Tafel 6, Fig. 29) zeigt uns 
an den Schneidezähnen im allgemeinen ähnliche Grössen- und 
Formverhältnisse wie der Oberkiefer. Nur tritt hier der dritte 
Ineisivus noch mehr hinter den anderen zurück und erscheint, 
so wie vom Anfang an, etwas nach lateral verschoben. Die 
Anlagen der Ersatzzähne sind auch hier als plattenförmige 
Verdickungen der Ersatzleiste vorhanden. 

Ganz im Gegensatz zu den Verhältnissen im Oberkiefer 
hat hier der Eckzahn, der kleiner ist als Id,, in seiner Ent- 
wickelung mit den Schneidezähnen Schritt gehalten. Auch die 
Anlage seines Ersatzzahnes ist lediglich als eine Epithel- 
verdickung der Zahnleiste ausgebildet. 

Pd,, der schon früher sein anfänglich stark verzögertes 
Wachstumstempo beschleunigt hat, steht nun in seiner Grösse 
dem vierten Prämolaren kaum nach. In seiner Differenzierung 
ist er fast genau so weit fortgeschritten als der bleibende 
Eckzahn des Oberkiefers. Eine Ersatzleiste fehlt ihm. 

Von den drei übrigen Milchprämolaren ist nichts Be- 
sonderes zu erwähnen. 

Der erste Molar (Tafel 6, Fig. 30), an dessen lingualer 
Seite eine Ersatzleiste fast vollkommen abgetrennt ist, hat die 
distale Kronenhälfte noch nicht vollständig ausgebildet. Hier 
fehlt noch immer die distale Begrenzung. Die labiale und. 
linguale Zacke seines Randes bereiten die Teilung der Wurzel 
vor. Von dem distalen Ende des M, zieht eine niedrige Leiste 
gegen M,, der Rest der bei Embryo g so gut ausgeprägten 
hinteren Nebenleiste. Wie im Oberkiefer, so gleicht auch hier 


der zweite Molar den früheren Entwickelungsstadien des ersten. 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 79 


Es ist nur die mesiale Kronenhälfte angelegt, die Bildung 
der distalen hat erst durch die Verlängerung des lingualen 
Schmelzrandes begonnen. 

Hinter M, steht die Zahnleiste mit einer Epithelleiste in 
Verbindung, die ganz an die Verhältnisse im Oberkiefer jüngerer 
Embryonen erinnert. Sie entspringt hier an der lateralen 
Fläche der Zahnleiste knapp nach deren Ursprung aus dem 
Mundhöhlenepithel und geht distal in das Zahnleistenende, um- 
biegend, über. 

Im allgemeinen muss bei diesem Stadium bemerkt werden, 
dass die Ablösung der Zahnleiste vom Mundhöhlenepithel 
weitere Fortschritte gemacht hat. An einer ganzen Reihe von 
Stellen sieht man an der Ansatzstelle der Zahnleiste am Mund- 
»„öhlenepithel mehr minder lange Dehiszenzen. 

Die histologische Untersuchung der Zähne des Oberkiefers 
ergibt, dass hier alle Milchzähne mit alleiniger Ausnahme von 
Pd, bereits Dentin gebildet haben. An Id,, Cd und Pd, hat 
auch die Schmelzbildung Fortschritte gemacht. Der Beginn 
der Verkalkung findet sich endlich auch noch am ersten Mo- 
laren. Was speziell das Aussehen von Pd, betrifft, so fällt 
hier auch das Fehlen einer Ersatzleiste auf. Doch kann man 
an den Querschnitten längs der lingualen Fläche des Schmelz- 
organes eine Verdickung und Zellverdichtung verfolgen, die 
wohl dem Beginn der Ersatzleistenbildung entspricht (Tafel 6, 
19.31). 

Eigentümlich ist an diesem Embryo die Struktur der 
distalen accessorischen Leiste. Sie entspringt neben der Zahn- 
leiste aus dem Mundhöhlenepithel und sieht im Querschnitt 
wegen ihrer randständigen Verdickung wie langgestielt aus 
(Textfig. 16). Weiter distal entspringt sie von der Vestibular- 
leiste, um sich dann mit der Zahnleiste von dem Mundhöhlen- 
epithel abzulösen, während die Vestibularleiste distal weiter 
zieht. 


80 | HARRY SICHER, 


Im Unterkiefer finden wir Dentinbildung an denselben 
Zähnen wie im Oberkiefer, nämlich an allen Milchzähnen mit 
Ausnahme von Pd, und an M,, an letzterem eben erst be- 
sinnend. Dagegen ist Schmelzbildung nur am ersten Milch- 
schneidezahn, und hier nur in ihren ersten Anfängen zu kon- 
statieren. 

An Pd, ist die Anlage der Ersatzleiste nur als eine mini- 
male Verdickung der lingualen Wand angedeutet, die durch 
hohe Zellen ausgezeichnet ist (Tafel 6, Fig. 32). 


I z 
BE 
A Tale. 

En a. 

1 An N‘ 
k6> 

>> 

Fig. 16. 


Vier nicht aufeinanderfolgende Schnitte durch das hintere Ende des Ober- 
kiefers des Embryo i. Vergrösserung 50fach. a — accessorische Leiste. V — 
Vestibularleistee Z = Zahnleiste. 


Die accessorische Leiste am distalen Ende der Zahnleiste 
unterscheidet sich hauptsächlich von der oberen durch ihre 
von Anfang an deutlichere Zugehörigkeit zur Zahnleiste und 
durch die grössere Entfernung von der Vestibularfurche (Text- 
figur 17). 

Die Bildung des Vestibulum oris erscheint auch bei diesem 
Embryo noch nicht vollständig abgeschlossen, doch lassen 
sich die verschiedenen zu seiner Entstehung beitragenden Kom- 
ponenten gut erkennen. In der Höhe des hinteren Endes von 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 8 


ld, beginnt im Oberkiefer unabhängig von der Zahnleiste und 
der nur mehr in Resten vorhandenen primären Vestibularleiste 
eine Epithelleiste, die von einer Furche begleitet bis zum 
distalen Ende des Eckzahnes zu verfolgen ist (Textfig. 18). 
Zwischen ihr und der Zahnleiste wölbt sich das Mundhöhlen- 


INN 
a8 A 


Bioal7: 
Vier Schnitte durch das distale Ende der unteren Zahnleiste des Embryo i. 
Vergrösserung 50fach. a — accessorische Leiste. V — Vestibularleiste. Z = 
Zahnleiste. 


Fig. 18. 


Embryo i. Frontalschnitt durch I,. Vergrösserung 50fach. V, = sekundäre 
Vestibularleiste. 


dach als Alveolarwall vor. Peripher wird sie durch die schon 
öfters beschriebene in das Gesicht auslaufende Leiste begleitet, 
wodurch im vorderen Schnauzenabschnitt jene Falte abgegrenzt 
wird, die wir am erwachsenen Tier als Plica vestibularis be- 
schrieben haben. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). 6 


82 HARRY SICHER, 


Ohne direkten Zusammenhang mit der sekundären Vesti- 
bularleiste des vorderen Mundabschnittes beginnt in der Höhe 
von Pd, eine zweite Leiste, die medial flankiert vom Alveolar- 
wall bis an das distale Mundende reicht. In der Molaren- 
oegend finden wir auch hier die Ansatzlinie der Zahnleiste nicht 
medial vom Alveolarwall, sondern zuerst an einer seichten 
Furche längs seiner Kuppe, später — in engem Zusammenhang 
mit der Vestibularleiste — sogar lateral von ihm. Der so ent- 
stehende nach vorne sich verjüngende, medial von der Zahn- 
leiste gelegene Wulst ist der Pseudoalveolarwall. Wir haben 


Fig. 19. 


& Embryo g. b Embryo i. Vergrösserung 50 fach. A — Alveolarwall. E = 
Ersatzleiste. Ps-A — Pseudoalveolarwall. V = Vestibularleiste. 


schon früher gezeigt, dass die von mesial nach distal vor sich 
gehende Verschiebung des Zahnleistenansatzes von lateral nach 
medial und damit das allmähliche Überwiegen des Alveolar- 
walles über den Pseudoalveolarwall dadurch bedingt ist, dass 
sich das Mesoderm zwischen Zahnleiste und Vestibularleiste 
immer mehr vorwölbt, während der Pseudoalveolarwall ver- 
streicht. Die Fig. 19, welche einen Querschnitt durch M, bei 
den Embryonen g und i zeigt, macht dieses Verhalten klar. 


Im Unterkiefer reicht die vordere Vestibularfurche bis 
hinter den Eckzahn. Mit Id, ist sie noch in Zusammenhang, 
weiter distal entfernt sie sich immer weiter von der Zahn- 
seiste. Die hintere Vestibularfurche beginnt erst hinter Pd, 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 83 


und verläuft von hier, durch den Alveolarwall von der Zahn- 
leiste getrennt, bis neben das Zahnleistenende distalwärts. 
Die Ductus ineisivi inferiores dieses Embryo bilden ca. 
120—130 u lange solide Epithelstränge. 
Eine Reihe von wichtigen Fragen seien im folgenden ım 


Zusammenhange besprochen. 


Die Entwickelung der ersten Prämolaren. 


Leche sagt über die ersten Prämolaren von Talpa, dass 
die Frage, ob diese Zähne einen Zahnweechsel zeigen, noch 
nicht geklärt erscheint. Tatsächlich finden sich in der Lite- 
ratur, wie Leche angibt, widersprechende Ansichten. Aller- 
dings ist dies zum Teil auf die‘ verschiedene Gebissformel 
zurückzuführen, die die Autoren für Talpa akzeptieren. Wir 
halten uns natürlich, wie schon einleitend gesagt, an die Formel 

Il; CP,M, 
I, CP,M; 


Bate, der 1862 das Milchgebiss von Talpa zuerst unter- 
suchte, bildet den ersten Milch-Prämolaren als stiftförmiges (e- 
bilde sowohl im Ober- als im Unterkiefer ab. Er zählt dabeı die 
Zähne nach der Owenschen Formel, die auch die unsere ist. 

Anders Kober, 1882. Er stellt als Formel für das Milch- 
gebiss auf: 

3 „04 


EN IR. 
für das bleibende Gebiss 
3.1.4-6-3 
Bauer 


Für ihn ist also unser oberer erster Prämolar auch P.: 
Im Unterkiefer jedoch zählt er P, als Caninus, so dass sein 


6* 


54 HARRY SICHER, 


erster Prämolar unserem zweiten entspricht. Nun spricht er 
zwar nirgends von dem Fehlen eines Milch- oder Ersatzzahnes, 
ist also wahrscheinlich der Ansicht, dass der erste Prämolar 
oben, der Caninus unten gewechselt werden. Eine Abbildung 
des unteren ersten Prämolaren bringt er nicht. Und das, was 
in seiner Figurenerklärung als Schnitt durch den Oberkiefer mit 
der Anlage des Milch- und bleibenden ersten Prämolaren be- 
zeichnet wird — eine Figur, auf die sich Leche beruft —, 
ist nach seiner Texterklärung ein Schnitt durch den Unter- 
kiefer (Figg. 7 und 8 Kobers), bezieht sich also nach der 
von ihm akzeptierten Formel auf den zweiten Prämolaren. 
So sind wohl die Angaben dieses Autors, die ja überall nur 
die groben Verhältnisse berücksichtigen, für uns wertlos. 

Eingehend beschäftigt sich mit dieser Frage Woodward, 
1896, dem allerdings nur ganz alte Stadien, zum grössten 
Teil geworfene Junge zur Verfügung standen. Er akzeptiert 
ebenfalls die richtige Owensche Formel. Er findet P, nur 
in einer Generation und kommt zu dem Schlusse, dass P, 
des funktionierenden Gebisses der Milchzahn ist. 

Nach meinen Befunden muss ich mich ganz seiner An- 
sicht anschliessen. Verfolgen wir zunächst die Bildung des 
ersten Prämolaren im ÖOberkiefer, so sehen wir, dass er der 
letzte Zahn der Reihe ist, der als Verdickung der Zahnleiste 
erscheint, also der ontogenetisch jüngste Milchzahn. Lange 
Zeit bleibt er im Wachstum zurück, bis er endlich im letzten 
Stadium das Wachstumstempo beschleunigt und jetzt schon 
an Grösse Pd, und Pd, übertrifft, obwohl er in seiner Differen- 
zierung noch nicht so weit fortgeschritten ist als diese. 

Während Pd, und Pd, vor allem schon die typische wohl 
entwickelte Ersatzleiste tragen, ist sie bei Pd, nur in Form 
einer leichten Verdiekung der lingualen Wand angedeutet. 
Wenn wir aber bedenken, dass der P, des funktionierenden 


Gebisses an Grösse P, und P, bei weitem übertrifft, wenn 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 85 


wir ferner bedenken, dass überall die grösseren Zähne früher 
angelegt werden, wenn nicht ihr Erscheinen durch irgend- 
welche Umstände, wie z. B. bei M,, hinausgeschoben ist, so 
ist es klar, dass Pd, die Rolle des ersten funktionierenden 
Prämolaren übernehmen wird. Denn seine Ersatzzahnanlage 
ist nur angedeutet, die von Pd, und Pd, bereits zu einer deut- 
lichen Leiste gebildet. 


Noch krasser sind diese Unterschiede im Unterkiefer. 
Hier ıst ja der P, des funktionierenden Gebisses caniniform 
und entspricht eigentlich in Form und Grösse dem oberen 
Eckzahn. Wir müssen also a priori erwarten, dass Cp des 
Oberkiefers und P, des Unterkiefers in ihrer Entwickelung 
Schritt halten. Wie verhalten sich diese Zähne nun in der 
Tat? 


Pd, erscheint im Unterkiefer ebenfalls verspätet, bleibt 
wie im Oberkiefer längere Zeit der kleinste Zahn des Ge- 
bisses, bis er plötzlich rasch zu wachsen beginnt. Im letzten 
Stadium ist er reichlich doppelt so gross als Pd, und Pd,, 
zeigt aber im Gegensatz zu diesen noch keine Ersatzleiste. 
Dagegen stimmt er in Grösse und Differenzierungshöhe ganz 
mit dem bleibenden oberen Eckzahn überein. Der erste 
Milchprämolar als caniniformer Zahn erfüllt also unsere früher 
erwähnte Forderung. Ihn haben wir also als die Anlage von 
P, des funktionierenden Gebisses anzusehen. 


Wir müssen also sagen, dass im funktionierenden Gebiss 
die ersten Prämolaren persistente Milchzähne sind, wieder ein 
Beweis dafür, wie schwer die Grenzen zwischen Milch- und 
Ersatzdentition zu ziehen sind. 


Überdies ist dieser Entwickelungsgang auch als Beweis 
für die Richtigkeit der Homologie der beiden ersten Prämolaren 
im Ober- und Unterkiefer und damit für die Richtigkeit der 
Owenschen Formel anzusehen. 


s6 | HARRY SICHER, 


Die Entwickelung der Molaren. 


Gerade die Vorgänge bei der Entwickelung der Maulwurf- 
molaren beweisen uns, wie wichtig für die Erforschung der 
Gebissentwickelung die plastische Rekonstruktion einer ge- 
schlossenen Entwickelungsreihe ist. 

Mir ist nicht bekannt, dass die Formentwickelung des 
Schmelzorganes eines Molaren noch in exakter Weise dargestellt 
worden wäre, und doch finden sich gerade hier gewiss sehr 
beachtenswerte Vorgänge. Dass meine Angaben natürlich nur 
für Talpa gelten und zu ihrer Verallgemeinerung erst weitere 
Studien erfordern, ist wohl klar. 

Betrachten wir die Entwickelung des oberen ersten Mo- 
laren. Das Auffallendste in jüngeren Stadien ist, dass der 
Keim auf dem sogenannten kappenförmigen Stadium nicht rings- 
um von einem gleichmässigen Epithelwall abgegrenzt ist, 
sondern dass distal eine Begrenzung fehlt. Der Grube, die 
für die Aufnahme der Papille bestimmt ist, fehlt daher die 
hintere Wand. Erst allmählich wächst das epitheliale. Organ 
distalwärts aus. Die innere Oberfläche des Schmelzepithels 
zeigt zuerst eine mesiale Vertiefung — die Anlage des mesio- 
buccalen Haupthöckers —, und erst durch das Auswachsen des 
Schmelzorganes nach distal wird eine zweite distale Grube 
geschaffen und distal allmählich scharf abgeschlossen — die 
Anlage des distobuccalen Haupthöckers. Aber auch in bucco- 
lingualer Richtung repräsentiert der Zahnkeim jüngerer Stadien 
nicht die ganze Krone der Molaren. Besonders schön am ältesten 
Stadium zeigt die linguale Wand des Organs die Tendenz, noch 
weiter lingual auszuwachsen, um erst den lingualen Kronen- 
anteil zu formieren. 

Ähnliches finden wir im Unterkiefer. Auch hier ist von 
dem Zahn bei seiner ersten Anlage nur der mesiale Anteil 
gebildet, während die distale Hälfte erst durch allmähliches 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 87 


Distalwachsen des Schmelzorgans geschaffen wird. Hier ist 
dieser Prozess bei dem ältesten Embryo noch nicht einmal 
abgeschlossen, sieht aber gewiss seiner Vollendung entgegen. 

Die zweiten Molaren verhalten sich in beiden Kiefern ganz 
analog den ersten. 

Wir können somit sagen, dass im Oberkiefer die erste 
Anlage der Molaren nur das Gebiet des mesiobuccalen Höckers 
umfasst, während die distobuccale und die linguale Partie der 
Krone erst durch allmähliches Auswachsen des Schmelzorganes 
sich bilden. Im Unterkiefer ist in der ersten Anlage der Mo- 
laren nur die mesiale Zahnhälfte enthalten, während die Bildung 
der distalen in derselben Weise erfolgt wie im Oberkiefer. 

Wir können also sagen, dass das, was wir als Zahnanlage 
schlechtweg bezeichnen, bei Talpa nicht für alle Zähne das- 
selbe bedeutet. Während die Anlage für die Antemolaren tat- 
sächlich von Anfang an den gesamten Zahn umfasst, ist die 
„Anlage‘‘ der Molaren nur die Anlage eines bestimmten An- 
teiles des Zahnes. 

Ob diese Art der Bildung auch für die Polygenese eine 
Bedeutung hat, will ich nicht behaupten, bevor die allgemeine 
Gültigkeit dieser Beobachtung erwiesen ist. Dieses Verhalten 
stellt überdies einen neuen Beweis für die Aktivität des Epithels 
bei der Bildung der Anlage dar. 

Dass an den Molaren die Bildung einer typischen Ersatz- 
leiste erfolgt, wurde schon in der Beschreibung der Stadien 
des öfteren erwähnt. 


Die Anhangsgebilde der Zahnleiste. 


Im Jahre 1892 beschrieb Leche bei Erinaceus im Ober- 
kiefer labial von Id, eine Leiste, in der sich beim neugeborenen 
Tier ein gut ausgebildeter knospenförmiger Schmelzkeim findet. 
Bei einem 83 mm langen Jungen ist dieser Keim zu einem 


88 HARRY SICHER, 


Epithelnest degeneriert. „Nach diesen Befunden ist somit nicht 
daran zu zweifeln, dass neben einem Milchzahn (Id,) die An- 
lage eines dem Milchgebiss vorhergehenden Zahnes vor- 
handen ist.“ 

Damit war die sogenannte prälakteale Dentition entdeckt, 
obwohl bereits früher solche labiale Fortsätze der Zahnleiste 
gesehen und beschrieben waren. Doch waren sie entweder 
falsch gedeutet worden oder man sah sie als unwesentlich an. 
So hielt sie Hertz für die Anlage der bleibenden Zähne, 
ebenso Waldeyer, ein Irrtum, der zuerst von Kollmann 
widerlegt wurde. Er glaubte, dass solche labiale Fortsätze 
zur Bildung überzähliger Zähne Anlass geben könnten. Röse 
bezeichnet die lateralen Ausstülpungen, wie sie Hertz ge- 
zeichnet hatte, als unwesentliche Fortsätze, wie sie in späteren 
Stadien öfters vorkämen. 

Seil der ersten Deutung durch Leche, als Reste einer 
prälaktealen Dentition, sind ähnliche Befunde an einer ganzen 
Reihe von Säugern gemacht worden. Vor allem durch Küken- 
thal und seinen Schüler Adloff hat diese Frage auch enge 
Beziehungen zu der Konkreszenztheorie erhalten. Beide 
glaubten zeigen zu können, dass es zu Verwachsungen dieser 
prälaktealen Anlagen mit den Milchzahnanlagen käme, wobei 
erstere einen Anteil an dem Aufbau des definitiven Milch- 
zahnes nähmen. 

Gerade die Bedeutung, welche diesen prälaktealen Resten 
für die Lösung phylogenetischer Probleme zugesprochen wird, 
macht es begreiflich, wenn ich im folgenden auf diese Frage 
näher eingehe. 

Nochmals möchte ich aber betonen, wie schon in der 
Einleitung hervorgehoben, dass ich keineswegs der Überzeugung 
bin, durch das Studium einer Species, und sei dieses Studium 
noch so genau, diese Frage lösen zu können. Aber wir sind 
verpflichtet zu prüfen, ob die tatsächlichen Befunde bei Talpa 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 89 


sich mit den ausgesprochenen Hypothesen in Einklang bringen 
lassen oder in Widerspruch befinden, schon deshalb, weil wir 
so gewisse Richtlinien für spätere Untersuchungen gewinnen 
können. Bevor ich an die zusammenfassende Darstellung der 
hierher gehörenden Befunde an Talpa gehe, muss ich die An- 
gaben der Literatur rekapitulieren, wobei ich natürlich nur 
jene Arbeiten berücksichtige, die tatsächliche Beobachtungen 
bringen. 

Nachdem Leche kurz nach seinen ersten diesbezüglichen 
Publikationen labial von der Zahnleiste von Myrmecobıus 
fasciatus vorhandene Dentinscherbchen als Reste einer prä- 
laktealen Dentition beschrieb, änderte Röse seine Deutung 
ähnlicher Gebilde, die er bei Phascolomys Wombat gefunden 
hatte. Er lässt sie nicht mehr als Reste der ersten Dentition, 
sondern als prälakteale Reste gelten. Die Befunde an Marsu- 
pialiern, die gerade anfänglich eine Rolle spielten, wollen wir 
im folgenden aber nicht näher berücksichtigen, da nach den 
übereinstimmenden Angaben von Bolk, Ahrens, Adloff 
u. a. die Frage noch immer nicht definitiv entschieden ist, 
ob das funktionierende Gebiss der Beutler der ersten oder 
der zweiten Dentition angehört. 

Röse bildete 1895 einen Schnitt durch den Unterkiefer 
eines menschlichen Fetus von 11!/,; em Länge ab, an welchem 
die Zahnleiste labial von Id, an ihrer Abgangsstelle vom Mund- 
höhlenepithel zwei dicht nebeneinander stehende Sprossen 
trägt, welche zwei prälakteale Anlagen vorstellen sollen. „Die 
betreffenden Epithelwucherungen sind immer nur auf wenigen 
hintereinander folgenden Schnitten vorhanden und stellen, 
körperlich gedacht, rundliche oder etwas verbreiterte Epithel- 
zapfen dar.“ 

Kükenthal fand zuerst 1895 an Balaenoptera rostrata 
prälakteale Anlagen in Form von Anschwellungen der Zahn- 
leiste, die in einem Falle zur Ausbildung eines kappenförmigen 


90 HARRY SICHER, 


Schmelzorganes geführt haben. Später (1894) deutete er eben- 
solche Fortsätze an der unteren Zahnleiste von Trichechus und 
bei Phoca groenlandica als Reste der prälaktealen Dentition. 

Eine neue Wendung erhielt die ganze Frage durch die 
Befunde Kükenthals an einem Embryo von Manatus 
latirostris. Am zweiten Molaren fand er einen Epithelstrang, 
der sich der labialen Fläche des Schmelzorgans anlegt, um 
mit ihm zu verschmelzen. „Wir können ihn nur als die An- 
lage einer prälaktealen Dentition ansehen, die aber mit der 
zur ersten Dientition gehörigen Zahnanlage zu verschmelzen im 
Begriffe steht. Am dritten Molaren findet sich labial von der 
Zahnanlage eine kolbenförmige Epithelmasse, zwischen ıhr und 
dem Schmelzorgan der ersten Dentition eine Spalte, in welche 
eine Papille einpasst, während das Schmelzepithel unverändert 
darüber wegzieht.“ | 

Dadurch glaubte Kükenthal eine ontogenetische Re- 
kapitulation der phylogenetisch eingetretenen Verschmelzung 
von Zahnkeimen verschiedener Dentitionen beobachtet zu 
haben. 

Die nächsten derartigen Befunde brachte Adloff, der 
einzelne Stadien einer Reihe von Nagerembryonen untersuchte. 
Er beschreibt hier an vielen Stellen labiale Fortsätze der Zahn- 
leiste als prälakteale Anlagen, zum Teil als kappenförmige 
Schmelzorgane. Wichtig sind für ihn die Befunde, wo diese 
Anlagen sich mit ihrem freien Ende an das Schmelzorgan der 
ersten Drentition anlegen und mit ihm verschmelzen. Diesen 
Verschmelzungsvorgängen verdankt nach Adloff zum Bei- 
spiel Pd, bei Spermophilus leptodactylus seine gute Ausbildung 
gegenüber dem rudimentären Pd,, da ersterer mit einer prä- 
laktealen Anlage verschmilzt, letzterer nicht. 

An vier Embryonen von Hyrax fand Adloff am oberen 
Pd, einen labialen Strang, der sich mit dem Schmelzorgan 
vereinigt. Im Unterkiefer geht labial „von der Schmelzleiste 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 91 


dicht über Id, ein gleichfalls kappenförmig umgestülpter 
Schmelzkeim aus, der eine prälakteale Anlage, und zwar in 
selten schöner Ausbildung darstellt“. 

Die Untersuchung eines Schweineembryos gab Adloff 
die Gelegenheit, auch hier prälakteale Reste zu beschreiben. 
Besonders betont er folgenden Befund im Oberkiefer: „Dicht 
hinter der Anlage von Id, erscheint labial der Schmelzleiste, 
von ihr ausgehend, ein am Ende kolbig verdickter Epithelzapfen ; 
derselbe wird mit jedem Schnitt grösser und strebt offenbar 
einer Vereinigung mit der lingual liegenden Schmelzleiste ent- 
gegen. Eine derartige Vereinigung findet auch statt.“ Adloff 
deutet den Keim als den vierten Incisivus, der mit einer prä- 
laktealen Zahnanlage verschmolzen ist. 

Nach diesen Untersuchungen glaubten die Anhänger der 
Konkreszenztheorie exakte Beweise für ihre Theorie gesammelt 
zu haben. Dependorf, der noch bei seinen Untersuchungen 
an Marsupialiern denselben Standpunkt vertreten hatte, wie 
Kükenthal und Adloff, unternahm 1907 eine eingehende 
Kritik dieser Frage, nicht weil er Gegner der Konkreszenztheorie 
sei, sondern weil ihm — wie er selbst sagt — die Beweise 
für diese Theorie nicht stichhaltig scheinen. 

Vor allem nimmt er hier gegen das Hauptargument. Stellung, 
dass nämlich die embryologischen Befunde eine direkte Ver- 
schmelzung von prälaktealen und laktealen Elementen zeigen. 
All das, was man als Verschmelzungen bezeichnet hatte, sind 
in Wirklichkeit Trennungsvorgänge, die vor allem bei der Re- 
duktion von Zähnen auftreten. Aus diesen Trennungsvorgängen 
dürfe man aber keine sicheren Rückschlüsse auf eine ehemalige 
Verschmelzung ziehen. Nicht der Schmelzkeim löst sıch 
in Komponenten auf, sondern die Zahnleiste verwendet 
überflüssig werdendes Material im Sinne der Ausbildung von 
Rudimenten. 

Wenn sich auch Adloff gegen Dependorfis Kritik 


92 HARRY SICHER, 


wendete, so konnte er doch zunächst neue embryologische Be- 
funde nicht beibringen. In seiner Kritik hatte Dependorf die 
Deutung der verschiedenen Fortsätze der Zahnleiste als rudi- 
mentäre Zahnanlagen nicht geleugnet. Die Kritik von Ahrens 
über die Konkreszenztheorie beginnt aber mit dem Versuche, 
diese Deutung umzustossen. Eine gewiss ausgezeichnete em- 
bryologische Untersuchung am menschlichen Gebiss führte ihn 
dazu anzugeben, dass allen den Fortsätzen der Zahnleiste eine 
phylogenetische Bedeutung nicht zukommt. Seine Gründe stellt 
er in folgenden Sätzen zusammen: 

„ti. Es treten die ‚prälaktealen Anlagen‘ nie vor den An- 
lagen der Milchzähne oder auch nur gleichzeitig mit ihnen auf, 
sondern immer erst dann, wenn das Schmelzorgan des Milch- 
zahnes durch seine Grössenzunahme die Zahnleiste an der 
weiteren Ausdehnung hindert. Da nun die Zahnleiste ebenfalls 
in den in Frage stehenden Partien wächst, ist sie gezwungen, 
auch seitliche Fortsätze zu bilden. 

2. Diese Fortsätze kommen sowohl auf der labialen wie 
auf der lingualen Seite der Zahnleiste vor... | 

3. Diese Fortsätze sind nicht richtige ‚Zahnanlagen‘, wie 
die Autoren im allgemeinen annehmen, Adloff nennt sie 
direkt kurze Epithelausstülpungen, sondern, wie die sämtlichen 
Rekonstruktionen ergeben, Leisten und Faltungen der Zahn- 
leiste.‘ 

Ahrens ist also der Ansicht, dass rein mechanische Be- 
dingungen die Entstehung der ‚„prälaktealen Anlagen‘ ‚hervor- 
rufen. Sie könnten nach seiner Anschauung als ‚Stauungs- 
leisten‘ bezeichnet werden. 

Gleichzeitig mit der ausführlichen Publikation von Ahrens 
erschien die Mitteilung von Bolk über die Ontogenese des 
Primatengebisses. Zu einem Teil stimmen seine tatsächlichen 
Befunde genau mit den Abbildungen von Ahrens überein. 
Er konnte in diesem ersten Teile seiner odontologischen Studien 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 93 


eine Reihe von neuen Gebilden beschreiben, die seiner Mei- 
nung nach für die Erkenntnis der Phylogenie des Säugergebisses 
von ausserordentlicher Bedeutung sind. 

Als erstes dieser Gebilde wollen wir hier die laterale 
Schmelzleiste nennen. Bolk konnte zeigen, dass bei allen 
untersuchten Species der Zusammenhang des Schmelzorganes 
mit dem Mundhöhlenepithel kein einfacher ist. Entsprechend 
jedem Schmelzorgan zweigt von der „generellen“ Zahnleiste 
— Zahnleiste der Autoren — eine Epithellamelle ab, die sich 
an die laterale Fläche des Schmelzorganes begibt, und zu 
ihr dieselben Beziehungen aufweist, wie die generelle Zahn- 
leiste zur medialen Fläche des Schmelzorganes. Diese labiale 
Epithellamelle bezeichnet Bolk als laterale Schmelzleiste. Be- 
züglich ihrer Entstehung konnte Bolk vor allem auch in einer 
neueren Arbeit, die die früheren Stadien der Zahnentwickelung 
von Ovis aries beschreibt, folgendes angeben: „Die früheste 
Anlage des Zahnes wird bei den Primaten durch die bekannte 
kolbenförmige Verdickung der Zahnleiste gebildet. Diese An- 
schwellung entspricht jedoch nicht einfach der Anlage des 
Schmelzorganes in einem jungen Stadium, wie es in der Lite- 
ratur irrtümlicherweise bis jetzt dargestellt war, sondern aus 
dieser kolbenförmigen Anschwellung gehen das Schmelzorgan 
sowie eine doppelte Leiste, welche dieses Organ mit der gene- 
rellen Zahnleiste verbindet, hervor. Die Entstehung dieses 
Leistenapparates kommt in der Weise zustande, dass entweder 
an der mesialen oder labialen Fläche der kolbenförmigen Ver- 
dickung eine Einsenkung entsteht, welche, während der Ver- 
grösserung der Anlage immer tiefer werdend, eine Nische bildet, 
medial und lateral von einer dünnen Wand begrenzt. Da beide 
Wände konvergieren, ist die Nische bei den vorderen Zähnen 
nach hinten geschlossen, da die Nische hier an der medialen 
Fläche entsteht, und bei den Molaren nach vorne, da hier die 
Vertiefung an der distalen Fläche beginnt. Diese Vertiefung 


94 HARRY SICHER, 


wurde als die Schmelznische beschrieben. Bei der weiteren 
Entwickelung werden mediale und laterale Begrenzungswand 
der Nische voneinander getrennt, es ist ein kanalartiger Raum 
entstanden, und das unterhalb der Schmelznische sich findende 
Schmelzorgan steht jetzt mittelst zweier Leisten, einer medi- 
alen und einer lateralen, mit der generellen Zahnleiste in Ver- 
bindung.“ 

Bolk hatte diese Tatsachen zunächst an seinem überaus 
reichen Prämatenmaterial erwiesen, und hatte schon damals 
Schnitte durch Zähne anderer Säuger abgebildet, welche die- 
selben typischen Verhältnisse zeigen. Vor kurzem konnte er 
auch beim Schaf seine Befunde bestätigen. 

Bolk verwendet diese Befunde — die ja augenscheinlich 
den verschmelzenden prälaktealen Anlagen z. B. Adloffs ent 
sprechen — auch als Stütze der Konkreszenztheorie. Doch ist 
seine Auffassung eine eigenartige und gipfelt darin, dass die 
Zahnleiste der Säuger aus ihrem Keimmaterial gleichzeitig zwei 
schon von vornherein zu emem einheitlichen Gebilde ver- 
schmolzene Keime produziert, die zwei Reptilgenerationen ent- 
sprechen. So stellt der Säugerzahn ein dimeres Gebilde dar. 
Als letzter Versuch sozusagen einer Differenzierung, einer Auf- 
teilung dieses Keimes in seine beiden Komponenten ist einer- 
seits die Bildung der Schmelznische und der beiden Schmelz- 
leisten, andererseits die Entstehung des Schmelzseptums an- 
zusehen. 

Von der Auffassung Kükenthals und Adloffs weicht 
diese Hypothese vor allem darin ab, dass Bolk seine „laterale 
Schmelzleiste‘‘ eben als Schmelzleiste auffasst, während das- 
selbe Gebilde von Adloff und Kükenthal als eine rudi- 
mentäre prälakteale Zahnanlage gedeutet wird, die eventuell 
selbständiger Differenzierung fähig ist. Weiterhin homologisieren 
die beiden Autoren diese Gebilde mit den freien Sprossen der 
Zahnleiste, während diese nach Bolk das Rudiment der Zahn- 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 95 


drüsenleiste der Reptilien darstellt. Diese Deutung, die sich 
auf vergleichende Befunde stützt, ist von Bolk vor allem für 
die am hinteren Zahnleistenende vorhandene „Nebenleiste‘‘ ver- 
sucht worden, doch sagt Bolk, dass sie wahrscheinlich für 
viele, wenn nicht für alle freien Sprossen der Zahnleiste gelten 
kann. Nach ihm sind dann die Befunde sogenannter kappen- 
förmiger Schmelzorgane als die Rudimente von Drüsensprossen 
zu deuten. 

In einer Arbeit aus demselben Jahre (1913) bringt Adloff 
Abbildungen von Rekonstruktionen jener beiden Zahnanlagen 
von Spermophilus, welche für ihn schon früher eine grosse 
Rolle gespielt haben. An dem einen Modell sieht man neben 
der Zahnleiste eine Leiste, die zwei leichte Einsenkungen ent- 
hält, die zwei ‚„kappenförmigen prälaktealen Anlagen‘ ent- 
sprechen sollen. Das zweite Modell zeigt ganz übereinstimmend 
mit den Bolkschen Abbildungen die „laterale Schmelzleiste“ 
und die „Schmelznische“. Adloff hält es für zweifellos, dass 
diese Bildungen an den beiden Modellen homolog sind, dass 
es sich also in dem einen Fall um eine freie, im anderen um 
eine mit dem Milchzahn verschmolzene prälakteale Anlage 
handelt. Und gerade diese Homologie bestreitet Bolk. 

In zwei späteren Arbeiten versuchte einerseits Küken- 
thal an einem Embryo der Dugong, Adloff an zwei 
CGervidenembryonen neue Befunde für ihre Anschauungen bei- 
zubringen. Nach Kükenthal findet man an den unteren 
Prämolaren mit dem Schmelzorgan des Milchzahnes ver- 
schmolzen ein kleines ‚„prälakteales Schmelzorgan“, das mit 
der lateralen Zahnleiste in Zusammenhang steht — was aller- 
dings aus den Abbildungen nicht hervorgeht. Die Befunde 
Adloffs enthalten nichts prinzipiell Neues. 

Nach dieser kurzen Übersicht über die Literaturangaben, 
die übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit macht, ist 
es nun unsere Aufgabe zu prüfen, ob Gebilde, wie sie so viel- 


96 HARRY SICHER, 


fach beschrieben wurden, bei Talpa vorkommen, und ob ihre 
Ausbildung hier sich mit einer der bekannten Theorien in 
Widerspruch befindet. 

Wir wollen zunächst rein morphologisch die verschiedenen 
Gebilde unterteilen in Bildungen, die der „lateralen Schmelz- 
leiste‘ Bolks entsprechen und in solche, die der freien „‚prä- 
laktealen‘‘ Zahnanlage gleichzusetzen sind, ohne von vorn- 
herein etwas über ihre Homologie aussagen zu wollen. 

Wir beginnen mit der Besprechung der „lateralen Schmelz- 
leiste“. Einleitend müssen wir noch erwähnen, dass Bolk 
diese Bildung auch an bleibenden Zähnen fand; so. bildet 
er sie an einem oberen medialen bleibenden Incisivus des 
Menschen ab. Die Nachprüfung gerade dieses Be- 
fundes, der meines Wissens bisher stillschwei- 
gend übergangen wurde, erscheint besonders 
bedeutungsvoll. 

Die laterale Schmelzleiste und die Schmelznische kann 
bei Talpa nur als ein sehr variables und nicht an allen Zähnen 
vorhandenes Gebilde bezeichnet werden. So fehlt sie voll- 
kommen den Schneidezähnen, und ist überdies im Unterkiefer 
nur andeutungsweise an einzelnen Zähnen zu finden. Eine 
Ursache für dieses Verhalten vermag ich vorläufig nicht an- 
zugeben. Erst der Vergleich mit anderen genau untersuchten 
Species kann hier Aufklärung geben. 

An einem Zahn des Oberkiefers, am Eckzahn, ist jedoch 
die laterale Leiste so typisch und konstant vorhanden, dass 
ich ihre Beschreibung hier kurz rekapitulieren möchte. An 
dem Milcheckzahn des Embryo b tritt diese Bildung zum ersten- 
mal auf. Das Schmelzorgan dieses Zahnes stellt am Quer- 
schnitt, entsprechend seiner Mitte, ein dreieckiges Gebilde mit 
einer konkaven nach oben und aussen gerichteten Basis dar, 
dessen Spitze durch die kurze generelle Zahnleiste mit dem 
Mundhöhlenepithel in Verbindung steht. An der lingualen Wand 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 97 


des Schmelzorganes ragt bereits die Ersatzleiste vor. Verfolgt 
man nun die Serie von mesial nach distal, so sieht man in 
dem Schmelzorgan nahe der Spitze, also nahe dem Ansatze 
der Zahnleiste, eine Lücke auftreten, die von Mesoderm erfüllt 
ist. Sie vergrössert sich auf den nächsten drei Schnitten sehr 
rasch. Der Schnitt f (Textfig. 5) kann als Paradigma für das 
Bestehen der beiden Zahnleisten gelten. Von einem kurzen 
gemeinsamen Anteil der Zahnleiste zweigt eine dünne Ver- 
bindungsbrücke zur lateralen Fläche des Schmelzorganes ab, 
während die mediale Zahnleiste förmlich in die Ersatzleiste 
übergeht. Am nächsten Schnitt ist die Schmelznische nach 
lateral offen, die laterale Schmelzleiste erscheint als ein freier 
labialer Ausläufer der Zahnleiste, um am nächst distalen 
Schnitt vollkommen zu verschwinden. Interessant ist, dass 
hier, abweichend von den Befunden Bolks, die Schmelz- 
nische nach distal offen ist, ein Verhalten, das nach Bolk 
nur bei den Molaren zur Beobachtung kommt. Doch geht schon 
aus der Darstellung Bolks hervor, dass diesem Umstand keine 
prinzipielle Bedeutung zukommt. 

Die nächsten Stadien zeigen anfangs ähnliche Verhält- 
nisse, bald aber macht die Loslösung des Milchzahnes von der 
Zahnleiste immer raschere Fortschritte, so dass die Verhält- 
nisse unregelmässige werden. Diese frühe Degeneration der 
Milchzahnleiste des Eckzahnes hängt wohl hier vor allem mit 
der ausserordentlich früh einsetzenden und rasch fortschreiten- 
den Entwickelung des Ersatzzahnes zusammen. 

Von ganz besonderem Interesse scheint mir aber die Tat- 
sache zu sein, dass der bleibende Caninus des Ober- 
kiefers die Bildung der lateralen Schmelzleiste deutlich zeigt, 
deutlicher sogar als der betreffende Milchzahn. Wir fanden 
am Embryo g des VII. Stadiums an der mesialen Hälfte der 
labialen Fläche dieses Schmelzorganes eine leichte Grube, die 
lateral von einer Leiste flankiert ist. An dem nächst älteren 


“ Anatomische Hefte. 1. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1.) Ä 


98 HARRY SICHER, 


Embryo ist die Grube nach distal vertieft, die Leiste deut- 
licher geworden, und an unserem ältesten Embryo zeigt das 
Schmelzorgan des bleibenden Caninus die beschriebenen Ver- 
hältnisse ganz typisch. Bei der Betrachtung der Serie, die wir 
von mesial nach distal verfolgen wollen (Textfig. 20), erscheint 
zunächst an der lateralen Seite der Zahnleiste ein dünner 


Fig. 20. 


Zwölf aufeinanderfolgende Schnitte durch den oberen bleibenden Eckzahn des 
Embryo i. Vergrösserung 50fach. 


Fortsatz, der immer länger wird, und schliesslich die laterale 
Fläche des Schmelzorganes erreicht. Dann ist zwischen der 
lateralen Schmelzleiste, der medialen Schmelzleiste und dem 
Schmelzorgan ein dreieckiges Mesodermfeld eingeschlossen, 
welches nichts anderes ist als der Querschnitt durch die 
Schmelznische. Distalwärts wird dieses dreieckige Feld immer 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 99 


kleiner und kleiner, um schliesslich ganz zu verschwinden. 
Das Modell zeigt uns, dass hier tatsächlich der Zusammenhang 
des Schmelzorganes mit der Zahnleiste durch zwei Epithel- 
lamellen vermittelt wird, welche aber nur in ihrem mesıalen 
Anteil voneinander differenziert sind. Der Grund hierfür liegt 
darin, dass die Schmelznische von vorne her sich in das primäre 
Schmelzorgan einsenkt und nach distal nur allmählich an Tiefe 
zunimmt (Tafel 6, Fig. 27). 

Dass diese Befunde am bleibenden Caninus mit den Be- 
funden Bolks einerseits übereinstimmen, dass sie auch ganz 
den Befunden von Adloff an dem oberen Pd, von Spermo- 
philus entsprechen, unterliegt wohl keinem Zweifel. 

Wir können also zunächst sagen, dass der Befund einer 
lateralen Schmelzleiste bei Talpa inkonstant ist, dass wir dieses 
Gebilde aber auch an einem bleibenden Zahn gefunden 
haben Dass wir sie nur an einem bleibenden Zahn finden, 
hat vielleicht seinen Grund darin, dass nur dieser eine Zahn 
im Embryonalleben bereits höher differenziert ıst und uns nur 
Embryonalstadien zur Verfügung standen. 

Auf die theoretischen. Folgerungen, die gerade dieser Punkt 
erlaubt, wollen wir erst eingehen, wenn wir auch die weiteren 
Anhangsgebilde der Zahnleiste besprochen haben. 

Auch die freien Nebenleisten der Zahnleiste müssen bei 
ihrer Besprechung unterteilt werden. Erstens gehören. hierher 
diejenigen Leisten, die ich in der Stadienbeschreibung als 
„Nebenleisten‘“ kurz bezeichnet habe. Und zweitens jene Leisten 
am distalen Ende der Zahnleiste, die Bolk vor allem Anlass 
gaben, die Homologie mit der Zahndrüsenleiste aufzustellen. 

Bereits an den Embryonen des IV. Stadiums, also zu 
einer Zeit, wo die Anlagen der Milchzähne zum ersten Male 
mit voller Deutlichkeit hervortreten, finden wir zwei Neben- 
leisten in Entwickelung, die eine längs Pd, und Pd,, die 
zweite dahinter. Besonders im Unterkiefer ist die distale Neben- 


me 


100 HARRY SICHER, 
leiste so mächtig entwickelt, dass es den Anschein hat, als 
spalte sich die Zahnleiste nahe ihrem Ende in zwei gleich- 
wertige Leisten. Auf der Höhe ihrer Entwickelung sind diese 
Leisten im Ober- und Unterkiefer vollkommen gleich aus- 
gebildet. Die vordere zieht entlang den beiden letzten Prä- 
molaren, die rückwärtige zieht — dem freien Zahnleistenrande 
näher — von dem hinteren Ende des Pd, zur labialen Fläche 
von M,, um hier auszulaufen. Gerade dieser Umstand lässt bei 
Betrachtung der Serie die Täuschung entstehen, als ob diese 
Leiste mit der Zahnleiste eine Verwachsung eingeht. Die Neben- 
leiste entsteht jedoch selbständig als Ausstülpung der Zahn- 
leiste und hat mit der Entwickelung der Schmelzorgane keine 
Beziehungen. Misst man die hintere untere Nebenleiste des 
Embryo E, bei welchem sie eben entstanden ist, und die des 
Embryo b, bei welchem sie ihre volle Ausbildung erlangt hat, 
so sieht man, dass sie ihre Länge nicht geändert hat. Sie 
ist im Wachstum zurückgeblieben, dadurch relativ unschein- 
barer geworden, doch hat sie niemals durch eine Verschmelzung 
zur Bildung des Keimes von M, beigetragen. Noch deutlicher 
wird es bei den anderen Leisten, dass ihre Beziehungen zu 
den Schmelzorganen nur topographische sind. 

Zu diesen beiden Nebenleisten, die allmählich der Rück- 


bildung unterliegen, kommen — besonders deutlich bei Em- 
bryo g — auch im Bereiche des zweiten Molaren Leisten, die 
eine — man möchte fast sagen seriale — Wiederholung der 


beiden mesialen Nebenleisten sind. 

So sind wir imstande, am Gebiss von Talpa zunächst 
drei Nebenleisten zu unterscheiden, die in gleicher Ausbildung 
am Ober- und Unterkiefer vorkommen. Die mesiale läuft ent- 
lang von Pd, und Pd,, die mittlere zwischen Pd, und M,, 
die hintere zwischen M, und Ms. 

Einige Worte müssen wir noch über die histologische 
Struktur dieser Leisten sagen, sowie über ihre gelegentliche 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 101 


Weiterdifferenzierung. Die erste Anlage der Nebenleisten — 
wir wollen als Beispiel die vordere Nebenleiste des Unter- 
kiefers wählen — tritt zu einer Zeit auf, in welcher die Zahn- 
leiste noch keine Differenzierung in inneres oder äusseres 
Schmelzepithel zeigt. Die Zahnleiste besteht hier aus einer 
äusseren Cylinderzellenschicht und einer inneren Lage von 
polygonalen helleren Zellen mit rundlichem Kern. Diese 
Schichtung zeigt auch die Nebenleiste (Tafel 6, Fig. 33). 
Wenn später die Differenzierung des Schmelzorganes einsetzt, 
bleibt die Struktur der Nebenleiste erhalten (Tafel 6, Fig. 34). 
Dass wir aber auch hier noch die Derivate der Basalzellen- 
schicht, die Cylinderzellen und die von ihnen umschlossenen 
Abkömmlinge der Deckschichte unterscheiden können, mag An- 
lass gegeben haben, dass oft den sogenannten prälaktealen An- 
lagen ein inneres Schmelzepithel zugesprochen wurde. 
Wichtig, besonders im Hinblick auf die Befunde der 
Autoren, ist die Weiterdifferenzierung der Leiste, wie wir sie 
am Embryo b’ fanden. Wir sehen am Querschnitt die Leiste 
an ihrem Ende verdickt und zweigeteilt (Tafel 6, Fig. 35). Sie 
macht für den ersten Augenblick ganz den Eindruck eines 
kappenförmigen Schmelzorganes. Die genauere Untersuchung 
lehrt, dass die histologischen Charaktere aber keine Differen- 
zierung erlitten haben. Eine Differenzierung des Epithels etwa 
zu einem Schmelzepithel fehlt vollkommen. Die äussere Zell- 
schicht hat ganz ihre Charaktere bewahrt, die sie als Derivat 
der Basalzellenschicht hatte. In späteren Stadien geht auch 
diese Eigentümlichkeit verloren, wie z. B. der Querschnitt durch 
die zweigeteilte Leiste des Embryo g zeigt (Tafel 6, Fig. 36). 
Auch ein Grübchen, das einer Papille zur Einlagerung dienen 
sollte, fehlt. Es macht vielmehr den Eindruck, als wären aus 
dem freien Ende der Nebenleiste zwei rundliche Knospen — 
körperlich natürlich Leisten — ausgesprosst, die einen feinen 
Spalt begrenzen. So ist die Ähnlichkeit dieses Gebildes, bei 


102 HARRY SICHER, 


Talpa wenigstens, mit einer rudimentären Zahnanlage nur eine 
oberflächliche. Dass eine Verdichtung des Mesoderms fehlt, 
‘st schon früher betont worden, doch ist diesem Umstand sicher 


nur sekundäre Bedeutung zuzumessen. 


Die Rückbildung der Leisten erfolgt zum Teil derart, dass 
die Leiste in ihrer Kontinuität unterbrochen wird, und dieses 
Verhalten in späteren Stadien mag dazu geführt haben, dass 
oft eine ganze Reihe prälaktealer Anlagen neben den Schmelz- 
organen beschrieben wurden. Das Vorkommen zweier Aus- 
stülpungen der Zahnleiste an einer Stelle ist sicher in vielen 
Fällen darauf zurückzuführen, dass zwei Nebenleisten so gegen- 
einander verschoben sind, dass die distale noch vor dem 


distalen Ende der mesialen beginnt. 


Wir können zusammenfassend über die Nebenleisten von 
Talpa sagen, dass diese typischen und konstanten Gebilde mit 
den Schmelzorganen keine genetischen Beziehungen 
haben, vielmehr nur als Derivate der Zahnleiste aufgefasst 
werden können. Ihre Weiterdifferenzierung gestattet keinen 
sicheren Schluss darauf, dass sie imstande sind, rudimentäre 
Zahnanlagen zu bilden. Sie verfallen vollständig der Rück- 
bildung. 


Zumindest morphologisch ganz anders verhalten sich jene 
accessorischen Leisten, die wir am distalen Zahnleistenende 
fanden. Am Oberkiefer beginnt ihre Bildung bereits sehr früh 
bei Embryo d. Hier tritt hinter M, ein Fortsatz der Zahn- 
leiste auf, der ihr knapp an dem Ursprung vom Mundhöhlen- 
epithel aufsitzt und an seinem Ende in die Zahnleiste umbiest. 
Mit der allmählichen Verlängerung der Zahnleiste verlängert 
sich auch diese Leiste, verliert aber dabei allmählich ın 
ihrem vorderen Anteil den Zusammenhang mit derselben, so 
dass sie dann neben der Zahnleiste aus dem Mundhöhlen- 
epithel entspringt. Ihr distales Ende geht aber immer wieder 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 103 


abgebogen in die Zahnleiste über und löst sich mit ihr gemein- 


sam vom Mundhöhlenepithel ab. 


Im Unterkiefer finden wir diese Bildung erst im ältesten 
Stadium hinter M,. Sie verhält sich hier prinzipiell gleich der 
Leiste des Oberkiefers, nur sind ihre Beziehungen zur Zahn- 
leiste engere. In ihrer Struktur sind sie als Derivate der Zahn- 
leiste natürlich ähnlich den früher beschriebenen Nebenleisten. 
Doch scheinen sie diesen nicht homolog zu sein, da zumindest 
am Öberkiefer des Embryo g die hintere Nebenleiste an M, 
nebst dieser accessorischen Leiste vorhanden ist. 


Von grösster Wichtigkeit ist nun die Frage nach der Homo- 
logie der „lateralen Schmelzleiste“ Bolks mit den freien 
Nebenleisten. Nur auf Grund der Beantwortung dieser Frage 
kann die phylogenetische Bedeutung dieses Gebildes erst ge- 
würdigt werden. Erstere entspricht dem, was Kükenthal 
und Adloff als mit den Milchzähnen verschmolzene oder ver- 
schmelzende prälakteale Anlagen bezeichnen, letztere den freien 
prälaktealen Anlagen der Autoren. Ich habe hier besonders 
Adloffs Untersuchungen an Nagern (Spermophilus) im Auge. 
Kükenthals Untersuchungen z. B. am Dugong, die besonders 
die weitere Differenzierung der verwachsenden prälaktealen 
Anlagen zeigen sollen, sind bei der geringen Anzahl der unter- 
suchten Stadien, ferner bei der 'spärlichen bildlichen Dar- 
stellung wenig beweiskräftig. 


Die Frage nach der Homologie beider Gebilde möchte ich 
aber vorläufig nicht beantworten, wenigstens hat die Unter- 
suchung von Talpa keine sicheren Schlüsse erlaubt, vielleicht 
hauptsächlich deshalb, weil hier die laterale Schmelzleiste 
wenig gut entwickelt ist. Gerade erneute Untersuchungen an 
Primaten versprechen hier viel. Nach Bolk ist hier die laterale 
Schmelzleiste ein konstantes Gebilde, während Ahrens an 
einigen Stadien auch freie Nebenleisten abbildet. 


104 HARRY SICHER, 


Aber eine Bemerkung muss ich hier einfügen. Hält man 
wie Adloff an der Homologie der genannten Gebilde fest, 
dann muss der Ausdruck ‚prälakteal“ fallen. Denn 
wir finden die laterale Schmelzleiste — auch an bleibenden 
Zähnen. Dann wäre gerade diese Auffassung der lateralen 
Schmelzleiste als eines ehemals selbständigen Gliedes einer 
älteren Zahngeneration ein schlagender Beweis für die Gleich- 
stellung von Milch- und bleibendem Gebiss der Säuger, ein 
Beweis für ihren Scheindiphyodontismus. Dann ist selbst- 
verständlich die ausgefallene Generation, deren Rudimente die 
fraglichen Bildungen sein sollen, keine Vormilch generation, 
sondern eine Generation, die vor der jetzt funktionierenden 
einheitlichen Säugergeneration stand. 

Lehnt man aber die Homologisierung der beiden Gebilde 
ab, dann verliert die ganze Frage für die Konkreszenztheorie 
im Kükenthal-Adloffschen Sinne alle Bedeutung. Lässt 
man die freien Nebenleisten als Rudimente einer prälaktealen 
Generation gelten — dann kann in ihrem Auftreten ein Beweis 
für die Konkreszenztheorie schon deshalb nicht gesucht werden, 
weil sie in ihrer ganzen Entwickelung weder Verschmelzungs- 
vorgänge noch eine Abtrennung von den Schmelzorganen der 
Milchzähne zeigen. Da man bei dieser Auffassung aber ge 
zwungen ist, die „laterale Schmelzleiste‘“ von diesen Gebilden 
scharf zu trennen, kann ihre Entwickelung nichts für die Kon- 
kreszenztheorie sagen, da sie dann keine rudimentäre Gene- 


ration darstellen kann, sondern — beiden Säugerdentitionen 
zugehörig — als ein nur in der Differenzierung des Schmelz- 


organs selbst bedingtes Gebilde aufgefasst werden muss. Dass 
natürlich die Auffassung von Ahrens, der jede Bedeutung 
all dieser Bildungen leugnet, durchaus unbegründet ist, geht 
aus der ganzen Darstellung ihrer Entwickelung wohl eindeutig 
hervor. 

Wie gesagt, ist vorläufig die Frage nach der Hombologisie- 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 105 
rung der freien Nebenleisten und der lateralen Schmelzleiste 
und damit auch die Frage nach der phylogenetischen Bedeutung 
der Anhangsgebilde der Zahnleiste nicht zu beantworten. Wir 
müssen erst objektive mit allen Mitteln der Forschung durch- 
geführte vollkommen systematische Untersuchungen an ge 
schlossenen Entwickelungsreihen möglichst vieler Säuger durch- 
geführt haben, bis die Frage der Entscheidung näher rücken 
soll. Die Untersuchung zusammenhangloser Embryonalstadien 
kann diese Erkenntnis nicht fördern. 


Die Entwickelung des Vestibulum oris. 


Die Entstehung des Vestibulum oris ist eine äusserst kom- 
plizierte. Wenn wir zunächst die Verhältnisse im Oberkiefer 
betrachten, so finden wir die erste Anlage des Vestibulum deut- 
lich zweigeteilt. In der Region der Schneidezähne senkt sich 
schon bei jüngeren Embryonen eine Epithelleiste in das Meso- 
derm, die zur Zahnleiste und den Schmelzorganen der Incisivi 
die engsten Beziehungen aufweist, deren genaueres Verhalten 
früher besprochen wurde. Diese primäre Vestibularleiste geht 
jedoch bald zugrunde. Wir finden an unserem ältesten Stadium 
nur mehr spärliche Reste derselben. Das definitive Vestibulum 
in (der vorderen Mundhöhle legt sich an den älteren Embryonen 
in Form einer seichten Furche an, die, von der Zahnleiste 
gänzlich unabhängig, von ihr durch einen Wulst, den Alveolar- 
wall, getrennt ist. 

Die Anlage des Vestibulum in der postcaninen Region ge- 
schieht sogleich auf jene Art, die wir bei der Entwickelung 
des sekundären Vestibulum oris im vorderen Abschnitt gesehen 
haben. Hier entsteht zuerst in der Gegend der vierten Prä- 
molaren eine Furche lateral von der Zahnleiste, die sich von 
hier nach vorne und hinten verlängert. 


Zu dem Alveolarwall, der sich medial von dieser Furche 


106 HARRY SICHER, 


vorwölbt, zeigt die Zahnleiste ein eigentümliches Verhalten. 
In den vorderen Partien entspringt sie an seiner medialen Seite, 
ein Verhalten, wie wir es als das definitive ansprechen müssen. 
Weiter rückwärts, besonders deutlich in der Molarengegend, 
nähert sich ihr Ursprung immer mehr der Vestibularfurche, 
so dass die Zahnleiste zuerst an der Kuppe des Alveolarwalles, 
noch weiter distal aber lateral von ıhm unmittelbar neben der 
Vestibularfurche entspringt. Die seichte Furche, die den Ansatz 
der Zahnleiste markiert, liegt also vorne medial vom Alveolar- 
wall, kreuzt ihn dann schief von vorne innen nach hinten aussen 
verlaufend und endet lateral von ihm. Der Teil des Alveolar- 
wulstes, der als ein sich nach vorne verjüngender Streif durch 
die Furche von ihm abgetrennt wird und medial von dem 
Ansatz der Zahnleiste liegt, ıst das, was Bolk beim Menschen 
als Pseudoalveolarwall bezeichnet hat. Die scheinbare Wande- 
rung, welche der Ansatz der Zahnleiste durchmacht, um später 
auch in der Molarengegend medial vom Alveolarwulst zu ent- 
springen, wird dadurch vorgetäuscht, dass die Partie des 
Wulstes, die zwischen Zahnleiste und Vestibularfurche gelegen 
ist, sich immer mehr vorwölbt, während der Pseudoalveolarwall 
verstreicht. 

An dem Embryo g finden wir besonders deutlich eine im 
Bereiche der Prämolaren aus dem Mundhöhlenepithel knapp 
neben der Zahnleiste entspringende niedrige Epithelleiste, die 
in ihrem histologischen Charakter von den Nebenleisten, die 
übrigens an jüngeren Embryonen schon zugrunde gegangen 
waren, abweicht. Ihre Zellen tragen alle Charaktere des defini- 
tiven Mundhöhlenepithels, mit seinen grossen schwach färb- 
baren, mit rundlichem Kern versehenen Zellen. Es erscheint 
mir nicht unmöglich, dass wir es hier mit einem Rudiment 
einer primären Vestibularleiste zu tun haben, wie wir sie in 
der Frontzahngegend fanden. 

Zusammenfassend müssen wir über die Entwickelung des 


PR WERE 


Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 107 


# 


Vestibulum oris im Oberkiefer sagen, dass seine Anlage 
nicht nur im vorderen und hinteren Mundhöhlenabschnitt ge- 
sondert auftritt, wie dies von einer Reihe von Tieren bekannt 
ist, sondern dass wir auch im vorderen Mundhöhlenabschnitt 
von einer primären vergänglichen und einer sekundären defini- 
tiven Anlage sprechen müssen. Erstere tritt als eine mit der 
Zahnleiste eng verbundene Leiste, letztere als eine von Anfang 
an unabhängige Furche auf. 

Die Zweiteilung der Anlage in der Längsrichtung bedingt 
das Auftreten des Frenulum laterale. 

Im Oberkiefer haben wir bei der Beschreibung der Stadien 
eine Epithelleiste kennen gelernt, die peripher von der defini- 
tiven Vestibularfurche gelegen, mit ihrem hinteren Ende in der 
Gegend des Eckzahnes in die (Gesichtsfläche ausläuft. Obwohl 
diese Leiste auch an dem ältesten Embryo noch nicht gehöhlt 
ist, so ist es doch unzweifelhaft, dass sie die Entstehung der 
einleitend beschriebenen Plica vestibularis bedingt. Zwischen 
ihr und der definitiven Vestibularfurche wird ein schmaler 
Bezirk abgegrenzt, der mit seinen hinteren Enden allmählich 
gegen den Rand der Oberlippe ausläuft, um mit ihm zu ver- 
schmelzen. 

Im Unterkiefer sind die Verhältnisse einfacher. Auch hier 
finden wir in der Gegend der Schneidezähne die Anlage des 
Vestibulum als Leiste, die mit den Zahnkeimen in engster Be- 
ziehung steht, hinter dem Caninus die Anlage einer selbständigen 
Vestibularfurche. An dem ältesten Embryo ist die vordere 
Vestibularleiste noch vorhanden, die hintere Furche sehr deut- 
lich. Da wir bei Talpa im vorderen Anteil des Unterkiefers 
von einem Vestibulum oris nicht eigentlich reden können, da 
hier am erwachsenen Tier die Gingiva von der Innenseite des 
Kiefers zwischen den Zähnen durch direkt in die Lippenschleim- 
haut übergeht, ohne den Alveolarfortsatz zu bekleiden, geht 


wohl diese vordere Leiste, ohne durch eine sekundäre Furche 


108 SICHER, Die Entwickelung des Gebisses von Talpa europaea. 


ersetzt zu werden, zugrunde. Doch bedürfen diese Verhältnisse 
noch einer Klärung durch Untersuchung an geworfenen Jungen. 

Ich muss nach diesen Resultaten nur Bolk beipflichten, 
der davor warnt, die Befunde bei der Entwickelung des Vesti- 
bulum oris einer Species zu verallgemeinern. Doch ist es zu 
wünschen, dass möglichst zahlreiche Einzeluntersuchungen uns 
bald gestatten, eine allgemeine Darstellung dieser komplizierten 
Entwickelungsvorgänge zu geben. 

Zum Schlusse möchte ich nochmals betonen, dass es mir 
ferne liegt, die vorliegende Einzeluntersuchung bereits zur 
Grundlage von weitreichenden Spekulationen zu machen. Sind 
wir zwar berechtigt, die Insektivoren und vor allem auch Talpa 
als primitive Säuger anzusehen, so lässt sich doch das nicht 
scharf abschätzen, was speziell auch am Gebiss einer ein- 
seitigen Anpassung sein Entstehen verdankt. Nochmals möchte 
ich darauf verweisen, dass wir nur durch ähnliche Unter- 
suchungen an möglichst vollständigen Entwickelungsreihen, die 
vor allem auch die jüngsten Stadien einschliessen, die Er- 
kenntnis der Zahnentwickelung fördern können. 


Wien, im Juli 1915. 


Erklärung der Tafelfiguren'). 


Fig. 1. Linker Oberkiefer eines erwachsenen Maulwurfs. Vergrösse- 
rung a9. 

Fig. 2. Rechter oberer zweiter Molar von der Kaufläche gesehen. Ver- 
grösserung: 10:1. 

Fig. 3. Linker Unterkiefer eines erwachsenen Maulwurfs. Vergrösse- 
rung: 5:1. 

Fig. 4. Schnauzengegend eines erwachsenen Maulwurfs. Vergrösse- 
zung: 15:1. 

Fig. 5. Modell des Oberkiefers des Embryo E. 200 fach vergrössert. 
1/, der Modellgrösse. 

Fig. 6. Modell des Unterkiefers des Embryo E. 200 fach vergrössert. 
1/, der Modellgrösse. 

Fig. 7. Schnitt durch die obere Zahnleiste des Embryo E, hinter Pd... 
Vergrösserung: 150:1. 

Fig. 8. Schnitt durch die untere Zahnleiste des Embryo C, hinter Pd,. 
Vergrösserung: 150:1. 

Fig. 9. Modell des Oberkiefers des Embryo a. 200 fach vergrössert. 
Ca. t/, der Modellgrösse. 

Fig. 10. Distales Ende des Modells des Unterkiefers von Embryo a. 
200 fach vergrössert. Ca. 1/3 der Modellgrösse. 

Fig. 11. Hinteres Zahnleistenende des Unterkiefers von Embryo a.. 
Modelliert bei 200 facher Vergrösserung. Ca. !/, der Modellgrösse. 

Fig. 12. Modell des Oberkiefers des Embryo b. 200 fach vergrössert. 
Ca. 1/, der Modellgrösse. 

Fig. 13. Erster oberer Molar des Embryo b von der mesodermalen 
Fläche gesehen. Modell der Fig. 12. t/; der Modellgrösse. 

Fig. 14. Modell des Unterkiefers des Embryo b. 200 fach vergrössert. 
1/. der Modellgrösse. 

1) Die Zeichnungen zeigen, wenn nichts anderes angegeben ist, die An- 
sicht des Modelles von labial. 


110 Erklärung der Tafelfiguren. 


Fig. 15. Erster unterer Molar des Embryo b von der mesodermalen 
Fläche gesehen. Modell der Fig. 14. 1/; der Modellgrösse. 

Fig. 16. Modell des zweiten und dritten oberen Schneidezahnes des 
Embryo f von vorne gesehen. 150fach vergrössert. ?/; der Modellgrösse. 

Fig. 17. Distale Hälfte des Modells des Oberkiefers von Embryo d. 
150 fach vergrössert. Ca. 1/3 der Modellgrösse. 

Fig. 18. Erster oberer Molar des Embryo d von der mesodermalen 
Seite gesehen. 150fach vergrössert. 1/; der Modellgrösse. 

Fig. 19. Erster unterer Molar des Embryo d. 150 fach vergrössert. 
1/, der Modellgrösse. 

Fig. 20. Schnitt durch die Zahnleiste und accessorische Leiste des 
Embryo e. Vergrösserung: 150:1. 

Fig. 21. Modell des Oberkiefers des Embryo g. 150fach vergrössert. 
1/, der Modellgrösse. 

Fig. 22. Milcheckzahn und bleibender Eckzahn des Embryo g von 
mesial gesehen. 150fach vergrössert. ?/; der Modellgrösse. 

Fig. 23. Erster oberer Molar des Embryo g. Modell der Fig. 21. 
!/, der Modellgrösse. 

Fig. 24. Hinteres Ende der unteren Zahnleiste des Embryo g. 150 fach 
vergrössert. !/, der Modellgrösse. 

Fig. 25. Erster unterer Molar des Embryo g. 150fach vergrössert. 
1/, der Modellgrösse. ; 

Fig. 26. Modell des Oberkiefers des Embryo i. 100 fach vergrössert. 
Ca. 1/, der Modellgrösse. 

Fig. 27. Milcheckzahn und bleibender Eckzahn des Embryo i von 
mesial gesehen. 100 fach vergrössert. ?/; der Modellgrösse. 

Fig. 28. Erster oberer Molar des Embryo i von der mesodermalen 
Fläche gesehen. Modell der Fig. 26. 1/, der Modellgrösse. 

Fig. 29. Modell des Unterkiefers des Embryo i. 100 fach vergrössert. 
Ca. 1/, der Modellgrösse. 

Fig. 30. Erster unterer Molar des Embryo i von der mesodermalen 
Fläche gesehen. 100 fach vergrössert. ?/, der Modellgrösse. 

Fig. 31. Schnitt durch den oberen ersten Prämolaren des Embryo i. 
Vergrösserung: 150:1. 

Fig. 32. Schnitt durch den unteren ersten Prämolaren des Embryo i. 
Vergrösserung: 150:1. 

Fig. 33. Schnitt durch M, des Embryo A (Oberkiefer). Vergrösse- 
rung: 150:1. 

Fig. 34. Schnitt durch den oberen Pd, des Embryo b. Vergrösse- 
rung: 150:1. 

Fig. 35. Schnitt durch die untere Zahnleiste (Pd,) des Embryo b. 
Vergrösserung: 150:1. 

Fig. 36. Schnitt durch die untere Zahnleiste zwischen M, und M, des 
Embryo g. Vergrösserung: 150:1. 


Erklärung der Tafelfiguren. 


Für alle Tafelfiguren gültige Bezeichnungen. 


accessorische Leiste. 
distal. 

distobuccaler Haupthöcker. 
Ersatzleiste. 

labial. 

lingual. 

laterale Schmelzleiste. 
mesial. 

mesiobuccaler Haupthöcker. 
vordere Nebenleiste. 
mittlere Nebenleiste. 
hintere Nebenleiste. 
Schmelznische. 

palatinal. 

Plica vestibularis. 
Vestibularleiste. 
Zahnleiste. 


Literaturverzeichnis. 


Bei Ahrens (1913) findet sich ein ausführliches Verzeichnis der ein- 
schlägigen Literatur bis zum Jahre 1913, dem ich nur auf das spezielle 
Thema bezügliche Angaben sowie die seither erschienenen Arbeiten hinzu- 
zufügen habe. 


1867. C. Spence Bate, On the Dentition of the common Mole (Talpa 
europaea). The Annals and Magazine of Natural History. Bd. XIX. 


Ill. Serie. 
1882. J. Kober, Studien über Talpa europaea und 
1884. — Fortsetzung. Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in 


Basel. VII. Teil. 1. und 2. Heft. 

1896. M. F. Woodward, Contributions to the Study of Mammalian den- 
tition. Part. II. On the teath of certain Insectivora. Proceedings of 
the Zoological Society of London 1896. 

1912. Augusta Arnbäck-Christie-Linde, Der Bau der Sori- 
ciden und ihre Beziehungen zu anderen Säugetieren. Il. Zur Ent- 
wickelungsgeschichte der Zähne. Morphologisches Jahrbuch. Bd. 44. 

1913. Hans Ahrens, Die Entwickelung der menschlichen Zähne. Anat. 
Hefte. I. Abteilung. Bd. 48. 

1913. L. Bolk, Odontologische Studien. I. Die Ontogenie der Primaten- 
zähne. Versuch einer Lösung der Gebissprobleme. Jena, G. Fischer. 

1913. P. Adloff, Zur Entwickelungsgeschichte des menschlichen Zahn- 
systems nebst Bemerkungen zur Frage der prälaktealen Dentition, 
der sogenannten Konkreszenztheorie und der Entwickelung des 
Säugetiergebisses überhaupt. Archiv f. mikrosk. Anat. Bd. 82. 

1913. Hans Ahrens, Die Entstehung des Schmelzstranges im Schmelz- 
organ von Schweineembryonen. Sitzungsber. d. Gesellsch. f. Morph. 
und Physiol. München. 

1914. W. Kükenthal, Zur Entwickelung des Gebisses des Dugong. 
Ein Beitrag zur Lösung der Frage nach dem Ursprung der Säuge- 
tierzähne. Anat. Anzeiger. Bd. 45. 

1914. P. Adloff, Zur Entwickelungsgeschichte des Cervidengebisses. Ein 
Beitrag zur Frage der prälaktealen Dentition. Anat. Anzeiger. Bd. 46. 

1914: L. Bolk, Odontologische Studien. II. Die Morphogenie der Primaten- 
zähne. Jena, G. Fischer. 

1915. — Über die Entstehung des Schmelzseptums. Anat. Anzeiger. Bd. 47. 


ÜBER EINEN JUNGEN MENSCHLICHEN EMBRYO 
NEBST BEMERKUNGEN ZU (. RABL’S GASTRU- 
LATIONSTHEORIE. 


VON 


H. STRAHL, 


GIESSEN. 


Mit 1 Abbildung im Text und 2 Abbildungen auf Tafel 7/8. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). fo) 


Dem ebenso freundlichen, wie seit langen Jahren ver- 
ständnisvoll durchgeführten Sammeleifer von Herrn Kollegen 
Dr. Rusche in Bremerhaven verdanke ich neben manchem 
anderen wertvollen Material eine junge menschliche Frucht- 
blase, die in ihrem Entwickelungsgrad nahezu vollkommen mit 
der neuerdings von Grosser (Ein menschlicher Embryo mit 
Chordakanal. Anatomische Hefte von Merkel und Bonnet, 
Bd. 47, 1913) beschriebenen übereinstimmt. 

Das Auftreten eines Chordakanals und die zeitweilige Ein- 
schaltung der Chorda in das Entoderm beim Menschen ist 
für diesen, wenn sie auch als selbstverständlich angenommen 
werden mussten, durch die Beobachtung noch nicht so sehr 
lange klargestellt. 

Den ersten Nachweis vom Chordakanal beim mensch- 
lichen Embryo hat Eternod (ll y a un canal notochordal 
dans l’embryon humain; Anat. Anz. Bd. 16, S. 131) gegeben. 
Sein Präparat ist um ein geringes älter als dasjenige von 
Grosser und als das meinige. 

Da trotz manch erfreulichem Zuschuss aus den letzten 
Jahren junge menschliche Fruchtblasen in gutem Erhaltungs- 
zustand immer noch willkommene Untersuchungsobjekte dar- 
stellen, so möchte ich in dem Folgenden kurz über den neuen 
Embryo berichten; um so eher, als die Fruchtblase in einigen 
Beziehungen nicht ganz mit der von Grosser beschriebenen 
übereinstimmt. 


116 H. STRAHL, 


Da ich die Schilderung von Grosser ohne weiteres als 
zuverlässig annehme, so können etwaige Unterschiede in 
unseren Präparaten kaum anders erklärt werden, als durch die 
Annahme, dass für einiges vielleicht die Vorbehandlung der 
Objekte verantwortlich zu machen ist, anderes aber sich wohl 
durch eine gewisse Variationsbreite in dem Entwickelungs- 
gang der jungen menschlichen Fruchtblasen erklärt, was nach- 
zuweisen an sich und vielleicht auch in Hinblick auf die An- 
gaben der Autoren über die erste Anlage der menschlichen 
Placenta nicht ohne Interesse wäre. 

Die kleine Fruchtblase wurde mir von Herrm Dr. Rusche 
in Formalin fixiert zugeschickt. Sie war vollkommen isoliert, 
äusserlich sehr wohl erhalten und auf der ganzen Oberfläche 
mit kleinen Zöttchen besetzt. Der grösste Durchmesser be- 
trug etwa 10 mm, stimmt also fast genau mit dem Objekt von 
Grosser überein. 

Anamnestische Angaben über Herkunft oder Alter des Prä- 
parates kann ich nicht machen. 

Ich habe die Fruchtblase durch einen glatten Schnitt mit 
dem Rasiermesser in zwei Hälften zerlegt. Das Magma war 
vollkommen geronnen und wurde mit dem Pinsel vorsichtig 
entfernt. Dabei konnte ich an der Innenwand des Chorion 
eine kleine Embryonalanlage frei legen, die im wesentlichen 
mit der von Grosser]. c. Fig. 2 abgebildeten übereinstimmte; 
vielleicht mehr als jene frei in den Chorionsack hinein sah, 
d. h. also bei der Fixierung weniger verlagert war. 

Die Embryonalanlage ist dann in eine Serie von Durch- 
schnitten zerlegt, welche den Embryonalkörper nahezu längs 
getroffen haben. Ich gebe in Fig. 1 eine Abbildung aus der 
Mitte des Embryo. Die Grundlage für die Abbildung liefert die 
Photographie eines Schnittes, diese ist aber an einzelnen 
Stellen nachgezeichnet, soll also nur den Wert der Zeichnung 
haben. 


Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 117 


Das Bild, noch besser eigentlich der in Fig. 2 abgebildete 
Schnitt, der nicht retuschiert oder nachgezeichnet ist, zeigt, 
dass der Erhaltungszustand des kleinen Keimes natürlich nicht 
so ist, wie man ihn von einem unmittelbar nach dem Ab- 
sterben konservierten tierischen Objekt verlangen kann. Immer- 


hin scheint er mir — ich bitte z. B. das Epithel des Allantois- 
ganges zu vergleichen — für menschliches Material aus- 
reichend. 


Jedenfalls glaube ich, dass das Präparat in seinem Er- 
haltungszustand dem von Grosser gleichkommt. Ich habe 
für die erste Abbildung unter den Schnitten denjenigen heraus- 
gesucht, der den Eingang in den Chordakanal und die an 
diesen anschliessenden Teile möglichst gut median getroffen 
zeigt. Vor und hinter dieser Stelle geht der Schnitt von der 
Medianlinie etwas, nicht viel, ab. 

Da mir die an sich sonst gute Photographie die schliess- 
lich auch nicht einmal ganz leicht zu sehenden Bauverhältnisse 
im Schnitt nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit wiedergab, 
so habe ich, wie ich ‘das mit meinen Photographien vielfach 
mache, nachgezeichnet und für das Bild auch die dem ersten 
benachbarten beiden Schnitte benutzt. Ich halte das, sobald 
man es erwähnt, für ganz unbedenklich. 

Die Embryonalanlage wird durch den mit dem Pfeil be- 
zeichneten dorsalen Eingang in den Chordakanal in einen vor- 
deren, etwas längeren, und einen kürzeren hinteren Abschnitt 
zerlegt. Der letztere enthält den Primitivstreifen, dieser ist 
aber im vorliegenden Schnitt nicht in der Medianlinie, sondern 
schräg getroffen; daher erscheinen im Schnitt die drei Blätter, 
die ihn bilden, getrennt und das Ectoderm sehr stark, während 
in der Medianlinie natürlich Ecetoderm und Mesoderm zu- 
sammenhängen. 

Der vordere Teil des Schnittes enthält den Kopffortsatz und 
in ıhm den Chordakanal. Ich rechne als Kopffortsatz den 


115 H. STRAHL, 


dichteren Teil des Schnittes, also etwas mehr als die Hälfte 
des vor dem Eingang in den Chordakanal gelegenen Abschnittes 
bis x, nicht die Spitze des Embryo mit den drei deutlich von- 
einander getrennten Keimblättern und dem lockeren Mesoderm. 


Anmerkung: Ich möchte, da ich unten vielfach mit Terminologie- 
fragen zu tun habe, bereits jetzt bemerken, dass ich den Terminus „Kopf- 
fortsatz‘‘, wenn er mir auch nicht ganz glücklich erscheint, im alten Koelliker- 
schen Sinne gebrauche; wesentlich um die ohnehin schwierige Terminologie 
nicht weiter zu erschweren. 


Koelliker (Entwickelungsgeschichte des Menschen. II. Aufl. Leipzig. 
Engelmann 1879) sagt (l. e. S. 107) vom Keim des Hühnchens: „hier (d. h. 
in der Randzone des Primitivstreifens) entwickelt sich dann um die 15.—20. 
Brutstunde in ihrer Mitte ein dichterer Streifen, der wie ein vorderer Anfang 
des Primitivstreifens erscheint und der Kopffortsatz desselben heissen soll‘, 
und ebenda $. 271: „Ich glaube nicht zu irren, wenn ich diese Verdickung des 
Mesoderma, die vor den Primitivstreifen vom Ectoderma gut abgegrenzt ist, 
mit dem Theile vergleiche, den ich beim Hühnchen als Kopffortsatz des Primi- 
tivstreifens bezeichnete.“ 

In diesem Kopffortsatz tritt dann bei einzelnen, keineswegs allen Amni- 
oten der bekannte Kanal auf, den ein Teil der neueren Autoren als Chorda- 
kanal, van Beneden als Lieberkühnschen Kanal bezeichnet. Ich glaube, 
dass hier ein Irrtum über das, was man will, nicht möglich ist, wenn man 
einstweilen bei der Bezeichnung „Chordakanal“ bleibt, obgleich dieser Ter- 
minus von einzelnen der neueren Autoren abgelehnt wird. Dass aus einem 
Teil der Wand des Kanals mehr als Chorda wird, ist mir natürlich nicht un- 
bekannt. 

Bei meinen persönlichen Beziehungen zu Lieberkühn wird man es 
verständlich finden, wenn ich gelegentlich beide Termini verbinde. 

Der dorsale Eingang in den Chordakanal kann sich dann als Canalıs 
neurentericus mehr oder minder lange erhalten. Es kann aber, wie Gasser 
zuerst bei dem Embryo der Gans gezeigt hat, ein Canalis neurentericus auch 
ohne den ihm vorausgehenden, durch Invagination gebildeten Chordakanal 
entstehen. 

Die Bezeichnungen der Keimblätter Ectoderm, Mesoderm, Entoderm 
gebrauche ich im Sinne der älteren Autoren, in welchem sie ja heute noch 
auch von manchen der gangbaren Lehrbücher verwendet werden. Der Ter- 
minus Entoderm, wie er hier verwendet wird, würde also dem Paraderm 
Kupffers (Leeithophor, Leeithoderm, sekundärem Entoderm neuerer Autoren) 
entsprechen. 


Von der Dorsalseite geht an der mit dem Pfeil bezeichneten 
Stelle der Eingang in den Chordakanal als feiner, aber un- 
zweifelhaft erkennbarer Spalt in die Tiefe. Der Kanal ver- 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 119 


läuft zunächst senkrecht und biegt dann im rechten Winkel 
nach vorn ab; nach kurzem Verlauf in dieser Richtung hat er 
an seiner Entodermseite eine ausgiebige ventrale Öffnung, setzt 
sich aber vor dieser weiter durch den Kopffortsatz nach vorn 
fort. Dass an der Spitze des Kopffortsatzes etwa bei x in 
unserem Schnitt freies Mesoderm über dem vorderen Ende der 
Chordaanlage, zwischen dieser und der Medullarplatte liegt, 
erklärt sich aus dem etwas schrägen Verlauf des Schnittes. 

Die Durchsicht der Schnittreihe ergibt, dass die Wand 
des Chordakanals vorn in fester Verbindung mit dem Ento- 
derm in Bonnets Ergänzungsplatte endet. 

Nach vorn von x finden sich ganz ausgesprochen drei deut- 
lich voneinander getrennte Blätter; ich möchte für diesen Teil 
besonders hervorheben, dass in ihm das Ectoderm gestreckt 
verläuft und nicht die Einbiegung aufweist, die an dem Prä- 
parat von Grosser vorhanden ist. 

Im übrigen zeigt der Schnitt die bekannten Formen der 
jungen menschlichen Fruchtblase: Ein dicker Haftstiel aus 
lockerem Mesoderm verbindet das Hinterende des Embryo mit 
der Innenwand des Chorion, das geschlossene Amnion deckt 
ihn an der dorsalen Seite, an der ventralen hängt die Nabel- 
blase: in ihrer Wand liegen Verdickungen innerhalb des Meso- 
dermes, die ersten Gefässanlagen. Einzelne Gruppen von 
Zellen, die frei in der Lichtung der Nabelblase liegen, lassen 
bei starker Vergrösserung ausgesprochen den Charakter als 
kernhaltige rote Blutkörper erkennen, während das bei den 
Zellen der Blutinseln in der Nabelblasenwand noch nicht der 
Fall ist. 

In dem Haftstiel sind sichere Blutgefässanlagen nicht nach- 
weisbar, ebensowenig solche in den Chorionzotten. Ein kleiner 
dunkler Fleck im oberen Ende des Haftstieles ist der Durch- 
schnitt durch einen dünnen, inmitten des Haftstieles liegenden 
Epithelgang, der nirgends einen Zusammenhang mit anliegenden 


120 H. STRAHL, 


Epithelien zeigt, sondern beiderseits blind endigt. Es kann 
nach der ganzen Sachlage nur der Überrest eines in der Rück- 
bildung begriffenen Amnionganges sein. 

Eine zweite Abbildung (Fig. 2) gibt einen der weiter seitlich 
gelegenen Schnitte wieder; ich bilde ıhn ab, um den im Haft- 
stiel liegenden Allantoisgang zu zeigen. Dieser ist ziemlich 
gut längs, aber doch auch nicht in seiner ganzen Ausdehnung 
im Schnitt enthalten, sein blindes Ende ist in den anliegenden 
Schnitten gelegen. Im übrigen gleicht der Schnitt in seinen 
allgemeinen Bauverhältnissen dem ersten. Der getroffene Seiten- 
teil der Embryonalanlage ist durchgängig dreiblätterig; nur 
unmittelbar vor dem Eingang in den Allantoisgang bei x ist 
eine kleine Unterbrechung in dem Zusammenhange des Meso- 
derm angedeutet. Die Stelle ist der Seitenrand der in unserer 
Schnittreihe im ganzen sehr wenig ausgesprochenen, aber doch 
vorhandenen Cloakenmembran. 

Ich habe ebenso wie Grosser aus den Befunden der 
gesamten Schnittreihe eine schematische Figur konstruiert, die 
einen Medianschnitt durch den Embryo wiedergeben soll (Text- 
figur a). 

Die Figur soll in erster Linie die Ausdehnung des Chorda- 
kanals illustrieren; ferner die in seiner Mitte gelegene erste 
ventrale Öffnung, seine Beziehung nach hinten zum Primitiv- 
streifen sowie das Auslaufen des Kopffortsatzes nach vorn im 
Entoderm. Die Cloakenmembran ist in dieser Figur etwas sche- 
matisiert, sie tritt an den schrägen Schnitten nicht mit solcher 
Deutlichkeit hervor, wie in der Figur. Hinter ihr geht der 
Allantoisgang in den Haftstiel, der ausserdem den Durchschnitt 
des Amnionganges enthält. 

Wenn ich mein Schema mit demjenigen von Grosser 
vergleiche, so ergibt sich doch eine Reihe von Unterschieden. 
Der Knick am vorderen Körperende, den Grosser zeichnet, 
fehlt hier. Das würde heissen, dass bei unserem Präparat 


Anatom, Hefte. 1. Abt. 162. Heft (54. Bd. H. l). Tafel 7. 


Fig. 1. 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


mabBlesivl in same. 


Fr 


b nu7 4:07 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 121 


die Abhebung des vorderen Körperendes aus der Fläche der 
Keimblätter noch nicht begonnen, an dem Präparat von 
Grosser aber schon eingesetzt hat. | 

Den Umschlagrand vom Ectoderm der Medullarplatte in 
die dorsale Wand des Chordakanals glaube ich etwas anders 


zeichnen zu sollen als Grosser. 


ER N 


N \ N 
N %; ] 
N . Sa na a Bnese nu 
\ x N a4 RN 30 
N ji 
N H 


Fig. a. 


Am Eingang in den Allantoisgang schiebt sich bei dem 
Präparat von Grosser eine Falte von Entoderm und Darm- 
faserplatte vor diesen, die ich hier vermisse; hier ist ein ganz 
gleichmässiger Trichter vorhanden. 

Der Amniongang ist viel weniger entwickelt, der Chorion- 
gang fehlt ganz; was beides wohl unzweifelhaft mit der grossen 
Variationsbreite dieser beiden Gebilde zusammenhängt. 

Der distale Nabelblasenfaden, der in dem Grosserschen 
Präparat noch sehr ausgesprochen vorhanden ist, fehlt hier 
bereits. Wenn man sich der von Beneke und mir (Strahl 


122 H. STRAHL, 


und Beneke, Ein junger menschlicher Embryo. Wiesbaden, 
Bergmann, 1910) gegebenen Auffassung über die Differenzierung 
der menschlichen Fruchtblase aus der Morula anschliesst, so 
ist der Nabelblasenfaden und dessen Verbindung mit der Innen- 
wand des Chorion eine stets vorkommende und normale Ent- 
wickelungserscheinung, die unter Rückbildung des Fadens sehr 
rasch vergeht. Die Rückbildung ist hier bereits vollendet, bei 


dem Präparat von Grosser noch im Gange. 


Bei Grosser (auch bei Eternod, Anat. Anz. Bd. 15, 
S. 184, Fig. 1) setzt sich das hintere Amnionende ausgesprochen 
in den Haftstiel fort, bei unserem Präparat nicht. 


Die gesamten Konturverhältnisse sowohl des Amnion wie 
diejenigen des Embryonalkörpers sind bei dem Präparat von 
Grosser etwas verbogen, was wohl mit dem Bruch des 
Präparates und den hierdurch verursachten Störungen zu- 
sammenhängen mag. Ich halte in dieser Beziehung die Schnitt- 
bilder von meinem Präparat für mehr dem natürlichen Bau 
entsprechend. 

Das wären im ganzen die Unterschiede, die ich gegenüber 
Grosser zu verzeichnen hätte; ich will aber nochmals be- 
sonders hervorheben, dass ich sie nahezu alle durch eine in- 
dividuelle Variationsbreite im Entwickelungsgang des mensch- 
lichen Embryo erkläre. 


Mit einem Worte möchte ich noch auf den Entwickelungs- 
gang des mittleren Keimblattes am vorderen Embryonalende 
zu sprechen kommen. Wenn ich auf die Darstellung von dessen 
Ausbreitung bei Strahl und Beneke verweise, so brauche 
ich kaum besonders hervorzuheben, dass ich den Kopffortsatz 
und 'somit die Wand des Chordakanals als Mesoderm bezeichne. 
Ich bitte in dieser Beziehung auch die Diskussion zu meinem 
Vortrag auf der Anatomen-Versammlung zu Innsbruck zu ver- 


gleichen. 


Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 123 


Nimmt man, wie ich das tue, trotzdem es einstweilen 
durch das Präparat noch nicht erwiesen ist, an, dass die erste 
Bildung des Mesodermes in der Fruchtblase des Menschen 
und der ihm in der Entwickelungsform nahestehenden Säuger 
nicht lediglich vom Primitivstreifen aus als Ectodermwuche-, 
rung statthat, sondern dass das mittlere Keimblatt auf weite 
Strecken durch unmittelbare Differenzierung aus der Morula 
hervorgeht, so lässt sich denken, dass Kopffortsatz und das 
präembryonale Mesoderm ursprünglich einheitlich sein könnten. 
Aber selbst wenn das der Fall wäre, so müsste sehr bald eine 
Trennung dieser Teile eintreten; denn in einem Stadium, wie 
dem vorliegenden, sind beide sicher voneinander geschieden 
und der Kopffortsatz läuft mit seiner Spitze, wie allgemein 
bei den Embryonen der amnioten Wirbeltiere in gewissen Ent- 
wickelungsstadien, im Entoderm aus, ohne unmittelbaren Zu- 
sammenhang mit dem präembryonalen Mesoderm. 

Eine vollkommene Rekonstruktion des kleinen Embryo, 
die in mehr als einer Beziehung wünschenswert wäre, bin ich 
aus äusseren Gründen im Augenblick nicht zu machen in der 
Lage; vielleicht lässt sich eine solche aber späterhin noch 
nachholen. 

Das Stadium der Entwickelung des menschlichen Embryo, 
das ich vorstehend beschrieben habe, möchte es nahelegen, 
an dieser Stelle auch die viel umstrittene Frage nach dem 
Gastrulationsvorgang bei den Säugern, die ja neuerdings von 
verschiedenen Seiten her angeschnitten ist, zur Erörterung zu 
bringen. 

Aus den gleichen Gründen, die es mir bei früheren ähn- 
lichen Gelegenheiten wünschenswert erscheinen liessen, hier- 
von abzusehen, verzichte ich auf eine allgemeine Erörte- 
rung des Problems aber auch diesmal. Ich glaube auch jetzt 
nicht, dass wir in der Kenntnis der Tatsachen so weit sind, 


dass wir einen solchen Versuch mit der Aussicht unternehmen 


124 H. STRAHL, 


könnten, dass er allgemeine Anerkennung finden müsste. Ich 
glaube das insbesondere, wenn ich den letzten dieser Art von 
C. Rabl (Edouard van Beneden und der gegenwärtige 
Stand der wichtigsten von ihm behandelten Probleme. Arch. f. 
mikr. Anatomie, Bd. 88) hier erwähne. Gerade diesen aber 
ohne eine Besprechung zu übergehen, halte ich nicht für an- 
gebracht; wenn ich auch nicht auf alle Einzelheiten der um- 
fangreichen Arbeit eingehe, so doch auf einiges und namentlich 
auf den Teil der Darstellung, in welchem Rabl mich selbst 
in seine Diskussion hineingezogen hat. 

Rabl hat, einem letztwilligen Wunsche E. van Bene- 
den’s folgend, dessen Arbeiten einer kritischen Analyse unter- 
zogen; im Anschluss an diese gibt er eine Übersicht über aus- 
gedehnte eigene Untersuchungen von frühen Entwickelungs- 
stadien der Kaninchen-Fruchtblase und, neben manchem anderen, 
eine erneute, ganz allgemeine Erörterung über das Gastru- 
lationsproblem bei Wirbellosen und Wirbeltieren. Er geht bei 
diesen Erörterungen mit Lebenden und Toten in strenger Weise 
ins Gericht. Ich möchte vermuten, dass ihm auch von anderer 
Seite entgegnet werden wird und mich, wie gesagt, an dieser 
Stelle im ganzen auf eine Behandlung solcher Teile der Arbeit 
beschränken, die mich persönlich angehen und Arbeitsgebiete 
berühren, in denen ich vor vielen Jahren mit grossem Interesse 
tätig gewesen bin, die ich auch seitdem nie ausser Augen ge- 
lassen habe. Dass dabei auch allgemeine Fragen nicht um- 
gangen werden können, ist ohne weiteres verständlich. 

Nicht, als ob ich hoffen zu dürfen glaubte, dass Rabl 
sich etwa durch meine Erörterungen gerade über solche in 
seinen Anschauungen wird beirren lassen; ich habe nach dem 
Studium seiner Arbeit den Eindruck, dass er so fest in seinen 
Auffassungen steckt, dass das einstweilen und von mir schwer- 
lich zu erreichen ist; würde mich natürlich freuen, wenn ich 
mich irrte. Aber die Erörterungen über das Gebiet sind ja mit 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 125 


Rabl’s Arbeit nicht abgeschlossen und vielleicht kann doch 
einer oder der andere der späteren Arbeiter auch das benützen, 
was wir hier bringen. 

Zum Teil, nicht ausschliesslich, ist die Gastrulationsfrage 
eine solche der Terminologie; man streitet sich um diese, 
aber auch um Fragen über die Entwickelungsvorgänge selbst, 
die der Terminologie zugrunde liegen und alles andere als 
geklärt sind; und endlich wohl auch um die grundsätzliche 
Frage nach der sachlichen und begrifflichen Bedeutung der 
Homologie in der Tierreihe. 

Wer heute somit in die Erörterung der Gastrulationsfrage 
eingreifen will, muss bei dem Durcheinander der Meinungen 
meines Erachtens zunächst klarlegen, was er selbst unter 
Gastrulation versteht. 

Und ehe ich das von mir aus tue, möchte ich doch hervor- 
heben, dass für die Definition nur der historische Standpunkt 
massgebend sein kann. Es ist ganz unmöglich, eine sach- 
gemässe Erörterung — ganz allgemein — über wissenschaft- 
liche Fragen zu führen, wenn sich die Autoren über die Grund- 
lagen für eine verständige Terminologie nicht klar sind. 

Es ist schon eine Erschwerung der Verhandlungen, aber 
immerhin noch erträglich, wenn ein Teil — morphologisch — 
oder ein Vorgang — physiologisch, genetisch — von dem nach- 
kommenden Autor anders bezeichnet wird, als von dem voraus- 
gehenden. Da wird dann ein neuer Terminus technicus ge- 
schaffen, meist ja wohl in dem Wunsch, durch den neuen 
die Bedeutung von Objekt und Terminus klarer zum Ausdruck 
zu bringen, als durch den alten. 

Das Endergebnis kann dann sein, dass wir für den gleichen 
Gegenstand — wie in unserer alten anatomischen Terminologie 
— drei oder vier verschiedene Namen haben. 

Ganz unerlaubt und unmöglich und unzweifelhaft teil- 
weise, nicht allein, Schuld an dem Durcheinander in der Gastru- 


126 H. STRAHL, 
lationsfrage ist es, wenn der Nachkommende den vorhandenen 
Terminus aufnimmt, aber in anderem Sinne gebraucht, als er 
geschaffen ist. Dann ist die Verwirrung natürlich unvermeidlich. 

Betrachtet man von diesem Gesichtspunkte aus die Frage 
der Gastrulation, so ist ja allbekannt, dass der grundlegende 
Terminus von Haeckel herrührt. Freilich ist dabei zu be- 
rücksichtigen, dass Haeckel zunächst nicht den Bildungs- 
vorgang, sondern das fertige Objekt definiert, nicht die Gastru- 
lation, sondern die Gastrula. 

Von Haeckels Darstellungen möchte ich einige, die mir 
besonders wesentlich scheinen und von denen einzelne deshalb 
oft zitiert sind, anführen. 

In seiner Gastraea-Theorie definiert Haeckel (Die 
Gastraea-Theorie; Jen. Z. f. Naturw. Bd. VIII, 1874 1. c. S. 15) 
die Gastrula als: einen einachsigen hohlen Körper ohne An- 
hänge, dessen einfache Höhle (Urdarm) sich an einem Pole der 
Achse durch eine Mündung öffnet (Urmund) und dessen Körper- 
wand aus zwei Zellenschichten oder Blättern besteht: Ento- 
derm oder Gastralblatt und Exoderm oder Dermalblatt. 

In seiner Anthropogenie sagt er (Haeckel, Anthropo- 
genie, III. Aufl., 1877, S. 187): „Der Mensch und alle anderen 
Thiere, welche in ihrer ersten individuellen Entwickelungs- 
Periode eine zweiblätterige Bildungsstufe oder eine Gastrula- 
Form durchlaufen.“ 

Später trennt er verschiedene Gastrulaformen; so 
(Haeckel, Ursprung und Entwickelung der tierischen Ge- 
webe. Jen. Z. f. Naturw. Bd. XVIII, 1884, Sonderabzug S. 33) 
scheidet er Leptogastrula und Pachygastrula, wobei er die 
Untersch.ede als solche in der Form der beiden primären 
Keimblätter sucht. 

Falls man also nach Haeckels Terminologie die Gastru- 
lation (definieren will, so kann man das doch wohl nur so tun, 
dass man sagt: 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 127 


Wenn man die oben geschilderte Entwickelungsform als 
Gastrula bezeichnet, so ist zu nennen: 

Gastrulation der Vorgang in der Entwickelung von Meta 
zoen, der zur Bildung eines einachsigen hohlen Körpers ohne 
Anhänge führt, dessen einfache Höhle (Urdarm) sich an einem 
Pole der Achse durch eine Mündung öffnet (Urmund) und 
dessen Körperwand aus zwei Zellenschichten oder Blättern 
besteht: Entoderm oder Gastralblatt und Exoderm oder Der- 
malblatt. 

An diese Definition möchte ich mich halten. 

Wer heute zu der Frage nach „Gastrula“ und „Gastru- 
lation‘‘ bei Wirbeltieren Stellung nehmen will, der muss meines 
Erachtens logisch so vorgehen, dass er erörtert: 

1. Kommt der Entwickelungszustand, der zuerst mit dem 
der Gastrula bei Wirbellosen (und etwa bei Amphioxus) be- 
zeichnet ist, in der gleichen Form bei den Wirbeltieren allge- 
mein Vor? 

2. Wenn, wie natürlich, diese Frage verneint wird: Kommt 
bei den Wirbeltieren ein Entwickelungszustand vor, der wenig- 
stens teilweise objektive Übereinstimmungen mit dem Gastrula- 
stadium der genannten Tiere aufweist? 

3. Wenn diese Frage bejaht wird, dann wäre zunächst 
ebenfalls objektiv festzustellen, worin diese Übereinstimmungen 
bestehen und inwieweit Abweichungen vorhanden sind. 

4. Erst dann wäre zu erörtern, nicht, was bei den Wirbel- 
tieren Gastrula bzw. Gastrulation ist, sondern ob wir diesen 
oder jenen Entwickelungszustand bzw. Entwickelungsform als 
Gastrula bezeichnen sollen, beziehungsweise, wie weit wir von 
einer Homologie reden wollen, was natürlich eine rein sub- 
jektive Angelegenheit ist; wobei man, wie das unten geschehen 
ist, sich nicht in der Reihenfolge der Darstellung, sondern 
nur dem Gesamt-Inhalt nach an obige Zusammenstellung zu 


binden braucht. 


128 H. STRAHL, 


Anmerkung: Wegen des Terminus „homolog‘“ möchte ich auf Spe- 
manns Aufsatz „Zur Geschichte und Kritik des Begriffs der Homologie (Die 
Kultur der Gegenwart. Teil 3. Abt. 4. Bd. 1. S. 63) verweisen, der aller- 
dings mit der wenig tröstlichen Ausführung abschliesst: „Es scheint also, 
dass der Homologiebegriff in der Fassung der historischen Periode sich unter 
unseren Händen auflöst“ (S. 83). 


Immerhin scheint mir, dass man mit der ursprünglichen Definition des 
Begriffes auch heute noch operieren kann. „Als homolog bezeichnete man 
ursprünglich formal gleichwertige Körperbezirke zweier nach gleichem Grund- 
plan gebauter Organismen“ und „homolog heisst soviel wie morphologisch 
gleichwertig“ sagt Spemann |. ce. S. 63. 

Die Definition an sich erscheint mir durchaus klar. Das subjektive 
Moment, das man in sie hineinbringt, ist gegeben dadurch, dass man eben 
verschiedener Meinung darüber sein kann, ob zwei Dinge morphologisch gleich- 
wertig sind oder nicht. 

Für die) Termini „ist“ und „bezeichnen“, an die sich vielleicht auch 
eine Erörterung knüpfen könnte, wäre zu vermerken, dass man den ersteren 
anwenden mag für Dinge, die so weit festgestellt sind, dass sie ausserhalb der 
Diskussion stehen und sich allgemeiner Übereinstimmung erfreuen; für das, 
was zweifelhaft ist, wäre wohl meist der zweite besser. 

Das würde für mich die Grundlage der nachstehenden 
Erörterungen abgeben. Bei dieser mögen zunächst einiges All- 
gemeine Erledigung finden. Ich schicke ım übrigen voraus, 
dass, wie ich bereits bemerkte, für mich heute nicht die 
gesamte Behandlung des Gastrulationsproblemes in Frage 
kommt, sondern nur meine Stellung zu Rabl’s Auffassung 
desselben. 

Soweit mir bekannt, hat Haeckel selbst an seiner 
Definition später etwas Grundlegendes nicht geändert (sollte 
ich bei der grossen Literatur nach dieser Richtung etwas 
übersehen haben, so würde ich das bedauern, vermag es aber 
im Augenblick nicht zu ändern). 

Und wenn das richtig ist, so ist doch wohl klar, dass 
für ihn in der Terminologie der Schwerpunkt in der Bildung 
von Ectoderm und Entoderm gelegen hat, und zwar von dem- 
jenigen Entoderm, das später hier das gesamte Epithel des 
Tubus digestorius liefert. Für die Formen, für welche er den 


Terminus zuerst geschaffen hat, ging diese Bildung auf dem 


an Vin Meere eerre eee ” 


Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 129 


Wege einer Invagination vor sich. Dabei ist es aber meines 
Erachtens zunächst ganz gleichgültig, ob die Teile, die hier 
gegeneinander verlagert werden, schon vor dieser Verlagerung 
determiniert sind oder nicht (s. u.). Was übrigens eine sub- 
jektive Auffassung ist, die auch früher schon viele Autoren 
gehabt haben, der manche sich wohl weiterhin noch an- 
schliessen werden, der aber Rabl widersprechen wird. 

Wie bekannt, hat dann über die Frage, wieweit die zu- 
nächst für Wirbellose als Gastrula beschriebene Entwicke- 
lungsform Allgemeinerscheinung sei, insbesondere ob und in 
welcher Form sich bei allen Wirbeltieren ein Entwickelungs- 
stadium findet, das man als Gastrula bezeichnen kann, die 
letzteı: Jahrzehnte hindurch eine ausgiebigste Erörterung statt- 
gefunden. 

Wenn es sich nun darum handelte, weiter zu homologi- 
sieren, d. h. die Formen, die hier bei niederen Tieren benannt 
waren, bei höheren wieder zu finden, so ist doch wohl ohne 
weiteres festzustellen, dass von einer vollkommenen Homo- 
logie nicht die Rede sein kann, sondern dass diese nur eine 
bedingte oder teilweise sein könnte. Sagt doch z. B. Bonnet 
(Entwickelungsgeschichte. 2. Aufl. Berlin 1912. S. 93): „Die 
Gastrulation der Amnioten ist rudimentär geworden und bei 
manchen Arten fast bis zur Unkenntlichkeit reduziert.“ 

Die Differenzen der Autoren in der Gastrulationsfrage 
gehen nach mehrfachen Richtungen auseinander: Zunächst nach 
einer subjektiven, indem die verschiedenen Autoren sehr ver- 
schiedener Meinung darüber sind, was man als wesentlich 
dafür ansehen soll, um die Teile, um deren Entwickelung 
es sich hier handelt, als homolog zu bezeichnen. Ich kann 
dabei für die historische Darstellung im allgemeinen auf 
Rabl’s ausführliche neue Übersicht verweisen und nur ein 
Beispiel herausgreifen, das durch Rabl’s Ausführungen be- 
sonders nahegelegt wird, das er selbst ständig polemisierend 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162 Heft (54. Bd., H. 1.) 9 


130 H. STRAHL, 
zitiert; den vielen anderen Arbeitern auf diesem Gebiete will 


ich damit historisch nicht irgend etwas vorenthalten. 


Hubrecht und Keibel legten bei ihren Beobachtungen 
über den Gastrulationsvorgang den Schwerpunkt auf die bei 


ihm ablaufende Bildung von Eetoderm und Entoderm. 


Rabl will davon nichts wissen; nach seiner Meinung 
sind Ecetoderm und Entoderm bereits vor dem Beginn der 
Gastrulation überhaupt und vor der etwa bei Reptilien und 
Säugern vorkommenden Invagination auf der dorsalen Seite 
des Keimes insbesondere determiniert und die Invagination, 
die er Gastrulation nennt, ist in erster Linie kein Differenzie- 
rungs-, sondern ein Wachstumsvorgang, „ein Vorgang, durch 
welchen gewisse bereits früher differenzierte Organanlagen in 
ihre definitive Lage gebracht werden“ (l. ec. S. 263, vgl. auch 
23 B2Sı 391). 


Dazu käme als Terminologiefrage z. B. weiter die von 
Rabl angeregte, ob die Auffassung von Hubrecht und 
Keibel über das, was man als Gastrulationsvorgang bei 
höheren Wirbeltieren bezeichnen soll, fallen müsse, wenn der 
Nachweis geliefert sei, dass auch nur ein Teil des Darm- 
epithels aus der Wandung der „dorsalen Einbuchtung‘“ entstehe. 
Über die Berechtigung dieser Forderung Rabl’s lässt sich 
ebenfalls streiten, der eine wird sie anerkennen, der andere 
bestreiten. 


Weit schwerer als diese Terminologiefragen wiegt, dass 
einstweilen nicht einmal eine Übereinstimmung darüber zu 
erzielen ist, wie in der Tat bei den Amnioten das Darmepithel 
sich anlegt. 

Dass es vollkommen durch Invagination aus der Wand 
eines Lieberkühnschen Chordakanales entsteht, wie es 
nach vollkommener Homologie mit niederen Formen der Fall 
sein müsste, mag selbst RabI nicht behaupten. 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 131 


Dass aber auch nur ein Teil auf diese Weise sich bildet, 
dafür ist meines Erachtens Rabl, der den Beweis dafür 
bringen will und für seine Theorie braucht, für die Objekte, 
die er ausführlicher behandelt (Reptilien und Säuger), diesen 
schuldig geblieben. Für die Entwickelung des Vogelembryo 
hat er ihn kaum versucht, hier würde es nach dem heutigen 
Stand unserer Kenntnisse bei einer Reihe von Formen auch 
ganz misslingen. 

In seinen Darstellungen über den Gastrulationsvorgang 
bei Säugern, mit deren Besprechung ich beginnen möchte, 
schliesst sich Rabl auf Grund eines sehr umfangreichen 
Materiales von jungen Entwickelungsstadien des Kaninchens 
und unter Hinweis auf vielfache frühere Mitteilungen den- 
jenigen Autoren an, welche bei Amnioten in dem Primitiv- 
streifen und den von ihm ausgehenden Kopffortsatz, in dem 
dann der Lieberkühnsche Chordakanal auftritt, das Homo- 
logon der Gastrulation niederer Wirbeltiere und Wirbelloser 
sehen. 

Für ıhn ist also denn auch der Binnenraum des Lieber- 
kühnschen Chordakanals, da, wo er, wie bei vielen Säugern 
und den Reptilien vorkommt, das Archenteron oder Urdarm- 
säckchen und die Zellen, die ihn auskleiden, bezeichnet er 
als den Entodermzellen etwa einer Amphioxus-Gastrula 
homolog. 

Das, was im zweiblätterigen Keim der Sauropsiden und 
Säuger die untere Zellschicht bildet, eine Lage, die ich mit 
den älteren, und immerhin noch manchen der heutigen 
Embryologen bei diesen Formen auch in der folgenden Dar- 
stellung als Entoderm bezeichne, ist für ihn im Anschluss 
an eine Reihe anderer Embryologen Paraderm oder Dotter- 
blatt (z. B. S. 340). 

Um die Homologie tunlichst und besser, als die Autoren 
vor ihm, begründen zu können, will Rabl nun zeigen, dass 


9* 


132 H. STRAHL, 


aus der Wandung des Chordakanals beim Kaninchen auch 
Epithel des Verdauungsrohres entsteht, wobei er selbst aller- 
dings sagt (l. c. S. 424), „das Epithel der Darmwand oder — 
wenn wir uns sehr vorsichtig ausdrücken — eines Teiles 
der Darmwand“. 

Er glaubt das nachweisen zu können, weil auf dem Quer- 
schnitt des eröffneten Chordakanals die in das Paraderm ein- 
geschaltete Wand des Kanals viel mehr Zellen enthalte, als 
für den Aufbau der Chorda verwendet werden können. 

Was er nachweisen will, indem er eine Reihe von Quer- 
schnitten verschiedener Altersstufen von Kaninchenembryonen 
nebeneinander stellt, die alle der gleichen Körperstelle — der 
Region des ersten Urwirbels — entnommen sind. 

Wenn eine Theorie richtig sein und Anerkennung finden 
soll, so muss sie doch wohl den Tatsachen der Beobachtung 
Rechnung tragen. Das tuen aber die Rablschen Anschauungen 
durchaus nicht ın dem Masse, dass sie zur Annahme seiner 
theoretischen Aufstellungen besonders ermutigen. 

Zunächst einmal erscheint mir die Behauptung von Rabl 
keineswegs zwingend, dass man bei Säuger- (Kaninchen-) Em- 
bryonen aus einem Vergleich entsprechender Querschnittstellen 
aus jüngeren und älteren Stadien, wie er sie hier untersucht 
hat, unmittelbar erschliessen könne, dass aus der Wand des 
Chordakanals nicht nur Chorda, sondern auch Darmepithel 
entstehe.e. Wohl ist richtig, dass an den von Rabl abge- 
bildeten Stellen der Querschnitt des eröffneten Chorda- 
kanals sehr viel mehr Zellen enthält als der Querschnitt der 
Chorda später an gleicher Stelle zählen lässt. Ebenso, was 
wir ja lange wissen, dass auf einem Querschnitt etwa durch 
die Mitte des eröffneten Chordakanals die Chordaanlage seit- 
lich nur mit dem Entoderm (Paraderm von Rabl) und nicht 
mit dem Mesoderm in unmittelbarem Zusammenhang steht. 
Aber das beweist keineswegs, dass der scheinbare Zellen- 


Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 133 


überschuss nun zum Darmepithel werden müsse. Auf dem 
Querschnitt sind ja freilich Chordaanlage und Mesoderm ganz 
scharf voneinander getrennt, aber nach hinten, gegen den 
Hensenschen Knoten hin, hängen diese Teile breit mit- 
einander zusammen. Es handelt sich im lebenden Embryo 
natürlich um verschiebbare Zellen; die können — falls wirk- 
lich Zellen aus der vermeintlichen Chorda-Anlage des jüngeren 
Stadiums in späteren herausgenommen werden — ganz gut 
nach hinten gegen den Hensenschen Knoten hin verschoben 
werden, ohne dass sie zum Aufbau des Darmepithels ver- 
wendet werden. 

Ich vermag selbstverständlich einstweilen nicht nachzu- 
weisen, dass das geschieht. Das ist aber für mich auch gar 
nicht notwendig, sondern notwendig ist zunächst nur, zu zeigen, 
dass die Beweisführung von Rab| nicht zwingend ist. 

Dazu kommt ein weiteres. Wir wissen gar nicht, ob dem 
in der Tat mesodermal angelegten Kopffortsatz nicht auch 
zeitweilig Entodermzellen beigefügt werden. Bei Säugern (und 
auch bei Sauropsiden, wenigstens bei Reptilien) verbindet sich 
die Spitze des Kopffortsatzes sehr ausgiebig und lange mit 
dem Entoderm; auch hier ist der Nachweis eines Zellen- 
austausches zwischen Entoderm und Mesoderm einstweilen 
nicht zu erbringen. Die Möglichkeit, dass etwa in diesen 
Stadien Zellen aus dem Entoderm in das Mesoderm . über- 
wandern, die später zurückwandern, ist aber nicht zu be- 
streiten. | 

Man vergleiche doch nur Rabl’s eigene Figuren z. B. 
Taf. 5 Fig. 7, 8, Taf. 6 Fig. 1, 2, die den übrigens seit langem 
bekannten Zusammenhang der Spitze des Kopffortsatzes mit 
dem Entoderm für junge. Stadien ganz ausgesprochen zeigen, 
wobei noch darauf hinzuweisen ist, dass die einzelnen Säuger- 
formen in dieser Beziehung nicht einmal übereinstimmen. 

Wie er sich die ersten Anlagen für Nervensystem, Chorda, 


134 H. STRAHL, 


Paraderm, Mesoderm in dem Flächenbild bei der jungen Area 
embryonalis der Säuger determiniert denkt, gibt Rabl S. 446 
in einem Schema wieder. 

Das was er da von der topographischen Anordnung der 
Teile in der ganz jungen Säugetierfruchtblase zeichnet, soll ja 
wohl nicht mehr sein, als eine subjektive Darstellung seiner 
Auffassung über die spätere Verwendung des Materiales in dem 
Embryonalknoten. Dass sie durch die Beobachtungen gestützt 
ist, möchte ich bestreiten. Zunächst haben wir einstweilen 
kaum eine Vorstellung davon, ob und wie weit sich beim 
lebenden Embryo Zellgruppen oder einzelne Zellen gegen- 
einander verschieben können; ob sie in grösseren Bezirken 
festgelegt sind, oder ob und wie weit sie wandern. 

Und selbst wenn man annehmen will, dass sie nicht 
wesentlich wandern, stimmt die Felderung, die Rabl als 
Schema für die topographische Gliederung der Anlagebezirke 
eines placentalen Säugetieres gibt, kaum mit den Tatsachen 
der Beobachtung, wenigstens nicht, wenn ich den Terminus 
„Anlagebezirk“ im allgemein sprachlichen Sinne gebrauche. 

Es ıst keinem Zweifel unterworfen, dass der Primitiv- 
streifen, nachdem er voll angelegt ist, sich während seiner 
weiteren Entwickelung verkürzt. Sein hinteres Ende ist durch 
die Stelle der Cloakenmembran festgelegt; wir haben keinen 
Anhalt dafür, dass sich diese etwa nach vorn verschöbe. Die 
Verkürzung des Primitivstreifens, die ja auch Rabl selbst 
abbildet, kann also nur vor sich gehen durch eine Umwand- 
lung seines jeweils vorderen Endes. Hier muss, genau wie 
ich es früher für Reptilienembryonen beschrieben habe, eine 
Differenzierung des bis dahin für unser Auge undifferenzierten 
Materiales des Primitivstreifens stattfinden. Es muss sich 
Mesoderm vom Ectoderm trennen, muss also sich Primitiv- 
rinne in Medullarrinne umwandeln und aus den Zellen, die 


in der Medianlinie unter ihr liegen, muss sich hinterer Ab- 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 135 


schnitt der Chorda herausdifferenzieren, ein Teil der Chorda, 
der auch niemals in das Entoderm eingeschaltet wird. Wenn 
das auch nicht unmittelbar zu beobachten wäre, so ist es 
meines Erachtens ein ganz zwingender Schluss aus einer Ver- 
gleichung der jungen Entwickelungsstadien mit den älteren. 
Und dann ist, um nur eines herauszugreifen, die Anlage der 
Chorda in der Flächenansicht nicht auf den Teil beschränkt, 
den Rabl hierfür angibt, sondern reicht erheblich weiter 
nach hinten. Und noch viel weniger ist der Nachweis zu 
erbringen, dass aus dem mit En bezeichneten Abschnitt des 
Flächenbildes sich auch nur Teile des Darmepithels anlegen. 

Noch augenfälliger als beim Kaninchenembryo lassen sich 
die Irrtümer Rab1’s über diese Wachstumsverhältnisse meines 
Erachtens bei den entsprechenden Entwickelungsstadien der 
Reptilien zeigen. Ich komme alsbald auf diese zurück. 

Rabl beschränkt sich nämlich, wie oben erwähnt, in 
seinen Erörterungen über den Gastrulationsvorgang nicht auf 
die Säuger, wenn er auch wesentlich für diese über eigene 
Untersuchungen berichtet; er zieht auch die anderen Wirbel- 
tiere in den Bereich seiner Betrachtungen. 

Insbesondere erfahren die Reptilien eine sehr eingehende 
Erörterung. Da mir die fraglichen Stadien aus meinen. früheren 
Arbeiten über Reptilienentwickelung nicht ganz unbekannt sind, . 
so dari ich auch auf diesen Teil der Rablschen Arbeit wohl 
etwas näher eingehen. 

Rabl vertritt, wıe oben gesagt, ganz allgmein die An- 
sicht, dass sich einzelne Abschnitte der späteren Entwicke- 
lungsstadien topographisch in ganz frühen Zeiten nachweisen 
lassen, dass die Keime frühzeitigst determiniert sind. Wie 
das bei Reptilien der Kall sein soll, hat er — |. ce. Taf. II 
Fig. 14, 15, 16 — in Kopien von Schnittbildern von Will 
und Mitsukuri eingetragen; in erster Linie, wie er sich 
vor und bei Beginn der Einbuchtung des Canalis neurentericus 


136 H. STRAHL, 


und dann bei dessen weiterem Wachstum in der Wand des 
Kanals Chorda, Darmepithel, Mesoderm und Entoderm topo- 
graphisch verteilt denkt. Desgleichen hat er ebenso wie für 
die Säuger so auch hier in einem Schema der Flächenansicht 
einer Area embryonalis eines Reptils (l. c.. S. 339) die An- 
lagebezirkc von Chorda, Nervensystem, des Mesoderm und 
seines Entoderm eingezeichnet. 2 

Nun sind die hier niedergelegten Anschauungen von Rabl 
nicht nur unbewiesen, sondern meines Erachtens für jeden, 
der die von Rab] zitierten Stadien aus eigener Erfahrung 
kennt, noch weniger möglich als seine Schemata für den 
Gastrulationsvorgang bei Säugern. Zunächst irrt Rabl auch 
für Reptilien, wenn er annimmt, dass die Anlage der Chorda 
auf den vor dem Eingang in den Canalis neurentericus ge- 
legenen Embryonalbezirk beschränkt sei. Auch aus den Zellen, 
die hinter dieser Stelle sich befinden, Rabl zeichnet sie in 
seiner Figur 16 in rotem Farbenton, wird späterhin sicher- 
lich in der Medianlinie Chorda. Ja aus den oberen Abschnitten 
des roten Bezirkes, den Rabl als Mesoderm bezeichnet, wird 
nachher ein hinterer Abschnitt des Medullarrohres; ferner 
Allantois mit ihrem entodermalen Epithel. Ich habe diesen 
Abschnitt früher als Endwulst bezeichnet; er wird zum hinteren 
Körperende —- Allantois. Durch das hintere Körperstück ver- 
schiebt sich in späterer Entwickelungszeit der Canalis neur- 
entericus nach hinten unter Differenzierung des Endwulstes 
zu Rückenmark und Chorda in der Mitte und Urwirbeln an 
der Seite; und der ganze letzte Abschnitt des Durchschnittes 
wird später zur Allantois, indem sich in seiner Mitte Ento- 
derm, zunächst ganz unabhängig vom übrigen Darmepithel, 
ditferenziert. 

Und wenn man Rabl den Beweis dafür zuschieben wollte, 
dass aus dem blau gezeichneten Abschnitt des Bodens des 


Canalis neurentericus das Epithel des Verdauungsrohres oder 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 8, 


Fig. 2. 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 137 


auch nur ein Teil dieses entstehen soll, so dürfte ihm dieser 
kaum gelingen. 

Soweit ich aus meinen, ja jetzt lange Jahre zurück- 
liegenden Beobachtungen entnehmen zu können glaube, wird 
der untere Abschnitt des Kanals nach hinten zurückgezogen 
und in den Endwulst aufgenommen. Der Irrtum Rabls rührt 
wohl daher, dass ihm die Kenntnis dieser Stadien aus eigenen 
Präparaten, wie er selbst sagt (l. c. S. 337), fehlt und dass 
er nur mit fremden Bildern operiert. Und für diese kann 
ich ihm den Vorwurf nicht ersparen, dass er aus deren Fülle 
solche herausgreift, die ihm für seine Theorie zu sprechen 
scheinen, andere, die das nicht tuen, fortlässt. Eine Theorie 
sollte aber doch auf alle richtig beschriebenen Objekte und 
nicht nur auf einen Teil dieser passen. 

Ich weiss nicht, ob und wie weit Rabl aus der Literatur 
auch die Querschnitte durch den Canalis neurentericus der 
Reptilien aus frühen Entwickelungsstadien in den Kreis seiner 
Betrachtungen gezogen hat. Das müsste ihm doch zeigen, wie 
z. B. unmittelbar aus der Seitenwand desselben Mesoderm 
entsteht, das später Urwirbel bildet, dass jedenfalls der Quer- 
schnitt des Embryo an solchen Stellen ein vollkommen anderes 
Bild bietet, als etwa ein Amphibienembryo gleichen Stadiums 
an gleicher Stelle, d. h. dass eben neben anderen Stellen 
auch die Umgebung des Canalis neurentericus wesentliche 
Unterschiede zwischen Anamniern und Amnioten aufweist. 

Und wer etwa die kleinen, in ihrer Darstellung ja ganz 
schematisch gehaltenen, aber nach Präparaten gezeichneten 
Schnittreihen aus meiner Arbeit „Über Wachstumsvorgänge 
an Embryonen von Lacerta agilis“ (Abhandl. der Sencken- 
bergs naturf. Ges. Frankfurt a. M. 1884) vergleicht, der kann 
aus diesen wirklich nur ablesen, dass ein Darmepithel min- 
destens in der vorderen Hälfte des Embryo nur aus dem 


Paraderm Rabls, dem Entoderm der älteren Autoren, ent- 


138 H. STRAHL, 


stehen kann und dass für die Entstehung auch nur eines 
Bruchteiles desselben aus irgend einem Teil der Wand des 
Canalis neurentericus auch nicht die Spur eines Nachweises 
zu erbringen ist. 

Ich kann da aus meinen Bildern auch heute nur heraus- 
lesen, dass in dem späteren Kopfteil des Embryo der in diesem 
selegene Teil des Tubus digestorius (abgesehen natürlich vom 
Mundraum) sein Epithel vom Entoderm (Paraderm Rabl’s) 
bekommt, und dass auf diesem sich die Spitze der meso- 
dermal entstandenen Chorda in zeitweilig sehr engem Zu- 
sammenhang nach vorn schiebt. 

Der Zusammenhang zwischen mesodermalem Kopfforisatz 
und dem Entoderm ist hier, wie bei Säugern, so enge, dass 
man die Lagen zeitweilig nicht voneinander scheiden kann; 
es ist in dieser Zeit unmöglich, mit Bestimmtheit zu sagen, 
was von den Zellen dem Mesoderm, was dem Entoderm an- 
gehört. 

Der Nachweis aber, dass dieser Teil des Kopffort- 
satzes teil an dem Aufbau des Darmepithels nimmt, wie das 
Rabl’s Theorie verlangen würde, ist weder aus diesen, noch 
aus den anschliessenden von mir ebenfalls recht ausgiebig 
untersuchten Stadien zu erbringen. 

Und wenn das für die verhältnismässig klaren Entwicke- 
lungsstadien der Reptilien gilt, so muss ich, wenn ich den 
Ausführungen Rabl’s über die Deutung der im ganzen doch 
viel schwieriger zu beurteilenden Säugetierembryonen in bezug 
auf eme Verwendung der Wand des Chordakanals zum Aufbau 
des Darmes folgen soll, besseres Beweismaterial verlangen, 
als es Rabl bis dahin zu geben in der Lage ist. 


Jedenfalls möchte ich noch einmal hervorheben, dass 
weder das Schema, welches Rabl für die Flächenansicht des 


Säugetieres gibt, noch das für die Reptilien richtig sein kann. 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 139 


In dem Bezirk, den Rabl mit Ent. bezeichnet, ist bei beiden 
Formen sicher noch Material für die Anlage der Chorda und 
des Medullarrohres — auch von Urwirbeln — enthalten, das 
mit der Differenzierung des Primitivstreifens entwickelt wird. 

Bei dieser mehr als bedenklichen Unterlage für eine Dis- 
kussion über das Gastrulationsproblem bei Amnioten halte ich 
eine solche heute kaum für fruchtbringend, jedenfalls nicht, 
solange eine Einigung über wenigstens die grundlegenden 
Fragen nicht erzielt ist. 

Erst wenn diese vorhanden wäre, liesse sich, meiner per- 
sönlichen Auffassung nach, die ja natürlich auch eine sub- 
jektive ist, vernünftigerweise darüber diskutieren, nicht, was 
etwa bei Reptilien und Säugern Gastrulation ist — wie wir 
das heute leider so vielfach in der einschlägigen Literatur aus- 
gedrückt finden —, sondern was wir bei den Embryonen dieser 
Wirbeltierformen als Gastrulation bezeichnen sollen. 

Darüber, dass eine volle Homologie im Gastrulations- 
vorgang in der Wirbeltierreihe nicht vorhanden ist, kann, wie 
oben gesagt, doch wohl kaum ein Zweifel obwalten; und wenn 
das nicht der Fall, so käme wieder die Frage, wann man 
noch von einer Gastrulation reden soll und wann nicht, was 
natürlich dann die reine Terminologiefrage wäre, für deren 
Entscheidung irgend ein objektiver Anhalt nicht vorhanden ist. 

Ich verfehle weiter nicht, darauf hinzuweisen, dass offen- 
bar die Übertragung der Theorie Rabl’s auf die Entwickelungs- 
erscheinungen, wie sie im Vogelei ablaufen, noch weit mehr 
Schwierigkeiten macht, als ihre misslungene Durchführung für 
Säuger und Reptilien. 

Rabl erledigt dementsprechend diese Frage auch mit 
wenigen Worten. Ich möchte mich dem insoweit anschliessen, 
als auch ich mich darauf beschränke, festzustellen, dass einst- 
weilen nicht davon die Rede sein kann, dass bei Vogel- 
embryonen als Allgemeinerscheinung in der Entwickelung sich 


140 H. STRAHL, 


die Anlage des Darmepithels durch Einbuchtung von der Ecto- 
dermseite her nachweisen liesse. 

Übrigens möchte ich doch nicht verfehlen, auch darauf 
hinzuweisen, dass selbst bei Anamniern die Vorgänge, die 
zur Bildung der Keimblätter sowie diejenigen, die zur Anlage 
des Blastoporus führen, nicht nach einem einheitlichen Schema 
verlaufen. Das lehren für Amphibien z. B. die schönen Unter- 
suchungen von Brauer über Hypogeophis (Beiträge zur Kennt- 
nis der Entwickelungsgeschichte und der Anatomie der Gym- 
nophionen. I. Spengel’s Zool. Jahrb. Bd. X. 1897), bei dem 
die Bildung !der Keimblätter in einer Form sich abspielt, die 
sicher eigenartig und anders ist, als bei vielen sonstigen 
Amphibien, die gar nicht auf Rabl’s Vorstellungen passt. 
Auch Alytes zeigt nach den Untersuchungen von Gasser 
und Seemann (vgl. Seemann, Über die Entwickelung des 
Blastoporus bei Alytes obstetricans. Anat. Hefte. Heft 100. 
1907) gegenüber anderen Amphibien recht wesentliche Eigen- 
arten in der ersten Entwickelung. 

Am Schlusse seiner Ausführungen bespricht Rabl auch 
die von mir und Beneke gegebene Bearbeitung eines jungen 
menschlichen Embryo. Ich habe damals im Anschluss an die 
Schilderung der Schnittpräparate und Rekonstruktionen ver- 
sucht, in einer Reihe von schematischen Figuren niederzu- 
legen, wie man sich die Stadien, die wir untersucht haben, 
entstanden denken könne. Rabl findet diese Schemata wenig 
glücklich und stellt in Aussicht, dass er bessere liefern könne. 
Ich würde mich ım Interesse der Sache freuen, wenn das ge- 
schehen sollte; einstweilen habe ich aber keine Veranlassung, 
auf die Einwürfe von Rabl hin meine Schemata zu ändern. 
Sie geben mir auch jetzt noch einen Weg an, wie man sich 
die bekannten Entwickelungsformen des menschlichen Embryo 
aus einstweilen unbekannten Stadien entstanden denken kann. 


Etwas Weiteres beanspruche ich für die Figuren nicht; wenn 


Über einen jungen menschlichen Embryo ete. 141 


wir, was ich für bald erhoffe, auch die noch fehlenden Stadien 
der menschlichen Entwickelung aus der Beobachtung kennen 
werden und sie zeigen sollten, dass meine Vermutung unrichtig 
war, so werde ich der erste sein, das anzuerkennen. Aber die 
Einwürfe Rabl’s veranlassen mich nicht zu einer Korrektur; 
dazu sind sie mir nicht gut genug begründet. Wenn Rab 
z. B. 1. ce. S. 458 sagt „alle bisher bekannten Fälle von 
jungen menschlichen Embryonen, vor allem auch der Beneke- 
Strahlsche, beweisen mit absoluter Sicherheit, dass auch 
beim Menschen, geradeso wie bei allen Placentaliern, das 
ausserembryonale Mesoderm früher entsteht, als das embryo- 
nale‘, so ist diese Fassung ganz unzweifelhaft falsch. Sie 
lassen einen solchen Vorgang vermuten, aber beweisen tuen 
sie gar nichts, dazu sind sie viel zu weit vorgeschritten. Und 
ich selbst habe das, was ich dort über diese Frage geschrieben 
habe, nur als die einstweilen einfachste Erklärung der Be- 
obachtungen, nicht aber als Beweis betrachtet wissen wollen. 
Das hätte Rabl, wenn er, wie er schreibt, durch freund- 
liches Entgegenkommen von Herrn Kollegen Beneke Ge- 
legenheit gehabt hat, die fraglichen Präparate durchzusehen, 
wohl selbst feststellen können. 

Ich fürchte übrigens, dass, wie für mich, so auch für viele 
der Fachgenossen eine Verständigung über das, was man als 
„bewiesen“ ansehen soll, mit Rabl nicht so ganz leicht sein 
wird. Ich persönlich verlange wenigstens von einem „Beweise“ 
in wissenschaftlichem Sinne, wie man aus obiger Darstellung 
entnehmen kann, etwas anderes und mehr als Rabl. So 
sagt er z. B. I. c. S. 256 und hebt das im Druck durch 
Sperrung besonders hervor: „Gerade die Tatsache, dass der 
Kopffortsatz mit dem „Entoderm‘“ verschmilzt, und dass sich, 
wenn ein solches vorhanden ist, sein Lumen mit der Höhle 
der Blastocyste vereinigt, beweist mit absoluter Sicherheit, 
dass er in irgend einer Beziehung zur Bildung des Darmes 


142 H. STRAHL, 


steht.“ Die „irgend eine Beziehung zur Bildung des Darmes“ 
ist so allgemein gehalten, dass sie uns zur Erkenntnis, 
die wir erstreben, nicht viel verhilft. Im übrigen beweist 
der Vorgang, soweit wir ihn beobachten, natürlich nur, dass 
der Kopffortsatz in Beziehung zur Bildung des Darmes stehen 
kann (vel. oben!); ob er es tut und namentlich in welcher 
Form, das wissen wir heute nicht, es muss erst nachgewiesen 


werden. 


Auch mit seiner Anschauung, dass Vorgänge, die uns nach 
„menschlichem Ermessen“ widersinnig erscheinen (1. ©. S. 263), 
in der Natur nicht abliefen, dürfte Rabl wohl kaum recht 
haben. Die Natur fragt bei ihrem Geschehen wirklich nicht 
viel danach, ob etwas unserem menschlichen Verständnis nach 
Sinn hat oder nicht, sondern wirkt nach anderen Grund- 
sätzen. 

Ich könnte noch mancherlei aus der Rabl’schen Arbeit 
einer Erörterung unterziehen, möchte meine Auseinander- 
setzungen aber doch nicht gar zu sehr ausdehnen. Sind sie 
mir doch unter der Feder schon länger geworden, als sie 
eigentlich beabsichtigt waren. Ich will es mir deshalb auch 
versagen, auf die übrige neuere Literatur über das Gastru- 
lationsproblem einzugehen, obwohl manche hierzu direkt auf- 
fordern; wie z. B. die kleine aber inhaltreiche Arbeit von 
Triepel (Chorda dorsalis und Keimblätter. Anat. Hefte Bd. 50. 
1914), der in dem Auftreten des Canalis neurentericus bei den 
verschiedenen Gruppen der Wirbeltiere nur eine Convergenz- 
erscheinung sieht. Ich muss aber dann zum Schluss sagen, 
dass mir keiner der neueren Autoren das Problem soweit ge- 
löst zu haben scheint, dass wir gezwungen wären, ihm zu 
folgen. 


Rabl hält mir, wo er meine Arbeiten über Reptilien- 
Entwiekelung mit der Bemerkung erledigt, dass sie in ihren 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 143 


theoretischen Anschauungen (l. c. S. 326) wenig glücklich ge- 
wesen seien, vor, ich sei in den Anschauungen meines Lehrers 
Lieberkühn befangen gewesen. Rabl kann das kaum 
wissen, denn, soweit ich mich erinnere, hat Lieberkühn 
zu diesen theoretischen Fragen öffentlich eigentlich nie Stel- 
lung genommen. Jedenfalls kann ich von mir aber sagen, 
dass der Standpunkt, auf dem ich damals vor 30 Jahren 
stand, mir heute noch sicherer als je erscheint und sicherer 
als der der überwiegenden Mehrzahl der neueren Autoren und 
der von Rabl. Insbesondere, wenn ich sehe, was bei den 
reichlichen Diskussionen der letzten Jahre als Endergebnis 
übrig geblieben ist. Die Marburger Embryologen hatten da- 
mals, als wir über diese Fragen arbeiteten, wohl einhellig 
die Ansicht, dass für eine gedeihliche Erörterung des Gastru- 
lationsproblems denn doch eine andere Grundlage notwendig 
sei, als wir sie seinerseit hatten und das gilt für mich heute 
noch. Sie ist wohl seit jener Zeit sehr viel besser und um- 
fangreicher geworden, ist aber noch keineswegs ausreichend, 
wie ja gerade die einander immer noch so schroff gegenüber- 
stehenden Ausführungen aus der letzten Zeit bezeugen. 

Ich habe meinen Standpunkt zur Gastrulationsfrage vor 
langem in einer Zusammenstellung im zoologischen An- 
zeiger (Über frühe Entwickelungsstadien von Lacerta agılıs. 
Zool. Anz. 1883. Nr. 142) und in den Abhandlungen der 
Senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft (Über Wachs- 
tumsvorgänge an Embryonen von Lacerta agilis. Frankfurt a. M. 
1884, S. 54), sowie später in mancherlei Diskussionsbemer- 
kungen auf Versammlungen niedergelegt. 

Wenn wir auch seit damals im einzelnen viel zugelernt 
haben und mancherlei überholt ist, so bin ich, was den all- 
gemeinen Standpunkt anlangt, auch heute noch der Meinung, 
dass im Entwickelungsgang der Wirbeltiergruppen neben dem 
im grossen natürlich gleichmässigen Wege der Entwickelung 


144 H. STRAHL, 


m einzelnen nicht unwesentliche Unterschiede zu verzeichnen 
sind. 

Es ermahnt uns das, auch mit der Terminologie vorsichtig 
zu sein. Ich glaube, dass Brauer heute noch recht hat, 
wenn er (l. e. S. 461) darauf aufmerksam macht, dass man 
doch nicht, um eine Theorie durchführen zu können, die 
Schichten beliebig nennen dürfe, ohne auf ihren wirklichen 
Wert für den Embryo Rücksicht zu nehmen. Muss auch für 
unsere Frage mit Bedauern feststellen, dass man auch heute, 
wie damals mit Brauer, sagen kann, dass „die Beobach- 
tungen derart noch voneinander abweichen für fast jede Gruppe, 
dass man fast eine jede mögliche Ansicht durch Beobachtungen 


anderer stützen, aber auch wiederlegen kann“. 


Ich selbst habe mit Rabl über die gleichen Objekte, 
wie heute, schon vor mehr als 25 Jahren auf der ersten 
Anatomenversammlung in Würzburg (1888) diskutiert; Rabl 
hat damals zugegeben, dass er sich meine Befunde hinsicht- 
lich der Mesodermentwickelung nicht ganz in seinem Sinne 
zurecht zu legen wusste. Ich möchte fast glauben, dass es 
inzwischen nicht viel anders geworden ist. Und die Theorie 
soll sich doch nach den Beobachtungen richten, nicht um- 


gekehrt. 


Und da ich mich einmal in diese Diskussion eingelassen 
habe, so möchte ich doch auch gegen eine andere, in unserer 
modernen Literatur weit verbreitete Art der Darstellung Ver- 


wahrung einlegen, die ich auch bei Rabl finde. Er schreibt 


— 1. e. S. 339 — „Stets ist zu bedenken, dass bei sämtlichen 
Amnioten — vor allem aber wegen der Ausbildung einer 
Placenta bei den Säugetieren — eine ungeheure Menge von 


ausserembryonalem 'Zellmaterial geliefert werden muss und 
dass dieses Material zum Teil schon in den frühesten Stadien 


der Entwickelung benötigt wird.“ — 


Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 145 


Rabl stellt sich, wenn ich diesen Satz recht verstehe, 
dabei auf den Standpunkt solcher Autoren, die annehmen, 
dass sich in der organischen Welt Teile bilden könnten, weil 
sie von seiten der Organismen zu deren Erhaltung gebraucht 
würden. Das ist meines Erachtens eine anthropomorphe Auf- 
fassung schlimmster Art, die durch nichts gerechtfertigt wird. 
Wenn wir ehrlich sein wollen, dann müssen wir uns in dem 
von Rabl angeregten Fall — und gleicherweise in vielen 
ähnlichen — doch sagen, dass wir über den Grund der Ent- 
stehung von Besonderheiten der Form auch nicht das ge- 
ringste wissen; wir können nur die Tatsache feststellen; warum 
in einem Fall etwa ein peripheres Mesoderm stärker, ım 
anderen minder stark entwickelt ist, darüber ist uns jedes 
Urteil entzogen. Wie die Natur in ihren Wegen bei der Er- 
haltung der Art durch Schaffung neuer Individuen eine wirk- 
lich unendliche Variationsbreite hat, das sieht jeder, der sich 
einmal mit der Bearbeitung der vergleichenden Anatomie der 
Placenta beschäftigt hat. Da gibt es fast so viel grob ver- 
schiedene Wege wie untersuchte Placenten, und alle führen 
zum gleichen physiologischen Endziel. Dass sie dabei ihre 
fest vorgeschriebenen Strassen gehen, ist klar; aber warum 
der eine diese, der andere jene; und der dritte wieder eine 
andere, das allgemein festzustellen sind wir heute wirklich 
nicht in der Lage, am wenigsten in dem von Rabl ange- 
gebenen Falle. 

Rabl sagt gelegentlich (l. ec. S. 457), dass er bedauert, 
dass meine Ausführungen über den möglichen Entwickelungs- 
gang des menschlichen Embryo in Lehrbücher übergegangen 
seien. Ich hätte vielleicht die ganze vorstehende Diskussion 
ungeschrieben gelassen, wenn ich meinerseits nicht fürchtete, 
dass ein gleiches mit Rabl’s Gastrulations-Schematen ge- 
schehen möchte. Für Autoren, die sich mit jenen Fragen 
nicht selbst in eigener wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd., H. 1). 10 


146 II. STRAHL, Über einen jungen menschlichen Embryo etc. 


haben, könnten sie wohl durch ihre Einfachheit bestechen; 
wer die Sachen genauer kennt, wird die Bilder allerdings 


kaum als für ein Lehrbuch ausreichend begründet ansehen. 


Meine Schemata von der ersten Entwickelung des Menschen 
können einstweilen noch ganz wohl richtig sein, die von 
Rabl über den Gastrulationsvorgang bei Reptilien und Säugern 
sind aber sicher falsch. 


Figuren-Erklärung. 


Schnittbilder aus einer Schnittreihe durch einen jungen menschlichen 
Embryo; nahezu, aber nicht vollkommene Sagittalschnitte 


Die Figur 1 ist in der Photographie nachgezeichnet, ist eine Zusammen- 
stellung aus einigen nebeneinander gelegenen Schnitten; an der Abbildung von 
Schnitt 2 ist nichts gegenüber der photographischen Aufnahme geändert. 

Fig. 1. Schnitt durch den Chordakanal mit dessen dorsalem Eingang 
und der ersten ventralen Öffnung. 

Fig. 2. Schnitt mit dem in den Haftstiel eingehenden Allantoisgang. 


Der Embryonalkörper ist in den Schnitten etwa 0,7 mm lang. 


10* 


AUS DER ENTWICKELUNGSGESCHICHTLICHEN ABTEILUNG DES ANATOMISCHEN 
INnSTITUTES IN BRESLAU. 


EIN MENSCHLICHER EMBRYO MIT GANALIS 
NEURENTERICUS. GHORDULATION. 


VON 


H. TRIEPEL, 


BRESLAU. 


Mit 1 Textfigur und 11 Figuren auf den Tafeln 9/1. 


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Der menschliche Embryo Dy, den ich im folgenden be- 
schreiben will, findet sich in der Sammlung der unter meiner 
Leitung stehenden entwickelungsgeschichtlichen Abteilung des 
Breslauer anatomischen Institutes, in Form einer Serie von 
Querschnitten, die von Prof. A. Schaper, meinem Vorgänger, 
hergestellt worden ist. Das Objekt ist ausgezeichnet erhalten, 
und, da es sich um einen jüngeren Embryo mit verschiedenen 
bemerkenswerten Einzelheiten handelt, sicher der Veröffent- 
lichung wert. Warum sie von Schaper unterlassen wurde, 
ist mir nicht bekannt. 

Das Präparat stammt von einem Abortus und wurde der 
entwickelungsgeschichtlichen Abteilung vor einer Reihe von 
Jahren von Herrn Geh. Sanitätsrat Dr. Dyhrenfurth über- 
wiesen, wofür ich diesem auch jetzt noch den verbindlichsten 
Dank auszusprechen mir erlaube. 

Einige Befunde, die man an dem Embryo erheben kann, 
lassen den Gedanken aufkommen, dass es sich nicht um ein 
vollkommen normales Objekt handelt, so vor allem eine am 
Embryonalschild auffallende Abbiegung des vorderen Kopfteiles 
nach der ventralen Seite sowie die mächtige Breitenentwicke- 
lung des abgebogenen Teiles; auch ein geringer Unterschied 
in der Differenzierung der rechten und linken Ursegmentplatte 
könnte zu denken geben. Wenn wirklich Abweichungen von 
der Norm vorliegen, so scheinen sie mir doch nicht so be- 
trächtlich zu sein, dass ihretwegen der trefflich erhaltene 


152 H. TRIEPEL, 


Embryo nicht verwendet werden dürfte. Jedenfalls werde ich 
mich bei der Beschreibung der Möglichkeit abnormen Verhaltens 
zu erinnern haben. 

Das Alter des Embryo Dy war bisher in dem Samm- 
lungskatalog zu ca. 2!/; Wochen angegeben. Bemerkungen 
über die Menstruationsverhältnisse der Mutter sind nicht ver- 
zeichnet, über sie konnte ich auch nachträglich nichts mehr 
in Erfahrung bringen. Das angegebene Alter ist, wie mir 
scheint, etwas zu niedrig gemessen. Mein Objekt steht dem 
Embryo Gle von Graf Spee (17) sehr nahe; möglicher- 
weise ist er ein wenig älter als dieser, der Unterschied kann 
jedoch nicht bedeutend sein, er beträgt vielleicht einen halben 
Tag. Auch dem jüngsten der drei von Wilson (23) be- 
schriebenen Embryonen ähnelt Dy in mancher Beziehung, er 
ist aber zweifellos etwas jünger. Bei meinen Untersuchungen 
über das Alter menschlicher Embryonen (20) habe ich den 
Embryo Gle auf 20 Tage geschätzt, und die gleiche Zahl 
möchte ich auch für das Alter von Dy angeben. 

Die Vorbehandlung des Präparates erfolgte mit Alko- 
hol, sodann wurde es mit Alauncochenille durchgefärbt und 
in Paraffin eingebettet. Die vorliegende Schnittserie, die aus 
184 Schnitten von 10 u Dicke besteht, ist so angefertigt, 
dass die Schnittrichtung zum Rückenteil des Embryonalschildes 
senkrecht steht. Die Masse, die ich im folgenden angebe, 
beziehen sich auf die Schnittserie, sie müssten nach Erfah- 
rungen, die ich früher an embryonalem Material gemacht habe, 
um ca. 1/, vergrössert werden, um die Verhältnisse des frischen 
Objektes wiederzugeben. 

Das Präparat besteht aus einem kleinen, rechteckigen, 
aus dem zottentragenden Chorion herausgeschnittenen Stück 
sowie einem Embryonalschild, der mit dem Chorion 
durch einen Haftstiel in Verbindung steht und die Scheide 
zwischen Amnion und Nabelblase bildet. Von dem Ob- 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 9. 


H. Limpricht gez. 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Kgl. Univ.-Druck. H. Stürtz A.G., Würzbg. 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 153 


jekt habe ich bei 160 facher Vergrösserung ein Plattenmodell 
angefertigt, das den Schild, ein Stück von Amnion und Nabel- 
blase, sowie den Haftstiel in sich begreift. 

Um die folgende Darstellung übersichtlicher zu gestalten, 
habe ich sie in verschiedene Abschnitte geteilt; ich spreche 
nacheinander von dem Embryonalschild, dem Canalis neur- 
entericus und Umgebung, der Chordulation, den Keimblättern 
des Schildes, den embryonalen Hüllen und Anhängen, dem 
Inhalt des Chorions. Dabei versteht es sich von selbst, dass 
die Einteilung künstlich ist, und in den einzelnen Abschnitten 
nicht scharf voneinander getrennte Gebiete behandelt werden. 


Der Embryonalschild. 


Der Schild ist nicht vollkommen eben ausgebreitet, viel- 
mehr ist der Kopfabschnitt oder doch ein grosses Stück des- 
selben nach der ventralen Seite aus der Ebene herausgebogen. 
Diese Biegung zeigt sich besonders deutlich an dem Ecto- 
derm, wie auch verschiedene Modellierungen an dem abge- 
bogenen Gehirnteil des äusseren Keimblattes gut in die Er- 
scheinung treten. Die anderen Keimblätter werden hier ın 
ihrem Verlauf durch Vorwölbungen und Einziehungen des Ecto- 
derms bestimmt. Der abgebogene Teil umfasst etwa die Hälfte 
der Länge des ganzen Schildes. Auf diese Verhältnisse werde 
ich später zurückzukommen haben, eine Vorstellung von ihnen 
gibt die Textfigur (auf S. 154). 

Auch in der Querrichtung ist der Schild gebogen; hier 
sind zwei verschiedene Biegungen zu unterscheiden, eine starke, 
im Kopfteil, die ihre Konkavität nach der dorsalen Seite kehrt, 
und den grössten Teil des Gehirnhohlraums umfasst, und 
eine zweite, hinter dem Kopfteil liegende, die nach der ven- 
tralen Seite konkav ist und nach hinten sich allmählich ver- 
flacht. 


154 H. TRIEPEL, 


Die Länge des Schildes beträgt 1,6 mm. Zu dieser 
Zahl gelangt man, wenn man sich die erwähnte ventrale Ab- 
biegung des Kopfteiles ausgeglichen denkt und zwei Längen- 


masse zusammenrechnet, nämlich die Länge des abgebogenen 


Textfigur. 


Medianschnitt des Embryo Dy, nach einer graphischen Rekonstruktion bei 

100facher Vergrösserung gezeichnet und dann auf die Hälfte verkleinert. Der 

Allantoisgang, der nicht in dem Medianschnitt liegt, ist in diesen übertragen 

worden. Die kleinen Teilstriche der horizontalen Linie geben die Lage der 
auf Tafel 9/11 abgebildeten Schnitte an. 


Kopfteiles, gemessen an dem Modell und entsprechend reduziert 
— 0,8 mm, und die Länge des hinter dem abgebogenen Teil 
liegenden Schildabschnittes, 84 Schnitte — 0,54 mm. 


Die Breite habe ich festgestellt, indem ich die erwähnten 
Querbiegungen des Schildes vernachlässigte und nur die Sehnen 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 155 


der Bogen mass. Dabei ergab sich als grösste Breite die des 
abgebogenen Kopfteiles im auffallenden Werte von 1,04 mm. 
Unmittelbar hinter dem abgebogenen Teil ist sie — 0,80 mm, 
nach hinten hin nimmt sie beträchtlich ab, in der Gegend des 
Canalis neurentericus beträgt sie 0,24 mm, kurz davor nur 


0,21 mm. 


Der Canalis neurentericus und Umgebung. 


Der neurenterische Kanal (Fig. 1 auf Taf. 9) 
durchsetzt den Schild nicht sehr weit von dessen hinterem 
Ende, so dass rostral von ihm ungefähr ?/,, caudal von ıhm 
1/, der Schildlänge liegen. Er ist nur in einem einzigen Schnitte 
getroffen, dem 120. der Serie. Seine Richtung ist senkrecht 
zur Oberfläche des Schildes. Er beginnt an der dorsalen Seite 
des Schildes mit einer kleinen, im Ectoderm liegenden Ver- 
tiefung und endet an der ventralen Seite mit einer ähnlichen 
trichterförmigen Erweiterung. Unmittelbar unterhalb jener und 
oberhalb dieser kommen die Wände des Kanals sich. ausser- 
ordentlich nahe, so dass nur ein minimaler Spalt zwischen 
ihnen offen bleibt; in seiner Mitte zeigt der Kanal eine Er- 
weiterung von 0,024 mm. Die Länge des Kanals, eingerechnet 
die trichterförmigen Verlängerungen auf beiden Seiten, beträgt 
im Mittel 0,08 mm; die rechte Wand!) ist etwas kürzer, die 
linke etwas länger. Die erwähnte, im Ectoderm liegende Ver- 
tiefung am dorsalen Anfang des Kanals gehört zur Primitiv- 
srube, die sich noch über zwei Schnitte nach hinten er- 
streckt, also im ganzen einen sagittalen Durchmesser von 30 u 
besitzt. 

Die Wand des Kanals besteht aus grossen, in ein- 
facher Schicht liegenden, kubischen Zellen mit grossen runden 
Kernen. Die Zellen stehen an dem dorsalen Ende des Kanals 


I) Rechts und links beziehen sich hier auf die Seiten der Abbildung. 


156 H. TRIEPEL, 


mit dem Eetoderm in Zusammenhang, das neben dem Kanal 
ebenfalls einschichtig ist und auch kubische, nur etwas höhere 
Elemente aufweist. Rechts neben dem Kanal verlaufen parallel 
der Kanalwand noch zwei von dieser und untereinander ge- 
schiedene epitheliale Zellreihen vom Ectoderm zur ventralen 
Seite. 

An dem ventralen Kanalende greifen die grossen ecto- 
dermalen Zellen auf die Unterseite der Embryonalanlage über. 
Zunächst findet sich in dem den Kanal enthaltenden Schnitt 
rechts von der beschriebenen trichterförmigen Mündung eine 
grosse Zelle, links liegen deren zwei. Nach vorn vom neur- 
enterischen Kanal breiten sich die grossen Zellen an der Unter- 
seite des Schildes sehr deutlich aus, ihre Gesamtheit ist hier 
als Chordaplatte zu bezeichnen (Fig. 2 und 3). Diese 
Platte erstreckt sich über 30 Schnitte, ist also 0,30 mm lang. 
Ihre Breite variiert, hinten ist sie schmal (7”—9 Zellen breit), 
sodann wird sie breiter (bis 13 Zellen), um zuletzt wieder 
an Breite zu verlieren. Sie stösst vorn und an den Seiten 
an niedrige Entodermzellen ant). Auch in ihr selbst finden 
sich in wenigen Schnitten einige niedrigere Zellen, deren Be- 
deutung fraglich erscheint. Die Chordaplatte beginnt schon 
nahe an ihrem hinteren Ende sich von den Seiten her zu- 
sammenzubiegen, wobei die Konkavität der Biegung nach der 
ventralen Seite gerichtet ist, nach vorn zu wird der Bogen 
etwas flacher. Es ist wohl anzunehmen, dass die Einbiegung 
der Chordaplatte von der (vorhin erwähnten) beginnenden Zu- 
sammenbiegung des gesamten Schildes abhängig ist, vielleicht 
auch von der Ausdehnung der Ursegmentplatten und der An- 
lage der Gefässe (s. u.). Jedenfalls kann sie nicht als Ein- 
leitung zu einer Abfaltung der Chorda angesehen werden. 


!) Der Unterschied zwischen den Zellen der Chordaplatte und des Ento- 
derms fällt an den gefärbten Präparaten mehr in die Augen als an den 
schwarzen Tafelfiguren. 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 157 


Denn dann müsste die Chorda das Stadium einer Röhre durch- 
laufen, die stellenweise einen Umfang von 13 Zellen hat. 
Das ist für einen Embryo von 20 Tagen nicht wahrscheinlich, 
wenn man die Form und Grösse der Chorda menschlicher 
Embryonen berücksichtigt (vgl. Triepel, 19). Aus dieser 
Überlegung würde auch zu folgern sein, dass nicht alle grossen 
Zellen der Chordaplatte zur Bildung der Chorda verwandt 
werden, sondern ein Teil von ihnen zum Entoderm 
hinzugezogen wird. Das ist offenbar für die ‚„Gastru- 
lationstheorie‘‘ bedeutsam (s. u.). 

Bemerkenswert erscheint es mir, dass an mehreren 
Schnitten nicht weit vor dem neurenterischen Kanal, besonders 
schön an den Schnitten 113 u. 116, eine kleine, enge, dorsalwärts 
gerichtete Ausstülpung der Chordaplatte zu sehen ist (Fig. 2). 
Sie wird in 113 (Fig. 2) von 5, in 116 von 3 Zellen gebildet. 
Möglicherweise könnte sie mit einer beginnenden Abschnü- 
rung der Chorda in Zusammenhang gebracht werden, 
wenn es auch stört, dass sie nicht in der Mitte der Chorda- 
platte, unterhalb der Medullarfurche liegt, sondern um die 
Breite von etwa 2 Zellen nach der Seite verschoben ist. 

Auch nach hinten vom Canalis neurentericus liegen an 
der Unterseite des Schildes ebensolche grosse Zellen wie sie 
die Chordaplatte zeigt (Fig. 4). Sie finden sich hier in 
10 Schnitten, also in einer Längsausdehnung von 0,1 mm, 
in einer Breite von 11—12 Zellen, und stossen seitlich an 
niedrigere Zellen an. Man erhält durchaus den Eindruck, dass 
diese Zellenausbreitung eine Verlängerung der Chorda- 
platte nach hinten darstellt. Dieser Eindruck wird da- 
durch verstärkt, dass auch hier eine Einbiegung besteht, ähn- 
lich derjenigen, die ich an dem vorderen Teil der Chordaplatte 
beschrieben habe. Der Bogen flacht. sich allerdings sehr bald 
nach hinten hin ab. Aus dem Befund geht hervor, dass das 
Material, aus dem die Chorda gebildet wird, so- 


158 H. TRIEPEL, 


wohl vor wie hinter der ventralen Mündung des 
Canalis neurentericus gelegen ıst. Hier wie dort 
finden sich übrigens Kernteilungsfiguren, die auf das lebhafte 
Wachstum der Organanlage hinweisen. 

Der Primitivstreifen (Fig. 4) ist verhältnismässig 
kurz. nämlich nur 0,11 mm lang. Er erstreckt sich vom Canalis 
neurentericus bis zu der (sehr kleinen) Cloakenmembran. Im 
Gegensatz zu den Verhältnissen, die der Embryo Gle von 
Graf Spee zeigt, ist beim Embryo Dy der Primitivstreifen 
nicht nach der ventralen Seite abgebogen, er liegt vielmehr 
fast in der Verlängerung der Mittellinie des Rückenteiles, ist 
nur ein wenig nach der rechten Seite gerichtet. Man sollte 
vermuten, dass das gesamte Material des Primitivstreifens mit 
dem ectodermalen Überzug des Schildes in breitem Zusammen- 
hang steht. Das ist aber nicht überall der Fall. Vielmehr 
ist das Zellenlager, das den Streifen bildet, in den meisten 
Schnitten deutlich durch horizontal liegende Spalten in drei 
Schichten zerlegt (Fig. 4). Die oberste dieser Schichten ent- 
spricht dem Ectoderm, sie ist zwei Zellen hoch. Die gleiche 
Höhe hat die mittlere Schicht, während die unterste aus einer 
einfachen Lage von Zellen gebildet wird, sie ist identisch mit 
dem vorhin beschriebenen hinteren Teile der Chordaplatte; 
nur in dem letzten Schnitt, der durch den Primitivstreifen 
hindurchgeht, scheint die unterste Schicht aus Entodermzellen 
zu bestehen. Die Spalten gehen nicht durch den ganzen Primitiv- 
streifen hindurch, sondern sind an einzelnen Stellen unter- 
brochen, so dass hier die mittlere Schicht entweder mit dem 
Ectoderm oder mit der Chordaplatte in Verbindung steht. Den 
seitlichen Mesodermplatten gibt im wesentlichen die mittlere 
Schicht den Ursprung, nur an einzelnen Stellen kann man 
sehen, dass das Mesoderm an das Ectoderm oder auch an 
die Chordaplatte Anschluss gewinnt. 

Die Primitivrinne (Fig. 4) ist seicht und zieht sich 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 159 


nicht über den ganzen Primitivstreifen hin. Sie ıst von der 
Primitivgrube durch zwei Schnitte getrennt und findet sich 
sodann an 5 weiteren Schnitten, ist also 0,05 mm lang. Wie 
das Modell zeigt, ist sie nicht ganz gerade ausgerichtet, sondern 
weicht hinten nach rechts ab. 

Nach vorn von dem Canalis neurenterieus liegt in der 
Mitte des Schildes ein Zellstrang, der als Kopffortsatz 
des Primitivstreifens zu bezeichnen ist. Er besteht aus 
denselben Teilen wie der Primitivstreifen selbst, einem dorsalen 
oder ectodermalen Teil, einem mittleren Teil und der Chorda- 
platte (Fig. 2 und 3), unterscheidet sich aber von jenem da- 
durch, dass die einzelnen Teile meist nicht deutlich von- 
einander getrennt sind, sondern fest zusammenhängen. Nur 
selten sieht man einmal zwischen ihnen eine scharfe Grenz- 
linie oder eine kurze Spalte. Der Konffortsatz erstreckt sich 
über 30 Schnitte, ist also 0,30 mm lang, d. h. ebenso lang 
wie der (vordere) Hauptteil der Chordaplatte. Dabei ist nur 
zu bemerken, dass in der Nähe seines vorderen Endes in 
drei Schnitten der mittlere Teil fehlt. 

6 Zellen. Sein 
ectodermaler Teil hat dort, wo man dessen Grenzen feststellen 
3 Zellen. Er ist durch die Medullar- 
furche eingeschnitten, die zwei Schnitte vor der Primitivgrube 
beginnt, zunächst sehr seicht ist, sich aber bald vertieft und 


6) 


Die Höhe des Kopffortsatzes beträgt 4 


kann, eine Höhe von 2 


in der Gegend des vorderen Kopffortsatzendes zu einer engen 
Spalte wird. 

Wichtig erscheint das Verhalten des mittleren 
Keimblattes zum Kopffortsatze. Dieser, und zwar 
vorwiegend sein mittlerer Teil steht auf den meisten Schnitten 
mit den seitlichen Mesohlastplatten in Verbindung, gewöhn- 
lich durch einen breiten, aber auch gelegentlich durch einen 
schmalen Zellstreifen. Es kommt auch vor, dass das Meso- 
derm von dem ectodermalen Teil des Kopffortsatzes oder selbst 


160 H. TRIEPEL, 


von der Chordaplatte abgeht. Vor dem Kopffortsatz, unmittel- 
bar davor und auch in etwas grösserer Entfernung, fällt an 
mehreren Stellen die innige Verbindung des Mesoderms mit 
der Medullarplatte auf (Fig. 8 und 9), die hier schon die 
Medullarfalten zum Zweck der Bildung des Medullarrohres 
angelegt hat. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, 
dass mehr als eine Aneinanderlagerung der beiden Keimblätter 
vorliegt, dass auch hier eine Mesodermproduktion 
von seiten des Ectoderms erfolgt. Es muss zugegeben 
werden, dass Täuschungen leicht vorkommen können, aber 
man trifft Bilder, in denen an einem Auswachsen mesodermaler 
Elemente aus der Medullarplatte nicht gezweifelt werden kann 
(8.2. B. Eig.’9). 

An benachbarten Stellen kommt die gekrümmte Medullar- 
platte dem Entoderm sehr nahe, und hier sieht man ab und 
‚ dass sich zwischen diesen beiden Teilen ein Streifen von 
Mesodermzellen hindurchschiebt, um die beiden seitlichen Meso- 
dermplatten miteinander zu verbinden (Fig. 7). Öfter dringen 
mesodermale Elemente nur in den Winkel zwischen Medullar- 
platte und Entoderm ein, ohne den Anschluss an die gegen- 


zu 


überliegende Seite zu gewinnen. 

Die im vorhergehenden dargestellten Befunde lassen einige 
bemerkenswerte Schlüsse über die Entstehung des 
embryonalen Mesoderms zu. Dieses kommt zunächst 
von dem Primitivstreifen her, schiebt sich seitlich neben dem 
Kopffortsatz nach vorn und erhält dabei beträchtlichen Zu- 
wachs von seiten des Kopffortsatzes. Vor diesem zweigen sich 
an der medialen Seite der Mesodermflügel Fortsätze ab, die 
nach der Mittellinie hin oder über sie hinaus vorgetrieben 
werden. Das Mesoderm geht namentlich aus einem mittleren 
Teile des Primitivstreifens und des Kopffortsatzes hervor, hat 
aber auch mehrfach unmittelbaren Zusammenhang mit dem 
Ectoderm und andererseits der Chordaplatte. Da der ganze 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 161 


Primitivstreifen und der ganze Kopffortsatz vom Ectoderm ab- 
stammen, so bildet der Embryo Dy ein schönes 
Beispiel für die ectodermale Herkunft des 
embryonalen Mesoblast. In demselben Sinne sind jene 
Stellen vor dem Kopffortsatz zu verwerten, an denen, wie oben 
beschrieben, Mesoderm von der gekrümmten Medullarplatte 
entspringt. 

Hinsichtlich der Bedeutung des Canalıs neuren- 
tericus schliesse ich mich der Ansicht Grossers (3) an. 
Der senkrecht zur Oberfläche verlaufende neurenterische Kanal 
ist ein caudaler Überrest des Chordakanals, der in rostraler 
Richtung schräg durch den Kopffortsatz zog und sich an seiner 
ventralen Wand geöffnet hat. Durch Auseinanderlegen der 
Wand des Chordakanals entsteht darauf die Chordaplatte, und 
diese nimmt noch durch Zellteilungen an Umfang zu und 
erhält auch dadurch einen Zuwachs, dass von der Wand des 
neurenterischen Kanales aus an der unteren Seite des Primitiv- 
streifens Zellen nach hinten wachsen (s. o. S. 157f.). 


Chordulation. 


Das Stadium, in dem sich der Embryo Dy befindet, ist 
ein Ausschnitt aus dem Prozess, den man meistens auf Grund 
der Arbeiten von Kupffer (13), Bonnet (1, S. 39) u. a. 
Gastrulation nennt, den ich dagegen als Chordulatiıon 
bezeichnen möchte. 

Schon in einer früheren Arbeit (19) habe ich mich in 
Anlehnung an Arbeiten von Hubrecht (6, 7) und Keibel 
(8—12) dahin ausgesprochen, dass man gut daran tue, dem 
Vorgang, der bei höheren Wirbeltieren in erster Linie zur 
Bildung der Chorda führt und mit einer ausgeprägten oder 
nur angedeuteten Invagination verbunden ist, nicht den Namen 


Gastrulation zu geben, weil er nicht mit der bekannten Gastru- 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd. H. 1). 11 


162 H. TRIEPEL, 


lation der Evertebraten und des Amphioxus identisch ist. Ich 
schlug vor, die beiden Vorgänge, die gewöhnlich zusammen- 
geworfen werden, dadurch voneinander zu unterscheiden, dass 
man von einer „ersten“ und einer „zweiten“ Invaginatıon 
spricht. Die erste Invagination würde ausser bei verschiedenen 
Evertebraten bei Amphioxus und den Anamniern vorkommen, 
bei den Amnioten dagegen fehlen, während diese nur eine 
zweite Invagination besitzen. Heute möchte ich noch lebhafter 
_ soweit das im Rahmen dieser Arbeit möglich ist — für 
die Anschauung Hubrechts!) eintreten und demgemäss die 
„zweite“ Invagination auch für die Anamnier in Anspruch 
nehmen. 

Die zweite Invagination nimmt in der Phylogenese ihren 
Ausgang von der Einstülpung des ectodermalen Stomodaeums. 
Man ist versucht, der Gastrula der Coelenteraten eine zweite, 
ebenfalls in dieser Abteilung, nämlich bei Anthozoen und 
Ctenophoren, vorkommende Larvenform gegenüberzustellen, die 
„stomodaeula”. 

Die richtige Beurteilung der Anamnier scheint mir die 
grössten Schwierigkeiten zu bieten, grössere als die der Am- 
nioten. Wenn ich auch die Invagination der Anamnier jetzt 
als „zweite“ bezeichne, so kann ich mich doch des Ge- 
dankens nicht erwehren, dass sie in manchen Beziehungen 
noch auf die erste Invagination hinweist. (Übrigens bestehen 
solche Beziehungen, was ich nicht verkenne, auch bei 
höheren Formen.) Das wird begreiflich, wenn man sich 
des Verhältnisses erinnert, in dem ursprünglich die beiden 
Invaginationen zueinander gestanden haben: diezweite war 
eine Fortsetzung der ersten, eine Ergänzung zu 


1) Die Kritik, die Rabl im vorigen Jahre an den Arbeiten Hubrechts 
und Keibels geübt hat (24), kam erst nach Abschluss der vorliegenden 
Abhandlung in meine Hände. Sie hat mich nicht davon überzeugt, dass 
die Grundanschauung Hubrech ts falsch ist. 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 163 


ihr. Bei den Anamniern gehen Gastrulation, d. h. Bildung 
des zweiblättrigen Keimes, und Chordulation (s. u.) ohne scharfe 
Grenze ineinander über. Diese drückt dem Invaginationsvor- 
gang sein eigentümliches Gepräge auf, jene hat in ihm aber 
immer noch ihre Spuren zurückgelassen. 

Sehr wichtig ist für die Herbeiführung einer Verständi- 
gung zwischen den verschiedenen Meinungen der Gebrauch 
einer bezeichnenden Nomenklatur. Entschieden zu 
billigen ist der Vorschlag Hubrechts (7), bei Cranioten 
von „Rückenmund“ an Stelle von Urmund, Gastrula- 
mund oder Blastoporus zu reden. Der Urmund liegt dort, 
wo das eingestülpte Ectoderm und das Entoderm zusammen- 
stossen. Die alten Namen Primitivknoten (Hensenscher 
Knoten), Primitivstreifen, Primitivrinne, Kopffortsatz des 
Primitivstreifens, Chordakanal bedürfen keiner Veränderung. 
Bonnet (2) beanstandet — gewiss mit Recht — den Ausdruck 
„Chordakanal‘“, weil aus der Wand dieses Kanals nicht nur 
die Chorda hervorgeht. Doch scheint es mir bei der hohen 
Bedeutung, die der Chorda zukommt, trotzdem statthaft, den 
Namen auch fernerhin zu gebrauchen. 

Mit „Chordulation‘“!) kann, wie mir scheint, in passen- 
der Weise der Vorgang bezeichnet werden, durch den der 
Keim in das Chordulastadium übergeführt wird, d. i. ein 
Stadium, das wesentlich durch das Auftreten der Chordaanlage 
charakterisiert ist. In zweiter Linie ist für das Stadium die 
Anlage bilateral symmetrisch angeordneter mesodermaler Or- 
gane bedeutungsvoll. 

Zufolge dieser Begr’ffsbestimmung gibt es auch schon 
beim Amphioxus sowie bei den Tunicaten eine Chordulation. 
Sie besteht aus jenen Abfaltungs- bzw. Abspaltungsprozessen, 
die nach Ablauf der Gastrulation aus dem inneren Keimblatt 


‘) Ich hatte unabhängig das Wort „Chordulation“ gebildet, sah aber, 
dass es schon vor mir gebraucht worden ist (Schlater, 15, p. 315). 


dien 


164 H. TRIEPEL, 
Chorda und Mesoderm entstehen lassen, es liegt also hier 
eine entodermale Chordulation vor. Ganz anders ge- 
staltet sich die Chordulation bei den Cranioten. Hier sind in 
stark wechselnder Weise daran beteiligt eine mehr oder weniger 
ausgeprägte Invagination, Abfaltungs- und Abspaltungsprozesse 
und eine ausgiebige Proliferation mesodermaler Elemente von 
seiten des äusseren Keimblattes. Es handelt sich somit um 
eine ectodermale Chordulation. Diese deckt sich mit 
dem, was Hubrecht (6), Keibel (8-12) und O. Hert- 
wig (4) zweite Phase der Gastrulation genannt haben, eine 
Bezeichnung, die ich nicht billigen kann (vgl. 19, S. 506). 
Das gleiche besagt Hubrechts Notogenesis. 

Eine unabweisbare Forderung, die sich aus den vorstehen- 
den Erörterungen ergibt, ist die, dass man bei Cranioten den 
Ausdruck Gastrula, sofern er in nicht zutreffender Weise 
gebraucht wird, verbanne und durch Chordula ersetze. In 
denselben Fällen muss die Bezeichnung „dorsale Urmund- 
lippe“ durch „rostrale Rückenmundlippe“ ersetzt 
werden. 

Man könnte den Vorgang der Chordulation seinerseits 
wieder in mehrere Unterabteilungen zerlegen, was aber bei 
den einzelnen Gruppen in sehr verschiedener Weise zu ge 
schehen hätte. Bei den Primaten folgen aufeinander Bildung 
des Primitivstreifens, Bildung des Kopffortsatzes und Aus- 
breitung des axialen Mesoblasts, Chordakanal, Canalis neur- 
entericus und Chordaplatte, Abschnürung der Chorda und Ab- 
gabe von Material an das Darmentoderm. Wie man sieht, 
ist bei dem Embryo Dy die Chordulation zum grossen Teile, 
aber noch nicht vollkommen abgelaufen. 

Wenn, wie ich angegeben habe (S. 157), Zellen der Chorda- 
platte an das Entoderm abgegeben werden, so deutet das 
gewiss auf uralte Beziehungen, die zwischen (ectodermaler) 


Chordulation und Invaginationsgastrulation bestehen; diese 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 165 


können aber nur den oben (S. 162f.) näher bezeichneten Sinn 
haben. Mit der Annahme einer Beteiligung der Chordaplatte 
an der Bildung des embryonalen Entoderms komme ich zwar 
dem Standpunkt nahe, von dem aus Invagination der Cranioten 
und Gastrulation identisch ist, von ihm trennt, mich aber 
der Gedanke, dass der Urmund bei den Cranioten in die Tiefe 


verlagert sein muss. 


Die Keimblätter des Schildes. 


Von ‚dem Schildectoderm, soweit es zum Primitivstreifen und 
zum Kopfftortsatz gehört, war bereits oben die Rede (S. 158f.), 
ebenso von der Medullarfurche und der zusammengebogenen 
Medullarplatte. 

Das Ectoderm ist im Bereiche der Medullarplatte 
3—4-, 
hat es meistens nur 2 Schichten, und am Rande bleibt nur 


selten 5 schichtig. In den seitlichen Teilen des Schildes 


eine einzige Lage hoher Zellen, denen sich unvermittelt die 
niedrigen Zellen des Amnionectoderms anschliessen. 

Vor dem Kopffortsatz verbreitert sich an einer Stelle 
(80. Schnitt) der Boden der Medullarfurche, so dass hier das 
Ectoderm knopfförmig gegen das Entoderm vorspringt. Ver- 
mutlich entspricht diese Stelle dem hinteren Ende des Rauten- 
hirns. Ungefähr von hier an nach vorn wird die Medullar- 
furche eng und tief. 

Bei Schnitt 54 biegt sich das Ectoderm ventralwärts um 
(vgl. o. S. 153), unter einem Winkel, der fast 900 beträgt. 
Die Medullarrinne erhält sich in der umgebogenen Platte noch 
auf eine Strecke von 0,52 mm. Dann weichen am rostralen 
Ende der Rinne die Medullarfalten, die ihren Eingang be- 
grenzen, auseinander und werden zur Wand eines grossen, 
schalen- oder napfartigen, also einerseits offenen Hohlraumes. 
Die Wand dieser Schale ist 3schichtig. Sie hat unter dem 


166 H. TRIEPEL, 


Rinnenende, d. h. rostral von diesem, eine caudalwärts vor- 
springende Verdickung, in die sich eine enge, 70 u lange 
Ausstülpung des Schalenraumes einsenkt (Schnitt 59-53, vgl. 
Fig. 10 hy). Unmittelbar darunter liegt ein von aussen kommen- 
der Eindruck der Schalenwand, und unter diesem finden sich 
weiterhin nebeneinander angeordnet zwei längliche, vertikal 
stehende, caudalwärts gerichtete Ausbuchtungen (Fig. 10a). 
Diese gehen nach vorn an der Basis der Schale in. seitliche 
Erweiterungen über. Der Schalenraum steht dorsalwärts mit 
der Amnionhöhle in Verbindung, der Verbindungsgang erweitert 
sich (Schnitt 49—43), die Schalenwand breitet sich aus und 
geht unter allmählicher Verdünnung in das Amnion über. 


Es ist naheliegend, die beschriebenen Modellierungen des 
vorderen Teiles der Medullarplatte mit Organanlagen in Zu- 
sammenhang zu bringen, die sich an dem vorderen Abschnitt 
des Gehirnes entwickeln. Die geschilderte Schale stellt die 
Anlage des primären ersten Gehirnbläschens dar, 
das an der dorsalen Seite noch weit geöffnet ist. Sehr wahr- 
scheinlich sind die beiden caudalwärts gerichteten Ausbuch- 
tungen der Schale mit ihren seitlichen Erweiterungen die ersten 
Andeutungen der Augenblasen. Dabei ist zu bemerken, 
dass die Ausbuchtungen nicht caudalwärts, sondern ventral- 
wärts gerichtet wären, wenn der vordere Teil des Schild- 
ectoderms nicht jene auffallende Abbiegung nach der ventralen 
Seite zeigte, die ich erwähnte, und die ich sogleich näher 
analysieren will. 


Zuvor sei noch bemerkt, dass der enge und lange Gang, 
der oberhalb der Augenblasenanlagen von dem Schalenraum 
in caudaler (bzw. ventraler) Richtung abgeht, vermutlich zum 
Trichter und Gehirnteil der Hypophyse wird. 


Die Biegung der Medullarplatte, die sich im 
54. Schnitte und in den benachbarten Schnitten der Serie 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 167 


zeigt, liegt dort, wo man später das Auftreten der Mittelhirn- 
krümmung erwarten muss. Ob indessen der Biegung die Be- 
deutung einer ungewöhnlich früh auftretenden Mittelhirnkrüm- 
mung zugeschrieben werden kann, erscheint mir sehr frag- 
lich, besonders deswegen, weil mir kein Fall von einem mensch- 
lichen Embryo im Schildstadium aus der Literatur bekannt 
geworden ist, der diese Krümmung oder eine Andeutung davon 
erkennen liesse. Vielmehr scheint es mir, worauf ich schon 
eingangs hinwies, dass die in Rede stehende Abbiegung des 
vorderen (rehirnteiles nicht dem normalen Verhalten entspricht. 
Durch ungeschickte Präparation kann die Biegung nicht ent- 
standen sein, denn dann müssten erhebliche Verletzungen an 
dem Objekt hiervon Kunde geben; solche Beschädigungen sind 
jedoch nicht vorhanden. Man geht vielleicht nicht fehl, wenn 
man annımmt, dass ein Druck, der von vorn oben auf den 
Kopfteil der Embryonalanlage einwirkte, diesen verhinderte, 
sich in der normalen Richtung weiter zu entwickeln. An dem 
vorderen Amnionende, das über dem Kopfteil des Embryos 
liegt, lässt sich allerdings nichts nachweisen, was auf eine 
mechanische Einwirkung schliessen liesse, wenn man nicht 
die Tatsache heranziehen will, dass das Amnion stellenweise 
äusserst niedrig, wie zusammengedrückt erscheint. Von dem 
Chorion und dem eingeschlossenen Magma reticulare (s. u.) 
ist an dem Präparate zu wenig erhalten, als dass man die 
Konfiguration dieser Teile bei einem Erklärungsversuch 
heranziehen könnte. Auf dasselbe Wachstumshindernis muss 
übrigens auch die übermässige Verbreiterung des Kopfteiles zu- 
rückgeführt werden. Wenn die gegebene Erklärung richtig ist, 
so kann es sich doch höchstens um ein schwaches Hindernis 
handeln, das dem normalen Wachstum im Wege stand. Ein 
stärkeres würde zweifellos weit ausgedehntere Missbildungen 
im Gefolge gehabt haben als diese einfache Abbiegung und Ver- 
breiterung eines Teiles des Schildes. (Man denke an omphalo- 


168 H. TRIEPEL, 


cephale Missbildungen bei Vogelembryonen!) Aus diesem 
Grunde glaube ‚ich auch, dass die einzelnen besonders be- 
schriebenen Teile des abgebogenen Gehirnabschnittes, die An- 
lagen der Augenblasen und des Gehirnteiles der Hypophyse, 
nicht verändert sind und als normal angesehen werden dürfen !). 


Das Schildentoderm zeigt einfache Verhältnisse, es 
besteht im allgemeinen aus flachen Zellen, die sich meist gut 
von den höheren Zellen der eingelagerten Chordaplatte unter- 
scheiden lassen (s. o. S. 156 Anm.). Nach aussen von einem 
schmalen Bezirke mit niedrigen Zellen werden sie wieder etwas 
höher, um so den Übergang zu den gleichfalls höheren Zellen 
des Nabelblasenentoderms zu vermitteln. Die Modellierungen 
am Gehirnteil des Ectoderms wiederholt das Entoderm, das über 
jenes hinweggezogen, aber von ihm durch zwischengelagertes 
Mesoderm getrennt ist. 


An einigen Stellen schickt das Entoderm Zellfortsätze 
in den zwischen ihm und dem Mesoderm liegenden Raum 
zur Beteiligung an der hier stattfindenden Gefässbildung 
(Figg. 7—9), für die allerdings (die Bedeutung des inneren 
Keimblattes gegenüber derjenigen des mittleren in den Hinter- 
grund tritt, namentlich in dem mittleren und hinteren Teil 
des Schildes (s. u.). 


1) Natürlich springt die beschriebene Abbiegung am Modell sofort in 
die Augen. Ich war leider nicht in der Lage, mit Hilfe einer Richtebene zu 
modellieren, und man könnte meinen, dass die Biegung des Modells nur ein 
Kunstprodukt ist und in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war. Richtzeichen 
sind zwar an meiner Serie vorhanden, aber sie sind so weit von dem Embryo- 
nalgebilde entfernt, dass ich auch durch Anwendung der für solche Fälle 
empfohlenen Hilfsmittel nicht zum Ziele kam. Vor Fehlern glaube ich mich 
indessen dadurch geschützt zu haben, dass ich das ganze Amnion und einen 
Teil der Nabelblase mit modellierte, diese beiden dünnen Membranen also 
gewissermassen zu Richtzeichen machte. Noch klarer geht die Berechtigung 
meines Verfahrens daraus hervor, dass ich alle Formverhältnisse, die mir das 
Modell zeigt, bereits vor seiner Anfertigung durch das Studium der Serie (Be- 
rücksichtigung von Flachschnitten u. dgl.) erkannt hatte. 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 10. 


EURO 
Jo. 


H. Limpricht gez. 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Kgl. Univ.-Druck. H. Stürtz A.G., Würzbg. 


Anatom. Hefte. I. Abt. 162. Heft (54. Bd., H. 1). Tafel 11. 


H. Limpricht gez. 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Kgl. Univ.-Druck. H. Stürtz A.G., Würzbg. 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurenterieus. Chordulation. 169 


Von einer Anlage des Kopfdarmes ist an dem Ento- 
derm noch nichts zu bemerken. 

Die Cloakenmembran (Fig. 5) ist, wie bereits er- 
wähnt, sehr klein, sie findet sich nur in einem Schnitte, dem 
132. der Serie. Beide Keimblätter, Ectoderm und Entoderm, 
zeigen hier, wo sie sich berühren, grosse kubische Zellen. 
Das Mesoderm schiebt sich von hinten wie auch von den 
beiden Seiten in Form eines Keiles gegen die Cloaken- 
membran vor. 

Über den Ursprung des embryonalen Meso- 
derms aus Primitivstreifen und Kopffortsatz sowie über seine 
Beziehungen zum Ectoderm habe ich bereits oben berichtet 
(S. 160 f.). Neben dem Kopffortsatz und diesen nach vorn noch 
etwas überragend zieht sich jederseits das Mesoderm in Form 
der Ursegmentplatte (Figg. 2 u. 3) hin, die in ihrem 
hinteren Teil eine Stärke von im Mittel 4—5 Zellagen besitzt. 
Vorn wird sie dünner, wobei sich die beiden Seiten insofern 
asymmetrisch verhalten, als die Dickenabnahme links 
etwa 22, rechts etwa 40 Schnitte vor dem neurenterischen 
Kanal beginnt. Gleichzeitig nimmt die Breitenausdehnung der 
Ursegmentplatte zu. Lateral reicht sie entweder in gleicher 
oder verminderter Stärke bis zum Rande des Schildes, wo 
sie sich in den parietalen und visceralen Mesoblast teilt, die 
das Amnion bzw. die Nabelblase überziehen (Figg. 2 u. 3). 
Der Amnionmesoblast wird sofort oder doch sehr bald ein- 
schichtig, der Nabelblasenmesoblast verdickt sich zum Zwecke 
der Blut- und Gefässbildung. 

Von einer Differenzierung einzelner Urseg- 
mente ist noch nichts oder höchstens der erste Anfang zu 
bemerken; bei einer zeichnerischen Rekonstruktion der Serie 
fand ich keine Zwischenräume, die als Intersegmentalspalten 
gedeutet werden könnten und rostrale und caudale Grenzen 
von Ursegmenten erkennen liessen. Immerhin ist bemerkens- 


170 H. TRIEPEL, 


wert, dass die Ursegmentplatten an ihrem medialen Ende in 
den Schnitten 119—108 eine auffallende Verdünnung zeigen, 
die vielfach zu einer vollständigen Durchbrechung führt. Man 
könnte daran denken, dass ebendort die mediale Grenze des 
späteren ersten und zweiten Ursegmentes gesucht werden muss. 
Indessen wird die Deutung dadurch erschwert, dass die Durch- 
brechungen nur in einem Schnitte, dem 113., symmetrisch 
auf beiden Seiten liegen (Fig. 2), sonst aber sich nur ein- 
seitig finden. Wenn die Durchbrechungen einer schräg ver- 
laufenden Intersegmentalspalte entsprechen sollten, so wäre 
zu erwarten, dass sie sich in aufeinanderfolgenden Schnitten 
über die Breite der Ursegmentplatte verschieben. Das ist aber 
nicht der Fall. Auch kommen weiter vorn noch mehrfach 
Durchbrechungen der Ursegmentplatten vor, sowohl in ihrem 
medialen wie in ihrem lateralen Teile, die nicht mit einer 
Differenzierung von Ursegmenten in Zusammenhang gebracht 
werden können. Der laterale Teil der Ursegmentplatten ent- 
spricht der Stelle der späteren Ursegmentstiele. 

Die Asymmetrie geringen Grades, die in den Ursegment- 
platten zum Ausdruck kommt, musste zwar vermerkt werden, 
scheint mir aber nicht bedeutungsvoll zu sein. In den Ur- 
segmentplatten werden an mehreren Stellen quer verlaufende 
Spalten sichtbar, die sich bei der Verfolgung der Serie zu- 
meist als Ausläufer des Exocoeloms erweisen. 

An der ventralen Seite der Ursegmentplatten werden von 
deren Zellen Fortsätze abgegeben, die in den Raum zwischen 
Mesoderm und Entoderm hineinwachsen (Fig. 3). Auch ganze 
Zellen lösen sich, allerdings nur in geringer Zahl, aus dem 
epithelialen Verbande des Mesoderms und werden zu mesen- 
chymatischen Elementen (Figg. 8 u.'9). Solche Mesenchymzellen 
und die Zellfortsätze umscheiden Hohlräume und liefern damit 
die zarte Wand junger Blutgefässe. Die Räume sind 
oft, namentlich in den mittleren und hinteren Teilen der 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 171 


Embryonalanlage noch sehr weit offen. Der Reichtum an Ge- 
fässen ist nicht in allen Teilen des Schildes gleich, er nimmt 
nach vorn zu und wird in dem Mesodermabschnitt recht be- 
trächtlich, der die ventrale Seite der Anlage des primären 
ersten Hirnbläschens überzieht. In den Blutgefässen des 
Schildes fehlt noch jede Spur von Blutzellen. Vom Endothel- 
schlauch des Herzens und von den Venae omphalomesaraicae 
ist noch nichts zu erkennen. An der mehrfach erwähnten Ab- 
biegungsstelle des vorderen Kopfteiles finden sich zwischen 
Mesoderm und Entoderm grosse freie Räume, die aber kaum 
als Anlage der genannten Venen gedeutet werden können, da 
sie nicht von zusammenhängenden Wänden umgeben sind (vel. 
Fige. 8 u. 9). Sie sind vermutlich bei der Biegung des Kopfes 
entstanden, die ich, wie erwähnt, auf eine mechanische Ur- 
sache zurückführen möchte (S. 167). 

Der beschriebene Vorgang der Gefässbildung setzt sich 
von dem embryonalen Mesoderm auf den Anfangsteil des 
visceralen Mesoblasts fort. Auf die Verhältnisse, die sich an 
der Nabelblase finden, werde ich später einzugehen haben. 
An der dorsalen Seite des Mesoderms sprossen einige Zell- 
ausläufer aus ihm (und dem benachbarten Ectoderm?) hervor 


(Fig. 4), sie sind aber hier nur vereinzelt. 


Die embryonalen Hüllen und Anhänge. 


Über den Bau des Chorions gibt das kleine viereckige 
Stück, das von diesem an dem Präparat erhalten ist, in ge- 
nügender Weise Auskunft. Das Chorion besteht aus einer 
mesodermalen Grundlage und einem ectodermalen Überzug, 
der sowohl die eine Seite der Grundmembran wie die von 
ihr abgehenden Zotten bekleidet. Die Dicke der Grundmembran 
beträgt 0,16 mm, die Zone der Zotten schwankt ın ihrer 
Breite ungefähr zwischen 0,48 und 0,64 mm. Die Zotten gehen 
nicht unter rechtem Winkel von der Grundmembran ab, darum 


172 H. TRIEPEL, 


sind sie meist in den Schnitten nicht längs, sondern schräg 
oetroffen und abgekappt. Sie sind im allgemeinen sehr plump 
und unregelmässig gestaltet, sind reich verzweigt und hängen 
durch seitliche Ausläufer untereinander zusammen. Der meso- 
dermale Teile sowohl der Grundmembran wie der Zotten besteht 
aus lockerem Mesenchym mit vielen dünnen Zellausläufern 
und kleinen, runden, hellen Kernen. In der Grundmembran 
sind Kanäle, die Anlagen von Gefässen, nachweisbar, sie ent- 
halten aber keine Blutzellen. An dem ectodermalen Teil ist 
eine Langhanssche Zellschicht mit runden, hellen, bläs- 
chenförmigen Kernen und ein Syneytium zu unterscheiden, 
dessen Plasma dunkel gefärbt ist, und dessen Kerne ebenfalls 
dunkel sind und meist länglich und parallel der Oberfläche 
plattgedrückt erscheinen. Auf der Innenseite des Chorions 
liegen Teile des Magma reticulare (s. u.). 

Der Haftstiel verbindet das Mesoderm des Chorions 
mit dem der Embryonalanlage (Fig. 6). Er ist nicht ganz 
1 mm lang, hat in der Nähe des Chorions einen annähernd 
kreisrunden Querschnitt und einen Durchmesser von ungefähr 
0,3 mm. Oberhalb der Embryonalanlage erscheint er durch 
das anliegende Amnion von vorn nach hinten zusammen- 
gedrückt. Die Mesodermmassen, die seitlich an der Cloaken- 
membran vorbeiziehen (Fig. 5), vereinigen sich unmittelbar 
hinter dieser und bilden so die Basis des Haftstieles, der 
von hier aus aufsteigt und mässig nach vorn geneigt nach 
dem Chorion hinzieht. Er liegt hinter dem Amnion, dessen 
hintere Wand in seine vordere Seite eingegraben ist. Die 
Fläche, durch die er mit dem Chorion in Verbindung steht, 
ist nicht senkrecht zu seiner Längsrichtung, sondern stark 
seitlich geneigt. Bei seinem Übergang in das Chorion weist 
er an seiner vorderen Seite eine kleine Verletzung auf, es 
sieht so aus, als sei er bei der Präparation angebrochen 
worden, wenn auch die Beschädigung nur gering ist. 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 173 


In seiner Mitte baut sich der Haftstiel aus einem zell- 
reichen Gewebe auf, dessen Kerne klein und rund sind und 
zum Teil als bläschenförmig, zum Teil als solid bezeichnet 
werden können. Hier finden sich auch Stücke von mit Blut- 
zellen gefüllten Gefässen, die aber nur kurz sınd und sich 
selten über mehrere Schnitte verfolgen lassen (Fig. 6). Die 
Tatsache, dass solche isolierte (Gefässabschnitte vorkommen, 
spricht dafür, dass sie nicht-in den Harfitstiel'ein- 
sewandert, sondern zusammen mit den Blut- 
zellen an Ort und Stelle entstanden sind. Nach 
aussen von dem dichten mittleren Teil des Haftstieles liegt 
lockeres Mesenchymgewebe, und dieses wird durch ein flaches 
Mesothel bedeckt, das die Grenze gegenüber dem Exocoelom 
bildet. Das Mesothel überzieht aber den Haftstiel nicht in 
seiner ganzen Ausdehnung, sondern vom Schild aus gerechnet 
nur ungefähr bis zu seiner halben Länge, an einigen Stellen 
etwas weiter, an anderen etwas weniger weit. Nach aussen 
von dem Mesothel finden sich in mässiger Menge faserig- 
krümelige Massen, Teile des Magma reticulare, von dem noch 
später die Rede sein wird. 

Das Amnion sitzt auf dem Embryonalschild in der 
Form einer Zipfelmütze. Diabei entspringt es allseitig am 
Rande des Schildes, und der in die Höhe gezogene Zipfel 
liegt nahe dem hinteren Ende, nur wenig rostral von dem 
den Canalis neurentericus enthaltenden Schnitte. Sein vorderes 
Ende ist nach vorn und unten ausgesackt, zur Aufnahme 
des vordersten, ventralwärts abgebogenen Schildendes. Der 
Zipfel ragt in das mesenchymatöse Gewebe des Haftstieles 
hinein. Die Längsausdehnung des Amnions beträgt 1,29 mm, 
seine Höhe mass ich hinten, in der Gegend des Zipfels zu 
0,854 mm, weiter vom ist sie — 0,1, am vorderen Ende 
— 0,84 mm. Die Breite beträgt hinten 0,27, weiter vorn, im 
Kopfgebiet, an der weitesten Stelle 0,86 mm. 


174 H. TRIEPEL, 


Die Wand des Amnions besteht aus zwei Lagen von 
Zellen, einem inneren ectodermalen und einem äusseren meso- 
dermalen Blatte. Die Zellen beider Blätter sind niedrig, aber 
nicht als abgeplattet zu bezeichnen. Diejenigen des Mesothels 
trennen sich in der Nähe des Amnionzipfels von dem ecto- 
dermalen Blatt und gehen in den Überzug des Haftstieles 
über. In dem mesodermalen Teil des Amnions sind einige 
vereinzelte Blutzellen zu sehen. Die Stellen, an denen sie 
sich finden, liegen in der Nähe des Haftstieles und des visce- 
ralen Mesoblasts, so dass man sie wohl mit dem Mesoderm 
des Haftstieles und der Nabelblase in Beziehung zu setzen 
hat. An der Aussenseite des Amnions sind an mehreren 
Stellen Auflagerungen von Magma reticulare zu sehen. 

Sehr sorgfältig wurden die Schnitte daraufhin untersucht, 
ob in der Verlängerung des Amnionzipfels ein Amniongang 
oder Reste eines solchen vorhanden sind, oder ob eine zellige 
Verbindung zwischen dem Eetoderm des Amnions und dem 
des Chorions besteht. Aber nichts dergleichen liess sich nach- 
weisen. 

Die Nabelblase stellt einen unter dem Schilde hängen- 
den Sack dar, der in der Richtung von vorn nach hinten 
ein Innenmass von 1,46 mm besitzt. Der Sack ist in der 
Querrichtung unregelmässig komprimiert, seine Weite beträgt 
ungefähr 0,3—0,6 mm, seine Höhe 1,6 mm. Vorn wird die 
Nabelblase durch den nach unten abgebogenen Kopfteil des 
Schildes eingeengt, so dass sie zuletzt die Form eines schmalen 
Spaltes annimmt. 

Die Wand der Nabelblase besteht aus dem ein- 
schichtigen auskleidenden Entoderm und darauf liegendem 
Mesoderm. Dias Nabelblasenentoderm besteht aus kubischen 
Zellen mit grossen, bläschenförmigen Kernen und trübem 
Protoplasma. Das Mesoderm der Nabelblase entwickelt sich 


aus den anfangs niedrigen Zellen des visceralen Mesoblasts 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurenterieus. Chordulation. 175 


und wird aus mehreren Lagen höherer Zellen gebildet. Die 
äusserste Lage ist die Grenze gegen das Exocoelom und schliesst 
sich an das auf dem Amnion liegende, aus niedrigen Zellen 
bestehende Mesothel an, von dem sie sich jedoch durch die 
Form und Anordnung ihrer Elemente unterscheidet. Diese 
schliessen sich nicht zu einer lückenlosen zusammenhängen- 
den Schicht zusammen, zeigen vielmehr mancherlei Unter- 
brechungen. Von den darunter liegenden Mesodermzellen haben 
sie sich nicht deutlich differenziert. 

In dem Nabelblasenmesoderm finden sich Blutzellen und 
Gefässanlagen in grosser Menge. Aus tiefen Zellen des An- 
fangsteiles vom visceralen Mesoblast entwickeln sich Ausläufer, 
die ebenso wie ähnliche Ausläufer von benachbarten Ele- 
menten der Ursegmentplatten zur Gefässbildung verwandt 
werden (vgl. S. 170f.). Weiter peripher sieht man innerhalb 
des Mesoderms Haufen von Zellen, die von der Umgebung 
nicht scharf getrennt sind und vor allem sich durch die An- 
wesenheit zahlreicher Erythroceyten mit dem grossen hellen 
Zelleib und dem meist kleinen, intensiv gefärbten Kern aus- 
zeichnen (Fig. 11). Die andern Zellen der Haufen haben 
Kerne, die entweder denen der Erythrocyten gleichen oder 
grösser, etwas blasser und nicht homogen erscheinen, und 
die von protoplasmatischen Fäden umgeben sind. Die fädigen 
Strukturen können an Schrumpfungsbilder erinnern (Fig. 11er’). 
Die Vermutung scheint mir nahe zu liegen, dass es sich um 
Übergangsformenzwischen Mesodermzellenund 
Erythrocyten handelt (Erythroblasten). 

Besonders grosse Blutinseln finden sich ca. 50 Schnitte 
hinter dem vorderen Ende der Nabelblase. Man könnte daran 
denken, dass hier die (vorübergehende) Anlage eines Sinus 
terminalis vorliegt; das kann aber nicht sein, da beiderseits 
von dieser Stelle Gefässanlagen vorhanden sind. 

In dem Nabelblasenmesoblast sieht man weiterhin Kerne, 


176 H. TRIEPEL, 


die zweifellos zu Gefässendothelien gehören; sie sind 
oval, von der Kante gesehen scheinbar stäbchenförmig, ebenso 
dunkel gefärbt wie die Erythrocytenkerne und sind in Reihen 
angeordnet oder liegen auch deutlichen Kanälen an (nicht ab- 
gebildet). 

Einige Blutzellen liegen auch in dem Entoderm, sie 
scheinen mir in dieses eingewandert zu sein. Selbst im Innern 
der Nabelblase finden sich einige ganz vereinzelte Erythro- 
cyten. 

Die Frage nach der Herkunft von Blut und Ge- 
fässen ist auf Grund der mitgeteilten Befunde dahin zu 
beantworten, dass beide, Blut und Gefässe, Abkömmlinge des 
Mesoderms sind. Es darf nicht übersehen werden, dass, wie 
ich oben (S. 168) erwähnte, sich an einigen Stellen auch Zell- 
ausläufer des Entoderms an der Gefässbildung beteiligen. 
Daraus ist zu schliessen, dass auch das Entoderm gefäss- 
bildende Potenzen besitzt, obschon die Aktivierung dieser 
Potenzen gegenüber der gefässbildenden Tätigkeit des Meso- 
derms in den Hintergrund tritt. Die Blutzellen müssen sich 
im Haftstie! und in der Nabelblasenwand an Ort und Stelle 
aus mesodermalen Elementen entwickeln, in die Blutbahnen 
im Embryonalschild werden sie wahrscheinlich erst später 
nach Beginn der Zirkulation von aussen hineingetragen, doch 
ergeben sich für eine solche Annahme aus meinem Objekte 
keine bestimmten Anhaltspunkte. Das Vorkommen von Blut- 


zellen im Entoderm kann kaum zugunsten eines entodermalen _ 


Ursprungs des Blutes verwandt werden, denn es ist sehr 
wohl möglich und mir sogar wahrscheinlich, dass diese Blut- 
zellen durch das Entoderm hindurchwandern. 

Dem Anscheine nach ist die Frage nach dem Ursprung 
von Blut und Gefässen bei dem Embryo Dy leicht zu be- 
antworten, sie ist aber nicht müssig, im Hinblick darauf, dass 
nicht nur bei niederen Wirbeltieren, sondern auch bei Säugern 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 177 


nahe Beziehungen zwischen Blutbildung und Entoderm bekannt 
geworden sind (vgl. Rückertu. Mollier 14). Die Angelegen- 
heit ist eng mit einer zweiten Frage verknüpft, nämlich der nach 
der Herkunft des Mesoderms, auf die ich auf den nächsten 
Seiten zurückzukommen haben werde. Man muss im Auge 
behalten, dass die Keimblätter gleichsam Durchgangsstationen 
darstellen, die von den Geweben und Organanlagen während 
ihrer Ausbildung durchlaufen werden. Die organbildenden 
Stoffe sind vorhanden, bevor es Keimblätter gibt, das Material 
eines Systems wird, wenn nicht ausschliesslich, so doch in 
der Hauptsache einem bestimmten Keimblatte zugeführt. Die 
Keimblätter werden, wie ich an anderer Stelle (19) darlegte, 
gewiss nicht zu spezifischen Leistungen verwendet, sie haben 
aber doch bestimmte „wesentliche“ Aufgaben zu er- 
füllen, und zu den wesentlichen Aufgaben des mittleren Keim- 
blattes gehört die Differenzierung von Blut und Gefässröhren. 


Als Ausstülpung des Nabelblasenentoderms schiebt sich 
der Allantoisgang (Fig. 6) in die Substanz des Haft- 
stieles hinein. Der Gang entspringt neun Schnitte hinter 
der Cloakenmembran, beginnt mit einer 0,04 mm weiten und 
0,08 mm langen trichterförmigen Erweiterung und setzt sich 
als enger Kanal von 0,024 mm Durchmesser noch auf eine 
Länge von ca. 0,24 mm fort. Im Gang und in der Umgebung 
der trichterförmigen Öffnung wird das Epithel mehrreihig. Der 
Kanal ist fast gerade und nur an seinem oberen Ende leicht 
nach vorn geneigt. Dieses Ende ist ein scheinbares; vor ihm, 
in grosser Nähe der hinteren Amnionwand, liegt, auf drei 
Schnitten sichtbar, ein kleines Bläschen (s. Textfig, auf S. 154), 
das jedenfalls als das wahre, von dem Hauptteil abgetrennte 
Ende des Allantoisganges aufzufassen ist. Der Gang liegt 
nicht in der Verlängerung der Medianebene des Schildes, er 


ist seitlich verschoben (am Modell nach links). 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 162. Heft (54. Bd. H. 1). 12 


178 H. TRIEPEL, 


Der Inhalt des Chorions. 


Innerhalb des Chorions finden sich mässige Mengen von 
Magma reticulare, einer faserig-krümeligen Masse, die 
in 'unregelmässiger Verteilung stellenweise, wie bereits er- 
wähnt, auf dem Amnion, der Nabelblase, dem Haftstiel und 
der Innenseite des Chorions liegt. In dem Magma eingeschlossen 
sind einige vereinzelte Zellen und Zellpartikel. Über die Ge- 
samtmenge des Magma, die an dem Präparat zurzeit seiner 
Eröffnung vorhanden war, kann keine Angabe gemacht werden, 
da von dem Chorion nur ein kleiner Ausschnitt erhalten ist. 

Hinsichtlich der Deutung des Magma schliesse ich 
mich der Ansicht Grossers (3) an, nach der es eine Inter- 
cellularsubstanz darstellt. Ich war freilich nicht in der Lage, 
durch selbst beobachtete Reaktionen zu bestätigen, dass es 
aus geronnenem Mucin und anderen Eiweisskörpern besteht, 
ich kann nur angeben, dass es durch Alauncochenille nicht 
gefärbt wird. Ähnliche Massen sah auch Herzog (5) beı 
seinem sehr jungen Embryo innerhalb des Chorions; er hält 
sie, soweit es sich um fädige Gebilde handelt, für Überreste 
desgenerierender Mesodermzellen. 

Der Raum zwischen Chorion einerseits, Amnion, Nabel- 
blase und Haftstiel andererseits ist als ein durch Intercellular- 
räume erweitertes ausserembryonales Coelom zu deuten. Wahr- 
scheinlich tritt, wie Grosser (3) an der Hand einer von 
ihm angefertigten Rekonstruktion des Petersschen Eies 
zeigt, das Coelom auf einem sehr frühen Stadium als eine 
kleine Lücke neben und vor der Embryonalanlage auf. Es 
schwindet die laterale Wand der Lücke, so dass diese ın 
freie Verbindung mit den umgebenden Intercellularräumen 
kommt. Bei dem von Grosser 1913 beschriebenen Embryo 
(3) stellt der endothelartige Überzug von Haftstiel, Ammnion 
und Nabelblase die mediale Wand des Coeloms dar; es ist 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 179 


bemerkenswert, dass dieser Überzug dort, wo sich der Haft- 
stiel an das Chorion ansetzt, mit einem glatten Rande auf- 
hört. Ähnliche Verhältnisse zeigt mein Objekt, nur findet sich 
hier das Ende der endothelartigen Bekleidung (des Mesothels) 
schon früher, etwa in der halben Länge des Haftstiels, und 
ausserdem zieht sich das flache Mesothel nicht über die Nabel- 
blase hinweg, sondern. geht an dieser allmählich in höhere, 
nicht besonders differenzierte Mesodermzellen über. 

Das Zellmaterial, in dem die Anlage des Exocoeloms 
auftritt, ist als primärer Mesoblasi zu bezeichnen. Hier- 
mit soll kein grundlegender Unterschied gegenüber dem (sekun- 
dären) Primitivstreifenmesoblast aufgestellt, sondern nur auf 
die zeitliche und örtliche Verschiedenheit im Auftreten der 
beiden Mesoblastteile hingewiesen werden. Dass sie beide eng 
zusammengehören, geht daraus hervor, dass jede Grenze 
zwischen ihnen verwischt ist; ohne Zweifel wird der meso- 
dermale Überzug von Amnion und Nabelblase von dem primären 
Mesoblast zuerst geliefert, und an diese Teile schliesst sich 
sekundär ein zweiter, von dem Primitivstreifen und Kopffort- 
satz herstammender Mesoblastteil an. Es handelt sich nach 
meiner Meinung um eine örtliche und zeitliche Verschiebung, 
die in der Mesoblastentwickelung während der Phylogenese 
Platz gegriffen hat, um einen Vorgang, zu dem sich verschiedene 
Parallelen aus der Entwickelungsgeschichte anführen lassen. 

Daraus ergibt sich schon, dass ich dem primären Meso- 
blast nicht wie andere Autoren eine grosse phylogenetische 
Bedeutung zuschreiben kann. Nach Schlater (15, 16) stellt 
das Stadium der primären Dreiblättrigkeit, wie es die jüngsten 
bekannten Primatenkeime zeigen, einen wichtigen Knotenpunkt 
der Phylogenese dar, er nennt es Mesenchymula. Hierin 
scheint mir eine Überschätzung des mesenchymatischen Teiles 
des primären Mesoblasts zum Ausdruck zu kommen. Wenn 
auch anzuerkennen ist, dass bei den jüngsten bekannten 


12* 


180 H. TRIEPEL, 


menschlichen Embryonen der primäre Mesoblast nur mesen- 
chymatische Elemente zeigt, so treten doch zu diesen sehr 
bald Haufen oder Stränge von Zellen hinzu, die keine Aus- 
läufer besitzen. In meinem Fall, der freilich nicht mehr zu 
den jüngsten gehört, kommen beide Formen des primären 
Mesoblasts vor; auf der Nabelblase liegen dichtgedrängte Meso- 
dermzellen mit glatter Oberfläche, das Chorion zeigt mesen- 
chymatische Elemente, im Haftstiel bilden, wie beschrieben, 
die beiden Formen zwei verschiedene Schichten. 

Das ausserembryonale Coelom entsteht durch 
einen Spaltungsvorgang in dem primären Mesoblast. Ebenso 
hat sich (schon vorher), wie wohl jetzt allgemein angenommen 
wird, die Nabelblasenhöhle bei den Primaten durch eine 
Diehiscenz entodermaler Elemente gebildet. Beachtenswert 
scheint es mir in diesem Zusammenhang zu sein, dass sich 
Magma reticulare in der Nabelblase findet, eine fädig-krümelige 
Masse von derselben Beschaffenheit, wie sie in dem durch 
Interzellularräume vergrösserten Exocoelom gesehen wird. 
Auch Grosser fand im Dottersack seines Embryos von 
1913 (3) ein krümeliges Gerinnsel und einige freie flottierende 
Zellen. 

Nach der Ansicht der meisten Forscher ist auch die 
Amnionhöhle beim Menschen durch Spaltung entstanden, 
nur Strahl und Beneke (18) halten an der Faltungs- 
theorie fest. Der Embryo Dy bietet wenig Anhaltspunkte, die 
sich zugunsten der einen oder anderen Theorie verwenden 
liessen. Man könnte vielleicht sagen, die Abwesenheit jeder 
magmaähnlichen Formation in der Amnionhöhle deute darauf 
hin, dass diese auf anderem Wege entstanden sei, als die 
Nabelblasenhöhle und das Exocoelom, und die Zipfelbildung 
am oberen Ende des Amnions spreche für die Faltungstheorie. 
Andererseits macht die geringe Ausbreitung des Mesothels es 
wahrscheinlich, dass der Raum, zu dessen Auskleidung es 


Ein menschlicher Embryo mit Canalis neurentericus. Chordulation. 181 


gehört, das Exocoelom, ursprünglich sehr klein war (was mit 
Beobachtungen anderer Forscher übereinstimmt), und zur Er- 
hebung von Amnionfalten ist ein geräumiges Coelom nötig. 
In demselben Sinne könnte das Fehlen einer jeden Verbindung 
zwischen Chorion- und Amnionectoderm herangezogen werden. 
Zu einer Entscheidung der Frage kann nur die Berücksichti- 
gung der jüngsten bekannten Primatenembryonen führen, und 
diese scheinen doch die Annahme eines Spaltungsvorganges 
nahezulegen. Die Bildung des Amnionzipfels und das gelegent- 
. liche Auftreten eines Amnionganges oder eines ectodermalen 
Epithelstranges lassen die Vermutung aufkommen, es habe 
sich bei den Vorfahren der Primaten das Amnion durch Faltung 
gebildet. 


13. 


14. 


15. 


16. 


Zitierte Literatur. 


Bonnet, R., Beiträge zur Embryologie der Wiederkäuer, gewonnen an 
Schafen. Arch. f. Anat. u. Phys., Anat. Abt. 1889. p. 1ff. 

— Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte. 2. Aufl. Berlin 1912. 
Grosser, O., Ein menschlicher Embryo mit Chordakanal. Anat. Hefte. 
Abt. I. Bd. 47. 1913. p. 653 ff. 

Hertwig, O., Die Lehre von den Keimblättern. Handb. d. Ent- 
wickelungslehre. Bd. 1. I. T. 1906. S. 699 ff. 

Herzog, M., A contribution to our knowledge of the earliest known 
stages of placentation and embryonic development in man. The Americ. 
Journ. of Anatomy. Vol. 9. p. 361 ff. 

Hubrecht, A. A. W., Die erste Anlage des Hypoblast bei den Säuge- 
tieren. Anat. Anz. Bd. 3. 1888. p. 906 ff. 

— Die Gastrulation der Wirbeltiere. Anat. Anz. Bd. 26. 1905. p. 353 ff. 
Keibel, F., Zur Entwickelungsgeschichte der Chorda bei Säugern. Arch. 
f. Anat. u. Phys., Anat. Abt. 1889. p. 329 ff. 

— Studien zur Entwickelungsgeschichte des Schweines. Schwalbes 
Morphol. Arb. Bd. 3. 1893. 

— Die Gastrulation und die Keimblattbildung der Wirbeltiere. Ergebn. 
d. Anat. u. Entwickelungsgesch. Bd. 10. 1901. p. 1002 ff. 


. — Zur Gastrulationsfrage. Anat. Anz. Bd. 26. 1905. p. 366 ff. 


— Die Bildung der Keimblätter und das Gastrulationsproblem. Handb. 
d. Entwickelungsgesch. d. Menschen. Herausgeg. von F. Keibel und 
Er P. Mall, 12 Bd. 1910, p: 498. 

Kupffer, C., Die Gastrulation an den meroblastischen Eiern der Wirbel- 
tiere und die Bedeutung des Primitivstreifs. Arch. f. Anat. u. Phys., 
Anat. Abt. 1882. p. 1ff., p. 139 ff. 1884. p. 1ff. 

Rückert, J. und Mollier, S., Die erste Entstehung der Gefässe und 
des Blutes bei Wirbeltieren. Handb. d. Entwickelungslehre d. Wirbel- 
tiere. 1. Bd. I. T. 2. Hälfte. 1906. p. 1019 ff. 

Schlater, G., Über die phylogenetische Bedeutung des sogenannten 
mittleren Keimblattes. Anat. Anz. Bd. 31. 1907. p. 312ff. p. 321 ff. 

— Zur Frage vom Ursprung der Chordaten nebst einigen Bemerkungen 
zu den frühesten Stadien der Primaten-Embryogenese. Anat. Anz. Bd. 34- 
1909. p. 33 ff. 


Citierte Literatur. 183 


17. Spee, F. Graf, Beobachtungen an einer menschlichen Keimscheibe mit 
offener Medullarrinne und Canalis neurentericus. Arch. f. Anat. u. Phys., 
Anat. Abt. 1889. p. 159 ff. 

18. Strahl, H. und Beneke, R., Ein junger menschlicher Embryo. Wies- 
baden 1910. 

19. Triepel H., Chorda dorsalis und Keimblätter. Anat. Hefte. 1. Abt. 
Bd. 50. 1914. p. 499 ff. 

20. — Altersbestimmung bei menschlichen Embryonen. Anat. Anz. Bd. 46. 
1914. p. 385 ff. 

21. — Das Alter menschlicher Embryonen. Berl. klin. Wochenschr. 1914. 
Nr. 33. 

22. — Alter menschlicher Embryonen und Övulationstermin. Anat. Anz. 
Bd. 48. 1915. p. 133 £f. 

23. Wilson, J. T., Observations upon young human embryos. Journal of 
Anatomy and Physiol. Vol. 48. 1914. p. 315 ff. 

24. Rabl, C., Edouard van Beneden und der gegenwärtige Stand der 


wichtigsten von ihm behandelten Probleme. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 88. 
1915. p. 3. 


Erklärung der Abbildungen. 


Tafel 9/11. 


Die Figuren 1—9 stellen Querschnitte durch den Embryo Dy dar, ge- 
zeichnet mit Zeiss Obj. C. Oc. 1. Vergr. 105. Die Lage der Schnitte ergibt 
sich aus der Textfigur auf S. 154, in der sie durch die kleinen Teilstriche der 
horizontalen Linie angezeigt wird. 

Fig. 1. Schnitt 120. Canalis neurentericus, Ectoderm, Entoderm, 
Mesoderm. 

. Fig. 2. Schnitt 113. Kopffortsatz. Medullarfurche weit. Chordaplatte 
mit angedeuteter Chordaabschnürung (?). Ursegmentplatte. Visceraler und 
parietaler Mesoblast. 

Fig. 3. Schnitt 107. Kopffortsatz. Mesodermursprung aus demselben. 
Medullarfurche weit. Chordaplatte. Ursegmentplatte. Gefässbildung. Vis- 
ceraler und parietaler Mesoblast. 

Fig. 4. Schnitt 126. Primitivstreifen mit Primitivrinne. Hinterer Teil 
der Chordaplatte. Mesodermursprung aus dem Primitivstreifen. Visceraler 
und parietaler Mesoblast. 

Fig. 5. Schnitt 132. Cloakenmembran. 

Fig. 6. Schnitt 141. Allantoisgang. Haftstiel mit Mesothelbekleidung. 
Blutinseln und Gefässanlagen im Mesoderm. 

Fig. 7. Schnitt 67. Medullarfurche eng. Die beiden Mesodermplatten 
verbinden sich zwischen Medullarplatte und Entoderm. Gefässanlagen. 

Fig. 8. Schnitt 61. Medullarfurche eng. Mesodermursprung aus dem 
Ectoderm. Einige Mesodermzellen wachsen zwischen Medullarplatte und Ento- 
derm hindurch. Gefässanlagen. 

Fig. 9. Schnitt 59. Medullarfurche eng. Mesodermursprung aus dem 
Eetoderm. Die beiden Mesodermplatten verbinden sich zwischen Medullar- 
platte und Entoderm. Gefässanlagen. 

Fig. 10. Eetoderm aus Schnitt 54, dessen Lage aus der Textfigur auf 
S. 154 zu ersehen ist. Gezeichnet mit Leitz Obj. 3. Oc. 3. Vergr. 80. Ab- 
gebogener Kopfteil der Medullarplatte. Anlagen der Augenblasen. Hypo- 
physengang. Die unter diesem Gang liegende grössere helle Stelle entspricht 


Erklärung der Abbildungen. 185 


einer Vertiefung, die sich von der caudalen Seite her in das Ectoderm ein- 
gesenkt hat. 

Fig. 11. Ausschnitt aus der Nabelblasenwand in Schnitt 107. Gezeichnet 
mit Leitz Obj. 6, Oc. 3. Vergr. 350. Erythrocytenbildung im Mesoderm. 


Zeichenerklärung. 


a — Augenblasenanlage. 
all = Allantoisgang. 
ch — Chordaplatte. 
cl = Cloakenmembran. 
en — Canalis neurentericus. 
ect = Ectoderm. 
ent — Entoderm. 
er — Erythrocyt. 
er’ — Erythroblast. 
g = Gefässanlage. 
h = Haftstiel. 
— Hinterer Teil der Chordaplatte. 
hy = Hypophysenstiel. 
m — Mesoderm, Mesodermzelle. 
— Medullarfurche. 
pr = Primitivrinne. 
us —= Ursegmentplatte. 


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AUS DEM PSYCHIATRISCHEN LABORATORIUM DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN. 
(DIREKTOR: PROF. A. FRIEDENREICH.) 


HISTOLOGISCHE UND EMBRYOLOGISCHE 
UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE ZIRBEL- 
DRÜSE DES MENSCHEN. 


VON 


KNUD H. KRABBE, 


EFRIVATDUOZENT, OBERARZT AM ST. JOHANNES - KRANKENHAUS 
(DIREKTOR: DR. F. VOGELIUS) KOPENHAGEN 


Mit 28 Figuren auf den Tafeln 12—26. 


Anatomische Hefte I. Abteilung. 163, Heft (54. Bd. H. 2). 13 


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Vorwort 


Inhaltsverzeichnis. 


Material und Technik 
Fetale Entwickelung . 
Das Parenchym ß 
I.=Die Meiamorpliore 
II. Der Bau des Parenchyms ach der Metamorphe 


a) Erster Zelltypus: Die Pinealzellen 


b) Die kernexkretorischen Vorgänge in den Pinestelien 


c) Kernteilungsfiguren der Pinealzellen . 
d) Sekretkapillaren . So N 
e) Zweiter Zelltypus: Die Gliazellen 
f) Dritter Zelltypus: Die Nervenzellen . 


Das Bindegewebe . 
I. Das Stroma . 


11. 


IDEE 
IV. 


Die Bindegew ehekapsel 


Quergestreifte Muskulatur 
Die Wanderzellen . 

a) Die Mastzellen 

b) Die Pigmentzellen 

c) Andere Zellen 


Recessus, Cysten und Gliaflecken 
Basalglia . 

Die Concremente a: 
Biologische Betrachtungen . 


Resume 


Verzeichnis über des Material 
Literaturverzeichnis 
Krsurenerklärung y. = 4. 7. v2 0 hosen 


13* 


Seite 
191 


193 
196 
213 
213 
216 
223 
228 
235 
236 
238 
242 
254 
254 
264 
265 
266 
268 
273 
273 
276 
286 
287 
293 
299 
305 
sll 
317 


Vorwort. 


Im Jahre 1911 haben wir in der „Nouvelle Iconographie 
de la Salpetriere‘“ eine kleine Arbeit: „Sur la glande pineale 
chez l’homme“ veröffentlicht. Seitdem haben wir Gelegenheit 
gehabt eine weit grössere Anzahl von Zirbeldrüsen histologisch 
zu untersuchen und dadurch unsere früheren Untersuchungen 
ergänzt. 

Die Punkte, an denen sowohl unsere, als auch die Unter- 
suchungen anderer Verfasser eine Ergänzung bedürfen, sind 
folgende: 

1. Eine Untersuchung embryologischen Materials. 

2. Eine Untersuchung an Materialien von möglichst nor- 
malen Menschen in grösserer Menge als bisher vorgenommen 
(die meisten Verfasser legen darüber keine Rechenschaft ab, 
an welchen Krankheiten ihre Patienten gestorben sind und 
welchen Einfluss diese auf die Struktur der Zirbeldrüse haben 
können). 

3. Ein Vergleich der einzelnen Elemente der Zirbeldrüse 
bei Kindern und Erwachsenen in allen verschiedenen Alters- 
stufen bis zum höchsten Alter hinauf. 

4. Eine Ausdifferenzierung der protoplasmatischen Struk- 
turen. 

5. Ein Vergleich der Resultate der verschiedenen modernen 
Färbe- und Imprägnationsmethoden. 


192 KNUD H. KRABBE, 


6. Eine Verwertung der verschiedenen biologischen Eigen- 
artigkeiten der Zirbeldrüse mit spezieller Rücksicht auf die 
Fragen über die Involution, die nervöse Funktion oder innere 
Sekretion. 

Diese verschiedenen Aufgaben haben wir nach bestem 
Vermögen zu lösen gesucht; dazu stand uns 3 Jahre lang 
das ungewöhnlich reiche Material des pathologisch-anatomi- 
schen Institutes des Kommunehospitales in Kopenhagen zur 
Verfügung. 

Die Arbeit wurde auf dem Hospice de Bicetre bei Paris 
begonnen, auf der Kopenhagener Irrenanstall St. Hans Hospital 
fortgesetzt; der grösste Teil ist auf dem psychiatrischen Labora- 


torium der Kopenhagener Universität ausgeführt worden. 


Denen, die mir auf verschiedener Weise bei meiner Arbeit 


behilflich waren, sage ich hiermit meinen besten Dank; es 


sind dies: Herr Professor Dr. Pierre Marie, welcher mır 
ursprünglich die Idee zur Arbeit gegeben hat; Prof. Gustave 
Roussy und Dr. Pierre Ameuille, welche mir beide 


anfangs geholfen haben; Dr. Emil Bertelsen, welcher 


mich während meiner Arbeit auf dem St. Hans Hospital mit 


grosser Liebenswürdigkeit in die modernen Methoden der Hirn- 
histologie eingeführt hat; Dr. H. C. Hall und Dr. Otto 


\agaard, welche mir mit Mikrophotographieren, Korrektur 


und Beschaffung embryologischen Materiales halfen; den Uni- 
versitätsprofessoren, welche mir die Bibliotheken ihrer Insti- 
tute zur Verfügung stellten; den Direktoren und Prosektoren, 
welche mir Material von ihren Abteilungen gegeben haben. 
Dieser letztere Dank gilt in erster Linie Direktor Professor 
Dr. A. Friedenreich, welcher mir durch mehrere Jahre 
hindurch erlaubt hat, am psychiatrischen Laboratorium der 


Kopenhagener Universität zu arbeiten. 


+ 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 193 


Material und Technik. 


Die Bestimmung des normalen Baues der Zirbeldrüse des 
Menschen ist eine Aufgabe, welche verschiedene Schwierig- 
keiten darbietet. Diese bestehen teils in den agonalen, teils 
in den postmortalen Veränderungen, ferner in Veränderungen, 
welche überstandene Krankheiten hervorgerufen haben, und 
solche, welche die tödlich verlaufenden Krankheiten hervor- 


brachten. 


Obgleich man nicht dieselben idealen Forderungen an-das 
Material von Menschen wie an das von Tieren machen kann, 
ist es doch notwendig, diesem Ungemach soweit möglich zu 


begegnen. 


Unser Material (siehe Tabelle), welches im ganzen aus 
ca. 350 Zirbeldrüsen (dazu ca. 30 Embryonen) bestand, haben 
wir später reduziert, so dass wir nur 20 als „normal“ be- 
trachtet haben, nämlich solche von Personen, welche schnell 
nach Unglücksfällen gestorben sind. Dazu kommt „Normale 
Gruppe Il“ von 19 Zirbeldrüsen. Diese rühren von Personen 
her, welche an schnell verlaufenden Krankheiten gestorben 
sind, Krankheiten, welche wenigstens kaum chronische Ver- 


änderungen der Zirbel hervorgebracht haben. 


Die dritte Gruppe ist nicht normal. Sie ist nur zum 
Vergleich mit den normalen gebraucht worden, um das kon- 
stante Vorkommen von. Eigentümlichkeiten, welche bei den 
normalen konstatiert worden sind, zu kontrollieren ; sicherheits- 
halber haben wir aus dieser Gruppe doch Fälle, welche an 
folgenden Krankheiten gelitten haben, ausgeschlossen: Hirn- 
krankheiten, Syphilis, hochgradiger Alkoholismus, Blutkrank- 
heiten, Zuckerkrankheit, Fettsucht, schwere Herzkrankheit oder 


andere Krankheiten, welche wahrscheinlich spezielle Verände- 


194 | KNUD H. KRABBE, 
rungen in der Zirbeldrüse hervorbringen konnten. Diese 
restierenden Fälle sind 27. 

Alle die anderen 250 Fälle sind ausgeschlossen, teilweise 
zu späteren pathologisch-anatomischen Untersuchungen. 

Das brauchbare Material ist also nicht besonders gross 
und die Würdigung der Normalität muss trotz allem mit Reserve 
vemacht werden. 

Däs andere Ungemach waren die postmortellen Verände- 
rungen. Diesen haben wir dadurch zu helfen versucht, dass 
wir in einer Reihe von Fällen kurz nach dem Tode Injektion 
von Fixationsmitteln im Subarachnoidealraum gemacht haben. 
Die Injektion ist durch die Nase, durch das Os ethmoidale 
gemacht worden; in mehreren Fällen haben wir zugleich 
Lumbalpunktion gemacht, damit die Zerebrospinalflüssigkeit 
auslaufen konnte und keine schädigende Druckerhöhung eintrat. 
Als Injektionsflüssigkeitlen wurden gebraucht: 610% Formal- 
dehyd, Formolalkohol, 96% Alkohol und in einzelnen Fällen 
Formol-Müllers Flüssigkeit. . 

Nach Ausnehmen des Gehirnes wurde die Zirbeldrüse mil 
Umgebungen weiter fixiert in 4—10% Formaldehyd, Formol- 
alkohol, 96 und 99% Alkohol, Propylalkohol, konz. wässeriges 
Sublimat, Sublimatessig und Heidenhains Subtriessig, 
Flemmings Flüssigkeit, Müllers und Orths, Golgis 
und Cajals Flüssigkeiten. 

Nach dem Fixieren wurden die Stücke von Erwachsenen 
gewöhnlich in zweı Hälften geteilt und die eine Hälfte mil 
510% Essig oder 5% Trichloressig (der Fixationsflüssig- 
keit zugesetzt) dekalziniert. Die nicht dekalzinierten Stücke 
wurden zur Kontrolle der Wirkung der Dekalzinationsflüssig- 
keit mit einem besonders harten, aber natürlich bald schartigen 
Mikrotommesser geschnitten. 

Von einigen Stücken wurden Gefrierschnitte für Fett- 


färbung und Bielschowsky - Imprägnierung angefertigt. Die 


Tafel 12. 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2) 


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Tafel 14. 


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Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2) 


Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 195 


anderen wurden durch Xylol in Paraffin eingebettet. Später 
wandten wir die Prantersche Einlagerungsmethode durch 
Zedernöl und Ligroin an, und benützten statt Paraffin das 
Paraffinoid von Claudius. Dieser Stoff schien uns ganz 
vorzüglich zu sein, er hatte den Vorzug, dass die Stücke nie 
über Körpertemperatur erhitzt wurden und sich doch in 
Schnitten von 5 wu schneiden liessen. Celloidin haben wir 
nur selten benützt. 

Von Färbemethoden haben wir die wesentlichsten ver- 
sucht und sind bei den folgenden für die speziellen Zwecke 
stehen geblieben: 

Für Übersichtsbilder: Hansens Eisentrioxyhämatein und 
Pikrofuchsin. 

Für Kernstrukturen: Heidenhains Eisenhämatoxylin. 

Für die Kernexkretion: Unna-Pappenheims Karbol- 
Methylerün-Pyronin. 

Für Protoplasmastrukturen: Alzheimers Säurefuchsin- 
Liehtgrün und Fieandts Gliafärbung. 

Für Nerven- und Gliazellen: Golgis Methode. 

Für Nervenfasern: Cajals, Bielschowskys und 
Walters Methoden. 

Für Gliafasern: Am besten Alzheimers Säurefuchsin- 
Lichtgrün, ferner Weigerts Gliafärbung und Heidenhains 
Eisenhämatoxylin. 

Für Markscheiden: Weigert-Kulschitzky-Wolters 
Methode. 

Für Bindegewebe: v. Gieson-Hansens Pikrofuchsin 
und Mallorys Anilinblau-Phosphormolybdänsäure. 

Für die Mastzellen und andere Wanderzellen des Binde- 
gewebes: Toluidinblau, Thionin, Dominicis Toluidinblau- 
Eosin, Hämatein-Eosin und Karbol-Methylerün-Pyronin samt 
Fettfärbung mit Sudan. 


196 KNUD H. KRABBE, 


Ferner haben wir eine Reihe andere Methoden versucht, 
aber ohne besonders gute Resultate zu erzielen. 


Fetale Entwickelung. 


Während recht ausführliche Untersuchungen über die Ent- 
wickelung der Zirbeldrüse bei den niederen Wirbeltieren und 
einzelnen Säugetieren vorliegen, haben wir in der Literatur 
nur sehr wenig über deren Entwickelung beim Menschen finden 
können. Wir zitieren darum ausführlich, was die Verfasser 
geschrieben haben. 

Bizzozero erwähnt, dass er bei einem Fetus von 
5 Monaten Zellen von 9-13 u isoliert hat und diese sind 
„eostituite da scarso protoplasma e grasso nucleo, leggermente 


ovale o rotondo“. 


His schreibt über die Entwickelung: 

„Eine Epiphysis des vorderen Zwischenhirndachs ist mir 
auch bei einem menschlichen Embryo von 10,5 mm NI. be- 
gegnet. Die Deckplatte bildet zu der Zeit eine schmale in 
zwei Seitenkanten auslaufende Längsleiste. Nach vorn wird 
diese Leiste dreikantig, und die obere unpaare Kante löst sich 
eine Strecke weit als selbständiges Anhangsgebilde von ihrem 
Boden ab. Als ich dies Verhalten zum ersten Male vor einer 
Reihe von Jahren fand, glaubte ich damit die Geschichte der 
Zirbel erkannt zu haben, und erst eine sorgfältige Profil- 
konstruktion belehrte mich darüber, dass der fragliche Aus- 
wuchs dem vorderen Ende des Zwischenhirndaches angehöre. 
Das Gebilde scheint sich später in der Adergeflechtfalte zu 
verlieren. Die eigentliche Zirbelanlage entwickelt sich beim 


menschlichen Embryo erheblich später und nachdem die hintere 


DATE 


Fr 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 197 


Kommissur bereits angelegt ist, durch Emporwölbung des 
hinteren Teiles vom Zwischenhirndach .. . 

Wir unterscheiden somit Epiphysen des vorderen, 
des mittleren und des hinteren Teiles der Zwischenhirndecke. 
Für die letzteren kann man wohl zweckmässigerweise den 
Namen Zirbel beibehalten.“ 

Francotte bemerkt ganz kurz, dass er bei einem 
Menschenembryo von 12 Wochen eine Paraphyse gefunden 
hat; sie gleicht einem unregelmässigen Rohr, welches eine 
Höhle im primitiven Falx cerebri bildet, in der Mitte vor 
der Lamina terminalis. Das Epiphvsenrohr mündet im dritten 
Ventrikel in der Höhe des Foramen Monroi aus. 

d’Erchias Beschreibung ist uns nur in Referat zugäng- 
lich gewesen; nach Studnicka schreibt er, dass die Zirbel- 
drüse bei dem Menschen „gewöhnlicherweise“ angelegt wird, 
es wird wahrscheinlicherweise sagen wie eine Ausstülpung 
des Daches des dritten Ventrikels. 

Marburg hat inkomplette Serien eines 23 und eines 
26 cm langen Menschenfetus untersucht. Seine Beschreibung 
ist folgende: 

„Bei dem ersteren fanden sich radienförmig gestellte Tubuli 
um einen ziemlich weiten Recessus pinealis. Diese Tubuli 
sind durch Verbindungsbrücken aus Zirbelzellen miteinander 
verbunden (Querschnitt). Zwischen die einzelnen freien Tubuli 
senkt sich aus der zarten bindegewebigen Kapsel Bindegewebe 
zugleich mit Gefässen in das Innere der Drüse. Der Recessus 
trägt ein ziemlich hohes Ependym. Bei dem älteren Embryo 
liegen die Verhältnisse nahezu gleich. Die Tubuli stehen 
dichter, sind gegen das Ende zu kolbig angeschwollen und 
was die Hauptsache ist, sie sind vollständig solide, während 
bei dem jüngeren Fetus noch gelegentlich ein Lumen sicht- 
bar war. Auch das Bindegewebe ist dichter geworden. Die 
Zellen zeigen wenig Plasma und sind durchwegs gleich. Am 


198 KNUD H. KRABBE, 
Querschnitt in der Tiefe der Drüse treten die Tubuli quer- 
oetroffen auf und man sieht dann manchmal ein Bindegewebs- 
septum, wie von einem Kranz von Drüsenzellen umgeben. 
Nirgends zeigt sich auch nur die Spur eines Ausführungs- 
ganges der Drüse. Dieses letzte Stadium unterscheidet sich 
wenig mehr von der Anordnung der Zellen bei Neugeborenen, 
nur dass bei letzterem jede Dehiszenz zwischen den Tubuli 
durch dichteres Bindegewebe aufgehoben erscheint und die 
einzelnen Tubuli viel mächtiger und zelldichter geworden sind.“ 

Andere Verfasser, welche die Entwickelung der Zirbel- 
drüse erwähnen, speziell Verfasser embryologischer Lehr- 


’ 


bücher basieren ıhre Beschreibung auf His’ Untersuchungen 
oder auf Analogien mit der Entwickelung bei anderen Säugern. 

Für unsere eigenen Untersuchungen haben uns 15 Men- 
schenfeten verschiedenen Alters zur Verfügung gestanden. Alle 
die Feten erschienen makroskopisch normal, nicht \maceriert, 
in keinem Falle war Grund anzunehmen, dass die Mutter 
syphilitisch war. 

Die Alter der Feten waren nach Eckers Tabelle aus- 


gerechnet. 
1 vom Beginn des 2. Monats, 
1 von der Mitte des 2. Monats, 
3 von der Mitte des 3. Monats, 


1 vom Beginn des 4. Monats, 
2 vom Beginn des 5. Monats, 
1 von. der Mitte des 5. Monats, 
il vom Ende des 5. Monats, 
2 vom Beginn des 6. Monats, 
1 vom Ende des 7. Monats, 
1 vom Ende des 8. Monats, 
1 vom Ende des 9. Monats. 
Die Feten bzw. ihre Gehirne wurden alle sagittal ge- 
schnitten, wei! man hierdurch am leichtesten die Anlage der 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 199 


Zirbeldrüse findet. Bei älteren Feten wie auch bei Kindern 
und Erwachsenen ist die Zirbeldrüse leicht zu finden und 
zu erkennen. Bei jüngeren Feten erkennt man, wieviel der 
Gehirnanlage der Zirbeldrüse gehört dadurch, dass man jeden 
Fetus mit einem etwas älteren vergleicht. Als Ausgangspunkt! 
kann man am besten die Anlage der hinteren Commissur 
brauchen. 

Die hintere Commissur sieht man schon bei einem Fetus 
des zweiten Monats am Saeittalschnitte an der Grenze der 
zweiten und dritten Hirnblase (Fig. 22A,c). Man sieht, wie 
sie aus zwei Schichten besteht, einer Innerkappe und einem 
Myelospongium. Schon in der Mitte des zweiten Monats hat 
diese Anlage sich in sagittaler Richtung in Verhältnis zu dem 
übrigen Gehirne (Fig. 22B,c) etwas verkürzt. In der Mitte des 
dritten Monats hat sie sich äusserlich relativ verkürzt und 
ferner etwas gekrümmt (Fig. 22C, ce). 

Dass die Bildung, welche man an Fig. 22€ vor der hinteren 
Commissur sieht, die Anlage der Zirbeldrüse ist, darüber 
herrscht kein Zweifel. Die Entwickelung der äusseren Form 


kann man in grösseren Dimensionen an Figg. 2—5 verfolgen. 
Es scheint dann auch unzweifelhaft zu sein, dass die Bildung, 
welche man an Fig. 22B bzw. Fig. 1 eben vor der hinteren 
Commissur sieht, die Anlage der Zirbeldrüse in der Mitte 
des zweiten Monats ist. Und weiter scheint es uns ganz über- 
wiegend wahrscheinlich, dass die Bildung, welche man an 
Fig. 22A bzw. Fig. 21 vor der hinteren Commissur sieht, auch 
die Anlage der Zirbeldrüse ist. 

Wir meinen also, dass die erste Anlage der Zirbeldrüse 
beim Menschen schon von Anfang des zweiten Fetalmonats 
beginnt und dass His darin unrecht hat, dass die eigentliche 
Zirbelanlage sich erheblich später entwickelt. Eine andere 
Frage ist es, wie es sich mit His’ vorderer Epiphyse ver- 


hält. Vielleicht gibt es eine solche, welche wieder verschwindet. 


200 KNUD H. KRABBE, 


His’ jüngster Embryo war ja 10,55 mm, während der unsrige 
15 mm war. Aber wir meinen auch, dass die Möglichkeit vor- 
handen ist, dass His’ vordere Epiphyse die eigentliche Zirbel- 
anlage ist, dass er es aber nicht als solche erkannt ;hat, 
weil man an seinen Figuren nicht das Myelonspongium der 
Commissura posterior erkennt und darum glaubt, dass die 
Zirbelanlage so weit nach vorne liegt. 

Die nächste Frage ist die, wie grosser Teil ‘der Bildung. 
welche vor der hinteren Commissur liegt, der Anlage der Zirbel- 
drüse zuzurechnen ist. Auch dieses wird man erkennen, wenn 
man den Figg. 1--5 rückgehend folgt und Fig. 21 damit ver- 
eleicht. Man sieht dann, dass die erste Anlage der Zirbel- 
drüse nicht nur eine Ausstülpung des Hirndaches ist, dass 
es aber diese Ausstülpung und eine Zellenmasse, welche un- 
mittelbar vor der Ausstülpung liegt, ist. Während der ersten 
Monate sind diese zwei Anlagen etwas voneinander getrennt, 
aber im Verlaufe des Fetallebens schmelzen sie völlig zu- 
sammen und bilden die Zirbeldrüse. Wir wollen hinzufügen, 
dass weder ein Teil dieser zwei Anlagen, noch ein Teil der 
vor den Anlagen liegenden Partie des Hirndaches sich zu 
einer Paraphyse oder einem Parietalauge zu entwickeln scheint. 
Der Befund Marburgs einer Bildung bei Kindern, welche 
er wie ein rudimentäres Parietalauge auffasst, scheint darum 
eine eigentümliche Variation zu sein (welche wir übrigens bei 
Kindern nie gefunden haben). 

Die Wand der Ausstülpung des Hirndaches, welche den 
hinteren Teil der Zirbelanlage bildet, nennen wir die hin- 
tere Pinealanlage, die Ausstülpung selbst Diverti- 
culum pineale und die Zellenmasse, welche den vorderen 
Teil bildet, die vordere Pinealanlage. 

Während der Entwickelung durch das ganze Fetalleben 
oeht die Zellteilung überall durch Mitosen, nie durch Ami- 
tosen vor sich. Man sieht an allen Präparaten zahlreiche 
mitotische Kernteilungsfiguren. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 


201 


Wir werden jetzt mehr detailliert den Bau der Zirbel- 
drüsenanlage auf den verschiedenen Altersstufen der Feten 
beschreiben. 

Der jüngste unserer Feten war 11/, em lang und stammte 
also vom Beginn des zweiten Monats. Er wurde ın 
kontinuierliche sagittale Serienschnitte geschnitten und auf 
Fig. 21 sind Partien des Daches der zweiten Hirnblase von 
16 der meist medialen abgebildet. Fig. 21H, welche die an- 
scheinend meist mediale vorstellt, ist etwas mehr detailliert 
eezeichnet, die anderen sind etwas schematisiert; die schwarzen 
Partien entsprechen den mehr kernreichen Teilen, während die 
hellen Partien protoplasmatisch sind, mit wenigen, zerstreuten 
Kernen. Die schwarzen Partien entsprechen a!so wesentlich 
der Hirnblase selbst, während die hellen grösstenteils das 
mesodermale Gewebe repräsentieren. 

In den mittelsten der Schnitte (Fig. 21E—L) sieht man, 
wie die Hirnblase eine kleine flache Ausstülpung (d) hat; 
diese Ausstülpung ist die erste Anlage des Diverticulum pineale, 
welche also noch sehr flach ist. Die Wand der Ausstülpung 
besteht aus Zellen, welche im ganzen den Zellen des übrigen 
Teiles des Hirndaches gleichen; sie haben Kerne, welche rund- 
lich, eiwas oval sind mit der Längsachse radiär gestellt; das 
Protoplasma ist sparsam im Verhältnis zu den Kernen, nur 
gegen die Innenfläche der Wand ist es reichlicher und zeigt 
hier eine feine radiäre Längsstreifung. 

An der äusseren Seite der vorderen Wand der Ausstülpung 
findet sich eine kleine Zellmasse (Figg. 21G und 21H, b), welche 
die vordere Pinealanlage repräsentiert. Die Zellmasse hängt 
zu beiden Seiten der Medianebene mit der Divertikelwand 
zusammen, aber in der Medianebene ist sie durch eine proto- 
plasmatische Masse davon getrennt. 

Die vordere Pinealanlage besteht aus Zellen, welche auch 
die der Hirnwand gleichen: sie haben runde Kerne und ein 


202 KNUD H. KRABBE, 


sparsames Protoplasma, SO dass die Kerne dicht beieinander 
liegen; nur im Zentrum der Anlage findet sich eine kleine 
rein protoplasmatische Partie. 

Die vordere Pinealanlage bildet eine Verdickung der Wand 
der Hirnblase. Und obgleich die mesodermale Umgebung auch 
hier etwas ausgebuchtet ist, liegt doch die vordere Pineal- 
anlage bei dem Ectoderm näher als diejenigen Teile der Hirn- 
blase, welche hinter und davor liegen. Es deutet aber nichts 
darauf, dass die Pinealanlage direkten Zusammenhang mil 
dem Eetoderm hat. Untersuchungen an anderen Säugern (Spez. 
von Neumfayer) deuten auch darauf, dass der vordere 
Neuroporus weit vor der Zirbelanlage liegt. 

Der nächste Fetus war ca. 2 cm lang und war also 
von der Mitte des zweiten Monats. Er wurde genau 
sagittal in kontinuierlichen Serien geschnitten. Ca. 30 von 
den 10 u dicken Schnitten enthielten Teile der Anlage der 
Zirbeldrüse, welche also auf diesem Stadium eine Breite von 
0,3 mm hatten. { 

Das Diverticulum pineale (Fig. 1d) ist auf diesem Prä- 
parat 135 u tief und seine vordere und hintere Wand bilden 
miteinander einen Winkel von ca. 90%. Die Struktur der Wände 
ist die folgende: 

Sie bestehen aus einem mehrreihigen (ca. 4reihigen) 
Ependym. Die Kerne sind oval mit der Längenachse senk- 
recht an der Oberfläche. Die Menge des Protoplasmas_ ist 
sparsam im Verhältnis zu derjenigen der Kerne. Während das 
Ependym der Anlage der hinteren Commissur ein recht dickes 
Protoplasma gegen die ventriculäre Fläche bildet, ist dieses 
mit dem Divertikelependym nicht der Fall. Die Kerne liegen 
hier dicht an der ventrieulären Fläche. Das Protoplasma hat 
eine feine Längestreifung; gegen die ventriculäre Fläche ist 
es crustaartig verdichtet und es scheint zu einer Cuticula 


verdichtet zu sein. Dagegen kann man auf diesem Präparate 


1 FE 


ku er 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 203 
weder Kittlisten noch Flimmerhaare wie an dem folgenden 
erkennen. 

An der vorderen Wand des Divertikels sitzt die vordere 
Pinealanlage wie ein Pilz auf einem Baumstamme (Fig. 1b). 
Sie hat eine Höhe von ca. 100 u und streckt sich ca. 250 u 
von der Divertikelwand hinaus. Sie besteht aus ganz gleich- 
artigen Zellen, welche denen der hinteren Pinealanlage gleichen ; 
doch sind die Kerne nicht oval, sondern kugelrund, ca. 6 u 
im Durchmesser. Die vordere Pinealanlage ist völlig homogen, 
zeigt keine zentrale Protoplasmamasse, keine Gefässe und 
keine tubulöse oder alveoläre Anordnung der Zellen. 

Von der Mitte des dritten Monats haben wir drei 
Feten, von welchen der eine ein bisschen weniger entwickelt 
als die zwei anderen zu sein scheint (in Fig. 22C abgebildet). 
Von einem der zwei anderen ist die Zirbelanlage in Fig. 2 abge- 
bildet. Die Schnittrichtung ist hier ein wenig schief gewesen, 
so dass man an der Figur vor der vorderen Pinealanlage 
nicht wie an Fig. 22C das dünne Dach der Mittellinie der 
zweiten Hirnblase, sondern die dickere Anlage des Thalamus 
sieht. 

Der Bau der zwei Pinealanlagen ist hier folgender: 

Das Diverticulum pineale ist jetzt eine tiefe schmale 
Spalte, deren Wände glatt sind und nur in der Tiefe ganz 
kleine Einbuchtungen zeigen. Die Richtung des Divertikels 
ist beinahe senkrecht auf die Achse der Hirnhöhle. Die hintere 
Pinealanlage besteht aus einer vorderen und hinteren Wand 
des Divertikels. Die hintere Wand ist auf einer kleinen Strecke 
mit dem Myelospongium der hinteren Commissur in Berüh- 
rung, distal von dieser wird sie frei, und der übrige Teil der 
hinteren Anlage steht durch ihre äussere Fläche (die Pialfläche) 
nur mil den (Gefässen und dem Bindegewebe, welche sich 
zu Pia entwickelt, in Berührung. Doch ist wieder ein kleines 


Anatomis-he Hefte. I. Abteilung. 63. Heft (54. Bd. H. 2). 14 


204 KNUD H. KRABBE, 


Stück der vorderen Divertikelwand mit dem Myelospongium 
der Commissura habenularum in Berührung. 

Die Wände des Divertikels, welche nach hinten mit dem 
Innenmantel der hinteren Commissur, nach vorne mit dem 
Innenmantel der Commissura habenularum zusammenhängt, 
haben bei dem einen dieser 3 Feten (der jüngste) überall 
dieselbe Dicke. Bei den zwei anderen dagegen sieht man 
auf der pialen Fläche mehrere kissenförmige Ausstülpungen 
(Fig. 2u). Zwischen diesen und ‘der eigentlichen Divertikel- 
wand finden sich einige Capillaren, welche mit den Pia- 


gelässen Zusammenhang haben (nicht abgebildet). 


Die vordere Pineatanlage (Fig. 2b) ıst bei diesen Feten 
eine Zellmasse, welche am ehesten die Form einer phrygischen 
Mütze hat. Nach hinten berührt sie auf einer kleinen Strecke 
die vordere Divertikelwand, ist aber übrigens grösstenteils von 
dieser durch eine tiefe bindegewebige und gefässgelüllte Spalte 
getrennt. Die basale Fläche der vorderen Pinealanlage ruht 
auf dem Myelospongium der Commissura habenularum ; 
übrigens ragt sie frei zwischen den pialen (refässen hinaus. 
Von diesen Gefässen drängen sich einzelne Capillaren in die 


Zellmasse. 


Vor der Commissura habenularum setzt der Innenmantel 
sich fort wie ein einschichtiges Ependym, welches etwas ge- 
faltet ist, aber noch keine grösseren Ausbuchtungen zeigt, 
welche die Anlage des Recessus suprapinealis oder der Para- 
physe zu sein scheint. 


Die Zellen, aus welchen die Zirbelanlage besteht, zeigen 
auch jetzt zwei verschiedene Typen. Der eine Typus zeigt 
alle die Zellen, aus welchen die vordere Pinealanlage und 
die kissenförmigen Alusbuchtungen der hinteren Pinealanlage 
zusammengesetzt sind. Sie sind wie die Zellen der Zirbel- 


anlage aus dem 2. Monat gleichartig und regelmässig ver- 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 205 


teilt, haben kugelrunde Kerne und ein sparsames Protoplasma, 
welche keine besonderen Strukturverhältnisse zeigen. 

Der andere Zelltypus bildet die Hauptmasse der Divertikel- 
wände. Diese bestehen aus einem mehrreihigen (2—5 reihigen), 
aber vielleicht doch einschichtigen Ependym, das von läng- 
lichen Zellen zusammengesetzt ist. Die Zellen haben ovale 
Kerne, deren Längsrichtung (wie die der Zellen) senkrecht 
auf der ventrieulären Oberfläche steht. Das Chromatin der 
Kerne färbt sich durch Hansens Eisenhämatein in allen, 
Kernen oleichartig; durch Heidenhains Hämatoxylın färben 
sie sich etwas verschieden, einige heller, mit zerstreuten Chro- 
matingranula, andere dunkler. Als Vergleich soll angeführt 
werden, dass auf den letzten Präparaten sich die Kerne des 
einschichtigen Ependyms am Dach des dritten Ventrikels alle 
tief schwarz färbten. Im Gegensatz zu den Zellen der vorderen 
Pinealanlage besitzen diese Zellen ein reichliches Protoplasma, 
welches wesentlich an der ventriculären Seite der Kerne ge- 
lagert ist, so dass die innere Reihe der Kerne von der ventri- 
culären Oberfläche ein wenig entfernt liegt. Diese Protoplasma- 
masse zeigt eine feine Längsstreifung, welche teilweise den 
Zellerenzen zu entsprechen scheint. Gegen die ventriculäre 
Oberfläche hin zeigt das Protoplasma eine crustaartige Ver- 
dichtung und es ist mit einer Cuticula bedeckt. Bei den Zu- 
sammenstosslinien der Zellen in der Cutieula sieht man Kitt- 
leisten, welche ein Netz mit 6-eckigen Maschen bildet. In der 
Mitte der Cutiecula jeder Zelle sitzt ein Flimmersaum (Fig. 21), 
welcher an den Präparaten jedoch gewöhnlich etwas verkrüppelt 
erscheint. 

Die Grenze zwischen diesen prismalischen Zellen der 
Divertikelwand und den Zellen der kissenförmigen Auswuche- 
rungen ist nicht scharf, doch ist im Grenzgebiete etwas reich- 
licher Protoplasma als zwischen den Kernen der Ausstülpungen 
angehäuft. Die Grenze zwischen der vorderen Pinealanlage und 


14* 


r 


206 KNUD H. KRABBE, 

dem darunter liegenden Myelospongium der Commissura habe- 
nularum zeigt sich schärfer, indem das Protoplasma sich in 
der Zirbelanlage dunkler färbt als die protoplasmatische Masse 
des Myelospongiums. Dagegen ıst die Divertikelwand gar nicht 
vom Innenmantel der beiden Commissuren abgegrenzt, geht 
aber ganz schlicht in diese über. 

Wenn man im grossen und ganzen das Aussehen der 
Zirbelanlage vom 3. Monat mit derselben vom 2. Monat ver- 
gleicht, sieht man, dass folgendes geschehen ist: Die An- 
lage hat sich im ganzen vergrössert. Das Divertikel ist tiefer 
und relativ schmäler geworden; seine Wand hat sich ver- 
diekt. Es ist hierdurch eine tiefe Spalte zwischen der vorderen 
und der hinteren Pinealanlage entstanden. Bei der Entwicke- 
lung des Myelospongium der Commissura habenularum ist 
die vordere Pinealanlage von dem Ependym weggeschoben 
worden und diese Anlage hat ein spitzes mützenförmiges Aus- 
sehen angenommen. Es hat eine Vascularisation der Zirbel- 
anlage begonnen. 

Bei einem Fetus vom Beginn des 4. Monats (Fig. 3) 
haben die Anlagen sich äusserlich geändert. Die Anzahl der 
Zellen hat sich vermehrt und die Grösse der Anlagen hat 
darum im ganzen zugenommen. 

Das Diverticulum pineale, welches jetzt eine Tiefe von 
1 mm hat, ist breiter in der Tiefe als am Eingang sowohl 
in frontaler als auch in sagittaler Richtung. Das Divertikel 
ist etwas nach hinten gerichtet im Verhältnis zu dem Aquae- 
duetus Sylvii. Die bemerkenswerteste Veränderung ist übrigens 
die, dass die kissenförmigen Auswucherungen sich jetzt zu 
einem ganzen Aussenmantel (Fig. 3a) entwickelt hat, ebenso 
dick wie die eigentliche Divertikelwand. Zwischen dem Aussen- 
mantel und der Divertikelwand befinden sich eine Reihe von 
(refässen, dementsprechend sieht man kleine Ausbuchtungen 


sowohl der Divertikelwand als auch des Aussenmantels. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 207 


Die vordere Pinealanlage hat sich vergrössert und ist 
stärker vascularisiert, hat aber weder ihre Form noch ihre 


Verhältnisse zu der Umgebung verändert. 


Das Aussehen und die Anordnung. der einzelnen Zellen 
hat auch nicht wesentlich gewechselt. Im Aussenmantel der 
hinteren Pinealanlage sind die Zellen auch gleichartig und 
zeigen keine tubulöse oder alveoläre Anordnung. Nur gegen 
die Oberfläche und gegen die Gefässe hin zeigen sie eine 
regelmässige Anordnung. 

Die nächste Umgebung der Zirbelanlage zeigt indessen 
eine charakteristische Veränderung, indem das einschichtige 
Dach des dritten Ventrikels vor der Zirbelanlage eine Aus- 
stülpung bildet, welche die erste Anlage des Recessus supra- 
pinealis ist. Dieser Recess streckt sich weiter rückwärts als 
derjenige der Pinealanlage, und die Wand des Recessus, welche 
am nächsten bei der vorderen Pinealanlage liegt, ist nur 
durch eine dünne Gefäss- und Bindegewebsschicht von dieser 


getrennt. 


Am Fetus vom Beginn des 5. Monats (Fig. 4) begann 
die vordere und hintere Pinealanlage zuzuverschmelzen. Im 
medialen Sagittalplan hat jetzt die gesammelte Zirbeldrüsen- 
anlage dieselbe Form wie ein Längenschnilt durch einen Zapfen, 
in welchen sich ın der Nähe der Spitze ein bindegewebiges 
Septum hineinschneidet, welches die Grenze zwischen der vor- 
deren und der hinteren Pinealanlage bildet. Die Richtung 
dieses Zapfens ist im Verhältnis zu dem Aquaeductus Sylvii 
von vorne nach hinten, so dass die Achse des Zapfens bei- 
nahe mit dem Aquaeduct parallel ist. Die vordere Pineal- 
anlage, welche noch die grössere Masse der gesamten Zirbel- 
anlage einnimmt, hat nicht länger die charakteristische Form 
einer phrygischen Mütze. Das Myelospongium der Commissura 
habenularum sendet eine dünne eylinderförmige Verlängerung 


208 KNUD H. KRABBE, 


in die vordere Anlage herauf (Fig. 4b). Der Cylinder ist schräg 
vetroffen, so dass er sich wie eine Insel präsentiert. 

Die äussere Oberfläche ist nicht mehr so glatt wie bei 
den jüngeren Feten. Besonders bei den Eintrittsstellen der 
(Gefässe, welche jetzt stärker entwickelt sind, sieht man kleine 
Einbuchtungen. 

Das Diverticulum pineale reicht noch tief hinein, bei- 
nahe bis zur Spitze der Anlage. In der Tiefe ist es breit und 
taschenförmig, bei dem Eingang bildet es nur einen ganz 
schmalen Kanal. Es hat wie die gesammelte Zirbelanlage die 
Richtung von vorne nach hinten. 

Die Hauptmasse der Zellen, aus welchen die zwei Anlagen 
bestehen, haben sich nicht weiter verändert. Sie bestehen 
immer noch aus etwas sparsamem Protoplasma und runden 
oder ovalen Kernen; es scheint jedoch nun eine etwas grössere 
Variation im Chromatingehalt vorhanden zu sein, so dass 
einige sich etwas dunkler, andere etwas heller färben. Die 
Zellen sind stets ebenmässig verteilt, aber ohne bestimmte 
alveoläre oder tubulöse Anordnung; nur gegen die Oberfläche 
hin stehen sie in mehr regelmässigen Reihen geordnet. 

Die Zellen in der Wand des Diverticulum pineale haben 
sich indessen etwas differenziert. Am Eingange des Divertikels 
sind die Kerne schmäler als früher: sie stehen in mehreren 
Reihen. Das Protoplasma ist ferner fein längsgestreift. Im 
übrigen Teile der Divertikelwand haben die Zellen denselben 
Charakter, wie in der Hauptmasse der Zirbelanlage angenommen 
wurde: sie haben runde oder ein wenig ovale Kerne, welche 
in einer regelmässigen Reihe dicht unter der Oberfläche ge- 
ordnet stehen. 

Der Recessus suprapinealis konnte auf diesem Präparat 
nicht untersucht werden, da er sich bei der Präparation los- 
gerissen hatte. 


Bei den zwei Feten vom Beginndes6. Monats (Fig. 5) 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 209 


war die gesamte Zirbelanlage ca. 2 mm lang. Die Ver- 
schmelzung der beiden Anlagen ist weiter fortgeschritten, die 
bindegewebige Spalte besteht noch. Die Zapfenform ist am 
Sagittalschnitt noch mehr ausgeprägt, die Richtung stets wie 
im übrigen Teil des Fetallebens und auch bei Kindern und 
Erwachsenen von vorne nach hinten. Die äussere Oberfläche 
ist bei dem einen Fetus (Fig. 5) ein wenig gebuchtet, bei 
dem anderen sieht man dagegen eine ausserordentliche Buch- 
tung der Oberfläche, so dass bindegewebegefüllte Einkerbungen 
zwischen kleine halbinselförmige Ausbuchtungen der Zirbel- 
anlage hineinschneiden; man bekommt dadurch ein Bild, 
welches der Abbildung Marburgs (l. c. Fig. 2) einiger- 
massen gleicht. Wir glauben indessen, dass es nicht richtig 
ist, die Struktur als tubulös zu bezeichnen; die halbinsel- 
förmigen Ausbuchtungen zeigen keine tubulöse Anordnung der 
Zellen. 

Das Diverticulum pineale hat jetzt eine charakteristische 
Veränderung durchgemacht, indem es in der mittleren Partie 
abgeschlossen ist. Hierdurch wird eine kleine Höhle (Fig. 5g) 
abgeschlossen, und diese wird durch eine Parenchymmasse 
von dem inneren Teile des Divertikels, welches Recessus 
pinealis genannt ist, getrennt. Sowohl die Höhle als auch 
der Recess bestehen, wie wir es später sehen, gewöhnlich 
bei Kindern und Erwachsenen. Im folgenden sprechen wir 
darum nicht mehr von einem Diverticulum pineale, sondern 
von einem Recessus pinealis und einem Cavum pineale. 

Die Vascularisation der Zirbelanlage ist weiter fortge- 
schritten, dagegen sieht man ‚um die Gefässe herum kein Binde- 
gewebe, mit Ausnahme der Spalte zwischen den Anlagen und 
den kleinen Einbuchtungen der Oberfläche. 

Die Zellen der beiden Anlagen sind nicht mehr so gleich- 
artig wie früher; teils zeigen sie noch stärkere Variationen 


des Chromatingehaltes der Kerne als im vorigen Präparate, 


210 1 KNUD H. KRABBE, 


teils beeinnt man einige Unterschiede in der Form der Kerne 
erkennen zu können. 

Die Hauptmasse der Kerne ist zwar immer rund oder 
etwas länglich ; aber zwischen diesen sieht man einzelne, welche 
eine mehr dreieckige Form haben und wahrscheinlich Vor- 
stadien der später erwähnten Nervenzellen sind. Das Proto- 
plasma ist sparsam im Verhältnis zu den Kernen und zeigt 
keine besonderen Strukturverhältnisse. 

Neben dieser beginnenden Differenzierung der Kerne sieht 
man eine andere Veränderung der Zellen, indem diese sich 
fleckenweise etwas verändert haben; dieses ist aber der An- 
fang eines Prozesses, welcher im Laufe der folgenden 9 Monate 
vor sich geht und im folgenden Kapitel beschrieben werden 
soli unter dem Namen: Die Metamorphose. 

Die Zellen sind wie in den früheren Stadien im wesent- 
lichen regelmässig verteilt ohne besondere tubulöse oder alveo- 
läre Anordnung; nur entlang der Oberfläche und der Ge- 
fässe liegen die Zellen regelmässig und schnurgerade. 

Die Zellenbekleidung des Cavum pineale und des Re- 
cesses entsprechen dem, was wir im vorigen Präparate am 
Diverticulum pineale sahen. Die Zellen, welche die Wand 
des Cavum pineale bekleiden, haben ganz dasselbe Aussehen 
wie die Zellen mit rundlichen Kernen im übrigen Teile der 
Zirbelanlage. Dasselbe gilt von den Zellen am Boden des 
Recesses. Am Eingange des Recesses sind aber die Zellen 
eylindrisch mit langen Kernen in zwei oder mehreren Reihen. 

Der Recessus suprapinealis reicht nicht ganz bis zur Spitze 
der Zirbelanlage. Seine untere Wand ist von der Anlage durch 
eine dünne Schicht von Bindegewebe getrennt. 

Von dem Felus vom 7. Monat haben wir nicht komplette 
Serien, sondern nur eine kleine Reihe (ca. 40) von Schnitten 
aus der einen Hälfte. 


Kndacıe 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2) Tafel 15. 


PG 


Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Band H. 2). Tafel 16. 


_Kgl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg, Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 211 


Die Form der Zirbelanlage ist beinahe dieselbe wie bei 
dem vorigen Fetus, die Masse ist im ganzen etwas vergrössert. 
Vom Bindegewebeseptum ist auf diesen Präparaten keine Spur 
zu sehen, vielleicht weil wir nur Bruchstücke der Zirbelanlage 
haben (an den zwei Feten vom 8. und 9. Monat ist es deut- 
lich zu sehen). 

Dagegen sieht man gut sowohl den Recess als auch eine 
Höhle, welche ohne Zweifel ein abgeschlossenes Cavum pineale 
ist. Die Wände: dieser Höhle sind weit mehr gebuchtet als 
beim vorigen Fetus, und man sieht an den Präparaten einzelne 
dünne Stränge, welche die Höhle durchkreuzen; wahrschein- 
lich sind diese Stränge nur Falten der Wand. Das Innere 
der Höhle ist teils von etwas albuminöser Substanz gefüllt, 
teils finden sich darin freiliegende Zellen, deren Kerne der- 
jenigen der Zirbelanlage gleichen, obgleich etwas unregel- 
mässiger und etwas gebuchtet und deren Protoplasma gross, 
etwas schwammig und oft vascularisiert ist. Diese Zellen sind 
wahrscheinlich einige der Zellen, welche die Wand der Höhle 
bilden, welche abgestossen und später degeneriert sind. 

Die Zellen, welche die Zirbelanlage bilden, gleichen im 
wesentlichen den Zellen des vorigen Fetus; man sieht auch 
hier einzelne, deren Kerne mehr dreieckig sind. Die Meta- 
morphose ist hier weiter fortgeschritten. Die Anordnung 
der Zellen ist in den Grundzügen dieselbe. Aber die Zirbel- 
anlage ist jetzt viel stärker vascularisiert und dieses prägt 
das Aussehen; indem die Zellen gewöhnlich gegen die Gefässe 
in schnurgeraden Reihen gestellt sind, bekommen einige Partien 
(dadurch ein charakteristisches Aussehen, dass man die langen, 
beinahe perlschnurähnlichen Reihen von Kernen sieht; wo 
mehrere (Grefässe zusammenstossen, können die Kerne ring- 
[örmig geordnet liegen. Dieses bewirkt, dass die Anlage in 
einzelnen Partien einen anscheinend alveolären Bau bekommt. 
Von einem wahren alveolären Bau kann jedoch nicht die 
Rede sein. 


212 KNUD H. KRABBE, 


Von dem Fetus im 8. Monat haben wir beinahe die 
sanze Zirbelanlage in Serien geschnitten. Die Form und Grösse 
sind gegen das vorige Monat nicht wesentlich geändert. Das 
Septum ist sehr gross und geht tief in die Substanz herein. 
Dagegen ist kein Cavum pineale vorhanden, das Diverticulum 
muss in der Tiefe ganz geschlossen sein. Die Metamorphose 
ist nicht sehr hervortretend. Dagegen ist die Zirbelanlage stark 
vascularisiert, so dass der pseudoalveoläre Bau deutlich her- 
vortritt. Die einzelnen Zellen zeigen keine besonderen Ver- 
hälfnisse, man sieht zwischen den vielen rundlichen einzelne 
eckige Formen. 

Den Recessus suprapinealis sieh man schön, er zeigt 
aber im ganzen dieselben Verhältnisse wie an Präparate vom 
6. Fetalmonat. | 

Der letzte Fetus, welcher vom 9. Monat ist, ist komplett 
in Serien geschnitten. Die Länge der Zirbelanlage ist ca. 
2!/, mm, die Breite in sagittaler Richtung ca. 2 mm. Die Form 
der gesamten Anlage ist nicht so kegelförmig wie bei den 
vorigen Präparaten, sondern mehr eiförmig. Es ist jedoch 
wahrscheinlich, dass dieses eine Variation und nicht eine 
charakteristische Entwickelungsstufe ist. Man muss sich er- 
innern, dass auch bei Kindern und Erwachsenen die Form 
der Zirbeldrüse zwischen Kegel- und Eiform variieren kann. 

Vom ‚Septum, welches die zwei Pinealanlagen getrennt 
hat, ist nur eine kleine Spur zurück. Der Recessus pinealis 
reicht hier kaum bis zur Zirbelanlage selbst. Die Zellen, welche 
den Recess bekleiden, sind wie schon in den ersten Fetal- 
monaten prismatisch und mit Cuticula, Kittlisten und Flimmer- 
haaren versehen. Vom Cavum pineale ist nur an zwei deı 
Präparate eine ganz kleine Höhle zu sehen. 

Die Zellen der Zirbelanlage zeigen indessen einige Eigen- 
artigkeiten, welche jedoch wahrscheinlich nur eine eigentüm- 


liche Variation (verspätete Entwickelung?) sind. Alle Zellen 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 213 


sind nämlich gleichartig, man sieht keine eckigen Formen. 
Die Verteilung ist auch mehr ebenmässig, die Reihestellung 
gegen die Gefässe nicht so ausgeprägt, So dass man an keinen 
Stellen einen pseudoalveolären Bau sieht. Auch sieht man 
nicht Zeichen von Anfängen der Metamorphose, kurz, die ganze 
Zirbelanlage zeigt einen auffallenden homogenen Bau. 

Der Recessus suprapinealis ist tief und reicht am Ende 
der Zirbelanlage vorüber. Es ist zu bemerken, dass einige 
der Chorioidealzotten im Recess eigenartige, anscheinend de- 


generative Änderungen zeigen. 


Das Parenchym. 


Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ist die 
Zirbeldrüse ein ausserordentlich zusammengesetztes Organ. 
Man kann darin Bindegewebe, (refässe, Kalkconeremente, 
Knoten aus fibrillärer Glia und cystische Höhlen finden. Die 
Hauptmasse des Organes ist aber von diesen Elementen ver- 
schieden. Sie besteht aus den Bildungen, die von den im 
vorigen Abschnitte beschriebenen Zellenmassen abgeleitet sind 


und die man das Parenchym der Zirbeldrüse benennt. 


I. Die Metamorphose. 

Wie im vorigen Abschnitte erwähnt, beginnen einige der 
Zellkerne gewöhnlich im 6. Fetalmonat ihr Aussehen zu 
ändern, so dass wir ausser den gewöhnlichen runden Kernen 
auch einige mehr eckige finden. 

Aber beinahe zur selben Zeit beginnt ein anderer Prozess 
im Organe, welcher nicht gewisse zerstreute Zellen ändert, 
sondern von bestimmten Ausgangspunkten fortschreitet, bis das 


214 KNUD H. KRABBE, 


eanze Organ nach Verlauf eines Jahres geändert ist. Diesen 
Prozess nennen wir die Metamorphose. 

Das beste Verständnis für den Prozess erlangt man durch 
Betrachtung eines Bildes wie Fig. 23, welches ein Stück des 
Parenchyms der Drüse eines 14 Tage alten Kindes darstellt. 
Man sieht an demselben, wie das Parenchym aus helleren 
und dunkleren Partien zusammengesetzt ist. Die helleren 
Partien sind gewöhnlich fleckenförmig, während die dunkleren 
die hellen ringförmig umgeben. 

Wenn man eine Reihe von Präparaten von Feten nach 
dem 6. Fetalmonat und von Kindern bis zum 8. Lebensmonat 
untersucht, sieht man, dass beinahe bei allen diesen das 
Parenchym der Zirbeldrüse aus solchen hellen fleckenförmig 
und dunkeln ringlörmigen Partien zusammengesetzt ist. Bei 
den Feten ist die Menge der dunkeln Partien die grössere, 
die der hellen Flecken nur klein. Je älter die Feten bzw. 
die Kinder sind, desto erösser sind die hellen Partien, und 
desto kleiner die dunkeln, so dass man bei Kindern von 
S Monaten nur kleine dunkle Stäbchen sieht und bei älteren 
Kindern gar kein dunkles Parenchym trifft. 

Daraus dürfen wir schliessen, dass das dunkle Parenchym, 
welches wir das Proparenchym nennen, später in das eigent- 
liche helle Parenchym übergeht und sich schliesslich völlig 
in dasselbe umwandelt; und ferner dass dieser Prozess in 
bestimmten zerstreuten Zentren beginnt und sich von ihnen 
aus konzentrisch ausbreitet, in der Art, dass die Flecken um 
(die Zentren je länger desto mehr zusammenfliessen. 

Bei den Feten, die jünger als 6 Monate sind, und bisweilen 
auch bei älteren Feten, bestehen die zwei Pinealanlagen aus- 
schliesslich aus Proparenchym. 

Die Gefässe des Organes finden sich sowohl im Pro- 
parenchym als auch im Parenchym; der Prozess scheint also 
im ganzen keine bestimmte Beziehung zu den Gefässen zu 


haben. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über dd. Zirbeldrüse d. Menschen. 215 


Betrachten wir die einzelnen Zellen, aus welchen das 
Parenchym bzw. das Proparenchym zusammengeselzi ist, näher, 
dann sehen wir, dass die verschiedenen Zelltypen des Pro- 
parenchyms sich auch im Parenchym finden; hier zeigen sie 
ausser dem charakteristischen Unterschied der Form auch 
einen charakteristischen Unterschied in der Farbenintensität 
der Kerne und in dem Protoplasma, und auf die Weise er- 
halten wir drei Zelltypen des Parenchyms, welche wir ım 
nächsten Abschnitte näher beschreiben werden. 

Was aber die Zellen des Parenchyms von denen des Pro 
parenchyms unterscheidet, ist folgendes: 1. dass die Kerne 
im Parenchym grösser und chromatinärmer sind als im Pro- 
parenchym, und 2. dass das Protoplasma im Parenchym grösser 
und heller gefärbt ist; hierdurch liegen die Kerne im Parenchym 
weiter voneinander entfernt. 

Dieser Übergang von kleineren, chromatinreicheren zu 
erösseren, relativ chromatinärmeren Zellen ist es, welcher das 
Fundamentale in der Metamorphose bildet, und er ist es, 
welcher den Unterschied zwischen dem dunklen Proparenchym 
und dem hellen Parenchym bedingt. 

Die Grenze zwischen dem Proparenehym und dem Par- 
enchym scheint bei schwächerer Vergrösserung recht scharf; 
bei stärkerer Vergrösserung sieht man jedoch, dass die Zellen 
im Grenzgebiete Übergangsformen von der einen zur anderen 
Zellart bilden. 

Die Metamorphose betrifft alle drei Zelltypen im Pro- 
parenchym im gleichen Grade. 

Nach dem von uns untersuchten Material haben wir den 
Eindruck erhalten, dass die hier beschriebene Metamorphose 
die gewöhnliche Form für den Übergang vom embryonalen 
zum infantilen Zustand der Zellen ist. Dass sie aber bis- 
weilen entweder etwas später beginnen oder in etwas anderer 


Weise verlaufen kann, haben wir schon beim Besprechen des 


216 KNUD H. KRABBE, 


Fetus vom 9. Monat erwähnt, indem dieser keine Spur von 
Metamorphose zeigte. 

Soweit wir es sehen können, ist diese Metamorphose nicht 
früher beschrieben worden. Nur Marburg, der aber den 
Prozess nicht systematisch verfolgt hat, hat den Blick dafür 
oehabt, dass die Zirbeldrüse bei Neugeborenen nicht so regel- 
mässig gebaut ist; er schreibt (l. c. S. 228): „Wenn man 
eines dieser Läppchen genauer betrachtet, so ergibt sich, dass 
sie aus nahezu gleichen Zellen zusammengesetzt sind, die 
nur ungleichmässig gefügt erscheinen : gegen die bindegewebige 
Wand hin dicht, gegen das Innere zu locker. Es ist, wie 
wenn das Gebiet am Bindegewebe eine Matrix für Zellwuche- 
rungen bilde, die dann ins Innere abgestossen werden.“ 

Es ist jedoch hierzu zu bemerken, dass der Prozess nicht 
in dem Sinne eine Zellwucherung ist, dass neue Zellen 


oebildet werden — im Gegenteil, man sieht im Grenzgebiete 
weder Mitosen - noch Amitosen — oder diese abgesiossen 


werden. Auch geht der Prozess nicht vom Bindegewebe aus. 

Nach dem Abschluss der Metamorphose bietet das Par- 
enchym das gleichartige Aussehen, welches man z. B. an 
Fig. 28 sieht. Man kann jedoch auch bei grösseren Kindern 
hier und da im Parenchym kleine Zellhaufen finden, welche 
nach dem Aussehen der Zellen kleine Reste des Proparenchyms 


zu sein- scheinen. 


II. Der Bau des Parenchyms nach der Metamorphose. 


Obgleich eine gesammelte historische Übersicht über den 
Bau und die Funktionen der Zirbeldrüse früher öfters ge- 
oeben worden ist, meinen wir doch, dass es für das Folgende 
eine notwendige Voraussetzung ist, kurz zu betrachten, was 
[frühere Verfasser über die Struktur des Parenchyms geschrieben 


haben. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 217 


Die Beschreibung der Verfasser älterer Zeit interessiert 
uns hier etwas weniger, da die unvollkommenere mikro- 
skopische Technik keine eingehenderen Studien über die Einzel- 
heiten des Parenchyms gestattete. 

Verf: wie Koelliker (1852), Faivre (1857), Luschka 
(1860) und Clarke (1862) teilen mit, dass man im Par- 
enchym grössere und kleinere rundliche und ovale Zellen samt 
Fäden findet, und heben hervor, dass die Struktur im ganzen 
anders als anderswo im Gehirne ist. Grandry (1867) will 
zwischen einer Rindschicht und einer Markschicht unter- 
scheiden, eine Auffassung, welche kaum berechtigt ist. Stieda 
(1869) hebt die grossen Kerne und die unbestimmten Kon- 
turen und Granulierung des Protoplasmas hervor. Bizzozero 
(1871) scheint der erste zu sein, welcher bestimmt zwischen 
zwei Zelltvpen unterscheidet, einem mit bestimmteren Konturen 
und verzweigten Ausläufern, einem anderen mit schmäleren 
und längeren Kernen, welche tiefer gefärbt sind, und Proto- 
plasma, welches glänzende konturierte Verlängerungen aus- 
sendet, und ferner oft gelbes Pigment enthält. Diese KEin- 
teilung, welche noch anerkannt werden muss, ist von späteren 
Verfassern nicht hinlänglich respektiert worden. Henle (1871) 
beschreibt zur selben Zeit das Organ in seinem Lehrbuche, 
fasst es aber als eine degenerierte Lymphdrüse auf, während 
Meynert (1872) es als ein Ganglion betrachtet und seine 
nervöse Natur hervorhebt. Hagemann (1872) beschreibt zwei 
ähnliche Zelltypen wie Bizzozero und gibt eine etwas mehr 
detaillierte Beschreibung der Struktur. Pawlowsky (1874) 
erwähnt Nervenfäden, welche aus der Commissura posterior 
in die Zirbeldrüse hineinlaufen. Schwalbe (1881) polemi- 
siert gegen die Annahme der nervösen Struktur und sieht 
das Organ für eine Drüse an. Cionini (1885), dessen Arbeit 
uns nur im Referat zugänglich gewesen ist, scheint der erste 


zu sein, welcher gliöse Elemente (und zwar bei Tieren) be- 


218 KNUD H. KRABBE, 


schreibt. Darkschewitsch (1886) erwähnt wie Paw- 
lowsky die Nervenfäden. Peytoureau (1887) hebt in einer 
erösseren Arbeit die Analogie mit dem Parietalauge hervor, 
bringt aber keine neuen histologischen Befunde. Dasselbe gilt 
von Max Flesch (1888), welcher übrigens mit interessanten 
Betrachtungen bezüglich der Funktion kommt. Von besonderem 
Interesse sind Weigerts Untersuchungen (1895), indem er 
durch seine eigene Methode teils eine recht bedeutende 
Mense von Gliafasern im Parenchym gefunden hat, teils eine 
enorme Menge basaler Glia. Diese Auffassung des Organes 
als eliöses haben auch die Verfasser der folgenden Zeit. Nur 
muss man bemerken, dass Cajal (1895) unzweilelhafte Nerven- 
fasern und Galeotti (1897) Sekretgranula gefunden haben, 
beides jedoch bei Tieren. 

Im Jahre 1901 erschien unter Nicolas’ Leitung die 
Arbeit, welche vor allen andern als der gründlichste und be- 
deutungsvollste Beitrag zur Histologie der Zirbeldrüse dasteht, 
nämlich Frl. Dimitrovas: Recherches sur la structure de 
la glande pindale. Ihre Untersuchungen sind zwar grössten- 
teils an Tieren, aber auch teilweise an Menschenmaterial vor- 
genommen. Sie ist die erste, welche eine Reihe verschiedener 
Fixierungs- und Färbemethoden gebraucht hat und die Resul- 
tate vergleicht, und sie ist dadurch imstande gewesen, besser 
als frühere Untersucher eine histologische Analyse des Organs 
zu unternehmen. Sie beschreibt die Zellen des Parenchyms 
als scharf begrenzt, aber ohne Membran. Die Form ist 
variierend, die Zellen sind gewöhnlich polyedrisch, selten 
rund. Das Protoplasma (Flemming-Safranin oder Eisenhäma- 
toxylin-Bordeauxrot) ist gewöhnlich fein, bisweilen grob granu- 
liert, in einzelnen Zellen vascularisiert. Es findet sich beinahe 
immer ein Kern, gewöhnlich exzentrisch liegend, rund oder 
länglich, nicht selten hufeisenförmig, dagegen selten dreieckig; 


der Kers ist im Verhältnis zum Protoplasma gross. Die Kerne 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 219 


sind in drei Kategorien eingeteilt: 1. klare Kerne mit feinen 
Chromatingranulationen; diese sind am zahlreichsten; 2. klare 
Kerne mit grösseren Chromatingranulationen; in diesen zwei 
Typen finden sich Nucleolen; 3. dunkle Kerne, welche sich 
in zwei Varietäten finden, a) mit grossen Chromatingranula, 
ohne Nucleolus, b) ganz homogen, doch mit einzelnen klaren 
Punkten in der blauen Masse; sie sind die kleinsten und 
repräsentieren vielleicht einen besonderen Typus der Neuro- 
gliakerne, indem sie am häufigsten da zu finden sind, wo 
die Gliafasern sehr zahlreich sind, z. B. in den Gliaknoten. 
Dimitrova findet ferner sowohl durch Heidenhains als 
auch durch Weigerts Methoden eine grosse Menge von Glia- 
fasern und da sie findet, dass beinahe jede Zelle mit einem 
oder mehreren Gliafasern in Berührung ist, fasst sie alle Zellen 
als Gliazellen auf. Obgleich wir nicht mit Dimitrova in 
ihrer Auffassung der Zirbeldrüse als gliös übereinstimmen, 
erkennen wir doch die fundamentale Bedeutung ihrer Arbeit; 
ihren Hauptfehler finden wir am wesentlichsten darin, dass 
sie zu ausschliesslich Rücksicht auf die Kerne nimmt. 

Die Verfasser der folgenden Zeit beschäftigen sich nicht 
soviel mit der Struktur des Parenchyms. Studnitka gibt 
eine vorzügliche vergleichend -anatomische Übersicht in 
Oppels Handbuch und folgt im wesentlichen Dimitrova. 
Marburg hat interessante pathologisch-anatomische Unter- 
- suchungen gemacht und ferner Untersuchungen über die Um- 
gebungen der Zirbeldrüse, Recessus pinealis, die Cysten, das 
rudimentäre Parietalauge usw.; bezüglich des Parenchyms be- 
schränkt er sich aber im wesentlichen darauf, Dimitrova 
zu zitieren. Dasselbe gilt anderen Verfassern wie Anglade 
und Ducos, Sarteschi, Costantini, Verfasser von 
Übersichtsartikeln wie Seigneur, Kidd und Gouget; eine 
mehr umfassende Arbeit ist in betreff anderer Säugetiere von 
Kaane, Ne meutzieldTIordan,yBrondi und. Funk: 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163, Heft (54. Bd., H. 2). 15 


220 KNUD H. KRABBE, 


quist gemacht worden. Eine der letzten Arbeiten von 
F Polvani ist an einem recht grossen, obgleich nicht be- 
sonders ausgewählten Material gemacht; seine Untersuchungen 
bringen nicht viel Neues, eher eine gewisse Verwirrung, indem 
er ohne weiteres Mastzellen, Pigmentzellen u. dgl. zwischen 
die Zellen des Parenchyms einordnet. 

Zwei Arbeiten von weit mehr durchgreifender Beskeschtian 
sind die von Achücarro-Sacristän undWalter, welche 
im Jahre 1912 und 1913 erschienen sind. Diese Verfasser 
sind die ersten, welche voneinander unabhängig die grosse 
Menge der Nervenzellen, welche sich in der Zirbeldrüse beim 
Menschen finden, beschrieben haben; eine nähere Erwähnung 
ihrer Arbeiten werden wir jedoch bis zum speziellen Ab- 
schnitt über die Nervenzellen aufschieben. 

Wir werden jetzt unsere eigenen Untersuchungen be- 
schreiben. Wir haben besonders darauf Gewicht gelegt alle 
die verschiedenen Methoden — Silberimprägnationen, Glia- 
färbungen, Kern- und Protoplasmalärbungen — zu vergleichen. 

Die meist elementäre Untersuchungsmethode, Untersuchung 
von ungefärbten Zerzupfungspräparaten, hat uns leider nur 
sparsame Resultate gegeben und man muss auch dabei daran 
erinnern, dass das Material wenigstens 12 Stunden alt ge- 
wesen ist. Es ist hierdurch nur gelungen, dasselbe zu sehen, 
was schon Hagemann an Zerzupfungspräparaten gesehen 
hat, nämlich dass es rundliche Zellen ohne Ausläufer gibt 
und eckige Zellen mit Ausläufern. Ferner haben wir (siehe 
unten) kontrollieren können, dass gewisse unregelmässige Kern- 
formen nicht durch die Fixierung entstanden sind. 

An Präparaten, welche mit Orths Flüssigkeit oder Formol- 
alkohol fixiert und mit gewöhnlichen Hämatoxylin- oder Anilin- 
farben gefärbt sind (z. B. Fig. 24), sieht man, dass das Par- 
enchym aus einer zusammenhängenden, teils protoplasmatischen, 


teils wahrscheinlich interzellulären Substanz besteht, und in 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 221 


dieser Masse liegt eine grosse Menge von Kernen zerstreut. 
Man sieht keine Zellgrenzen; hier und da sieht man in der 
protaplasmatischen bzw. interzellulären Masse eine fıbrilläre 
Struktur. 

Hat man anstatt der obengenannten Fixierungsmittel Alko- 
hol-, Formalin- oder Sublimatfixierung benützt, werden die 
Schrumpfungen gewöhnlich die Zellen auseinander gesprengt 
haben, so dass man jeden Kern von einer etwas unregel- 
mässigen Protoplasmamasse umgeben sieht, und die Zwischen- 
räume zwischen diesen Zellen von loseren Massen ausgefüllt. 
Die Form des Protoplasmas, welche die Kerne umgibt, ist sehr 
varıierend, bisweilen ıst es rundlich, bisweilen hat es kurze 
Ausläufer; diese Protoplasmakonturen sind kaum die wirklichen 
Zellengrenzen. 

Es war aber von Bedeutung für uns, eine Methode zu 
finden, welche die Verschiedenheiten der Zellen nicht nur 
bezüglich der Kerne, sondern auch des Protoplasmas zeigte, 
und welche ferner eine Abgrenzung zwischen dem Protoplasma 
der Zellen und der eventuellen interzellulären Substanz zeigt. 
Eine solche Methode ist Alzheimers Färbung mit Säure- 
fuchsin-Lichtgrün. Wir wissen wohl, dass diese Methode einen 
Fehler hat, nämlich den, dass die Bilder nie absolut, sondern 
davon abhängig sind, wie stark man mit dem Lichtgrün diffe- 
renziert: wenn man aber an einer Reihe von Präparaten mit 
verschiedenen Differenzierungsgraden färbt, wird man sehen, 
dass es ein Stadium gibt, an dem die Nucleoli, die Glia- 
fasern und das Chromatin der Kerne der Zellen, von welchen 
die Gliafasern ausgehen, leuchtend rot gefärbt sind, das Binde- 
gewebe leuchtend grün und alle anderen Elemente graugrün. 

Die Vorzüge, welche diese Methode bietet, sind folgende: 
1. Man sieht ausser den anderen Gewebselementen auch die 
Gliafasern gefärbt, und, soweit wir gesehen haben, viel kon- 
stanter als bei Weigerts Gliafärbung. 2. Wenn wir die 


15* 


222 KNUD H. KRABBE, 


von uns angegebene Modifikation (siehe Kapitel Material und 
Technik) anwenden, finden sich beinahe keine Schrumpfungen, 
so dass die Zellen nicht voneinander gesprengt werden können. 
3. Man sieht in der protoplasmatischen bzw. interzellulären 
Masse, welche sich zwischen den Kernen findet, eine Aus- 
differenzierung in zwei verschiedene Protoplasmamassen, 
welche an Präparaten, die mit anderen Methoden gefärbt, an- 
gedeutet worden sind, aber durch keine andere Methode als 
die Alzheimersche (und Fieandts) so schön hervortritt. 

Wenn man ein solches Präparat, mit Alzheimers Säure- 
fuchsin-Lichtgrün gefärbt, betrachtet, sieht man Partien, wo 
die protoplasmatische Masse wie an den Hämatoxylinpräparaten 
homogen erscheint. Aber es sind andere Partien, wo das 
Gewebe ein Aussehen wie an Fig. 9 hat. 

An diesen Abbildungen sieht man erstens, dass es drei 
verschiedene Kerntypen gibt, nämlich 1. runde oder unregel- 
mässige Kerne mit sparsamem Chromatin, 2. eckige (drei- 
eckige oder bisweilen sternförmige) Kerne, welche dunkel ge- 
färbt sind, 3. runde Kerne mit grösseren distinkten eckigen 
(bei diesem Differenzierungsrgad roten) Chromatingranula. 

Diese drei Kernformen entsprechen einigermassen den 
drei Kernformen Dimitrovas; was wir aber besonders her- 
vorheben wollen: jede dieser drei Kernformen ent- 
spricht einer besonderen protoplasmatischen 
Struktur, welche die zwei der Zellformen an 
einem bestimmten Platz zwischen den. Zellen 
desZentralnervensystemsanzeigtunddiedritte 
ZellformalseinenspezifischenZelltypusinner- 
halb des Zentralnervensystems anzeigt. 

Das Protoplasma, welches die Kerne des ersten Typus 
umgibt, ist hell gefärbt und scheint ohne Ausläufer zu sein. 
Die Zellen mit diesen Kernen und diesem Protoplasma nennen 


wir Pinealzellen. Zwischen diesen Zellen sieht man ein 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 223 


dunkel grau-grün gefärbtes Netzwerk, welches gegen das Proto- 
plasma der Pinealzellen deutlich, obgleich nicht absolut scharf 
abgegrenzt ist. In diesem protoplasmatischen bzw. interzellu- 
lären Netzwerk sieht man hier und da Kerne vom zweiten 
Typus eingestreut. Diejenigen Zellen, welche aus diesen Kernen 
und dem dazu gehörigen Protoplasma bestehen, fassen wir 
aus Gründen, welche wir im folgenden angeben werden, als 
Nervenzellen auf. 

Die Kerne des dritten Typus sind von einem durch diese 
Methode sehr schwach gefärbten Protoplasma umgeben, welches 
Ausläufer aussendet; diese Ausläufer enthalten Fasern, welche 
wir aus Gründen, die wir später erwähnen werden, als Glia- 
fasern auffassen, und welche sich im oben erwähnten Netz- 
werk verlieren. Diese Zellen fassen wir also als Glia- 
zellen auf. 

Die Pinealzellen bilden die Hauptmasse der Zellen des 
Parenchyms, die Nervenzellen und Gliazellen kommen in weit 
geringerer Menge vor. Sie sind einigermassen gleichartig ver- 
teilt, so dass das Parenchym der verschiedenen Teile der 
Zirbeldrüse im wesentlichen dasselbe Aussehen hat. 


Wir werden jetzt das Aussehen der drei verschiedenen 
Zelltypen etwas näher beschreiben. 


a) Erster Zelltypus: Die Pinealzellen (Figg. 6, 7, 
9.10, SEP). 


Die Pinealzellen entsprechen im wesentlichen Bizzo- 
zeros und Hagemanns Zellen mit den runden Kernen, 
Dimitrovas Zellen mit den „noyaux clairs A fines granu- 
lations chromatiques“, den „celluli fordamentali“ von Co- 
stantini und Polvani. Völlig decken die Begriffe einander 
jedoch nicht, da die früheren Verfasser nicht hinlänglich Rück- 
sicht auf die Abgrenzung des Protoplasma genommen haben. 


224 KNUD H. KRABBE, 


Bei der Metamorphose sind es die Zellen mit runden, 
hellen Kernen, welche zu Pinealzellen umgeändert werden. 

Die Kerne der Pinealzellen haben gewöhnlich einen 
erössten Durchmesser von 10-12 u; seltener sieht man 
2iesenformen mit Durchmessern von 15—18 u oder Zwerg- 
formen mit einem Durchmesser von 4—5 u. Die gewöhn- 
liche Form ist eine rundliche, ovale oder etwas weniger häufig 
kugelrunde. Aber schon im ersten Lebensjahre, kurz nach 
der Abschliessung der Metamorphose, beginnen eigenartige un- 
regelmässige Kernformen aufzutreten, welche Dimitrova und 
Achücarro-Sacristän schon erwähnt haben. Die Menge 
dieser Kerne nimmt schnell zu und in Präparaten von Zirbel- 
drüsen von Kindern und Erwachsenen bis zum höchsten Alter 
hinauf wird man sie immer in recht reichlicher Menge treffen. 
Die Form dieser Kerne kann rundlich sein, so dass die Kerne 
nur eine kleine Einkerbung oder stabförmige Falte besitzen; 
oder es kann eine kleine Höhle in der Seite der Kerne sein; 
bisweilen kann die Falte so tief und breit sein, dass die 
Kerne die Form eines Pferdschuhes bekommt (Dimitrovas 
„noyaux en fer & cheval“), wie man sie in Fig. 10q sieht. 
Es gibt Kerne, wo mehrere Einkerbungen einander schneiden, 
so dass sie die Form von junger Quallen bekommen; oder 
wo die Einkerbungen an jeder Seite der Kerne sitzen, so dass 
die Kerne S-förmig gekrümmt sind usf. 

Dass diese unregelmässigen Kernformen sich in vivo finden 
und nicht Kunstprodukte sind (z. B. auf „Kernfalten“ be- 
ruhen), schliessen wir aus folgendem: Sie finden sich an 
unfixierten Zerzupfungspräparaten. Auch an Präparaten, welche 
durch Formalininjektion (5 Minuten nach dem Tode) fixiert 
sind und sich wohl fixiert zeigen. Sie sind unabhängig von 
der Fixierungsflüssigkeit, die angewendet wird. Bei Kindern 
vom ersten Lebensjahre sieht man sie nur im Parenchym, 


nicht im Proparenchym. 


Histolog u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 225 


Man findet alle Übergänge von den gewöhnlichen runden 
und ovalen Kernen bis zu den verschiedenen unregelmässigen 
Kernformen. Da ferner das Protoplasma der unregelmässigen 
Kerne nicht vom Protoplasma der runden Kerne verschieden 
ist, liegt kein Grund vor die Zellen mit den unregelmässigen 
Kernen als verschieden von den übrigen Pinealzellen zu be- 
trachten. Das Verhältnis der unregelmässigen Kerne zu den 
Amitosen soll später (Kapitel Kernexcretion) behandelt werden. 

Das Chromatin der Pinealzellenkerne ist dadurch cha- 
rakterisiert, dass es sehr sparsam ist, so dass die Kerne ein 
etwas bläschenförmiges Aussehen bekommen. Die Chromatin- 
granula finden sich beinahe ausschliesslich an der Kern- 
membran angeheftet, sie sind gleichartig verteilt, klein und 
undistinkt abgegrenzt, wodurch sie ein etwas wollarliges Aus- 
sehen bekommen; hierdurch tritt es besonders im Gegensatz 
zum Chromatin der Gliazellen. 

In jedem Kerne finden sich 1-2 Nucleoli. Sie sind 
klein, kugelrund und verschieden gelagert, gewöhnlich ex- 
centrisch, bisweilen anscheinend an der Kernenmembran an- 
gelagert. Durch Hämatoxylinfärbung werden die Nucleoli inten- 
siv vom Hämatoxylin gefärbt; wenn man bei Heidenhains 
Hämatoxylinfärbung lange differenziert, binden die Nucleoli 
das Hämatoxylin lange nachdem das Chromatin entfärbt ist. 
Durch Färbung mit Unna-Pappenheims Karbol-Methyl- 
grün-Pyronin werden sie vom Pyronin gefärbt, während das 
Chromatin vom Methylgrün gefärbt wird. Durch Färbung mit 
Säurefuchsin-Lichtgrün binden sie das Säurefuchsin stark, selbst 
durch langandauernde Differenzierung. (Es muss jedoch be- 
merkt werden, dass diese Verhältnisse nichts Spezifisches für 
die Nucleolen in den Pinealzellen ist.) 

Das Protoplasma der Pinealzellen ist gewöhnlich nicht 
besonders reichlich. Es umgibt den Kern von allen Seiten, 
gewöhnlich ist dieser doch im Protoplasma etwas excentrisch 
gelagert. 


KNUD H. KRABBE, 


ID 
DD 
[e7} 


Wie man teils an Zupfpräparaten, teils an Präparaten 
mit Alzheimers Säurefuchsin-Lichtgrün gefärbt (s. Figur) 
sieht, ist die Form des Protoplasmas rundlich und ohne 
Ausläufer. 

Dass die -Pinealzellen keine Ausläufer besitzen, lässt sich 
schwierig beweisen, und man muss selbstverständlich immer 
die Möglichkeit voraussetzen, dass das Protoplasma ganz feine 
Ausläufer hat, welche sich der mikroskopischen Beobachtung 
entziehen. Was wir aber für das Wesentliche ansehen, ist, 
dass das Pinealzellenprotoplasma keine Ausläufer entsendet, 
welche Gliafasern .oder Nervenfasern enthalten und keine so 
sroben, protoplasmatischen Ausläufer entsenden, dass man diese 
beobachten kann. 

Man sieht dieses am besten durch Vergleich eines Alz- 
heimer-Präparats (Fig. 10), eines Bielschowsky-Präpa- 
rats (Fig. 7), mit einem Golgi-Präparat (Fig. 6 und Fig. 16). 
Am Alzheimer-Präparat sieht man, wie das etwas helle 
graugrüne Protoplasma, welches die Pinealzellkerne umgibt, 
gegen das dunkler gefärbte Netz, welches mit den Nerven- 
zellen in Verbindung steht, deutlich abgegrenzt ist, ohne durch 
Ausläufer damit in Verbindung zu treten. Ferner sieht man, 
wie die roten Gliafasern nur von bestimmten Zellen mit cha- 
rakteristischen Kernen ausgehen, nie vom Protoplasma der 
Pinealzellen, so dass sie nur per contiguitatem nicht per con- 
tinuitatem mit diesen in Verbindung sind (um dieses zu kon- 
statieren, muss man viele Präparate durchmustern). 

Wir meinen deshalb, dass Dimitrova unrecht hat, wenn 
sie schreibt (S. 51): „La plupart des cellules de la glande 
se trouvent entources par un grand nombre de fibres, qui 
s’appliquent ä leur surface en se croisant dans toutes les 
directions“ und später (S. 51): „La glande pindale est con- 
stitutce essentiellement ... . . par des el&ments nevrogliques ... 
Par elements nevrogliques nous entendons & la foıs des cellules 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Band H. 2). Tafel 17. 


Kgl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. @., Würzburg, Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Band H. 2). Tafel 18. 


rg: 


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| Kgl. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg. Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 227 


et des fibres quels que soient d’ailleurs les rapports qui 
Zwar schreibt sie 


‘ 


existent entre ces cellules et ces fibres.‘ 
später ganz richtig, dass die Gliafasern besondere Anknüpfung 
zu den Zellen „A granulation grosse“ haben, aber sie zieht 
daraus nicht die Konsequenz, dass die Berührung der Glia- 
fasern mit den Pinealzellen nur dieselbe ist wie die Berührung 
der Gliafasern mit den Nervenfasern des Rückenmarks. 

Man muss also annehmen, dass das Protoplasma der 
Pinealzellen weder Gliafasern enthält, noch Ausläufer entsendet, 
welche Gliafasern enthalten. Es liegt also kein Grund vor, 
die Pinealzellen als faserbildende Gliazellen zu betrachten. 
Wir werden indessen auch hier bemerken, dass sie auch von 
den anderen Gliazellen verschieden sind; teils ıst das Aus- 
sehen der Kerne von Gliakernen weit verschieden; teils wird 
jetzt (nach Held und Fieandt) gewöhnlich angenommen, 
dass die nicht faserbildenden Gliazellen im Zentralnerven- 
system ein reticuläres Syneytium bilden. Die Pinealzellen 
bilden aber eben kein solches Syncytium, sind dagegen selbst 
in einem anscheinend  syncytialen Netzwerk eingebettet. 

Dasselbe was für das Verhältnis zu den Gliafasern gilt, 
gilt auch für das Verhältnis zu den später zu erwähnenden 
Nervenfasern; am besten sieht man dieses an Fig. 7, welche 
ein Bielschowsky-Präparat vorstellt. Man sieht hier, wie 
die Nervenfasern von charakteristischen Zellen ausgehen, und 
dass sie sich an der Aussenseite der Pinealzellen buchten, 
ohne in diese einzudringen „auch an Fig. 16, von einem Golgi- 
Präparat sieht man, wie eine Pinealzelle zwischen den Nerven- 
zellausläufern eingelagert ist, ohne mit diesen in Verbindung 
zu treten. Endlich sieht man bisweilen, dass beim basalen 
Teile der Zirbeldrüse einzelne abgesprengte Pinealzellen‘ ge- 
funden werden; diese sind auch ohne Ausläufer, welche Nerven- 
faserr; enthalten. 


Wir meinen also, dass die Pinealzellen auch nicht nerven- 


228 KNUD H. KRABBE, 


faserhaltige Ausläufer entsenden, also nicht Nervenzellen sind, 
und dass es auf einer unrichtigen Beobachtung beruht, wenn 
Achuüucarro und Sacristän nebst Walter meinen, dass 
Zellen, welche augenscheinlich unseren Pinealzellen ent- 
sprechen, nervenfaserhaltige Ausläufer entsenden. 

Endlich wird der Eindruck, welchen man von den Säure- 
[uchsin-Lichtgrün-Präparaten bekommt, dass die Pinealzellen 
überhaupt keine protoplasmatische Ausläufer entsenden, bei 
Betrachtung einiger Strukturen, welche man an Golgi-Präpa- 
raten sieht, gestützt. Fig. 6 zeigt einige solche Strukturen ; 
man sieht eine bienenwabenähnliche Struktur, welche wahr- 
scheinlich auf Ausfällungen des Chromsilbers zwischen den 
Zellen beruht; man sieht die Pinealzellen ganz von den Wänden, 
welche diese Ausfällungen bilden, eingeschlossen, so dass kein 
Raum für eventuelle Ausläufer vorhanden ist. 

Nach dem eben Gesagten meinen wir das Recht zu 
haben, die Pinealzellen als Zellenzucharakterisieren, 
welche einen chromatinarmen rundlichen oder 
unregelmässig gefalteten Kern besitzen undein 
ziemlichsparsamesProtoplasma, welchesrund- 
lichist, keine Fibrillen enthält und keine Aus- 
läufer aussendet. Als äusserliches Charakteristikum 
können wir hinzufügen, dass in diesen Zellen oft ein eigen- 
tümlicher Prozess vorgeht, welchen wir jetzt beschreiben 
werden, nämlich die Kernexcretion. 


b) Die kernexcretorischen Vorgänge (Fig. 14) in 


densPmealzehlen: 


Dimitrova ist die erste, welche einige eigenartige Bil- 
dungen erwähnt hat, welche sich in den Kernen der Pineal- 
zellen finden. Sie beschreibt einige bald kugelförmige, bald 


eckige Körperchen, welche sich im Innern der Kerne befinden, 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 229 


erwähnt jedoch keine Struktur derselben. Sie meint, dass sie 
eine gewisse Beziehung zu dem Nucleolus haben, übrigens 
aber, dass es der Zukunft vorbehalten werden muss, ihre 
Genese und ihr weiteres Schicksal zu studieren. Sie deutet 
ferner die Möglichkeit an, dass ein Teil der hufeisenförmigen 
Kerne ein Umbildungsprodukt derjenigen Kerne sei, welche 
solche Kugeln ausgestossen haben. 

Marburg bemerkt, dass er diese Bildungen bei Kindern 
nicht gefunden hat, erwähnt auch keine Befunde bei Er- 
wachsenen. 

In unserer vorigen Arbeit hatten wir die granuläre Struktur 
der Kernkugel hervorgehoben und meinten, dass die Kugel 
als Granula im Protoplasma ausgestossen wärde. 

Achücarro und Sacristän polemisieren gegen diese 
Anschauung, indem sie meinen, dass die Kernkugel eben Bil- 
dungen sind, welche vom Protoplasma in den Kernen aufge- 
nommen werden. 

Unsere eigenen Untersuchungen haben folgendes gezeigt: 

Die erwähnten Bildungen haben wir einmal bei einem 
kleinen Kinde, nämlich bei einem 11/, jährigen Kinde gefunden, 
welches an tuberkulöser Meningitis gestorben war; in der- 
selben Zirbeldrüse fanden sich zahlreiche Kalkeonceremente: 
man muss mit der Möglichkeit rechnen, dass beide Befunde 
als pathologisch zu betrachten sind, als eine eventuelle Folge 
der tuberkulösen Meningitis. 

Übrigens haben wir keine Kernkugel bei Kindern unter 
8 Jahren gefunden: von diesem Alter beginnen sie sparsam 
aufzutreten, bei etwas älteren Kindern (13—15 Jahre) sind 
sie konstant und finden sich in grösserer Menge; und von 
diesem Alter bis hinauf zum höchsten sind sie in allen den 
von uns untersuchten Zirbeldrüsen ein konstant vorkommendes 
Phänomen. Man findet sie in etwas wechselnder Menge, bis- 
weilen in 1/,—t/, der Pinealzellen des Parenchyms, bisweilen 


230 KNUD H. KRABBE, 


viel seltener: sie sind gleichmässig in den verschiedenen Par- 
tien des Parenchyms verteilt. Sie finden sich nur in den 
Pinealzellkernen, nie in Nervenzellen oder Gliazellen; dagegen 
finden sie sich schon im ersten Lebensjahre in den Ependym- 


zellen des Recessus pinealis (siehe dieses Kapitel). 


Die Kernkugel finden sich sowohl in Pinealkernen un- 
fixierter Zupfpräparate als auch in Pinealkernen von Leichen, 
deren Subarachnoidealraum gleich nach dem Tode formol- 
injiziert sind; sie sind also nicht Kunstprodukte. 

Die Form dieser Bildungen ist gewöhnlich kugelrund, 
seltener stumpf dreieckig oder stabförmig. Der Durchmesser 
der kugelförmigen Bildungen hat gewöhnlich eine Länge, welche 
der Hälfte oder dem Drittel der Kerne entspricht (4-5 u). 
Bisweilen sind die Kernkugeln kleiner, nur sehr selten grösser, 
so dass sie den grössten Teil der Kerne anfüllen; es ist 
zweifelhaft, ob die letzteren, welche auch gewöhnlich wasser- 
hell sind, nicht eine andere Art von Bildungen (,Vacuolen‘) 
sind. 

Gewöhnlich befindet sich nur eine Kernkugel in jedem 
Kern. Bisweilen finden sich jedoch 2—-3, die nicht kommuni- 
zieren. Die Lage der Kernkugel ist verschieden, bisweilen 
finden sie sich im Zentrum, bisweilen in der Peripherie der 
Kerne, dicht bis zur Kernmembran gelagert. Bisweilen be- 
rühren sie den Nucleolus, bisweilen sind sie weit von diesem 
gelagert. | 

_ Die Struktur und Färbbarkeit der Kernkugel zeigen sich 
bei den verschiedenen Fixierungen und Färbungen auch ver- 


schieden. 


Nach Fixierung mit Formaldehyd- oder Chromlösungen 
färben sie sich homogen sowohl mit Hämatoxylin- als auch 
mit Anilinfarbstoffen. Sie sind etwas schwächer gefärbt als 
das Chromatin und der Nucleolus, gewöhnlich etwas stärker 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 231 


als das Protoplasma. Dasselbe gilt von den gewöhnlichen Fär- 
bungen nach Fixierung mit Alkohol oder Sublimat. 

Durch Färbung mit Säurefuchsin-Lichtgrün sind sie bei 
dem von uns benützten Differenzierungsgrad (Fig. 10) homogen 
und grünlich gefärbt. Übrigens werden sie durch keine spe- 
zifischen Färbungen (Fettfärbung, Fibrinfärbung, Jodreak- 
tion etc.) gefärbt. 

Es gibt aber eine Methode, durch welche man ein etwas 
anderes Bild bekommt, nämlich die Färbung mit Unna- 
’>appenheims Karbol-Methylgrün-Pyronin nach Fixierung 
mit Äthylalkohol, Propylalkohol, Formol-Alkoholmischung oder 
konzentrierter Sublimatlösung !). 

Durch diese Methode, bei welcher das Chromatin schwach 
blaugrün, die Nucleolen leuchtend rot und das Protoplasma 
blassrot gefärbt werden, sieht man die Kernkügel von kleinen, 
unregelmässig, leuchtend roten Granula gefüllt. Oft sind die 
Granula unregelmässig im Kernkugel verteilt. 

Ferner findet man Pinealzellen, bei denen die Kernkugel 
dicht bis zur Kernmembran gelagert ist, wo diese anscheinend 
perforiert, und man pyroninophile Granula sowohl in der Kern- 
kugel als auch im Protoplasma unmittelbar aussen an der 
geborstenen Kernkugel sieht. Und man sieht Zellen, wo eime 
solche Kernkugel eine grosse Öffnung gegen das Protoplasma hat 
und die Granula weiter im Protoplasma verteilt sind. Auch 
sieht man Zellen, wo der Kern eine tiefe Einkerbung hat, 
in deren Boden sich viele Granula finden, während eine etwas 
kleinere Menge im Protoplasma verteilt ist. Und endlich finden 
sich Zellen, deren Kerne ein wenig oder gar nicht eingekerbt 
sind, in deren Protoplasma sich aber viele pyroninophile Granula 
finden. 


!) Nachdem wir in unserer vorigen Abhandlung diese Methode für Studium 
des kernexeretorischen Prozesses empfohlen hatten, hat später Pappenheim 
in Centralbl. f. allg. Path. u. pathol. Anatomie Bd. 23, 1912 sie für Studium 
der sekretorischen Prozesse im allgemeinen empfohlen. 


232 KNUD H. KRABBE, 


Was dürfen wir daraus schliessen? Es ist möglich, dass 
die Kernkugel und das Protoplasma eine wahre granuläre 
Struktur haben. An den unfixierten Zupfpräparaten kann man 
es nicht deutlich erkennen. Es ist aber eine andere Mög- 
lichkeit vorhanden, nämlich die, dass die Granula Koagulations- 
produkte sind, welche durch die Alkoholfixierung entstanden 
sind; für letzteres spricht, dass die Granula unregelmässig 
und zottig sind, nicht kugelrund wie z. B. die Drüsengranula 
der Pharynxhypophyse. Aber es scheint berechtigt zu sein, 
anzunehmen, dass es solchenfalls dieselbe Substanz ist, welche 
im Protoplasma und in der Kernkugel ausgefällt wird. 

Eine andere Frage ist aber die der eventuellen Bewe- 
gungsrichtung der Granula (oder der als Granula ausgefällten 
Substanz). Denn der Vergleich der verschiedenen geschlossenen 
und geborstenen Kernkugeln deutet entschieden darauf hin, 
dass sie nicht stationäre Bildungen sind, dass aber wirklich 
eine Wandlung des Gehaltes der Kernkugel vor sich geht. 
Es ıst immer eine schwierige Aufgabe aus den starren Präpa- 
raten die Bewegungen, welche im lebenden Gewebe vorhanden 
gewesen sind, zu rekonstruieren, und in letzter Instanz ist 
eine solche Rekonstruktion immer eine Hypothese. Aber es 
wird doch gewöhnlich eine Bewegungsrichtung sein, welche 
nach Betrachtung der verschiedenen Stadien am wahrschein- 
lichsten vorkommt. Das Bild, das man häufig sieht, wo eine 
Kernkugel dicht an der Kernmembran gelagert und diese 
beiden durchlöchert sind, die Kugel mit Granula dicht ge- 
füllt ist und einzelne Granula aussen im Protoplasma gelagert 
sind, würde kaum vorkommen, wenn die Granula vom Proto- 
plasma in den Kern wandelten, während es wahrscheinlich 
sein würde, dass die Granula sich aus der Kugel entleeren. 
Wenn die Granula in den Kern einrückten, müsste man an- 
nehmen, dass die Membran der Kugel ein abgeschnürtes Stück 
der Kernmembran sei, und dass man vom Eintrittsstadium 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 233 


Bilder sehen würde, bei denen die Kernkugel durch einen 
kleinen Kanal mit dem Protoplasma verbunden ist, so wie 
man es auf dem Bilde von Achücarro vom Ganglioneürom t) 
sieht; solche Bilder sieht man aber nıe ın der Zirbeldrüse. 
Wir glauben darum, dass Achücarro und Sacristän 
darin recht haben, dass sich eine solche Umwandlung im 
Ganglioneuron findet, aber unrecht darin, dass die Kernkugel 
in der Zirbeldrüse umgewandelte Protoplasmaelemente sind. 
Über die Genese der Kernkugel lässt sich unmöglich 
anderes sagen, als dass sie wahrscheinlich im Innern der 
Kerne entstehen und bis zu einer gewissen Grösse wachsen, 
ehe sie ausgestossen werden. Dimitrova neigt dazu, sie 
in Verbindung mit dem Nucleolus zu setzen. Aus dem Um- 
stand, dass sie bisweilen miteinander in Berührung kommen, 
kann man doch nichts schliessen. Die Affinität der Farben- 
stoffe ist wechselnd. Durch Unna-Pappenheim-Färbung 
sind die Kernkugeln wie der Nucleolus vom Pyronin gefärbt, 
während das Chromatin sich mit dem Methylgrün färbt. Durch 
Färbung mit Säurefuchsin-Lichtgrün werden aber bei dem 
gewöhnlichen Differenzierungsgrad die Kernkugeln grün wie 
das Chromatin und nicht rot wie der Nucleolus. Übrigens 
muss man daran erinnern, dass alle diese Verhältnisse zu 
den Farben auf Verschiedenheiten in der Diffusion und nicht 
speziell in chemischen Verschiedenheiten beruhen können. 
Mit Rücksicht auf die Möglichkeit, dass die Kernkugeln 
ein vielleicht phosphorhaltiges Abspaltungsprodukt des Nu- 
cleolus sein könnten, haben wir an einigen Präparaten die 
Lilienfeld-Montische Phosphorsäurereaktion 2) gemacht. 


Es ist uns aber nicht gelungen befriedigende Resultate zu er- 
langen. 


1) Achücarro: Ganglioneurom des Zentralnervensystems. Folia neuro- 
biologica Bd. 7. 1913. 


°) Lilienfeld und Monti: Über die mikrochemische Lokalisation des 
Phosphors in den Geweben. Zeitschr. f. physiologische Chemie. Bd. 17. 1893. 


234 KNUD H. KRABBE, 


In vielen Pinealzellen, in welchen die Kerne ohne Kern- 
kugel oder Einkerbungen sind, sieht man im Protoplasma 
pyroninophile Körnchen, welche ganz den aus der Kernkugel 
entleerten gleichen. Es ıst möglich, dass diese im Protoplasma 
selbst entstanden sind, es ist auch möglich, dass sie von 
der entleerten Kernkugel herrühren. Welches von beiden der 
Fall ist, lässt sich unmöglich entscheiden. 

Ebenso unmöglich ist es, etwas über das spätere Schick- 
sal der Granula zu sagen. Es ist möglich, dass sie im Proto- 
plasma verbleiben, es ist aber auch möglich, dass sie weiter 
wandern, z. B. in die Gliazellen übertreten und dadurch weiter 
wandern z. B. zu den Gefässen. Wenigstens haben wir keine 
Farbmethoden gefunden, durch welche man pyroninophile Ele- 
mente in den anderen Zellen verfolgen kann. In unserer vorigen 
Abhandlung erwähnten wir die Möglichkeit, dass diese Granula 
in interzelluläre Räume ausgestossen würden. Das Vorkommen 
solcher interzellulären Kanäle ist aber sehr hypothetisch, was 
wir als solche aufgefasst hatten, waren Schrumpfungsräume, 
und wir sind jetzt am meisten geneigt, anzunehmen, dass es 
keine solchen Kanäle gibt. 

Eine weitere Frage ist, wie wird das Schicksal der Kerne 
nach Ausstossung der Kernkugel sein ? 

Der Umstand, dass man auch ebene Übergänge findet von 
Kernen, welche scheinbar eben ihre Kernkugel ausgestossen 
haben, und Kernen mit Einkerbungen, in deren Boden sich 
noch mehrere Körnchen finden bis zu Kernen mit sehr flachen 
Einkerbungen, deutet darauf, dass der Kern nach Ausstossen 
der Kernkugel wieder sein früheres Aussehen annimmt; es 
ist dann möglich, aber unbeweisbar, dass sich in einem solchen 
Kerne wieder Kernkugeln bilden können. Man muss hier nur 
bemerken, dass man bisweilen mehrere Kernkugeln in dem- 
selben Kerne trifft, und dass wir auch bisweilen Kerne ge- 


sehen haben, in welchen sich zwei Kernkugeln ‚„ruhend‘“ 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 


fanden, während eine dritte im Begriff war, ausgestossen zu 
werden. Auch haben wir Kerne mit Kernkugeln gesehen, in 
welchen sich eine Einkerbung in der Kernmembran fand. 
Wir glauben, dass bisweilen die Einkerbungen der Kerne 
von dem Ausstossen der Kernkugel herrühren. Aber dass dieses 
nicht immer der Fall ist, schliessen wir daraus, dass man 
die Einkerbungen und unregelmässigen Kernformen schon im 
1. Lebensjahre findet, lange ehe die Kernexcretion beginnt. 
Und ferner können wir konstatieren, dass kein Grund dazu 
vorliegt, anzunehmen, dass die Kerne nach Ausstossen der 


Kernkugel zugrunde gehen. 


ec) Kernteilungsfiguren der Pinewizellen. 

Wie im embryologischen Abschnitte erwähnt, sieht man 
vom Anfang bis zum Ende des Fetallebens zahlreiche mitotische 
Kernteilungsfiguren im Protoplasma, aber niemals Amitosen. 

An unseren Präparaten von Kindern und Erwachsenen 
haben wir dagegen nıemals (auch nicht an denen gleich nach 
dem Tode injizierten) Mitosen gefunden, dagegen oft Figuren, 
welche Amitosen gleichen. 

Dimitrova hat die Frage der Amitosen berührt; da wo 
sie die eingekerbten und hufeisenförmigen Kerne erwähnt, wirft 
sie die Frage auf, ob es Kerne, welche ihre Kernkugel aus- 
gestossen haben, oder ob es Amitosen sind. Sie nimmt das 
erstere an: „neanmoins, sans rejeter la possibilit@ de l’existence 
de figures amitotiques, nous inclinons plutöt a admettre la 
premiere explication“ ... (dass es Kerne, deren Kugel aus- 
gestossen sind). Dimitrovas Anschauung beruht wahrschein- 
lich darauf, dass sie nicht hinlängliches Kindermaterial unter- 
sucht und darum nicht bemerkt hat, dass die unregelmässigen 
Kernformen lange vor der Kernexcretion auftreten. 

Wenn man jetzt sowohl bei Kindern wie auch bei Er- 


wachsenen bzw. Greisen die Pinealzellen in der Zirbeldrüse 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 16 


226 KNUD H. KRABBE, 


betrachtet, findet man bei allen, dass sich Übergänge finden 
von Kernen mit kleinen und Kernen mit tiefen Einkerbungen 
bis zu Fällen, wo in einer Zelle zwei halbkugelförmige Kerne 
mit den Flächen dicht aneinander gelagert sind. Während 
dieses ein häufiger Befund ist, kann man auch, obgleich viel 
seltener, zwei Kerne, welche mit einem etwas längeren dünnen 
Stiel verbunden sind, sehen (wie eine Sanduhr). Dagegen 
haben wir nie das Phänomen der „Kernknospung“ (Dit- 
levsen)!) in den Pinealzellen gesehen. 

Es kommt uns am wahrscheinlichsten vor, dass die er- 
wähnten. Figuren Amitosen sind, und wir wollen also an- 
nehmen, dass sich von der frühesten Kindheit bis zum höchsten 
Alter zahlreiche Amitosen in den Pinealzellen finden. 

Also wollen wir annehmen, dass die unregelmässigen 
Kernformen verschiedene Phänomene repräsentieren. 1. Einige 
sind wahrscheinlich Stadien der Rückbildung der Kerne, welche 
die Kernkugel entleert haben. 2. Andere sind wahrscheinlich 
Stadien der Amitosen. 3. Es ist möglich, dass einige von 
artifizieli entstandenen ‚Kernfalten‘‘ herrühren. 4. Endlich ist 
es möglich, dass einige der unregelmässigen Kernformen eigen- 
artige, aber stationäre Formen sind. 


d) Secretcapillaren. 


Eine Frage von Interesse bezüglich der Seeretion ist die, 
ob sichi n der Zirbeldrüse Secretcapillaren befinden. 

In unserer vorigen Arbeit erwähnten wir vorübergehend, 
dass wir versucht hatten, Berlinerblau-Gelatine direkt in die 
Zirbeldrüse zu injizieren, und dass dieses sich in ein Netz 
zwischen den Zellen verbreitete. Wir fügten aber ausdrück- 
lich hinzu, dass es unmöglich sei, zu entscheiden, ob es 
natürliche oder künstliche Höhlungen sind, in welchen die 
Gelatinemasse sich verbreitet hatte. Ein anderer Verfasser, 


1) Anat. Anzeiger Bd. 38. 1911 und Bd. 43. 1913. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 237 


Paul Loewy, hat dieses kleine Experiment mit gar zu 
erossem Wohlwollen aufgenommen und wirft uns nur unsere 
Skepsis dem Resultat gegenüber vor, eine Skepsis, welche 
wir trotz allem festhalten wollen. Loewy hat selbst eine 
teihe Injektionsversuche auf ähnlicher Weise, durch Einstich 
in die Zirbeldrüse, unternommen und dadurch ein System 
von Kanälen gefunden, welches er näher beschreibt. Was 
zeigen aber diejenigen Kanäle, welche man durch einen solchen 
Versuch hervorbringt? Nichts als welche Teile den kleinsten 
Widerstand gegen eine unter einem gewissen Druck heran- 
dringende Flüssigkeitsmenge gewährt, aber nichts darüber, ob 
die Bahnen, durch welche diese Flüssigkeitsmenge sich be- 
wegt, von vornherein existieren, oder ob sie durch das Heran- 
dringen der Flüssigkeit künstlich gebildet werden. Und es 
wäre merkwürdig, wenn nicht eine injizierte. Flüssigkeit allen- 
falls ein Netzwerk zwischen den Zellen bilden würde. Die 
einzige Methode, durch welche man mit leidlicher Sicherheit 
solche Kanäle zeigen kann, ist die, wenn man sie durch einen 
schwachen Druck von einem präexistierenden Hohlraum ge- 
füllt bekommen kann. 

Mit Rücksicht darauf haben wir Gerotas Berlinerblau 
mit schwachem Druck!) durch den Balken in den dritten 
Ventrikel injiziert, indem die Dura beim Öffnen des Craniums 
unbeschädigt gelassen war. Die Flüssigkeit war durch das 
Foramen Magendi und Foramina Luschkae hervorgedrungen 
und füllte den Subarachnoidealraum um die Zirbeldrüse. 
Ebenso fanden sich Berlinerblaulagerungen sowohl in Recessus 
pinealis als auch Recessus suprapinealis. Aber in die 
Zirbeldrüse war kein Berlinerblau hineinge- 
drungen. 


x 


Selbstverständlich beweist dieses auch nicht, dass es keine 


!) Vgl. Aagaard, Über die Lymphgefässe der Zunge etc. Anat. Hefte 
47. Bd. 143. H. 1913. 


16* 


238 KNUD H. KRABBE, 


Secretkanäle gibt. Aber bis heute ist ihre Existenz nicht be- 
wiesen, ja nicht einmal wahrscheinlich. 

Eine andere Methode zur Herstellung von Secretcapillaren 
ist die Golgische. Wie wir im folgenden Abschnitte sehen 
werden, bekommt man durch Golgi-Imprägnation viele eigen- 
artige Strukturen; diese scheinen aber wesentlich teils Aus- 
läufer der Nerven- und Gliazellen, teils Linien zu sein, in 
welchen die Zellen zusammenstossen; wenigstens bekommt 
man durch Golgi-Imprägnation keine Struktur, welche so 
sehr Secretcapillaren ähnelt, dass man daraus schliessen darf, 
dass solche sich in der Zirbeldrüse finden. 


e) Zweiter Zellentypus: die Gliazellen (Figg. 9, 
OF an are). 

In dieser Zellgruppe im Parenchym der Zirbeldrüse ent- 
sprechen die Kerne teils Dimitrovas ‚„noyaux clairs a granu- 
lation plus grosse“, teils einigen von ihren ‚„noyaux fonces“. 
Diese Kerne sind durchschnittlich grösser als diejenigen der 
Pinealzellen, sie sind rund, oval oder etwas spindelförmig, 
zeigen auch nie die unregelmässigen Formen wie die der 
Pinealzellen. Sie sind mit einer Membran versehen: Die 
Chromatinkörner, die grösser und schärfer abgegrenzt sind 
als diejenigen der Pinealzellenkerne, sind zum Teil, aber keines- 
wegs ausschliesslich auf dieser Membran gelagert. Bei Häma- 
toxylinfärbung nimmt das Chromatin dieser Kerne gewöhnlich 
‚eine bläulichere Farbe an, als dasjenige der Pinealzellen, 
während es durch die Differenzierung mit Alzheimers Säure- 
luchsin-Lichtgrün-Färbung das Säurefuchsin länger bindet, als 
das Chromatinlider Pinealzellen es tut; bei einer passenden Diffe- 
renzierung zeigen die Gliakerne eine rote Farbe, während die 
Pinealzellen grün erscheinen. In einem Teil der Gliakerne 
ist die Chromatinmasse so gross, dass der Kern auf einem 
hämatoxylingefärbten Präparat ganz schwarz erscheint; diese 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 239 


schwarzen Kerne unterscheiden sich aber von denjenigen in 
der folgenden Gruppe dadurch, dass sie rund sind. Die Kerne 
enthalten auch ein Nucleolus, welches dasselbe Farbenverhält- 
nis wie in demjenigen der Pinealzellen aufweist. Das Aus- 
sehen dieser Kerne ist wesentlich dasselbe, wie bei den Kernen 
derjenigen Gliaplaques, die gewöhnlich in der Zirbeldrüse ge- 
funden werden, und in der Glia, die basal zu der Zirbeldrüse 
liegt, gleichwie sie auch vollständig den Gliakernen in den 
anstossenden Hirnteilen gleichen. 

Das Protoplasma, welches diese Kerne einschliesst, hat 
durchschnittlich eine etwas grössere Masse als dasjenige der 
Pinealzellen und es zieht sich in Verlängerungen aus, die 
zwischen den Pinealzellen eindringen und wird mit den Fort- 
setzungen der Zellen in der folgenden Gruppe eimgefiltert. 
Im Rand dieses Protoplasmas liegen Fasern, die durch folgende 
Eigenschaften charakterisiert werden: sie sind lang, schlank, 
glatt, geschweift, zeigen keine Verzweigungen, haben scharfe 
Konturen und werden mit Weigerts Gliafärbung kräftig blau, 
mit Säurefuchsin-Lichtgrün-Färbung rot, mit v. Gieson- 
Hansen gelb und mit Heidenhains Hämatoxylin schwarz 
gefärbt, d. h. sie zeigen dieselbe Farbenreaktion wie Glia- 
fäden andererorts im Zentralnervensystem. Wir meinen des- 
halb, dass es von früheren Verfassern völlig berechtigt ist, 
diese Fäden als Gliafäden in Weigerts Sinne aufzufassen. 

Die Menge dieser Gliafäden entsprechen ungefähr den- 
jenigen. die im Rückenmark vorkommen, sind etwas reich- 
licher als die, welche man in der Hirnrinde sieht. Sie sind 
gleichmässig über das ganze Parenchym verteilt, nur hier und 
da sieht man dichtere Bündel. Sie kreuzen sich nach allen 
Richtungen, nur nach den Septen und Gefässwänden hinaus 
laufen sie oft verhältnismässig rechtwinkelig auf der Grenz- 
linie zwischen dem Bindegewebe und dem Parenchym, um 
entweder hier zu enden oder zuweilen die Grenze zu durch- 


240 KNUD H. KRABBE, 


brechen, um sich in das Bindegewebe hinaus fortzusetzen; 
diese Verhältnisse zwischen Bindegewebe und Glia sollen aber 
später besprochen werden. Dagegen soll hier bemerkt werden, 
dass das System der Gliafäden im Parenchym teils mit den 
Massen der Gliafäden in den später erwähnten Gliaplaques 
und teils mit derjenigen Gliamasse zusammenhängt, die basal 
vom Parenchym des Corpus pineale gefunden wird. 

Bereits an Präparaten vom 1. Lebensjahr werden Glia- 
fäden gesehen, obgleich in ziemlich spärlicher Menge. Im 
Laufe der Zeit nimmt die Menge der Gliafäden zu, aber selbst 
bei sehr alten Individuen werden Gliafäden nie in so über- 
wältigend grosser Menge im Parenchym des Corpus pineale 
gefunden, dass aus dem Grund Anlass vorhanden ist, das 
Organ als speziell gliös aufzufassen. Die Vermehrung der 
Glia im Parenchym des Corpus pineale geht tatsächlich ganz 
parallel mit der Vermehrung der Gliamenge, die man stets 
im Gehirn von alten Individuen findet. 

Ein Hauptgrund Dimitrovas, um den grössten Teil 
der Zellen des Pärenchyms als Gliazellen aufzufassen, besteht 
darin, dass sie fast überall die Zellen mit den Gliafäden in 
Berührung gefunden hat. Sie schreibt unter anderm hierüber 
(S. 51): „La plupart des cellules de la glande se trouvent 
entourdes par un grand nombre des fibres, qui s’appliquent 
A leur surface en se croisant dans toutes les directions“ und 
später (S. 51): „La glande pineale est constitu6e essentielle- 
ment .... par les elöments nevrogliques..... Par elements 
nevrogliques nous entendons aA la fois des cellules et des 
fibres quelque soient d’ailleurs les rapports qui existent entre 
ces cellules et ces fibres.“ 

Man kann indessen aus dem Umstand, dass eine Zelle 
mit einem oder mehreren Gliafäden in Berührung steht, nicht 
schliessen, dass diese Zelle eine Gliazelle ist, zudem, da 
es oft unmöglich ist, zu sehen, ob nicht eine dünne Proto- 


lHistolog. u. embryolog. Untersuchungen über d« Zirbeldrüse d. Menschen. 241 
plasmaschicht den Gliafaden von der Zelle trennt. Man muss 
dagegen die Gliafäden in längeren Stücken ihres Verlaufes 
verfolgen, und es zeigt sich dann, dass sich um gewisse Zellen 
eine besonders grosse Menge Gliafäden auf die Weise sammelt, 
dass in den Ausläufern, die diese Zellen aussenden, dichte 
Bündel von Gliafäden zu finden sind, während diese weit 
zerstreuter liegen, wo sie mit andern Zellen in Berührung 
kommen. Die Zellen aber, von denen diese Gliafäden aus- 
oehen, sind eben immer die oben beschriebenen mit den runden 
oder ovalen, grob granulierten oder schwarz gefärbten Kernen 
und nie Pinealzellen. Wir meinen deshalb, dass nur die hier 
genannten als Gliazellen aufgefasst werden können, während 
die Pinealzellen einer ganz andern Kategorie angehören, die 
weder morphologisch noch ontogenetisch etwas mit den Glia- 
zellen zu tun haben. Dimitrova hat ganz gewiss diesen 
Punkt gestreift und sie bemerkt an einer Stelle, dass die 
Gliafäden besondere Anknüpfung an die Kerne „a granulation 
erosse“ haben; sie hat aber nicht versucht die weiteren Konse- 
quenzen daraus zu ziehen und sie fasst, wie erwähnt, das 
ganze Organ als wesentlich gliös auf. 

Auf Golgı-Präparaten haben wir Bilder von Gliazellen 
gefunden, die völlig dem entsprechen, was Dimitrova,ge- 
funden hat, und was man sonst im Zentralnervensystem findet. 
Diese Gliazellen sind vom langstrahligen Typus (Fig. 15); kurz- 
strahlige haben wir keine gesehen. 

Wie bekannt findet man im Zentralnervensystem ausser 
denjenigen Gliazellen, die Fäden bilden, auch andere Glia- 
zellen, die keine Fäden bilden, die aber infolge Helds!) 
und Fieandts?) Untersuchungen, ein protoplasmatisches Syn- 


cytıum bilden; zu diesen Gliatypen müssen vermutlich auch 


!) Held, Über den Bau der Neuroglia. Abh. d. math.-phys. Klasse d. 
sächs. Ges. d. Wiss. Leipzig 1903. 
?) Arch. f. mikrosk. Anat. 76. Bd. 1910 und Zieglers Beiträge, 51. Bd. 1911. 


242 KNUD H. KRABBE, 


Eisaths und Alzheimers gezählt werden, und von denen 
man die Übergänge zu denjenigen Formen finden kann, welche 
bei verschiedenen pathologischen Zuständen auftreten. Diese 
Gliazelltypen haben wir nicht in der Zirbeldrüse gefunden und 
wie es von der Beschreibung der Pinealzellen hervorgeht, sind 
sie auch von diesen ganz verschieden. 

Endlich soll bemerkt werden, dass wir keine Übergangs- 
formen zwischen Pineal- und Gliazellen gefunden haben. 

Wir meinen also mit Rücksicht auf Obiges, dass die Pineal- 
und Gliazellen als zwei ganz verschiedene Zellkategorien inner- 
halb des Zentralnervensystems aufgefasst werden müssen. 
f) Der dritte Zelltypus: die Nervenzellen‘(Fieg. © 
ge uesande 16 20n). | 


Wie früher erwähnt haben einige ältere Verfasser wie 
Meynert und Pawlowsky das Corpus pineale als ein 
nervöses Organ aufgefasst. Andere Verfasser wie Hagemann 
haben gemeint, dass es teils aus epithelialen Zellen, teils aus 
Nervenelementen bestehe. Da diese Resultate sich auf zıem- 
lich unvollkommene Methoden stützten, wird es niemand ver- 
wundern, dass der Gedanke hieran beinahe ganz zum Vorteil 
für diejenige Theorie aufgegeben wurde, dass die Zirbeldrüse 
ein gliöses Organ war, besonders nachdem Cionini, 
Weigert und Dimitrova Glia in grösserer Menge ge- 
funden haben und besonders die Gliaknötchen zu einem wesent- 
lichen Bestandteil des Organs zählten. Erst in späterer Zeit, 
nachdem Cajals und Bielschowskys Silbermethoden all- 
oemein benützt wurden, sind Untersuchungen mit Hinblick 
auf das Vorhandensein von Nervenzellen wieder herangezogen 
worden. 

Es ist - zum Teil Achucarro und Sacrıstan, zum 


Teil Walter, welche eingehendere Untersuchungen an 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). Tafel 19, 


Fig. 15. 


Fig. 16, 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden, 


RL RTL T 


Tafel 20, 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 


Fig. 17. 


Fig. 18. 


Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 243 


Menschenmaterial mit Hilfe der Silbermethoden vorgenommen 
haben und dadurch neue Resultate erreichten. Achücarro 
und Sacristän haben. teils Cajals Pyridinfixation, teils 
Bielschowskys Methode benützt. In den perivasculären 
Bindegeweberäumen haben sie oft Bündel von feinen nervösen 
Fäden gesehen. Ferner sieht man ebendaselbst zahlreiche 
„piececillos rematados por botones“: einige Fasern enden in 
einzelnen Knöspchen, viele verzweigen sich oder werden in 
baumartigen Verzweigungen aufgelöst. Einige der Fasern, die 
in den Knöspchen enden, laufen längs der (Grelässe, der grösste 
Teil geht aber winkelrecht auf ihnen und sie durchbrechen 
die äusserste Bindegewebeschicht der Septa. Cionini und 
Zancla hatten ähnliche Bildungen gesehen und sie als Neuro- 
gliaelemente aufgefasst. Achucarro und Sacristan 
meinen, dass einige derselben denjenigen entsprechen müssen, 
die Cajal in der Zirbeldrüse beim Kaninchen gefunden hat, 
und dass diese wahrscheinlich von nervöser Natur sind. Die 
Verfasser sehen auf ihren eigenen Präparaten zwei verschiedene 
Arten von Zellen, einige kleine, mit 3—4 feinen, fadenförmigen 
Vorsätzen, von welchen einige die perilobuläre Bindegewebe- 
wand durchdringen und an den Gefässen enden, während andere 
erösser und komplizierter sind. In einigen derselben sehen 
sie eine deutliche neurofibrillenähnliche Struktur. Die ersteren 
entsprechen den von Zancla beschriebenen. Die letzteren 
sind weniger zahlreich und werden nicht nur ım Parenchym, 
sondern auch in den Septen gefunden, wo sie die (refässe mit 
ihren Verlängerungen umgeben. Von welcher Natur sie sind, 
kann nicht ganz bestimmt entschieden werden, da sie aber 
die grösste Ähnlichkeit mit den multipolären Zellen im Sym- 
pathicus aufweisen, meinen die Verfasser, dass es am ehesten 
solche sind, die auch Cajal und andere beschrieben haben. 
Die ampullenförmigen Anschwellungen können vielleicht als 


eine Involutionserscheinung aufgefasst werden. In den beiden 


244 KNUD H. KRABBE, 


kürzlich erschienenen Abhandlungen haben teils Achücarro 
und Sacristän, teils Achücarro allein verschiedene der 
oben genannten Verhältnisse mehr detailliert beschrieben. In 
der einen Abhandlung beschrieben sie insonderheit die End- 
knöspchen und heben deren degenerative Natur hervor; ferner 
beschreiben sie verschiedene aparte, zum Teil degenerative 
Nervenzellenformen, die sie in den Bindegewebesepten gefunden 
haben. Ihr wesentlichstes Material bestand aus den Organen 
alter Leute, welche an Lungentuberkulose gestorben waren, 
[ferner einem Fall von tuberkulöser Meningitis und einigen, 
in denen, der Tod unmittelbar nach einer Unterleibsoperation 
eintrat. In der andern Abhandlung ist Achücarro eher ge- 
neigt zu der Annahme einer internen Sekretion, die er in 
seiner ersten Arbeit bekämpfte, überzugehen. 

Walter hat zum Teil die gleichen Silbermethoden an- 
gewandt, zum Teil aber eine von ihm selbst beschriebene 
Methode, die in Imprägnation an alkohol- und formolfixierten 
Paraffinschnitten mit Protargol und darauffolgender Reduktion 
mit Hydrochinon besteht. Die Methode gibt nicht ganz so 
distinkte Imprägnation, wie Bielschowskys, sie ist aber 
sehr bequem und wir haben sie selbst in einer Reihe von 
Fällen zu unsrer Zufriedenheit angewandt, indem wir ihre 
Brauchbarkeit durch Vergleich mit Bielschowsky- und 
Cajal-Präparaten kontrollierten. Walter beschreibt gleich- 
zeitig mit und doch unabhängig von Achücarro und 
Sacristän verschiedene ähnliche Strukturen wie diese, aber 
ausführlicher. Um die Gefässe herum findet er ein dichtes 
Netzwerk von Fäden mit kolbenförmig verdickten Enden; diese 
gleichen den von Cajal beschriebenen Endkolben auf den 
Nervenfäden. Die Kolben sitzen an den Enden der Fäden, 
die vollständig Achsencylindern gleichen; die Fäden laufen 
winkelrecht auf den Piasepten, biegen aber gewöhnlich an den 


Gelässen rechtwinkelig um und lagern sich diesen entlang. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 245 


In den Drüsenlappen werden auch analoge Bildungen gefunden. 
Die ganze Drüse ist von einem dichten Netzwerk von Fäden 
durchsponnen, von welchen eine grosse Anzahl mit Kolben 
enden, die sich an die Parenchymzellen anlegen. 

Das Randflechtwerk entspringt wahrscheinlich aus drei 
Zellarten. Der grösste Teil rührt von Zellen her, die einen 
grossen rundlichen Kern haben und m der Umgebung der 
Septen und der Gefässe liegen. Es sind offenbar diese Zellen, 
die Achücarro und Sacristän für sympathische ansehen, 
während Walter meint, dass Verschiedenes dagegen spricht, 
dass es Nervenzellen sein sollten. Er meint auch nicht, dass 
es Gliazellen sein können. Man muss annehmen, dass es 
Zellen sind, die für die Zirbeldrüse specifisch sind. Im Par- 
enchym findet er Zellen mit ganz ähnlichen Kernen und 
Protoplasma, aber ohne die typischen Verlängerungen; man 
muss deshalb annehmen, dass die Zellen nur in der Nähe von 
Gefässen und Septen in die typischen Elemente verwandelt 
werden, welche das Netzwerk bilden. Grössere Ähnlichkeit 
mit den Nervenzellen bieten die zwei folgenden Zellarten. 

Die zweite Zellenart wird von verhältnismässig grossen 
Bildungen, die spärlicher vorkommen, repräsentiert; sie er- 
innern mehr an motorische Nervenzellen. 

Die dritte Zellenart hat Walter nur in den Piasepten ge- 
funden und sie ist überdies selten; es sind kleinere Zellen, die 
stark gefärbt werden. Diese beiden Zellenarten enthalten auch 
kein Tigroidkorn und weisen nur selten intracelluläre Fasern 
auf; das tun aber auch nicht alle sympathischen Nervenzellen. 
Von der Commissura posterior strahlt eine ziemlich bedeutende 
Anzahl von Nervenfäden in die Zirbeldrüse ein, zuerst in 
Bündeln, später vereinzelt, um sich zuletzt mit den Endkolben 
an die Parenchymzellen zu legen. Sympathische Nervenfäden 
treten mit den Gefässen und Septen auf ,die Weise ein, wie 
Cajal sie beim Kaninchen und der Ratte beschrieben hat; 


246 KNUD H. KRABBE, 


sie liegen bündelweise um die Gefässe herum, strahlen dann 
zwischen die Parenchymzellen hinein und enden mit Terminal- 
knöspchen. Ausserdem werden noch andre Elemente gefunden, 
die wohl für secretorisch angesehen werden müssen und die 
im 1. Lebensjahr die grösste Masse des Parenchyms bilden. 
Endlich findet er Elemente, die atypischer Neuroglia gleichen. 

Walter meint, dass die Zirbeldrüse als Gesamtheit als 
eine Art von Reflexorgan aufgefasst werden muss. ö 

AchWwearro-Saeristäans. und) ‚Walters, Unter 
suchungen sind für das Verständnis der Histologie der Zirbel- 
drüse von entscheidender Bedeutung, weil man hierdurch das 
Vorhandensein einer bedeutenden Menge von Nervenzellen im 
Organ beim Menschen als festgesetzt betrachten kann. An 
einigen Punkten ist es aber doch nötig ihre Untersuchungen 
zu vertiefen; dies gilt unter anderm der Zusammenstellung 
zwischen denjenigen Zellentypen, die bei den Silbermethoden 
gesehen werden und den drei Zelltypen, die bei gewöhnlichen 
Hämatoxylin- und Anilinfärbungen gefunden werden. Ferner 
fehlten Untersuchungen über die Verhältnisse auf den ver- 
schiedenen Altersstufen. Und endlich wollen wir einige Punkte 
hervorheben, in denen wir mit Walter uneinig sind, indem 
dieser einen Teil der Pinealzellen als Nervenzellen aufzufassen 
scheint, weil sie augenscheinlich Nervenfäden aussenden — 
gleichwie Dimitrova sie als Gliazellen auffasste, weil sie 
mit Gliafäden in Berührung standen. 

Unsere eigenen Untersuchungen haben folgendes ergeben : 
Wenn man auf Präparaten, die mit Anilinfarben oder Häma- 
toxylin gefärbt sind — am besten mit Heidenhains oder 
dem von Held angegebenen molybdänsauren Hämatoxylin —, 
die verschiedenen Zellentypen betrachtet, die im Parenchym 
gefunden werden, wird man neben den Pinealzellen mit chro- 
matinarmen, rundlichen oder eingekerbten Kernen im aus- 


läuferfreien Protoplasma und den Gliazellen mit den chromatin- 


. 
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 247 


reicheren, scharf granulierten Kernen im gliafadenhaltigen Proto- 
plasma einen dritten charakteristischen Zellentypus!) finden. 
Die Kerne in diesen Zellen gehören zum grössten Teil, gleichwie 
einige der Gliazellenkerne, zu Dimitrovas „noyaux fonces“, 
da sie in ungewöhnlichem Grad Farbstoffe binden, besonders 
Hämatoxylin; selbst bei sehr kräftiger Differenzierung durch 
Heidenhains Eisenhämatoxylinfärbung behalten diese Kerne 
ihre Farbe, nachdem das Hämatoxylin aus den Kernen aller 
andern Zellen herausgezogen worden ist; in andern ist die 
Farbenintensität nicht so stark, die Kerne zeigen aber die- 
selbe homogene Färbung und keine Granulierung, wie die 
beiden vorigen Zelltypen. Die Kerne (Figg. 7, 9—11n) sind 
gewöhnlich pyramidenförmig mit rundlichen Ecken; zuweilen 
weisen die Konturen eine rauten- oder sternförmige Zeich- 
nung auf, oft sind die Kerne etwas flach und leicht gekrümmt. 
Durch diese typische Form unterscheiden sie sich von den 
dunkel gefärbten Gliazellkernen, die immer rund sind. Die 
Kerne enthalten, im Gegensatz zu dem was Dimitrova 
meinte, einen Nucleolus,. gleichwie alle andern Kerne im Par- 
enchym (die Gliakerne und die Pinealkerne). 

Die Kerne sind von einer ganz dünnen Protoplasmaschicht 
umgeben, die gleichfalls durch ‚die verschiedensten Färbe- 
methoden sehr intensiv sowohl von basischen, wie sauren 
Farbstoffen gefärbt wird, und übrigens ein homogenes Aus- 
sehen hat. Diese intensive Färbung des Protoplasmas haben wir 
stets gefunden, auch bei formolinjizierten Präparaten, so dass 
weniger Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden ist, dass sie darauf 
beruhen sollte, dass in der Agone oder post mortem etwas 
von der reichlichen Chromatinmenge in das Protoplasma hinaus 
diffundiert ist. Die intensive Färbung des Protoplasmas be- 


wirkt oft, dass man die Konturen des Kerns weniger scharf 


!) In unserer vorigen Arbeit hatten wir diese Zellen als eine Art von 
pyknotischen Gliazellen aufgefasst. 


248 KNUD H. KRABBE, 


sieht. Von den Spitzen, welche das Protoplasma an den 
Ecken der Dreiecke bildet, oder den Spitzen der Sterne, senden 
diese Zellen Ausläufer aus, die zwischen die Parenchymzellen 
hindurchdrängen (Fig. 7). 

Wie früher erwähnt, sieht man auf den Säurefuchsin- 
Lichtgrün-Präparaten und in gewissen Partien der G olgi-Präpa- 
rate, dass die Pinealzellen nicht unmittelbar aufeinander 
stossen, sondern durch eine protoplasmatische Masse getrennt 
sind, die ein feines Netzwerk zwischen den Pinealzellen bildet. 
Dies Netzwerk ‘steht unter anderm mit den obengenannten 
Zellen in Verbindung, von welchen es zum Teil als Ausläufer 
betrachtet werden muss. Es wird mit einem dunkleren Ton 
als das Protoplasma der Pinealzellen gefärbt und es zeigt 
bereits bei der Alzheimer-Färbung eine ausgesprochene 
fibrilläre Struktur. In derselben kann vermittels der Säure- 
fuchsinfärbung die Anwesenheit einer Fasernart konstatiert 
werden, nämlich wie früher erwähnt der Gliafäden, die von 
den Gliazellen entspringen. In der übrigen fibrillären Masse, 
die nur von Lichtgrün gefärbt wird, sieht man überdies eine 
fibrilläre Struktur, in derselben kann man aber nicht so distinkt 
die verschiedenen Fasern ausdifferenzieren. Das gelingt da- 
gegen bei Anwendung von Silberimprägnierungen, wie Cajals, 
Bielschowskys und Walters. Auf Präparaten, die mit 
denselben behandelt sind, sieht man nämlich, dass jedenfalls 
ein grosser Teil der Masse, welche die Zwischenräume zwischen 
den Pinealzellen ausfüllt, von anastomosierenden Fasern ge- 
bildet wird (Figg. 17—20 ij). 

Diese Fasern werden durch die Silbermethoden schwarz, 
gleichwie die Achseneylinder in den anstossenden Hirnteilen ; 
sie bilden hierdurch einen Farbengegensatz zu den Glialäden, 
die nur schwach braun, resp. grau imprägniert werden. 
Durch Bindegewebefärbungen wie Mallorys Anilinmischungs- 


methode, bei der, so weit man sehen kann, alle Binde- 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 249 


oewebefasern kräftig blau gefärbt werden, werden diese Fasern 
schwach grauviolett gefärbt, gleichwie die Achseneylinder in 
den anstossenden Hirnteilen. Durch Weigerts Elastinfärbung 
werden sie nicht gefärbt. 

Die Fasern sind verzweigt und anastomosieren, was mit 
den Gliafäden nicht der Fall ist. 

Mit Rücksicht darauf meinen wir, dass Achücarro- 
Sacristän und Walter darin recht haben, dass diese 
Fasern als Nervenfäden aufgefasst werden müssen. Bin Ge- 
danke, den wir eine Zeitlang hatten, nämlich, dass es eine 
Art Secretcapillaren sein könnten, wiesen wir später als 
weniger wahrscheinlich zurück, teils weil diese Fibrillen als 
Ausläufer von gewissen charakteristischen Zellen ausgingen, 
teils wegen ihres Verhältnisses im Verlauf der Entwickelung. 

Schon im Metamorphosenstadium sieht man eine” An- 
deutung von Nervenfadenbildung im embryonalen Parenchym, 
aber erst beim Übergang zum infantilen Parenchym kommt 
diese deutlich zum Ausdruck, so dass man im 1. Lebensjahr 
die metamorphosierten Pinealzellen von einem feinen Netz- 
werk von Fäden umsponnen sieht, das von den obengenannten 
Zellen mit den dunkelkantigen Kernen ausgeht, die. wir im 
folgenden einfach Nervenzellen nennen werden. Die Fäden 
bilden an diesem Stadium augenscheinlich ein zusammen- 
hängendes Netzwerk, welches nur hier und da bei einem 
(Grefäss einen blind endenden Ausläufer bildet, der als eine 
knöspchenförmige Anschwellung endet, die den von Achü- 
carro-Sacristän und Walter beschriebenen entsprechen. 
Die Menge dieser Endknöspchen nehmen schnell zu und an 
Präparaten vom 2. Lebensjahr sieht man bereits bedeutende 
Mengen solcher. Im Laufe der Jahre nehmen sie weiter zu 
und bei sehr alten Individuen werden sie in ungeheuren Mengen 
gefunden. 


Die Endknöspchen (Figg. 16, 18, 19e) haben durchwegs 


DD 
ı au 
> 


KNUD H. KRABBE, 


Birnenform, sind oft leicht gekrümmt, seltener kugelrund oder 
pilzförmig ausgebreitet. Das spitze Ende hängt mit dem Nerven- 
faden zusammen, während das stumpfe augenscheinlich frei 
in die Zwischenräume zwischen den Bindegewebefibrillen 
hinausragt oder mit freiem Zwischenraum zwischen der 
äussersten Schicht des Bindegewebes und des Parenchyms 
liegt. Zuweilen sitzt ein Knöspchen am Ende eines‘ langen 
Fadens, zuweilen verzweigt ein solcher Faden sich wie ein 
vielarmiger Leuchter mit einem Endknöspchen auf jeder Spitze, 
oder aber die Verzweigung ist unregelmässig, „halbschirm- 
förmig“ (Achücarro-Sacristän). Die Grösse der Knösp- 
chen variieren etwas — durchschnittlich sind sie ca. 1 u 
dick und 2 u lang. An den Schnitten sieht man einige Fäden, 
deren Endknöspchen augenscheinlich abgebrochen und ohne 
Zusammenhang mit dem Nervendrahtnetzwerk liegt; es ist 
am wahrscheinlichsten, dass dies darauf beruht, dass die 
Schnitte dünn sind, und wenn es auch nicht bewiesen werden 
kann, so darf man wohl annehmen, dass wahrscheinlich alle 
Knöspchen einen Abschluss der Ausläufer des Nervenfaden- 
netzwerkes und keine freien Körperchen darstellen. In welchen 
Gewebeelementen diese Endknöspchen sich eigentlich befinden, 
ist auch schwierig mit Bestimmtheit zu entscheiden. Einige 
wenige Enden, die Walter gezeigt hat, liegen zwischen den 
Parenchymzellen, indem ein solches Knöspchen sich dicht an 
eine Pinealzelle anschmiegt. Ein Teil derselben endet draussen 
in der: Bindegewebesepten, und sie liegen hier vermutlich 
in der albuminösen Substanz, die in den ödematösen Septen 
die Zwischenräume zwischen den Bindegewebefasern füllt; sie 
treten anscheinend in keine intimere Verbindung mit den Ge- 
fässen, zuweilen können einzelne Knöspchen dicht an einer 
Capillare oder auf der Adventitia eines Gefässes liegen, doch 
ohne sich hieran festzuheften oder in näheren Kontakt hiermit 


zu treten. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 251 


Weitaus die grösste Menge der Endknöspchen liegt in- 
zwischen im äussersten Teil des Parenchyms, ohne doch das 
Bindegewebe zu erreichen. Hier werden, je älter das Indi- 
viduum ist, desto stärkere, dichtere Massen von Nervenfäden 
gefunden, die — wie Walter beschrieben hat — senkrecht 
gegen die Septumwand laufen und alle enden in Knöspchen, 
zum Teil in direkter Verlängerung des Fadens mit dem abge- 
stumpften Ende gegen das Septum gekehrt, zum grössten Teil 
aber zurückgebeugt, wie ein dichter Wald von hängenden 
Glockenblumen. Zuweilen sieht man auch solche dichte Massen 
von Endknöspchen in den Teilen des Parenchyms, die augen- 
scheinlich nicht an die Bindegewebssepten stossen. Dies kann 
aber darauf beruhen, dass der Schnitt den Rand des Parenchyms 
tangiert hat. 

Die nächste Frage, die vorliegt, ist die, ob das Fibrillen- 
netz pericellulär im Verhältnis zu den Pinealzellen, oder ob 
es endocellulär ist, welchen Eindruck man z. B. nach Walters 
Beschreibung und Figuren erhält. Im Abschnitt über die Pineal- 
zellen erwähnten wir die Gründe zur Annahme, dass die Pineal- 
zellen keine Ausläufer aussenden. Und da die Nervenfäden, 
die mit den Pinealzellen in Berührung stehen, im Verhältnis 
zu diesen pericellulär und nicht endocellulär sind, schliessen 
wir aus folgendem: 

Erstens findet man die Fibrillen immer auf der Aussen- 
seite des Protoplasmas (Fig. 7) und nicht dieses durchkreuzend. 
Zweitens sieht man zuweilen abgesprengte Pinealzellen im 
Bindegewebestroma oder in der basalen Glia liegen und diese 
besitzen dann keine Fasern. Drittens sieht man, dass die 
Fasern ohne Zweifel von den Verlängerungen der Spitzen der 
Nervenzellen ausgehen. Man kriegt aber ferner infolge einiger 
Golgi-Präparate den deutlichsten Eindruck, da die Nerven- 
zellen mit Ausläufern und Endknöspchen usw. stark imprägniert 
sind, während die Pinealzellen teilweise schwach imprägniert, 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 17 


252 KNUD H. KRABBE, 


an einzelnen Stellen zwischen den Ausläufern. der Nerven- 
zellen hineingelagert sind, doch ohne selbst solche auszu- 
senden. Und endlich gibt es, wie früher erwähnt, an Golgi- 
Präparaten andere Partien, wo die wabenartige Struktur die 
Pinealzellen als Zellen zeigen, die in einem Maschenwerk ein- 
gelagert sind, aber auf solche Weise, dass es — welchen 
Eindruck z. B. Fig. 16 gibt — nur eine Minderzahl derjenigen 
Zellen des Parenchyms ist, welche Nervenfäden aussenden, 
und dass die anderen Zellen von diesen umsponnen sind. 
Innerhalb der Nervenzellen haben wir versucht ver- 
schiedene Typen zu sondern, es ist uns aber nicht gelungen. 
Walters einer Typus ist nach unserer Meinung wie gesagt 
als Pinealzellen anzusehen. Den eigentümlichen Zellentypus, 
den Achüucarro und Sacristän in Fig. 3 ihrer zweiten 
Abhandlung abgebildet haben, haben wir nie getroffen, und 
wir sind geneigt, ihn als eine pathologische Form aufzufassen. 
Die nächste Frage ist die, ob dies System von Nerven- 
fäden mit dem sympathischen System oder dem Zentralnerven- 
system im Zusammenhang steht. Es ist uns nirgends ge- 
lungen, einen Zusammenhang mit den sympathischen Fäden 
nachzuweisen, die längs der Gefässe laufen, wie Cajal es 
beim Kaninchen, Walter beim Menschen gefunden hat. Da- 
gegen meinen wir entschieden, dass Walter darin recht hat, 
dass die Nervenzellen mit der Commissura posterior zusammen- 
hängen. Wir haben selbst bei verschiedenen Präparaten Bündel 
von Nervenfäden von der Commissura posterior — übrigens 
auch von der Commissura habenularum — solcherweise in 
das Parenchym ausstrahlend gesehen, dass sich ein Teil der- 
selben in die Nervenfäden des Parenchyms fortsetzt, 
Hierdurch werden wir zugleich auf die Frage über das 
Vorhandensein von markhaltigen Nervenfäden ım 
Corpus pineale geleitet. Diese Frage ist schon früher unter 
Debatte gewesen. Das Vorkommen bei Affen scheint ohne 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 253 


Zweifel zu sein (Darkschewitsch,,Joh.,.Möller, 
Cutore); der letztere bildet ein Markscheidenpräparat von 
Macacus sinicus ab, an welcher man Bündel von markhaltigen 
Nervenfäden sieht, die sich in die Zirbeldrüse erstrecken, teils 
von der Commissura habenularum, teils von der Commissura 
posterior; die letzteren breiten sich fächerförmig aus und 
reichen fast ganz bis zur Spitze der Zirbeldrüse hinauf. Auch 
bei verschiedenen Säugetieren sind sie nachgewiesen worden. 

Ältere Verfasser wie Luschka, Pawlowsky, Hage- 
mann und Max Flesch erwähnen Nervenfäden, die von 
den Commissuren in das Corpus pineale treten, ohne dass 
sie aber näher als markhaltig charakterisiert werden. Koel- 
liker (1896) meint dagegen, dass die Zirbeldrüse nervenlos 
ist, Dimitrova bemerkt, dass sie durch Weigerts Mark- 
scheidefärbung keine positiven Resultate erhalten hat. Mar- 
burg hat dagegen markhaltige Nervenfäden, Fibrae pineales, 
im Corpus pineale beim Menschen gefunden ; die Fäden kommen 
teils von der Commissura habenularum, teils von der Com- 
missura. posterior; sie strecken sich caudal aus, können ziem- 
lich weit in das Gewebe hinein verfolgt werden und bilden 
zwei Bündel, ein dorsales Fibrae pineales superiores und ein 
ventrales Bündel, Fibrae pineales inferiores. Ausserdem werden 
querlaufende dorsale Fäden gefunden, die ein deutliches Ver- 
hältnis zur Commissura habenularum zeigen. Leider gibt Mar- 
burgs Bild keinen Eindruck davon, wie weit man die Fasern 
ın das Parenchym des Corpus pineale hinein verfolgen kann. 

Einzelne andere Verfasser haben das Vorhandensein von 
markhaltigen Nervenfäden in der Zirbeldrüse geleugnet. Dies 
kann man indessen nur nach Untersuchung von Serienschnitten 
tun. Auf einem Teil einzelner Sagittalschnitte, die wir mit 
Weigert-Kulschitzky-Wolters Markscheidefärbung ge- 
färbt, untersuchten, haben wir keine markhaltigen Nervenfäden 


im Parenchym gefunden. Nur an einem einzelnen Schnitt 


17% 


254 KNUD H. KRABBE, 


(sanz gewiss eines Paralytikers, der ja nach Sibelius be- 
sonders häufig Heterotopien im Zentralnervensystem darbieten 
soll), haben wir ein kleines, augenscheinlich abgesprengtes 
Bündel markhaltiger Nervenfäden von der Commissura posterior 
in das Parenchym laufend, gesehen. Untersuchungen von 
Serienschnitten haben nur aber Marburgs Befund bestätigt: 
nämlich, dass sich sowohl von der Commissura posterior, 
wie der Commissura habenularum Bündel von markhaltigen 
Nervenfäden ein kleines Stück in das Parenchym hineinstrecken 
(bei weitem nicht so weit wie bei Macacus sinicus). Wahr- 
scheinlich entsprechen die Markscheiden den Achsencylindern, 
die man bei Silberpräparaten in das Parenchym laufen sieht. 

Die letzte Frage, welche die Nervenzellen berührt, ist 
die, ob das protoplasmatische Netzwerk zwischen den Pineal- 
zellen noch andere Bestandteile als die bereits erwähnten ent- 
hält. Ausser denjenigen Nerven- und Gliafäden, die einen Teil 
des Maschenwerkes zwischen den Pinealzellen bilden, wird 
nämlich ganz augenscheinlich eine weitere protoplasmatische 
Masse gefunden, die die Zwischenräume zwischen diesen Fasern 
ausfüllt. Da wir indessen keine Färbemethode gefunden haben, 
durch welche sowohl Glia- wie Nervenfäden und Protoplasma 
gefärbt wurde, sind wir ausserstande gewesen, zu entscheiden, 
wie weit die nicht specifisch imprägnierte Protoplasmamasse 
den Ausläufern der Gliazellen oder derjenigen der Nerven- 
zellen angehörte. Möglicherweise gehört sie teils der emen, 
teils der andern Art von Zellen an. 


Das Bindegewebe. 


I. Das Stroma. 
Bereits ältere Verfasser wie Faivre erwähnen das Binde- 
sewebe, welches die Gefässe im Corpus pineale umgibt. Die 


späteren Verfasser sprechen teils von Fasern im allgemeinen, 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 255 


teils direkter von Bindegewebe. Henle hebt hervor, dass 
das Bindegewebe die Zirbeldrüse in verschiedene Follikel teilt, 
und Hagemann schliesst sich im wesentlichsten dieser 
Meinung an. 

Dimitrova hat gefunden, dass die Zirbeldrüse bei Neu- 
geborenen und kleinen Kindern nur wenig Bindegewebe ent- 
hält, welches im Innern strangweise verteilt ist. Bei Er- 
wachsenen findet sie, teils durch van Gieson-Färbung, teils 
durch künstliche Verdauung, dass das Corpus pineale Binde- 
gewebsbündel enthält, die von der Kapsel eindringen, anastomo- 
sieren und ein Netzwerk bilden; im Gegensatz zu Hage- 
mann meint sie, dass das Parenchym, welches von den Binde- 
gewebsbündeln eingeschlossen wird, vollständig zusammen- 
hängend ist, und dass keine Parenchyminseln gefunden werden, 
die gänzlich vom Bindegewebe eingeschlossen sind. Die Binde- 
gewebsbündel sind scharf begrenzt, und keine Bindegewebs- 
fasern dringen von den Septen aus in die Inseln ein, wie 
Henle und Hagemann es beschrieben haben. Es sind 
nur wenige Kerne im Verhältnis zur Menge der Fasern vor- 
handen. Am Rand liegen die Fasern am dichtesten und sind 
mit Gliafäden gemischt. Die Bindegewebsmenge wechselt in 
den verschiedenen Teilen der Zirbeldrüse. 

Anglade und Ducos konstatieren, dass kein Binde- 
gewebe in den Alveolen gefunden wird, und dass die Septen 
zum Teil aus Neuroglia gebildet werden. 

Marburg meint, dass mit dem Alter ein deutliches Zu- 
nehmen des Bindegewebes eintritt. Die deutliche Abgrenzung 
in Lappen, die bei der dichteren Zellanhäufung im Rand, 
für Neugeborene so charakteristisch ist, schwindet ganz und 
man ist nicht mehr imstande den Drüsencharakter zu erkennen. 
Das ist an den Stellen der Fall, wo das Bindegewebe eine 
diffuse Vermehrung erfährt und diese nicht die grossen Septen 
trifft. Die Grundlage für die Septen ist ein dichtfädiges, zellen- 


256 KNUD H. KRABBE, 


armes Bindegewebe, an welches sich eine fadenreiche (Glıa 
anschliesst. In den Septen kommt es auch zu degenerativen 
Veränderungen, einer Homogenisation, die man als hyalın be- 
zeichnen könnte. 

Achucarro und Sacristän haben die Zirbeldrüse mit 
Hilfe einer Tannin-Silbermethode, die sie erfunden haben, unter- 
sucht und hierdurch grosse Mengen von Bindegewebe ge- 
funden, teils als Netz von grossen und kleinen Trabekeln, 
teils als isolierte Fasern, die in das Parenchym eindringen. 

Obgleich das Vorhandensein von Bindegewebe in der Zirbel- 
drüse solcherweise allgemein als Tatsache betrachtet wird, 
meinen wir doch, dass wir die Frage: ob normalerweise Binde- 
gewebe bei Kindern und Erwachsenen in der Zirbeldrüse vor- 
kommt, einer Prüfung unterwerfen zu müssen. Denn in dieser 
Frage muss man nämlich in höherem Grad als beim Parenchym, 
und in grösserem Massstab als die Verfasser es bis jetzt getan 
haben, Rücksicht auf die Unvollkommenheit des Materials 
nehmen. Herzkrankheiten, Syphilis und Alkoholismus, die ın 
so vielen parenchymatösen Organen zur Bindegewebsentwicke- 
lung führen können, können vermutlich auch eine solche in 
der Zirbeldrüse hervorrufen. Wir betrachten deshalb nur unsere 
Untersuchungen über das Bindegewebe bei Kindern als einiger- 
massen zuverlässig; die Resultate von Erwachsenen, besonders 
Männern, müssen mit allem möglichen Vorbehalt betrachtet 
werden; ganz gewiss haben wir bei der Beurteilung alle die- 
jenigen chronischen Krankheiten ausgeschlossen, die möglicher- 
weise eine Bindegewebsvermehrung verursachen könnten, aber 
eine eventuell überstandene Syphilis oder Alkoholismus, die 
im übrigen keine makroskopischen Spuren im Organismus 
zurückgelassen haben, sind Faktoren, mit denen man immer 
rechnen muss. Infolge der oben erwähnten Reduktion ist unser 
Material zur Beurteilung der Frage über die Bindegewebs- 
menge etwas klein geworden, da diese scheinbar sehr stark 
variiert. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 257 


Zur Färbung des Bindegewebes ist unsere Hauptmethode 
Hansens Modifikation von v. Giesons Pikrofuchsinmethode 
gewesen; daneben haben wir Mallorys Färbung mit Säure- 
fuchsin-Anilinblau-orange und Alzheimers Färbung mit 
Säurefuchsin-Lichtgrün angewandt. Die beiden letzteren Me- 
thoden bilden in verschiedenen Beziehungen eine gute Er- 
gänzung, da Hansens Methode einen einzigen Nachteil auf- 
weist, der besonders bei der Untersuchung der Zirbeldrüse 
unangenehm ist. Wie nämlich Hansen selbst bemerkt !), 
sind die Bindegewebsfibrillen in parenchymatösen Organen 
oft mit Albuminstoffen imbibiert und können deshalb nicht 
mit Säurefuchsin gefärbt werden, sondern nur mit Pikrin- 
säure. Im Anfang verwunderten wir uns oft darüber, dass 
die Fibrillen im Stroma nur so schwach oder auch gar nicht 
vom Säurefuchsin gefärbt wurden, selbst nicht auf Präparaten, 
bei denen das Kapselbindegewebe iprachtvoll gefärbt war. Später 
wurde es uns klar, dass dies von den oben erwähnten Ver- 
hältnissen herrührte. Dagegen wurden die Fasern der Septen 
(Fig. 10c) mit Alzheimers Säurefuchsin-Lichtgrün gefärbt. 
Die Bindegewebsfasern könnten bei dieser Methode leichter 
mit Nervenfäden verwechselt werden, die vom Parenchym in 
das Stroma hinauslaufen; diese wurden aber doch schwächer 
und mit einem grau-grüneren Ton gefärbt (Fig. 100). 

Die Gewissheit dafür, dass die Septen Bindegewebsfasern 
enthielten, bekamen wir, indem wir Hansens Rat befolgten 
und die Schnitte vor der Pikrofuchsinfärbung mit schwachen 
Alkalien behandelten; nach. Behandlung von Schnitten, in 
welchen man im Stroma nur ganz wenig säurefuchsingefärbte 
Fasern gesehen hatte, während einiger Stunden mit einer ge- 
sättigten Lösung von Lithionkarbonat, zeigte es sich, dass 
jetzt die grösste Menge der Fasern von Säurefuchsin_ gefärbt 


!) Fr. C. C. Hansen: Untersuchungen über die Gruppe der Bindesub- 
stanzen. Anatomische Hefte 83. 1905. 


258 KNUD H. KRABBE, 


wurden, während die andern fibrillären Elemente (Glia und 
Nervenfäden) dies nicht annahmen. Wir meinen deshalb, dass 
man berechtigt ist, das im folgenden erwähnte Gewebe als 
Bindegewebe aufzufassen. 

Wie im embryologischen Abschnitt erwähnt, sieht man, 
dass bereits bei Präparaten vom 4. Fetalmonat, im Parenchym 
der Pinealanlagen dünnwindige Blutgefässe gefunden werden. 
Beim erössten Teil der Präparate von den späteren Stadien 
des Fetallebens ist das Bindegewebe nur spärlich vorhanden, 
mit Ausnahme desjenigen, welches die Spalten zwischen der 
vordersten und hintersten Pinealanlage ausfüllt. Es ist aber, 
wie erwähnt, ein einzelnes Präparat (vom 6. Fetalmonat) vor- 
handen, bei welchem das Wachstum der Pinealanlage in das 
umgebende embryonale Bindegewebe hinein unregelmässiger 
vor sich gegangen ist, so dass sich von der Oberfläche tiefe, 
bindegewebsgefüllte Spalten in das Parenchym hineinziehen. 
Etwas ähnliches sieht man auch bei Marburgs Bild. Es 
ist möglich, dass dies ein immer vorhandenes, aber ganz kurz- 
dauerndes Stadium im Fetalleben repräsentiert. Es ist auch 
möglich, dass es nur eine Variation ist, die sich das ganze 
Leben hindurch hält, indem man sich ja gut vorstellen könnte, 
dass die Zirbeldrüsen von Erwachsenen, die reichliches Binde- 
gewebe enthalten, sich von Typen entwickelt haben, die das 
erwähnte Aussehen im Fetalleben hatten. Es muss jedoch 
bemerkt werden, dass die Bindegewebsmenge an allen unsern 
Präparaten vom 1. Lebensjahr eine überaus sparsame ist. 

In den Zirbeldrüsen von Neugeborenen haben wir kein 
anderes Bindegewebe gesehen als das, welches in den 
Adventitialscheiden der grösseren Gefässe gefunden wird, und 
an 8 andern Präparaten vom 1. Lebensjahr nur hier und da 
kleine Bindegewebsbündel, die sich von einem Gefäss zum 
andern erstrecken. Es ist auch möglich, dass dies darauf 
beruht, dass der Schnitt eine Gefässadventitia tangiert. Nach 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). Tafel 21. 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 


Ba. re 


Tafel 22, 


Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden. 


. > en 7: Bn a DJ; 
Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über .d. Zirbeldrüse d. Menschen. 259 


dem 1. Lebensjahr werden indessen unzweifelhafte Binde- 
gewebsbündel gesehen, welche die Gefässe verbinden. Die 
Kerne in denselben sind teils plump und ziemlich chromatın- 
arm, teils lang, dünn, dann gewöhnlich aber chromatinreicher. 
Die Menge der Bindegewebsfasern ist jedoch noch sparsam 
und wie oben erwähnt wird sie nur schwach gefärbt. In den 
folgenden Jahren nimmt die Menge allmählich zu, man kann 
zuweilen hier und da das zentrale Ödem sehen, welches unten 
erwähnt werden soll. Es treten jetzt auch (im 3. und 4. Jahr) 
unregelmässigere Kernformen im Bindegewebe auf, und die 
Menge derselben nimmt mit den Jahren zu. In einigen Fällen 
wird man im Alter von 6-8 Jahren von beginnender Septum- 
bildung sprechen können und man bekommt hierdurch einen 
Übergang von dem, was man eine homogene Type nennen 
könnte, zu dem, was man als eine pseudoalveoläre Type 
des Corpus pineale bezeichnen kann. 

Wann dieser Übergang geschieht, lässt sich schwierig genau 
bestimmen. Von keinem Alter, wie demjenigen zwischen 6 und 
16 Jahren, ist es so schwer, ein genügend grosses, normales 
Material zu kriegen. Wir haben deshalb an diesem Punkt, 
obgleich mit allem Vorbehalt, es mit Material von tuberkulösen 
Meningiten ergänzt, welches übrigens nur bestätigt hat, was 
wir sonst gefunden, nämlich, dass die Septumbildung schon 
im Alter von 7 Jahren wohlentwickelt sein kann, dass man 
aber andererseits an Präparaten vom Alter von 16 Jahren, 
Zirbeldrüsen von durchwegs homogener Type antreffen kann. 
Die ausgeprägteste Bildung von dicken Septen haben wir im 
Corpus pineale .eines 12 jährigen Mädchens (Fig. 26) gefunden; 
sie war infolge einer Osteomyelitis gestorben, welche 4 Monate 
lang gedauert hatte und es ist möglich, dass die Intoxikatıon, 
die jedenfalls eine amyloide Degeneration der anderen Organen 
hervorgerufen hatte, die Ursache zu der starken Septumbildung 


gewesen ist. Im übrıgen kann man, selbst bei bedeutend älteren 


260 KNUD H. KRABBE, 


Individuen, Septumentwickelung in einigen Partien der Zirbel- 
drüse antreffen, während der Rest noch homogene Struktur 
besitzt. Bei sehr alten Individuen ist der Corpus pineale ge- 
wöhnlich in seiner ganzen Ausdehnung von pseudoalveolärer 
Type, und trotzdem haben wir bei einem 92 jährigen minimale 
Septumbildung (Fig. 27) gefunden. 

Die Septumbildung fängt oft im Zentrum der Zirbeldrüse 
an und nicht speziell in den Partien, die an die Bindegewebs- 
kapsel angrenzen. Man muss deshalb annehmen, dass die 
Septen sich gewöhnlich von den Adventitien der Gelässe aus 
entwickeln und nicht von der Bindegewebskapsel aus, mit 
welcher übrigens die Septen nach und nach in Verbindung 
treten. 

Die Septen werden bei jüngeren Individuen als dünnere 
oder dickere Bindegewebsbündel gesehen, die sich von den 
Gefässen aus solcherweise strecken, dass man sieht, dass die 
Gefässe sich in die Septen hinein verzweigen, deren Menge 
sich allmählich als grösser erweist, als diejenige der Gefässe. 
Und allmählich, wie sie wachsen, schliessen sie sich mehr 
und mehr zusammen, so dass die labyrinthförmige Zeichnung, 
die sie anfangs auf den Schnitten zeigen, ausgeprägter einem 
zusammenhängenden Netz gleicht (Fig. 25). In dieser Ver- 
bindung muss die Frage berührt werden, inwiefern diese Septen 
die Zirbeldrüse vollständig in verschiedene Follikel teilt, oder 
ob das ganze Parenchym immer eine zusammenhängende Masse 
bildet. 

Dass das Parenchym in der Kindheit und Jugend eine 
zusammenhängende Masse bildet, ist deutlich sichtbar, da man 
ja bereits bei jedem Schnitt den Zusammenhang erkennen 
kann. Aber selbst da, wo man bei einem Teil der Schnitte 
die netzförmige Bindegewebszeichnung sieht, wäre es nicht 
unmöglich, dass der Bau nur scheinbar alveolär ist, und die 


Alveolen in Wirklichkeit zusammenhängen, was nur durch Ver- 


ER 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 261 
gleich von Serienschnitten entschieden werden kann. Die 
Serien, die wir untersucht haben, haben denn auch gezeigt, 
dass man nirgends ganz abgeschlossene Inseln von Parenchym 
findet. Wir meinen also, dass Dimitrova gegenüber Hage- 
mann und Henle Recht behält. 

Wie fortgeschritten die Septumbildung auch ist, wird man 
doch stets Gefässe sehen, die nicht in die Septen eingeschlossen 
sind, sondern isoliert im Parenchym laufen: namentlich gilt 
dies von den Capillaren. 

Wenn man eine schwach vergrösserte Zirbeldrüse be- 
trachtet, dann sehen wir das Aussehen in groben Zügen teil- 
weise von der Menge der Concremente, Cysten und Gliaplaques 
bestimmt. Im übrigen wird er aber vom Verhältnis zwischen 
der Menge und der Verteilung von Bindegewebe und Parenchym 
bestimmt. 

Frühere Verfasser haben nicht immer genügende Rück- 
sicht auf diese Variationen genommen und infolgedessen werden 
Abbildungen, z. B. in Lehrbüchern, oft ein ganz anderes Aus- 
sehen haben, als dasjenige, welches man in einem zufällig 
gewählten Schnitt sieht. Vor allem ist es vom Alter abhängig, 
demnächst findet man aber auch bei „normalen“ einen ziem- 
lich grossen Spielraum für Variationen im Habitus selbst inner- 
halb der physiologischen Grenzen. Bei Erwachsenen ist jedoch 
die Anzahl der Zirbeldrüsen mit reichlichem Bindegewebe so 
gross, dass man davon ausgehen kann, dass man normaler- 
weise mit einer ziemlich grossen Bindegewebsmasse bei den- 
selben rechnen kann. Dies ist auch mit Rücksicht auf die 
Schätzung des pathologischen Befundes von Bedeutung. Bın- 
zelne Verfasser, wie z.-B. Lord, haben von einer Cirrhose 
der Zirbeldrüse gesprochen, welcher der Lebercirrhose ent- 
sprechen soll; und tatsächlich kann zuweilen etwas im Aus- 
sehen sein, was an eine cirrhotische Leber erinnert. Aber 


gerade das so häufige Vorhandensein dieses Bildes bei augen- 


262 KNUD H. KRABBE, 


scheinlich normalen sollte ein Moment dafür sein, dass man 
nur mit grösster Reserve eine Bindegewebsvermehrung in der 
Zirbeldrüse als ein pathologisches Zeichen betrachten darf. 

Die feinere Struktur der Septen ist folgende: Die Binde- 
gewebszellen sind nicht besonders zahlreich. Die Kerne haben 
zum grossen Teil das für die Bindegewebskerne übliche Aus- 
sehen: etwas plumpe, ovale Kerne mit abgerundeten Enden 
und bald mehr, bald weniger Chromatın; wie aber erwähnt, 
sieht man bereits bei Präparaten von Dreijährigen, besonders 
in den dickeren Teilen der Septen, eine Reihe aparterer Formen ; 
einige sehr lange stäbchenförmige, andere gekrümmte, winkelige, 
fussangellörmige, hammerförmige und andere, von absonder- 
lichstem unregelmässigem Aussehen. 

Die Bindegewebslasern zeigen eine etwas varlierende Ver- 
teilung. In einigen Septen, besonders den dünneren, sind sie 
einigermassen gleichmässig verteilt, liegen aber als Gesamt- 
heit betrachtet, nicht so dicht wie z. B. in der Bindegewebs- 
kapsel. In den dickeren Septen bewirkt aber die Verteilung 
ein mehr charakteristisches Aussehen. Im Rand der Septen, 
gegen das Parenchym zu, liegen die Fasern ziemlich dicht 
und bilden gleichsam ein Maschenwerk, durch dessen Löcher 
die Nervenfäden und deren Endknospen vom Parenchym aus 
in die Septen hinaustreten. In der zentralen Schicht der Septen 
liegen die Fasern dagegen aussergewöhnlich zerstreut mit 
grösseren Zwischenräumen; in einigen dieser Zwischenräume 
werden allerdings Endknospen gefunden; der grösste Teil der- 
selben scheint aber leer zu sein, so dass etwas albuminöse 
Substanz an den Bindegewebsfasern klebt. Es sind wohl kaum 
Einschrumpfungsphänomene, da man sie an Präparaten findet, 
wo sonst keine Schrumpfung vorhanden ist. Man muss also 
annehmen, dass diese Zwischenräume von seröser Flüssig- 
keit gefüllt sind, d. h. dass im Zentrum des Bindegewebes 


ein Ödem gefunden wird. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 263 


Ob dies Ödem in dem Sinne normal ist, dass es bei ge- 
sunden Menschen in vivo gefunden wird, lässt sich nicht ent- 
scheiden. Man muss auf alle Fälle damit rechnen, dass es 
ein agonales Phänomen sein kann. Besonders muss hervor- 
gehoben werden, dass das Vorkommen dieses zentralen Ödems 
sehr inkonstant ist, sowie dass es schon bei Präparaten von 
2 jährigen gesehen werden kann. 

‚Eine Frage von besonderem Interesse ist diejenige über 
die Abgrenzung des Parenchyms dem Bindegewebe gegenüber. 

Bei älteren Individuen mit dicken Septen sieht man ge- 
wöhnlich deren Oberfläche ganz scharf gegen das Parenchym 
hin abgegrenzt. Bei Kindern und jüngeren individuen sind 
aber die Grenzen im allgemeinen nicht so scharf. Wie Achü- 
carro und Sacristän gezeigt haben (mit ihrer Silber- 
methode), sieht man an vielen Stellen im Parenchym 
Bindegewebsfasern. Und auch mit v. Gieson-Hansens 
und Mallorys Bindegewebsfärbungen sieht man, dass 180- 
lierte Bindegewebsfasern regelmässig von den Septen oder dem 
perivasculären Bindegewebsbündel zwischen die Zellen des 
Parenchyms hineinlaufen. An einigen Stellen sind die Grenzen 
sehr locker, und man sieht, dass ganze Bündel von Binde- 
gewebsfasern sich mit den Fasern des Parenchyms mischen. 
Auf der andern Seite sieht man, besonders in dickeren Septen, 
kleine Gruppen von Pinealzellen, eventuell mit einigen Nerven- 
oder Gliazellen. Man kann gleichfalls sehen, dass isolierte 
Gliafäden in diese hineinlaufen. Und endlich findet man, wie 
erwähnt, grosse Mengen von Nervenfasern mit ihren End- 
knöspchen, die sich vom Parenchym in das Bindegewebe hinein- 
strecken und bis in die Nähe der Gefässe hinlaufen. 

Man sieht also in der Zirbeldrüse ein Phänomen, das 
sonst unter normalen Verhältnissen nicht im Gehirn gesehen 
wird, nämlich eine teilweise Unklarheit der Grenzen zwischen 


der ectodermal angelegten Gehirnsubstanz und dem mesodermal 


264 


KNUD H. KRABBE, 


angelegten Bindegewebe. Wie bekannt hat Held!) und später 
v. Fieandt?) nachgewiesen, wie das Gehirngewebe überall 
durch eine Gliagrenzenmembran gegen Pia und Gefässe ab- 


gegrenzt ist. Diese Grenze ist in der Zirbeldrüse unterbrochen. 


oO 


II. Die Bindegewebskapsel. 


Die ganze Oberfläche desjenigen Teiles der Zirbeldrüse, 
der frei herausragt, ist, wie früher beschrieben, mit einer 
Bindegewebskapsel bekleidet. Diese ist ziemlich dünn, nur 
bei alten Individuen sieht man sie zuweilen verdickt. Dieses 
Bindegewebe liegt auf dem vordersten Teil der obersten Fläche 
zwischen dem Parenchym und der einschichtigen Ependym- 
bekleidung, die den Boden des Recessus suprapinealis bildet. 
Im übrigen steht es ın Verbindung mit dem pialen Binde- 
gewebe auf der einen, und mit dem Bindegewebsstroma der 
Zirbeldrüse auf der andern Seite. 

Die Kapsel besteht aus fibrillärem Bindegewebe mit grossen 
plumpen Kernen und reichlichen Bindegewebsfasern, die nach 
v. Gieson-Hansen stets kräftig gefärbt werden (im Gegen- 
satz zu denjenigen im Stroma). 

Einer Frage haben wir besondere Aufmerksamkeit ge- 
widmet, nämlich: ob glatte Muskulatur in der Kapsel 
gefunden wird. Wir haben weder bei Kindern, noch bei Er- 
wachsenen etwas gefunden, was mit Sicherheit als solche cha- 
raklerisiert werden kann. Ganz gewiss findet man Zellen mit 
Kernen, die länger, dünner und chromatinreicher sind als die 
Bindegewebskerne, die häufig in der Kapsel vorkommen ; diese 
Kerne erreichen aber nie eine solche Länge oder ein solches 
Aussehen, dass sie nicht als Bindegewebskerne betrachtet 
werden könnten. Und selbst wenn einzelne glatte Muskelzellen 


dazwischen sein sollten, sind diese so wenig hervortretend, 


!) und ?2) Siehe S. 241. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 265 


dass man unter keinen Umständen von einer Muskelschicht 
sprechen kann, wie in der Kapsel verschiedener Drüsen. Die 
Frage hat insofern Interesse, als man (v. Cyon) daran gedacht 
hat, dass die Zirbeldrüse möglicherweise eine mechanische 
Funktion haben könnte, und zwar in betreff der Regulierung 
des Ablaufes der Cerebrospinalflüssigkeit. Er stützt diese 
Theorie darauf, dass die Zirbeldrüse bei einem Kaninchen 
sich bei elektrischer Einwirkung lebhaft kontrahiert; er geht 
aber irrtümlicherweise davon aus, dass die Zirbeldrüse schwach 
vascularisiert ist. Es muss als gegeben betrachtet werden, 
dass weder in der Kapsel noch andrerorts im Organ soviel 
glatte Muskulatur gefunden wird, dass man aus dem Grund 
der Zirbeldrüse eine motorische oder ähnliche mechanische 


Funktion zuschreiben kann. 


Ill. Quergestreifte Muskulatur. 


Nicolas hat bei Untersuchung der Zirbeldrüse vom 
Ochsen und Kalb in dessen äusserstem Teil quergestreifte 
Muskulatur gefunden. Dimitrova bestätigt diesen Befund. 
Beim Menschen hat kein Verfasser etwas ähnliches beschrieben. 
Dagegen hat Pappenheimer einen Tumor gefunden, welcher 
von der Zirbeldrüse eines Menschen ausging, und der teilweise 
aus quergestreifter Muskulatur bestand. Es ist wohl wahr- 
scheinlich — wie auch Pappenheimer selbst andeutet —, 
dass es sich hier um eine teratomähnliche Bildung handelt, 
besonders in Anbetracht dessen, dass Teratome eine 'unver- 
hältnismässig grosse Menge derjenigen Tumoren repräsentieren, 
die in der Zirbeldrüse gefunden werden. 


Als Resultat unserer eigenen Untersuchungen können wir 
nur aufzeichnen, dass wir nie, weder bei Kindern, noch bei 
Erwachsenen quergestreifte Muskulatur in der Zirbeldrüse ge- 
funden haben. 


266 KNUD H. KRABBE, 


IV. Die Wanderzellen. 
(Fig. 12—13.) 

Im Bindegewebe der Zirbeldrüse kommen ausser den eigent- 
lichen Bindegewebszellen ein Teil der sogenannten Wander- 
zellen vor!) vor. Obgleich es sich wesentlich um Zellen 
handelt, welche auch an vielen andern Stellen des Organısmus 
gefunden werden, erregt es doch ein gewisses Interesse ıhr 
Vorkommen in den Bindegewebssepten der Zirbeldrüse zu 
untersuchen, da es nämlich zum Teil Zellen sind, die sonst 
nur spärlich im Zentralnervensystem vorkommen. 

Frühere Verfasser haben diese nur flüchtig erwähnt. 
Dimitrova hat bei ihrer Besprechung der Concremente einige 
Zellen mit stark gefärbten Granula beschrieben, die sie als 
Vorstadien der Concremente auffasst. Nach ihrer Beschreibung 
muss man indessen annehmen, dass die Zellen, welche sie 
beschreibt, Mastzellen sind, die sie missdeutet hat. 

Galasescu und Urechia haben in der Zirbeldrüse 
einige runde und ovale Zellen mit stark färbbaren Kernen 
gefunden, die mitten in einem Protoplasma liegen, die lebhaft 
von sauren Farben wie Eosin, v. Giesons Fuchsin usw. 
gefärbt werden. Das Protoplasma dieser Zellen ist scharf be- 
grenzt, enthält zuweilen feine Granulationen und ist regel- 
mässig so gefüllt, dass der Kern nicht unterschieden werden 
kann. Sie nähern sich scheinbar morphologisch denen, die 
man in der Parathyreoidea findet. Die Verfasser nennen sie 
acidophile, paravasculäre Zellen; über deren Funktion können 
sie sick nicht aussprechen, sie meinen aber, dass sie bei der 
inneren Sekretion eine Rolle spielen könnten. 

CGostantini hat die Zirbeldrüse mit einer Reihe ver- 
schiedener Färbemethoden untersucht, besonders mit Anilin- 


färbungen, welche frühere Verfasser sehr wenig gebraucht 
!) Maximov: Über die Zellformen des lockeren Bindegewebes. Arch 
f. mikrosk. Anat. 1906. 


z 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 267 


haben. Er hat gefunden, dass beim Ochsen, seltener beim 
Menschen und beim Pferd, Zellen mit grossen, stark baso- 
philen Granula gefunden werden, die zuweilen Metachromasie 
zeigen. Sie werden ausschliesslich neben den Geflässen ge- 
funden. Die Menge der Granula kann so gross sein, dass 
sie den Kern verdecken können. Sie gleichen morphologischen 
(tewebsmastzellen; nach Färbung nach v. Gieson kann man 
sie nicht beobachten. Er meint, dass Galasescu und 
Urechias paravasculäre Zellen zu diesem Typus gehören, 
dass sie aber besonders reich an Granula sind. Er wirft die 
Frage auf, ob es wirkliche Mastzellen sind oder ob es be- 
sondere Elemente mit basophilen Granulationen sind. Er meint, 
dass das Vorhandensein von teils basophilen, teils acıdophilen 
Elementen die Annahme einer inneren Sekretion stützt. 

Ohne damals Costantinis Abhandlung, die im Herbst 
1910 auf italienisch erschienen war, zu kennen, hoben wir 
in der vorigen Abhandlung hervor, dass man in den Binde- 
gewebssepten der Zirbeldrüse eine grosse Menge Zellen findet, 
welche Granula enthalten; einige dieser Zellen gieichen Mast- 
zellen, andere enthalten lipoide Granula und ein Teil derselben 
enthält Granula, die sowohl mit basischen, wie mit: sauren 
Farbstoffen gefärbt werden, und die am meisten den von Alz- 
heimer beschriebenen ‚„Abräumzellen“ im Zentralnerven- 
system gleichen. 

Achücarro und Sacristän haben ähnliche Zellen 
gefunden, besonders bei tuberkulöser Meningitis. Mastzellen 
(Celulas cebadas) werden immer, Plasmazellen weniger kon- 
stant, im Bindegewebe zerstreut gefunden. Auch Fetikörnchen- 
zellen haben sie gefunden. 

Polvanı erwähnt 4 Zellarten im Parenchym: Cellule 
pineale fondamentali, Cellule pineali a granulazioni acidofile, 
Cellule pineali a granulazioni basofile und Cellule pineali 


a granulazioni lipoide. Die 3 letzteren, die er ohne weiteres 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 18 


‚268 KNUD H. KRABBE, 


auf das Parenchym bezieht, müssen nach der ganzen Be- 
schreibung den hier erwähnten Wanderzellen entsprechen. 


Indessen gibt es kaum eines von den in der Zirbeldrüse 
vorhandenen Elementen, welches ausgesuchteres Material zu 
zuverlässigen Untersuchungen erfordert, als eben diese. 
Während es eine unbedeutendere Rolle spielt, ob die Ob- 
duktion früher oder später nach dem Tod vorgenommen wird 
(welches der Vergleich zwischen injiziertem und nicht in- 
jiziertem Material zeigt), muss man davon ausgehen, dass jeder 
toxische oder gewebszerstörende Faktor, der auf den Orga- 
nismus eingewirkt hat, Einfluss auf das Vorkommen dieser 
Zellen haben kann. Wir wollen deshalb von vornherein be- 
merken, dass wir auf keinem Punkt der Beurteilung, was im 
Corpus pineale normal ist, so zurückhaltend gegenüberstehen, 
als eben auf diesem. Da wir aber keine Zirbeldrüse unter- 
sucht haben, jedenfalls keine von Erwachsenen, bei denen 
diese Zellen nicht gefunden werden, und zwar ganz unab- 
hängig davon, was Betreffendem gefehlt hat, meinen wir, dass 
eine bis zur Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür 
spricht, dass diese Zellen eine Funktion im normalen Leben 
und der Entwickelung der Zirbeldrüse ausüben, abgesehen 
von der Rolle, die sie bei krankhaften Zuständen spielen 
können. 

Unter den oben genannten Zellen dominieren 3 Zelltypen, 
nämlich: Mastzellen, Pigmentzellen und Zellen mit Granula, 


die weder basophil noch pigmentartig sind. 


a) Die Mastzellen (Figg. 12—13m). 


Als den ersten Typus von Zellen kann die häufigste und 
am meisten konstant vorkommende genannt werden, nämlich 
die Zellen mit Protoplasma, die mit basophilen, metachromati- 
schen Granula angefüllt waren und die man deshalb zu der- 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 269 


jenigen Zellform, die Mastzellen genannt werden, rechnen muss; 
ferner sind sie, wie man nachstehender Schilderung entnehmen 
kann, Bindegewebsmastzellen ; Blutmastze.len haben wir über- 
haupt niemals im Corpus pineale gefunden. 

Das Aussehen der Zellen ist folgendes: Man findet 
einen, Selten zwei Kerne. Der Kem ist klein (ca. 5 u), 
von gleicher Grösse wie die Lymphocytkerne, kugelrund, zu- 
weilen etwas länglichrund. Das Chromatin ist gewöhnlich am 
Rand in grossen, scharfkantigen Granula verteilt, wodurch 
der Kern Ähnlichkeit mit einem typischen Radkern bekommt. 
Er ist oft etwas excentrisch gelegen. Das Protoplasma ist 
gross, wohl abgegrenzt und von variierender Form, und zwar 
wenn die Zellen im Bindegewebe liegen, gewöhnlich kugel- 
rund, wenn sie aber in der Gefässscheide gefunden werden, 
oval. Dasselbe Protoplasma ist mit Granula gefüllt, die klein, 
kugelrund, durchwegs gleich gross sind und gleichmässig ver- 
teilt im Protoplasma liegen, so dass gewöhnlich um den Kern 
herum eine helle Partie sichtbar ist. Die Granula werden 
distinki von alkoholischen (50% Alkohol) Anilinfarbenlösungen 
gefärbt, welche nur schwach andere Gewebsteile färben. Bei 
Färbung mit Toluidinblau, Thionin und polychromem Methylen- 
blau werden diese Granula violett oder rot, während alle anderen 
Elemente in der Zirbeldrüse blau gefärbt werden; bei Unna- 
Pappenheim-Färbung erhalten sie einen braunen Ton, im 
Gegensatz zu den anderen pyroningefärbten Elementen, die 
stark karmoisinrot werden; bei dieser Farbmethode kriegen 
übrigens auch die Kerne der Mastzellen eine andere (braunere) 
Farbennüance als die anderen Kerne. 

Die Färbung ist in gewissem Grad von der Fixierung 
abhängig; sie gelang am besten bei alkoholfixierten oder formol- 
Iixierten Präparaten. Bei chromfixierten Präparaten gelang die 
Färbung nur, wenn die Fixierung von kurzer Dauer und die 


Auswaschung gründlich war. Auch bei Formol-Flemming- 


18* 


270 KNUD H. KRÄBBE, 


fixierten Präparaten wird die Färbung schwächer, aber die 
Metachromasie sticht scharf gegen den grünlichen Ton ab, 
den die übrigen Gewebsteile bekommen. Die fixierten Präpa- 
rate ertragen die Behandlung mit Wasser und Glycerin gut, 
ebenfalls diejenige mit schwächeren Säuren, wie 100% Essig- 
säure, ohne dass die Färbung der Granula darunter leidet. 
Granula vertragen dagegen keine Alkalien, auch keine Re- 
duktionsmittel wie Natriumthiosulfat, ohne dass die Färbung 
darunter Schaden leidet. Behandlung mit Sauerstoffmitteln 
(30% Wasserstoffoxydul) wird gut vertragen. 

Infolge obiger Beschreibung entsprechen diese Zellen vor- 
züglich denjenigen, die früher als Bindegewebsmastzellen be- 
schrieben worden sind. Nur mit Bezug auf einen einzigen Punkt 
wird eine Eigentümlichkeit bemerkt, nämlich im Verhältnis 
des Kernes, da derselbe immer dem Radkern der Plasmazellen 
gleicht, und auch die helle Partie um den Kern herum er- 
innert an Plasmazellen. Wir halten es jedoch nicht für be- 
rechtigt diese Zellen aus dem Grund auf Krompechers!) 
etwas umstrittenen Begriff Plasmazellen zu beziehen, ebenso- 
wenig wie andere‘ Verhältnisse auf eine genetische Verwandt- 
schaft mit den Plasmazellen deutet, denn, während die Mast- 
zellen von frühester Kindheit konstant in der Zirbeldrüse ge- 
funden werden, haben wir Plasmazellen nur in der Zirbel- 
drüse von Patienten mit Dementia paralytica oder bei sehr 
alten Individuen gefunden. 

Einzelne andere Merkmale, die frühere Verfasser bei Mast- 
zellen erwähnten, haben auch wir regelmässig gefunden, so 
z. B. das Vorkommen zerstreuter Granula ausserhalb der Mast- 
zellen ?), ein Phänomen, das wahrscheinlich ein Kunstprodukt 
ist. Gleichfalls haben wir zuweilen eine diffuse unklare meta- 


!) Krompecher, Beiträge zur Lehre von den Plasmazellen. Zieglers 
Beitr. Bd. 24. 
?) Westphal, Über Mastzellen. Inaug.-Diss. Berlin 1880. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 271 


chromatische Färbung der nächsten Umgebungen der Mast- 
zellen gesehen, die wahrscheinlich darauf beruht, dass etwas 
von der metachromatisch färbbaren Substanz im aufgelösten 
Zustand aus den Zellen heraus diffundiert ist. 

Die Mastzellen können ein Teil Variationen aufweisen, 
teils, wie erwähnt, in bezug auf die Form, teils in bezug 
auf die Grösse der Granula, und endlich auch was die Menge 
der Granula in jeder einzelnen Zelle betrifft. Während einige 
mit Granula so vollgepfropft sind, dass der Kern nicht sicht- 
bar ist, sieht man in andern Zellen, dass sie zerstreut liegen, 
und wiederum in anderen sieht man eine kleine Gruppe von 
Granula um den Kern herum, während der äusserste Teil 
des Protoplasmas keine färbbaren Granula enthält. Übrigens 
kann auch die Färbbarkeit stark variieren, indem man zwischen 
Mastzellen mit stark gefärbten Granula einzelne finden kann, 
die ganz blass: sind. Diese scheinen die Übergangsformen zu 
denjenigen Zellen zu bilden, die bezüglich der Form, Grösse 
und des Aussehens des Kernes, Mastzellen gleichen, deren 
Protoplasma aber keine basophilen Granula enthält. Dies führt 
zur Frage über die eosinophilen granulierten Zellen. Es zeigt 
sich bei Färbung mit Hämatoxylin oder Eisenhämatein, dass 
man im Bindegewebe einen Teil derjenigen Zellen findet, deren 
Kern vollständig einem Mastzellenkern gleicht und deren Proto- 
plasma eine schwach ins Graue spielende Granulierung zeigt. 
Wenn man diese Präparate (am liebsten chrom- oder alkohol- 
fixiert) mit Eosin nachfärbt, zeigt es sich, dass selbst, wenn 
keine anderen Elemente (abgesehen von den Erythrocyten) vom 
Eosin gefärbt werden, Granula in den meisten dieser mast- 
zellenähnlichen Zellen intensiv rot gefärbt werden, während 
sie in einem kleineren Teil derselben von Hämatein nur grau 
gefärbt werden; einige zeigen Übergänge zwischen diesen 
beiden. Wir gehen davon aus, dass diese Zellen mit Gala- 
sescu und Urechias „Cellules paravasculaires acidophiles“ 


272 KNUD H. KRABBE, 


identisch sind. Indessen meinen wir, dass eine gewisse Wahr- 
scheinlichkeit dafür spricht, dass diese Zellen auch mit den 
Mastzellen identisch sind. Ein entscheidender Beweis hierfür 
kann aber nicht geliefert werden. Wenn man nämlich mit 
Toluidinblau-Eosin (z. B. nach Dominici) färbt, und dadurch 
rotgefärbte Granula erhält, kann man nicht entscheiden, ob 
diese von Metachromasie oder Eosinfärbung herrührt. Wir haben 
Kombination von grünen Farben, wie Lichtgrün oder Methyl- 
erün mit Eosin probiert, aber ohne elektive Granulafärbungen 
zu erhalten. Bei der Säurefuchsin-Lichtgrünfärbung war das 
Resultat vom Differenzierungsgrad abhängig, da Granula primär 
vom Säurefuchsin gefärbt werden, aber bei Behandlung mit 
Lichtgrün ziemlich schnell diese anstatt dessen annahmen. Was 
für uns als das entscheidendste dasteht, sind die Mengen- 
verhältnisse. Wenn man zwei Nachbarschnitte färbt, den einen 
mit Toluidinblau, den anderen mit Hämatein-Eosin, wird man 
den Mastzellenhaufen im einen Schnitt entsprechend, ähnliche 
Haufen von eosinophilen Zellen im andern Schnitt bemerken, 
ohne dass man hier daneben andere Zellen sieht, die vermut- 
lich Mastzellen sein könnten. Wenn hierzu das Aussehen des 
Kernes kommt (die eosinophilen Zellen bieten nicht die ge- 
ringste Ähnlichkeit mit eosinophilen polynucleären Leucocyten), 
halten wir uns für berechtigt, anzunehmen, dass Galasescu 
und Urechias paravasculären Zellen in Wirklichkeit Mast- 
zellen sind, sowie dass die Granula dieser Mastzellen im all- 
gemeinen starke Anziehungskraft auf die sauren, wie die 
basischen Anilinfarbstoffe ausüben. 


Es soll endlich bemerkt werden, dass man bei der Osmium- 
behandlung einzelne Granula in den Mastzellen geschwärzt 
sieht; auch bei Färbung mit Heidenhains Eisenhämatoxylin 


werden einzelne Mastzellengranula schwarz gefärbt. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 273 


bp) Die Pigmentzellen (Fig. 12d). 


Unter Pigmentzellen werden die Zellen vom Wanderzellen- 
typus verstanden, die im Bindegewebe vorhanden sind und 
Granula enthalten, die in ungefärbten Schnitten braun oder 
gelb erscheinen. Bei Färbung mit Toluidinblau werden die 
Granula grün und bei Osmiumbehandlung braun sefärbt, bei 
Sudanbehandlung an Gefrierschnitten nehmen sie einen röt- 
lichen Ton an, der jedoch nicht so ausgeprägt rot ist wie 
der des Fettes. Die Zellen werden in zwei verschiedenen Typen 
sefunden:: einige mit zahlreichen kleinen, regelmässigen runden 
Granula, welche dieselbe Grösse wie Mastzellengranula haben, 
andere, und das sind die meisten, mit gröberen, verschieden 
grossen und verschieden intensivygefärbten Granula; in diesen 
letzteren werden auch oft Vacuolen gesehen, die wahrscheinlich 
Fett enthalten haben, da man bei Sudanfärbung von Gefrier: 
schnitten Zellen sieht, die ausser den schwach roten Granula 
stark sudangefärbte enthalten. Diese Zellen gleichen morpho- 
logisch vollständig den Pigmentzellen. 

Möglicherweise fasst diese Zellengruppe Zellen mit ver- 
schiedener Genese und auf jeden Fall mit Inhalt von ver- 


schiedener chemischer Natur. 


ec) Andeme Zellen. 


Wir haben nie polynucleäre Leucoeyten in normalen Zirbel- 
drüsen gesehen. 

Lymphocyten können ab und zu (Fig. 12, 1) gefunden 
werden, aber nie in grösseren Haufen. 

Plasmazellen (Fig. 12a), die bei Dementia paralytica häufig 
in der Zirbeldrüse gefunden werden, sowohl im Bindegewebe 
wie in den Gefässscheiden, haben wir bei „normalen“ nur 
im hohen Alter gefunden, wo ihre Anwesenheit möglicher- 
weise mit den arteriosclerotischen Veränderungen des Organs 


274 KNUD H. KRABBE, 


zusammenhängen. Wir meinen deshalb, dass Achücarro 
und Saeristäns Befund der ‚„Celulas cianofilas“ in der 
Zirbeldrüse sich kaum zu ganz normalen Verhältnissen refe- 
rieren kann. 
Endlich müssen die Wanderzellen erwähnt werden, die 
Granula enthalten, die weder Pigment, Fett, noch Mastzellen- 
oranula sind, Zellen, die am ehesten mit Merzbachers 
und Alzheimers!) Abräumzellen verwandt sind. Diese 
Zellen sind oft ziemlich gross, kugelrund oder oval und dicht 
mit Granula gefüllt, die mit sauren und basischen Farbstoffen 
in wechselnder Menge gefärbt werden; einige Granula können 
auch mit Osmium schwach geschwärzt werden. Die Granula 


sind meistens rund, aber von verschiedener Grösse. 
F 


Was das Vorhandensein dieser verschiedenen Zellformen 
betrifft, müssen wir gleich bemerken, dass wir im Fetalleben 
keine derselben in der Zirbeldrüse gefunden haben. Dagegen 
haben wir bei einem Schnitt von einem Fetus im 6. Monat 
um ein Gefäss herum, das basal zu der Zirbeldrüse verlief, 
Haufen von typischen Mastzellen gesehen, so dass deren mög- 
liches Vorhandensein in der Zirbeldrüse im Fetalleben kaum 
als unwahrscheinlich betrachtet werden kann. 

Wenn sie normal aufzutreten anfangen, wagen wir im 
Hinblick auf die Unvollkommenheit des Materiales nicht mit 
Bestimmtheit zu entscheiden. In Präparaten vom 1. Lebensjahr 
haben wir sie nicht gesehen, dagegen wurden sie in grosser 
Menge bei einem 1!/, jährigen Knaben rings um die Gefässe 
herum gefunden; dieser war infolge einer Vergiftung mit Kalı- 
lauge gestorben, und es kann nicht vollständig ausgeschlossen 
werden, dass diese eine Rolle gespielt hat. Nach diesem Alter 


!) Nissl und Alzheimer, Histologische und histopathologische Ar- 
beiten über die Grosshirnrinde. Bd. III. 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). Tafel 23, 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden, 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2) Tafel 24. 


Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W. 


Histolog. u. embrvolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 275 


haben wir sie jedoch konstant gefunden. Speziell bei einem 
öjährigen Knaben, der kurz, nachdem das Abdomen über- 
fahren war, starb, wurden sie in ziemlich grossen Mengen 
gefunden, und bei grösseren Kindern und Erwachsenen findet 
man sie, obgleich in wechselnder Menge bis ins höchste Alter 
hinauf. Was die Variationen in der Menge bestimmt, lässt 
sich nicht leicht entscheiden. Verschiedene negative Fakta 
können festgestellt werden: Die Mastzellen treten nicht in be- 
sonderem Anschluss an die Concrementbildung, Cysten oder 
Plaques auf, und nie rings um die Gefässe in den Gliaplaques. 
Hauptsächlich sieht man sie am meisten in den ödematösen 
und verdickten Septumpartien, was ja auch dem entspricht, 
was Ehrlich!) in anderen Organen fand; sie können aber 
auch nahe neben den Gefässen gesehen werden, die nur von 
spärlichen Bindegewebsmengen umgeben sind. Im übrigen 
scheint ihre Menge bei pathologischen Prozessen vermehrt zu 
sein, z. B. bei Dementia paralytica, wo sie mit zahlreichen 
Abräumzellen, Plasmazellen und Lymphocyten zusammen vor- 
kommen. 

Es gibt keine bestimmte Regel für ihre Verteilung in 
den verschiedenen Partien der Zirbeldrüse, nur werden sie 
scheinbar am konstantesten in der Bindegewebskapsel gefunden. 

Die pigmentgefüllten Zellen haben wir bei Individuen vom 
Alter von 3 Jahren und aufwärts gefunden. Sie scheinen 
mit dem Alter an Menge zuzunehmen, einigermassen parallel 
mit der Pigmentmenge im Parenchym; sie treten übrigens 
lange bevor das Parenchym im allgemeinen pigmenthaltig ist, 
auf. Sie treten ohne bestimmte Abhängigkeit von den Mast- 
zellen auf, und werden gewöhnlich in grosser Menge in den 
Gliaplaques gefunden. 


Während die beiden vorigen Zellengruppen vermutlich als 
!) Ehrlich, Beitrag zur Kenntnis der granulierten Bindegewebszellen 
und der eosinophilen Leucocyten. Arch. f. Anat. phys. Abt. 1879. 


normal vorhanden betrachtet werden müssen, ist dies etwas 
zweifelhafter in betreff der Abräumzellen. Sie werden in grosser 
Menge bei pathologischen Prozessen in der Zirbeldrüse ge- 
funden, in weit geringerem, wenn das Organ relativ normal 
ist und im ganzen etwas inkonstant- Sie treten gewöhnlich 
im Verein mit den Pigmentzellen auf, in welchen der Über- 


gang ja im ganzen etwas fliessend zu sein scheint. 


Recessus pinealis, Cysten und Gliaflecken. 


Wie im embryologischen Abschnitt erwähnt, sieht man 
bereits am Fetus im 4. Monat (Fig. 3) eine Verengung des 
Zuganges zum Diverticulum pineale. Diese Verengung vom 
innersten (ventrieulären) Teil des Divertikels resultiert immer 
in einem Verschluss (Fig. 5), so dass man als Rest des 
Divertikeleinganges sowohl bei Kindern, wie bei Erwachsenen 
nur eine breite horizontale, nicht besonders tiefe Spalte findet, 
die sich vom 3. Ventrikel zwischen Commissura habenularum 
und Commissura posterior hinein bauscht. 

Diese Spalte, die allgemein Recessus pinealis genannt wird, 
reicht gewöhnlich nur ein Stück in die Gliamasse hinein, 
welche basal zum Parenchym der Zirbeldrüse liegt. In einigen 
Fällen reicht sie aber bis zum Parenchym hinauf, so dass dies 
mit einem kleinen Wall in den Recessus prominiert. Und 
zuweilen erstreckt der Recess sich sogar ein kleines Stück 
in das Parenchym hinauf, pflegt aber solchenfalls von diesem 
durch eine dünne Gliaschicht getrennt zu sein. 

Gleichwie die ganze Oberfläche des Gehirns, welche gegen 
die Ventrikel gekehrt ist, ist auch der Recessus pinealis mit 
Ependym bekleidet. Bereits ältere Verfasser, wie Clarke, 
haben erwähnt, dass dies Ependym zum Teil aus spindel- 
förmisen Zellen bestand. Marburg hat ihr Aussehen bei 


Neugeborenen ausführlicher beschrieben. Er bemerkt, dass an 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 277 


einigen Partien kubisches, an anderen ein hohes Cylinderepithel 
sich findet, das wieder mit typisch becherzellenähnlichen Bil- 
dungen abwechselt. Am Schaltstück ist lebhafte Proliferation 
der Cylinderzellen vorhanden und Kernteilungsfiguren werden 
ebenfalls gefunden. Vielleicht können diese Becherzellen mit 
den Müllerschen Stützzellen verglichen werden. Bei Er- 
wachsenen zeigt das Ependym nicht mehr die deutliche Diffe- 
renzierung, doch gelingt es zuweilen sowohl auf der Habenula, 
wie auf dem Schaltstück Cylinderzellen zu finden. 

Unsere eigenen Untersuchungen haben folgendes ergeben : 
Die Ependymzellen haben schon früh im Fetalleben (im 3. und 
4. Monat (Figg. 2—-3)) in der innersten Partie des Diverticulum 
pineale, dem Teil, der als Recessus pinealis restiert, eine 
langgestrecktere Form und länglichrunde Kerne gezeigt, die 
sanz dem im embryologischen Abschnitt beschriebenen ent- 
sprechen. Nach Abschluss des Diverticulums treten diese Ver- 
hältnisse deutlicher hervor, aber noch nach der Geburt zeigt 
die Ependymbekleidung auf der Commissura posterior und 
gegen den Recessus pinealis ein Aussehen, welches ganz dem- 
jenigen gleicht, das man bereits früh im Fetalleben (siehe 
Figg. 2-5) sieht. Das Ependym besteht beständig aus dicht- 
stehenden hohen Zellen mit Kernen in mehreren Reihen, in 
Wirklichkeit ist es aber wohl einschichtig. Die Kerne variieren 
zum Teil im Aussehen. Der grösste Teil derselben ist ziemlich 
chromatinarm, kurz eiförmig oder etwas länglich, aber plump. 
Die Längenachse steht senkrecht auf der Oberfläche. Eine 
kleinere Anzahl der Kerne ist länger, dünner und wird kräftig 
mit Heidenhains Eisenhämatoxylin gefärbt. Einige der- 
selben haben unregelmässigere Formen, zeigen z. B. Einker- 
bungen an den Enden. Das Protoplasma ist längsgestreift und 
variiert ebenfalls zum Teil in der Farbenintensität. Die Zellen 
sind mit Kittleisten, Cuticula und Flimmerhaaren gegen den 


Ventrikel hinein versehen, während sie in entgegengesetzter 


278 KNUD H. KRABBE, 


Richtung feine fadenförmige verzweigte Verlängerungen aus- 
senden. Eigentliche Becherzellen sieht man nicht, dagegen 
sieht man hier und da zwischen den Zellen länglichrunde 
klare Spalten, möglicherweise Einschrumpfungsphänomene, 
möglicherweise aber ein Ausdruck dafür, dass eine Flüssigkeit 
zwischen Zellen angesammelt lag. Einige dieser Schrumpfungs- 
räume können beim ersten Blick Becherzellen etwas ähneln. 

Das Ependym, welches die Commissura habenularum auf 
der entgegengesetzten Seite des Recessus bekleidet, sieht 
stellenweise ganz Ähnlich aus, während es an anderen Stellen 
ein etwas abweichendes Aussehen hat. Das Cylinderepithel 
ist nicht so hoch, die Kerne stehen in weniger zahlreichen 
Reihen, oft nur in 1—2, und sie sind dichter gegen die Ober- 
fläche hin gestellt. Die Form der Kerne ist weit unregel- 
mässiger, sie ist teilweise gekrümmt, gewunden, eingekerbt 
oder mit Spitzen versehen. Die meisten Kerne sind aber doch 
oval und stehen senkrecht zur Oberfläche. Im Laufe des 
1. Lebensjahres schreitet die Veränderung des Ependyms fort 
und schon im 4. Monat kann man ein Phänomen sehen, 
welches früher noch nicht in betreff dieser Zellen beschrieben 


worden ist, nämlich das Auftreten von Kernkugeln in den 


» 
Ependymkernen ganz ähnlich denen, die man bei erwachsenen 
Individuen in den Kernen der Pinealzellen trıfft. Im Laufe der 
Jahre zeigt das Ependym überall Neigung niedriger und spär- 
licher zu werden, und die Kerne unregelmässigere Formen an- 
zunehmen. Am meisten ausgesprochen ist dies am Ependym 
der Commissura habenularum, wo die Zellen allmählich 
weniger dicht stehen und zugleich flacher werden, so dass 
die Längsrichtung der Kerne mit der Oberfläche parallel läuft. 
Bei älteren Individuen ist die Ependymbekleidung auf der 
der Habenula zugekehrten Seite des Recessus zuletzt beinahe 
ganz verschwunden. Auf der entgegengesetzten Seite kann 


das Ependym seinen cylindrischen Charakter noch bis zum 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 279 


Alter von 3 Jahren bewahren, nach dieser Zeit sieht man aber 
fast immer niedrige Zellen mit weniger distinktem Protoplasma 
und rundlichen oder eckigen, unregelmässigen Kernen. Ge- 
wöhnlich stehen diese nur in 1--2 Reihen, aber stellenweise 
sieht man unter der Oberfläche dichtere Anhäufungen von 
Kernen in mehreren Reihen, und zwar von oben beschriebenem 
Aussehen. Einzelne Kerne können kolossal gross sein. Ge- 
wöhnlich ist der Chromatinreichtum grösser als gleich nach 
der Geburt. Die Kernexcretion ist noch im höchsten Alter 
vorhanden, aber durchwegs ziemlich spärlich. 

Auch auf der Commissura posterior zeigt das Ependym 
zuletzt eine Neigung zu verschwinden, aber später als an 
der Commissura habenularum. So fanden wir es im Alter 
von 0 Jahren noch erhalten, während es bei einem 95 jährigen 
zum Teil verschwunden und das restierende Ependym sehr 
flach war. 

In den Fällen, wo das Parenchym der Zirbeldrüse in den 
Boden des Recessus hineinragt, wird es direkt mit Ependym 
bekleidet. Dieses Ependym verschwindet indessen noch früher 
als das an der Commissura habenularum. 

Der Zeitpunkt, an welchem der Zugang zum Diverticulum 
pineale geschlossen wird, kann möglicherweise etwas variieren. 
In Schnitten vom 6. Fetalmonat haben wir den ganzen Diver- 
tikel offen, in Schnitten vom 8. Fetalmonat völlig geschlossen 
gefunden, gleichfalls in Schnittserien von ein paar Neuge- 
borenen. Das Zuschliessen geschieht vermutlich im 7. Fetal- 
monat. Während das Divertikel in seinem innersten (d.h. 
ventriculären) Abschnitt immer offen bleibt, wie der Recessus 
pinealis, wird es in seiner mittelsten Partie immer geschlossen ; 
dieser Verschluss hinterlässt indessen eine Spur, indem man 
bei Kindern stets einen Gliastrang findet, der sich als Fort- 
setzung vom Recessus pinealis von der basalen Glia bis hinauf 


in die Zirbeldrüse erstreckt. Dieser Gliastrang, welchen wir 


280 KNUD H. KRABBE, 


vorschlagen Tractus diverticularis zu nennen, erhält 
sich lange überaus deutlich. In Serienschnitten an Präparaten 
von 28 jährigen haben wir ihn bis weit hinauf in die Zirbel- 
drüse sich erstrecken sehen, und noch in Präparaten bei einem 
70 jährigen haben wir Spuren desselben gefunden. Der Glia- 
strang liegt der Ventralseite des Corpus pineale am nächsten, 
was auch dem entspricht, dass der unterhalb liegende Teil 
nur von der einen Hälfte der hintersten Pinealanlage gebildet 
ist, während der oberhalb liegende Teil von der vordersten 
Hälfte der hintersten Pinealanlage und der vordersten Pineal- 
anlage bebildet wurde. 

Der am meisten peripher gelegene Teil des Diverticulum 
pineale erleidet ein mehr variierendes Schicksal. In emigen 
Fällen schliesst er sich ganz, was wir in Serienschnitten von 
einem 8 Monate alten Fetus und Neugeborenen konstatieren 
konnten. Aber in einer grossen Anzahl von Fällen hält er 
sich offen und bildet dadurch den Ausgangspunkt für einen 
Teil der sogenannten Cysten. 

Marburg hat bereits auf dieses Verhältnis aufmerksam 
gemacht. Er teilt die Cysten in 2 Gruppen ein: in solche, 
die durch Abschnüren vom Recessus pinealis gebildet werden 
und diejenigen, die durch zentrale Nekrose der Gliaplaques 
entstanden sind. Er motiviert die Annahme des erstgenannten 
Ursprunges damit, dass er Reste von Ependymbekleidung auf 
der Innenseite der Cysten gefunden hat, was, wie wir später 
sehen werden, doch wohl auf einem Irrtum beruht. In unserer 
vorigen Arbeit über die Zirbeldrüse meinten wir, dass Cysten 
von dieser Genese ziemlich selten wären; die Ursache dieser 
Annahme, die übrigens von späteren Verfassern geteilt wurde, 
“hat in der damaligen Einseitigkeit unseres Materials bestanden. 
Nachdem wir eine grössere Anzahl Zirbeldrüsen von Kindern 
und Feten untersucht haben, sind wir zu dem entgegengesetzten 
Resultat gelangt. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 281 


Man sieht nämlich in einer verhältnismässig grossen An- 
zahl von Fällen bei Kindern in den ersten Monaten, dass 
im Parenchym der Zirbeldrüse, besonders im meist distalen 
Teil, eine oder mehrere kleine Höhlen gefunden werden. Wenn 
wir dies mit dem Faktum vergleichen, dass das Diverticulum 
pineale, jedenfalls zuweilen, sich zuerst im innersten Teil 
schliesst, wodurch bereits im Fetalleben eine Höhle im Par- 
enchym abgeschlossen wird, kommt es uns vor, dass keine 
Erklärung für den Ursprung dieser Höhlen, die man in der 
Zirbeldrüse bei Kindern findet, wahrscheinlicher ist als die, 
dass die Lücken dem distalen Teil des Diverticulum pineale 
entsprechen. 

Zuweilen findet man nur ein Loch, weiches regelmässig 
eiförmig oder gekrümmt sein kann; im letzteren Fall kann 
es in Schnitten mehrere vortäuschen, gewöhnlich fällt die Längs- 
richtung der Löcher mit derjenigen der Zirbeldrüse zusammen. 
Zu anderen Zeiten werden mehrere Höhlen gefunden, die mit 
Gliasträngen verbunden sein können. Und in einigen Fällen, 
z. B. in Serienschnitten von einem Kind von 1 Jahr, haben 
wir eine sehr grosse Menge ganz kleiner Löcher um das 
Parenchym herum zerstreut gefunden (Fig. 24). 

Die Wände dieser Höhlen sind relativ glatt und werden 
im 1. Lebensjahr von. gewöhnlichen Parenchymzellen, vor- 
wiegend Pinealzellen, gebildet; hier und da kann man eine 
Gliazelle in der Wand sehen; die Kerne in derjenigen Schicht 
von Zellen, welche die Wand bekleiden, liegen gewöhnlich 
einigermassen in Reihen, aber die Parenchymzellen in der 
Wandschicht haben übrigens ganz das gleiche Aussehen wie 
die anderen Parenchymzellen und gleichen nie Ependym- 
zellen. Wenn Marburg erwähnt, dass die Wand in einigen 
Cysten mit Ependymzellen bekleidet sind (und davon die Genese 
der Cysten vom Pinealsack ableiten will), sind wir geneigt 
anzunehmen, dass es sich entweder um exceptionelle Fälle 


282 KNUD H. KRABBE, 


gehandelt hat, oder dass Marburg sie mit einigen Zellen, 
die unten erwähnt werden sollen, verwechselt hat. Es wäre 
auch von vornherein unwahrscheinlich, dass die Wand dieser 
Höhlen mit Zellen bekleidet sein sollten, die dem Ependym 
im 3. Ventrikel glichen. Am Corpus pineale von Feten im 
6. Monat sahen wir nämlich, dass eine ziemlich hervortretende 
Differenzierung unter den Zellen, die den Plexus chorioideus 
und denjenigen, die die Wand des Diverticulum pineale be- 
kleiden, bestand. Am Plexus sieht man bereits in diesem 
Zeitpunkt die typischen Ependymzellen mit kleinen runden 
chromatinreichen Kernen und grossem, rundem oder kubischem 
Protoplasma; dem ventriculären Teil des Divertikels ent- 
sprechend hat das Ependym denselben cylinderzellenartigen 
Charakter, den es im Recessus pinealis behält. Aber im Boden 
des Divertikels hat die Ependymbekleidung beinahe dasselbe 
Aussehen, wie die Zellen im Parenchym, nur liegen sie regel- 
mässiger geordnet. 

Bereits im 2. Lebensjahr kann man sehen, dass die Wand 
dieser Höhlen anfängt ihr Aussehen zu verändern. Zwischen 
dem Parenchym und dem Hohlraum liegt hier und da eine 
dünne Schicht faserreichen Gliagewebes, welches das gleiche 
typische Aussehen hat wie die basale Glia; zerstreute Kerne 
mit spärlichem Protoplasma und einer überaus dichten Menge 
Gliafäden, die sich zum Teil von dieser Gliaschicht in das 
Parenchym hinein fortsetzen, sind vorhanden, so dass man 
deutlich den Zusammenhang zwischen der Glia des Parenchyms 
und der Gliawand des Loches sieht. Wenn man durch das 
Kindesalter hindurch diese Verhältnisse an einer Reihe von 
Präparaten verfolgt, sieht man, dass, je höher man hinaufgeht, 
desto dicker die Gliaschicht wird. Im übrigen kann die Grösse 
der Höhlen bedeutend variieren. Die Höhle mit der Gliawand 
füllt jedoch oft auf einem Sagittalschnitt im mittleren Plan 


ca. 1/,-—!/, vom Plan des Schnittes aus. Ihre grösste Aus- 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 283 


6 


Jahren. Im höheren Alter sind die Höhlen gewöhnlich kleiner 


dehnung haben sie durchschnittlich im Alter von 3 


(die einzelnen Ausnahmefälle werden wir später erwähnen), 
während die Gliaschichten verhältnismässig grösser sind. Im 
höchsten Alter sieht man die Löcher nur als ganz kleine 
Höhlen in den Gliaklumpen. 

Die Genese der Höhlen scheint nach vorliegendem ın 
den Gliaplaques bei Erwachsenen nicht schwer erklärbar zu 
sein. Der Umstand, dass man von frühester Kindheit bis zum 
erwachsenen Alter die Höhlen stets von diekeren und dickeren 
Gliaschichten umgeben findet, deutet darauf hin, dass die 
kleinen Cysten, die man in den Gliaplaques bei Erwachsenen 
findet, denjenigen entsprechen, die man im 1. Lebensjahr 
findet, also dem Boden des Diverticulum pineale. Die Anwesen- 
heit dieser Höhlen muss als ein völlig normales, obgleich 
nicht ganz konstantes Phänomen betrachtet werden. Ebenfalls 
muss es als normal angesehen werden, dass sich diese Höhlen 
mit einer Gliaschicht umgeben. 

Wir meinen also, dass auch wir als die normale Genese 
für die Höhlen, die von Marburg angedeutete, anerkennen 
müssen, die von einer „Absprengung‘“ des Recesses oder besser 
einem partiellen Zuschliessen eines normal bestehenden Diver- 
tikels herrühren muss. | 

Dagegen kommt uns die andere von Marburg aufgestellte 
genetische Erklärung mehr problematisch vor. Derselben zu- 
folge sollte ein Teil der „Cysten“ durch zentrale Erweichung 
der Gliaplaques entstehen. Als Ursache derselben nimmt er 
Obliteration der Gefässe an. 

Dass Höhlen auf diese Weise zustande kommen können, 
lässt sich kaum leugnen. Aber der Umstand, dass man weniger 
und weniger Löcher in den Gliaklumpen an Präparaten von 
älteren und älteren Individuen sieht, scheint darauf zu deuten, 


dass diese zuletzt erwähnte Genese verhältnismässig selten 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd.\H. 2.) 19 


284 KNUD H. KRABBE, 


ist. Sie lässt im Gegenteil vermuten, dass ein Teil von den 
massiven Gliaklumpen durch Verschliessen einer Höhle ent- 
standen ist. Und der spezielle Umstand, mit welchem Mar- 
burg die letzte Genese zu motivieren scheint, nämlich, dass 
er obliterierte Gefässe durch eine solche Cyste verlaufen gesehen 
hat, kommen uns nicht entscheidend vor. Wir haben selbst in 
mehreren Fällen Stränge gesehen, die sich durch die Höhle 
streckten. Da wir aber einen solchen Strang schon bei einem 
3 jährigen Kind angetroffen haben, wo nur eine ganz dünne, 
ganz ebene Gliawand um die Höhle war, und ferner der 
grösste Teil dieser Stränge aus Glia und nicht aus Binde- 
gewebe besteht, meinen wir, dass die Erklärung, dass sie 
obliterierte Gefässe sein sollen, kaum genügt, ganz abgesehen 
von der Frage: warum die Gelfässe ın einem sonst normalen 
Organ, welches nicht dazu bestimmt ist zugrunde zu gehen, 
zu obliterieren anfangen sollte. Wir sehen hier natürlich von 
Krankheiten wie Endarteriitis obliterans ab. 

Der Inhalt der Höhlen besteht aus einer homogenen, gelee- 
artigen Masse, die keine besonderen Reaktionen auf Fibrin, 
Fett oder ähnliches geben; durch v. Gieson-Färbung wird 
er gelb, durch Säurefuchsin-Lichtgrünfärbung wird er nach 
kurzer Differenzierung grün gefärbt. | 

In diesem homogenen Cysteninhalt wird man gewöhn- 
lich einige eigentümliche Zellen von sehr variierendem Aus- 
sehen finden. Das Protoplasma ist gewöhnlich gross, zuweilen 
homogen, gewöhnlich vacuolisiert oder mit albuminösen oder 
lipoiden Körnchen granuliert. Die Kerne sind zuweilen gross, 
gekrümmt und unregelmässig, zuweilen klein, rund und intensiv 
gefärbt, wodurch sie einige Ähnlichkeit mit den Kernen im 
Ependym des Plexus chorioideus kriegen. Es sind vermutlich 
diese Zellen, die Marburg veranlasst haben, anzunehmen, 
dass eine Ependymbekleidung in einigen der Cysten vorhanden 


sein sollte. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d, Zirbeldrüse d. Menschen. 285 


Wir fassen indessen diese Zellen in einem anderen Sinne 
auf. Man sieht nämlich, dass die Zellen teilweise frei drinnen 
in der colloiden Masse, teils dicht an der Wand des Loches 
liegen. Ferner sieht man, dass einige der Pinealzellen (bei 
Neugeborenen) oder Gliazellen (bei Älteren), welche die Wand 
der Zellen bilden, sich anscheinend von derselben zu lösen 
beginnen; und zwischen diesen und den oben beschriebenen 
Zellen werden allmähliche Übergangsformen gefunden. Es ist 
also Grund vorhanden, anzunehmen, dass sowohl die ependym- 
ähnlichen Zellen, wie diejenigen mit den unregelmässigeren 
Kernen, Pinealzellen und Gliazellen in beginnender Nekrose 
sind. 

Das beständige Lösen und Zugrundegehen von Zellen an 
der Innenseite der Wand des Loches wird durch den Wuchs 
der Gliawand kompensiert, und je nachdem der eine oder 
andere Prozess dominierend ist, werden sich die Löcher 
schliessen oder offen bleiben. Gegen die Auffassung, dass 
die Löcher sich infolge Gliaproliferation ganz schliessen können, 
und dadurch zu massiven Gliaplaques umgebildet werden, ist 
theoretisch nichts einzuwenden. Ob wirklich alle Gliaplaques 
auf diese Weise entstanden sind, kann nicht bewiesen werden, 
aber wir sehen es für sehr wahrscheinlich an. Man muss 
doch natürlich auch an die Möglichkeit für ihr Entstehen 
durch Proliferation von der Glia an jeder beliebigen Stelle, 
z. B. vom Tractus diverticularis aus denken. Diese Erklärung 
kommt uns aber weniger natürlich vor. 

Diese Gliaplaques (Figg. 8 und 11) bestehen grösstenteils 
aus Gliafäden, die weit mehr füllen als die zerstreuten Gla- 
zellen, von welchen die Fäden ausgehen. Die Gliazellen sind 
rundlich oder oval, zeigen keine besonders hervortretenden 
Eigentümlichkeiten. Die Plaques sind spärlich vascularisiert. 
Bei Erwachsenen sieht man oft in ihnen eine Menge kleiner 
Kalkconcremente, ferner oft Fettkornzellen und andere Ab- 
räumzellen von verschiedenen Typen. 

19* 


286 KNUD H. KRABBE, 


Wir haben mit Absicht die oben genannten Cysten ge- 
wöhnlich Höhlen genannt und nicht Cysten, da die letztere 
Benennung die Gedanken unwillkürlich auf etwas Pathologi- 
sches hinleitet. Die zwei Fälle, in denen wir wirkliche „Cysten“ 
gefunden haben, sollen hier nicht näher erwähnt werden. Wir 
wollen nur das theoretische Interesse hervorheben, welches 
diese Frage für die Genese der Höhlen hat. So lange man 
mehr geneigt war, die Löcher als das Resultat einer Art 
Erweichungsprozess aufzufassen, hatte man auch die grösste 
Tendenz, sie als Degenerationszeichen zu betrachten, als 
Zeichen, dass die Zirbeldrüse ein rudimentäres Organ sei. 
Es kommt uns vor, dass diese Auffasung infolge des obigen 
wegfallen muss, man kann danach die Löcher nur als andere 
normal entstandene Höhlen betrachten, deren Genese einfach 
durch Verschliessen einer im Fetalleben normal gebildeten Aus- 
buchtung erklärt wird, Löcher, die möglicherweise wegen ihrer 
wahrscheinlichen Bedeutungslosigkeit und Indifferenz, Tendenz 
zeigen, sich im Laufe der Jahre zu schliessen, welches keines- 
wegs als Ausdruck für ein Zugrundegehen oder. Degeneration 
des speeifischen Parenchyms der Zirbeldrüse aufgefasst werden 
kann. 

Im Zusammenhang mit der Frage über Gliaplaques wollen 
wir kurz die basale Glia erwähnen. Schon Weigert be- 
spricht die ungeheuer dichte Menge fibrillärer Glia, welche 
an der Basis der Zirbeldrüse gefunden wird. Dimitrova 
macht darauf aufmerksam, dass diese Glia sich an den Seiten 
des Corpus pineale herauferstrecken kann. 

Wir haben dies Verhältnis gewöhnlich bestätigt gefunden. 
Ganz gewiss können die markhaltigen Nervenfasern in der 
Commissura posterior und der Commissura habenularum zu- 
weilen dicht an das Parenchym der Zirbeldrüse anstossen. 
In den meisten Fällen wird man aber sehen, dass zwischen 


den querlaufenden Nervenfasern und dem Parenchym eine 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 287 


Gliaschicht gefunden wird, die wesentlich aus dicht gelagerten 
Gliafäden besteht. Diese basale Glia bekleidet zuweilen die 
ganze Basis der Zirbeldrüse und trennt hierdurch, wie er- 
wähnt, den Recessus pinealis vom Parenchym. In den anderen 
Fällen, wo das Parenchym sich wie ein kleiner Wall in die 
Recessus hinaus bauscht, kann die basale Glia an dieser Partie 
vollständig fehlen, so dass nur die basale Glia von den beiden 
Commissuren aus gefunden wird. 

Ausser der Verlängerung im Tractus diverticularis sendet 
die basale Glia auch Bündel an den Seiten der Parenchym- 
massen hinauf, so dass diese in der Glia ruhen, wie ein Ei 
im Eierbecher. Gewöhnlich reicht diese Glia nur ein kleines 
Stück an den Seiten hin, aber in einzelnen Fällen reicht sie 
ziemlich hoch hinauf, so dass man sogar ganz oben beim 


Apex eine Gliakappe um das Parenchym finden kann. 


Die Abgrenzung des Parenchyms gegen die basale Glia 
ist im allgemeinen weniger scharf als gegen die Gliaplaques; 
besonders charakteristisch ist, dass man bei der Grenzschicht 
gewöhnlich Pinealzellen und Nervenzellen findet, die abge- 
sprengt wie kleine Inseln oder sogar ganz isoliert draussen 
in der Glia liegen. 


Die Conceremente. 


Wie sich von selbst versteht, haben die makroskopisch 
sichtbaren Concremente schon früh Aufmerksamkeit erweckt 
und man ist in alten Zeiten geneigt. gewesen, ihnen wesent- 
liche Bedeutung für die Funktion der Zirbeldrüse beizulegen. 
Erst eine spätere Zeit hat sie eher als eine Art von Abfalls- 
produkt betrachtet. Chemische Untersuchungen haben gezeigt, 
dass sie zum grössten Teil aus phosphorsaurem Kalk und 
etwas kohlensaurem Kalk bestehen. Im übrigen ist früher 


288 KNUD H. KRABBE, 


verhältnismässig so erschöpfend über sie geschrieben worden, 
dass nicht viel hinzuzufügen ist. 

Das Vorhandensein beim Menschen ist lange bekannt ge- 
wesen. Ein älterer Verfasser (Wenzel!)) gibt an, Concre- 
mente bei einem Neugeborenen gefunden zu haben; nach der 
Beschreibung ist es aber doch wahrscheinlich Colloid in einer 
Cyste gewesen; sonst hat er keine Concremente bei Kindern 
unter 6-8 Jahren gefunden. Auch Faivre hat sie erst im 
Alter zwischen 7 und 8 Jahren gesehen. Dimitrova hat 
sie bei Menschen von 25 Jahren gefunden, dagegen nicht 
bei einem 55jährigen (sie gibt jedoch nicht an, ob es in 
Serien geschnitten war). 

Das Vorkommen bei anderen Säugetieren ist seltener; 
Dimitrova und später Illing haben Concremente beim 
Ochsen gefunden, dagegen hat letzterer sie weder beim 
Pferd, noch beim Esel, Schaf, Ziege, Schwein, Hund oder 
Katze gefunden. Andererseits hat Funkquist sowohl bei 
Ochsen, Pferden, wie Schafen Concremente gefunden, dagegen 
nie bei Vögeln. Die positiven Befunde müssen selbstverständ- 
lich zu den meist entscheidenden gezählt werden. 

In betreff der Entstehungsweise meint Dimitrova, dass 
sie durch Juxtaapposition von kleineren Concrementen entstehen 
und dass die kleinsten sowohl in den Zellenkörperchen wie 
ausserhalb derselben gefunden werden. Zuweilen werden sie 
scheinbar in den Kernen gefunden. Bei Flemming-Safranın- 
präparaten wurden einige Zellen gesehen, deren Kerne und 
Protoplasma mit kleinen roten Kugeln gefüllt waren, die wahr- 
scheinlich sehr kleine Concremente waren. Diese Zellen 
wurden im Bindegewebe gefunden und waren sehr selten im 
Parenchym vorhanden. Die kleinen, freien Concremente wurden 


häufig im Stroma gefunden. Wenn sie wuchsen, drangen sie 


1) Zitiert nach Hagemann. 


Histoloe. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 289 


in die Zelleninseln ein. Wie wir gesehen haben, sind die 
oben genannten kleinen Zellen wahrscheinlich Mastzellen ge- 
wesen. 

Da es von Interesse ist bei einem möglichst grossen 
Material zu konstatieren, in welchem Alter die Concrement- 
bildung anfängt, wollen wir hier hinzufügen, was unser eigenes 
Material gezeigt hat. Es soll jedoch bemerkt werden, dass 
fehiendes Vorhandensein von Concrementen nur durch Serien- 
schnitte konstatiert werden kann. Auf diese Weise haben wir 
in einer Schnittserie von einem 21 jährigen nachweisen können, 
dass nur 2 der Schnitte einige ganz kleine Concremente ent- 
hielten. Da die Concremente gewöhnlich vorwiegend im zen- 
tralen Teil der Zirbeldrüse gefunden werden, werden trotzdem 
kleinere Schnittreihen von den mittelsten Sagittalplänen einiger- 
massen zuverlässige Aufklärungen geben. In unseren Präpa- 
raten haben wir folgendes gefunden: 

Nur in einem Fall, bei einem 11/, jährigen Mädchen, das an 
Meningitis tuberculosa starb, haben wir Concremente bei einem 
Kind unter 7 Jahren gefunden. Bei diesem Fall waren die 
Concremente zahlreich, maulbeerförmig und im allgemeinen 
vom selben Aussehen und selber Verteilung, welche Concre- 
mente zu haben pflegen. Es war bemerkenswert, dass im 
Parenchym dieser Zirbeldrüse verhältnismässig viele Pineal- 
zellen mit Kernexcretion vorhanden waren, etwas das man 
sonst nicht früher als im Alter von 8 Jahren findet. Im 
übrigen bietet diese Zirbeldrüse nichts Abnormes dar über 
die Entzündungsprozesse in der umgebenden Pia hinaus. 

In Serienschnitten von einem 1jähr. und einem $jähr. 
Normalen wurden keine Concremente in der Zirbeldrüse ge- 
funden, beim letzteren dagegen einzelne in der Commissura 
habenularum. Bei vier 7 jährigen, von denen drei tuberkulöse 
Meningiten waren, wurden bei dem einen einzelne ganz kleine 
Concremente gefunden, bei einem 6jährigen mit Leukämie 


290 KNUD H. KRABBE, 


ebenfalls ein unbedeutendes Concrement. Bei einem 9- und 
10 jährigen keine Concremente, bei einem 13 jährigen ein ein- 
zelnes kleines. In Serienschnitten von einem normalen 
14 jährigen wurden in ganz einzelnen Schnitten ein paar kleine 
Concremente gefunden, während man in einzelnen Schnitten 
von einem anderen normalen 14 jährigen deren zahlreiche fand. 
Bei einem dritten 14 jährigen wurden dagegen keine gefunden, 
auch nicht bei einem 15- und 16jährigen, während von zwei 
17 jährigen der eine zahlreiche und der andere keine Concre- 
mente enthielt. In Serienschnitten von einem 21 jährigen wurden 
ganz vereinzelte kleine Coneremente gefunden. Sonst haben 
wir sie nach zurückgelegtem Alter von 16 Jahren beinahe 
konstant gefunden. Nur in Sagittalschnitten (doch nicht im 
Serien) von einem 72 jährigen haben wir keine Concremente 
gefunden. Pr 

Erschöpfende Untersuchungen können, wie gesagt, nur bei 
kompletten Serienschnitten gemacht werden. Durch oben ge- 
nannte Untersuchungen kriegt man aber doch einen gewissen 
Einblick: 

Im frühen Kindesalter kann man ausnahmsweise Concre- 
mente finden, ob normalerweise oder als Folge einer Krank- 
heit (Meningitis tuberculosa) kann vorläufig nicht entschieden 
werden.. Vom Alter von 7—-14 Jahren findet man sporadisch 
einzelne kleine Concremente. Vom Alter nach 14 Jahren 
scheinen sie häufiger zu werden, und vom Alter von 16 Jahren 
fast konstant. 

Im grossen und ganzen scheint die Menge mit dem Alter 
zuzunehmen, im übrigen ist sie aber grossen Variationen unter- 
worfen und Concremente können selbst bei Älteren in so kleinen 
Mengen gefunden werden, dass man wohl davon ausgehen 
kann, dass sie für die Funktion der Zirbeldrüse keine Rolle 
spielen, sondern eher als eine Art Abfallsprodukt zu betrachten 
sind. Wenn frühere Verfasser die Neigung gehabt haben, die 


Anatom. Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2) 


Lichtdruck von Albert Frisch, Berlin W. 


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Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 291 


Concremente mit dem Bindegewebe in Verbindung zu setzen, 
ist dies nicht richtig. Ganz gewiss kann man Concremente 
im Bindegewebe finden; sie sind aber dann gewöhnlich klein, 
gruppierte, länglichrund, mit der Längenachse in der Richtung 
der Bindegewebsfibrillen liegend. Die weitaus grösste Menge 
der Concremente wird indessen im Parenchym gefunden; und 
dass sie hier gebildet und nicht vom Bindegewebe ausge- 
gangen ist, geht daraus hervor, dass man in Serienschnitten 
Concremente sehen kann, die auf allen Seiten von Parenchym 
umgeben sind, ohne an irgend einer Stelle mit dem Binde- 
gewebsstroma in Berührung zu kommen. In der Commissura 
habenularum sind die Concremente ganz in (lia eingelagert, und 
es ist bemerkenswert, dass die Concremente hier ganz das 
gleiche Aussehen wie in der Zirbeldrüse selbst haben, während 
das Aussehen der Concremente, die man in den umgebenden 
weichen Häutchen findet, ein verschiedenes ist. In den Häut- 
chen sieht man die Concremente gewöhnlich kugelrund, aus 
konzentrischen Schichten bestehend. Im Corpus pineale und 
der Commissura habenularum werden die Concremente da- 
gegen maulbeerförmig mit rundgeschweiften Rändern gefunden; 
wie frühere Verfasser bemerkt haben, beruht dies wahrschein- 
lich darauf, dass die Concremente durch Verschmelzung 
mehrerer kleiner, kugelrunder Conecremente gebildet worden 
sind. Die ersten Stadien kann man an Stellen beobachten, 
wo man Häufchen von Concrementen in allen möglichen Grössen 
findet, ganz herunter zu kaum sichtbaren. Die kleinsten sind 
kugelrund und werden nicht im Protoplasma der Pinealzellen 
gefunden, sondern in der zwischenliegenden protoplasmatischen 
Substanz, also wahrscheinlich entweder in den Ausläufern der 
Nerven- oder Gliazellen — die Analogie mit Commissura 
habenularum spricht wohl am meisten für letzteres. 
Während die grösseren Concremente nur im Parenchym 


gefunden werden, sieht man schon früh zahlreiche kleine 


292 


KNUD H. KRABBE, 


Kalkkörner in den Gliaplaques. Diese sind gleichmässig in 
der Glia herum verteilt, oft in kleinen Häufchen und zuweilen 
schmelzen sie etwas zusammen; sie schmilzen aber nie zu 
der charakteristischen Maulbeerform zusammen. 

Die Bildung der Concremente scheint mir eine schwache 
Reaktion von seiten des umliegenden Gewebes hervorzurufen. 
Die umliegenden Pineal- und Nervenzellen werden leicht flach- 
gedrückt, es wird aber keine besondere Gliaschicht rings um 
die Concremente gebildet. Nur bei sehr alten Individuen 
haben wir ab und zu gesehen, dass Bindegewebsfäden sich 
von naheliegenden Septen gegen die Concremente hinüber 
strecken und eine dünne Schicht um dieselben bilden. 

Im übrigen zeigen die Concremente kein spezielles Ver- 
hältnis zu den verschiedenen Zellenarten, auch nicht zu den 
Mastzellen oder anderen Wanderzellen. Möglicherweise haben 
die Concremente ein gewisses Verhältnis zu der Kernexcretion, 
da deren Auftreten einigermassen mit demjenigen der Kern- 
excretion zusammenfällt; und in dem erwähnten Fall von früher 
Concrementbildung (im Alter von 11/, Jahren) fanden wir auch 
Kernexcretion; ein Umstand, der diese Annahme stützen 
könnte, ist der, dass phosphorhaltige Stoffe besonders in Kernen 
gefunden werden, und dass die Concremente phosphorhaltig 
sind; dieses letztere haben wir mit Lilienfeld-Montis- 
Phosphorsäurereaktion !) kontrolliert. 

Es muss aber nicht vergessen werden, dass Concrement- 
bildung auch bei Tieren ohne Kernexcretion (Ochsen, Pferden, 
Schafen — siehe vorne) gefunden werden, und dass sie auch 
in anderen Organen beim Menschen auftritt, wie ich später 
erwähnen werde. 


1) Siehe Fussnote S. 233. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 293 


Biologische Betrachtungen. 


Mit der Beschreibung, die wir in den vorigen Abschnitten 
über die Histologie der Zirbeldrüse gaben, haben wir den 
wesentlichsten Teil der Aufgabe, die wir uns gestellt haben, zu 
lösen gesucht. Eine Aufgabe bleibt aber noch zurück, nämlich 
die zu sehen, welche Analogien die einzelnen Elemente in der 
Zirbeldrüse mit anderen Teilen der Gewebe des Organısmus 
haben und zu sehen, inwiefern man durch diese Analogien 
in bezug auf die Funktion der Zirbeldrüse Schlüsse ziehen 
kann. 

Es versteht sich fast von selbst, anzunehmen, dass das 
Bindegewebe und die darin enthaltenen Gefässe für das Organ 
eine ähnliche Rolle spielen, wie das interstitielle Bindegewebe 
und die Gefässe es andererorts im Organismus tun. Nur ist es 
von Interesse, anzuführen, dass man an keinen anderen Stellen 
im Zentralnervensystem, von der Neurohypophyse abgesehen, 
solche Mengen von Bindegeweben findet, wie im Corpus pineale. 
Inzwischen ist es besonders interessant die Analogien in betreff 
der Parenchymzellen zu betrachten. 

Die Gliazellen zeigen in ihrem Aussehen keinen wesent- 
lichen Unterschied von den fadenbildenden Gliazellen anders- 
wo im Zentralnervensystem. Da auch die Menge der Glıa 
im Parenchym nicht grösser ist als an vielen anderen Orten 
im Nervensystem, ist kein Grund vorhanden, anzunehmen, 
dass die Gliazellen in der Zirbeldrüse eine andere Rolle spielen 
sollten als anderswo, d. h. dass ihre Funktion wahrscheinlich 
teils stützend, teils für die Stoffwechselprodukte leitend ist. 
Deshalb ist kein Grund vorhanden, die Zirbeldrüse als ein 
speziell gliöses Organ zu bezeichnen. 

Von den Nervenzellen muss man ebenfalls annehmen, 


dass ihre Funktion mit derjenigen, welche Nervenzellen anderer- 


294 KNUD H. KRABBE, 


orts im Nervensystem haben, analog ist. Doch muss bemerkt 
werden, dass sie eine Kigentümlichkeit darbieten, nämlich die 
knöspchenlörmigen Anschwellungen. Es kann keine sichere 
Erklärung dafür abgegeben werden, was diese bedeuten. 
Achücarro und Sacrıstän wollen sie als ein Involutions- 
phänomen erklären. Es ist möglich, dass dies richtig ist; 
in dem Fall müsste man am ehesten die Analogie mit ihnen 
in den Cajalschen Gewächsknöspchen an übergeschnittenen 
Achseneylindern sehen oder noch eher die Knospen auf den 
Achseneylindern, die man in der Umgebung der Fischer- 
hedlichschen Plaques!) sieht. Mit ebensoviel Grund muss 
man mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Bildungen mit 
den Endungen der sensitiven Nerven in Muskeln und Sehnen 
analog sind. Und endlich darf man nicht die dritte Möglich- 
keit vergessen, dass es specilische Bildungen sind, die anderer- 
orts überhaupt keine Analogien haben und deren Funktion 


bıs auf weiteres vollständig rätselhaft bleiben wird. 


Kin einziges genetisches Charakteristikum für die Nerven- 
zellen muss gegenüber Achücarro-Sacristän und 
Walter hervorgehoben werden, nämlich dass man, soweit 
sich die Entwickelung der Nervenzellen im Fetalleben ver- 
[folgen lässt, den Eindruck gewinnt, dass sie alle im Zentral- 
nervensystem angelegt sind und dass deshalb keiner derselben, 
trotz ihrer morphologischen Ähnlichkeit, als sympathische 


Nervenzellen aufgefasst werden können. 


Bezüglich der Funktion der Zirbeldrüse kann nur gesagt 
werden, dass das Vorkommen der Nervenzellen, die durch 
Achsencylinder mit dem übrigen Zentralnervensystem in Ver- 
bindung stehen, Ausdruck einer nervösen Funktion der Zirbel- 
drüse sein können, dass sie aber ebensogut ein Ausdruck 


dafür sein können, dass durch eine andere Funktion, z. B. 


') Fischer, Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie. Bd. III. Orig. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zir 


beldrüse d. Menschen. 295 


einer sekretorischen, eine gewisse Nervenwirksamkeit erfordert 
wird. In der Beziehung darf man nicht vergessen, dass in 
einem Organ wie der Nebenniere zahlreiche Nervenzellen ge- 
funden werden (ganz gewiss sympathische), mit sekretorischen 
Zellen untermischt. 

Diejenigen Zellen im Parenchym der Zirbeldrüse, deren 
Stellung sich am schwersten erklären lässt, sind die Pineal- 
zellen. Der Umstand, dass sie weder Nerven- noch Gliazellen 
eleichen, sondern am ehesten ein drüsenepitheliales Aussehen 
haben, trägt dazu bei, dass man an folgenden zwei Möglich- 
keiten denken muss: 

l. Die eine ist die, dass die Pinealzellen eine Art sensitiver, 
pereipierender Zellen sind. Wenn man fragen würde, welche 
Tätigkeit solche sensitive Zellen im Gehirn selbst haben können, 
müsste geantwortet werden, dass sie z. B. Schwingungen im 
Druck der Cerebrospinalflüssigkeit auffassen und dadurch diese - 
regulieren können. Eine Auffassung der Zirbeldrüse als sensitiv 
ist bereits von Max Flesch (1888) geäussert worden. Dass 
diese eine spezielle Relation zur Regulierung des Druckes 
der Cerebrospinalflüssigkeit haben sollte, hat Walter näher 
in einer Arbeit, die uns leider nur im Referat zugänglich 
war, hervorgehoben. Infolge derselben sollte Wal ter seine 
Hypothese auf den Umstand stützen, dass die Zirbeldrüse 
in zwei Fällen von Hydrocephalus pathologisch verändert 
war. Man muss jedoch immer damit rechnen, dass die 
Veränderungen in der Zirbeldrüse durch Hydrocephalus leicht 
sekundär sein können. Die Hypothese ist aber auf jeden Fall 
von Interesse und sollte als eine für experimental-pathologische 
Untersuchungen brauchbare Arbeitshypothese neben der 
anderen, die jetzt erwähnt werden soll, hervorgehoben werden. 

II. Die zweite Möglichkeit ist die, dass die Pinealzellen 
aus einer Art von Drüsenzellen bestehen, solcherweise, dass 


die Zirbeldrüse als eine endocrine Drüse aufgefasst werden 


296 KNUD H. KRABBE, 


muss. Diese Annahme ist jetzt die üblichste; sie stützte sich 
[früher auf das Vorhandensein von Granula (Galeotti), später 
teilweise auf klinische Beobachtungen (Marburg,v.Frankl- 
Hochwart) und in letzter Zeit auf experimentell-physio- 
logische Untersuchungen. 

Wir wollen ausdrücklich hervorheben, dass es auf histo- 
logischem Weg unmöglich ist, zu unterscheiden, ob die Zellen 
von der einen oder der anderen Art sind und ob also die 
Funktion der Zirbeldrüse nervös oder sekretorisch ist. Es 
gibt aber doch Anlass genug, um Betrachtungen darüber an- 
zustellen, was ım Aussehen dieser Zellen resp. mehr auf die 
eine oder die andere Funktion deutet. 

Die Pinealzellen gleichen in ihrem Aussehen weder den 
Zellen der Nebennieren, noch der Parathyreoidea oder der 
Pharynxhypophyse, auch nicht den Zellen im Glomus caroticum 
und Glomus coceygeum. Ihr Aussehen muss jedoch am 
nächsten als drüsenepithelial bezeichnet werden, und sie 
gleichen etwas mehr den sekretorischen Zellen in extern se- 
cernierenden Drüsen, wie Mamma oder Pancreas. Als Kuriosum 
kann angeführt werden, dass sie auch eine gewisse Ähnlich- 
keit mit Carcinomzellen haben. 

Auf der anderen Seite haben die Zellen auch eine gewisse 
Ähnlichkeit mit gewissen sensitiv percipierenden Zellen, wie 
den Geruchzellen in der Geruchschleimhaut (wir sehen davon 
ab, dass diese Ausläufer haben). 

Das Aussehen der Zellen als Gesamtheit entscheidet 
also gar nichts in Beziehung auf eine nervöse bzw. sekre- 
torische Funktion. Das gleiche gilt nach unserer Meinung 
den in den Zellen vorhandenen Granula. Früher sind die 
Verfasser regelmässig zu sehr geneigt gewesen, diese als Be- 
weis für die sekretorische Funktion aufzufassen. Man muss 
aber daran erinnern, dass die Nervenzellen auch gewöhnlich 
Granula (Nisslgranula) enthalten und dass die Granula, welche 


N 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 297 


man (sogar nur nach Alkoholfixierung) im Protoplasma des 
Corpus pineale sieht, unregelmässig und zerfetzt sind, nicht 
kugelrund, wie Drüsengranula es zu sein pfllegen. 

Die Kernexcretion ist auch kein Beweis für eine secre- 
torische Wirksamkeit von seiten des Organes. Ganz gewiss 
hat man Analogien mit einem solchen kernsekretorischen 
Prozess in den Drüsenzellen, z. B. die Hautdrüsen bei Triton 
(Vigier, zitiert nach Gurwitsch) vesiculae seminales beim 
Menschen (Otto Petersen)l); auf der anderen Seite hat 
aber z. B. Achücarro einen ähnlichen Prozess in den 
Nervenzellen eines Ganglioneuroms gefunden. Man darf des- 
halb bis auf weiteres die Kernsekretion nur ais einen eigen- 
tümlichen Stoffwechselprozess betrachten, der innerhalb der 
Zellen vor sich geht, nicht aber als einen Beweis dafür, dass 
sie einen Stoff ausscheidet, der eine Wirkung auf den übrigen 
Organismus hat. 

Die einzige Eigenartigkeit, die man in Beziehung auf die 
Pinealzellen findet, und die scheinbar als Argument für die 
eine Theorie gegen die andere gebraucht werden kann, ist das 
Vorkommen der zahlreichen Amitosen. Diese scheinen näm- 
lich ein Ausdruck dafür zu sein, dass ein stetes Zuerunde- 
gehen und Neubildung von Zellen im Organ geschieht und 
dies hat Analogien in Drüsen, dagegen kaum in nervösen 
Organen, da man unter normalen Verhältnissen nie Amitosen 
in den Nervenzellen oder damit verwandten sensitiven per- 
cipierenden Zellen findet. 

Wir meinen jedoch, dass dies eine Argument zu schwach 
ist, um etwas Bestimmtes darauf zu bauen, und dass die 
Frage über die Funktion. der Zirbeldrüse zuletzt auf experi- 
mental-physiologischem und nicht histologischem Weg gelöst 
werden muss. Was wir in dieser Abhandlung erstrebt haben, 


!) Otto V. C. E. Petersen: Beitr. zur mikrosk. Anatomie der Vesicula 
seminalis. Anatomische Hefte 103. 1907. 


298 KNUD H. KRABBE, 


war auch in erster Linie die Beschreibung des Baues des 
Organes und nicht die Lösung des Problemes über seine 
Funktion. 

Bevor wir schliessen, wollen wir doch noch eine andere 
Frage berühren, nämlich die, ob der histologische Bau .des 
Örganes im grossen und ganzen Anlass zur Vermutung gibt, 
dass er überhaupt eine Funktion hat, oder ob er als ein 
sogenanntes, rudimentäres, degeneriertes oder involutives Organ 
aufgefasst werden muss. 

Auch für keine dieser Vermutungen können sichere Be- 
weise geliefert werden. Wir wollen nur hervorheben, dass 
1. das Parenchym des Organes dauernd in relativ unvermin- 
derter Menge bis ins höchste Alter hinauf besteht und 2. dass 
es eine auffallend komplizierte und differenzierte Struktur aul- 
weist. Hierdurch zeigt es einen Gegensatz zu rudimentären 
Organen, z. B. Paroophoron, welches im Laufe der ersten 
Lebensjahre verschwindet und von indiflerentem Gewebe er- 
setzt wird. 

Die beiden Eigentümlichkeiten, die insonderheit bewirkt 
haben, dass man die Zirbeldrüse als ein Organ in Involution 
aufgefasst hat, ist das Vorhandensein von Concrementen, 
Cysten und Plaques. Was die ersteren betrifft, darf man 
indessen nicht vergessen, dass sie ihr Analogon in den Hirn- 
häuten haben (wo sie in demselben Alter aufzutreten anfangen), 
die wohl kaum jemand als rudimentäre Organe auflassen wird; 
solcherweise könnte man sich eher veranlasst fühlen mit Hans 
Schmidt!) anzunehmen, dass die Concrementbildung eine 
gewisse Relation zur intimen Berührung mit der Üerebro- 
spinalflüssigkeit hat. 

Cysten und Gliaplaques schemen demzufolge, was wir 


über sie in einem früheren Kapitel entwickelt haben, nicht 


1) Schmidt, Hans R., Zur Kenntnis der physiologischen und patho- 
logischen Duraverkalkung. Virchows Arch. Bd. 215. 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 299 


Ausdruck dafür zu sein, dass das Parenchym zugrunde geht 
und von Glia ersetzt wird, sondern eher dafür, dass sich 


ın der Zirbeldrüse ein anderes 


,‚ „rudimentäres“ Organ befindet, 
nämlich das Rudiment des Diverticulum pineale, welches nur 
einen Teil der Anlage der Zirbeldrüse ausmacht. 

Auch nicht diese Bildungen scheinen darauf zu deuten, 
dass das Organ als Gesamtheit rudimentär ist. Man wagt 
höchstens von einer gewissen herabgesetzten Widerstandsfähig- 
keit der Vitalität des Organes zu sprechen; in dem Fall könnte 
möglicherweise die stark variierende Entwickelung des Binde- 
gewebes als Ausdruck für dasselbe aufgefasst werden. 

Der Umstand, dass die Zirbeldrüse bei mehr primitiven 
Tieren scheinbar eine andere, specifische Funktion hat (wie 
bekannt [conf. Studnicka 


‚ ist es homolog mit dem hinteren 
Parietalauge beim Petromyzon, obgleich nicht mit dem 
Parietalauge bei den Sauriern), liefern auch keinen Beweis 
dafür, dass das Organ keine Funktion beim Menschen hat: 
man muss auch mit der Möglichkeit rechnen, dass die Funk- 
tion sich verschoben haben kann. 

Alles in allem liegen also scheinbar keine Beweise dafür 
vor, dass die Zirbeldrüse ein rudimentäres oder funktions- 


loses Organ ist, während ja mehreres auf das Gegenteil deutet. 


Resume. 


Die. Zirbeldrüse ist schon anfangs des 2. Fetalmonats 
angelegt. Die Anlage besteht aus zwei Teilen, einer Falte 
ın das Dach der zweiten Hirnblase und einer Zellenmasse 
vor dieser Falte. Im Verlaufe der Entwickelung wächst die 
Zellenmasse und die Falte wird tiefer, indem sie zur selben 
Zeit sich mit einer dickeren Zellenschicht umeibt. 

Anatomische Hefte. I. Ahteilung. 163. Heft (54. Pd., H. 2). 20 


300 KNUD H. KRABBE, 


Die zwei Anlagen, die vordere und die hintere Pineal- 
anlage, sind anfangs durch eine mit Bindegewebe gefüllte 
Spalte getrennt; im Verlaufe des Fetallebens verschmelzen sie 
aber, indem durch das ganze Fetalleben ein Bindegewebs- 
septum restiert, und zwar da, wo die Spalte zwischen den 
zwei Anlagen gewesen ist. 

Die Ausstülpung vom dritten Ventrikel, welche sich in 
die hintere Pinealanlage hereinstreckt, Diverticulum pineale, 
wird im 6. Fetalmonat entweder ganz oder im mittleren Teile 
verschlossen, so dass der tiefere Teil als eine kleine Höhle 
übrig bleiben kann. Weder das Divertikel noch die Höhle 
zeigen an irgend einem Zeitpunkt verzweigte Ausbuchtungen, 
welche auf einen tubulösen Bau des Organes deuten können. 

Die Zellen, aus denen die zwei Pinealanlagen bestehen, 
sind in den ersten 6 Fetalmonaten gleichartig, rund, mit spar- 
samem Protoplasma; nur die Zellen, welche die Wand des 
Divertikels bekleiden, sind eylindrisch und mit einer Cuticula, 
Kittlisten und Flimmerhaaren bekleidet. Die Zellteilungen ge- 
schehen durch das ganze Fetalleben durch Mitosen. 

Im 6. Fetalmonat beginnen die rundlichen Zellen sich 
in drei verschiedenen Typen auszudifferenzieren, welche die 
Grundlage für die drei Zellarten bilden, aus welchen das Par- 
enchym bei Kindern und Erwachsenen zusammengesetzt ist. 
Zur selben Zeit beginnt ein eigentümlicher Prozess, die Meta- 
morphose, durch welche das Parenchym sein Aussehen ver- 
ändert. Die Zellen bekommen ein grösseres Protoplasma und 
grössere, aber chromatinärmere Kerne. Dieser Prozess tritt 
nicht überall im Organe zur selben Zeit ein, beginnt aber 
fleckenweise und schreitet fort, dadurch, dass die Flecken 
wachsen, wodurch die Schnitte eine charakteristische Zeich- 
nung bekommen, während die Metamorphose andauert. Die 
Metamorphose wird ım Laufe des 1. Lebensjahres abge- 
schlossen. Bei Kindern und jungen Menschen kann man oft 


im Parenchym kleine Zellgruppen sehen, welche keine Meta- 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 301 


morphose durchgemacht, sondern das fetale Aussehen bewahrt 
haben. 

Nach Abschluss der Metamorphose besteht das Parenchym 
der Zirbeldrüse aus drei verschiedenen Zelltypen. Durch Ver- 
gleich von Gliamethoden, Silberimprägnation und Hämatoxylin- 
färbungen kann man konstatieren, dass diese drei Zellarten 
bzw. Gliazellen, Nervenzellen und eine specifische Zellart, 
Pinealzellen sind. 

Die Gliazellen gehören dem faserbildenden Typus an. Sie 
kommen im eigentlichen Parenchym nicht in grösseren Mengen 
vor als an vielen anderen Stellen im Zentralnervensystem. 
Es ist darum kein Grund vorhanden, anzunehmen, dass sie 
eine andere und wesentlichere Rolle spielen als anderswo 
im Zentralnervensystem, so dass die Theorie, dass die Zirbel- 
drüse ein gliöses Organ ist, kaum haltbar ist. 

Die Nervenzellen sind durch einen eckigen, sehr chromatin- 
armen Kern und ein sparsames, stark färbbares Protoplasma 
ohne Nisslgranula charakterisiert. Die von Achücarro- 
Sacriıstän und Walter beschriebenen Endknospen treten 
schon im 1. Lebensjahre auf, ihre Menge nimmt im Laufe 
der Jahre zu. Sie sind, wie diese Verfasser es annehmen, 
wahrscheinlich mit den Cajalschen Wachsknospen verwandt, 
man kann aber nicht ganz die Möglichkeit ausschliessen, dass 
sie eine Art von sensitiven Nervenenden sind. 

Die Ausläufer der Nervenzellen und Gliazellen bilden ein 
fibrilläres Maschenwerk, in welchem die Pinealzellen einge- 
lagert sind. 

Die Pinealzellen bilden die Hauptmasse des Parenchyms. 
Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie rundlich, ohne Aus- 
läufer sind, mit nicht sehr grossem Protoplasma und chromatin- 
armen Kernen, welche vom Abschluss der Metamorphose bis 
zum höchsten Alter viele unregelmässige Formen zeigen. Sie 
zeigen keine morphologische Verwandtschaft mit Gliazellen. 


20* 


302 KNUD H. KRABBE, 

Wie Dimitrova gezeigt hat, finden sich in den Kernen 
der Pinealzellen eigentümliche Bildungen, die Kernkugeln. 

Die Kernkugeln sind an alkoholfixierten Präparaten mit 
basophilen Granula gefüllt, welche,in das Protoplasma ent- 
leert werden, wonach der Kern sich wieder schliesst. Dieser 
Prozess beginnt im Alter von ca. 8 Jahren und erreicht seine 
volle Entwickelung im Alter von 14 Jahren; sie dauert bis 
zum höchsten Alter; ganz ausnahmsweise kann man diese 
Kernexcretion im 1. Lebensjahre sehen, sie ist aber in solchem 
Falle vielleicht ein pathologisches Phänomen. Die Kernexcretion 
findet sich im Parenchym nur in Pinealzellen, nicht in Glia- 
zellen oder Nervenzellen. Dagegen kann sie sich auch in den 
Ependymzellen am Recessus pinealis finden und findet sich 
hier schon in den ersten Lebensjahren. 

Die unregelmässigen Kernformen entstehen nicht nur als 
eine Folge der Kernexceretion, im Gegenteil sieht man sie 
weit früher als diese beginnt, 

Loewys Bezeigung der Sekretcapillaren kann nicht als 
überzeugend angesehen werden. 

Durch die Schliessung des Diverticulum pineale besteht 
der innere (ventrikuläre) Teil, wie von früheren Verfassern 
beschrieben, offen als Recessus pinealis. Dem mittleren ver- 
schlossenen Teil entsprechend restiert ein Gliastreifen, Tractus 
diverticularis, welcher durch das ganze Leben. unverändert 
besteht. 

Der tiefste Teil des Divertikels wird bisweilen ganz ver- 
schlossen; in anderen und sehr häufigen Fällen hält er sich 
offen wie eine oder mehrere Höhlen im Parenchym. Die 
ependymartigen Zellen, welche sich an der Wand oder frei 
in diesen Höhlen befinden, sind wahrscheinlich Parenchym- 
zellen in beginnender Nekrose und nicht Zellen, welche mit 
den Ependymzellen des Plexus chorioideus verwandt sind. 


Die Höhlen sind später von einer Gliaschicht umgeben, 


Histolog. u. embryolog. Untersuchungen über d. Zirbeldrüse d. Menschen. 303 


welche in Dicke zunimmt, so dass die Höhlen bei Erwachsenen 
immer in Gliaflecken liegen. Sie scheinen sich zu vermindern 
und völlig geschlossen werden zu können, und die Gliaflecken 
entstehen wahrscheinlich auf dieser Weise und nicht dadurch, 
dass das Parenchym zugrunde geht und durch Glia ersetzt 
wird. Die Annahme, dass die Höhlen durch zentralen Zer- 
fall der Gliaflecken entstehen, trifft wahrscheinlich nur in 
wenigen Fällen zu. 

Das Bindegewebe in der Zirbeldrüse entwickelt sich 
schon ım 1. Lebensjahre und nimmt in den folgenden zu. 
Schon bei kleinen Kindern kann man vereinzelte dicke Binde- 
gewebesepten sehen. Die Menge des Bindegewebes kann aussr- 
ordentlich variieren; obgleich es im grossen und ganzen mit 
dem Alter zunimmt, kann man doch bisweilen bei alten Indi- 
viduen sehr sparsames Bindegewebe finden und bei grösseren 
Kindern ausserordentlich grosse Mengen. 

Die Bindegewebebildung geht von den Gefässen,. nicht 
von der Kapsel aus. 

Im Bindegewebe findet sich normal von der frühesten 
Kindheit an eine bedeutende Menge Mastzellen. Die von 
Galasescu und Urechia beschriebenen acidophilen: Zellen 
und die von Dimitrova beschriebenen Zellen, welche Vor- 
stadien der Concremente sein sollten, sind wahrscheinlich 
Mastzellen. Das Vorkommen der Pigmentzellen im Binde- 
gewebe muss auch bei Erwachsenen als normal betrachtet 
werden. Abräumzellen sind möglicherweise normal, ihr Vor- 
kommen kann aber auch von Krankheiten bedingt sein. Plasma- 
zellen kann man bei senilen Individuen finden; bei jüngeren 
finden sie sich wahrscheinlich nur bei pathologischen Pro- 
zessen, z. B. bei der progressiven Paralyse. 

Die Conerementbildung beginnt schon im Alter von 6 bis 
“ Jahren; ausnahmsweise kann sie aber (pathologisch ?) im 
2. Lebensjahre auftreten (in diesem Falle zugleich mit der 


304 KNUD H. KRABBE, Histolog. u. embryolog. Untersuchungen ete. 


Kernexcretion). Die Menge der Concremente kann ausser- 
ordentlich variieren, selbst bei senilen Individuen kann ihre 
Anzahl sparsam sein. 

Quergestreifte und glatte Muskulatur ist nicht in der Zirbel- 
drüse des Menschen gefunden worden. 

Die Menge des Parenchyms der Zirbeldrüse nımmt nur 
in geringem Grade von der Kindheit bis zum höchsten Alter 
ab, und das Parenchym verändert sein Aussehen nicht 
wesentlich. ' 

Gliaflecken, Cysten, Bindegewebssepten und Coneremente 
können nicht als Zeichen von Degeneration oder Involution 
der Zirbeldrüse aufgefasst werden, da sie nicht als Folge 
des Zugrundegehens des Parenchyms entstehen, sondern teils 
als relativ selbständige Bildung und da sie teils ihre Analogien 
in anderen, nicht degenerierten Organen (Hirnhäute) finden. 
Es liegen im ganzen keine hinreichenden Gründe vor, die 
Zirbeldrüse als ein rudimentäres Organ aufzufassen. 

Bezüglich der Funktion der Zirbeldrüse sind es im wesent- 
lichen zwei Möglichkeiten, die zu erwägen sind: 

1. Die eine ist, dass die Zirbeldrüse eine Art perzeptives 
Sinnesorgan ist, welches z. B. den Druck der Gerebrospinal- 
flüssigkeit regulieren könnte. 


2. Die andere ist, dass die Zirbeldrüse eine Drüse mit 


» 
innerer Sekretion ist. 

Die definitive Entscheidung dieser Frage kann nur auf 
experimental-pathologischem Wege und nicht durch histo- 
logische Untersuchungen entschieden werden, indem die meisten 
Eigentümlichkeiten im Bau des Organes sich vorläufig sowohl 
durch die eine als auch durch die andere Theorie erklären 
lassen. 

Das Vorkommen der zahlreichen Amitosen deutet doch 


eher auf Sekretion als auf eine nervöse Funktion. 


163. 


128. 


186. 


198. 


293. 


348. 


Verzeichnis über das Material. 


Normale Gruppe I. 


Neugeboren. K. d.: An Geburt gestorben. 8. d.: Nihil. 

d' 11/, Jahre. 7 2. 3. 13. K. d.: Venefieium hydrat. kalie. 8. d.: 
Kauterisatio oesophagi et ventriculi (hydras natrieus). Pneumonia. 

Q 1, Jahre. 7 10. 3. 12. K. d.: Fract. cranii. Contusio cerebri. 
S. d.: Fractur. cranii. Trepanatio. 

& 2 Jahre 76.11.11. K.d.: Fract. cranii. Fract. antibrachii d. 
S. d.: Fract. eranii multiplex, thecae, ossis occipitis, os. temp. d. Contusio 
cerebri. Ecchymoses pleurae utriusque et pulm. d. Haematoma hilus 
hepatis, omenti minoris et mesenterii. Rupt. minima hepatis. Fract. 
antibrachii. 

& 2 Jahre. 7 20. 2. 12. K..d.: Fract. eranii. S. d.: Fract. cranii. 
Contusio cerebri. Fract. cruris d. 

21/, Jahre. 79.1.13. K.d.: Fract. cranii. Moribundus. S. d.: Fract. 
cranüi. Rupt. renis dext. c. hematoma perirenale. Haemorrh. pleurae et 
thymi et renis sin 1. g. Incisio antibrachii. Rupt. hepatis. Contusio 
cerebri. 
essrdahre. 1.14.1211. Rrd.: Praecipitatio. S. d.: Fract. comminut. 
cranii et thecae et baseos. Rupt. hepatis1. g. Rupt. renis et lienis. Haema- 
toma perirenale. Hyperplasia apparat. Iymphat., tract. intestinalis et 
mesenterü. 

o 3 Jahre. + 18.4. 12. K.d.: Contusio abdominis. S. d.: Pneumonia 
hypostatica. Fract. ossis ilei sin. Haematoma perirenale sin. 

& 3 Jahre. +11.5.12. K.d.: Fract. baseos cranii. S. d.: Fract. baseos 
cranii. Contus. lob. front. d. Hxmorrhagia pialis. Rupt. hepatis. Haemo- 
peritonaeum. 

d 3 Jahre. 7 29. 1. 13. K. d.: Fraect. compl. ceranii. S. d.: Fract. 
cranii. Contusio cerebri. Rupt. art. meningeae med. Eechymoses pleur, 
pericardii et perirenales. Anaemia organorum. 

‘g 4 Jahre. 78. 9. 13. K. d.: (Herabgestürzt). Fract. eranii. Mori- 
bundus. S. d.: Fract. eranii. Fract. maxillae inf. Fract. columnae. 
Haemorrh. cerebri Haemorrh. pulm. Rupt. hepatis, pancreatis et lienis. 


341. 


360. 


287. 


338. 


246. 


350. 


Verzeichnis über das Material. 


© 5 Jahre. + 17.1. 12. K.d.: Ruptura hepatis. S. d.: Suggillationes 
parv» cutaneae. Rupt. hepatis. 
{ 6 Jahre. + 21. 4. 13. K. d.: Rupt. hepatis. S$. d.: Rupt. hepatis. 
17 Jahre. + 20. 11. 12. K.d.: Praecipitatio. Fract. variae. (femoris, 
eubiti). 8. d.: Fract. pelvis, femoris d. complicata, cubiti d. costae 
utriusque. Rupt. hepatis et lienis. Haematotorax et haematopericardium. 
© 18 Jahre. + 10.7.13. K.d.: Sublimatvergiftung. Nephritis. Stoma- 
titis. 8. d.: (Intoxicatio chloreti hydrarg. corrosiv.). Nephritis paren- 
chymatosa m. gr. Hypostasis pulm. Colitis 1. g. 
(2 35 Jahre. + 2. 1. 14. K. d.: Ambustio thoracis, extremitatum. 
S. d.: Ambustio thoracis, dorsi, extr. sup. et faciei. Hydrosalpinx sin. 
Pyosalpinx dextr. Oophoritis chron. bilateralis. Pelveoperitonitis chron.). 
JS 35 Jahre. 7 29. 2. 12. K. d.: Vuln. sclopetarium cerebri. 8. d.: 
Vuln. sclopetarium cranii et cerebri. 
539 Jahre. +1.12.12. K.d.: Contusio thoraeis. S.d.: Fract. costarum, 
lateris utriusque. Fract. column». Haematothorax duplex. Pneumo- 
thorax sin. Vuln. perforans pleurae visceralis utriusque. 
5 50 Jahre. + 18. 1. 13. K. d.: Tentamen suicidii (Sublimat). 8. d.: 
(Veneficium chloreti hydrag. corrosivi). Enterocolitis necrotica et ulcerosa. 
Necrosis et uleera mucosa ventrieuli. Laryngitis et pharyngitis. Degene- 
ratio parenchymatosa renum. Scoliosis m. gr. 
S 92 Jahre. +5. 5. 13. K. d.: Coma. Intoxicatio oxyd. carbonic. 
S. d.: Bronchitis purulenta. Bronchopneumoniae confluentes lob. inf. 
utriusque. Perisplenitis chr. Atrophia fusca hepatis et myocardii. Hyper- 
trofia prostatae. Degeneratio parenchymat. organorum. (keine Athero- 
matose, nur ganz leichte Fettdegeneration in Aorta). 


Normale Gruppe II. 


S1Tag. +3. 12.13. K.d.: Ante tempus natus. S. d.: Ante tempus 
natus. Hydronephrosis congenita duplex. 

d 6 Tage. + 11. 10. 12. K. d.: Tetanus (trismus). S. d.: (Tetanus). 
Hyperaemia organorum. Atelectasis pulmonum partialis. Hyperaemia 
meningum. 

512 Tage. +12.6.13. K.d.:Ileus. S.d.: Ocelusio intestini congenit. 
Peritonit. adhaesiva fibrosa. Dilatat. magna partis sup. intest. ilei. 
Enterostomia. Deg. parenchymat. organorum. 

/ 5 Monate. + 26. 12. 12. K.d.: Catarrh. gastrointestinal. subacut. 
Atrophia. Eczema capitis. Tub. miliaris acuta. S. d.: Bronchitis capil- 
laris. Bronchopneum. incipiens. 

O 7 Monate. 5.1.13. K.d.: Labium leporinum.. 8.\d.: Bronchitis 
capillaris. Atelectasis pulmonum. 

7 11 Monate. + 29. 9. 12. K. d.: Meningitis (obs.). Enteritis sub- 
acuta, Albuminuria. S. d.: Gastroenteritis. Colitis. (keine rachitis). 
5 11 Monate. +20.9.13. K.d.: Moribundus. Enteritis. S.d.: Enteritis 
follieularis. 


138. 


313. 


149. 


189. 


359. 


358. 


291. 


250. 


191. 


187. 


Verzeichnis über das Material. 307 


Q 2 Jahre. 76.1. 12. K.d.: Pneumonia lob. inf. sin. Pleuritis sin. 
Bronchopneum. S. d.: Bronchopneumonia pulm. utriusque. Pleuritis 
serofibrinosa. Steatosis hepatis. 

o 5 Jahre. 7 15. 1. 13. K. d.: Pneumonia lobi sup. sin. Cerebralia. 
Meningitis. S. d.: Pneumonia lob. total. sin. Emphysema pulm. d. 
Oedema meningum. Otitis media supp. 

© 8 Jahre. 723.4. 13. K.d.: Moribunda. 8. d.: Bronchitis purulenta. 
Deg. parenchymatosa organorum. Aplasia ceystica renis sin. 

Q 9 Jahre. 719. 9. 12. K.d.: Angina phlegmonosa. Phlegmone colli. 
Oedema glottidis (+ D. B.). S. d.: Angina et laryngitis pseudomembra- 
nacea et gangraenosa. ÖOedema glottidis. Laryngotomia. Adenitis et 
periadenitis coll. Hyperaemia organorum. 

oJ 14 Jahre. } 28. 3. 13. K. d.: Emphysema pleurae d. S. d.: Emphy- 
sema pleurae d. Atelectasis lobi inf. pulm. d. et sin. Oedema pulm. Bron- 
chitis. 

J 14 Jahre. 7 8. 4. 13. K. d.: Agone. Meningitis? Appendicitis? 
S. d.: Ileus. Ruptura mesocoli transvers. Volvolus intest. tenuis. 
Torsio et strangulatio mesenterii. 

o 16 Jahre. 7 31. 1. 12. K. d.: Dilatatio acuta ventriculi. Laparo- 
tomia. 8. d.: Bronchitis purulenta. Aspiratio contenti ventriculi 
Perigastritis fibrinosa. Enteritis follicularis. 

© 22 Jahre. + 23. 4. 12. K. d.: Salpingooophorit. purul. dupl. 8. d.: 
Peritonitis fibrinos. Laparotomia c. salpingooophoreetomia dupl. et 
hysterectomia supravag. uteri. Thrombosis venae iliac. sinistr. Cystitis. 
Putrefactio hepatis et lienis. Hypostasis pulm. 

Q 26 Jahre. } 22. 12. 13. K. d.: Intoxicat. acid. hydrochloric. (sui- 
eidium). Peritonitis. S. d.: Venefic. acid. hydrochlorici. Necrosis 
ventrieuli. Peritonitis diffusa. Pelveoperitonitis chron. Sactosalpinx 
dext. Cystoma ovariü sin. 

S 30 Jahre. } 19. 11. 13. K. d.: Pneumonia sin. 8. d.: Pneumon. 
lobi sup. pulm. sin. (in hepat. tot. gris.) et pulm. dext. totalis (in hepat. 
rubra). Pleurit. fibrinopurul. sin. c. atelectasi lob. inf. pulm. sin. Deg. 
parenchymat. hepatis et lienis. 

d’ 34 Jahre. 7 21.1. 13. K. d.: Retentio gastrica. Vomitus. 8. d.: 
Hypostasis pulmonum. Gastrojejunostomia. Scoliosis. 

d 53 Jahre. 7 14. 10. 12. K.d.: Veneficium veronali. 8. d.: (Vene- 
ficium veronali). Oedema pulm. s. Pneumonia croup. l. s. a. et pleurit. 
l.s. a. Pleuritis adhaesiva fibrosa d. Atherosel. aortae 1. g. Cholelithiasis 
c. hydropo. Atrophia renis senilis incip. Fibromata uteri. Deg. paren- 
chymatosa organorum. 


SQ 


Gruppe III (gemischt). 


02 Monat. 71.5. 12. K.d.: Catarrh. intestin. subacut. Atrophia. 8. d.: 
Atrophia universalis. Colitis follicularis. 

o& 4 Monate. 7 20.4. 12. K.d.: Bronchitis capillaris. S. d.: Broncho- 
pneumonia. Rachitis 1. g. 


308 


134. 


178. 


141. 


206. 


152. 


144. 


308. 


145. 


Verzeichnis über das Material. 


7 Monate. 74. 1. 11. K. d.: Bronchitis capillaris. Bronchopneu- 
monia. Convulsiones. Tumor lienis. Rachitis. Dermatitis. 8. d.: 
Rachitis. Dermatitis. Pleuritis adhaes. l. g. Bronchopneumoniae pulm. 
utriusque. 

5 8 Monate. 7 22. 3. 12. K. d.: Atroghia. Catarrh. intestinalis. Tumor 
lienis. Hamaturia (haemoglobinuria). Albuminuria. S. d.: Nephritis 
acuta haemorrhagica. Rachitis. 

© 11 Monate. 717.1.12. K.d.: Bronchitis. Enteritis. Otitis. Nephritis 
acuta. Uraemia? S. d.: Bronchitis purulenta. Rachitis. Otitis media 
dextra. 

@ 1 Jahr. 78. 6. 12. K. d.: Abscessus colli. S. d.: Focus caseosus 
solitarius cerebri lobi frontalis sin. c. emollitione. Glandulae tuber- 
culosae caseosae regionis lateralis colli dextr. 

53 11/, Jahre. 7.14. 12. 12. K. d.: Gastroenteritis. Bronchitis. Tubk. 
miliaris? Otitis. 8. d.: Atelectasis pulm. partial. Bronchopneum. 
Steatosis hepatis m. g. Hyperplasia acuta lienis. Otitis med. dupl. 
Degenerat. parenchymat. renum. Genu varum. 

2 4'/, Jahre. 76.2.12. K.d.: Pneumonia. Pneumothorax. Emphysema 
sub. cutan. 8. d.: Tub. miliaris universalis. Focus caseos. lob. sup. d. 
Degeneratio caseosa gland. bronchial. d. Perforatio bronchi d. per glandul 
bronchial. Emphysema mediastin. et subeut. Pneumothorax d. Ulcera- 
tiones parvae intestini. 


o 7 Jahre. 721.1.12. K.d.: Ehe 24 Stunden gestorben. S.d.: Endo- 
carditis verrucosa ulcerativa mitralis, Valvul. aortic. et tricusp. Peri- 
carditis serofibrinosa (Cor villosum). Infarct. pulm. utriusque. Bronchitis 
purulenta. Hyperplasia lienis. 

2 12 Jahre. 7 7. 12. 13. K. d.: Osteomyelitis femoris acut. 8. d.: 
Östeomyelit. femoris. Pyarthron genus. Deg. amyloid. lienis et intestini. 
Steatosis hepatis. Deg. adiposa renum. Hydrothorax. Anaemia. 
‘15 Jahre. 7 21.7. 12. K.d.: Pneumonia chr. $. d.: Arthroit. artic. 
sacroiliac. sin. Periostit. purul. ossis ilei. Infarct. septie. pulm. utriusque. 
Pleuritis fibrinosa. Hyperplasia lienis. Deg. parechymat. organorum. 
o 17 Jahre. 79.8. 12. K.d.: Fract. complicata eranii. (Vuln. sclope- 
tarium). Encephalitis. S. d.: Abscessus cerebri. Hemiplegia d. Pro- 
lapsus cerebri e. vuln. scolpetar. 

© 20 Jahr. 76. 3. 13. K. d.: Dementia praecox. Veneficium acid. 
hydrochlorice. S. d.: Cauterisatio pharyngis, oesophagi et ventrieuli 
(Acidum hydrochloriecum). 

0 22 Jahre. 7 23. 1. 12. K. d.: Pyarthron genus (sepsis, pyaemia). 
Mb. mentalis. S. d.: (Septikaemia). Pyarthron genus sin. Broncho- 
pneumonia et Bronchitis purul. duplex. Hyperplasia lienis. Steatosis 
hepatis. Deg. parenchymatosa renis. Decubitus. Deg. adiposa myo- 
cardii 1. g. Perisalpingitis chr. adhaes. s. Anaemia. Thrombosis v. femoral. 
utriusque. 

Q 24 Jahre. 715. 3.12. K.d.: Phthisis dupl. total. sin. S. d.: Phthisis 
pulm. inprimis sin. Ulcera tubereul. intestini. Appendicitis ulcerosa. 


223. 


349. 


197. 


254. 


161. 


305. 


139. 


za 


148. 


Irfzk 


Verzeichnis über das Material. 309 


Periappendieitis fibrinosa. Steatosis hepatis. Oystitis biliosa e. caleulo 
hepatis. 

© 24 Jahre. + 15. 7. 12. K.d.: Suicidium (Salzsäure). S. d.: Corrosio 
tract. dig. inprimis ventriculi. Metritis, Perimetritis et Perisalpingitis 
chr. adhaesiva. Focus tubere. vetus pulm. d. Cholelithiasis. 

26 Jahre. + 19. 12.12. K.d.: Vulnus ineisum antibrachii sin. Vuln. 
ineis. mentis. Suieidium. 8. d.: Degeneratio myocardii. Tub. vetus 
pulm. Deg. organorum. 

JS 27 Jahre. + 15. 9. 13. K.d.: Delirium tremens. Eclampsia. 8. d.: 
Steatosis hepatis. Degeneratio parench. renum et myocardii. Lepto- 
meningitis chr. 1. g. 

JS 34 Jahre. }12.5. 12. K.d.: Tumor testis c. metastas. . d.: Cancer 
pulm. d. lob. sup. et pleurae d. Metast. ad pulm. s. et hepatis, Gl. supra- 
renal., Gl. Ilymph. thorac. et Hilus hepat. et durae matris. Hyperplasia 
lienis. Hydrocele testis d. Hernia ing. 

S 34 Jahre. + 26. 10. 12. K.d.: Delirium tremens. Febrilia. Pneu- 
monia? 8. d.: Hypostasis pulm. et stasis organorum 1. g. Steatosis 
hepatis. 

cd 38 Jahre. } 16. 2.12. K.d.: Tub. pulm. Deliria in extremis. 8. d.: 
Tub. pulm. cavernosa utriusque. Ulcera tubere. intestini et laryngis. 
Steatosis hepatis. 

© 42 Jahre. + 28. 2.13. K.d.: Deg. psychopathica. Tentamen suieidii 
(Intoxic. oxyd. carbonie.), Ambustio. Stupor. Bronchopneumonia. 
S. d.: Oedema meningum. Stasis organorum. Selerosis art. coronariae 
cordis. Fibromata uteri. Pleuritis fibrosa adhaesiva s. Emphysema pul- 
monum. 

E5oahre, 1.97 LP yaRen.dE: Aleoholismus chr. Icterus febrilis. 
(Atrophia hepat. acut.?) Nephritis. Anuria. Uraemia (Sepsis bac. coli 
sive streptococe.). $. d.: Pneumonia hypostatie. 1. g. Absc. hepat. 
Steatosis hepat. Hyperplasia lienis. Nephritis parench. Fibroma parvum 
renis d. Diverticulum Meckelii. 

553 Jahre. #12.3.12. K.d.: Ale. chr. Pneumonia lob. sup. d. Catarrh. 
apie. sin. Icterus gravis. Albuminuria. Nephritis acuta. Coma. Convul- 
siones. S. d.: Pneumonia lob. inf. d. Tub. vetus apie. utriusque. Cir- 
rhosis1. g. hepatis. Ieterus universalis. Nephritis parench. acuta. Hyper- 
plasia lienis. Orchitis fibrosa. Laryngitis chr. 

oJ 55 Jahre. + 28. 1. 12. K. d.: Cancer oesophagi c. stenosi. Paralysis 
nerv. recurrent. sin. Gangraena pulm. d. Anaemia. Seq. ule. eruris. S.d.: 
C. oesophagi ce. perforatione ad bronchum d. Bronchopneum. dupl. Focus 
tub. vetus apie. sin. Bronchitis purul. Pleuritis adhaes. vetus. Arterio- 
sclerosis. Myocarditis fibrosa 1. g. Hyperplasia acuta lienis. Stasis 
renum. Steatosis hepatis l. g. 

© 66 Jahre. + 19. 3. 12. K. d.: Osteosarcoma costae. Cancer coli? 
C. metastas. multipl. Decubitus. S. d.: C. coeci ce. perforat. in colon 
et in ileum. Metast. ad gland. retroperiton. et gland. suprarenal. ad 
pulmones et ad cutem. 


310 
203. 


195. 


233. 


all. 


295. 


Verzeichnis über das Material. 


>? 67 Jahre. 71.6. 12. K.d.: Cancer abdominis. S. d.: Cancer ovarii 
et abdominis. Cystis ovarii sin. Embolia art. pulm. Stasis hepatis 
et renum. Emphysema pulm. Sclerosis art. coronarii. 

72 Jahre. 7 10. 5. 12. K.d.: Senilia. Arteriosclerosis. Bronchitis 
chr. Albuminuria. Pleuritis dupl. (seq. pneumoniae). S. d.: Pleuritis 
dupl. adhaesiva et exsudativa. Compressio pulm. c. induratione et 
carnificatione. Cicatrices ventrieuli ce. stenosi. Arteriosclerosis. Bron- 
chitis purul. Tub. vetus ce. carnificatione. Tub. miliaris organorum. Tub. 
caseosa salpingum. Endometritis tub. Atrophia arteriosclerotica lienis et 
renum. Stasis organorum. 
© 74 Jahre. 7 7. 8. 12. K. d.: Commbotio cerebri. S. d.: Haemorrh. 
cerebri. Bronchopneumonia et pleurit. fibrinosa. Emphysema. Tub. vetus 
apicis utriusque. Pleuritis adhaesiva fibrosa dupl. 1. g. Arteriosclerosis. 
Atrophia renum arteriosclerotica. Cystopyelitis purul. Cystoma ovarii. 
Haematoma capitis. 

5 86 Jahre. + 16. 3. 13. K.d.: Hypertrophia prostatae. Tumor ab- 
dominis. S. d.: Abscessus perirenalis d. Pyelonephritis purul. Broncho- 
pneumonia. Atrophia prostatae. 

© 92 Jahre. + 1.3.12. K. d.: Dementia senilis (Bronchopneumonia). 
S. d.: Cicatrix ventrieuli. Pneumoria crouposa lobi sup. Emphysema 
pulm. Myocarditis fibrosa. Thrombosis aortae. Polypus uteri. Cystoma 
ovarii sin. Arteriosclerosis renum. 

E95 Jahre. 7 4.2.213. Kl Gangraena senilis eruris sin. S. d.: Dege- 
neratio myocardii. Arteriosclerosis. Hypertrophia cordis. Emphysema 
et oedema pulm. Atrophia et eystes renum. Hypertrophia prostatae. 
Thrombosis art. iliacae ext. sin. Gangraena pedis et cruris sin. Erosio 
ventrieuli c. haemorrh. Encephalomalacia. 


a3: 


*6, 


210: 


1le 


Literaturverzeiehnis. 


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37. 


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Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2\. 21 


+94. 


96. 
97. 


98. 


9% 


100. 


Literaturverzeichnis. 


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IV. Übersichtsartikel. 


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Krabbe, Knud H., Corpus pineale. En Oversigt. Ugeskrift for Lager, 
Kopenhagen 1911. 

Marburg, Otto, Die Zirbeldrüse. Ergebnisse der inneren Medizin und 
Kinderheilkunde, 1912. 

Münzer, Arthur, Die Zirbeldrüse. Berliner klinische Wochenschrift, 
1911. 


K. d. = Klinische Diagnose. S. d. = Sektionsdiagnose. 
Ein Stern vor der Zahl bedeutet, dass die Abhandlung uns nur im Referat 


zugänglich gewesen ist. 


Der anatomischen Literatur ist nur entnommen was den Menschen und 


einige andere Säugetiere betrifft. Rücksichtlich der niedrigen Wirbeltiere 
weisen wir auf die Arbeit Studnitkas hin. 


Der pathologisch-anatomischen Literatur sind nur einzelne Abhandlungen 


entnommen, übrigens weisen wir auf die Abhandlung Pappenheimers hin. 


Literatur, welche nicht direkt die Zirbeldrüse betrifft, ist in den Fuss- 


noten beigefügt. 


—— nn 
ie x 2 


Figurenerklärung. 


Fig. 1. Anlage der Zirbeldrüse aus der Mitte des zweiten Fötalmonats. 
Hansens Eisenhämatein. Vergr. 100 mal. 
Fig. 2. Anlage der Zirbeldrüse aus der Mitte des dritten Fötalmonats. 
Hansens Eisenhämatein. Vergr. 100 mal. 
Fig. 3. Anlage der Zirbeldrüse aus dem Anfang des vierten Fötalmonats. 
Hansens Eisenhämatein. Vergr. 100 mal. 
Fig. 4. Anlage der Zirbeldrüse aus dem Anfang des fünften Fötalmonats. 
Hansens Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 100 mal. 
Fig. 5. Anlage der Zirbeldrüse aus dem Anfang des sechsten Fötalmonats. 
Toluidinblau. Vergr. 50 mal. 
Figg. 1—5. 
a) Embryonales Bindegewebe. 
b) Vorderste Pinealanlage. 
c) Commissura posterior-Anlage. 
d) Divertieulum pineale. 
e) Ependym im Processus suprapinealis. 
f) Flimmerhaare. 
g) Abgeschlossener Boden des Diverticulum pineale. 
h) Commissura habenularum-Anlage. 
k) Gefässe. 
m) Mitosen. 
p) Plexus chorioideus. 
s) Die Spalte zwischen der vordersten und hintersten Pinealanlage. 
t) Cylinderförmige Verlängerung der Commissura habenularum- 
Anlage. 
u) Kissenförmige Auswucherungen von der Divertikelwand. 


Fig. 6. Pinealzellen (Bienenwabenstruktur) eines 7jährigen. Golgi-Im- 
prägnierung. Vergr. 500mal. _ 

Fig. 7. Parenchym (Nerven- und Pinealzellen) eines 29jährigen. Biel- 
schowsky- Imprägnierung. Vergr. 1000 mal. 

Fig. 8. Gliaplaque mit Kalkkörnern. Bielschowsky-Imprägnierung. 
Vergr. 1000 mal. 

Fig. 9. Parenchym eines 3jährigen. Alzheimers Säurefuchsin-Licht- 
grün. Vergr. 650 mal. 


21* 


318 Figurenerklärung. 


Fig. 10. Parenchym und Rand eines Bindegewebeseptums eines 55 jährigen. 
Alzheimers Säurefuchsin-Lichtgrün. Vergr. 650 mal. 

Fig. 11. Parenchym und Rand einer Gliaplaque eines 22jährigen. Alz- 
heimers Säurefuchsin-Lichtgrün. Vergr. 650 mal. 

Fig. 12. Bindegewebeseptum mit Wanderzellen eines 74jährigen. Tolui- 
dinblau. Vergr. 700 mal. 


Fig. 13. Bindegewebeseptum mit Mastzellen eines 1?/,jährigen. Toluidin- 
blau. Vergr. 700 mal. 


Fig. 14. Pinealzellen an verschiedenen Stadien der Kernexcretion. Unna- 
Pappenheims Karbolmethylgrün-Pyronin. Vergr. 800 mal. 

Fig. 15. Gliazelle eines 22jährigen. Golgi-Imprägnierung. Vergr. 
300 mal. 

Fig. 16. Nervenzelle von Pinealzellen umgeben, bei einem 7jährigen. 
Golgi-Imprägnierung. Vergr. 500 mal. 

Fig. 17. Nervenzellen mit Nervenfäden bei einem 50jährigen. Cajal- 
Imprägnierung. Vergr. 250 mal. 

Fig. 18. Bindegewebeseptum mit Nervenendknöspchen bei einem 17 jäh- 
rigen. Walter-Imprägnierung. Vergr. 700 mal. 

Fig. 19. Der Rand des Parenchyms mit Nervenendknöspchen bei einem 
l4jährigen. Walter-Imprägnierung. Vergr. 700 mal. 

Fig. 20. Parenchym eines 29jährigen. Bielsechowsky -Imprägnierung. 
Vergr. 500 mal. 


Figg. 6—20. 

a) Plasmazellen. 

b) Bindegewebskerne. 

c) Bindegewebsfäden. 
d) Pigmentzellen. 

e) Endknöspchen. 

f) Kalkkörner. 
g) Gliazellen. 
h) Gliafäden. 

i) Nervenfäden. 
k) Gefässe. 

l) Lymphocyten. 
m) Mastzellen. 
n) Nervenzellen. 

o) Protoplasmatisches Netzwerk zwischen den Pinealzellen. 
p) Pinealzellen. 

q) Unregelmässige Pinealzellen. 

r) Kernkugeln. 

s) Kernkugeln im Begriff ausgestossen zu werden. 
t) Granula im Boden eines eingekerbten Kernes. 


Fig. 21. Anlage der Zirbeldrüse, aus dem Anfang des zweiten Fetal- 
monats. Hansens Hämatoxylin. In F und O sind die fehlenden Partien 


Figurenerklärung. 319 


Ausdruck für Defekte in den Präparaten. Die Figurbezeichnungen sind die- 
selben wie in Fig. 1—5. 

Fig. 22. Anlage der Zirbeldrüse, Commissura posterior und Vierhügel 
bei Feten aus dem Anfang des zweiten Monats, aus der Mitte des zweiten 
und Mitte des dritten Monats; die Figuren sollen die Reduktion der Anlage 
der Commissura posterior illustrieren, l ist das Dach der dritten Hirnblase 
(Vierhügelanlage), die Figurbezeichnungen sind übrigens dieselben wie Figg. 1—5. 
A entspricht Fig, 21H und B Fig, 1. Alle drei Figuren sind ca. 20 mal 
vergrössert. 

Fig. 23. Parenchym mit Proparenchymnetzwerk eines 1!/, Monate alten 
Kindes. Hansens Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal. 

Fig. 24. Parenchym eines ljährigen Kindes. Zahlreiche kleine Höhlen. 
Hansens Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal. 

Fig. 25. Parenchym eines 66jährigen. Hansens Eisenhämatein und 
Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal. 

Fig. 26. Starke Septumbildung bei einem 12jährigen Kind (Osteo- 
myelitis).. Hansens Hämatoxylin. Vergr. 125 mal. 

Fig. 27. Parenchym mit sparsamem Bindegewebe bei einem 92jährigen. 
Hansen Eisenhämatein und Pikrofuchsin. Vergr. 125 mal. 

Fig. 28. Parenchym eines 3jährigen Kindes, Hansens Eisenhämatein 
und Pikrofuchsin. Vergr. 200 mal. 


Figg. 1—22 sind vom Verfasser verfertigte Zeichnungen. Figg. 23—28 
sind Mikrophotographien, welche am Pathologisch-anatomischen Institute der 
Universität Kopenhagen (Direktor Prof. Fibiger) von Prosektor Dr. H.C. Hall 
ausgeführt sind. Die Negativen der Lichtdrücke Figg. 1—8 und 23—28 sind 
bei Lagrelius und Westphal, Stockholm hergestellt. 


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AUS DER MEDIZINISCHEN KLINIK DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN. 
DIREKTOR: PROF. DR. Kn. FABER. 


ÜBER DEN BAU UND DIE ENTSTEHUNG 
DER HAUSTRA COLL. 


VON 


Th. E. HESS THAYSEN, 


PRIVATDOZENT AN DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN. 


Mit 15 Figuren im Texte. 


EN I 


PT: 


Über den Bau der Haustra coli findet man in den grösseren 
Anatomien (Luschka,Henle, Testut, Poirier, Quain) 
fast dieselbe Beschreibung, und die herrschenden Anschauungen 
über die Entstehung dieser Gebiete stimmen genau miteinander 
überein: eine Änderung hierin scheint auch innerhalb der 
letzten Dezennien nicht eingetreten zu sein. 

Jetzt dürfte aber die Zeit gekommen sein, in der eine 
Nachprüfung der herrschenden Auffassungen dringend erforder- 
lich wird, weil wir nun mit Hilfe der Röntgenstrahlen imstande 
sind, das Aussehen des lebenden Diekdarms zu studieren. 


Bei der Röntgenuntersuchung mehrerer ganz normalen 
Individuen fiel es mir auf, wie wenig der Bau des Colon, wie 
wir ihn am Röntgenschirm sehen, mit der anatomischen Be- 
schreibung übereinstimmte. Es wurde deshalb meine Aufgabe, 
auszufinden, worin der Umstand besteht und wie er zu er- 
klären sei. 

Das beste Objekt zum Studium des Baues der typischen 
Haustra coli bildet die Mitte des Transversums. Die haustrale 
Segmentation des Colons ist hier am schönsten ausgebildet 
und überdies ist diese Stelle die einzigste, wo man sie mit 
Erfolg im Röntgenbild untersuchen kann. 

Wie Fig. 1, die einen Gipsabguss eines unfixierten Darmes 
darstellt, zeigt, ist ihr Aussehen hier etwa folgendes. Von 
vorne gesehen sieht man zwei Reihen Haustra durch die 


324 TH. E. HESS THAYSEN, 
Taenia ant. getrennt, die Haustra liegen eng aneinander gepresst, 
nur durch schmale Furchen voneinander getrennt, die den 
Plicae semilunares entsprechen. Man sieht deutlich, dass die 


Haustren von sehr verschiedener Breite sind, und dass einem 


Haustrum in der obersten Reihe keines ın der untersten ent- 


Rio, 1. 


Gipsabguss eines unfixierten Transversums (von vorne gesehen). 


Fig. 2. 
Gipsabguss eines unfixierten Transversums (von hinten gesehen). $ 


spricht, mit anderen Worten, die Plicae seminulares stehen 
nicht senkrecht übereinander. Von hinten gesehen, Fig. 2, 
finden wir die Reihe kleinerer Haustra zwischen der Taenıa 
omentalis und mesocolica, nach unten sieht man die unterste 


Reihe zwischen Taenia mesocolica und anterior und nach oben 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 325 


unterscheidet man die oberste Reihe von Haustra, die zwischen 
Taenia anterior und omentalis liegt. Auch hier korrespondieren 
die Haustren weder in Grösse noch in Stellung mit denen 
der anderen zwei Reihen, sie scheinen dagegen ganz unabhängig 
voneinander gebildet zu sein. 

Wenn man einen solchen Gipsabguss röntgenphotographiert, 
erhält iman folgendes Bild (ventro-dorsaler Strahlengang), Fig. 3. 
Die beiden vordersten Haustrareihen treten scharf hervor, durch 
deutliche Furchen getrennt, die dem Sitz derjenigen Plicae 


; EN EEE a 


Fig. 3. 
Röntgenphotographie des Gipsabgusses. 


seminulares entsprechen, welche die einzelnen Haustren trennen, 
deren Grösse im übrigen eine sehr wechselnde ist. In den helleren 
interhaustralen Furchen wird man leicht einige schwächere 
Schatten nach unten oder oben gegen die Mittellinie bemerken, 
welche von den Haustra in der hintersten Reihe herrühren, 
was der Gipsabguss deutlich zeigt. Ferner sieht man einige 
dünne grauliche Streifen in den kompakten Schatten der vor- 
dersten Haustren, die nicht in Verlängerung der Furchen 
zwischen diesen stehen, sondern im Gegenteil einigermassen 
mit ihnen alternieren. Diese feineren Streifen rühren von den 
Plicae seminulares her, die zwischen der hintersten Reihe 
von Haustra gefwnden werden. Wir sind also nicht allein 


326 TH. E. HESS THAYSEN, 


imstande die beiden vordersten Haustrareihen zu sehen und 
den Sitz derjenigen Plicae anzugeben, welche sie trennen, 
sondern wir können sogar die hinterste Reihe der Haustren 
in den Zwischenräumen zwischen den beiden anderen und 


Fig. 4. 


ihre Plicae seminulares unterscheiden. Wir finden also genau 
das von den Anatomen beschriebene Aussehen der Haustra coli. 

Zum Studium der Haustren des lebenden Darmes eignet 
sich, wie erwähnt, die Mitte des Transversumschattens am 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 327 


besten. Begrenzt man seine Untersuchungen zu dieser Partie, 
findet man folgendes (Fig. 4). 

Was vor allem im Röntgenbild der Haustra coli an dieser 
Stelle, wie übrigens überall, wo man imstande ist, sie bei 
der Röntgenuntersuchung zu studieren, sofort imponiert, ist, dass 
nur 2 Reihen gefunden werden, eine, die sich nach oben und 
eine, die sich nach unten wendet, während wir auf der Röntgen- 
photographie des Gipsabgusses alle 3 Reihen nachweisen 
konnten. Dass die hinterste Reihe der Haustra nicht unter- 
schieden werden kann, muss darauf beruhen, dass ihr Schatten 
vollständig mit der Mittelpartie des Colonschattens und den 
Schatten der übrigen Haustra zusammenfällt. 

Die hinterste Haustrareihe des Transversums ist nach 
oben und rückwärts gekehrt und muss deshalb auf der Rönt- 
genplatte mit der Zentralachse, d. h. dem mittelsten Gürtel 
des Colonschattens, wovon die Haustra anscheinend auslaufen, 
und der obersten Haustrareihe zusammenfallen. Dass dies 
wirklich der Fall ist, kann man ein seltenes Mal an besonders 
guten Röntgenbildern sehen. Man sieht dann nämlich, dass 
die zentrale Partie der Haustraschatten in der obersten Reihe 
kräftiger ist als die periphere, ja zuweilen gelingt es eine 
ziemlich deutliche, nach oben konvexe Grenze zwischen diesen 
beiden Partien (siehe Fig. 4) zu Sehen. Dass die Reihe der 
hintersten Haustren so leicht verborgen wird, ist zum Teil 
darin begründet, dass sie weniger wohlentwickelt sind als 
die der beiden anderen. 

In der untersten Reihe habe ich nie eine ähnliche Teilung 
der Schatten der einzelnen Haustren beobachtet. 

Es ist ganz unmöglich die hintersten Haustren bei der 
Röntgenuntersuchung deutlicher zum Vorschein zu bringen. Mit 
einem ventro-dorsalen Gang der Röntgenstrahlen (d. h. wenn das 
Individuum die Ventralseite gegen die Röntgenlampe kehrt) 
erhält man dasselbe Bild wie bei dem dorso-ventralen, und 


328 TH. E. HESS THAYSEN, 


es ist mir auch nicht gelungen die hinterste Reihe von Haustren 
zu sehen, wenn das Individuum auf die Weise hingestellt 
wurde, dass die Strahlen seinen Körper in einer mehr oder 
weniger ausgesprochenen schrägen Richtung passierten. 

Wie aus Fig. 4 hervorgeht, stehen die Haustren der 
obersten und untersten Reihe gerade übereinander und dem 
oben Entwickelten zufolge, müssen die hintersten Haustren 
im gleichen Plan wie diese beiden stehen. Hieraus folgt aber, 
dass die Plicae semilunares in allen 3 Haustrareihen in Ver- 
längerung voneinander auf demselben Querschnitt des Colon 
stehen müssen und nicht alternierend zerstreut 
sind, wie esin den Anatomien angegeben wird. 
Dem entspricht auch, dass man auf dem Röntgenbild des 
lebenden Colons die helleren Streifen in den kompakten 
Schatten der Haustra nicht wiederfindet, wie auf dem Röntgen- 
bild des Gipsabgusses (Fig. 3). 

Ausserdem wird man sehen, dass die Grösse der Haustra 
von Querschnitt zu Querschnitt in der oberen Reihe ungefähr 
dieselbe ist wie die der unteren, während sie im ganzen 
oft an Höhe und Breite abnehmen, je näher sie gegen die 
Flexura sin. hinaufrücken. Der Abstand zwischen den einzelnen 
Haustren ist gewöhnlich ungefähr der gleiche und entspricht also 
der Breite der Plicae semilunares. 

Das Transversum ist solcherweise im Röntgenbild ganz 
regelmässig gebaut; es ist, was man isomorph haustriert nennt 
(Katsch). Eine solche isomorphe Haustration fand ich bei 
allen meinen 16 normalen Versuchsindividuen und bei Pa- 
tienten mit leichteren Darmstörungen wird sie in der weitaus 
grössten Anzahl von Fällen wiedergefunden. Es ist mir nicht 
selten gelungen, bei 4 oder 5 Untersuchungen desselben nor- 
malen Individuums, mit 2stündigen Zwischenräumen jedesmal 
die gleiche isomorphe Haustration zu finden. 

Man hat das Röntgenbild des normalen Colon transversum 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 329 


mit einer Reihe auf eine Schnur gezogene Feigen verglichen. 
Das Bild ist ziemlich illudierend, man darf aber nicht ver- 
gessen, dass ein Querschnitt durch den Colon nicht rund wie 
eine Feige ist, sich aber dem oben Gesagten nach weit eher 
der Form des Kleeblattes nähert (s. Fig. 5). 


Der Unterschied zwischen dem Colon transversum in der 
Leiche und im Röntgenbild ist auch in Betreff des einzelnen 
Haustrums sehr auffällig. In der Leiche sind die Haustren 
bald breite, bald schmale von etwas viereckiger Form und nur 
durch schmale Zwischenräume voneinander getrennt. Im Rönt- 
genbild haben sie ein weit schlankeres Aussehen, sind oft 


Taenia omentalis 


Taenia libra- — — 


\] . 
Taenia meso- 
colica 


Fig. 5. 


Schematischer Querschnitt durch die drei Haustrenreihen. 


in ihrer ganzen Länge fast gleich breit, oder aber an der 
Spitze breiter als an ihrer Basis, so dass sie anscheinend 
petiolat sind. Die Furchen zwischen den Haustren, die den 
Plicae seminulares entsprechen, sind in der Regel im Röntgen- 
bild breiter als in der Leiche und oft breiter gegen die Zentral- 
achse zu, d. h. an ihrem freien Rand als an ihrer Basis, 
während den anatomischen Beschreibungen dieser Bildungen 
nach das umgekehrte der Fall sein müsste. 


Über die Weise, auf welche die Haustren gebildet werden, 
sind die Anschauungen völlig übereinstimmend. Am deut- 
lichsten drückt Poirier sich aus: „Die Bildung der Haustra 
werden von den 3 muskulösen Bändern (den Tänien) verursacht, 


330 TH. E. HESS THAYSEN, 


die kürzer sind als die Längsachse des Darmes, und die ihn 
zwingen sich hier und da in Falten zu legen.“ Wenn die Tänien 
durchgeschnitten werden, werden die Haustra ausgewischt und 
das Colon bildet ein Zylinderrohr wie der Dünndarm. Ein 
anderes Moment, das zur Bildung der Haustren mitwirkt, ist 
eine Ausdehnung des Darmes; Henle sagt hierüber etwa 
folgendes: ‚In kontrahiertem Zustand liegen die Wände un- 
regelmässig gefaltet und lassen sich an jeder Stelle glatten ; 
in aufgeblähtem Zustand buchtet die Wand sich zwischen 
den Tänien aus, die Plicae werden gespannt und verteilen 
sich in einigermassen regelmässigen Abständen von 11/, bis 
3 cm.“ | | 

Nach Bromann entwickeln sich die Haustren auf folgende 
Weise: Bis zur Geburt bildet gewöhnlich die Längsmuskulatur, 
auch im Colon, eine kontinuierliche Schicht. Durch die im 
extrauterinen Leben folgende Ausdehnung des Organs wird 
diese Muskelschicht in 3 längsverlaufende Bündel zerspalten, 
die durch beständig wachsende Zwischenräume voneinander 
getrennt werden. Die endliche Lage dieser Tänien wird bereits 
im 4. Embryonalmonat durch gefässreiche Mesenchymver- 
dickungen markiert. Die zwischen den Tänien liegenden Wand- 
partien des Colons sind bedeutend dünner und gegen Druck 
weniger widerstandsfähig und werden deshalb bedeutend stärker 
ausgedehnt als diese. Diese Ausdehnung findet sowohl in 
der Längs- wie in der Querachse des Darmes statt. Da in- 
dessen die Tänien andauernd zu kurz sind, müssen die zwischen- 
liegenden Darmpartien sich quer falten. Auf diese Weise ent- 
stehen die Haustra coli. Die erwähnten Querfalten entsprechen 
also den Plicae seminulares. 

Es kann sodann kaum einem Zweifel unterliegen, dass 
die herrschende Auffassung über die Bildung der Haustra, 
die ıst, dass dieselben entstehen, sobald das Colon ausge- 
dehnt wird, weil die Tänien kürzer sind als das Darmrohr 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 331 


selbst, welches deshalb während der Ausdehnung sich quer 
falten muss. Ich habe den Eindruck erhalten, dass man im 
allgemeinen annimmt, dass diese Haustra permanente, unver- 
änderliche Bildungen sind, ich habe aber keine klar ausge- 
sprochene Anschauung hierüber gefunden, Sappey analogi- 
siert sie mit partiellen Divertikeln, offenbar betrachtet er sie 
dann als unveränderliche und permanente. 

Von der anatomischen Beschreibung der Haustra coli aus- 
gehend, versteht man recht gut, dass man zu dieser Auffassung 
ihrer Bildung gelangt ist. Ihre plumpe Form, ihre schlechte 
gegenseitige Abgrenzung, ihre unregelmässige Verteilung, die. 
sowohl wie ihre höchst variierende Grösse gleichsam das Ge- 
präge des Zufalles trägt, spricht für die Anschauung, dass 
sie durch Ausdehnung eines Darmes entstehen, deren Wand 
an ganz willkürlichen Stellen dazu gezwungen wird, sich in 
Falten zu legen. 

Betrachtet man dagegen das Röntgenbild des lebenden 
Transversums, wo die Haustren mit regelmässigen Abständen 
voneinander stehen, auf demselben Querschnitt im selben Plan 
gestellt und deutlich voneinander getrennt sind, ungefähr die 
gleiche Grösse und eine schlanke Form haben, kann man 
sich nur schwierig vorstellen, dass sie auf die von den er- 
wähnten Anatomen angegebene Weise gebildet sein sollten. 

Wenn man die oben angeführte Theorie, welche man zur 
Erklärung der haustralen Segmentation aufgestellt hat, etwas 
näher betrachtet, wird man bald sehen, dass sie auf ziemlich 
schwachen Füssen steht. 

Die haustrale Segmentation ist nämlich in der Leiche 
ebensowohl in den fest kontrahierten Partien des Colons wie 
in den ausgedehnten zu finden, und ferner kann sie auch 
über grosse Strecken des Colon fehlen, die ebenso stark dila- 
tiert scheinen, wie andere, wo die haustrale Segmentation 
mit wohlentwickelten Plicae deutlich ausgesprochen ist. Diese 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 2 


332 TH. E. HESS THAYSEN, 


wechselnden Verhältnisse werden nicht allein in verschiedenen 
Cola wiedergefunden, sondern sogar im selben Transversum. 
Gegen die Bedeutung der Ausdehnung zur Bildung der 
Haustren sprechen ferner die Resultate einiger Untersuchungen 
von fötalen Cola. 
Bei 4 Feten im ca. 5. Fetalmonat!) wurde das Colon fein 


quergefurcht ohne Haustra gefunden; es war fest kontrahiert 


Fig. 6. 
Fetales Colon, das Transversum und das Descendens "zeigt haustrale Segmen- 


tation. Der untere Teil des Descendens und des Colon pelvic. zeigt eine glatte 
Überfläche. 


und dünner als der Dünndarm; das gleiche Aussehen wies 
der Dickdarm bei 2 Feten im ca. 6. Monat auf. Bei 3 anderen 
Feten im ca. 7. Monat (Scheitel-Steisslänge 19—21 cm) wurde 
das Colon in grösserer oder kleinerer Ausdehnung haustriert 
gefunden. »Bei zwei der Feten war der Darm vollständig leer, 
beim dritten war der unterste Teil des Descendens und Colon 


!) Nach 10 Schwangerschaftsmonaten berechnet. 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 333 


pelvicum von reichlichem Meconium aufgebläht (Figg. 6 u. 7). 
Nun wurde das merkwürdige Verhältnis gefunden, dass die 
haustrale Segmentation nur in den kontrahierten Partien zu 
sehen war, dagegen gar nicht in den aufgeblähten gefunden 
wurde. Dasselbe Phänomen, nur bei weitem deutlicher aus- 
gesprochen, wurde bei einem 8--9 Monate altem Fetus ge- 
funden, hier war der grösste Teil des Colons mit Meconium 
gefüllt und zeigte keine haustrale Segmentation, während das 


relativ leere und kontrahierte Transversum in seiner rechten 


Fig. 7. 
Haustrierte Partie des Colon descendens des in Fig. 6 
dargestellten Diekdarms. 


Hälfte und der Ascendenz in ihrer obersten Partie schön 
haustriert war und deutliche Tänien trug, die nicht im übrigen 
Teil des Colons und auch nieht in den haustrierten 
Teilen der Cola der jüngeren Feten gefunden 
wurden. 


Um dieses eigentümliche Phänomen, das ja so wenig mit 
der herrschenden Anschauung über die Bildung der Haustra coli 
übereinstimmt, dass nämlich diese in solchen Partien des 
Darmes gefunden werden, wo Tänien nicht mit blossem Auge 
nachgewiesen werden können, näher zu untersuchen, mikro- 
skopierte ich die haustrierten Teile der 3 Cola von den 


22* 


334 TH. E. HESS THAYSEN, 


7 Monaten alten Feten. Es wurden 8—10 Stück von jedem 
Darm untersucht, zum Teil in Serien, beinahe überall war 
das Bild dasselbe. 

Bei der Mesenterialanheftung wird eine ziemlich dicke 
Schicht von längsverlaufenden Muskelzellen gefunden, die sich 
über ca. 1/,—!/, der Peripherie des Darmes spannt, nach 
beiden Seiten hin ist sie aber nicht scharf abgegrenzt wie die 
Tänien des erwachsenen Darms. Auf der einen Seite geht 
sie ziemlich schnell in eine dünne Schicht von Längsmuskulatur 
über, welche den Rest dieser Hälfte der Peripherie einnimmt, 
auf der anderen Seite dagegen hält sie sich ziemlich kräftig, 
wird ungefähr zur Hälfte ihrer ursprünglichen Dicke reduziert, 
und bekommt wieder einen bedeutenden Zuwachs, so dass 
sie fast ebenso dick wie bei der Mesenterialanheftung wird. 
Diese neue Tänie liegt ziemlich nahe bei dem Punkt der 
Peripherie, welcher der Anheftung des Mesenteriums entgegen- 
gesetzt liegt und geht ziemlich schnell in die früher beschriebene 
dünne Schicht über. In dieser habe ich in einigen Blöcken 
eine Andeutung von einer Tänie getroffen, die indessen weit 
schwächer entwickelt war als die übrigen und nicht in allen 
Blöcken desselben Darmes vorhanden war, woraus hervor- 
geht, dass sie nicht zur selben Zeit in ihrer ganzen Länge 
auftritt. 

Meine Untersuchungen zeigen also, dass zwei tänienähn- 
liche Verdieckungen der Längsmuskulatur bereits im 7. Fetal- 
monat auftreten, während die dritte Tänie noch nicht ent- 
wickelt ist oder nur an begrenzten Partien des Darmes ge- 
füunden wird. Bromanns Angabe, dass die Tänien erst im 
extrauterinen Leben entwickelt werden, ist also nicht korrekt, 
sie werden, noch bevor der Darm einer Aufblähung ausgesetzt 
wird, entwickelt, während Bromann meint, dass es eben 
die Ausdehnung des Darmes ist, die die Bildung der Tänien 


b} 


bewirkt. Meine Untersuchungen stimmen besser mit Keibels 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 335 


und Malls überein. Der Meinung dieser Verfasser nach bildet 
die Längsmuskulatur bei 7,5 cm langen Feten (ca. 4. Monat) 
eine halbmondförmige Verdickung längs der Mesenterialinsertion 
des Colon transversum, noch im 5. Fetalmonat ist die Taenia 
mesocolica der bestentwickelte Teil der Längsmuskulatur, doch 
sind die beiden anderen Tänien andeutungsweise vorhanden. 
Auch ıch fand, dass Taenıa mesocolica die am besten ent 
wickelte war, selbst bei Feten im 7. Monat, von den beiden 
anderen Tänien wurde aber die eine deutlich früher wie die 
anderen entwickelt, so dass bei Feten im ca. 7. Monat oft 
nur 2 Tänıen ausgebildet sind. 

Die bisher verfochtene Theorie über die Bildung der 
Haustren findet also an den hier angeführten Untersuchungen 
keine Stütze. 

Die Bedeutung der angenommenen Ausdehnung des Darms 
wird zweifelhaft, wenn man sich dessen erinnert, dass die 
haustrale Segmentation sowohl in den fest kontrahierten 1), wie 
in den aufgeblähten Partien desselben Colons gefunden wird, 
und endlich über ziemlich grosse Strecken fehlen kann, wo 
doch die Cirkumferenz des Organes ziemlich bedeutend ist; 
endlich sind nur die kontrahierten Teile der Cola der Feten 
und Neugeborenen haustriert, während die meconiumgefüllten, 
aufgeblähten Partien eine glatte Oberfläche haben 2). Auch 
die Bedeutung der Tänien für die Bildung der haustralen Seg- 
mentation wird ziemlich problematisch, wenn man erinnert, 
dass man im selben Transversum abwechselnd schön haustrierte 
Partien mit anderen von ungefähr derselben Weite, wo die 
haustrale Segmentation fast ausgewischt ist, treffen kann. Rührt 
nämlich die Bildung der Plicae von dem Umstand her, dass 


die Tänien, anatomisch gesehen, kürzer sind als der übrige 
') Besonders deutlich treten die Haustren nach Entfernung der stark 
gefalteten Schleimhaut vor. 
?2) Hierdurch wird Bromanns Anschauung erklärt (s. S. 330). 


336 TH. E. HESS THAYSEN, 


Darm, musste man doch annehmen, dass die Faltung der 
Darmwand gleich ausgebreitet in ungefähr gleich stark aus- 
gedehnten Darmabschnitten war. Endlich finden wir eine deut- 
liche Haustrierung in fetalen Cola, in denen nur zwei Tänien 
gefunden werden, die noch dazu kaum völlig entwickelt sind. 

Das Resultat meiner anatomischen Untersuchungen scheint 
bei weitem eher darauf zu deuten, dass die haustrale Segmen- 
tation ein Kontraktionsphänomen ist und nicht einer passiven 
Ausdehnung der Darmwand seine Entstehung verdankt. Der 
einzige Anatom, der meines Wissens etwas zur selben An- 
schauung neigt, ist Bromann, er hebt hervor, dass die 
Plicae semilunares nur die Stellen der Darmwand repräsen- 


tieren, wo die Ringmuskulatur zufällig kontrahiert ist. Wenn 


er an dieser Anschauung festhält, wird — soweit ich ersehen 
kann — seine ganze früher zitierte Auffassung über die Bil- 


dung der Haustren beim Neugeborenen ziemlich unverständlich, 
sie kann nur als Stütze für die Ausdehnungstheorie betrachtet 
werden und trotzdem hat Bromann recht, was die Rönt- 
genuntersuchung des lebenden Darmes zeigt. 

Untersucht man nämlich das Colon desselben Individuums 
zu verschiedenen Zeiten, während welchen es noch kräftig 
mit dem schattengebenden Mittel gefüllt ist, wird man schnell 
herausfinden, dass die Haustren keine unveränderlichen, ana- 
tomisch präformierten Bildungen sind, sondern dass sowohl 
ihre Anzahl wie Form ziemlich bedeutend in derselben Partie 
des Colon variieren können. 

Solcherweise fand ich in einem Falle an der am schönsten 
haustrierten Partie des Colon transversum, die sich ca. 4 cm 
nach rechts und 6 cm nach links von der Mittellinie er- 
streckte: 

5—6 Haustren in jeder Reihe ca. 131/, St. p. e.!) Fig. 8. 

7—8 Haustren in jeder Reihe ca. 16 St. p. c. 

9—10 Haustren in jeder Reihe ca. 22 St. p. c. Fig. 9. 


I) p. e. = post coenam — nach Einnahme der Kontrastmahlzeit. 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli 337 


An Fig. 8 und Fig. 9 wird man ferner ersehen, dass die 
Form der Haustra im Laufe der Zeit, die zwischen jeder Unter- 
suchung liegt, einer bedeutenden Veränderung untergangen hat 


In Fig. 8 sind sie ziemlich dick und plump, stehen in relatıv 


Fig. 8. 
Die rechte Flexur ist von Luft aufgebläht. 


grossen Abständen voneinander, in Fig. 9 sind sie dagegen 
schlank und dichter zusammengepresst. Die Figuren zeigen 
ferner, dass die Verteilung der Haustren über die gleiche Partie 
des Colon transversum zu verschiedenen Zeiten eine ziemlich 


wechselnde sein kann. Bald sind sie einigermassen gleich- 


338 TH. E. HESS’ THAYSEN, 


mässie verteilt, selbst ob sie im ganzen in geringer Anzahl 


vorhanden sind, zu anderen Zeiten kann man im Transversum 


Ihe 
Die hellen Stellen in den Haustrenschatten sind mit Luft gefüllte Partien der 
Haustra. 


Strecken von 4-5 em finden, wo er nur einen streifenförmigen 
Schatten bildet, der dem Gürtel entspricht, den wir früher 


als Zentralachse beschrieben. 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 339 


Wir sehen also, dass die Haustra neugebildet werden, 
und dass die neuen Haustren wie die Präexistierenden 
im selben Plan am selben Querschnitt des Colon stehen 
müssen. 

Um zu erfahren, wie diese Neubildung der Haustren vor 
sich geht, ist es notwendig, das Transversum in einer Serie 
von Platten zu untersuchen, die mit so kurzen Zwischenräumen 
aufgenommen sind, dass jedenfalls keine der wichtigeren Be- 
wegungen, die zur Bildung der Haustren führen, verloren 
gehen. 

Schwarz, Kästle und Bruegel haben solche Serien 
aufgenommen, um die Formveränderungen der Haustren zu 
studieren, haben sich aber nicht eingehender mit der Frage 
beschäftigt, wie diese gebildet werden. Schwarz nahm Rönt- 
eenogramme mit Zwischenräumen von ca. 5 Minuten auf, 
während die beiden anderen Verfasser fanden, dass Platten 
mit nur sekundenlangen Zwischenräumen aufgenommen, Keine 
Veränderungen zeigten, während diese deutlich in Serien mit 
1--5 oder mehreren Minuten langen Zwischenräumen zwischen 
den Aufnahmen ausgesprochen sein konnten. In meinen Serien 
haben die Intervallen zwischen den Bildern von 2--4 Minuten 
gewechselt, sind aber in derselben Serie von einigermassen 
gleicher Dauer gewesen. 

Die Versuchsbedingungen, die man herbeischaffen muss, 
ist natürlich über die instrumentelle Aussteuer hinaus, ein 
normales Individuum, dessen Transversum mit dem schatten: 
gebenden Mittel stark gefüllt ist. Selbst ob diese Bedingungen 
vorhanden sind, ist es keineswegs abgemacht, dass man im- 
stande sein wird, sich eine sichere Vorstellung über die Ent- 
stehung der Haustra zu machen, weil die Bewegungen der 
Ringmuskulatur, die zur Bildung der Haustren führen, sicher 
beim selben Individuum mit verschiedener Schnelligkeit an 
verschiedenen Zeitpunkten vor sich geht und ferner kaum 


340 TH. E. HESS THAYSEN, 


in allen Teilen des Transversum zur selben Zeit gleich kräftig 
sind, weswegen es von Zufällen abhängt, ob die Serie gut 
ausfällt oder nicht. Es ist denkbar, dass die respiratorischen 
Verschiebungen und die Verschiebungen in der Richtung der 
Längsachse, denen das Transversum unterworfen ist, etwas 
störend wirken können, in meinen Serien sind sie indessen 
nur klein und leicht kontrollierbar gewesen. Finige kleinere 
Bewegungen der Ringmuskulatur, die kaum zur Bildung von 
Haustren führen, kann aber das Aussehen derselben auf eine 
solche Weise umformen, dass es sehr schwierig wird, das- 
selbe Haustrum auf den verschiedenen Platten wiederzufinden. 
Wie Serie III zeigt, können diese Bewegungen bewirken, dass 
eine ganze Reihe sonst wohlgelungener Platten für das Studium 
der Haustrenbildung unbrauchbar wird. 

Hiernach werde ich zur Beschreibung der 3 Serien, die 


ich aufgenommen habe, übergehen; die letzte Serie ist, wie 


» 
wir sehen werden, von einigem Interesse, trotzdem die Haustra- 
bildung hier nicht verfolgt werden kann. 

Serie I: Versuchsperson, 23jähriger Stud. med. O.; es 
wurden im ganzen 10 Platten mit Zwischenräumen von 2 bis 
3 Minuten aufgenommen. 

Nur die Mittelpartie des Transversum, die sehr schön 
isomorph haustriert war, wurde benützt. Die senkrechte Linie 
durch die Bilder repräsentiert eine Linie durch die Mitte 
der Wirbelkörper. Wie man leicht aus den Bildern ersehen 
kann, ist eine Verschiebung des Transversum nach den Seiten 
hin geschehen — entweder weil das Individuum nicht absolut 
die gleiche Stellung behalten hat — sich etwas bewegt hat — 
oder weil das Organ sich im ganzen verschoben hat, dagegen 
sind die respiratorischen Verschiebungen kaum bemerkbar, 
da die Platten wie in den folgenden Serien aufgenommen 
wurden, während das Individuum sich ungefähr in derselben 


Respiralionsphase befand (mittlere Inspirationsstellung). 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coh. 341 


Fig. 1. 1047 


Fig. 2. 1050 


Fig. 3. 11 1052 


Fig. 4. 1055": 


Serie 1. 


Fig. 


SI 


TH. E. HESS THAYSEN, 


Serie 1. 


1058 


119 


110% 


1195 


€ ‘ 


Über den Bau, und die Entstehung der Haustra coli. 343 


Die Serie zeigt nun folgendes: 


Die 4 Haustrumpaare, die mit a, b, ec, d vermerkt sind, 
und die in den Abbildungen rechts von der Mittellinie liegen 
(beim Individuum links), sind alle in den 22 Minuten, in 
denen die ganze Untersuchung dauerte, ziemlich unveränder! 


geblieben, sie werden leicht auf allen Platten wiedergefunden. 


Fig. 9. 1107 


Fig. 10. 1103 


Serie 1. 


Sie sind wohl kleinen Formveränderungen unterworfen ge- 
wesen, besonders das Haustrumpaar d, dessen oberstes Glied 
in Fige. 2, 3 und 4 verschwunden zu sein scheint. Ob die 
Plica, welche dieses Haustrum vom folgenden trennt, ver- 
schwunden, oder ob der Zwischenraum zwischen diesen 
Haustren nur gedeckt ist, weil das folgende sich dicht an das 


Haustrum d gelagert hat, ist es unmöglich zu entscheiden. 


344 TH. E. HESS THAYSEN, 


Grössere Veränderungen werden in den Haustrumpaaren 
gefunden, die links von der Mittellinie liegen. Gehen wir 
vom kleinen Haustrumpaar ‚a aus, welches leicht in allen 
folgenden Abbildungen wiedergefunden wird, finden wir, dass 
das Paar Haustra, welches als Nr. 3 davon nach links liegt 
(mit d bezeichnet), in Figg. 2 und 3 bedeutend an Dicke 
zunimmt. In Fig. 3 scheint eine werdende Teilung dieses 
Paares stattzufinden, indem eine kleine Einkerbung in der 
Oberfläche sowohl des niedrigsten wie obersten Haustrum auf- 
tritt. In Fig. 4 scheint die Teilung vollendet zu sein, die Anzahl 
der Haustren links von der Mittellinie sind mit ein Paar 
vermehrt worden, und gleichzeitig scheinen die Plicae zwischen 
dem Haustrapaar B u. y und zwischen y u. d etwas kürzer 
geworden zu sein, um in den folgenden Bildern wieder tiefer 
zu werden. In den Minuten, die zwischen der Aufnahme von 
Bild 5 und 6 liegen, ist das Bemerkenswerte geschehen, dass 
zwischen B u. y ein kleines Haustrumpaar gebildet worden ist. 
Wie dies entstanden ist, durch Teilung eines Präexistierenden 
oder durch Neubildung von der Zentralachse aus, ist es mir 
leider unmöglich zu entscheiden, mir fehlen 1 oder 2 Bilder 
von dem zwischen Figg. 5 und 6 liegenden Zeitpunkt. Dies 
kleine Haustrumpaar wird noch in Fig. 7 gefunden, ist aber, 
wie Fig. 8 zeigt, nach einer Existenzperiode von höchstens 
7!/, Minuten verschwunden, viellgieht mit dem nächsten 
Haustrumpaar zusammengellossen, vielleicht hat die Ring- 
muskulatur sich vollständig kontrahiert, um diese Haustren 
zu verwischen. Die Veränderungen, die die Haustren in der 
übrigen Zeit (Figg. 9 und 10) durchgemacht haben, sind nicht 
besonders bedeutend. 

In dieser Serie ıst also nachgewiesen 1. dass neue Haustren 
wahrscheinlich durch Teilung der Präexistierenden gebildet 
werden können (Figg. 3 und 4), und dass die Plicae, welche 
die neugebildeten Haustren von den Präexistierenden trennen, 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 


N) 


Fig. 2. \\ 


Fig. 3. 


Fig. 4. 


Serie II. 


345 


945 


947), 


951 


953 


346 TH. E. HESS THAYSEN, 


im gleichen Plan stehen und einen Ring bilden, der wahr- 
scheinlich nur von den Tänien unterbrochen wird. 2. Dass, 
gewiss nicht besonders wohlentwickelte, Haustren im Laufe 
von 2 Minuten gebildet werden können, um nach einer Daseins- 
periode von höchstens 7!/, Minuten wieder zu verschwinden. 
Ausserdem wird man 3. bemerken, dass die Ringmuskulatur 
nicht allein solche Bewegungen ausführt, die zur Bildung von 
Haustren führen, sondern auch die Plicae vertieft oder sie 
weniger hervortretend macht, Einkerbungen in die Oberfläche 
der Haustren (s. Fig. 3, Haustra ec) hervorbringen, die schnell 
ohne Zurücklassen von Spuren verschwinden. Die Plicae sind 
in beständiger Bewegung, werden bald tiefer, bald weniger 
ausgesprochen, bald hat ihr freier Rand eine Richtung gegen 
die Zentralachse hinauf, bald dreht er sich mehr ın analer 
oder oraler Richtung (s. Figg. 3 und 4). 4. Ferner ersehen 
wir aus dieser Serie, dass keine bedeutenderen Veränderungen 
im Aussehen der haustralen Segmentation in den 22 Minuten, 
während welcher der Versuch dauerte, stattgefunden hat, das 
Transversum war in dieser ganzen Periode isomorph haustriert. 
Serie Il: 24jähriger Mann. (Auf der Abt. B. des Reichs- 
spitales wegen einer nur wenig ausgesprochenen Emphysema 
pulm. behandelt; nie Magen- oder Darmleiden, täglich spon- 
taner Stuhl.) Im ganzen wurden 7 Platten aufgenommen, von 
denen ich hier nur 4 wiedergebe, die in ziemlich regelmässigen 
Zwischenräumen von ca. 3 Minuten einander folgen, 2 Platten 
vor der zuerst abgebildeten aufgenommen und eine spätere 
als die letzte waren misslungen. Die Mittellinie gibt hier den 
mittelsten Strang in einem Blechrahmen wieder, worin drei 
Metallfäden gespannt waren, der Rahmen war mit Hilfe von 
Heftpflaster an den Unterleib des Patienten fixiert. 
Während die haustrale Segmentation rechts von der Mittel- 
linie ziemlich deutlich ausgesprochen ist, findet man links 


von ihr zwei grosse plumpe Haustren. In Fig. 2 wird man 


- 


Über den Bau und die Entstehung der Hauslra coli. 347 
sehen, dass das mittlere Haustrumpaar sich zu teilen anfängt, 
es treten zwei nicht besonders tiefe Einkerbungen auf, welche 
im folgenden Bild, Fig. 3, an Breite und Tiefe zunehmen, 
bis wir im letzten Bild (Fig. 4) zwei sehr schön abgegrenzte 
Haustren von schlanker, regelmässiger Form sehen. Das 
plumpe Haustrumpaar in der obersten Figur ist gleichzeitig 
mit dieser Teilung schmäler und eleganter geworden, und es 
präsentiert sich schön, wohl getrennt von den umliegenden in 
Fig. 4. Auch in dieser Serie wird man sehen, dass die Form 
der Haustren beständigen Veränderungen unterworfen ist, und 
dass die Plicae sowohl ın Grösse wie in Richtung wechseln. 

In dieser Serie ist es also gelungen, deutlich nachzuweisen, 
dass Haustren durch Teilung der präexistierenden gebilde. 
werden können, und dass diese Teilung auf die Weise vor 
sich geht, dass neue Plicae seminulares gebildet werden, die 
in Verlängerung voneinander stehen. 

Serie III: 23jähriger Stud. med. M. Die Platten wurden 
mit Zwischenräumen von 31/,-4 Minuten aufgenommen, der 
ganze Versuche dauerte 15 Minuten. Die Mittellinie in den 
Figuren repräsentiert dasselbe wie in der vorhergehenden Serie. 

In dieser Serie fällt es am meisten auf, dass es hier 
bei weitem schwieriger ist sich zu orientieren als in den 
beiden vorhergehenden. Zwischen Figg. 1 und 2 sind in der 
Partie links von der Mitte so viele Bewegungen der Ring- 
muskulatur mit Veränderungen der Konturen des Colonschattens 
vor sich gegangen, dass es unmöglich wird, die Haustren 
der einen Platte auf der anderen wiederzufinden. Etwas links 
von der Mittellinie sind die Haustren in der obersten Reihe 
verschwunden und von einer Reihe von 4 kleinen Zapfen 
erstattet; in der untersten Haustrareihe sind eleichfalls so 
bedeutende Veränderungen vor sich gegangen, dass es un- 
möglich ist, die Haustren zu identifizieren. Auch die Haustren, 


die ganz nach links liegen, haben ihr Aussehen verändert. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 23 


348 TH. E. HESS THAYSEN, 


Fig. 1 328 
Fig. 2 331,5 
Fig. 3 335 


Fig. 4. 339 
Fig. 5.' 343 


Serie III. 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 349 


Die kleinen Einkerbungen, die man in ihrer Oberfläche in 
Fig. 1 bemerkte, scheinen in Fig. 2 bedeutend tiefer geworden 
zu sein, während die deutlichen interhaustralen Furchen zum 
Teil getilgt sind. In Fig. 3 ist das Bild weit ruhiger. Wir 
sehen hier einen ziemlich regelmässig haustrierten Darm, der 
in vielen demjenigen gleicht, den Fig. 1 wiedergibt. Von den 
4 kleinen zapfenförmigen Vorsprüngen, die man in der obersten 
Reihe in Fig. 2 sah, sind nur 2 wohlentwickelte Haustren 
in Fig. 3 zurückgeblieben und gleichzeitig sind zahlreiche 
kleine Vorsprünge in der übrigen linken Hälfte der obersten 
Haustrareihe von grossen Haustren erstattet worden, in deren 
Oberfläche man kleine Vertiefungen sieht, vielleicht Reste 
der Furchen, welche die kleinen zapfenförmigen Vorsprünge 
trennten. In dem Zeitraum von 8 Minuten, welcher zwischen 
Figg. 3 und 5 liegt, ist das Aussehen des Darmes nur wenig 
verändert, er zeigt hier das Bild des ruhigen, regelmässig 
haustrierten Darmes, das wir in Serie I und II so deutlich 
ausgesprochen fanden. 

Aus dieser Serie geht hervor: Ausser den Bewegungen, die 
zur Bildung der Haustren und zu Veränderungen in der Richtung 
und Tiefe der Plicae führen, gehen offenbar andere weniger 
eingreifende vor sich, die indessen in kleinerer oder grösserer 
Ausdehnung die Konturen des Colonschattens vollständig ver- 
ändern können. Ferner zeigt die Serie, dass diese kleinen Be- 
wegungen in Perioden vor sich gehen können, sie sind nur 
in Fig. 2 deutlich ausgesprochen, fehlen oder sind nur wenig 
hervortretend in den anderen Platten. Sie sind solcherweise 
im hier untersuchten Fall im Laufe von ca. 7 Minuten (die 
Zeit zwischen der Aufnahme von Fig. 1 und 3) am stärksten 
ausgesprochen gewesen, während sie im Zeitraum von ca. 8 Mi- 
nuten, die zwischen der Aufnahme der Platte 3 und 5 liegt, 
nur schwach ausgebildet waren. 

Die Bewegungen, die wir also Gelegenheit hatten in diesen 
Serien zu beobachten, sind folgende: 


23* 


350 TH. E. HESS THAYSEN, 


I. Kontraktionen der Ringmuskulätur mit Neubildung von 
Plicae, die eine Teilung von präexistierenden Haustren be- 
wirken, die Plicae stehen, wenn die Haustren fertig gebildet 
sind, im gleichen Plan. 

Il. Bewegungen der präexistierenden Plicae, diese werden 
bald tiefer, bald weniger ausgesprochen, bald breiter oder 
schmäler, während ıhr freier Rand sıch bald ın analer, bald 
in oraler Richtung wendet oder gerade gegen die Zentral- 
achse hin. 

Ill. Formveränderungen der Haustren, die abwechselnd 
erösser oder kleiner, schlanker oder kugelförmiger werden. 

IV. Kleinere, wahrscheinlich periodisch auftretende Be- 
wegungen der Ringmuskulatur, die offenbar nicht zur Bildung 
von Haustren führen, und die nicht zırkulär verlaufen, indem 
sie bald ‘in der obersten, bald ın der untersten Haustrareihe 


auftreten können. 


Das Resultat dieser Röntgenuntersuchungen kann, glaube 
ich, auf folgende Weise zusammengelasst werden. 

1. Die isomorphe Haustration ist die Form, unter welcher 
die Haustren sich im normalen Transversum zeigen. Es scheint 
eine Art Ruhezustand zu sein, von dem gewisse Bewegungen 
mit grösserer oder kleinerer Schnelligkeit und kürzeren oder 
längeren Zwischenräumen ausgehen. Nur durch diese Annahme 
sind wır imstande zu verstehen, weshalb sich das Transversum 
serade auf die Weise mit einer so auffallenden Konstanz bei 
normalen und so überaus oft in leichteren pathologischen 
Fällen zeigt. Die Anzahl der Beobachtungen ist viel zu gross, 
um die ısomorphe Haustration als einen zufälligen, schnell 
vorübergehenden Zustand betrachten zu können. Auch meine 
Serien (besonders Nr. 1) zeigen, dass es das Aussehen ist, 
welches das Transversum am längsten innerhalb des Zeit- 
raumes bewahrt, in welchem die Serie aufgenommen wird. 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 351 
2. Im regelmässig haustrierten Colon stehen die Plicae 
im selben Querschnitt in Verlängerung voneinander und die 
hinterste Reihe der Haustren wird von der obersten und von 
der Zentralachse verborgen. 

3. Die Haustren können durch Teilung von präexistieren- 
den gebildet werden, möglicherweise auch zwischen zwei 
Haustrumpaaren direkt von der Zentralachse entstehen. 

4. Entstehen sie durch Teilung der präexistierenden, 
rühren sie von einer lokalen Kontraktion der Ringmuskulatur 
her, die, wie Serie II zeigt, zirkulär sein kann, und wahrschein- 
lieh nur durch die tänienbesetzten Teile des Colons unter- 
brochen wird und geht gleichzeitig ın der ganzen Cirkum- 
ferenz des Darms vor sich. Indessen ist das letztere kaum 
eine notwendige Bedingung zur Bildung der Haustren. Man 
findet nämlich ab und zu (solcherweise Serie Ill, Figg. 3 u. 7) 
ein Haustrum in der untersten (vielleicht auch in der obersten) 
Reihe, dem keines in der obersten entspricht. Ob dieses 
Haustrum erst gebildet werden soll, oder früher als die 
niedrigste verschwunden ıst, so dass nur diese sichtbar ist, 
lässt sich unmöglich entscheiden, können aber Haustren z. B. 
in einer Reihe verschwinden, bevor sie es in den anderen 
tun, ist es ja auch möglich, dass sich dasselbe Verhältnis 
bei Neubildung von Haustren geltend machen kann. Endlich 
ist es ja auch denkbar, dass ein Haustrum nur auf einer 
begrenzten Partie des Transversums gebildet wird, dies kann 
aber nach den Beobachtungen, die ich gemacht habe (s. oben), 
nicht die Regel sein. 

9. Ausser den Bewegungen, die zu Neubildung oder zur 
Einziehung von Haustren führen, führt das Colon, wie schon 
erwähnt (s. II, Ill, IV) andere weniger eingreifende aus, die 
von Schwarz als „kleine Colonbewegungen“ beschrieben 
sind. DER 


Die Kritik, welche ich auf Basis von anatomischen und 


TH. E. HESS THAYSEN, 


ut 
Si 
ID 


embryologischen Untersuchungen die übliche Anschauung 
über die Bildung der Haustra coli unterwarf, scheint dem 
Resultat der Röntgenuntersuchungen nach, noch mehr be- 
rechtigt. Durch diese wird nämlich, wie es zuerst von Katsch 
erwiesen ist, klargestellt, dass die Plicae seminulares durch 
eine Kontraktion der Ringmuskulatur gebildet werden. Im 
Gegensatz zur heutigen Auffassung müssen wir 
geltend, machen, dass die haustrale Segmen- 
tation ein Kontraktionsphänomenist, das nicht 
von einer Ausdehnung des Darmes und’ der 
kleineren Länge der Tänienals die des übrigen 
Darmrohrs herrührt. 

Welche Bedeutung haben denn die Tänien für die haustrale 
Segmentation? Katsch hat hierüber folgende Theorie auf- 
gestellt: 

Eine Vermehrung des Tonus der Darmmuskulatur, d. h. 
des beständigen nervösen Einflusses, welcher die Muskulatur 
unterworfen ist, bewirkt teils eine Verkürzung der Tänien, 
teils eine Konlraktion der Ringmuskelfasern, die dicker werden 
und Plicae seminulares bilden. Hierdurch nimmt die Länge 
des Ringmuskelschlauches zu und da die Tänien gleichzeitig 
kontrahiert werden, entsteht eine Inkongruenz zwischen der 
Länge des Ringmuskelschlauches und der Tänien. Diese In- 
kongruenz bedingt die Faltung des Darmes, die Haustren- 
bildung. 

Gegen diese Theorie kann man indessen verschiedene Ein- 
wände erheben. Erstens ıst es ziemlich unverständlich, wes- 
halb das Colon länger werden sollte, wenn Plicae semi- 
nulares gebildet werden, nach meiner Anschauung müsste man 
eher, wie es früher allgemein angenommen worden ist, meinen, 
dass es kürzer würde, wenn er sich in Falten legt; zudem 
ist es keineswegs von vornherein gegeben, dass der vermehrte 


Tonus der Ringmuskulatur es mit sich führt, dass auch der 


wo 
Sr 
ww 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra coli. 
Tonus der Tänien erhöht wird. Man ist nämlich noch keines- 
wegs über das physiologische Verhältnis zwischen der Längs- 
und Ringmuskulatur des Colon klar. 

Biedermann machte schon im Jahre 1889 geltend, dass 
in physiologischer Beziehung ein durchgreifender Unterschied 


zwischen diesen Muskelschichten bestand. Gyon und Cour- 


PS 


Fig. 10. 


Darmuntersuchung d. 15. 12. 1915. 


tade fanden, dass eine Reizung der sympathischen Fäden 
des Darmes eine Kontraktion der Rınemuskulatur und 
eine Erschlaffung der Längsmuskeln hervorbrachte, während 
Langley und Anderson behaupten, dass eine Reizung der 
sakralen (spinalen) Nerven eine Kontraktion der beiden Muskel- 


schichten verursachen. 


354 TH. BE. HESS’THAYSEN, 


Ist man aber über das wechselseitige Verhältnis zwischen 
l,ängs- und Ringmuskulatur bei Tieren nicht klar, ist man 
es ın noch geringerem Grad beim Menschen. 

Dagegen kann ıch Katsch nur beistimmen, wenn er 
ausspricht, „dass es nicht die Colonbewegungen allein sind, 


sondern eben jener Tänientonus, der die hohe oder tiefe Lage 


Fig. 11. 


Darmuntersuchung d. 16. 12. 1915. 


des geschwungenen oder gestreckten Verlaufes des Colons be- 
stimmt“. Wenn man Gelegenheit hat das Colon und besonders 
das Transversum Tag für Tag beim selben Individuum mit 
den Röntgenstrahlen zu untersuchen, wird man in manchen 
Källen ganz erstaunt sein über die gewaltigen Schwankungen, 


denen dieses Organ in Form und Lage unterworfen sein kann 


Über den Bau und die Entstehung der Haustra col. 


(s. Fige. 10, 11, 12)!). Die Haustren bewahren hierbei ıhre 
schlanke Form und regelmässige Ausbildung. Ob die Tänıen 
für die Bildung der Haustren überhaupt etwas bedeuten, ist 


also zweifelhaft — unzweifelhaft ist es dagegen, dass sie eine 


Fig. 12. 


Darmuntersuchung d. 17. 12. 1915. 


Funktion besitzen, die die Lage und Form des Colons inner- 
halb weiter Grenzen bestimmt. 

Dass die Rönteenstrahlen uns das Bild des normalen 
lebenden Dieckdarms zeigen, darüber kann kaum ein Zweifel 
herrschen: der Unterschied im Aussehen zwischen dem leben- 
digen Darm und dem, welchen wir post mortem sehen, muss 


also von postmortellen oder bereits in der Agone entstandenen 


!) Alle Röntgenbilder sind im Stehen aufgenommen. 


356 TH. E. HESS THAYSEN, 


Veränderungen herrühren. Nach dem Tode wird das unlixierte 
Colon von der durch der Fäulnis entwickelten Luft aufgebläht, 
deshalb hat es oft ein ausgespanntes, aufgeblasenes Aussehen, 
die Haustren werden dicht aneinander gepresst und nehmen 
eine mehr viereckige und plumpe Form an. Wenn die Plicae 
in der Leiche alternierend stehen, nicht wie ım ruhenden 
Colon, im gleichen Plan, im gleichen Querschnitt, rührt das 
wahrscheinlich von dem Umstand her, dass in der Agone 
oder nach dem Tode unregelmässige Kontraktionen der Ring- 
muskulatur stattfinden, woselbst das koordinierte Moment 
fehlt, welches im Leben die Bildung der Haustren beherrscht. 

Wenn die supponierten unregelmässigen Kontraktionen zu- 
erst postmortell auftreten, könnte man ja erwarten, dass man 
in Leichen, die sofort nach Eintreten des Todes fixiert wurden, 
das Aussehen des Colons finden könnte, welches uns das 
Röntgenbild am häufigsten zeigt — den isomorph haustrierten 
Darm. Ich habe, um dies aufzuklären, 20% Formalin 
(ca. 4-500 ecm) gleich nach Eintreffen des Todes in das 
Abdomen von mehreren Leichen eingespritzt. Nur einmal ge- 
lang es mir das gleiche Bild wie beider Röntgenuntersuchung 
zu sehen, doch waren nur die beiden gegen die Peritoneal- 
höhle gelegenen Haustrareihen vom selben Aussehen wie im 
Röntgenbild, während die hinterste Reihe nicht fixiert war 
(es handelte sich nämlich um den obersten Teil des Colon 
descendens) und dasselbe Aussehen hatte, welches man sonst 
in unfixierten Leichen findet. Die Ursache zu diesem wenig 
tröstlichen Resultat könnte wohl darin liegen, dass es sehr 
schwierig ist eine gute Fixation des Colons selbst, bei An- 
wendung von kräftigen Fixationsmitteln zu erlangen, vielleicht 
deutet es aber darauf, dass die erwähnten Kontraktionen nicht 
postmortell, sondern agonal sind. 

Hierfür könnte ferner die Erfahrung sprechen, dass Me- 


conium in der Regel vom Darm des Fötus entleert wird, 


Über den Bau und die Entstehung der 


Haustra eoh. 357 


wenn dieser während der Geburt asphyktisch wird, und dass 
oft eine Entleerung der Excremente in der Agone oder un- 
mittelbar nach Eintreten des Todes stattfindet. 

Auch bei Operationen habe ich nicht gesehen, dass das 
Colon dasselbe Aussehen wie im Röntgenbild hatte, gleichwie 
man aber das Aussehen des Magens während einer Operation 
in universeller Narkose, wo das Abdomen eröffnet wird und 
die Därme von der Einwirkung der atmosphärischen Luft aus- 
gesetzt werden, nicht mit demjenigen vergleichen kann, 
welches das Organ im normalen Zustand hat, kann man auch 
nichl erwarten, dass es sich in Betreff des Colons machen 
lassen könnte. 

Gegen den Gebrauch, den ich im vorigen mit Ausdrücken 
wie „Haustra coli“, „die haustrale Segmentation des Colons 


BD) 


im Röntgenbild‘“ und ähnlichen gemacht habe, wird man mit 


P) 


Recht einwenden, dass meine Röntgenuntersuchungen nur eine 
begrenzte Partie des Transversums umfassen. Bin ich be- 
rechtigt, die Iesultäte, die ich} durch Untersuchungen dieser 
begrenzten Partie gemacht habe, auch über alle Abschnitte 
des CGolons auszudehnen ? 

Hierzu will ich nur bemerken, dass überall, wo ich das 
Aussehen der haustralen Segmentation im Röntgenbild kon- 
trollieren konnte, ob dies jetzt, nachdem das Versuchsindividuum 
die Kontrastmahlzeit eingenommen hatte, geschah, hat sie 
immer dasselbe Aussehen wie in der untersuchten Partie des 


Transversum gehabt. 


Literatur- Verzeichnis. 


Biedermann, Pflügers Archiv 1889. Bd. 45. 


Bromann, Die normale und abnorme Entwickelung des Menschen. 
Guyon et Courtade, Compt. rend. Soc. de Biol. 1896 u. 1897. 


Katsch, Fortschritte der Röntgenstrahlen. Bd. 21. 
Kästle u. Bruegel, Münch. med. Wochenschr. 1912. S. 446. 


Keibel und Mall, Handbuch d. Entwickelungsgeschichte. Bd. 11. 


Langley and Anderson, Journ. of Phys. Vol. 19 and 20. 
Schwarz, Die Röntgenologie des Dickdarms. 1914. 


1911. 


1911. 


AUS DEM ANATOMISCHEN InsTtiTtuUT ZU WÜRZBURG. 


ÜBER DEN MECHANISMUS DER AUFNAHME DER EIER DER 
SÄUGETIERE IN DEN EILEITER UND DES TRANSPORTES DURCH 
DIESEN IN DEN UTERUS. 


NACH UNTERSUCHUNGEN BEI NAGETIEREN 
(MAUS, RATTE, KANINCHEN, MEERSCHWEINCHEN). 


VON 


J. SOBOTTA, 


WÜRZBURG. 


Mit 16 Figuren auf Tafel 27—34. 


0 WALL Er wi . Er 


Be Ar a re 
Be. RE ll R er, a 
Ri an Ran 1ER h) Dee IN Im Buch 
N ER “ar M Ns 
Bien" u 
3 ah 

u R j h & A 

we y VAR u 
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N 


Veranlassung zu diesen Mitteilungen gab eine kleine Ver- 
öffentlichung von meiner Seite (21) im Anatomischen Anzeiger 
und die an meine Auffassung der Frage des Transportes der 
Bier der Säugetiere durch den Eileiter sich anschliessende 
Polemik von seiten Grossers (4). Ich verwies in der ge- 
nannten kleinen Mitteilung auf die von mir vor mehr als 
20 Jahren bereits festgestellten Tatsachen, die aber wahr- 
scheinlich aus dem Grunde, weil man sie in der in sehr 
knapper Form gehaltenen Veröffentlichung (17) nicht vermutete, 
in der späteren Literatur gar keine oder fast gar keine Er- 
wähnung gefunden haben. Und doch habe ich damals schon 
— wenigstens für eine Säugetierspecies, die Maus — ein zur 
Entscheidung der Frage, wie die ovulierten Oocyten dieses 
Tieres in den Eileiter gelangen und wie sie durch diesen in 
den Uterus befördert werden, vollauf genügendes Beobaehtungs- 
material herbeigebracht; es lagen mir damals aber in erster 
Linie andere Feststellungen am Herzen und was ich über die 
genannte Frage sicherstellen konnte, das fiel mehr nebenbei 
als reife Frucht von selbst in den Schoss. Ich habe seinerzeit 
auch nicht alle Schlüsse, die sich aus meinen Beobachtungen 
ergaben, formuliert, sondern manches nur angedeutet. Kürz- 
lich hatte ich nun Gelegenheit, das bis zu einem gewissen 
Grade nachzuholen und ‘zum Vergleich anderes Tatsachen- 
material heranzuziehen. Aus der Polemik von Grosser, deren 
ich oben schon gedachte, ersehe ich aber, dass es zur end- 


gültigen Klärung dieser so wichtigen Fragen nötig ist, weiter 


362 | I. SOBOTTA, 


auszugreifen. Während ich zwar mit den meisten der von 
Grosser auch neuerdings vertretenen Ansichten gar nicht 
übereinstimme, gebe ich ihm in einem Punkte vollauf recht, 
nämlich darin, dass es zum Zwecke der weiteren Erörterung 
der Fragen, die ich oben berührte, unbedingt nötig ist, Tat- 
sachenmaterial herbeizuschaffen. Ich bin nun in der 
olücklichen Lage mit solchem dienen zu können, nicht bloss 
mit dem, auf Grund dessen ich meine Hypothesen in meiner 
letzten kleinen Mitteilung aufstellte, sondern auch mit sehr 
wichtigem anderen. Bei der Durchsicht von Präparaten, die 
sich auf die Ovulation und die an diese sich zeitlich an- 
schliessenden Vorgänge beziehen, ist es mir jetzt gelungen, 
meine Beobachtungen ganz wesentlich zu erweitern und vor 
allen Dingen ausser den Muriden zwei weitere Nager in den 
Kreis meiner Betrachtungen zu ziehen, deren anatomische Ver- 
hältnisse des Zusammenhanges von Eierstock und Eileiter sich 
von dem der Muriden dadurch erheblich unterscheiden, dass 
ihr Ovarium nicht in einer vollkommen geschlossenen Kapsel 
liegt, sondern in einer (mehr oder weniger) „weit offenen“ 
sog. Bursa ovarica. Es handelt sich um das Meer- 
schweinchen und das Kaninchen; von beiden verfüge 
ich über reichlicheres Beobachtungsmaterial als mir selbst in 
Erinnerung war; und vor allem über Material von der Ovu- 
lation, das so verarbeitet ist, dass es für die Zwecke der 
Entscheidung der oben genannten Fragen in prächtigster Weise 
verwendet werden kann. 

Ich kann es mir ersparen auf eine Aufzählung der be- 
nutzten Untersuchungsmethoden einzugehen !); das Materal, 
auf das ich mich stütze, ist das ungemein reiche von der 
Maus, an dessen Hand ich meine in extenso vor 21 Jahren 


!) Ehensowenig ist es nötig die einschlägige Literatur hier namhaft 
zu machen. Diese ergiht sich teils aus meiner letzten ‚Mitteilung (21), teils ist 
sie bei Grosser (3, 4) und U. Gerhardt (5 zu finden. 


über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 363 


veröffentlichten Untersuchungen über die Befruchtungsvorgänge 
bei diesem Nager angestellt habe (inzwischen hat sich dieses 
Material noch vermehrt), ferner stehen mir die Präparate zur 
Verfügung, die Burekhard und ich zu unserer Veröflent- 
lichung über die Reifung und Befruchtung des Kies der Ratte 
(20) benutzt haben, dann habe ich eine Anzahl der Präparate 
in Besitz, die mein Schüler Rubaschkin bei seinen Unter- 
suchungen über Eireifung und Befruchtung des Meerschwein- 
chens (14) angefertigt hat nebst einigen von mir selbst für 
meine Arbeit über die Corpus luteum-Bildung der genannten 
Species hergestellten Serien, und schliesslich habe ich auch 
einiges Material vom Kaninchen, das ich teils ebenfalls ge- 
legentlich meiner Corpus luteum-Untersuchungen gesammelt 
hatte, das teils aber auch aus der unvollendet gebliebenen 
Publikation eines Schülers von mir stammt. Insbesondere ver- 
füge ich von allen vier genannten Nagern über Schnittserien 
der Eierstöcke und ihrer Adnexe unmittelbar vor, während(!) 
und unmittelbar nach der Ovulatıon. 

Für die Untersuchung der hier in Betracht kommenden 
Fragen ist es dringend erforderlich, den Weg einzuschlagen, 
den ich vor 21 Jahren veröffentlichte und den ich auch in 
diesem Umfange wohl als erster für die Beobachtung der 
Reifung, Ovulation und Befruchtung des Säugetiereies be- 
schritten habe. Man muss, will man sich einwandfrei be- 
sonders über die biologischen Vorgänge bei der Ovulation, 
Befruchtung etc. orientieren, die Ovarien der Tiere möglichst 
unter Vermeidung jeglichen Insultes, am besten mitsamt der 
nächsten Umgebung, jedenfalls mit ihren Adnexen dem frisch- 
getöteten Tiere entnehmen, in geeigneter Weise konservieren 
und dann in möglichst lückenlose Schnittserien zerlegen. Jede 
Manipulation irgendwelcher Art, wie Zerrung der Bileiter- 
schlingen, Aufschneidung dieser, Trennung des Eierstocks von 


der Tuba etc. muss strengestens vermieden werden, sonst werden 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd. H. 2). 24 


364 J. SOBOTTA, 


Verhältnisse geschaffen, die mit dem natürlichen Zustande der 
Lagerung der Bier und des Sperma gar nichts zu tun haben. 

In erster Linie führte mich seinerzeit die Kleinheit des 
zu makroskopischen Präparierversuchen wenig anreizenden 
Materials der Maus zur Schnittserienmethode; ich habe diese 
aber später auch an solchen Objekten, die ihrer Grösse nach 
sehr wohl zur makroskopischen Präparation oder wenigstens 
einer solchen mit Hilfe der Lupe geeignet sind, in jeder Hin- 
sicht schätzen gelernt; so verfüge ich beim Kaninchen über 
zwar nicht besonders reichliche, aber immerhin genügende 
Erfahrungen sowohl in der alten Methode des Aufsuchens der 
Bier im aufgeschnittenen Eileiter unter Zuhilfenahme der Lupe 
als auch des natürlich viel zeitraubenderen Verfahrens, Kier- 
stock und Eileiter zusammen in Schnittserien zu zerlegen. 
Für die hier in Frage kommenden Beobachtungen ist überhaupt 
nur die letztgenannte Methode verwendbar. Die mittels des 
alten Verfahrens gewonnenen Resultate namentlich ın bezug 
auf das Lagerungsverhältnis der Eileitereier (besonders die 
der älteren Literatur) zeugen deutlich von den Artefakten, 
welche beim Präparieren eines so heiklen Materials entstehen 
müssen. Dass vor allem für die Beobachtung des Kies auf 
seinem Wege zwischen Eierstock und Eileiter der ungestörte 
Zusammenhang beider Organe geradezu Bedingung ist, versteht 
sich von selbst; mit Hilfe anderer Methoden als der einer 
lückenlosen Seriierung eines äusserst vorsichtig fixierten Schnitt- 
materials ist diese Frage eben überhaupt nicht zu lösen. Und 
dem Umstand, dass die älteren Verfahren in diesem Punkte 
versagen mussten, ist es auch in erster Linie zu verdanken, 
dass man bisher fast nur auf Hypothesen angewiesen war. 

Die folgende Mitteilung soll sich also mit den oben schon 
kurz erwähnten Fragen beschäftigen: 1. Wie gelangen die 
ovulierten Eier der Säugetiere und speziell dıe 


der vier genannten Nagerspecies von der Eier- 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 365 


stocksoberfläche aus in den Eileiter? 2. Wie 
und dureh welehe Kraft erfolet/demen, Weiter- 


beförderung in den Uterus? 


I. Der Modus der Aufnahme der ovulierten Säugetiereier 
in den Eileiter. 

Was die erste der beiden oben genannten Fragen anlangt, 
so ist es nötig kurz einen Blick auf die anatomischen Ver- 
hältnisse des Zusammenhanges von Eierstock und Eileiter bei 
den vier in Betracht kommenden Nagerspecies zu werfen, eine 
Frage, auf die ich später ausführlich zurückkomme. Es handelt 
sich zwar um zum grossen Teil bekannte Tatsachen und ins- 
besondere haben Zuckerkandl (24) und U. Gerhardt (5) 
diese Verhältnisse bei Vertretern fast aller Säugelier-Ordnungen 
und -Gattungen zum Gegenstand einer speziellen Veröffent- 
lichung gemacht (s. u.). Den gegenseitigen Beziehungen zwischen 
Kierstock einerseits und Eileiter anderseits nach zerfallen die 
vier von mir in den Kreis meiner Betrachtungen gezogenen 


Nager, Maus, Rattel), Meerschweinchen und Kaninchen in 


!) Meine Untersuchungen erstrecken sich auf die sog. „weisse Maus“ 
und die „weisse Ratte“. Damit ist die zoologische Species allerdings noch 
nicht festgelegt; bei der weissen Maus nimmt man zwar allgemein an, dass 
es sich um den Albino von Mus musculus handelt; bei der weissen Ratte wäre 
es schon fraglich, ob man es mit der weissen V.arietät von Mus rattus oder Mus 
decumanus (norvegicus) zu tun hat; in der Tat ist in der bisherigen Literatur 
entweder das eine oder das andere angenommen worden. Kürzlich behauptet 
aber Huber (8), dass die gewöhnliche weisse Laboratoriumsratte stets 
der Albino von Mus norvegicus sei. Ob das nun wirklich für alle Fälle 
zutrifft, wage ich nicht zu entscheiden; ich verfüge selbst über zu wenig Er- 
fahrung mit Ratten, habe aber oft die Beobachtung gemacht, dass die im Handel 
befindlichen weissen Ratten nicht bloss in bezug auf Grösse, sondern auch ihrem 
ganzen Habitus nach recht verschieden sind. Aber mir ist mindestens ebenso 
fraglich, ob alle ‚weissen Mäuse‘, die man im Handel erhält, einer Species 
angehören. Bei der grossen Mehrzahl ist das wohl zweifellos der Fall; ich 
habe aber früher öfters im Handel eine — übrigens zur Zucht ganz außerordent- 
lich ungeeignete — Rasse erhalten, die sich durch schlanken Körperbau und 
durch eigentümlich spitze Gesichtsbildung ganz wesentlich von der gewöhn- 
lichen weissen Maus unterschied. Dann werden oder wurden auch die sog. 


24* 


"366 J. SOBOTTA, 


zwei Gruppen, die nahezu die Extreme der in der Säuge- 
tierreihe zu beobachtenden Verhältnisse erkennen lassen. Die 
eine Gruppe umfasst die beiden Muriden, bei denen in der 
Tat ganz "ausserordentlich ähnliche Verhältnisse vorliegen, 
während Meerschweinchen und Kaninchen trotz mancher Ab- 
weichungen in einzelnen Punkten der Hauptsache nach zu- 
sammen in die zweite Gruppe gehören. Der Unterschied 
zwischen beiden besteht darin, dass bei den Muriden das 
Mesenterium tubae (Mesosalpinx) eine vollkommen gegen die 
Peritonealhöhle abgeschlossene Ovarialkapsel erzeugt, die 
lediglich mit dem Ostium abdominale tubae uterinae in Ver- 
bindung steht. In dieser Hinsicht unterscheiden sich bekannt- 
lich die Muriden von fast allen bisher daraufhin untersuchten 
anderen Nagern !) und den meisten Säugetieren ?). Beim Kanın- 
chen und Meerschweinchen dagegen liegt der Kierstock bloss 
in einer vom Mesenterium tubae gebildeten (bei beiden Species 
allerdings verschieden tiefen) Tasche, der sog. Bursa ovarlı. 
Die Folge davon ist, dass ein mehr oder weniger grosser 
Teil der Kierstocksoberfläche direkt an die Peritonealhöhle 
erenzt. Das Ostium abdominale tubae kommuniziert also wie 
beim Menschen direkt mit der Peritonealhöhle. Für den Ovu- 


lationsakt kämen daher zwei verschiedene Modalitäten bei den 
japanischen (richtiger chinesischen) Tanzmäuse (Mus Wagneri) häufig zur 
Zucht verwendet, zu der sie auch untereinander hervorragend geeignet sind; 
sie bastardieren sich auch leicht mit der gewöhnlichen weissen Maus, aber diese 
— übrigens einfarbigen, nicht scheckigen — Bastarde sind anscheinend stets 
steril. 

Diese Tatsachen, dass wir es bei den weissen Laboratoriumsratten und 
-Mäusen vielleicht durchaus nicht immer mit der gleichen Species oder Sub- 
species zu tun haben, ist insofern von Interesse, als sich auf diese Weise viel- 
leicht die verschiedenen Angaben der Chromosomenzahlen der betreffenden 
Spezies erklären lassen; es ist das eine Frage, auf die ich gelegentlich an anderem 
Orte zu sprechen kommen werde. 

!) Nur bei den Dipudiden begegnet man den gleichen Verhältnissen. 

2) Bei einigen Fledermäusen, Insektivoren, Pinnipediern und Carni- 
voren (Mardern) trifft man ebenfalls vollkommen geschlossene Kapseln (s. 
US. 815). 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 357 


beiden Gruppen von Nagern — wenigstens theoretischerweise 
—. in Betracht: bei den Muriden ist die Möglichkeit, dass das 
Ei, welches den Eierstock durch Platzen des Graafschen 
Follikels verlässt, überhaupt den Raum der Peritonealhöhle 
betritt, von vornherein ausgeschlossen. Beim Kaninchen und 
Meerschweinchen dagegen könnte man theoretisch die letzi- 
genannte Möglichkeit wenigstens in Frage ziehen; in Wirk- 
lichkeit aber kommt auch sie, wie wir unten sehen werden, 
gar nicht in Betracht. 

Ich habe nun bereits vor 21 Jahren (17) Beobachtungen 
über die Ovulation der Maus mitgeteilt, die über den Mecha- 
nismus der Aufnahme der Eier im den Eileiter Aufschluss 
gaben. Der Vollständigkeit halber wiederhole ich diese Be- 
funde hier, zumal ich sie später (20) auch für die Ratte er- 
heben konnte; auch sind sie von anderer Seite (s. u.) in- 
zwischen bestätigt worden. Während die Ovarialkapsel, so will 
ich der Einfachheit halber die vollkommen geschlossene Bursa 
ovarii der Muriden nennen, gewöhnlich, d. h. im nicht-brünstigen 
Zustand des Tieres der Eierstocksoberfläche relativ dicht an- 
liegt, bzw. diese schlaff umschliesst, aber so, dass ein ziem- 
lich kleiner, mit wenig Flüssigkeit erfüllter Raum zwischen 
Eierstocksoberfläche und Ovarialkapsel übrig bleibt, ändert 
sich dieses Verhalten bei brünstigen Tieren, d. h. bei solchen, 
die kurz vor der Ovulation stehen; die Kapsel ist jetzt stark 
gedehnt, eine verhältnismässig reichliche Flüssigkeitsmenge er- 
fülli die Höhlung des Periovarialraumes, wie ich den Zwischen- 
raum zwischen Kapsel und Eierstock genannt habe. Dieses 
Verhalten ist überaus augenfällig und sehr leicht einige Stunden 
‚vor der (bekanntlich spontanen) Ovulation der Muriden zu 
beobachten. Sowie aber die ovulierten Eier in den Eileiter 
aufgenommen sind, hat die Ovarialkapsel ihr gewohntes Aus- 
sehen wieder angenommen, der Periovarialraum ist bis auf 


eine geringe Menge Flüssigkeit entleert. 


368 J. SOBOTTA, 


Betrachtet man nun das Verhalten des Eileiters in der 
oleichen Zeitperiode, so kann man leicht feststellen, dass, so- 
lange die Ovarialkapsel stark mit Flüssigkeit gefüllt ıst, das 
Verhalten der Eileiterschlingen keine vom gewöhnlichen Ver- 
halten abweichende Beschaffenheit erkennen lässt. Sowie aber 
die Ovulation vor sich gegangen ist oder wenigstens kurze 
Zeit darauf, erscheint am ampullären Teil der Tube eine ge- 
wisse Strecke einer Schlinge bläschenartig ausgedehnt; das 
Kaliber des Eileiters ıst an dieser Stelle auf das Mehrfache, 
ja Vielfache seines gewöhnlichen Kalibers und des des an- 
srenzenden Abschnittes der Tube gestiegen, dıe Wand des Ei- 
leiters ıst infolge der Dehnung extrem verdünnt, die im un- 
sedehnten Zustande so überaus reichlichen Falten der Ampulla 
tubae sind verstrichen. In dieser Tubaranschwellung liegen 
auf einen Haufen vereint innerhalb der reichlichen Flüssig- 
keitsmenge, die in erster Linie Veranlassung zu der mächtigen 
Dehnung des Eileiterabschnittes ist, die gesamten, durch die 
Ovulation des betreffenden Eierstockes frei gewordenen Bier; 
hier machen sie das Endstadium ihrer Reifung (zweite Rıch- 
tungsteilung) durch, hier werden sie besamt und hier bilden 
sich auch bereits die Vorkerne aus. An der Hand eines sehr 
reichen Materials habe ich diesen Vorgang als eine ganz kon- 
stante, mit absoluter Regelmässiekeil auftretende, überaus auf- 
fällige Erscheinung feststellen können. Die gleichen Beobach- 
tungen gelang es mir später bei der Ratte zu machen, bei der 
die Erscheinung in einem fast noch gesteigertem Grade zu 
erkennen ist. Für die Bedeutung dieses Vorganges wichtig 
ist auch die Festlegung der Tatsache, dass bisher sowohl von 
mir wie von allen Nachuntersuchern des Ovulationsvorganges 
der Muriden trotz eines überaus reichlichen Beobachtungs- 
materiales die Bier entweder nur im Periovarialraum oder in 
der Eileiteranschwellung gefunden worden sind; auf der da- 


zwischen liegenden Strecke sind sie bisher noch von keinem 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere efe. 369 


n 
Untersucher angetroffen worden, insbesondere auch nicht im 
Bereich des Infundibulum tubae selbst). 

Aus dieser Beobachtung ergab sich die auch von mir 
seinerzeit gezogene Schlussfolgerung, dass die durch das Platzen 
der Graafschen Follikel in den Periovarialraum gelangten 
Eier nicht, wie man bisher allgemein annahm, durch die Wir- 
kung des Flimmerstroms in das Ostium tubae gelangen, sondern 
von der Tube angesaugt werden, denn kurze Zeit nach 
vollendeter Ovulation ist der mit Flüssigkeit und den Kiern 
‚erfüllte Periovarialraum wieder leer geworden, sein entleerter 
Inhalt findet sich jetzt aber in der Erweiterung des Anfangs- 
abschnittes des Eileiters. Diese Angaben und Folgerungen, die 
ich schon vor 21 Jahren und zum Teil schon früher (18) 
veröffentlicht habe, sind anscheinend wenig bekannt geworden 
und haben das gleiche Schicksal erlitten wie eine Reihe anderer 
Befunde, die ich damals bekannt gab. 

So-ist ganz kürzlich" FEissechel (2) in einer’ sehr 'inter- 
essanten Mitteilung auf ganz andere Weise zu dem gleichen 
Resultat gekommen, wie ich lange Zeit vor ıhm, ohne meine 
Angaben gekannt zu haben. Auch er nimmt an, dass die 
Aufnahme des Eies ın den Bileiter der Ratte, die er unter- 
sucht hat (nach seiner Angabe: Mus decumanus), dadurch 
zustande kommt, dass durch die Wirkung der reichlich im 
Mesenterium tubae bzw. der Ovarıalkapsel vorhandenen glatten 
Muskulatur eine Annäherung zwischen Ovarıum und Mesen- 
terium tubae erfolgt, deren Resultat darin besteht, dass ein 
stärkerer Druck auf die im Periovarialraume befindliche Flüssig- 
keit ausgeübt und infolgedessen diese mitsamt den in ihr be- 
findlichen Eiern zum Ausweichen in das offene Tubenlumen 


I 


!) Das gilt übrigens auch für alle anderen Säugetiere. Wenn Grosser (4) 
anführt, Bischoff (1) habe ein. Ei des Hundes auf der Fimbrie gefunden, so 
ist dieser Befund nicht beweisend, da es sich leicht um ein Artefakt handeln 
kann. Das Ei wird vermutlich in dem fast völlig abgeschlossenen Periovarial- 
raum gelegen haben und bei dessen Eröffnung auf die Fimbrien gefallen sein. 


J. SOBOTTA, 


0 
—I 
© 


veranlasst wird. Da die Muskulatur gleichzeitig eine Annähe- 
rung von Ovarium und Eileiter bewirkt und durch das ab- 
wechselnde Spiel einer Muskelgruppe, die Fischel Musculus 
infundibuli tubae nennt, eine abwechselnde Verengerung und 
Erweiterung des Infundibulum erzeugt wird, so kommt durch 
die Aktion der genannten glatten Muskulatur eine Saug- 
wirkung auf den Inhalt des Periovarialraums 
zustande. 

Fischel kommt also ganz unabhängig von mir und ohne 
jede Kenntnis meiner früheren Mitteilungen auf einem ganz 
anderen Wege wie ich, nämlich auf Grund des Studiums der 
rein anatomischen Verhältnisse zu genau dem gleichen Resul- 
tat, zu dem mich meine Beobachtungen der physiologischen 
Vorgänge bei der Ovulation geführt haben. Eine schönere Über- 
einstimmung zweier, ganz voneinander unabhängiger Beobach- 
tungen lässt sich kaum denken. Übrigens kann ich auch für 
die Maus die anatomischen Befunde von Fischel voll und 
sanz bestätigen; auch bei der Ratte bin ich in der gleichen 
Lage. 

Es gibt noch einige weitere Tatsachen, die indirekt gegen 
die Bedeutung der Wirkung des Flimmerstroms bei der Eı- 
aufnahme seitens des Tubenostiums sprechen und daher zu- 
gunsten der von mir zuerst formulierten Hypothese, wie ich 
mich vorsichtigerweise ausdrücken will, obwohl es sich wohl 
um eine nicht zu bestreitende Tatsache handelt. Ich habe 
in meiner letzten Mitteilung (21) nochmals auf eine solche hin- 
gewiesen, d. i. der Umstand, dass die Fier der Maus und 
Ratte relativ lange im Periovarialraum sich aufhalten. Die 
Ovulation aller Eier desselben Eierstocks erfolgt nämlich nicht 
senau a tempo, sondern in gewissen, allerdings geringen Inter- 
vallen platzen entweder die einzelnen Follikel nacheinander 
oder wohl auch — was ich allerdings nie beobachtet habe — 


einige gleichzeitig. Die Folge davon ist, da die Eier gemein- 


Anatomische Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 


Musculus mesenterii tubae 


Margo liber ovarii 


oberes 


Facies 
dorsalis 
ovarii 


Corpora # 
lutea 


Elleiterschlinge 


iprungroife 
Follikel 


Kiloitergekröse 


Ampulla tubae 


\ 
> Ostium 


" Insertion des 


= =Mesovarium 


er Follikel 


Mrisggeplatzt 
\ 


Eileiter 


oberes Bileiter- 
gekröse 


Corpus 
luteum 
der vor- 


unteres. 
Bileiter- 
gekröse 


atretischer- 
Follikel 


Infundi- 
r- bulum 


unteres Eileiter- 
gekröse 

Muskulatur vom 
Vol des Uterus- 
horns aus- 


> Mesovaı! 
strahlend Tesovarium 


Infundibulum<”" 


abdominnle 
tubae 


Infundibulum 
am Bierstock 


Mesovarium <=" 


Vorlag von J. F Bann in Wiespauen, 


Tafel 27/28 


—--- äusserster 
Zipfel des 


Infundi- 
bulum 


> Musc. 
mesenterli 
tubae 


der Reife ” 
naher 
Follikel 


Bileiter 


Eileitergekröse, 
stark gefaltet. 
Fig. 7. 


Margo liber ovarii 


oberes Bileiter- 
gekröse 


= Eileiter 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 371 


sam mit der Flüssigkeit des Periovarialraums durch eine inter- 
mittierende Aktion des Infundibulum angesaugt werden, dass 
die ovulierten Eier sich einige Zeit im Periovarialraum auf- 
halten müssen, wenn sie nicht gerade zur Zeit der Saugwirkung 
aus den platzenden Follikeln austreten. Würde der Flimmer- 
strom die Eier in den Eileiter befördern, so müsste, da. dieser 
ja dauernd und nicht intermittierend, etwa nach Bedarf wirkt, 
jedes ovulierte Ei sofort vom Flimmerstrom erfasst und in 
die Tube geschafft werden. Dass dieses aber nicht der Fall 
ist, ergibt sich daraus, dass verschiedene Beobachter bei der 
Maus bzw. Ratte Eier im Periovarialraum gefunden haben und 
dass dieser Befund sogar relativ häufig erhoben worden ist, 
so insbesondere von seiten Long und Marks (11), die einen 


relativ hohen Prozentsatz von Eiern hier gefunden haben. 


Ich habe auf diese Tatsache, die ebenfalls — wenn auch 
indirekt — zugunsten der Ansaugungshypothese spricht, be- 


reits in meiner mehrfach zitierten (17) Veröffentlichung hin- 
gewiesen und damals schon erwähnt, dass man sich den 
Ovulationsvorgang bei der Maus so vorstellen muss, dass die 
Ansaugung nicht aller ovulierten Bier auf einmal erfolgt, sondern 
in mehreren Tempi, was man daraus schliessen kann, dass in 
der Regel nur ein Ei im Periovarıalraum gefunden wird, 
während die anderen noch im Eierstock liegen oder sich be- 
reits in der Tube befinden. Die maximale Dehnung der 
Ampullenschlinge wird also erst nach Aufsaugung aller Eier 
zustande kommen können. 

Dass bei diesem Vorgang das Flimmerepithel des Infundi- 
bulum überhaupt aktiv beteiligt ist, halte ich für äusserst un- 
wahrscheinlich, schon deswegen, weil es weder mir bei einem 
enorm grossen Material noch einem der Nachuntersucher je 
gelungen ist, ein Ei auf dem Infundibulum oder dessen Fimbrien 
zu finden. Ausserdem kann man sich die Wirkung des Flimmer- 


stroms schwer vereint mit der Saugwirkung vorstellen; für 


372 J. SOBOTTA, 


die Existenz der letzteren sind aber nicht nur die anatomischen 
Vorbedingungen nachgewiesen, sondern das Resultat der An- 
saugung ist sicher beobachtet worden. Ich habe deswegen 
auch der Bedeutung des Flimmerstromes am ampullären Ende 
der Tube eine ganz andere Rolle übertragen zu müssen ge- 
glaubt (21), worauf ıch unten noch zurückkomme! 

Es ıst also für die Muriden nachgewiesen, dass für die 
Aufnahme der Eier in den Bileiter die Wirkung des Flimmer- 
epithels zum mindesten nicht nötig ıst, dass vielmehr eine 
Ansaugung der Kier mitsamt dem erössten Teil der im Peri- 
ovarialraum befindlichen Flüssigkeit stattfindet. Diese Tatsache 
kann auch Grosser, der in seiner letzten Mitteilung (4) 
eine allerdings nicht allzu starke Lanze für die Flimmer- 
bewegung zu brechen versucht, nicht wegleugnen; er weist 
aber diesem Verhalten der Muriden eine durch die Eigentüm- 
lichkeit ihrer Eierstockslagerung bedingte Sonderstellung an. 
Dass letzteres unzutreffend ist, werde ich gleich an der Hand 
eines geeigneten Beobachtungsmaterials von zwei anderen 


‘ 


Nagern mit „weit offener“ Bursa ovarica nachweisen. 

Ich wende mich nun zu dem Verhalten der beiden 
anderen von mir untersuchten Nager, dem Meerschwein- 
chen und Kaninchen, deren von dem der Muriden ab- 
weichendes Verhalten des Ovariums zum Mesenterium tubae 
bereits oben kurz gekennzeichnet wurde. Das Wesentliche und 
(remeinsame in der Beziehung der Bierstöcke der beiden Species 
zu ihren Adnexen ist — wie oben bereits gesagt — die Eigen- 
tümlichkeit, dass ein Teil der Eierstocksoberfläche unmittelbar 
an den Raum der Peritonealhöhle grenzt. Für diese Fälle 
käme lediglich die Wirkung des Flimmerepithels in Betracht, 
meint Grosser (l. ec.) und Henle ist ihm einer der Haupt- 
zeugen für die Richtigkeit dieser Auffassung. Henle hat aber 
in seiner Eingeweidelehre in erster Linie die Verhältnisse beim 


Menschen im Auge gehabt, und wenn man auch sinngemäss 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 373 


dessen Ausführungen sehr wohl auf die Säuger mit nicht- 
geschlossener Ovarialkapsel übertragen kann, so fehlten doch 
Henle jegliche Erfahrungen über das Verhalten des Eier- 
stockes zu seinen Adnexen während der Brunst, die — ab- 
gesehen von ganz vereinzelten gelegentlichen Andeutungen 
bisher eben überhaupt unbekannt waren. 

Bevor ich hier auf meine eigenen Beobachtungen eingehe, 
muss ich der Orientierung wegen kurz die anatomischen Lage- 
rungsverhältnisse von Ovarium einerseits und Bileiter bzw. 
Mesosalpinx !) andererseits innerhalb der Säugetierreihe kenn- 
zeichnen. Diese Beziehungen sind, abgesehen von einigen 
älteren Untersuchungen, insbesondere durch die umfassenden 
Mitteilungen von Zuckerkandl (24) zum ersten Male für 
eine grössere Anzahl von Säugerformen, ferner für die Muriden, 
welche von ersterem nicht berücksichtigt werden, von mir (17, 
18, 20), Powierza (13) und Fischel (2) klargelegt worden. 
Während beim Menschen und den meisten Affen der Eier- 
stock nicht in einer besonderen Ovarialtasche oder Bursa ovarii 
selegen ist, findet sich bei den meisten übrigen Säugetieren 
zum Teil schon den niederen Affen eine mehr oder weniger 
starke Umhüllung des Ovarıums seitens peritonealer Falten, 
die zur Bildung einer — allerdings bei den einzemen Gat- 
tungen und selbst Species in der Ausbildung ausserordent- 
lich schwankenden — Bursa ovariı führen. Das Auftreten 
einer solchen ist aber gebunden an die Existenz eines be- 
sonders gut entwickelten oberen Tubengekröses, wie 
Zuckerkandl gezeigt hat. Beim Menschen fehlt ein solches 
ja völlig und ist lediglich ein unteres Gekröse (Mesosalpınx) 
vorhanden. 

Ferner hat sich unabhängig von Zuckerkandl und 


anscheinend auch ohne jede Kenntnis von dessen ausführlicher 


!) Ich verstehe unter Mesosalpinx natürlich das gesamte Mesenterium 
tubae einschliesslich der sog. Ala vespertilionis. 
’ 


374 J. SOBOTTA, 


Veröffentlichung Ulrich Gerhardt (5) mit der Frage der 
Beziehungen zwischen Eierstock und Eileiter beschäftigt. Die 
Angaben beider Autoren ergänzen sich in vieler Hinsicht da- 
durch, dass von ihnen zum Teil andere Gattungen oder Species 
untersucht wurden; so berücksichtigt Gerhardt z. B. auch 
die Verhältnisse der Muriden, nicht aber das Meerschweinchen ; 
seine Darstellung der Bursa ovarica des Kaninchens ist aller- 
dings weniger exakt als die von Zuckerkandl. Gerhar dt 
betrachtet als Hauptursache der Bildung einer mehr oder 
weniger stark ausgeprägten Bursa ovarica das Vorhandensein 
einer Tubenschlinge; bei gestrecktem Verlaufe des Kileiters 
fehlt die Bursa ovarii (Bierstockszelt nach E. H. Weber [23] 
im Gegensatz zur vollkommen geschlossenen Eierstockskapsel) 
fast völlig oder überhaupt gänzlich. 

Je nach der Ausbildung und dem speziellen Verhalten 
des oberen Tubengekröses unterscheidet Zuckerkandl (24) 
sechs Hauptformen der Taschenbildung um den Eierstock: 
1. eine seichte, zwischen den Tubengekrösen gelegene Tasche, 


die nieht imstande ist, das Ovarium zu umfassen; 2. eine 


» 
Ovarialtasche, an deren Bildung die dorsale Wand des In- 
fundibulum tubae beteiligt ist; 3. eine Tasche ohne Beteiligung 
dieser Trichterwand; 4. die Ovarialkapsel mit Mündung gegen 
den Raum der Peritonealhöhle; 5. eine vollständig gegen den 
letzteren abgeschlossene Ovarialkapsel; 6. Übergangsformen 
zwischen 3 und 4. Ausserdem finden sich bei einigen Säuge- 
tieren noch besondere Einrichtungen der Ovarialtaschen oder 
besondere Beziehungen des Rierstockes zum Infundibulum 
tubae, die unter keine der sechs Kategorien einzuordnen sind; 
auf diese komme ich später noch einmal kurz zu sprechen. 
Wir haben also flache Nischen, tiefe Taschen, mit und ohne 
Öffnung versehene Kapseln zu unterscheiden. Das typischste 
Beispiel für den letzteren Fall stellen die Muriden dar, wie 


oben schon kurz erwähnt wurde; bei diesen schliesst die 


‘ 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 375 


Ovarialkapsel einen besonderen, ursprünglich der Peritoneal- 
höhle angehörigen Raum, den Periovarıalraum vom 
Hauptteil der Bauchhöhle ab; beide besitzen keinen Zusammen- 
hang mehr miteinander. In den Raum der Ovarialkapsel taucht 
das nur mässig ausgebildete Infundibulum hinein; allein mit 
der Lichtung des Rileiters steht der Hohlraum des Periovarial- 
spaltes in offener Kommunikation. Ich verweise für diese 
Verhältnisse nochmals auf meine (17) Darstellung, die von 
Powierza (13) und von Fischel (2), namentlich auch auf 
die Abbildungen, die dieser von den einschlägigen Verhält- 
nissen bei der Ratte gegeben hat. Ausserdem kommen voll- 
ständig gegen die Peritonealhöhle abgeschlossene Kapseln unter 
den Nagern bei den Dipudiden, bei manchen Insektivoren 
(Maulwurf, Spitzmaus), bei mehreren Fledermäusen, einigen 
Pinnipediern und unter den Raubtieren bei den Mardern vor 
(8. 72:90..9. 366). 

Nahezu die gleichen Verhältnisse finden sich bei einigen 
anderen Säugetieren ; es ist eine Ovarialkapsel vorhanden ; diese 
kommuniziert aber mittels einer oft äusserst engen, meist 
schlitzförmigen. Öffnung mit der Peritonealhöhle; man trifft 
dieses Verhalten unter den Nagern beim Eichhörnchen, ver- 
schiedenen, namentlich hundeartigen Raubtieren, von den In- 
sektivoren beim Igel, bei vielen Fledermäusen. Bei der Mehr- 
zahl der bisher auf diese Verhältnisse hin untersuchten 
Säugetierspecies kommen aber nur „Taschen“ im Sinne 
Zuckerkandls oder Eierstockzelte nach E. H. Weber vor; 
diese Taschen können bald tief, bald flach sein; bald grenzt 
eine der beiden Hauptflächen des Eierstocks ihrer ganzen Breite 
nach an den Hohlraum der Peritonealhöhle, bald nur ein Ab- 
schnitt dieser, bald ist fast die sesamte Eierstocksoberfläche, 
jedenfalls soweit sie Keimepithel trägt, in die Tasche einge- 
schlossen. 


Die beiden Nager, die uns hier beschäftigen, Kaninchen 


376 J. SOBOTTA, 


und Meerschweinchen, verhalten sich graduell verschieden, ab- 
oesehen von einigen sonstigen Differenzen ; beim Kaninchen 
ist eine geräumige, dorsomedial weit geöffnete Tasche vor- 
handen : diese ist mit einer Seitenbucht versehen, in der die 
laterale Fläche und der tubare Pol des Ovarıums stecken, 
während die dorsale Eierstocksfläche und der mediale (freie) 
Rand der Geschlechtsdrüse vollkommen frei gegen die Peri- 
tonealhöhle liegen. Das Infundibulum tubae ist ausserordent- 
lich gross und stark entwickelt. Wohlgemerkt bezieht sich 
diese Beschreibung (Zuckerkandl) auf das nicht brünstige 
Tier. Beim Meerschweinchen liegen die Verhältnisse etwas 
anders; hier ist nur die dorsale Fläche des Eierstockes (und 
auch diese selbst bei nicht-brünstigen Tieren nicht in ihrer 
ganzen Ausdehnung) frei gegen den Raum der Peritonealhöhle 
gerichtet. Die ganze Länge des medialen (freien) Randes sowie 
die gesamte Ausdehnung der ventralen Bierstockslläche stecken 
in einer Tasche, deren vordere Wand vom unteren, deren 
obere Wand vom oberen Teil des Mesenterium tubae gebildet 
wird. Das Infundibulum tubae ist ebensowenig wie beim 
Kaninchen an der Bildung der Ovarialtasche beteiligt; es steckt 
nicht in der Tasche, sondern wendet seine Schleimhautfläche 
der Bauchhöhle zu; auf diese Weise begrenzt es den läng- 
lichen, aber beim nicht-brünstigen Tier weiten, dorsokranial 
serichteten Spalt, der die Kommunikation zwischen Tasche 
und Peritonealhöhle darstellt. Auch diese Darstellung bezieht 
sich auf das Verhalten ausserhalb des Brunstzustandes. 
Berücksichtigt man diese, durch die durchaus zutrelfende 
Beschreibung von Zuckerkandl gekennzeichneten Verhält- 
nisse der Beziehungen von Eierstock und Ovarialtasche bei 
Kaninchen und Meerschweinchen, so wird man sich veranlasst 
fühlen, den Schluss zu ziehen, der tatsächlich auch bisher 
fast immer gezogen worden ist, ja auf den selbst experimentelle 


Untersuchungen aufgebaut worden sind, ich meine die Schluss- 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 377 


. 
folgerung, dass die bei der Ovulation durch Platzen Graaff- 
scher Follikel frei werdenden Bier besonders leicht beim Kanin- 
chen, weniger leicht beim Meerschweinchen in die freie Peri- 
tonealhöhle gelangen können und dass bei allen oder (Meer- 
schweinchen) der grossen Mehrzahl der Follikel, die auf der 
der Peritonealhöhle zugekehrten Fläche des Eierstocks platzen, 
dies die Regel sein muss. Die bisherigen Auffassungen der 
Sachlage waren dann die, dass nun durch Wirkung des von 
seiten des Infundibulum tubae ausgehenden Flimmerstromes 
die hier sozusagen in die Peritonealhöhle entleerten Kier, noch 
ehe sie etwa durch Peristaltik benachbarter Darmschlingen 
verschleppt würden, in der Nähe der Ovulationsstelle durch 
den Flimmerstrom angesaugt und in den Eileiter transportiert 
würden. 

Diese Anschauung ist aber grundfalsch. Es ıst näm- 
lich ganz ausser acht geblieben, dass der Apparat der Tuben- 
sekröse und der von ihnen gebildeten Ovarialtaschen mit einer 
recht mächtigen glatten Muskulatur ausgestattet ist, 
die nicht zwecklos hier angebracht ist, sondern deren Wirkung 
man bei Untersuchung der Eierstöcke brünstiger Tiere mit 
Leichtigkeit schon makroskopisch oder wenigstens mit Hilfe 
der Lupe feststellen kann. Überblickt man die oben kurz nach 
Zuckerkandl geschilderten anatomischen Verhältnisse der 
Ovarialtaschen bei den verschiedenen Säugetieren und berück- 
sichtigt man die oben schon einmal erwähnte und sicherlich 
ganz unbestreitbare Tatsache, dass bei den Muriden die in 
den Periovarialraum ovulierten Eier von seiten der abdominalen 
Tubenöffnung angesaugt werden, so liegt doch die Vermutung 
nahe, dass auch bei denjenigen Säugetieren, bei denen eine 
bis auf eine kleine Öffnung geschlossene Kapsel vorliegt, der 
Vorgang der Aufnahme der Bier in den Eileiter der gleiche 
sein muss oder zum mindesten sein kann, zumal wenn man 
findet, dass ein Muskel vorhanden ist, der diese kleine Öff- 


378 J. SOBOTTA, 


nung noch zu verkleinern oder selbst zu verschliessen imstande 
ist. In der Tat enthält die ältere Literatur bereits Angaben, 
die sich unzweifelhaft bereits beim Hunde, der ja eine Kapsel 
mit kleiner Öffnung besitzt, auf richtige Beobachtungen stützen. 
Es beschreibt nämlich schon 1729 Vallisneri (22), dass 
bei der Hündin die kleine Öffnung der Ovarialkapsel während 
der Brunst und nach der Befruchtung verengert sein soll und 
die Kapsel selbst soll nach Art des Herzbeutels Wasser ent- 
halten. Ist das nicht schon eine Bestätigung meiner bei den 
Muriden erhobenen Befunde? Aber wir werden sehen, der 
Hund steht damit nicht allein; auch bei den Säugetieren mit 
„weit offener‘ Ovarialtasche ist die Sachlage keine andere. 
Übrigens gibt auch Zuckerkandl (24) bei der Dar- 
stellung seiner Befunde einige Male an, dass er bei ver- 
schiedenen Exemplaren ein und derselben Species verschieden 
grosse Strecken der Eierstocksoberfläche gegen die Peritoneal- 
höhle hin offen liegend fand; wahrscheinlich handelte es sich, 
wie wir unten noch sehen werden, um ein nicht-brünstiges 
‘xemplar und ein solches, bei dem die Brunst einsetzte !). 
Ferner hat mein Schüler Rubaschkin (14) beim Meer- 
schweinchen bereits mit aller Deutlichkeit die Tatsache fest- 
stellen können, dass auch bei diesem Nager trotz nicht- 
geschlossener Ovarialtasche der Eileiter während und nach 
der Ovulation ein ganz entsprechendes Verhalten zeigt wie 
bei den Muriden; der sonst so ungemein faltige (Fig. 5 u. 6) 
ampulläre Teil der Tube ist stark ausgedehnt, die Falten sind 
mehr oder weniger verstrichen und in einer grossen, den Eı- 
leiter ausdehnenden Flüssigkeitsmenge liegen die in die Tube 
aufgenommenen Eier. Unwillkürlich wird man zu dem Schluss 
sedrängt, dass die Eier beim Meerschweinchen in genau der 


oleichen Weise angesaugt werden wie bei den Muriden. In 
1) Darauf beruht es wohl auch, daß Gerhardt (5) die Ovarialtasche 
des Kaninchens als nur ganz flach und rudimentär beschreibt. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere ete. 379 


der Tat ist diese Annahme gerechtfertigt, wie wir unten sehen 
werden. 

Ich beginne nun die Darstellung meiner Befunde über den 
Ovulationsvorgang beim Kaninchen und Meerschwein- 
chen mit dem letzteren, zumal ıch hier über ein wesentlich 
grösseres Beobachtungsmaterial verfüge wie beim Kaninchen. 
Wie sich die Lagerung des Kierstocks zur Ovarialkapsel beim 
nicht-brünstigen Tier verhält, ist oben bereits im Anschluss 
an die Beschreibung von Zuckerkandl auseinandergesetzi 
worden. Es liegt nahezu die ganze Oberfläche der einen der 
beiden Hauptflächen des Ovars frei gegen die Peritonealhöhle. 
Untersucht man nun die Eierstöcke von Tieren, die sich im 
Zustand der Ovulation befinden, so gewinnt man einen ganz 
anderen Anblick. Bezeichnend dafür ist eine kurze Notiz, die 
ich mir über das äussere Bild eines Eierstockes von Cavia 
mit seinen Adnexen gemacht habe, ehe ich das Präparat be- 
hufs Mikrotomierung einbettete. Es handelte sich um Material, 
das mein Schüler Rubaschkin, ohne es für die Zwecke 
seiner Veröffentlichung zu verwenden, hier konserviert, aber 
nicht weiter behandelt hatte. Ich wollte es für meine Ver- 
öffentlichung über das Corpus luteum benutzen und, da man 
beim Meerschweinchen ähnlich wie beim Kaninchen (ab- 
weichend von dem Verhalten bei. den Muriden) die frisch- 
geplatzten Follikel auf der Eierstocksoberfläche deutlich mit 
der Lupe wahrnehmen kann, so kontrollierte ich, um bereits 
im voraus einen Einblick in das Entwickelungsstadium des 
gelben Körpers zu bekommen, die Eierstocksoberfläche. Die 
Notiz lautet nun: Eierstocksoberfläche nirgends 
sichtbar, wird von der Ovarialkapsel voll- 
kommen überlagert.‘ 

Während also bei nicht-brünstigen Tieren zum mindesten 
ein grosser Teil der einen Ovarialfläche frei gegen die Peritoneal- 
höhle gerichtet ist, wird während der Ovulation und einige 


Anatomische Hefte I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd.. H. 2), 25 


380 J. SOBOTTA, 


Zeit nachher (denn es handelte sich bei dem oben kurz be- 
schriebenen Präparat um ein derartiges Stadium) auch der 
letzte Rest der freiliegenden Ovarialfläche zugedeckt; die weite 
Kommunikation zwischen dem Raum der Ovarialtasche und 
Peritonealhöhle wird zu einem ganz engen Spalt, so dass man 
in praxi von einem fast vollkommenen Verschluss der Ovarial- 
tasche sprechen kann. Hier liegt aber nicht eine einzelne 
Beobachtung meinerseits vor, sondern ich verfüge über eine 
oanze Anzahl von Schnittserien, die dieses Verhalten aufs 
deutlichste illustrieren. 

Wer schliesst nun die Ovarialtasche zur Zeit der Ovu- 
lation? Natürlich kann das nur ein Muskel sein. Und ein 
solcher ist in der Tat in mächtiger Ausbildung vorhanden. 
Ich muss zum Zwecke dieser Auseinandersetzung nochmals 
auf die anatomischen’ Verhältnisse der Ovarialkapsel des Meer- 
schweinchens zurückgreifen, die zwar von Zuckerkandl 
meisterhaft beschrieben worden sind, da aber die Muskulatur 
im wesentlichen erst im mikroskopischen Bilde deutlich zutage 
tritt und die Darstellung von Zuckerkandl sich auf das 
Studium der makroskopischen Verhältnisse bezieht, ist Zucker- 
kandl die Existenz des Schliessmuskels der Ovarialtasche 
entgangen. Dieser beschreibt das zwar gutentwickelte, aber 
im Vergleich zu dem des Kaninchens doch schwache, länglich 
geformte Infundibulum tubae folgendermassen: Der Kileiter 
biegt am uterinen Pole des Bierstocks in einen grossen Trichter 
ein, der oberhalb des Eierstocks gelagert, mit seinem ovarialen 
Ende am lateralen Pol des Fierstocks inseriert, während das 
uterine Trichterende dem freien Rande des oberen Tuben- 
oekröses folgend fast bis an den Uterus heranreicht. 

Ich möchte dieser Beschreibung einige ergänzende Be- 
merkungen hinzufügen. Die Gestalt des Infundibulum tubae 
des Meerschweinchens ist eine ungefähr spindel- oder doppel- 


kegelförmige; die beiden Hälften der Spindel sind aber un- 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 381 


gleich lang und besitzen daher einen ungleich grossen Winkel. 
Die kurze Spindelhälfte mit dem weniger spitzen Winkel ist 
die ovarielle, die längere mit dem kleineren Winkel ist die 
uterine. Wenn Zuckerkandl bemerkt, dass dieser Abschnitt 
des Infundibulums fast bis an den Uterus reicht, so. ıst das 
nicht ganz genau; man kann allerdings makroskopisch die 
Grenze von Infundibulum und Muskel nicht genau feststellen. 
Während nämlich im Bereiche der lateralen Hälfte des läng- 
lichen Eierstocks das spindelförmige Infundibulum am freien 
Rande des Eileitergekröses gelegen ist, bildet in der Verlänge- 
rung des spitzen, uterinen Endes des Trichters ein schmaler 
aber kräftiger Muskel, der sich ganz allmählich aus dem spitzen 
Ende des Infundibulums zu entwickeln scheint, den uterinen, 
bis an das tubare Ende des Uterus schon makroskopisch als 
leichte Verdiekung verfolgbaren Abschnitt des freien Mesen- 
terialrandes. Der freie, beim nicht-brünstigen Tiere noch einen 
kleinen Teil der dorsalen Bierstocksfläche überlagernde Rand 
des Mesenterium tubae des Meerschweinchens besteht also in 
seinem (grösseren) lateralen Bereiche aus dem in diesen Rand 
eingelagerten Infundibulum, in seinem (kleineren) uterinen da- 
gegen aus einem Muskel, der nur eine leichte Verdickung des 
Randes (beim nicht-brünstigen Tier!) erzeugt; in der‘ Mitte 
dieses Gekröserandes decken sich beide Gebilde insofern, als 
der das äusserste Ende des spitzen Winkels des Infundibulums 
bildende Grekröserand eine feingezackte Randpartie hervortreten 
lässt und sich vor den Anfang des Muskels (d. h. dem freien 
Gekröserande näher) lagert. 

Der Musculus mesenterii tubae, um den es sich 
hier handelt, verläuft mit seinen Bündeln dem freien Rande 
des Gekröses nahezu parallel; er geht aus der äusseren Längs- 
muskellage des Uterus hervor, die ich bereits gelegentlich 
anderer Untersuchungen (16) als Muskulatur der Serosa be- 
zeichnet habe, und inseriert am uterinen Ende des Infundi- 


25* 


382 J. SOBOTTA, 


bulums, und zwar, wie aus obigem schon hervorgeht, nicht 
an dessen spitz ausgezogenem äusserstem Ende, sondern nahe 
dem uterinen Umfang des Ostium abdominale. Über dieses 
muss ich noch einige Angaben machen; es erscheint in Ge- 
stalt eines länglichen, engen Schlitzes (die Beschreibung be- 
zieht sich immer aul den nicht-brünstigen Zustand des Eier- 
stocks), der gegen den Raum der Peritonealhöhle hin offen 
ist, nicht etwa gegen den Raum der Ovarialtasche. Bei der 
länglichen Form der Öffnung kann man zwei sie begrenzende 
Lippen unterscheiden. 

Untersucht man nun aber die Eierstöcke von Tieren zur 
Zeitder Ovulation oder kurz vor oder nachher, so ändern 
sich die Beziehungen des Eierstocks zu seinen Adnexen sehr 
wesentlich, wie schon oben angegeben. Der Musculus inesen- 
terii tubae ist nämlich jetzt in Aktion getreten, geradeso wie 
um diese Zeit auch die entsprechende Muskulatur bei Muriden 
zur Wirksamkeit kommt. Zieht sich aber dieser Muskel zu- 
sammen — und dass er dies zur Zeit der Ovulation tut, 
geht nicht bloss aus seiner bereits oben angegebenen Wirkung 
hervor, sondern lässt sich an entsprechenden Präparaten direkt 
erkennen —, so zieht er das im nicht-brünstigen Zustande 
schlaff und faltig den Kıerstock nur teilweise umhüllende Mesen- 
terium tubae auch über die ganze dorsale Fläche des Ovariums, 
die im nicht-brünstigen Zustande fast ganz frei gegen die 
Peritonealhöhle liegt. Der freie, vom Infundibulum und dem 
Tubengekrösemuskel eingenommene Rand des Mesenterium 
tubae, der vorher dem lateralen Abschnitt der dorsalen Fläche. 
des Bierstocks gegenüberlag, wird nun bis an das Mesovarıum 
herabgezogen. 

Man kann sich den Unterschied im Verhalten des Ovarıums 
zum Bileitergekröse im nicht-brünstigen und im brünstigen Zu- 
stande leicht an der Hand von Durchschnittsbildern vergegen- 


wärtigen; ich verfüge über mehr als 12 Schnittserien von 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 383 


sierstöcken des ‚Meerschweinchens aus der Zeit, die der Ovu- 
lation unmittelbar vorausgeht, und aus der direkt darauffolgen- 
den Periode. Fig. 1 zeigt einen Querschnitt durch den Bier- 
stock und das Eileitergekröse im nicht-kontrahierten Zustand 
des Muskels; es handelt sich zwar um kein Präparat aus dem 
geschlechtlich-indifferenten Zustande, sondern das Tier war be- 
[ruchtet, die Eier befanden sich ım Stadium der Furchung; 
das Bild ist aber genau das gleiche, als das eines (Juer- 
schnittes durch den uterinen Abschnitt des Eierstocks eines 
nicht-brünstigen ‚und nicht-trächtigen Tieres. Der Muskel nimmt 
mit seinen im nicht-kontrahierten Zustande locker gelagerten 
Bündeln den dorsalen Gekröseanteil, namentlich die “Gegend 
des freien Randes ein, während das fettreiche ventrale Ei- 
leitergekröse muskelfrei ist. Der freie, muskelhaltige Rand des 
Mesenterium tubae entspricht in seiner Lagerung ziemlich genau 
dem freien Rande des Ovariums; dessen ganze oder fast ganze 
dorsale Fläche ist unbedeckt und sieht nackt gegen den Raum 
der Peritonealhöhle. Die gegenüberliegende Fläche dagegen 
grenzt an den Raum der Ovarialtasche. 

Will man die Wirkung des Muskels sehen, so vergleicht 
man mit dem Bilde der Fig. 1 das der Fig. 2 oder 3. Das 
letztere, zum Vergleich wohl am besten geeignete muss als 
Spiegelbild zu Fig. 1 betrachtet werden; die entsprechenden 
Eierstocksflächen erscheinen seitenvertauscht. Der Schnitt hat 
das betreffende Ovarıum bereits in der Nähe des Ostium ab- 
dominale tubae getroffen, also in der Gegend der langen spitzen 
Hälfte des Infundibulums, ohne dass aber das abdominale Ei- 
leiterostium selbst sichtbar wäre. Es handelt sich bei dem 
in Fig. 2 abgebildeten Präparat um ein Tier, das eben ovuliert 
hat; die Eier sind gerade in den ampullären Teil des Ei- 
leiters aufgenommen und liegen in der oben geschilderten Er- 
weiterung der Tube. Am freien Rande des Mesenterium tubae 
liegt an Stelle des in Fig. 1 sichtbaren Muskels das Infundi- 


384 J. SOBOTTA, 


bulumt). Es ist durch die Kontraktion der Muskulatur des 
Eileitergekröses über die ganze dorsale Fläche des Ovarıums 
herabgezogen bis an die Ansatzstelle des Mesovarıums. Gleich- 
zeitig ist dem Muskelzuge das ganze obere Tubengekröse ge- 
folgt, das sich verhältnismässig eng an die Eierstocksober- 
fläche anlegt. Eine weitere auffällige Erscheinung, die gleich- 
falls erst durch die Zusammenziehung des Musculus mesenterii 
tubae zustande gekommen ist, ist in der Stellung des Infundi- 
bulums zu erkennen. Während dieses beim nicht-brünstigen 
Tier fast mit seiner gesamten Oberfläche, insbesondere beiden 
Lippen des Ostium abdominale gegen die Peritonealhöhle hin 
gerichtet ist, erfährt das Infundibulum durch die Kontraktion 
der Muskulatur des Mesenterium tubae auch eine Drehung 
der Art, dass das Ostium selbst (Fig. 4) gegen den Hohlraum 
der Ovarialtasche gekehrt wird; dadurch wird die mit Flimmer- 
epithel überzogene Oberfläche der einen Lippe gleichfalls gegen 
diesen Raum hin gewendet, während die natürlich in gleicher 
Weise flimmernde Fläche der anderen Lippe der Peritoneal- 
höhle zugekehrt ist oder — richtiger gesagt — bleibt. 
Dieses Verhalten tritt auf Fig. 3 überaus deutlich hervor; 
der Schnitt liegt ja näher dem tubaren Ende des Uterus als das 
Ostium tubae, geht also durch den spitz ausgezogenen uterinen 
Abschnitt des Infundibulums, dessen beide faltigen, mit Flimmer- 
epithel in gleicher Weise ausgestatteten Oberflächen nur durch 
eine dünne Gewebsschicht getrennt sind. Die peritoneale Ober- 
fläche des Infundibulumdurchschnittes erscheint mit stärkeren 
flimmernden Falten ausgestattet als die dem Eierstock zuge- 
kehrte. Ganz ähnliche Verhältnisse lässt das Präparat der 
Fig. 2 erkennen; bei diesem geht der abgebildete Querschnitt 


1) Ist der Muskel kontrahiert, so ist die Strecke, die er am freien Rande 
des Mesenteriums tubae einnimmt, natürlich ganz kurz, so dass es kaum ge- 
lingt, ihn jetzt auf Querschnitten nach Art der Fig. 1 zur Darstellung zu 
bringen. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 385 


durch das laterale, dem Uterus abgewandte Ende des Infundi- 
bulums und durch den Eierstock selbst in der Nähe seines 
freien Poles. Es befindet sich von diesem Präparat nur ein 
Teil der gesamten Schnittserie in meinen Händen; diese lässt 
mehrere frisch-geplatzte Follikel erkennen; ob die Bier noch 
im Periovarialraume waren oder bereits in den ampullären 
Teil der Tube aufgenommen (oder ob für einen Teil der Bier 
das eine für den anderen das andere zutraf), entzieht sich 
meiner Kenntnis, da gerade der entscheidende Teil der Serie 
mir fehlt. Ich vermute aber, dass die erste Annahme die 
zutreffende sein dürfte. 

Auch in Fig. 2 erkennt man nun deutlich, dass der Schliess- 


muske! des Ovarialsackes — denn um einen solchen handelt 
es sich ja in der Tat — seine Schuldigkeit getan hat; der 


Bierstock ist durch dessen Kontraktion so gut wie eingekapselt. 
Ein mit Flüssigkeit erfüllter, relativ weiter Periovarıalraum. ist 
zwischen Eierstock und Ovarialkapsel, d. h. Mesenterium tubae 
gebildet. Dieser Hohlraum ist zwar nicht vollkommen gegen 
die Peritonealhöhle abgeschlossen ; aber als Pförtner der Öff- 
nung, der wohl jemanden hinein aber niemand hinauslässt, 
wirkt der Flimmerstrom des die Öffnung beherrschenden In- 
fundibulums. So wird wohl Inhalt der Peritonealhöhle in den 
Periovarialraum hineingelangen können, nicht aber der Inhalt 
des letzteren in jene. Die auf der Eierstocksober- 
fläche durch das Platzen Graaffscher Follikel 
Zumagertretenden, Bier: gselangenzmeteenau.der 
ebkesnchen Sicherheit wie,ber, Nieren mite voll 
kommen geschlossener Ovarialkapsel, z. B. den 
Muriden, inden Perio va rıialraum; dass sie in die Bauch- 
höhle oder besser gesagt in den freien Teil der Peritoneal- 
höhle gelangen (der Periovarialraum des Meerschweinchens ist 
ja vom rein theoretischen Standpunkt betrachtet, ein Teil der 
Peritonealhöhle), ist nach den zur Zeit der Ovulation herrschen- 


386 J. SOBOTTA, 


den anatomischen Verhältnissen einfach ausgeschlossen. Selbst 
wenn ein Follikel in der Nähe der noch vorhandenen engen 
Kommunikation des Periovarialraumes mit der Peritonealhöhle 
reifen und platzen sollte, was an und für sich nach den 
Bauverhältnissen des Eierstocks schon sehr unwahrscheinlich 
ist, so könnte das ausgetretene Ovulum nicht in die freie 
Peritonealhöhle gelangen, denn erstens ist der Spalt, den es 
passieren müsste, zu eng und zweitens hindert ihn daran der, 
wie schon gesagt gleichsam als Türhüter dienende Flimmer- 
strom des Infundibulums, der von der Peritonealhöhle gegen 
den Periovarialraum hin flimmert. 

Ich kann die eben schon kurz erörterte Tatsache, dass 
sich die ziemlich weit offene Ovarialtasche des Meerschwein- 
chens während des Ovulationsvorganges in eine theoretisch 
zwar noch durch einen feinen Spalt mit der Peritonealhöhle 
kommunizierende, praktisch aber doch wenigstens für den Auf- 
enthaltsort der Eier als vollkommen abgeschlossene Ovarial- 
kapsel verwandelt, noch durch eine Reihe von Beobachtungen 
erhärten, die ich an der Hand einiger Abbildungen hier gleich 
besprechen will). 

Es soll dabei gleich mit meinen „Monstrepräparaten be- 
sonnen werden. Ich verfüge über eine Längsschnittserie eines 
Meerschweincheneierstocks, der gerade im Beginn der Ovulation 
mitsamt seinen Adnexen konserviert wurde. Ein reifer Ovarial- 
follikel war soeben geplatzt, sein Ei lag im Periovarialraum. 
Im Eileiter noch keine Eier. Ich bilde aus dieser Schnittserie 
zwei Schnitte ab, und zwar bei etwas stärkerer Vergrösserung 
als die anderen kleinen Skizzen, die ich dieser Mitteilung bei- 
gebe. Der eine Schnitt (Fig. 5) hat das Ovulum im Peri- 


ovarialraum getroffen, der andere stellt den mittleren Schnitt 


1) Die Mehrzahl der Abbildungen dieser Mitteilung habe ich auf direkter 
(mikro-) photographischer Unterlage hergestellt; das Verfahren habe ich a. a. OÖ. 
veröffentlicht. E 


Anatomische Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). 


Ampulla tubae 


oberes Bileitergekröse 


Infundibulum.--"" 


- Ei im 
Periova- 
rialraum 


Musculus 
mesenterli 
tubae, kon-- 


trahlert. 
Fig. 5. 
\ Bileiter, nicht oder 
\ nicht wesentlich 
in dilatiert 

Eileiterdurch- i 
schnitt, mässig 
dilatiert 


Eileiterdurchschnitt, 
dilatiert 
Ei, frisch besamt 


Fig. 15. 


Verlag von J. Fr 


Bergmann in Wies] yaden 


Tafel 29/30 


\ _. oberes Eileitergekröse 
> 


Ampulla ” 
tubae 


Infundi- 
bulum 


geplatz! 
Follikel 


>> Bileiter 


- ‚unteres Ei- 
leitergekröse 


--atretischer 
Follikel 
Fig. 6. 
Lichtung des Eileiters 
\ 
\ 
\ Bier, 
5) X soeben 
besamt 
__. Eiloiter- 
5 schleimhaut 


geschichteter 
Fremdkörper 


A . 1: FR Aal nb- S m 
Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere etc. 387 


durch den soeben geplatzten Follikel dar, mit dessen Liquor- 
extravasat das Ei noch in Zusammenhang steht (Fig. 6). Ich 
glaube, jeder, der sich solche Präparate ansieht oder die Ver- 
hältnisse der bereits oben beschriebenen betrachtet, deren Zahl 
ich aber gleich noch vermehren werde, der wird gründlich und 
endgültig von der in vielen Köpfen leider auch heute noch 
spukenden Vorstellung geheilt werden, dass es eine sog. Äussere 
Überwanderung der Eier gibt. Ich habe auch, ehe ich diese 
Präparationen gewonnen habe, an diese Fabel nie geglaubt; 
ich habe mir stets rein theoretisch die Unmöglichkeit einer 
solchen Wanderung zurecht gelegt; aber, wenn man sieht, mit 
welcher unglaublichen Oberflächlichkeit und welchem absoluten 
Mangel an Sachkenntnis diese Fragen in der Literatur be- 
handelt werden, so nimmt es auch nicht wunder, dass selbst 
die Fabel von der äusseren Überwanderung des Eies noch 
nicht ausgerottet ist. Wenn ich hier aus dem — wie ich 
wohl sagen kann — reichen Schatze meiner Erfahrungen und 
Beobachtungen schöpfe, so hoffe ich, dass diejenigen Kollegen, 
welche glauben, man 'könne solche Fragen rein-theoretisch ohne 
tatsächliche Beobachtungen lösen, sich eines Besseren über- 
zeugen werden, und dass der Wert der wirklichen und exakten 
Beobachtung auch in diesem Punkte wieder zu seinem Rechte 
kommt. | 
Während man nach den anatomischen Bauverhältnissen 
des Meerschweincheneierstocks ausserhalb der Brunstperiode 
annehmen "konnte, dass die von der einen Fläche des Ovariums 
austretenden Eier zwar in die (offene) Ovarialtasche fallen 
würden, die von der entgegengesetzten Fläche aus ovulierten, 
dagegen mit fast absoluter Sicherheit in die freie Peritoneal- 
höhle übertreten müssten, zeigt uns jetzt das Präparat der 
Fig. 5, dass das Ei in den Periovarialraum gelangt wie bei 
den Nagern mit vollkommen geschlossener Ovarialkapsel 


(Muriden). Das Präparat zeigt uns aber ferner, dass das 


388 J. SOBOTTA, 


Ovulum aus diesem Raume nicht entweichen kann, denn der 
stark kontrahierte Musculus mesenterii tubae hat das ganze 
obere Tubengekröse mitsamt dem Infundibulum über den sonst 
frei gegen die Peritonealhöhle blickenden Abschnitt der Eier- 
stocksoberfläche herübergezogen; er hat zwar, wie es auch 
die oben beschriebenen Querschnitte schon zeigten, die Kom- 
munikation des Periovarialraumes mit der Peritonealhöhle nicht 
ganz unterbunden, was Fig. 6 erkennen lässt, aber an ein 
Entweichen des auch nıcht nackten Kies +st schon wegen seiner 
Grösse nicht zu denken; ausserdem ist aber keine Kraft tätıg, 
die das Ovulum aus diesem Raume in die Peritonealhöhle 
treiben könnte; ım Gegenteil, es würde bei diesem Wege, 
selbst wenn eine zufällig wirkende Kraft ıhn einen solchen 
weisen sollte, auf direkten Widerstand stossen, nämlich auf 
den Fliımmerstrom des Infundibulum, der aus der Peritoneal- 
höhle ın den Periovarialraum strömt. 

Diese Wirkung des Flimmerstromes bzw. vielleicht viel- 
mehr des durch diesen an der spaltförmigen Öffnungsstelle 
der Ovarialkapsel erzeugten Flüssigkeitsstromes scheint man 
in dem Bilde der Fig. 6 auch deutlich zu erkennen. Die aus 
dem platzenden Follikel austretende Liquormasse wird merk- 
lich von der Öffnung weggeschoben und mitsamt dem Ei gegen 
den vollkommen abgeschlossenen Teil der Ovarialkapsel ge- 
drängt. Und so wird es jedem zur Ausstossung aus dem Eier- 
stock gelangenden Ei ergehen müssen. 

Es wird also durch die Tätigkeit des oben beschriebenen 
Muskels der Ovarıalkapsel des Meerschweinchens zur Zeit der 
Ovulation eine so gut wie vollkommene Umhüllung der sonst 
zum mindesten teilweise freiliegenden Eierstocksoberfläche er- 
zielt. Dadurch wird die scheinbare Ovarialtasche dieser Species 
in praxi zur Ovarialkapsel; infolgedessen bildet sich wie bei 
Muriden en Periovarıalraum, der bei der Ovulation die 


Kier aufnimmt. Dieser besitzt aber noch eine Verbindung mit 


Säugetiere ete. 389 


der Peritonealhöhle, welche jedoch zur Zeit der Ovulation zu 
klein ist, um ovulierte Rier in die letztere Höhle übertreten 
zu lassen. Die ovulierten Eier müssen daher bis zur Auf- 
nahme seitens des Eileiters in dem Periovarialraum verweilen. 

Die Kontraktion des Schliessmuskels der Ovarialkapsel des 
Meerschweinchens beginnt kurz vor der Ovulation und lässt 
einige Zeit nach Aufnahme der Eier seitens des Tubenostiums 
wieder nach. So zeigt Fig. 7 die Abbildung eines Durch- 
schnittes eines Ovariums eines Tieres kurz vor Beginn der 
Ovulation ; der Eierstock enthält nahezu, aber noch nicht völlig 
reife Follikel; der Schnitt trifft das äusserste uterine Ende 
des Infundibulums zugleich mit dem lateralen Ende des Muskels. 
s liegt noch ein beträchtlicher Teil der Eierstocksoberfläche 
frei gegen die Peritonealhöhle, das Tubengekröse ist stark ge- 
faltet wie beim nicht-brünstigen Tiere; der Muskel ist also 
noch nicht in Aktion getreten. Das Präparat der Fig. 4 da- 
gegen gehört einer Schnittserie eines Ovariums an, das ganz 
unmittelbar vor der Ovulation stand (Richtungsteilungen in 
den Eiern); drei grosse, sprungreife Follikel sind auf dem 
Anschnitte sichtbar. Der Schnitt ist gerade durch das Ostium 
abdominale tubae gegangen; der Muskel ist bereits in Tätig- 
keit getreten; denn der Periovarialraum ist bis auf die kleine, 
vom Infundibulum beherrschte Öffnung geschlossen. Fig. 1 
dagegen zeigt die Abbildung eines Präparates nach beendeter 
Ovulation; die Eier sind bereits im Eileiter; die Zusammen- 
ziehung des Muskels hat nachgelassen oder bereits aufgehört; 
die dorsale Eierstocksfläche liegt wiederum fast ihrer ganzen 
Ausdehnung nach frei; es ist also das gleiche Verhalten der 
Ovarialtasche erkennbar, das man beim nicht-brünstigen Tiere 
findet. 

Die Tätigkeit der Muskulatur des Mesenterium tubae des 
Meerschweinchens erzeugt nun aber noch eine weitere Ver- 


änderung der anatomischen Lagebeziehungen des Ovariums zu 


390 J. SOBOTTA, 


seinen Adnexen während der Ovylation;; das ist die oben schon 
erwähnte Drehung des Infundibulums und dessen 
Ostium abdominale. Beim nicht-brünstigen Tiere liegen 
die Verhältnisse für die Aufnahme der Eier in den Eileiter 
denkbar ungünstig. Die Öffnung des Eileiters ist ein schmaler 
Schlitz im Bereiche des Infundibulums, der gegen die Peri- 
tonealhöhle gerichtet ist. Soll diese enge Öffnung die ovulierten 
Eier, wie das bisher fast allgemein angenommen wurde, durch 
Wirkung des von der Oberfläche des Infundibulums erzeugten 
Flımmerstromes aufnehmen, so wäre das nur denkbar, wenn 
die Eier in der Peritonealhöhle in einer geringen, innerhalb 
der Grenzen der Saugkraftwirkung gelegenen Entfernung vom 
Infundibulum lägen. Das könnte man sich als realisiert vor- 
stellen, wenn die Ovulatıon auf der der Bauchhöhle erössten- 
teils zugekehrten Eierstocksoberfläche vor sich gegangen wäre, 
vorausgesetzt natürlich, dass die Eier nicht durch die Peristaltik 
der benachbarten Darmschlingen eine Verschiebung erlitten, 
die sie der Wirkung des Flimmerstromes entzöge. Wie sollen 
aber Eier, die auf der entgegengesetzten Fläche des Ovariums, 
welche gegen den Raum der Ovarialtasche hinsieht (* bei 
Fig. 2 und 3), abgestossen werden, in den Bereich der Wir- 
kung des Flimmerstromes des Infundibulums kommen? Sie 
fallen in die Ovarialtasche, in der eine Flimmeraktion 
nicht bemerkbar sein kann, da beide flimmernde Lippen 
des Infundibulums beim nicht-brünstigen Tiere gegen die 
Peritonealhöhle gerichtet sind. Es lässt sich also schon 
rein-theoretisch gar nicht vorstellen, wie auf Grund der ana- 
tomischen Verhältnisse des Eierstockes und des Ostium ab- 
dominale tubae die ovulierten Bier in die Tube aufgenommen 
werden können. Ohne die Veränderungen in den Lage- 
beziehungen der genannten Teile zueinander, welche die Wir- 
kung der Schliessmuskulatur der Ovarialkapsel während der 


Brunst hervorruft, ist der Vorgang der Aufnahme der Eier in 


4‘ 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 391 


den Eileiter zum mindesten für einen grossen Teil dieser über- 
haupt nicht verständlich; Bier, die bei ihrer Lösung vom Eıer- 
stock in die Ovarialtasche fallen, können — selbst die ana- 
tomischen Verhältnisse des nicht-brünstigen Tieres ange- 
nommen —, wenn sie überhaupt noch von der Wirkung des 
Flimmerstromes des Infundibulums erfasst werden, höchstens 
tiefer in die Tasche hineingetrieben, aber nie aus ıhr heraus- 
geholt werden. 

Durch die Wirkung der Muskulatur des Mesenterium tubae 
wird aber, wie oben schon erwähnt, das Infundibulum nicht 
bloss herabgezogen, sondern auch so gedreht, dass das Ostium 
abdominale jetzt gegen den Periovarialraum gerichtet ist 
(Fig. 4); es hat also nun eine Lagerung erhalten, die sehr 
wohl geeignet ist, die in den genannten Raum ovulierten Eier 
aufzunehmen. Ja die im Periovarialraum gelegenen Eier können, 
wie wir schon oben sahen, überhaupt keinen anderen Weg 
gehen. Gleichzeitig ändert sich aber auch durch den Muskel- 
zug die langgestreckt spindelförmige Form des Infundibulums 
des nicht-brünstigen Tieres; es wird breiter und kürzer und 
die vorher schlitzförmige, zur Aufnahme der Eier wenig ge- 
eignete Öffnung weiter. 

Es ıst also, um es in kurzen Worten zu wiederholen, der 
Ovulationsvorgang beim Meerschweinchen mit einer wesent- 
lichen Veränderung der anatomischen Lagebeziehungen von 
Kierstock, Eileitergekröse und Infundibulum verbunden. Die 
für die Aufnahme der Eier in das Ostium abdominale tubae 
denkbar ungünstigen anatomischen Lagebeziehungen zwischen 
Eierstock und Eileiter werden derart korrigiert, dass die 
Überleitung der Ovula aus dem Periovarialraum in die Tube 
vollkommen gesichert ist; ausserdem wird die Möglichkeit eines 
Verlustes von Eiern durch Entweichen in die Peritonealhöhle 
mit Hilfe des gleichen Vorgangs verhindert. 


So grundverschieden beim nicht-brünstigen Tiere die ana- 


392 J. SOBOTTA, 


tomischen Verhältnisse der Ovarialtasche des Meerschwein- 
chens von dem Zustand der vollkommen geschlossenen Eier- 
stockskapsel der Muriden, Dipudiden und anderer Säugetiere 
sind (vgi. 0. S. 375), in praxi verhalten sich beide Bildungen 
vollkommen gleich. Es nehmen also die beiden genannten 
Nagergattungen gar keine Sonderstellung ein, wie man sie ihnen 
zuschreiben zu müssen glaubte. Und ich werde unten für 
das Kaninchen den gleichen Nachweis wie für das Meerschwein- 
chen führen. Auch bei diesem Nager wird die sogar sehr 
weit offene Eierstockstasche zur Zeit der Ovulation durch 
Muskelkraft zu einer Kapsel geschlossen. 

Wir haben also soeben die anatomischen Grundlagen für 
die Beantwortung unserer ersten Hauptfrage geschaffen, der 
Frage: Wie werden die ovulierten Eier des Meerschweinchens 
in den Bileiter aufgenommen ? Wenden wir uns nun der Frage 
selbst zu, so hatten wir schon festgestellt, dass die Ovula 
zunächst in den Periovarialraum gelangen; aus diesem können 
sie nur in das abdominelle Ostium der Tube übertreten. Für 
den Mechanismus dieses Eintritts in den Eileiter lägen nun 
zwei Möglichkeiten vor; erstlich man könnte dem Flimmer- 
strom die befördernde Rolle zuschreiben, zweitens man könnte 
annehmen, dass auch beim Meerschweinchen die Eier von 
der Tube angesaugt werden wie bei den Muriden. Ich ent- 
scheide mich ganz unbedingt zugunsten der letzteren Annahme, 
und zwar aus folgenden Gründen. Einige Zeit nach der Ovu- 
lation findet man am Bileiter des Meerschweinchens die 
gleichen Erscheinungen wie bei den Muriden, worauf schon 
twubaschkin (14) kurz aufmerksam gemacht hat. Der ım 
gewöhnlichen Zustande stark faltige (Fig. 5, 6) ampulläre Teil 
der Tube ist ganz ähnlich wie bei der Maus oder Ratte während 
oder einige Zeit nach der Ovulation bläschenförmig gedehnt, 
wobei die zahlreichen Falten so gut wie ganz verstreichen. 


Ich habe ein solches Verhalten in Fig. 5 in einfacher Weise 
>) 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 395 


zur Darstellung gebracht und bitte es mit dem in Fig. 12, 14 
abgebildeten Verhalten bei den Muriden zu vergleichen. Die 
Annahme, dass in der Eileitererweiterung des Meerschwein- 
chens der Inhalt des Periovarialraumes, d. h. Flüssigkeit und 
Eier angesaugt vorliegt, wie wir das oben für die Muriden. 
feststellen konnten, erscheint daher bereits a priori in hohem 
Masse gerechtfertigt. Es lassen sich aber noch eine Reihe 
weiterer Übereinstimmungen zwischen dem bei Muriden oben 
beschriebenen Verhalten der Eiaufnahme in den Eileiter und 
beim Meerschweinchen feststellen. Der durch die Aktion des 
Schliessmuskels fast vollkommen gegen die Peritonealhöhle ab- 
gegrenzte Periovarialraum füllt sich nämlich mit Beginn der 
Ovulation und während der Dauer dieses Vorganges in ganz 
ähnlicher Weise mit Flüssigkeit wie die vollständig abge- 
schlossene Ovarialkapsel der Muriden. Bei letzteren wird man 
in erster Linie an eine Sekretion des Keimepithels der Eier- 
stocksoberfläche denken müssen; beim Meerschweinchen liegt 
ausserdem die Möglichkeit vor, dass das mit seiner stärkeren 
Lippe gegen die Peritonealhöhle gerichtete Infundibulum einen 
Flimmerstrom erzeugt, der Flüssigkeit aus der Peritonealhöhle 
gleichsam in den Periovarialraum hineinpumpt, wozu das In- 
fundibulum seiner oben beschriebenen Lagerung nach sehr wohl 
imstande ist. 

Jedenfalls lässt sich auch an der Hand des mir zurzeit 
zur Verfügung stehenden Schnittmaterials vom Meerschwein- 
chen aus der Ovulationsperiode feststellen, dass sich der Peri- 
ovarıalraum während der Ovulation ziemlich stark mit Flüssig- 
keit anfüllt (vgl. Figg. 5, 6), um dann unmittelbar nach Auf- 
nahme der Eier in den Eileiter (Fig. 1) auffällig leer zu er- 
scheinen. Es liegen also ganz ähnliche Verhältnisse vor wie 
bei den Muriden. Leider verfüge ich nun nicht über Beobach- 
tungen oder Notizen, die das Verhalten dieser Teile am un- 


zerlegten Präparat kennzeichnen. Berücksichtigt man ferner 


394 J. SOBOTTA, 


den Umstand, dass auch beim Meerschweinchen nicht selten 
Eier im Periovarialraum gefunden werden (Rubaschkin hat 
ein derartiges Präparat abgebildet und ich habe noch zwei 
weitere in Händen, von denen das eine in Fig. 5 abgebildet 
ist) und dass, wie oben angegeben, ein längeres Verweilen 
dieser hier nicht verständlich wäre, wenn man den kontinuier- 
lich wirkenden Flimmerstrom für die Aufnahme der Bier in 
den Eileiter verantwortlich machen wollte, so drängt alles zu 
der Annahme, dass auch beim Meerschweinchen ein Ansaugen 
der Eier aus dem Periovarialraum in die Tube stattfindet, 
zumal die Wirkung der Muskulatur des Mesenterium tubae 
deutlich zu einer Erweiterung des Ostium abdominale führt. 
Zum mindesten steht also der Annahme, dass beim Meer- 
schweinchen die Aufnahme der Eier in den Eileiter genau 
ebenso erfolgt wie bei den Muriden, nichts im Wege; ob da- 
neben auch das Flimmerepithel des Infundibulums oder des 
Eileiters selbst eine aktive Rolle spielt, lasse ich zunächst 
dahingestellt; jedenfalls ist seine Wirkung nicht erforderlich, 
um den Eintritt der Eier in den Eileiter zu erklären. Anderer- 
seits wird aber unter der Annahme der alleinigen Wirkung 
des Flimmerstromes die Tatsache nicht verständlich, dass der 
faltige ampulläre Teil des Eileiters, der die ovulierten Eier 
aufnimmt, sich in so enormem Masse ausdehnt. 

Mit anderen Worten — trotz der anscheinend so ver- 
schiedenen Beziehungen zwischen Eierstock und Eileitergekröse 
bei Muriden einerseits und dem Meerschweinchen anderer- 
seits — findet die Aufnahme der Eier in den Eileiter bei 
beiden Formen in genau gleicher Weise statt, da die Ver- 
schiedenheiten des Bauverhältnisses der Ovarialadnexe durch 
die während der Ovulation wirkende Muskulatur so gut wie 
vollkommen aufgehoben werden. 

Ich wende mich nun zum Kaninchen; leider stützen 


sich meine Angaben für dieses Tier auf ein nur beschränktes 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 395 


Material. Ich habe seinerzeit, um die Kierstocksoberfläche auf 
frischgeplatzte Follikel und junge Corpora lutea hin zu unter- 
suchen, das Eileitergekröse meist abpräpariert; infolgedessen 
verfüge ich über viel weniger zur Entscheidung der uns hier 
interessierenden Fragen geeigneter Beobachtungen, als es sonst 
der Fall sein würde. Trotzdem bin ich imstande, auch für 
diese Nagerspecies den Nachweis zu liefern, dass bei der 
Ovulation die weit offene Ovarialtasche sich zur Kapsel schliesst. 
Es stehen mir nämlich mehrere vollständige oder fast voll- 
ständige Serien von Durchschnitten des mitsamt seiner Adnexe 
fixierten BEierstocks von Kaninchen zur Verfügung, die kurz 
vor, während und kurz nach der Ovulation getötet wurden 
und sechs verschiedenen Tieren angehören; von diesen ver- 
füge ich teils über die Schnittserien beider Ovarien, teils nur 
über die einer Seite des Eierstocks. In allen Fällen aber war 
das Lagerungsverhältnis von Ovarium, Eileiter und Mesenterium 
fubae. ungestört erhalten geblieben. 

Ich muss auch hier erst kurz nochmals auf die anatomi- 
schen Verhältnisse dieser Teile beim Kaninchen zurückkommen 
und kann mich dabei ebenfalls an die Darstellung von Zucker- 
kandl (24, s. a. o. S. 375) halten. Aus dieser sind die Haupft- 
leitsätze für das Verhalten der Ovarialtasche oben (S. 374) 
schon zitiert worden. Ich füge hier nur weniges hinzu; das 
Infundibulum des Kaninchens (Fig. 8) hat eine mehr länglich- 
runde Begrenzung, nicht die ausgesprochen langgezogene. Ge- 
stalt wie beim Meerschweinchen; es ist auch verhältnismässig 
viel stärker ausgebildet und zeigt einen ausgesprochen blättrigen 
Bau. Es kehrt beim nicht-brünstigen Tiere fast seine ganze 
Oberfläche und auch seine Mündung der Peritonealhöhle zu: 
ähnlich wie beim Meerschweinchen liegt der Hauptteil des 
Infundibulums am freien Rande des Mesenterium tubae. speziell 
des die (unvollständige) Ovarialkapsel bildenden oberen Ei- 
leitergekröses. Dagegen fehlt an diesem Rande der kompakte 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd. H. 2). 26 


396 J. SOBOTTA, 


Muskelstreifen, den man beim Meerschweinchen hier findet. 
Deswegen ist aber das Mesenterium tubae nicht ohne Musku- 
latur; im Gegenteil es ist sogar mit einer solchen viel reicher 
ausgestattet als das Eileitergekröse des Meerschweinchens, bei 
dem von einigen wenigen, gelegentlich in das untere Gekröse 
ausstrahlenden Fasern die gesamte Muskulatur auf den oben 
(S. 380) beschriebenen Schliessmuskelstreifen konzentriert ist. 
Beim Kaninchen wird fast die gesamte Ausdehnung des Mesen- 
terium tubae, und zwar — wenn auch ım Bereiche der uterinen 
und der ovariellen Hälfte in etwas wechselnd starkem Masse — 
von längs- (d. h. der Längsachse des Eierstocks parallel) ver- 
laufenden subserösen Muskelbündeln durchzogen, die in gleicher 
Weise wie beim Meerschweinchen von der äusseren longitudi- 
nalen Muskellage des tubaren Endes des Uterushornes aus- 
gehen }). 

Wie oben schon angegeben, liegt am Ovarıum des nicht- 
brünstigen Kaninchens nicht bloss die gesamte dorsale Fläche 
(bis auf den tubaren Pol), sondern auch der freie Rand des 
Organs vom Mesenterium tubae unbedeckt gegen den Hohl- 
raum der Peritonealhöhle hin, also ein nicht unwesentlich 
erösserer Abschnitt der Oberfläche des Eierstocks als beim 
Meerschweinchen. Die Ovarialtasche ist beim Kaninchen 
weniger tief ausgebildet als bei letzterem. Untersucht man 
aber weibliche Kaninchen zur Zeit der Ovulatıon, so sieht man, 
dass in ganz ähnlicher Weise wie beim Meerschweinchen das 
Ovarıum von dem im nicht-brünstigen Zustande schlaffen und 
sefalteten, jetzt aber straff gespannten Eileitergekröse so ein- 
gehüllt ist, dass in praxiı auch beim Kaninchen nun 
eine wirklich geschlossene Kapsel zustande kommt. 
Fig. 9 zeigt den @uerschnitt durch einen Eierstock eines 


Kaninchens kurz vor der Ovulation; es sind mehrere sprung- 
!) Diese longitudinalen Muskelbündel sind leicht in Gestalt paralleler 
Streifen mit blossem Auge oder der Lupe zu beobachten. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 397 


reife Follikel vorhanden, von denen Fig. 9 einen erkennen 
lässt. Am freien Rande des Mesenterium tubae liegt der Durch- 
schnitt der uterinen Ecke des Infundibulums, das an dieser 
Stelle nur noch schwach entwickelt ist. Es reicht mit dem 
[reien Mesenterialrande zwar nicht bis an die dorsale Fläche 
des Margo mesovaricus der Geschlechtsdrüse, liegt dem Hilus 
ovarıı aber doch so nahe, dass nicht bloss der Margo liber, 
sondern auch fast die gesamte dorsale Fläche des Eierstocks 
von dem Eileitergekröse umfasst werden. Es ist also zur Bil- 
dung eines (bis auf eine relativ kleine Öffnung in der Gegend 
des dorsalen Randes des Hilus ovarii) geschlossenen Peri- 
ovarialraumes gekommen! Damit wird auch für das Kanin- 
chen die Möglichkeit, dass Eier bei ihrem Austritt aus dem. 
Ovarıum in die freie Peritonealhöhle gelangen, von vornherein 
ausgeschlossen. Am besten lässt sich dieses Verhalten wohl 
an der Hand der Fig. 10 demonstrieren. Es handelt sich hier 
gleichfalls um den Querschnitt eines Kanincheneierstocks, und 
zwar ım Beginn der Ovulation; ein Graaffscher Follikel ist 
bereits geplatzt; ein Liquorstreifen lässt sich von der Riss- 
stelle aus verfolgen; da, wo dieser sich etwas verdickt, lag 
in einigen Schnitten (10 u Dicke) entfernt das Ovulum, also 
im Periovarialraum (bei *). Auch hier erkennt man am freien 
Rande des sehr fettreichen Eileitergekröses den Durchschnitt 
des Infundibulums, das jetzt viel mächtiger erscheint als in 
Fig. 9, weil wir uns näher dem Mittelpunkte des Trichters 
befinden. Auch hier ist zwar die dorsale Fläche des Rier- 
stocks nicht ganz bis an die Ansatzstelle des Mesovariums 
bedeckt, aber das Eileitergekröse ist auch noch zwischen den 
beiden Durchschnitten der Tubenschlinge stark gefaltet und 
hat seine maximale Dehnung noch nicht erfahren : tritt diese 
ein, so wird in der Tat, wie ich das an einem Eierstock. 
dessen Ovulation bereits beendet war, beobachten konnte, der 


freie Rand des Mesenterium tubae in gleicher Weise bis an 


26* 


398 J. SOBOTTA, 


das Mesovarıum herabgezogen, wie das Figg. 3 u. 5 vom 
Meerschweinchen zeigen. Vor der Kommunikationsstelle des 
Periovarialraumes mit der freien Peritonealhöhle liegt das beim 
Kaninchen so überaus mächtige Infundibulum (Fig. 8), dessen 
Hauptfläche mit ihren langen flimmerepitheltragenden Blatt- 
durchschnitten gegen die freie Peritonealhöhle gerichtet ist, 
während die schwächere Hälfte des Infundibulums ihre flim- 
mernde Oberfläche gegen den Raum der Ovarialkapsel kehrt. 
Es wird also hier ein sicher recht wirksamer Flimmerstrom 
erzeugt, der von der Peritonealhöhle gegen den Periovarıal- 
raum flimmert. Dadurch wird geradeso, wie wir es beim Meer- 
schweinchen kennen gelernt hatten, jedem der Austritt aus 
dem Periovarialraum verwehrt, während der Eintritt von der 
Peritonealhöhle in den Periovarialraum erleichtert und gefördert 
werden muss, so dass insbesondere leicht Flüssigkeit aus der 
freien Peritonealhöhle in den Periovarialraum hineingepumpt 
werden kann. 

Dem in den Periovarialraum ovulierten Ei werden also 
die denkbarsten Schwierigkeiten bereitet — abgesehen von der 
an und für sich schon sehr kleinen Kommunikationsstelle 
zwischen beiden Höhlungen —, aus dem Periovarıalraum zu 
entrinnen. Ich brauche daher auch wohl gar nicht erst zu 
erwähnen, dass jede Möglichkeit einer sog. äusseren Über- 
wanderung der Eier von vornherein ganz ausgeschlossen ist; 
(die einmal in den Periovarialraum gelangten Eier können diesen 
nur durch das Ostium abdominale Tubae verlassen, müssen 
also in den Eileiter gelangen. 

Es liegen also die Verhältnisse beim Kaninchen ganz 
ebenso wie beim Meerschweinchen ; obwohl im nicht-brünstigen 
Zustande der Eierstock des Kaninchens noch weit freier gegen 
die Peritonealhöhle gerichtet ist als beim Meerschweinchen, 
ıst die im Mesenterium tubae enthaltene glatte Muskulatur 
imstande, durch ihre Kontraktion zur Zeit der Brunst und 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 399 


speziell der Ovulation die offene Ovarialtasche des Kaninchen- 
eierstocks in eine in praxi als vollkommen geschlossen zu 
betrachtende Höhlung zu verwandeln. Dass dieses Verhalten 
nicht bloss tatsächlich eintreten kann, sondern zur Zeit der 
Ovulation unmittelbar beobachtet wird, ergibt sich aus meinen 
oben mitgeteilten Befunden. Die in ihrer Anordnung von der 
des Meerschweinchens etwas verschiedene, ihrer gesamten 
Masse nach aber noch ungleich viel stärkere Kileitergekröse- 
muskulatur des Kanınchens vollbringt also noch erheblich 
stärkere Leistungen als die des Meerschweinchens. 

Im nicht-brünstigen Zustande liegen die anatomischen Ver- 
hältnısse des Kanincheneierstocks für die Ovulation ausser- 
ordentlich ungünstig, wie man leicht aus dem Bilde der Fig. 8 
ersehen kann. Die von der dorsalen Fläche und der Gegend 
des freien Randes des Ovarıums austretenden Eier liefen, wenn 
sich das Tubengekröse während der Ovulation nicht über die 
ganze Ausdehnung der KEierstocksoberfläche herüberziehen 
würde, Gefahr, in die Peritonealhöhle zu geraten und hier 
verloren zu gehen, da die Möglichkeit, dass sie dann vom 
Flimmerepithel des Infundibulums erfasst und in das Tuben- 
ostium übergeleitet würden, ausserordentlich gering ist (s. u.). 
Zwar ist fast die ganze Oberfläche der mit Flimmerepithel 
überkleideten Blätter des Infundibulums gegen die Peritoneal- 
höhle gerichtet und ebenso sieht das Tubenostium selbst gegen 
diesen Raum hin, aber man müsste notgedrungen annehmen, 
dass die Eier erst wirklich in den freien Raum der Peritoneal- 
höhle gelangen, ehe sie vom Tubenostium angesaugt werden 
könnten; um sie direkt von der Ovulationsstelle an der Eier- 
stocksoberfläche aufzulesen, dazu ist die Lage der abdominalen 
Mündung des Eileiters und die des Infundibulums schlechter- 
dings nicht geeignet. Andererseits aber ist gar nicht auszu- 
denken, wie — immer die anatomischen Lagerungsverhältnisse 


im nicht-brünstigen Zustande vorausgesetzt — Eier, die an 


400 J. SOBOTTA, 


der ventralen Seite des Eierstocks zutage treten, also in den 
Raum der Ovarialtasche fallen, in die abdominale Tuben- 
öffnung und in den Eileiter gelangen sollen, wenn man die 
Wirkung des Flimmerstromes des Infundibulums dafür ver- 
antwortlich machen will (Fig. 9* und 107). 

Viel günstiger für die Eiaufnahme in die Tube liegen die 
Verhältnisse nun im brünstigen Zustand; nicht bloss ist die 
Ovarialtasche praktisch gegen die Peritonealhöhle als abge- 
schlossen zu betrachten, so dass an ein Entweichen der Bier 
in den Raum der freien Peritonealhöhle gar nicht zu denken 
ist, sondern auch die abdominale Eileiteröffnung wird durch 
die Lagerungsveränderung, die das Infundibulum erfährt, gegen 
den Raum der Ovarialtasche oder vielmehr -kapsel gekehrt, 
so dass die gleichen Verhältnisse zustande kommen wie bei 
den Muriden und dem Meerschweinchen. Aus dem Periovarial- 
raum können die Eier lediglich in den Eileiter gelangen; 
jeder Versuch, aus der engen Kommunikationsöffnung mit der 
freien Peritonealhöhle in die letztere zu entweichen, wird durch 
den dieser Wegrichtung entgegenwirkenden Flimmerstrom ge- 
hindert. 

Es handelt sich nun auch für das Kaninchen um die 
Frage, welche Kraft die Eier aus dem Periovarialraum in den 
Eileiter befördert. Leider steht mir zur Entscheidung dieser 
Frage nicht das gleich reichliche Beobachtungsmaterial zur 
Verfügung wie von Muriden und dem Meerschweinchen, da 
ich in der grossen Mehrzahl der Fälle mich der alten Methode 
des Aufsuchens der Eier im Eileiter bediente. Immerhin ver- 
füge ich über die Schnittserien von drei Tieren, deren Eier- 
stöcke und Eileiter mit den bereits in die Tube aufgenommenen 
Eiern lückenlos verarbeitet worden sind; zwei dieser Präpa- 
rationen stammen aus der unvollendet gebliebenen Arbeit eines 
meiner Schüler, eine dritte Serie habe ich vor langer Zeit 
selbst angefertigt. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 41 


Die bei diesen Präparationen gefundenen Eier zeigten 
nahezu sämtlich das gleiche Entwickelungsstadium; die von 
zwei Tieren waren soeben besamt worden, die des dritten 
befanden sich auf einem ganz frühen Vorkernstadium. Es 
handelte sich also um solche Entwickelungsstadien der Eier, 
dass man annehmen muss, die Oocyten seien erst kurze Zeit 
vorher in den Eileiter gelangt. Ist dies auf dem Wege der 
Ansaugung geschehen, so war zu erwarten, dass sich eine 
ähnliche Ausdehnung des betreffenden Tubenabschnittes finden 
würde wie bei Muriden und dem Meerschweinchen. 

In der Tat lässt sich diese Erscheinung, wenn auch ın 
einer erheblich weniger starken Ausbildung, ebenfalls beim 
Kaninchen, und zwar regelmässig nachweisen, wie Fig. 16 
deutlich zeigt. Die in den Eileiter aufgenommenen Eier liegen 
zusammen mit einer gewissen Menge von Flüssigkeit und 
Epithelresten des Discus proligerus in einem deutlich erweiterten 
Abschnitt des Tubenlumens; die Falten dieses Teils des Eiı- 
leiters sind grossenteils verstrichen; zu einer nennenswerten 
Abplattung des Epithels kommt es allerdings anscheinend nicht; 
nur auf kurze Strecken scheint sich auch in den Buchten 
zwischen den Faltenresten das Epithel etwas abzuflachen. 

Bei der geringen Masse des mir zur Verfügung stehenden 
Untersuchungsmaterials vom Kaninchen ist es leicht denkbar, 
dass mir das Stadium, in dem die Ausdehnung des die Eier 
enthaltenden Eileiterabschnittes sein Maximum zeigt, entgangen 
ist, dass die Erscheinung also unter Umständen sich noch 
in stärkerer Ausbildung bemerkbar macht; andererseits aber 
wird man sich auch der Vorstellung nicht verschliessen können, 
dass bei den Muriden mit ihrer vollkommen geschlossenen 
Ovarialkapsel eine viel wirksamere Ansaugung des Inhaltes 
des Periovarialraumes zustande kommen muss als beim Meer- 
schweinchen und namentlich Kaninchen, bei denen auch zur 
Brunstzeit der. Periovarialraum nicht völlig gegen die Perı- 


402 J. SOBOTTA, 


tonealhöhle abgeschlossen ist, und dass vielleicht wegen der 
erösseren Zahl der Eier einer Ovulation durch die Anzahl 
der Kontraktionen bzw. Erschlaffungen der Muskulatur des 
Infundibulum tubae bzw. des M. mesenterii tubae die Masse 
der angesaugten Flüssigkeit bei Muriden eine erheblichere 
werden muss. 

Es ist also bereits auf Grund dieser Befunde wahrschein- 
lich, dass auch beim Kaninchen die Eier aus dem Periovarial- 
raum angesaugt werden, zumal dafür noch andere Beobach- 
tungen sprechen (siehe unten). Es handelt sich also bei meiner 
Annahme, dass auch beim Kaninchen die Eier in gleicher 
Weise wie bei Muriden und dem Meerschweinchen von seiten 
des Eileiters aufgenommen werden, um keine Hypothese, 
sondern um wine trotz der geringen Zahl direkter Beobach- 
tungen kaum mehr zu bezweifelnde Tatsache. 

Berücksichtigt man ferner, dass diese Tatsache für die fast 
genau gleich liegenden Verhältnisse beim Meerschweinchen 
sicher nachgewiesen ist und den Umstand, dass es kaum denk- 
bar ist, dass ein von der ventralen Fläche des Kaninchen- 
ovarıums austretendes Ei aus dem äÄussersten Winkel der 
Ovarialtasche, welcher von der einen allein auf den Inhalt 
des Periovarialraumes wirkenden Lippe des Infundibulums denk- 
bar weit entfernt liegt, z. B. bei * in Fig. 9 oder bei 7 in 
Fig. 10, nur durch die Wirkung des Flimmerstromes in die 
abdominale Tubenöffnung geschafft werden kann, so ist diese 
Annahme, dass auch beim Kaninchen die Eier mitsamt dem 
Inhalt des Periovarialraums von seiten des Eileiters angesaugt 
werden, zum mindesten gerechtfertigt; ja es muss ein solcher 
Modus der Überleitung der Fier aus dem zur Zeit der Brunst 
fast vollkommen geschlossenen Periovarialraum des Kanın- 
chens in den Eileiter als höchstwahrscheinlich bezeichnet 
werden. 


Ferner wird man wohl mit Recht annehmen dürfen, dass 


Anatomische Hefte. I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2). | Tafel 31/32, 


Isthmische Tubarschlingen, dilatiert 


Ei im Zweizellen- 
stadium 


sprungreifer Follikel Y 

Ampulläre Tubar- &-—- 

schlingen, nicht 
dilatiert 


unteres Eileitergekröse _ 


it Muskulatur SL „VE us __ Mi ________. Beginn der Dilatation der 
mit Muskulatur 


isthmischen Tubarschlingen 


Ampulläre Tubarschlinge, ganz wenig 
. dilatiert 


Iufundibulum 


mpulläre Tubar- © 
schlinge nahe dem 
Ostium abdominale, 
oz wenig dilatiert 


Bileiterschlinge 


— = Mesovarium 


unteres Bileitergekröse- ” 
init Muskulatur 


Ampulläre Tubarschlinge, N) 
stark dilatiert L = h 
Eier im frühen Vorkernstadium 


Fig. 14. 


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Verlag von J. F len. 


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Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ele. 403 


Kontraktionen der Muskulatur des Eileitergekröses namentlich 
beim Kaninchen und ganz besonders wiederholte derartige Zu- 
sammenziehungen auf den Inhalt des fast geschlossenen Peri- 
ovarialraumes in dem Sinne einwirken, dass dieser Inhalt, also 
auch die ovulierten Eier dahin ausweichen, von wo aus ihnen 
kein Widerstand entgegengesetzt wird, d. i. gegen das Ostium 
abdominale tubae. 

Überblicken wir also nochmals, was wir in der Lösung 
der ersten in dieser Mitteilung zu erörternden Frage, der Art 
und Weise, wie die Bier vom Eierstock in den 
Eileiter übertreten, ermitteln konnten, so ist nicht 
bloss für die Muriden mit ihrer dauernd und vollkommen ‚ge- 
schlossenen Ovarialkapsel der Nachweis geführt worden, dass 
die ovulierten Eier durch Ansaugung seitens des abdominalen 
Eileiterabschnittes ın diesen aufgenommen werden, und dass 
der Flimmerstrom für diesen Vorgang zum mindesten nicht 
notwendig, womöglich sogar nicht ausreichend ist, sondern 
es liess sich beim Meerschweinchen mit der gleichen Bestimmt- 
heit, beim Kaninchen mit allergrösster Wahrscheinlichkeit 
nachweisen, dass bei diesen beiden Nagern trotz der weit 
offenen Ovarialtasche der Vorgang sich in gleicher Weise ab- 
spielt, indem zur Zeit der Brunst ein so gut wie vollkommener 
Abschluss des Periovarialraums gegen die freie Peritonealhöhle 
zustande kommt. 

Bedenkt man nun, dass für viele Säugetiere die anatomi- 
schen Beziehungen zwischen Bierstock und Eileitergekröse noch 
viel günstiger liegen als beim Kaninchen und dem Meerschwein- 
chen, insofern als erstlich bei einer allerdings verhältnismässig 
kleinen Anzahl von Säugetieren die gleichen Verhältnisse vor- 
kommen wie bei den Muriden, zweitens bei einer ganzen 
Reihe wie dem Hunde, manchen Chiropteren, Insektivoren und 
Pinnipediern u. a. zwar keine (im nicht-brünstigen Zustande) 
vollkommen geschlossene Ovarialkapsel vorkommt, aber doch 


404 J. SOBOTTA, 


eine solche mit einer nur ganz kleinen Öffnung gegen die 
freie Peritonealhöhle hin, so wird man sich der Einsicht kaum 
verschliessen können, dass die Vorbedingungen für eine An- 
saugung der Eier aus dem fast vollständig geschlossenen Per- 
ovarialraum ungemein günstig liegen, zumal wenn man be- 
rücksichtigt, dass anscheinend auch bei diesen eine zur Zeit 
der Brunst wirksame Muskulatur vorhanden ist, da nach An- 
gaben älterer Autoren (s. 0. S. 378) die kleine Öffnung der 
Ovarialkapsel des Hundes sich zur Zeit der Brunst noch weiter 
verkleinert und der Periovarialraum sich mit Flüssigkeit füllt. 

Ich möchte ferner auf die eigenartigen Beobachtungen von 


Zuckerkandl (24) aufmerksam machen, dass es auch 


Ovarialtaschen bei manchen Säugetieren gibt, in denen —— ım 
nicht-brünstigen Zustande das Ovarıum nicht enthalten ist: 


die Tasche lässt sich aber auch leicht über den Eierstock 
herüberstülpen (Esel). Oder bei anderen Equiden und zum 
Teil auch einigen entfernteren Säugern liegt der Eierstock und 
zum Teil auch das Infundibulum ausserhalb emer Ovarial- 
tasche oder -Kapsel, deren zu kleine Öffnung die Aufnahme 
des Ovariums nicht gestattet. Oder bei einigen Affenarten steckt 
der Eierstock in einer Ovarialtasche, aus der er sich aber 
leicht herausholen lässt, bei einigen anderen dagegen ist die 
Tasche leer. Nun beziehen sich die Darstellungen von Zucker- 
kandl sämtlich auf den nicht-brünstigen Zustand der Ge- 
schlechtsoreane; wir hatten aber oben Gelegenheit gehabt, bei 
zwei Nagerspecies die recht erheblichen Veränderungen zu be- 


trachten, welche die anatomischen Lagebeziehungen von EKier- 


stock und Ovarialkapsel — oder richtiger gesagt Rileiter- 
gekröse — zur Zeit der Brunst durch die Wirkung der Musku- 


latur der Ovarialadnexe erleidet; wir sahen, dass sich eine 
weit offene Tasche in eine geschlossene Kapsel verwandelt. 
Es liegt wohl ausserordentlich nahe, anzunehmen, dass 


beim Esel muskuläre Einrichtungen vorhanden sind, die die 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 405 


Ovarialtasche zur Zeit der Brunst über den Eierstock herüber- 
ziehen, oder dass auch eine solche Tasche mit zu kleiner 
Öffnung durch Muskelwirkung soweit geöffnet werden kann, 
dass Ovarium und Infundibulum in ihr Platz finden, oder 
dass bei denjenigen Affen, bei denen im nicht-brünstigen Zu- 
stand der Rierstock nicht wie bei Verwandten in der Ovarial- 
tasche liegt, jener zur Zeit der Brunst hineingezogen werden 
kann. Da weder das Verhalten im brünstigen Zustand  bis- 
her bekannt ist, noch auch die Verhältnisse der Muskulatur 
der Ovarialadnexe bei diesen Species studiert worden sind, 
lassen sich zurzeit nur Vermutungen äussern. Hier bietet sich 
ein dankbares Feld für weitere Untersuchungen. 

Ich erwähne hier noch ganz beiläufig, dass auch Zucker- 
kandl (24) die Auffassung vertritt, dass die Ausbildung von 
Ovarialtaschen bei Säugetieren die Überleitung der Bier vom 
Eierstock zum Eileiter erleichtere, ohne aber der Frage näher 
zu treten, in welcher Weise diese Erleichterung der Aufnahme 
der Eier in die Tube zustande kommt. Etwas mehr hat sich 
U. Gerhardt (5) mit dieser Frage auch vom physiologischen 
Standpunkte aus beschäftigt, aber auch ihm ist der muskuläre 
Apparat, der, wie wir oben gesehen haben, eine so grosse 
Rolle spielt, unbekannt geblieben; er vermutet vielmehr, dass 
es ein Hyperämiezustand der Fimbrien des Infundibulums ist, 
welcher die Öffnung der Kapsel verschliesst. 

Ferner will ich noch ganz kurz darauf aufmerksam machen, 
dass Zuckerkandl (24) in seiner vergleichend anatomischen 
Abhandlung über die Ovarialtaschen der Säugetiere mehrere 
Fälle erwähnt, in denen er ausdrücklich die für die Aufnahme 
der Eier in den Rileiter durchaus ungünstige Lagerung des 
Infundibulum tubae beschreibt; wir hatten oben gesehen, dass 
in der Tat — wenn auch in geringerem Grade — beim Meer- 
schweinchen und Kaninchen der Trichter und die abdominale 


Mündung der Tube im nicht-brünstigen Zustande eine wenig 


406 I. SOBOTTA, 


oeeignete Lagerung für die Aufnahme der von der Bierstocks- 
oberfläche austretenden Eier besitzen, dass aber durch die 
Wirkung der Muskulatur während der Brunst auch dieses Lage- 
rungsverhältnis eine Korrektur erfährt. 

Ich habe also oben an der Hand eines geeigneten Materials 
zeigen können, dass die früher von mir (17, 18) beschriebenen | 
Vorgänge der Ovulation und Aufnahme der Bier bei den Muriden 
durchaus keine Ausnahme darstellen, dass man vielmehr auch 
bei Säugetieren mit wesentlich anders gestaltenden Lagerungs- 
beziehungen der Ovarialadnexe zu ganz gleichen Ergebnissen 
geführt wird, wenn man ım Zustande der Brunst untersucht. 
Auch beim Meerschweinchen lässt sich das Ergebnis des An- 
saugungsvorganges der Eier durch den abdominalen Abschnitt 
des Eileiters sicher nachweisen und für das Kaninchen sind 
wir mindestens zu der gleichen Schlussfolgerung berechtigt. 
Ob dem Flimmerstrom überhaupt eine nennenswerte Bedeu- 
tung für den Transport der Eier ın den Eileiter zukommt, 
muss angesichts der oben mitgeteilten Tatsachen bezweifelt 
werden. 

Nun stützen sich die Angaben, welche der Flımmerbewe- 
gung, die von seiten des Infundibulums ausgeht, die Haupt- 
rolle bei der Eiaufnahme in den Eileiter zuschreiben oder 
diese sogar allein dafür verantwortlich machen wollen, teils 
auf die Angaben älterer Untersucher der Befruchtungs- bzw. 
Ovulationsvorgänge des Säugeltiereies, teils auf die Ergebnisse 
der experimentellen Untersuchungen von Lode (10), die auch 
(Grosser (4) neuerdings wieder hervorholt. Dass die älteren 
Untersucher dieser Vorgänge, denen in der Regel auch nur 
ein sehr geringes Material zur Verfügung stand, durch die 
wenig geeignete Untersuchungsmethode zu keinem sicheren Er- 
gebnisse kommen konnten, wurde schon oben (S. 369) aus- 
einandergesetzt. Immerhin haben sich doch auch einige der 


älteren Beobachter in einem Sinne ausgesprochen, der unserer 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 407 


Anschauung zum mindesten nahe kommt; so gibt z. B. 
Reichert bei seinen bekannten Untersuchungen über die 
ersten Entwickelungsvorgänge des Meerschweinchens an, dass 
das Ei mehr durch Wirkung der Muskulatur als durch die 
des Flimmerstromes in den Bileiter aufgenommen wird. 

Etwas näher muss ich mich bei der Kritisierung der Ver- 
suche von Lode (10) aufhalten. An und für sich war es 
entschieden eine gute Idee, Versuche der Art anzustellen, wie 
sie von Lode zum ersten Male vorgenommen wurden; nur 
hätte er sich mehr um die anatomischen Verhältnisse der 
Bierstöcke und ihrer Adnexe bei seinem Versuchsobjekt 
kümmern sollen. Lode spritzte nämlich Spulwurmeier, die 
mit ihrer Hülle gemessen mindestens die gleiche Grösse be- 
sitzen wie die kleinsten Säugetiereier!) in die Peritonealhöhle 
von (nicht-brünstigen) Kaninchen; nach relativ kurzer Zeit fand 
er eine grössere Anzahl der Eier im Eileiter wieder. Ausser- 
dem stellte Lode fest, dass die Ascariseier durch den Flim- 
merstrom des Rachenepithels des Frosches bewegt werden. 
Lode zieht aus seinen Versuchen den Schluss, dass man 
dem Flimmerstrom des Infundibulums die Kraft zutrauen könne, 
Körper von der Grösse des Kanincheneies in die Tubenöffnung 
zu befördern. 

Zunächst muss gegen die Versuchsanordnung von Lode 
eingewandt werden, dass er an nicht-brünstigen Tieren operiert 
hat, bei denen, was ıhm natürlich ganz unbekannt war, die 
anatomischen Beziehungen des Eierstocks zu seinen Adnexen 
ganz andere sind als zur Zeit der Brunst. Die Resultate, 
die seine Versuchsanordnung ergab, sind also nicht ohne 
weiteres auf die Verhältnisse der Biaufnahme in den Kileiter 
verwendbar. Die Eier des Kaninchens, die den Bierstock ver- 


lassen, werden gerade nıcht in die Peritonealhöhle entleert, 


!) Lode gibt übrigens die Grösse der Eier der Maus und Ratte viel zu 
hoch an; er irrt sich also sogar zu seinem Ungunsten. 


408 J. SOBOTTA, 


wie das der Fall sein müsste, wenn die Lodeschen Versuche 
unmittelbar zum Vergleich herangezogen werden könnten, son- 
dern in den Periovarialraum, wie wir oben gesehen haben; 
und es dürfte nach der anatomischen Anordnung der in Frage 
kommenden Organe so gut wie ausgeschlossen sein, dass ein 
Ri des Kaninchens in die freie Peritonealhöhle entweicht. 

Die — übrigens meiner Ansicht nach in viel zu geringer 
Zahl und in nicht genügend Zeitintervallen angestellten — 
Versuche von Lode (er machte solche nur bei zwei Tieren) 
beweisen also nur, dass Fremdkörper von einem Durchmesser, 
der dem der kleinsten Säugetiereier etwa gleichkommt, deren 
Volumen aber nur etwa den 6. bis 8. Teil des Kaninchen- 
eies misst, aus der freien Peritonealhöhle in den Eileiter auf- 
senommen werden können. Dafür aber, dass die Aufnahme 
der Eier durch die Wirkung des Flimmerstroms des Infundi- 
bulums oder der Tube erfolgt, wird auch nicht der Schatten 
eines Beweises erbracht. Es wird das vielmehr aus einer ganz 
anderen Versuchsanordnung gefolgert, nämlich daraus, dass 
der auf der freien und relativ glatten Oberfläche der Rachen- 
schleimhaut des Frosches wirkende Flimmerstrom die gleichen 
Körper (Ascariseier) zu bewegen imstande ist, die für den 
Hauptversuch verwendet wurden, wenn diese der Oberfläche 
der flimmernden Schleimhaut unmittelbar aufliegen. 

Leider werden nun gar keine anatomischen Daten über 
den Zustand der Ovarien und ihrer Adnexe der verwendeten 
Kaninchen zur Zeit der Beendigung der Versuche von seiten 
Lodes gebracht. Es ist daher nicht leicht, die wirklichen 
Geschehnisse bei den Lodeschen Experimenten klarzustellen. 
Ehe ich der Frage nähertrete, wie vielleicht die Aufnahme 
der in die Peritonealhöhle injizierten Ascariseier in die Tuben 
des Kaninchens stattgefunden haben könnte, möchte ich voraus- 
oreifend den einen — und wie mir scheint — sehr wesent- 


lichen Befund von Lode beleuchten. Obwohl in dem einen 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 409 


der beiden Versuche das Kaninchen schon 10 Stunden nach 
der Einspritzung der Eier in die Peritonealhöhle getötel wurde, 
fanden sich bereits fast alle Eier im mittleren Abschnitt des 
Kileiters, nur wenige im Anfangsteil und vor allem gar keines 
auf dem Infundibulum !). 

Wie sind nun die Ascariseier aus der Peritonealhöhle ın 
den Eileiter gelangt? Dass sie überhaupt einen Ausweg aus 
dem Raum der Peritonealhöhle gefunden haben, verdanken 
sie vielleicht zunächst einer Verschiebung durch die Darm- 
peristaltik und sicher wohl auch zum Teil dem durch das 
Flimmerepithel des Infundibulums erzeugten Flimmerstrom. 
Wir hatten ja oben bereits gesehen, dass im nicht-brünstigen 
Zustande des Tieres die ganze flimmernde, aus zahlreichen 
Blättern bestehende Oberfläche des mächtigen Infundibulum 
tubae des Kaninchens gegen die Peritonealhöhle hin gerichtet 
ist. Dadurch wird wohl bestimmt ein gegen das Ostium abdomi- 
nale tubae gerichteter Flimmerstrom im benachbarten Abschnitt 
der Peritonealhöhle des Kaninchens erzeugt, der frei in dieser 
schwimmende Körper von einer solchen Grösse, dass ihr Trans- 
port durch den Flimmerstrom überhaupt möglich ist — und 
das scheint bei den von Lode benutzten Ascariseiern wohl 
der Fall zu sein —, mit sich reisst, wenn diese in der Nähe 
des Ostium tubae liegen. Ob die: Kraft des Flimmerstroms 
aber imstande ist, die Eier aus entfernteren Teilen der Peri- 
tonealhöhle an die Tubenöffnung heranzuziehen, ist zum 
mindesten fraglich. 

Ist es nun aber auch der Flimmerstrom, der die Eier 
in den Eileiter selbst befördert? Wie schon gesagt, gibt der 
Versuch von L ode darüber keinen Aufschluss. A priori könnten 
zweierlei Möglichkeiten in Betracht kommen; erstlich der 
gleiche Flimmerstrom, der die Eier aus dem benachbarten Teil 


!) Ich komme unten (S. 410) auf diesen Teil der Ergebnisse von Lode 
zurück. 


410 J. SOBOTTA, 


der Peritonealhöhle bis an das Tubenostium geholt hat, könnte 
auch in der Weise wirksam gewesen sein, dass die Eier nicht 
am Tubenostium Halt gemacht haben müssten, sondern er 
hätte auch den Transport der Eier bis an den Punkt des 
Kileiters bewerkstelligt, in dem sie von Lode gefunden worden 
sind. Die in Frage kommende Strecke der Eileiterschleimhaut 
besitzt ja in der Tat Flimmerepithel. 

Die zweite Möglichkeit, die in Betracht käme, wäre die, 
dass die Eier von dem Tubenostium aus angesaugt worden 
sind; dabei kann man sich vorstellen, dass ihre Berührung 
mit den Blättern des Infundibulums einen gleichsam reflek- 
torischen Reiz auf die Eileitermuskulatur ausübt, oder dass 
es in ähnlicher Weise wie bei der Ovulation der Muriden zu 
einer Ansaugung der Bier aus dem durch Wirkung der Tubar- 
oekrösemuskulatur (s. ©. S. 370) geschlossenen Raum der 
Bursa ovarıı kommt. | 

Wenn auch aus den Ergebnissen der Lodeschen Ver- 
suche nichts Sicheres hervorgeht, wie die Aufnahme der Ascaris- 
eier in die Tube erfolgt sein könnte, so spricht doch eine 
Tatsache ganz ausserordentlich stark gegen die Annahme der 
Wirkung der Flimmerbewegung. Bei beiden Versuchen von 
Lode war das Ergebnis nämlich genau das gleiche, obwohl 
das eine Mal das Versuchstier schon nach 10 Stunden, das 
andere Mal aber erst nach 36 Stunden getötet worden war; 
die in den Eileiter aufgenommenen Ascariseier fanden sich 
nämlich fast ausnahmslos im ‚mittleren‘ Abschnitte der Tube ; 


kein einziges lag in dem uterinen Drittel des Eileiters!) und 


1) Die Angaben von Lode über den Ort, in dem sich die injizierten Ascaris- 
eier im Eileiter der Versuchskaninchen vorfanden, sind nicht ganz klar; jeden- 
falls fand sich eine Strecke von 2 em vom ÖOstium uterinum entfernt gänz- 
lich frei von Eiern. Da die Länge des Eileiters eines grossen Kaninchens 
aber nur 5-6 cm beträgt — kleine Rassen haben kürzere Tuben —, so war also 
bei beiden Versuchen von Lode zum mindesten das uterine Drittel des 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere ete. 411 


vor allem — das, worauf es uns jetzt am meisten ankommt — 
nur vereinzelt fanden sich in dem abdominalen, an das In- 
fundibulum grenzenden Bereich vor, insbesondere lag keines 
— auch nicht ein einziges bei dem bald nach dem Experiment 
getöteten Kaninchen — auf den Falten des Infundibulums oder 
überhaupt in dessen Bereich. 

Wäre es der Flimmerstrom ‘oder dieser allein, der die 
Ascariseier aus der Peritonealhöhle in den Eileiter befördert 
oder wenigstens die Bier vom Infundibulum in die Tube ge- 
schafft hätte, so müsste man erwarten, dass dieser Transport 
entsprechend der geringen Geschwindigkeit der Flimmerbewe- 
gung einerseits und der zurückgelegten, nicht unbeträchtlichen 
Wegstrecke andererseits eine geraume Zeit in Anspruch nehmen 
müsste: dass dann 10 Stunden nach erfolgter Injektion der 
Bier in die Peritonealhöhle die Eier schwerlich schon die 
Mitte der Eileiterlänge erreicht haben könnten, wenn der Trans- 
port ausschliesslich durch den Flimmerstrom erfolgt wäre. 
Ferner sollte man meinen, dass der Flimmerstrom die Eier, 
die sich in der Peritonealhöhle vermutlich doch sehr stark 
zerstreut haben, einzeln erfassen wird, wenn sie aus irgend- 
welcher Ursache in die Nähe des Ostium abdominale tubae 
gelangi sind, so dass man erwarten dürfte, dass bei Aul- 
nahme der Eier in den Eileiter durch Wirkung des Flimmer- 
stromes diese zum mindesten auf eine grössere Strecke des 
abdominalen Endes der Tube verteilt getroffen werden müssten, 
wenn man nicht sogar einzelne Eier noch auf dem Infundi- 
bulum selbst vorfinden würde. Der Umstand aber, dass fast 
alle Eier auf einen verhältnismässig kurzen Bereich der Tube 
zusammengedrängt angetroffen wurden, und zwar bei beiden 


Versuchen, spricht doch ın hervorragendem Masse für die An- 
Bileiters ganz frei und die ganze uterine Hälfte fast frei von Eiern; wie weit 
vom abdominalen Ende entfernt die ersten Eier angetroffen wurden, lässt 
sich aus den Angaben von Lode nicht genau übersehen. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft (54. Bd. H. 2). 2 


412 J. SOBOTTA, 


saugungstheorie. Leider gibt Lode über den Zustand des 
Bileiterabschnittes, in dem es die Eier fand, gar keine Aus- 
kunft: insbesondere wird nichts davon erwähnt, ob dieser etwa 
dilatiert war. Lode hat diesen Punkt vielleicht auch gar 
nicht beachtet. 

Leider liegen nur zwei Versuche von Lode vor und bis- 
her sind die Experimente auch von keiner anderen Seite wieder- 
holt worden. Lode stand anscheinend so unter dem Bin- 
drucke der herrschenden Flimmerstromtheorie, dass er ange- 
sichts der überraschend guten positiven Resultate seiner Ver- 
suche eine Wiederholung dieser für unnötig hielt. Auch ist 
es Lode anscheinend unbekannt geblieben, dass ich (18) 
schon vor Erscheinen seiner Veröffentlichung auf die Wahr- 
scheinlichkeit aufmerksam gemacht habe, dass die Kier der 
Maus von dem Bileiter angesaugt werden; meine ausführliche 
Publikation, in der ich diese Anschauung zum ersten Male 
bestimmt formulierte, erschien erst ein Jahr nach der Mit- 
teilung von Lode. 

Ich habe nun die Versuche von Lode nachge- 
prüft, und zwar nicht beim Kaninchen, sondern beim Meer- 
schweinchen. Ich wählte das letztere als Versuchstier, 
weil ich die natürlichen Bedingungen möglichst genau nach- 
ahmen wollte. Das Ei von Ascaris megalocephala, das ich 
benutzte, ist (mit Schale gemessen) wesentlich kleiner als das 
Kaninchenei (s. 0. S. 408), dagegen ungefähr genau so gross 
wie das des Meerschweinchens (mit der Zona pellucida ge- 
messen); ferner bleibt die Grösse des Meerschweincheneies 
während seiner Tubenwanderung sich gleich, während das des 
Kaninchens sich durch die Bildung der Gallerthülle (s. u. 5. 419) 
gewaltig während seiner Bileiterwanderung vergrössert. Aller- 
dings ist es nötig Ascariseier (A. megalocephala) aus dem 
untersten Teil der FEiröhren zu entnehmen, wo die Bier be- 


reits in Furchung sind; erst in diesem Stadium besitzen sie 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 413 


(samt Hülle) den gleichen Durchmesser wie Meerschweinchen- 
eier oder der Grössenunterschied ist wenigstens ein so ge- 


ringer, dass er praktisch ausser acht gelassen werden kann !). 


Meine Versuche sind nun sämtlich vollkommen 
negativ ausgefallen, obwohl ich sie vor kurzem bei vier 
erwachsenen Tieren noch einmal wiederholt habe und im Gegen- 
satz zu meinen ersten Experimenten, bei denen ich mich mit 
einer einzigen Einstichstelle und dementsprechend einer einzigen 
Injektion begnügte, an drei verschiedenen Stellen der Bauch- 
wand, nämlich ın, links und rechts von der Mittellinie je einen 
Kubikzentimeter sterilisierter physiologischer Kochsalzlösung, 
die viele Tausend Ascariseier enthielt, injizierte. Die Tiere er- 
trugen die Injektion sehr gut; es zeigte sich auch ın der 
Peritonealhöhle nach dem Versuche keine Spur einer Reak- 
tion. Die Tiere wurden 4-59 Stunden nach der Injektion 
getötet. Es konnte in allen ‚Fällen die Einstichstelle am parie- 
talen Bauchfell noch erkannt werden; es war die Injektion 
sicherlich also bis in die Peritonealhöhle gelangt, was sich 
auch leicht beim Einstich durch das Gefühl und den Weg 
der Kanüle feststellen liess. Dass die Injektion nicht etwa 
in den Darm gegangen war, liess sich auch leicht nachweisen, 
wie überhaupt die Ausführung des ganzen Versuches gar keine 


Schwierigkeiten macht. 


Worauf das absolut negative Ergebnis beruht, ist mir 
gegenüber den so positiven Resultaten, die Lode erhalten 
hat, nicht erklärlich. Es kann das natürlich an der Species 
des Versuchstieres liegen; die sehr hohe und ungünstige Lage- 
rung des Eierstockes des Meerschweinchens spielt dabei wohl 
sicher eine Rolle. Andererseits muss auch berücksichtigt 


werden, dass Lode nur zwei Versuche angestellt hat, und 


!) Die von Lode zu seinen Versuchen benutzten Eier waren anscheinend 
etwas kleiner. 


27* 


414 J. SOBOTTA, 


dass immerhin die Möglichkeit vorliegt, dass gerade in diesen 
beiden Fällen ausserordentlich günstige Umstände vorgelegen 
haben, die eine Annäherung der injizierten Eier an die Tuben- 
ostien herbeigeführt haben könnten. Der Umstand, dass mehrere 
der von mir benutzten Tiere, wie sich erst bei der Obduktion 
herausstellte, trächtig waren, dürfte auch kaum ins Gewicht 
fallen, zumal in der Mehrzahl nur das eine Uterushorn Em- 
bryonen enthielt. 

Da ich im zweiten Teile meiner Mitteilung nochmals auf 
die Versuche von Lode zu sprechen komme und dabei (Ge- 
legenheit finden werde, nachzuweisen, dass der Flimmerstrom 
auch für den Transport der Eier durch den Eileiter nicht in 
Frage kommen kann, darf ich diese Betrachtung hier ab- 
brechen. 

Ziehe ich die Schlussfolgerungen aus dem oben Mitge- 
teilten, so können wir als sicher bewiesen annehmen, dass 
bei den Muriden die Aufnahme der Eier in.den Eileiter durch 
Ansaugung dieser seitens des abdominalen Endes des Eileiters 
vor sich geht; die Eier gelangen auf diese Weise wahrschein- 
lich ohne jede Beteiligung des Flimmerstroms in die Tube 
und finden sich hier unmittelbar nach erfolgter Ansaugung 
innerhalb der mitangesaugten Flüssigkeitsmenge im Anfangs- 
teile des Ganges, aber eine gewisse Strecke von der Mündung 
entfernt. 

Mit fast derselben Sicherheit liess sich für das Meer- 
schweinchen der gleiche Modus der Eiaufnahme in die Tube 
feststellen; die offene Bursa ovarıiı wird dabei durch Kon- 
traktion der Muskulatur des Mesenterium tubae geschlossen. 
Für das Kaninchen wurde der Nachweis geführt, dass sıch 
auch bei diesem die sehr weit offene Bursa ovarlı zur Zeit 
der Ovulation durch Wirkung der Muskulatur ihrer Wand so 
gut wie völlig schliesst; dass auch beim Kaninchen die ovu- 


lierten Eier seitens des Ostium abdominale tubae angesaugt 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 415 


werden, konnte zum mindesten als sehr wahrscheinlich hin- 
gestellt werden. 

Es kann nun nicht meine Aufgabe sein, die Frage zu 
erörtern, auf welche Weise die Aufnahme der Eier in die 
abdominale Öffnung der Tube bei denjenigen Säugetieren vor 
sich geht, die wie der Mensch keine Hilfseinrichtung in Ge- 
stalt einer (verschliessbaren) Bursa ovarıı besitzen. Solange 
nicht Beobachtungen über das Verhalten von Eierstock und 
Eileitermündung zur Zeit der Brunst und Ovulation vorliegen, 
solange nicht die unter Umständen in Betracht kommenden 
Hilfseinrichtungen näher studiert sind, wäre das ein ebenso 
müssiges Beginnen wie die theoretischen, auf keiner tatsäch- 
lichen Beobachtung fussenden Mitteilung der früheren Lite- 
ratur. Ich verweise in dieser Hinsicht z. B. auf die Angaben 
von Hasse (6); solche absolut jeder tatsächlichen Grundlage 
entbehrenden und rein theoretischen Erörterungen können 
keinen Anspruch auf Beweiskraft erheben. 

Immerhin möchte ich nicht unterlassen, darauf aufmerk- 
sam zu machen, dass in den Fällen, in denen eine Ovarial- 
tasche völlig fehlt, auch andere Sicherungseinrichtungen an 
deren Stelle treten können, die eine geregelte Aufnahme der 
Eier in die abdominale Öffnung der Tube garantieren. So 
ist bei den Monotremen, den Beuteltieren und Cetazeen der 
ganze Kierstock von dem mächtig entwickelten Infundibulum 
vollständig umfasst und damit die Einrichtung einer Bursa 
ovarıı überflüssig. Ferner erinnere ich an die merkwürdige 
Einrichtung des mächtigen Pferdeeierstockes, der eine besondere 
Ovulationsgrube besitzt, dem das relativ kleine Infundibulum 
gegenübersteht. In diese Grube ovulierte Eier — und ein anderer 
Modus ist ausgeschlossen — können mit Leichtigkeit vom In- 
fundibulum aus aufgenommen werden (wahrscheinlich durch 
Ansaugung). 


Wenn wir nun vorläufig für einzelne Säugetiergattungen 


416 J. SOBOTTA, 


und -Arten auch noch nicht imstande sind, den Mechanismus 
der Eiaufnahme in den Eileiter befriedigend zu erklären, so 
muss eben berücksichtigt werden, dass es auch an positiven 
Beobachtungen noch vollkommen fehlt. Es zeigt ja das Ver- 
halten des Eileitergekröses zur Zeit der Brunst und Ovulation 
oft ein ganz anderes Verhalten als im sexuellen Ruhezustande; 
wer hätte bisher den fast vollkommenen Verschluss der Ovarial- 
kapsel des Kanincheneierstocks auch nur für möglich gehalten 
nach dem Verhalten der Bursa ovarıı zur Zeit der sexuellen 
Ruhe. 

Immerhin enthält auch die ältere Literatur bereits ver- 
einzelte Beobachtungen, die eine durch aktive Muskelbewegung 
erzeugte Lagerungsveränderung des Tubentrichters angeben ; 
für einige Haussäugetiere hat K. E. v. Bär und Joh. 
Müller schon vor langer Zeit positive Angaben in dieser 
Hinsicht gemacht; für das Meerschweinchen hat Hensen (7) 
Bewegungen des Infundibulums feststellen können. 

Noch eine weitere Angabe der Literatur möchte ich streifen ; 
es handelt sich um die durchaus zutreffende Beobachtung von 
U. Gerhardt (5), dass je stärker sich die Bursa ovarli zur 
Kapsel schliesst, um so kleiner das Infundibulum wird. So 
hat das Kaninchen mit seiner relativ weit offenen Ovarıal- 
tasche auch einen viel mächtigeren Tubentrichter als das 
Meerschweinchen und bei den Muriden mit ihrer vollkommen 
geschlossenen Kapsel bildet sich das Infundibulum noch mehr 
zurück. Gerhardt, der wie alle Voruntersucher keine Kennt- 
nis der Muskulatur des Eileitergekröses und ihrer Wirkung 
bei der Ovulation besass und daher neben der Wirkung der 
Eileitermuskulatur auch der Flimmerbewegung eine gleich- 
bedeutende Rolle zuschreibt, etwa in der Art, wie sich auch 
Gegenbaur in seinem Lehrbuch der Anatomie ausspricht, 
macht mit Recht auf die eine der Funktionen aufmerksam, 


die ich auch oben (S. 400) dem flimmernden Infundibulum 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der 


Säugetiere etc. 417 


des Kaninchens zugeschrieben habe, nämlich den Ausgang aus 
der Bursa zu bewachen, um Eiern den Austritt in die freie 
Peritonealhöhle zu verwehren. Dass dieser Ausgang aber auch 
beim Kaninchen zur Zeit der Ovulation nur ein ganz enger 
Spalt ist, das konnte Gerhardt nicht ahnen. 


P) 


II.- Über den Mechanismus des Transportes der Eier der 
Säugetiere durch den Eileiter. 

Über die Art und Weise, wie die Eier der Säugetiere 
nach ihrer Befruchtung den Eileiter passieren, um in den Uterus 
zu gelangen, welche Kraft es ist, die sie durch die Tube 
treibt, wie lange Zeit sie für diesen Weg gebrauchen und 
welchen Entwickelungsgrad sie dabei erreichen, darüber habe 
ich kürzlich in der oben erwähnten kleinen Mitteilung von 
mir (21) ziemlich erschöpfende Angaben gemacht. 

Ich gebe hier zunächst in Kürze das wieder, was ich 
zusammenfassenderweise in diesen Punkten feststellen konnte: 

1. Die Dauer der Durchwanderungszeit des Eies durch 
den Eileiter der Säugetiere ist völlig unabhängig von der 
Grösse des betreffenden Tieres und damit von der Länge der 
Tube. 

2. Ebenso ist die Dauer des Aufenthaltes des Säugetier- 
eies im Eileiter völlig unabhängig von der Tragzeit des be- 
treffenden Tieres. 

3. Das Entwickelungsstadium, welches das Säugetierei 
während seines Aufenthaltes im Eileiter erreicht, steht in 
keinem Verhältnis zur Dauer seines Aufenthaltes in der Tube !). 

4. Die Dauer des Aufenthaltes des Säugetiereies im Ei- 


leiter ist unabhängig von der Grösse des Eies. 


1) Dieses variiert sogar ausserordentlich stark. Bei manchen Beutel- 
tieren beginnt die Furchung überhaupt erst im Uterus, bei anderen tritt das 
Ei in einem ganz frühen Furchungsstadium in den Uterus über (Schwein), 
bei den Gürteltieren entwickelt es sich im Eileiter bereits bis zum Stadium 
einer Keimblase mit weitgehender Differenzierung. 


418 J. SOBOTTA, 


5. Die Dauer des Aufenthaltes der Eier der verschiedenen 
Säugetiere in der Tube beträgt (mit Ausnahme des Eies des 
Hundes) bei allen bisher untersuchten Species und unabhängig 
von den unter 1-4 aufgezählten Verhältnissen rund drei Tage. 

Mit Rücksicht auf diese Feststellungen und im Hinblick 
auf die Tatsache, dass der grösste Teil der Länge des Tuben- 
rohres bei manchen Säugetieren wie bei den Muriden gar 
kein Flimmerepithel trägt, hatte ich den Schluss gezogen, dass 
die Säugetiereier nicht mittels der Flimmerbewegung durch 
den Eileiter befördert werden, sondern durch die Kraft der 
Muskulatur der Tube, auf deren relativ mächtige Ausbildung 
namentlich im uterinen Abschnitt des Ganges ıch hinwies. 
Besonders führte ich auch gegen die Hypothese der Wirkung 
des Flimmerstromes auf den Transport der Eier den Umstand 
ins Feld, dass selbst bei der gleichen Species die verschiedenen 
Abschnitte des Rileiterrohres sehr ungleich schnell durchwandert 
werden. 

Grosser (4) hat nun in der oben zitierten Mitteilung 
zum Teil gegen meine Anschauung Stellung genommen, wenn 
er ihr auch einige Konzessionen macht. Vor allem hält aber 
(Krosser daran fest, dass die Eier der Säugetiere zum 
mindesten durch einen Teil, und zwar den Hauptabschnitt der 
Tube mit Hilfe des Flimmerstroms befördert werden, wobei er 
als Beweis die oben (S. 410) bereits erwähnten Versuche von 
lLode (10) heranzieht. Ich will an diesen Punkt der Erwide- 
rung von Grosser gleich anknüpfen. Die Lodeschen Ver- 
suche ergeben nämlich absolut keine Stütze für die Flimmer- 
theorie: im Gegenteil sie sprechen, wie ich gleich zeigen werde, 
eher gegen diese. 

Wie schon oben erwähnt, gelang es Lode bei Kaninchen 
experimentell Ascariseier in die Peritonealhöhle der Versuchs- 
liere zu injizieren, die er nach verhältnismässig kurzer Zeit 


im Eileiter wieder fand. Diese Eier lagen aber in den beiden 


Anatomische Hefte, I. Abt. 163. Heft (54. Bd., H. 2.) 


Liquorstreifen 
aus der Riss- 


Diuipulen stelle des Folli- 
rt kels austretend Bileiter. 
1 Se schlingu 


_ Eileiter- 
Kekröse 
mit Mus- 
kulatur 


_--soeben geplatzter 
Follikel 


-- Eileiterschlinge 


reifor 
(an- 
geschnitten) 


">> -unteres Bileiter- 
gekröse 


Muskulatur des 
Mesenterium tubae 


Fig. 10. 


isthmische 

Schlingen des 
Ampulläre Schlingen E7- Bileiter 
des Bileiters 


Verlag von J. 


F. Beffmann in w, 


Tafel 33/34. 


Infundibulum 


_— Ostium abdomi- 
= nale tubae 


„ Graaffscher 
Follikel 


Margo liber ovarii 


oberes Bileiter- = 
gekröse 


Bileiter 


Facies dorsalis 

ovarii 
Tacies ventralis 
ovarli 


unteres Eileiter-" 
gekröse 


Margo meso- 
varicus 


Bursa ovarii 


Mesoyarium 


Fig. 8. 


„„Infundibulum 


istimische Tubar- 
schlinge 


Ei im frühen Vor- \ 
gornafätum Ampulläre Tubar- 

schlinge nahe dem 
Tufundibulum 


w 
stark dilatierte, ampulläre Tubarschlingo 


Fig. 12. 


iesbaden, 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 419 


von Lode angestellten. Versuchen ungefähr an der gleichen 
Stelle des Eileiters (Mitte nach Lode) angehäuft; sie fehlten 
beide Male im uterinen Drittel völlig, im abdominalen fasi 
völlig. Ich habe oben bereits angeführt, dass nichts dafür 
spricht, dass die Eier hierin durch Flimmerbewegung gelangt 
seien; im Gegenteil, sie können nur durch Ansaugung an diesen 
Punkt gekommen sein. Nun sind aber die von Lode ver- 
wendeten Ascariseier doch ganz wesentlich kleiner als die 
Kanincheneier, die unter normalen Verhältnissen durch die 
Tube getrieben werden sollen; sie messen nämlich nur ein 
Sechstel bis Achtel des Volumens des Kanincheneies. Noch 
viel ungünstiger aber wird das Verhältnis, wenn man berück- 
sichtigt, dass das Ei des Kaninchens während seiner Passage 
durch die Tube doch noch ganz erheblich an Grösse zunimmt; 
bekanntlich umgibt sich das Ei des Kaninchens innerhalb des 
Eileiters mit einer dicken Gallerthülle (sog. Eiweisshülle). Sein 
Volumen beträgt dann mindestens das Zehn- bis Zwölffache 
des von Lode zu seinen Versuchen benutzten Ascariseies 
(nach den von Lode selbst angegebenen Massen). 

Es geht also daraus zunächst schon hervor, dass es an 
und für sich nicht angäneig ist, die mit unter Verwendung 
der kleinen Ascariseier gewonnenen Resultate ohne weiteres 
auf das Kaninchenei zu übertragen. Wenn nun aber die 
Flimmerbewegung des Eileiterepithels des Kaninchens imstande 
sein soll, die grossen und im Vergleich zu den zum Versuch 
verwendeten Ascariseiern geradezu mächtigen Kanincheneier 
durch die Tube zu befördern, wieviel leichter muss das dem 
Flimmerstrome werden, die kleinen Wurmeier weiterzubewegen. 
Dafür ist nun aber durch die Lodeschen Versuche auch nicht 
im geringsten der Beweis geführt; nach Ablauf von 36 Stunden 
lagen die Eier noch an demselben Platze wie nach Verlauf 
von 10, d. h. ungefähr da, wohin sie vermutlich schon durch 


Ansaugung gelangt waren. Sie sind also zwar in den Eileiter 


420 J2SOBOTTA} 


gekommen, aber wohl kaum durch die Wirkung des Flimmer- 
stromes: einmal aber dort angelangt, bleiben sie anscheinend 
hilflos liegen und kommen nicht oder kaum vom Fleck; nach 


10 Stunden liegen sie ebenso wie nach 36 Stunden alle un- 


gefähr an demselben Platze; davon dass die Eier in 26 Stunden . 


weiter gewandert wären, ıst nichts oder fast nichts zu ent- 
decken; jedenfalls sind sie noch nicht in das uterine Drittel 
des Kileiters vorgedrungen, wo die Kanincheneier bei gleicher 
Dauer des Aufenthaltes im Eileiter längst angelangt wären). 

Natürlich muss man diese Schlussfolgerung mit aller Vor- 
sicht ziehen, da die Zahl der Versuche von Lode eben viel 
zu gering ist. Es wäre ja möglich, dass bei dem einen Ver- 
suche die Aufnahme der Eier in den Eileiter sehr bald nach 
der Injektion erfolgt wäre, bei dem anderen dagegen verhältnis- 
mässig später, so dass die beiden Versuche in bezug auf 
das Stadium des Verweilens der Bier im Eileiter gleichwertig 
wären. Trotzdem beweisen aber auch dann die Versuche von 
Lode gar nichts. Sie machen es nicht einmal wahrscheinlich, 
dass die kleinen Ascariseier durch die Flimmerbewegung trans- 
portiert werden können ?). 


!) Ich halte es zwar nicht für unmöglich, dass die in den Eileiter der Ver- 
suchstiere von Lode aufgenommenen Ascariseier vom Flimmerstrom der Tubar- 
schleimhaut erfasst und von diesem etwas hin- und hergewirbelt worden sind. 
Anscheinend lagen sie auch den Flimmerhaaren innig auf und nicht zentral 
im Eileiterlumen innerhalb einer Flüssigkeitssäule, wie man das bei der Wande- 
rung der Eier der Säugetiere (s. u.) zu beobachten Gelegenheit hat. Die Vor- 
aussetzungen für einen Transport der Eier durch die Muskulatur fehlten anschei- 
nend und so blieben die Fremdkörper hilflos liegen. 


®) Gelegentlich bemerkt man, dass zufälligerweise im Eileiter befind- 
liche Fremdkörper, die ungefähr die gleiche Grösse haben wie die Eier selbst, 
mit diesen zusammen durch den Eileiter bewegt werden. So habe ich im Ei- 
leiter eines Kaninchens auf beiden Seiten eigentümliche geschichtete Fremd- 
körper beobachtet, über deren Natur und Herkunft ich keine Angaben zu 
machen imstande bin. Diese lagen mit den besamten Eiern zusammen in- 
mitten der die Tube ausdehnenden Flüssigkeit. Ich habe in Fig. 16 neben den 
Eiern eine solche Bildung zur Darstellung gebracht. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 421 


Die Ergebnisse der Lodeschen Versuche als Stütze für 
die Theorie des Transportes des Säugetiereies durch den Fi- 
leiter mittels der Flimmerstrombewegung zu verwerten, ist 
sanz ausgeschlossen. Eine Stütze erhält diese Anschauung 
durch diese Versuche keineswegs. 

Infolgedessen werden auch die Ausführungen, die ich 
kürzlich (21) gegen die genannte Hypothese vorbrachte, keines- 
wegs entkräftet. Leider muss ich mil Rücksicht auf die zum 
Teil von der meinigen abweichenden Anschauung von Grosser 
auf verschiedene der bereits früher erörterten oder wenigstens 
kurz gestreiften Punkte zurückkommen. Am einfachsten liegen 
die Verhältnisse meiner Ansicht nach bei denienigen Säuge- 
tieren, bei denen ein grosser Teil der Länge des Tubenrohres 
überhaupt kein Flimmerepithel trägt, wie ieh (17) zuerst bei 
der Maus nachgewiesen habe; hierhin gehört auch die Ratte 
(siehe meine letzte Mitteilung |21|) und auch das Meer- 
schweinchen. Auch bei diesem Nager flimmert nur der ampul- 
läre Abschnitt des Eileiters; die uterinen (etwa) Zweidrittel 
tragen ein ganz ähnliches, durchaus der Flimmerhaare ent- 
behrendes Epithel, wie ich das bei den Muriden zuerst be- 
schrieben habe, und wie das ja von anderer Seite mehrfach 
bestätigt worden ist. 

Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass alle anderen 
Säugetiere ‘sich anders verhalten; im Gegenteil, ıch glaube, 
dass man bei genauerem Nachsehen den gleichen Befund auch 
bei vielen anderen wird erheben können; es fehlen in dieser 
Hinsicht nur bisher die nötigen Untersuchungen. 

So besitzt z. B. auch die Schleimhaut des uterinen Teiles 
des Eileiters des Kaninchens selbst zur Zeit der Geschlechts- 
ruhe keinen ununterbrochenen Überzug von flimmerndem 
Epithel, wenn. auch die bei weitem überwiegende Zahl der 
Zellen flimmert. Dieser Unterschied gegenüber den anderen 


oben erwähnten Nagerspecies wird aber zur Zeit der Tuben- 


422 J. SOBOTTA, 


wanderung der Eier vollkommen aufgehoben. Wie kürzlich 
Moreaux (12) gezeigt hat, verlieren dann die sämtlichen 
Epithelzellen des uterinen Teiles der Tube ihren Flimmersaum 
und wandeln sich in secernierende Elemente um. Eine der- 
artige Änderung des Epithelcharakters ist ja auch a priori 
zu erwarten; denn wenn das inzwischen in die ersten Stadien 
der Furchung eingetretene Kaninchenei die uterine Hälfte des 
Eileiters durchwandert, umgibt es sich mit einer dicken Gallert- 
hülle, die von seiten der Eileiterwand secerniert wird. Da 
das Flimmerepithel zu einer solchen Funktion nicht geeignet 
ist, muss notwendigerweise eine Umwandlung des Epithel- 
charakters zustande kommen derart, wie er jetzt zum ersten 
Male durch Moreaux nachgewiesen worden ist. 

Der zugunsten der Flıimmerbewegungshypothese allein ver- 
wendbare Unterschied ın dem Verhalten des Tubarepithels 
zwischen Kaninchen einerseits, den Muriden und dem Meer- 
schweinchen andererseits ist also nur ein scheinbarer; für 
die Wanderung des Eies durch den Eileiter kann er nicht ın 
Frage kommen, weil gerade um diese Zeit der uterine Teil 
der Tube des Kaninchens ebenfalls des Flimmerepithels ent- 
behrt. Das Vorkommen von EFlimmerepithelim 
uterinen Abschnitt des Eileiters des Kaninchens entspricht, 
wie Moreaux mit Recht angibt, dem Zustande der ge- 
schlechtlichen Ruhe: 

Wenn also die Eier der Muriden, des Meerschweinchens 
und Kaninchens und wahrscheinlich gilt das auch für viele 
andere Säugetiere — den ampullären Teil der Tube verlassen 
haben, so gelangen sie in eine Bileiterstrecke, die nicht mehr 
mit Flimmerepithel ausgekleidet ist. Ich habe aus dieser Tat- 
sache die Schlussfolgerung gezogen, dass nun an eine weitere 
Fortbewegung der Kier mittels des Flimmerstromes nicht zu 
denken ist, weil ein solcher im uterinen Teil der Tube nicht 


mehr vorhanden ist. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ele. 423 


An dieser Auffassung glaube ich auch heute noch fest- 
halten zu müssen, obwohl Grosser (4) die Ansicht vertritt, 
dass auch dann der Flimmerstrom für den Transport der Eier 
verantwortlich gemacht werden könnte. Diese Anschauung ist 
natürlich rein-theoretisch; dass tatsächlich der durch die 
Flimmerzellen des ampullären Endes der Tube erzeugte Strom 
imstande sein könnte die Bier bis an oder in den Uterus zu 
befördern, müsste erst bewiesen werden. Ich halte das a priori 
für sehr unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich. Vor allem 
stehen dem aber ausser den gleich zu erwähnenden tatsäch- 
lichen Befunden doch auch sehr erhebliche theoretische Be- 
denken gegenüber. Wenn wirklich ein wirksamer Flımmer- 
strom am ampullären Ende erzeugt wird, warum dauert dann 
die Wanderung der Eier trotz der Kürze der Tube der Maus 
so lange Zeit, genau so lange wie bei der ungleich viel längeren 
Tube der Ratte oder dem vielfach so langen Eileiter des Kanin- 
chens und Meerschweinchens? Wie kommt es ferner, dass 
die Eier im uterinen Abschnitt der Tube zum mindesten 
doppelt so lange verweilen wie in den ersten Zweidritteln 
oder Dreivierteln des Eileiters? Irgend ein Hindernis tritt ihnen 
hier nicht in den Weg und man könnte höchstens annehmen, 
dass die Kraft des Flimmerstromes allmählich erlahme; 
trotzdem wird aber der plötzliche Abfall in der Schnellig- 
keit der Bewegung nicht leicht auf diese Weise zu erklären 
Sen. 

Betrachtet man nun die tatsächlichen Verhältnisse, so er- 
kennt man, wie oben schon mitgeteilt, unmittelbar nach der 
Aufnahme der Eier in die Tube die so charakteristische Deh- 
nung des ampullären Tubenabschnittes, die schon makro- 
skopisch in Gestalt eines Bläschens sichtbar ist; sie zeigt 
dem Untersucher mit Sicherheit die Anwesenheit von frisch 
ovulierten Eiern in der Tube an. Diese bläschenartige Dehnung 


des Eileiters (Figg. 12 u. 14), die bei Muriden besonders deut- 


424 J. SOBOTTA; 


lich ist, aber auch bei anderen Nagetieren nicht fehlt (s. 0. 
S.392), liegt im Bereich des flimmerepitheltragenden Abschnittes 
der Tube. Bei der Dehnung der Wand und der damit ver- 
bundenen, oft enorm starken Abplattung des Epithels verliert. 
die grosse Mehrzahl der Zellen dieser Region ihren sonst so 
denkbar schönen Flimmersaum, den sie doch, sollte man 
meinen, für den Weitertransport der Eier nötig gebrauchen 
könnten, wenn dieser durch die Wirkung des Flimmerstromes 
erfolgen würde. 

Überhaupt wird man sich wohl schwer vorstellen können, 
wie der Flimmerstrom die ganze Flüssigkeitsblase mit den 
darin enthaltenen Eiern bewegen soll. Tatsächlich ist davon 
auch keine Rede: vielmehr stellt diese Blase, welche die Ei- 
leiterwand stark ausdehnt, dem Flimmerstrome ein denkbar 
grosses Hindernis in den Weg, und es übernimmt nun die 
Muskulatur der Tube die Rolle des Bewegungsapparates der 
durch Muskelaktion in die Tube angesaugten Flüssigkeit; man 
erkennt beim Vergleich geeigneter dicht aufeinanderfolgender 
Entwickelungsstadien, dass die anfangs sehr streng lokalisierte 
Dehnung des Tubenrohres, die äusserlich als blasenförmige 
Auftreibung erschien, nun einer mehr spindelförmig verlängerten 
Ausdehnung des REileiters Platz macht; zunächst aber bleibt 
eine auch äusserlich erkennbare Dehnung des Rohres noch 
bestehen und erst, wenn die Eier die Mitte der Länge der 
Tube überschritten haben, ist das Kaliber des eierhaltigen 
Tubenabschnittes ein annähernd gleichmässig oylindrisches. Die 
Bier liegen stets (s. a. u. S. 426) in einer sie umgebenden. 
Flüssigkeitssäule und ziemlich genau zentral im Lumen, wie 
aus den von mir früher (17) gegebenen Abbildungen von der 
Maus und ebenso für die Ratte aus den Rekonstruktionen 
erkennbar ist, die der letzte Untersucher dieser Verhältnisse, 
Karl Huber (8), von der Ratte gegeben hat. Man vergleiche 


dazu ferner die Figg. 12, 14 u. 19. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 425 


Diese tatsächlichen Befunde, die sich auf ein reiches 
Material stützen, lassen sich doch wohl kaum anders deuten, 
als dass eine Kontraktion der Muskelwand des EKileiters statt- 
findet, welche die aufgesaugte Flüssigkeitsmasse mit den Eiern 
durch die Tube gegen den Uterus bewegt. Dass diese Be- 
wegung sehr langsam vor sich gehen muss und im uterinen 
Abschnitt der Tube noch wesentlich langsamer als im mittleren 
Teil, ist kein Grund gegen die Annahme einer Wirkung der 
Kileitermuskulatur, wie das Grosser (4) vermutet; die Tätig- 
keit der Muskulatur steht doch unter dem Einflusse des Nerven- 
systems und ist daher leicht regulierbar. Man braucht ja nicht 
unbedingt an eine regelrechte und ununterbrochene Peristaltik 
zu denken; die Beförderung der Eier kann auch gleichsam 
ruckweise vor sich gehen. Immerhin scheint mir wenigstens 
für die Maus kein Anhaltspunkt dafür gegeben, dass das in 
der Nähe des uterinen Endes des Eileiters gelangte Ei ziem- 
lich plötzlich in den Uterus gestossen wird, nachdem es bis 
dahin durch den Flimmerstrom bewegt worden war, wie 
Grosser (4) annimmt. Dagegen spricht schon die Tatsache, 
dass man in allen Abschnitten des uterinen Teiles der Tube 
der Maus ungefähr gleich häufig Eier antrifft, was doch kaum 
der Fall sein dürfte, wenn ein Teil besonders schnell durch- 
setzt würde. Und gerade ın dem dem Uterus am meisten 
benachbarten Abschnitt des Eileiters habe ich gar nicht selten 
Eier beobachtet. 

Ferner lässt sich auch an geeignetem Material leicht die 
Feststellung machen, wie ich eine solche beim Vergleich meiner 
verschiedenen Präparationen von der Maus regelmässig er- 
heben konnte, dass auch beim Fortschreiten der Eier durch 
die Tube und beim Eintritt in den isthmischen Teil dieser 
das Tubenrohr eine deutliche Erweiterung gegenüber seinem 
Verhalten in der sexuellen Ruhepause zeigt, wenn diese Deh- 


nung auch nicht so auffällig ist wie im Bereiche des ampullären 


426 J. SOBOTTA, 


Abschnittes des Eileiters. Man erkennt diesen Unterschied in 
der Mitte der verschiedenen Abschnitte der Eileiterschlingen 
leicht aus dem Vergleich der beigegebenen Abbildungen 
(Fig. 11—13). Im nicht-brünstigen Zustande (Fig. 11) ist die 
Lichtung des isthmischen Abschnitts des Tubenrohres oft so 
klein, dass die niedrigen Falten dieses Tubenabschnittes sich 
mit ihren Kuppen berühren und selbst für das kleine Ovulum 
der Maus kaum Platz lassen. Im Stadium der Wanderung 
der Eier durch den isthmischen Teil des Tubenrohres dagegen 
ist dieser so stark erweitert, dass nicht nur mehrere Eier 
nebeneinander Platz finden, sondern auch eine nicht geringe 
sie umgebende Flüssigkeitssäule; dagegen kehrt der ampulläre 
Teil zum Kaliber des geschlechtlichen Ruhestandes zurück 
(Big. 15)2). 

Es ergibt sich daraus eine weitere Stütze der von mir 
oben schon erwähnten Hypothese, dass bei dem Transport 
der Eier der Maus durch den Eileiter die mit den Eiern zu- 
sammen angesaugte Flüssigkeitsmasse durch die Wirkung der 
Kontraktion der Eileitermuskulatur gegen das Ostium uterinum 


hin bewegt wird, wobei die anfangs nahezu in Kugelform 


!) Dem Kenner der hier in Betracht kommenden Verhältnisse der Kaliber- 
schwankungen des Eileiterlumens der Maus ist es ein leichtes, auf den ersten 
Blick hin sofort zu erkennen, ob die Tube sich im Zustande der geschlecht- 
lichen Ruhe befindet oder ob in ihr Eier auf der Wanderung zum Uterus begriffen 
sind, und auf welchem Entwickelungsstadium diese sich befinden, auch wenn 
er die letzteren selbst nicht sieht. Die mächtige Dehnung des ampullären 
Eileiterendes lässt stets darauf schliessen, dass entweder frisch entleerte und 
noch nicht befruchtete oder eben besamte Eier sich in ihr finden; hier trifft 
man noch Ovula unmittelbar nach Ausbildung der Vorkerne. Beobachtet 
man dagegen eine mässige aber deutliche Dehnung des isthmischen Teils des 
Eileiters, so wird man Eier in den ersten Furchungsstadien zu erwarten haben, 
oder solche im älteren Vorkernstadium‘ Erst kurz bevor die Eier der Maus in 
den Uterus übertreten, nimmt die Lichtung des uterinen Abschnittes des Ei- 
leiters nahezu wieder das geringe Kaliber an, das er zur Zeit der geschlecht- 
lichen Ruhe hatte; jetzt kann auch der Kenner nicht mehr mit Sicherheit 
aus den Kaliberverhältnissen einen Schluss auf das Vorhandensein von Eiern 
in der Tube machen. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 427 


aufgesaugte Blase allmählich in eine fast eylindrische Säule 
verwandelt wird). 

Ich glaube also für die Muriden mit ziemlicher Gewissheit 
eine Beteiligung des Flimmerstromes der Tube als ursächliches 
Moment bei der Beförderung der Eier ausschliessen zu können. 
Nicht anders liegen aber die Verhältnisse beim Meer- 
schweinchen; nur durchsetzen bei diesem die Eier das 
wesentlich längere Eileiterrohr in der gleichen Zeit, also sehr 
viel schneller als bei Maus oder selbst der Ratte, Ich habe 
oben nachweisen können, dass die Bier des Meerschweinchens 
aus dem Raum der Bursa ovarii, die sich zur Zeit der Ovu- 
lation fast völlig schliesst, von seiten des Ostium abdominale 
tubae angesaugt werden, dass hierfür also die Wirkung des 
Flimmerepithels wenn überhaupt — so doch nur in ganz 
untergeordneter Weise in Betracht kommt. Der uterine Teil 
des Eileiters trägt aber ebensowenig Flimmerepithel wie der 
entsprechende Abschnitt bei den Muriden. Es käme also nur 


die mittlere Strecke der Länge des Tubenrohres in Betracht, 

!) Man könnte natürlich a priori daran denken, dass die durch Ansaugung 
aus dem Periovarialraum in den Eileiter gelangte Flüssigkeit durch Resorption 
seitens der Eileiterwand wieder verschwindet. Dem stehen aber die oben er- 
wähnten Tatsachen gegenüber, dass eine ganz allmähliche Streckung der Blase 
bei ihrem Wege durch den Eileiter zu beobachten ist. Damit werden auch alle 
Einwände hinfällig, die dagegen erhoben worden sind, dass die Peristaltik 
oder eine entsprechende Kontraktion der Muskulatur der Eileiterwand die 
kleinen Eier als solche nicht erfassen könne; es werden ja eben nicht die Eier 
allein bewegt, sondern die Flüssigkeitssäule, in der sie liegen. Ebenso lässt 
sich ein anderes gegen die Fähigkeit der Muskelaktion die Eier durch den Ei- 
leiter zu befördern geltend gemachtes Bedenken durch die tatsächlichen Be- 
funde leicht zerstreuen; man hat eingewendet, dass eine Muskelkontraktion 
der Eileiterwand, dessen Inhalt stets zum Ausweichen gegen die weitere abdo- 
minale Öffnung bringen müsse, nicht gegen die enge uterine. Dann müsste 
sich bei der Maus der Periovarialraum nach Beginn der Kontraktionen der Tubar- 
muskulatur von neuem mit Flüssigkeit füllen, was nicht der Fall ist; er bleibt 
bis zum Auftreten einer neuen Brunstperiode leer, wie er es im Zustande der 
sexuellen Ruhe ist. Es muss also ein Regulationsmechanismus vorhanden 
sein, der einer Bewegung der Flüssigkeitssäule in der Richtung gegen das Ostium 
abdominale einen Riegel vorschiebt. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 163. Heft. (54. Bd., H. 2). 28 


428 J. SOBOTTA, 


im Bereich deren eine Aktion des Flimmerstromes denkbar 
wäre. Wenn diese wirklich imstande sein sollte, den Inhalt 
des Eileiters (Eier und Flüssigkeit) zu bewegen, so müsste 
das mit ungleich viel grösserer Schnelligkeit erfolgen als beı 
den Muriden oder bei Säugetieren, die eine kürzere Tube be- 
sitzen als das Meerschweinchen. Es käme also hier bereits 
die früher schon von mir (21) in den Vordergrund gestellte 
Schwierigkeit der Erklärung des Transportes der Eier der 
Säugetiere durch die Tube unter Annahme der Aktion des 
Flimmerstromes in Betracht, auf die ich unten nochmals zurück- 
komme. 

Im übrigen gilt für die Eiwanderung des Meerschweinchens 
das gleiche, was ich für die der Muriden oben auseinander- 
setzte; selbst unter der Annahme, dass im abdominalen Drittel 
des Eileiters ein zur Bewegung der Eier geeigneter Flimmer- 
strom zustande kommen könnte, würde dieser an der Flüssig- 
keitsblase, die mit den in ihr enthaltenen KBiern sich in die 
Kileiterwand einpresst, einen unüberwindlichen Widerstand 
finden. Ferner sprechen auch alle tatsächlichen Befunde, die 
den bei Muriden zu beobachtenden Verhältnissen gleichen, 
gegen die Möglichkeit einer Beförderung des Eies auf dem 
Wege der Flimmerbewegung. Auch hier lässt sich eine Dehnung 
des Tubenrohres während der ganzen Dauer des Eitransportes 
nachweisen; die Bier liegen stets innerhalb einer Flüssigkeits- 
säule, die sich langsam im Tubenrohre gegen die uterine Öff- 
nung vorschiebt; diese Erscheinung macht sich wie bei Muriden 
in Gestalt einer mehr oder weniger ausgesprochen lokalen Deh- 
nung des Eileiterabschnittes bemerkbar, der gerade von dem 
Ovulum oder den Ovula durchsetzt wird. Während bei Muriden 
ein starker Unterschied in der Dehnung des Eileiterrohres bei 
Beginn der Eiwanderung bzw. direkt nach der Aufnahme des 
Kies in den Eileiter und den späteren Stadien des Eitransportes 


zu bemerken ist, scheint beim Meerschweinchen diese Differenz 


b) 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 429 


nicht allzu gross zu sein; allerdings verfüge ich nur über 
wenige Präparate aus den Eindstadien der Eiwanderung durch 
die Tube des Meerschweinchens. 

Das Kaninchen wird seitens der Anhänger der Flimmer- 
bewegungshypothese vielfach als Beispiel benutzt und hat ja 
auch als Versuchstier in dieser Hinsicht gelten müssen. Der 
Umstand, dass die ganze Länge des Tubenrohres Flimmer- 
epithel trägt, verleitet ja zu der Annahme, dass diese Einrich- 
tung in erster Linie für den Transport des Kies bestimmt 
sein könnte. Aber gerade wenn die Wanderung der Bier durch 
den Eileiter vor sich geht, verliert, wie wir oben schon ge- 
sehen hatten, das Epithel des ganzen uterinen Abschnittes 
der Tube seinen Flımmersaum, also sein Bewegungsorgan. 
Würde dem Epithel die Funktion der Bewegung des Eies zu- 
kommen, so wäre es doch sehr unwahrscheinlich, dass gerade 
dann, wenn dieses Bewegungsorgan in Tätigkeit treten muss, 
eine So grosse Unzweckmässigkeit eintreten sollte, dass es 
funktionslos wird, während es ın der sexuellen Ruhepause, 
also gerade dann, wenn keine Eier zu transportieren sind, 
in voller Aktion sich befindet. Man erkennt bereits aus dieser 
Tatsache, wie sehr man bisher den Umstand, dass das Ei- 
ieiterepithel vieler Tiere und des Menschen flimmert, über- 
schätzt hat. Das Epithel des uterinen Abschnittes des Kanın- 
cheneileiters hat eben zur Zeit der Eiwanderung eine ganz 
andere Funktion als die der Bewegung der Eier; es liefert 
ihnen die sog. Eiweisshülle, eine dicke gallertige Schale. 

Da ich es oben zum mindesten für wahrscheinlich hin- 
gestellt habe, dass die Eier des Kaninchens ebenso wie die 
der Muriden und des Meerschweinchens durch Ansaugung in 
den Eileiter befördert werden und dass das Flimmerepithel 
hierbei höchstens eine nebensächliche Rolle spielen kann, so 
bliebe wiederum nur der Flımmerstrom, der ım mittleren Ab- 


schnitt der Tube zustande kommt, als Bewegungsfaktor für 


28* 


430 J. SOBOTTA, 


die Eier übrie. Nach der Auffassung von Grosser (4) würde 
dieser dann die Eier in den uterinen Teil des Eileiters be- 
fördern und aus diesem gelangten die Eier schliesslich doch 
durch die Wirkung der Tubenmuskulatur in den Uterus. Nun 
ist aber die Annahme, dass im mittleren Abschnitt des Ei- 
leiters das Flimmerepithel zur Bewegung der Eier beiträgt, 
rein hypothetisch ; da seine Wirkung dem Einflusse des Nerven- 
systems nicht unterliegt, so müssten bei Kaninchen kleiner 
Rassen, bei denen die Länge des Eileiters natürlich viel ge- 
ringer ist als bei grossen Rassen, die Eier diese Tubenstrecke 
viel schneller passieren als die Eier grossrassiger Kaninchen. 
Davon ist aber nichts bekannt; gerade für die Tubenwande- 
rung des Kanincheneies liegen unter allen Säugetieren die 
meisten Beobachtungen seitens der verschiedensten Autoren 
vor, und diese stimmen alle bis auf ganz geringe Differenzen 
vollkommen überein. 

Auch der Versuch, die Flimmerbewegungshypothese durch 
die Ergebnisse der Lodeschen Versuche zu stützen, darf nicht 
als glücklich bezeichnet werden. Ich hatte oben schon auf 
die Tatsache hingewiesen, dass die beiden (leider ja einzigen) 
Versuche von Lode trotz der sehr verschiedenen nach Vor- 
nahme des Versuches verflossenen Zeitspanne doch fast genau 
das gleiche Resultat gezeitigt haben. Die Eier fanden sich 
fast sämtlich im mittleren Abschnitt der Tube dicht gedrängt 
vor: vor allem war eine zwei Zentimeter lange, vom Uterus 
entfernte Strecke vollkommen. frei von Eiern. Die Wanderung 
dieser hatte also auch in 26 Stunden keine Fortschritte ge- 
macht. Allerdings habe ich oben bereits darauf aufmerksam 
gemacht, dass man angesichts der geringen Zahl der Versuche 
von Lode in der Beurteilung ihrer Ergebnisse sehr vorsichtig 
sein muss. Aber auf keinen Fall wird durch sie bewiesen, 
dass das Flimmerepithel die Ascariseier in der Tube fort- 


bewegt hat. Es liegt überhaupt kein Beweis dafür vor, dass 


nr 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere etc. 431 


die Eier in einem anderen Sinne weiıterbefördert worden sind 
als über den Punkt hinaus, bis zu dem sie durch die An- 
saugung seitens der Tube gelangt waren. Lode geht aber 
soweit, dass er sogar die Geschwindigkeit berechnen will, 
mit der die Eier durch den Flimmerstrom bewegt worden 
sind! 

Mir erscheint es als gewiss, dass zum mindesten die 
grosse Mehrzahl der aufgenommenen Ascariseier von Lode 
dort aufgefunden wurde, wohin sie durch den Ansaugungs- 
vorgang gelangt waren; einige weiter uterinwärts gelegene 
mögen wohl eine kurze Strecke fortbefördert worden sein; 
dafür dass dies aber durch die Flimmerbewegung geschehen 
sei, wird kein Beweis gebracht. Und wenn sie wirklich durch 
die direkte Wirkung der Flimmerhaare des Epithels in der Art, 
wie das Lode annimmt, bewegt worden sind, so entspricht 
das nicht den Verhältnissen beim Transport des Kies, wo 
erstlich das Epithel der ganzen uterinen Hälfte der Tube des 
Flimmersaumes entbehrt, zweitens die Bier nicht allein be- 
fördert werden, sondern innerhalb einer Flüssigkeitssäule. 

Man darf es also wohl nach den obigen Ausführungen 
als sicher bezeichnen, dass die Eiwanderung in der Tube des 
Kaninchens nicht durch die Flimmerbewegung veranlasst wird, 
zumal das Ei das mehr als doppelt so lange Eileiterrohr grosser 
Rassen ebenso schnell durchsetzt wie die kurze Tube kleiner 
Kaninchen. Dass als ursächliches Moment für die Fortbewegung 
des Kanincheneies ım Eileiter ebenso wie bei Muriden und 
dem Meerschweinchen nur die Tätigkeit der Muskulatur der 
Tube in Betracht kommen kann, erscheint mir fraglos, wenn 
es mir auch an tatsächlichem Material zum Beweise dieser 
Behauptungen fehlt. Dass es dabei verwickelter nervöser Ein- 
richtungen bedarf, die die Wirkung der Muskelkontraktion be- 
herrschen, ist selbstverständlich; solche sind aber auch bei 


der Uterusmuskulatur zu postulieren, ohne dass sie bisher 


432 J. SOBOTTA, 


bekannt wären. Es handelt sich bei allen diesen Fragen um 
ein sicherlich sehr dankbares Gebiet der experimentellen For- 
schung. 

Ich möchte in dieser Hinsicht darauf aufmerksam machen, 
dass nach dem Eintritt der Eier der Nagetiere und vieler 
anderer Säugetiere in den Uterus eine Verteilung der Eier 
auf die Länge der Uterushörner derart stattfindet, dass die 
einzelnen Keimblasen in ungefähr gleichen Abständen ‚sich 
implantieren. Wer bringt diese aber an den Ort ihrer Im- 
plantation und wer regelt diese schwierige Art der Verteilung ? 
Das Flimmerepithel, das bei dem nicht unerheblichen Wachs- 
tum der Keimblasen mancher Säugetiere vor der Implantation 
schon deswegen nicht in Betracht kommen kann, weil die 
Utersuschleimhaut der meisten (wenn nicht aller?) Säugetiere 
überhaupt nicht flimmertt), würde auch nicht die Kraft dazu 
besitzen; und wer sollte den Vorgang unter Annahme der 
Flimmerbewegung regulieren? Hier ist es also mit absoluter 
Sicherheit nur die Muskeltätigkeit, die dafür verantwortlich 
gemacht werden kann; aber es gehört doch ein ungleich viel 
komplizierterer Regulationsmechanismus dazu, als für die Ver- 
langsamung, und Beschleunigung des Transportes der noch eng 
beisammen liegenden Eier in der Tube! 

Es wären hiermit eigentlich die in der speziellen Anzeige 
meines hier behandelten Themas angekündigten Punkte er- 
ledigt. Mit Rücksicht auf die oben bereits mehrfach erwähnte 
Polemik zwischen Grosser (4) und mir (21) dürfte es sich 
jedoch empfehlen, noch einen kurzen Blick auf die Möglich- 
keiten des Transportes der Eier durch den Eileiter bei anderen 


Säugetieren zu werfen. Allerdings kann es sich hier nur um 

1) Man begegnet vielfach der Anschauung, dass ebenso wie beim Menschen 
das Uterusepithel der Säugetiere flimmere; das ist aber zum mindesten bei sehr 
vielen Speeies nicht der Fall. Kürzlich hat Schmaltz (15) erst auf diese Tat- 
sache bei allen Haussäugetieren hingewiesen; das gilt auch für die Muriden, 
für Kaninchen und Meerschweinchen. 


ganz theoretische Betrachtungen handeln, da Untersuchungen 
über die Eileiterverhältnisse und besonders solche des Tubar- 


epithels zur Zeit der Eiwanderung völlig fehlen. 


Ich hatte seinerzeit (21) darauf hingewiesen, dass die 
Annahme, dass die Beförderung der Eier durch den Eileiter 
mittels der Flimmerbewegung oder wenigstens allein auf diesem 
Wege vor sich gehe, sehr erhebliche theoretische Bedenken 
gegenüberstehen, nämlich erstlich, dass in fast genau gleicher 
Zeit ganz ungleich grosse Kileiterstrecken durchsetzt werden 
und "zweitens, dass die verschiedenen Abschnitte der Tube 
sehr verschieden schnell durchlaufen werden. Was den ersten 
Punkt anlangt, so handelt es sich hierbei um ganz gewaltige 
Differenzen ; vergleichen wir 2. B., um gar nicht auf die kleinsten 
Nager wie die Maus mit einer kaum mehr als ?/, em langen 
Tube zurückzugreifen, die Länge der Eileiter vom Kaninchen 
und Schwein; die des ersteren beträgt (im gestreckten Zu- 
stande gemessen) kaum mehr als 6 cm bei grossen Tieren, 
während das gleiche Mass beim Schweine bis auf 36 cm 
steigen kann; und doch dauert die Tubenwanderung des Kies 
bei beiden Tieren gleich lange Zeit! 

Aber auch bei ein und derselben Species dauert die Ei- 
wanderung anscheinend genau gleich lange, gleichgültig ob 
es sich um gross- oder kleinrassige Exemplare handelt; am 
meisten wird dieser Umstand beim Hunde eintreten; aber auch 
beim Schweine variiert nach Kuhn (9) die Länge des Tuben- 
rohres fast um den doppelten Betrag. 

Was den zweiten oben erwähnten Punkt anlangt, so passiert 
das Ei aller bisher auf diesen Punkt hin untersuchten Säuge- 
tiere den ampullären Teil der Tube ungleich viel schneller als 


den ısthmischen, ın dem es relativ lange verweilt. 
Ich hatte nun seinerzeit darauf hingewiesen, welche un- 


{e 


geheuere Schwierigkeiten der Annahme gegenüberstehen, dass 


434 J. SOBOTTA, 


die Eier ausschliesslich durch die Flimmerbewegung befördert 
werden sollten, da diese Bewegung von jeder Beeinflussung 
seitens des Nervensystems unabhängig ist und ihre Aktion 
nach Bedarf weder verlangsamt noch beschleunigt werden kann. 
Solche Bedenken sind übrigens bereits früher schon von anderer 
Seite erhoben worden. Auch Grosser kommt über diesen 
Punkt trotz einiger Erklärungsversuche nicht hinweg und muss 
selbst zugeben, dass es gewisse Momente gibt, wie einige 
von ihm angeführte Fälle von angeblichem Missverhältnis 
zwischen Eigrösse einerseits und Weite des Tubenlumens 
andererseits, welche eine Wirkung des Flimmerstromes unter 
Ausschaltung der Muskelaklion sehr unwahrscheinlich machen. 
Infolgedessen schreibt Grosser der Flimmerbewegung die 
Rolle zu, die Eier bis in den isthmischen Teil der Tube zu 
befördern ; dann aber soll die Peristaltik eingreifen. 

Dass sich diese Auffassung von Grosser mit dem tat- 
sächlichen Verhalten bei der Eiwanderung der oben behandelten 
Nagerspecies nicht verträgt, wurde oben bereits auseinander- 
gesetzt. Aber auch für andere Säugetiere lassen sich theoretisch 
sehr erhebliche Bedenken dagegen äussern. Grosser denkt 
daran, dass dem sich wandernden Ei Widerstände in (restalt 
von Tubarfalten entgegenstellen könnten, welche seine Fort- 
bewegungsgeschwindigkeit zu verlangsamen imstande seien. Zu- 
nächst ist es nun sehr fraglich, ob das Ei, wenn es überhaupt 
durch die Flimmerbewegung befördert werden kann, was ja 
noch keineswegs bewiesen ist, dann überhaupt noch vorwärts 
kommt, wenn sich ihm Widerstände nennenswerter Art in den 
Weg stellen. Grosser selbst ist ja geneigt, in solchen Fällen 
dann doch die Muskelaktion zu Hilfe zu rufen. 

Nun ist aber der ampulläre Teil des Eileiters aller Säuge- 
tiere ungleich viel faltenreicher als der isthmische, aber gerade 
er wird ganz ungleich viel schneller durchsetzt als der letztere. 


Und wenn man an Widerstände im isthmischen Teil der Tube 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier. der Säugetiere ete. 435 


denken sollte, die wie etwa geringe Weite des Rohres dem 
Wege des Eies entgegenstehen könnte, so sind solche an nıcht- 
brünstigem Tiermaterial gemachten Betrachtungen, wie sie 
Grosser (4) anstellt, meiner Ansicht nach ganz wertlos, 
wenn man bedenkt, dass die Lichtung des Eileiters, wie ich 
oben gezeigt habe, sich während der Eiwanderung erheblich 
vergrössert. Ferner finden wir eine Verlangsamung der Ei- 
wanderung im isthmischen Abschnitt des Eileiterrohres bei 
allen Säugetieren ganz gleichmässig auftreten, nur bei den 
verschiedenen Formen in sehr verschieden hohem Grade. >So 
sehen wir trotz annähernd vollkommen eleicher Bauverhält- 
nisse der Tuben und fast genau gleicher Eigrösse die Ovula 
des Schweines und des Schafes die Tube, die ihnen ihrer 
Bauart wegen kein nennenswertes Hindernis entgegensetzen 
kann, in genau gleicher Zeit durchwandern, obwohl der Ei- 
leiter des Schweines durchschnittlich doppelt so lang ist als 
der des Schafes. Und trotz fast genau gleicher Länge der 
Fileiter (ca. 6 em im Mittel) von Kaninchen und Hund dauert 
die Eiwanderung des ersteren rund 3 Tage, die des letzteren 
dagegen acht, obwohl man eher annehmen könnte, dass das 
Kaninchenei, das sich im isthmischen Teil des Eileiters mit 
einer sehr dicken Gallerthülle umgibt, der Wirkung des Flimmer- 
stromes mehr Widerstand entgegensetzen sollte als das Hundeei. 

Ferner ist auch bei der oben erwähnten Hypothese von 
Grosser nicht einzusehen, warum bei den Tieren, bei denen 
im isthmischen Abschnitt der Tube sicherlich kein Hindernis 
für die Eiwanderung vorhanden ist, der Flimmerstrom, dem 
bisher Grosser die alleinige Rolle des Transportes zuschrieb, 
seine Wirksamkeit verlieren sollte; hat er das Ei bis hierhin 
gebracht, warum treibt er es nicht auch weiter? 

Wie schon gesagt, handelt es sich hierbei um rein theo- 
retische Erörterungen, die sich vielleicht als sehr unfruchtbar 
erweisen, wenn sich nach Beobachtung der tatsächlichen Ver- 


436 J. SOBOTTA, 


hältnisse während der Eiwanderung Zustände herausstellen, 
die man im nicht-brünstigen Zustande gar nicht ahnt. 
Immerhin ist es wohl erlaubt auch unter Zugrundelegung 
dieser Betrachtungen und des oben dargelegten tatsächlichen 
Materials die Behauptung aufzustellen, dass sowohl bei der 
Aufnahme der Eier vieler (aller?) Säugetiere in den Bileiter 
wie bei deren Transport durch die Tube der Flimmerbewegung 
nur eine ganz untergeordnete Rolle zukommen kann. Nimmt 
man an, dass in ähnlicher Weise wie bei den oben besprochenen 
Nagern die BEiaufnahme bei allen Säugetieren in erster Linie 
durch Muskelaktion (Ansaugung) vor sich geht, so erklärt sich 
leicht, dass die Eier den Anfangsabschnitt des ampullären Teils 
der Tube schnell durchsetzen. Lässt man nun eine zwar ın 
der Einzelheit ihrer Wirkung noch nicht näher erforschte, wahr- 
scheinlich aber ähnlich wie beim Darmrohr abwechselnd 
peristaltisch und antiperistaltisch wirkende, jedenfalls aber 
unter dem regulierenden Einfluss des Nervensystems stehende 
Muskelaktion der Eileiterwand einsetzen, so ist es nicht schwer, 
alle Verschiedenheiten in der ‚Dauer der Schnelligkeit und der 
Art der Wanderung der Eier zu erklären, was mit Hilfe der 
Flimmerbewegung allein nicht möglich ist. Berücksichtigt man 
ferner, dass mit Sicherheit gerade bei den Säugetieren, bei 
denen zur Zeit der Eiwanderung Beobachtungen vorliegen, 
die Beteiligung der Flimmerbewegung ganz oder so gut wie 
sanz ausgeschlossen werden konnte, so bleibt kaum ein anderer 
Ausweg möglich, als die Flimmerbewegungshypothese 
entgültig fallen zulassen. Wenn auch die Einzelheiten 
über die Art und Weise, wie die Wirkung der Muskulatur 
beim Transport der Eier durch den Eileiter erfolgt, mangels 
senügender Beobachtungen noch nicht feststehen, so darf — 
selbst unter Ausserachtlassung der tatsächlichen Befunde — 
doch mit Bestimmtheit behauptet werden, dass zurzeit keine 
andere Hypothese imstande ist, die Art und Weise des Trans- 


portes der Eier durch die Tube der Säugetiere zu erklären. 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugetiere ete. 437 


III. Über die Bedeutung des Flimmerstroms am abdomi- 
nalen Ende des Eileiters der Säugetiere. 

Anhangsweise will ich hier noch einen weiteren Punkt 
streifen, auf den ich ebenfalls in meiner letzten Mitteilung 
schon zu sprechen kam. Es handelt sich um die Frage, wozu 
denn das Flimmerepithel des Eileiters oder wenigstens das 
des abdominalen Endes des Ganges und seines Infundibulums 
dient, wenn ihm keine Rolle bei der Aufnahme der Eier ın 
die Tube zufällt. 

Ich hatte damals’ die Ansicht geäussert, dass ıhm die 
Rolle zufiele, den Spermatozoen den Austritt aus dem Ostium 
abdominale tubae zu verwehren. 

Ich habe nämlich zuerst für die Maus die eigentümliche 
Tatsache festzustellen vermocht, dass während das Uteruslumen 
nicht nur mit Unmassen von Spermatozoen erfüllt ist, sondern 
dessen Wand sich durch die pralle Füllung der Lichtung des 
Gebärmutterhornes sogar stark ausgedehnt wird, wie ich. das 
an anderer Stelle näher beschrieben habe (19), in den Eileiter 
auffällig wenige Samenfäden eindringen. Das gleiche gilt für 
die Ratte; auch bei dieser trifft man im Uteruslumen Millionen 
von Spermatozoen, in der Tube dagegen nur sehr wenige. 
Dasselbe Missverhältnis findet sich: beim Meerschweinchen und 
selbst für das Kaninchen habe ich an meinem Material den 
annähernd gleichen Befund erheben können. Obwohl im Gregen- 
satz zu den drei anderen Nagern, bei denen man auch zur Zeit 
der Besamung der Eier nur ganz wenige Spermatozoen in 
der Nachbarschaft der ersteren in der Tube findet, relatıv 
mehr Samenfäden die Kanincheneier umschwärmen, und auch 
solche in Mehrzahl die Zona pellueida durchsetzen und zwischen 
dieser und dem Ei selbst angetroffen werden, ist die Zahl der 
Spermatozoen, die man während dieser Zeit im Eileiterlumen 


antrifft, dennoch eine ganz ‚ausserordentlich kleine. 


438 J. SOBOTTA, 


Treten nun die Spermatozoen bereits in geringer Zahl 
in den Eileiter ein, so dringen sie in diesem anscheinend 
nur lanesam und mit Mühe vorwärts; das Ostium abdominale 
tubae erreichen sie anscheinend nie und selbst nicht einmal 
in dessen Nähe scheinen sie gelangen zu können. Weder mir 
bei einem zum Teil ausserordentlich grossen Material, noch 
einem der späteren Untersucher, die den gleichen Weg be- 
schritten hatten wie ich, ist es bei einem Säugetier gelungen, 
Spermatozoen ausserhalb des abdominalen Endes der Tube 
oder in der Nachbarschaft des Eierstockes zu finden. Die 
älteren in dieser Hinsicht positiven Angaben sind aus den 
oben (S. 365) angeführten Gründen nicht beweiskräftig und 
widersprechen auch den Ergebnissen der viel exakter aus- 
veeführten neueren Beobachtungen. 

Ich habe nun in meiner letzten Mitteilung die Ansicht 
ausgesprochen, dass der Flimmerstrom, der durch die zahl- 
reichen Wimperzellen des Infundibulums und der anschliessen- 
den faltenreichen Strecke der Ampulla tubae erzeugt wird, 
den Spermatozoen den Ausweg aus dem Ostium abdominale 
tubae verwehrt; und in dieser Tätigkeit habe ich die Haupt- 
funktion des Flimmerepithels des ampullären Endes der Tube 
suchen zu müssen geglaubt. 

An dieser Anschauung halte ich auch heute noch fest 
und für die Muriden mit ihrer vollkommen geschlossenen 
Ovarialkapsel scheint mir das auch die einzige Funktion des 
Flimmerepithels zu sein. Bei den Säugetieren mit offener Eier- 
stockstasche dagegen kommt dem Flimmerstrome, den das In- 
fundibulum tubae erzeugt, noch eine weitere Funktion zu, auf 
die ich oben schon aufmerksam machte und auf die bereits 
U. Gerhardt (5) hingewiesen hat. Das Flimmerepithel richtet 
nämlich seine Hauptwirkung auf den Spalt der Kommunikations- 
öffnung zwischen Bursa ovarica und Peritonealhöhle bzw. auf 


den angrenzenden Abschnitt der letzteren, da die überwiegend 


Über den Mechanismus der Aufnahme der Eier der Säugeliere etc. 439 


grössere Fläche des Bereiches der mit diesem Epithel ausge- 
statteten Blätter des Infundibulums nicht gegen den Hohlraum 
der Bursa ovarica gerichtet ist, sondern den Eingang in die 
Bursa bewacht, wie schon oben auseinandergesetzt wurde. 
Der Flimmerstrom hindert also die in den Raum der Bursa 
ovarica entleerten Eier am Entweichen aus dieser und am 
Eintritt in die freie Peritonealhöhle. 

Grosser (4) hat gegen diese von mir geäusserte Ansicht 
Stellung genommen und angeführt, dass die Spermien sich 
40 
Flimmerepithel des Eileiters erzeugt. Die letzteren Annahmen 


50 mal so schnell bewegen sollen als der Strom, den das 


stützen sich auf die, wie ich oben schon gezeigt habe, ganz 
unzutreffenden Berechnungen von Lode. Über die Schnellig- 
keit der Bewegung der Spermatozoen aber sind sich erstlich die 
Beobachter nicht einig; ferner ist es fraglich, ob die bei der 
Beobachtung unter dem Deckglase gewonnenen Ergebnisse ohne 
weiteres auf die Verhältnisse des lebenden Tieres anzuwenden 
sind. 

So ist von verschiedenen Seiten beobachtet worden, dass 
Säugetierspermatozoen „gegen den Strom schwimmen“, d. h. 
dass ein Strom von gewisser Stärke ihre Fortbewegung nicht 
nur nicht hindert, sondern der sonst zu beobachtenden regel- 
losen Bewegung der Samenfäden eine bestimmte Richtung 
gibt derart, dass diese dem Strom entgegen sich bewegen. 
So müsste man annehmen, dass wenn in den Eileitern der 
Säugetiere ein Flimmerstrom von einer gewissen Stärke vor- 
handen ist, dass dann besonders reichlich und leicht 
Spermatozoen aus dem Uterus nicht allein in die Tuben ein- 
dringen, sondern sich in der Richtung gegen das Ostium 
abdominale fortbewegen würden. So sagt auch Grosser (4): 
„Wir sehen ja die Spermien trotz des Flimmerstromes bis 
an das Ostium abdominale, wir sehen sie in flimmernde Uterin- 
drüsen eindringen.“ 


440 J. SOBOTTA, 


Diese Auffassung der Sachlage bin ich aber nicht imstande 
zu bestätigen; im Gegenteil hatte ich oben bereits darauf hin- 
gewiesen, dass sich im Eileiter der meisten Säugetiere nach 
der Begattung gerade sehr wenig Spermatozoen finden, auch 
dann, wenn der Uterus mit Unmassen solcher ganz erfüllt ist. 
Ferner liegt meines Wissens keine einzige einwandfreie Be- 
obachtung dafür vor, dass Spermatozoen bis an das Ostium 
abdominale vordringen; im Gegenteil ich bin imstande auf 
Grund sehr zahlreicher Befunde bei der Maus und einer nicht 
unbeträchtlichen Anzahl von Beobachtungen bei Ratte, Meer- 
schweinchen und Kaninchen entschieden in Abrede zu stellen, 
dass die Spermatozoen dahin gelangen !). 

Ferner möchte ich überhaupt bestreiten, dass wenigstens 
im Eileiter mancher Säugetiere mit spontaner Ovulation wie 
dem der Muriden zur Zeit der Begattung ein Flimmerstrom. 
in der Tube vorhanden ist. Es ist ja bei diesen, wie oben 
schon mehrfach angegeben wurde, ausschliesslich der abdomi- 
nale Abschnitt des Tubenrohres mit Flimmerepithel ausgestattet. 
Dieser nımmt bei der (spontanen) Ovulation in der oben näher 
geschilderten Weise die Eier auf. Sein (uteriner) Endabschnitt 
ist dann stark ausgedehnt und mit Flüssigkeit prall gefüllt; 
etwa hier noch vorhandenes Flimmerepithel büsst seine 
Flimmerhaare ein. Jenseits der durch die Flüssigkeitsblase her- 
vorgerufenen Ausdehnung, also im ganzen mittleren und uterinen 
Bezirk des Eileiters, fehlt mit absoluter Sicherheit ein Flimmer- 


strom, wenn durch die Begattung die Spermatozoen in den 


!) Ich habe an anderem Orte (18) angegeben, dass die in den Uterus 
durch die Ejakulation injizierte Masse der Spermatozoen bei der Maus von der 
Uteruswand direkt abgestossen wird; ein Eindringen von Spermatozoen in 
Uterindrüsen kommt hier tatsächlich nicht vor. Allerdings flimmert ja das 
Uterinepithel der Maus ebensowenig wie das fast aller (aller?) anderen Säuge- 
tiere, worauf erst kürzlich Schmaltz (15) mit Recht aufmerksam gemacht 
hat. Wo also bei Säugetieren (ausser dem Menschen) wirklich Spermatozoen 
in Uterindrüsen eindringen, da tun sie es gewiss nicht auf Grund der Flimmer- 
bewegung. 


Uterus befördert worden sind. Auf einen solchen stossen diese 
vielmehr erst, wenn sie in die Nähe der Eier angelangt sind, 
also die Flüssigkeitsansammlung erreicht haben, in der diese 
liegen. Und da lehrt nun die an genügend reichlichem Material 
gemachte Beobachtung, dass die Spermatozoen über diese 
Region der Tube nicht hinauskommen. Würde der Flimmer- 
strom tatsächlich die Spermatozoen anziehen, so müssten diese 
nun erst recht aus der Flüssigkeitsansammlung des gedehnten 
Kileiterabschnitts heraustreten und durch den Flimmerstrom 
gleichsam angesaugt das Ostium abdominale tubae erreichen 
oder überschreiten. Das ist aber keineswegs der Fall, wie 
schon oben angegeben; es wäre das auch vom Zweckmässig- 
keitsstandpunkte aus betrachtet ausserordentlich widersinnig, 
dass die Spermatozoen, wenn sie mühsam den Platz ihrer 
Tätigkeit erreicht haben, von diesem gewaltsam entfernt werden 
sollten und an einen Ort geschafft würden, an dem sie absolut 
nichts zu suchen haben. 

Bei anderen Säugetieren liegen vielleicht noch nicht ge- 
nügende Beobachtungen in dieser Hinsicht vor; immerhin ver- 
hält sich die Ratte genau ebenso wie die Maus und das 
gleiche gilt für das Meerschweinchen; auch bei diesen Nagern 
dürfte die Möglichkeit ausgeschlossen sein, dass in der Tube 
ein auf die Spermamassen des Uterus anziehende Wirkung 
durch einen ım Eileiter wirksamen Flımmerstrom ausgeübt 
wird. 

Was das Kaninchen anlangt, so liegen die Verhältnisse 
bei diesem ja insofern anders, als hier die Ovulation keine 
spontane ist, sondern die Begattung der Lösung der Eier vor- 
ausgeht. Da ferner nach den oben bereits zitierten Angaben 
von Moreaux (12) der uterine Abschnitt des Kaninchen- 
eileiters sein Flimmerepithel um diese Zeit noch nicht verloren 
hat, so läge wenigstens die Möglichkeit vor, dass ein wirk- 


samer Flimmerstrom vorhanden wäre. Es gelangen aber auch 


442 J. SOBOTTA, 


beim Kaninchen relativ sehr wenig Spermatozoen in den Bi- 
leiter und, soweit meine in dieser Hinsicht allerdings nicht 
sehr ausgiebigen Erfahrungen reichen, dringen auch beim Kanın- 
chen niemals Spermatozoen bis an das Ostium abdominale 
tubae vor oder gar darüber hinaus. Was sollten sie auch dort, 
wo der Ort der Befruchtung doch vom Ostium selbst nicht 
unerheblich entfernt gelegen ist, wie oben schon gezeigt wurde ? 

Die tatsächlichen Beobachtungen am Eileiter der von mir 
untersuchten Säugetiere zur Zeit der Ovulation und Begattung 
lassen also nichts davon erkennen, dass für die Aufnahme 
und Fortbewegung der Spermatozoen im Eileiter etwas anderes 
in Betracht käme als deren Eigenbewegung. Ein Flimmerstrom, 
der dafür verantwortlich gemacht werden könnte, existiert teils 
überhaupt nicht, teils ist kein Anzeichen dafür vorhanden, 
dass der Flimmerstrom eine anziehende Wirkung auf die 
Spermatozoen ausübt. Im Gegenteil, die oben beschriebenen 
Tatsachen, dass insbesondere bei den Muriden, aber auch beim 
Meerschweinchen die Spermatozoen die flimmernde Epithel- 
strecke der Tube nicht zu überwinden imstande zu sein 
scheinen, sprechen voll und ganz für die von mir bereits 
früher geäusserte Anschauung. Ich sehe daher auch keinen 
Grund dafür, meine Anschauung in diesem Punkte zu ändern, 
vielmehr bestätigen mir die allerdings nicht reichlichen Befunde 
vom Kaninchen, dass auch bei diesem die Spermatozoen den 
Ort der Befruchtung, d. h. die gedehnte Eileiterschlinge nicht 
überschreiten. Zufälligerweise verfüge ich Ja gerade beim Kanın- 
vhen über einige Beobachtungen aus der Zeit der Besamung 


der Eier und der unmittelbar folgenden Entwickelungsperiode. 


6. 


10. 


11118 


13. 


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Sobotta,I., Zur vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeschichte 
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— Mitteilungen über die Vorgänge bei der Reifung, Befruchtung und 
ersten Furchung des Eies der Maus. Verhandlg. Anat. Gesellsch. 1893. 
— Über das Verhalten der Spermatozoen im Uterus der Säugetiere. Nach 
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Anzeig. Bd. 47. 1914. Nachtrag dazu: ebenda. 1915. 

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Anat. Hefte. H. 27. (Bd. 8.) 1897. 


Erklärung der Abbildungen auf Tafel 27—34. 


Fig. 1. Querschnitt des Eierstockes und der Bursa ovarii eines Meer- 
schweinchens, zirka 2 Tage nach erfolgter Begattung. Vergr. 14:1. Der Schnitt 
hat den in der Gegend des freien Randes des Mesenterium tubae gelegenen 
Schliessmuskel der Bursa getroffen; im Ovarium drei junge Corpora lutea. 

Fig. 2. Querschnitt des Eierstockes und der Bursa, ovarii eines Meer- 
schweinchens kurze Zeit nach dem Follikelsprung. Vergr. 14:1. 

Der Schnitt trifft das Infundibulum; im Eierstock ist ein frisch geplatzter 
Follikel im Anschnitt sichtbar, darunter ein Corpus luteum der vorausge- 
gangenen Gravidität; Osmiumpräparat; Fett im Mesenterium tubae und im 
Mesovarium geschwärzt. 

Fig. 3. Querschnitt des Eierstockes eines Meerschweinchens mit der 
Bursa ovarii zur Zeit der Ovulation. Vergr. 14:1. 

Der Schnitt trifft das Infundibulum. Im Ovarium zwei Corpora lutea 
der vorausgegangenen Gravidität. 

Fig. 4. Längsschnitt eines Eierstockes eines Meerschweinchens unmittel- 
bar vor der Ovulation. Vergr. 14:1. 

Es ist das Ostium abdominale tubae im Schnitt getroffen; im Ovarium 
zwei fast sprungreife Follikel. 

Fig. 5 und 6. Längsschnitte des Eierstockes eines Meerschweinchens 
zur Zeit der Ovulation. Vergr. 32:1. 

Fig. 6 lässt das gesamte Schnittbild des Ovariums und der Bursa ovari 
erkennen; es ist ein soeben geplatzter Follikel sichtbar. Das aus diesem ent- 
leerte Ei befindet sich im Periovarialraum und ist in Fig 5 sichtbar. Während 
der Schnitt der Fig. 6 das Infundibulum in der Nähe des Ostium abdominale 
tubae getroffen hat, ist auf Fig. 5 der in Kontraktion befindliche Musculus 
mesenterii tubae mit seiner Insertion am Infundibulum sichtbar. 

Fig. 7. Längsschnitt des Eierstockes eines Meerschweinchens einige Zeit 
vor Eintritt der Ovulation. Vergr. 14:1. 

Fig. 8. Eierstock des Kaninchens mit dem Eileitergekröse und dem 
Infundibulum. Vergr. 8:1. 


D 


29* 


446 J. SOBOTTA, 


Das Präparat ist durch einen Querschnitt der Art in zwei Teile zerlegt, 
dass der abgebildete das ganze Infundibulum zeigt. 

Fig. 9. Querschnitt des Eierstockes eines Kaninchens kurz vor Ein- 
tritt der Ovulation und des Eileitergekröses. Vergr. 12:1. 

Fig. 10. Querschnitt des Eierstocks eines Kaninchens zur Zeit der Ovu- 
lation. Vergr. 12:1 und des Eileitergekröses. Im Övarialschnitt ist ein 
frisch geplatzter Follikel sichtbar. 

Fig. 11. Durchschnitt der Eileiterschlingen der Maus zur Zeit der sexu- 
ellen Ruhe. Vergr. 50:1. 

Fig. 12. Durchschnitt eines Teils der Eileiterschlingen einer Maus einige 
Zeit nach Aufnahme der Eier in den Eileiter. Vergr. 50:1. 

Fig. 13. Durchschnitt der Eileiterschlingen einer Maus, etwa 24 Stunden 
nach der Befruchtung. Vergr. 50:1. Eier im isthmischen “Abschnitt der Tube 
(Zweizellenstadium). 

Fig. 14. Durchschnitt des ampullären Endes des Eileiters einer Ratte, 
kurze Zeit nach Aufnahme der Eier in die Tube. Vergr. 45:1. 

Fig. 15. Durchschnitt des ampullären Teils des Eileiters eines Meer- 
schweinchens einige Zeit nach Aufnahme der Eier in die Tube. Vergr. 35:1. 

Fig. 16. Durchschnitt einer Schlinge des ampullären Eileiterabschnittes 
eines Kaninchens kurze Zeit nach Aufnahme der Eier in die Tube. ‚Vergr. 35:1. 

Im Lumen findet sich ausser zwei soeben besamten Eiern auch eine ken- 
zentrisch geschichtete Konkretion. 


AUS DEM ANATOMISCHEN INSTITUT DER UNIVERSITÄT ZU GREIFSWALD. 
DIREKTOR: PROF. DR. E. KALLIUS; I. V.: PRIVATDOZENT DR. v. MÖLLENDORFF 


ÜBER DIE NATUR DER AM LEBENDEN TIER ERHALTENEN 
GRANULÄREN FÄRBUNGEN BEI VERWENDUNG BASISCHER 
UND SAURER FARBSTOFFE. 


VON 


ELISABETH HERZFELD. 


Mit 5 Abbildungen im Text und 21 Abbildungen auf Tafel 35/36. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 3). 30 


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Inhaltsverzeiehnis. 


I. Einleitung und Problemstellung 

II. Eigene Untersuchungen 5 
a) Vitalfärbung mit basischen Farbatoffen 5 ; 
b) Doppelfärbungen mit sauren und basischen Far Hefokfen e 


l. Vitale basische Färbung am vorher sauer gefärbten Tier 
2. Vitale saure Färbung am vorher basisch gefärbten Tier 


3. Basische Supravitalfärbung am vorher sauer gefärbten Tier 
c) Schlüsse auf die Natur der basischen Vitalfärbungsgranula . 
5 Färbungen mit lipoidlöslichen sauren Farbstoffen 
2. Verteilungsmessungen lipoidlöslicher Farbstoffe in Lecithin- 
Xylol 
III. Zusammenfassung der Untersuchungen Te de Na des baachen 
Vitalfärbungsgranula . 
IV. Erklärung der TS la 
V. Literaturverzeichnis 


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I. Einleitung und Problemstellung. 


Als Ehrlich (1885) mit seiner Schrift ‚Über die bio- 
logische Verwertung des Methylenblau‘ der wissenschaftlichen 
Forschung das Gebiet der vitalen Färbung weiter als bisher 
erschloss, hoffte man mit ıhrer Hilfe in die Geheimnisse der 
Zelle eindringen zu können. Die basischen Farbstoffe sollten 
Aufschluss. geben über morphologische Probleme, färbte man 
doch mit ihnen die feinsten Bausteine der Zelle, die Bioblasten 
Altmanns. Die sauren Farbstoffe dagegen, lipoidunlöslich 
wie viele für den Haushalt der Zelle wichtige Substanzen und 
ohne Affinität zu bestimmten Zellelementen, gaben ein Bild 
von der physiologischen Funktion der Zelle. Man wies auch 
basıschem und saurem Farbstoff ‘in den Zellen, die beide 
lingieren, jedem seinen besonderen Speicherungsort zu. So 
stellte Gurwitsch (1902) seene Kondensatorentheorie 
auf, nach der die Nierenzelle „Vakuolen“ von verschiedener 
chemischer Zusammensetzung enthält. Ihre Aufgabe ist die 
„Speicherung der verschiedenen harnfähigen Substanzen in 
chemischer oder physikalischer Bindung“. Gurwitsch fand 
dementsprechend nach Injektion eines lipoidlöslichen Farb- 


stoffes nur einen Teil der „Vakuolen“, die aus Lipoiden be- 


») 


stehenden, gefärbt, die anderen, die vielleicht eine Salzlösung 
enthielten, ungefärbt. Wenn diese Beobachtung richtig war, 


452 E. HERZFELD, 


wenn wirklich basischer und saurer Farbstoff in verschiedenen 
‚‚Vakuolen‘“ gespeichert werden, musste man das am schönsten 
bei gleichzeitiger Injektion beider Farbstoffarten zeigen können. 
Von diesem Gedanken ausgehend injizierte Höber (1905) 
einen lipoidlöslichen basischen Farbstoff, Neutralrot, zusammen 
mit dem lipoidunlöslichen sauren Anilinblau in den Rücken- 
Iymphsack des Frosches. Er fand unerwarteterweise in den 
zweiten Abschnitten der Nierenkanälchen beide Farbstoffe 


zusammen in braunvioletten ‚„Vakuolen“ gespeichert. 


2 
Ebenso bilden das basische Ponceau und das saure Anilinblau 
violette Granula in den zweiten Abschnitten, während in 
beiden Fällen die übrigen Kanälchenabschnitte, in die der 
lipoidunlösliche Farbstoff nicht einzudringen vermag, rein rote, 
basische Granula enthielten. Höber kommt zu dem Schluss: 
„Es ist fraglich, ob die Stapelung der verschiedenen, von der 
Froschniere sezernierten Stoffe in den Vakuolen auf einem 
auswählenden Lösungsvermögen der chemisch differenten 
Vakuolen beruht; denn lipoidlösliche und lipoidunlösliche 
Farben werden in den gleichen Vakuolen gesammelt.“ Hier- 
mit wendet Höber sich vorzugsweise gegen Gurwitschs 
Kondensatorentheorie, die mit geringen Abweichungen von 
Regaud, Policard undCesa-Bianchi geteilt wird; doch 
muss sein Befund, die Speicherung basischen und sauren Farb- 
stoffs in denselben Granulis sehr überraschen, wenn man die 
fundamental verschiedenen Eigenschaften beider 
Farbstoffgruppen in Erwägung zieht. Diese Unterschiede 
sind, soweit sie für meine Betrachtung in Frage kommen, 
im wesentlichen folgende: 

Der Färbungsbereich der sauren Farbstoffe, die fast 
alle lipoidunlöslich sind, ist bedeutend begrenzter als der der 
basischen. Auch bei vitaler Anwendung vermögen sie nicht 
in allen Zellen, die basische Farbstoffe speichern, Granula 


zu bilden. Eine supravitale Färbung mit ihnen ist bis- 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 453 


her nicht gelungen (Pappenheim, A rnold)t). Bis vor 
kurzem suchte man die Speicherung der sauren Farb- 
stoffe mit Hilfe der Ehrlichschen Chemo ceptoren- 
theorie zu erklären (Ruhland 1908, P appenheim, 
Loele, Schulemann 1911). Heidenhain dagegen weist 
schon 1905 den Gedanken an eine chemische Umsetzung 
zwischen saurem Farbstoff und Protoplasmaeiweiss zurück, 
da saure Anilinfarben nicht ohne weiteres mit Eiweiss re- 
agierten und ihr Dissoziationsgrad noch durch die Alkaleszenz 
der Gewebssäfte herabgesetzt werde. Eine andere Erklärung 
der Speicherung gibt er nicht. Neuerdings fand nun auch 
Schulemann (1912—14), dass die Chemoceptorentheorie 
zur Erklärung der Wirkung saurer Farbstoffe versage. Seine 
Untersuchungen einer grossen Zahl von Farbstoffen zusammen 
mit Evans und Wilborn ergaben, dass nicht der che- 
mische Charakter, sondern der physikalische Lösungs- 
zustand der Farbstoffe — Konzentration, Elektrolytgehalt, Alter 
und vor allem die Diffusionsgeschwindigkeit — von Bedeutung 
ist. Durch Phagozytose der Ultramikronen oder deren Aggregate 
gelangen die Farbstoffe in das Protoplasma. Die Granula 
sind also reine Farbstoffkörnchen, die als Fremd- 
körper im Protoplasma liegen. Den Datfusıbilitätsgrad 
der sauren Farbstoffe hatte schon Höber (1908) für be- 
deutungsvoll erkannt, und Höber, Kempner und Chassin 
prüften die Abhängigkeit der sauren Färbung von der Kolloidi- 
tät der Farbstoffe an der Froschniere. Hierbei fanden 
sie, dass hochkolloidale Farbstoffe — sie gehören sämtlich 
den Suspensionskolloiden an — nicht in die Nierenzelle ein- 


!) Es wird hier unter „supravitaler“ Färbung nach der Arnoldschen 
Definition die Färbung verstanden, „zu deren Zustandekommen nicht erst 
tiefgreifende Änderungen der Granula nötig sind“. Die supravitale Färbung, 
die Pappenheim und Nakano mit sauren Farbstoffen (Trypanblau) an 
formolisierten Blutzellen erzielten, wäre ebenso wie die Oxydasefärbungen der 
„postvitalen“ Färbung zuzuzählen. 


454 E. HERZFELD, 
zudringen vermögen; die Farbstoffe von geringerer Teilchen- 
orösse werden sämtlich granulär gespeichert. Demgegenüber 
zeigte v. Möllendorff (1915), dass auch einige der h och- 
kolloidalen Farbstoffe in die stärker permeable Mäuse- 
niere noch eindringen, während andererseits sehr dıflu- 
sible Farbstoffe wie Patentblau die Niere so schnell durch- 
strömen, dass es nicht zu einer sichtbaren granulären Speiche- 
rung kommt. Hierbei untersuchte v. Möllendo r-tt/,zum 
ersten Male die Beziehungen der Diffusibilität der Farbstoffe 
zu Ausscheidung und Speicherung. Auf die Ergebnisse dieser 
Untersuchungen komme ich noch später zu sprechen. Bezüg- 
lich der Granula gelangte er zu der Ansicht, dass saure 
Granula durch Filterwirkung in den Zellen, die besonders 
starker Durchströmung ausgesetzt sind, zustande kommen; sie 
stellen also eine hochkonzentrierteLösungsform dar 
und entstehen durch allmähliche Anhäufung von Farbstofl- 
molekülen in Vakuolen des Protoplasmas. Schulemann er- 
klärt nun in neuester Zeit (1915) seine Ansicht dahin, dass, 
nach der Adsorption der Farbstoffe an der Grenzfläche Proto- 
plasma zu Serum in das Protoplasma, eine teilweise Ent- 
mischung des Protoplasmas unter Vakuolenbildung stattfindet. 
„In diesen Vakuolen konzentriert sich mehr und mehr der 
Farbstoff, bis es zum Ausflocken kommt, und schliesslich das 
endeültige Granulum als Substanzkörnchen entstanden ist.“ 
Mit basischen Farbstoffen ist eine vitale und eine 
supravitale Färbung möglich. Unter vitaler Färbung ver- 
steht man gegenwärtig eine im lebenden Organismus hervor- 
oerufene Färbung mit sauren oder basischen Farbstoffen !). 
1) Schulemann, der sich in seinen neueren Arbeiten nicht mehr mit 
der basischen Färbung beschäftigt, meint 1911, dass man von einer Vital- 
färbung mit basischen Farbstoffen nicht sprechen könne, da durch die grosse 
Giftwirkung das Tier stets stürbe. Dem widersprechen wohl die Versuche 


von Fischel 1900, der Kaulquappen in verdünnten Lösungen basischer Farb- 
stoffe züchtete, in denen sie noch, wenn längst eine Färbung eingetreten war, 


Anat Hefte. I Abteilung. Heft 164 (54.Bd H.3) . 
: Tafel 35/36 


Verlage Tan. Mieghaden 


FrarkfurtöN 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 455 


Doch begegnet man, wie auf dem Gebiete der sauren Vital- 
färbung, so auch auf dem der basischen Färbung auf Schritt 
und Tritt Meinungsverschiedenheiten. So gehen die Ansichten 
darüber auseinander, ob basische Vital- und Supravitalfärbung 
dieselben Zellelemente darstellen. Arnold und seine Anhänger 
glauben, dass die Resultate beider Färbungen übereinstimmen. 
Pappenheim und Nakano lassen die Frage unentschieden. 
Ehrlich erhielt mit vital angewandtem Neutralrot teils die- 
selben, teils andere Resultate wie supravital. Doch glauben 
fast alle Forscher, dass beide Färbungen präformierte 
echte Granulationen darstellen, die im lebenden, funk- 
tionstüchtigen Gewebe liegen (O.Schultze,Höber,Cesa- 
Bıanchi, Pappenheim, Arnold und viele andere). Nur 
Duesberg und Meves halten die bei der basischen Färbung 
dargestellten Zellelemente für „Artefakte“. — — — Auch die 
Ansichten über die Substanz der Granula sind noch im 
Fluss: es handelt sich um eine physikalische oder um 
eine chemische Bindung des Farbstoffs. So sind Overton, 
Höber, Pappenheim und Nakano, die Verfechter der 
physikalischen Speicherungstheorie, der Meinung, dass der 
Farbstoff ın der Iipoiden Hülle oder der Lipoidsubstanz der 
Granula gespeichert wird, während Heidenhain und Loele 
glauben, dass der basische Farbstoff durch seinen Ambo- 
ceptor, die Amidogruppe, an das saure Eiweiss des Granulums 
fixiert wird. Sowohl eine Speicherung in Lipoiden, wie eine 


wochenlang am Leben blieben. Auch die nachfolgenden Versuche zeigen, dass 
man mit manchen basischen Farbstoffen schon in ausserordentlich starker 
Verdünnung Färbungen erzielen kann; eine Giftwirkung ist da wohl auszu- 
schliessen. Es liegen zurzeit nicht genügend Anhaltspunkte vor, um die ganze 
basische Färbung als eine „supravitale‘‘ Färbung, die also nekrobiotische Vor- 
gänge zur Voraussetzung hätte, zu bezeichnen. Auch die Versuche von Rost, 
der beim Frosch nach Schädigung durch Blutgifte vermehrte Vitalfärbung 
der roten Blutkörperchen erzielte, beweisen nicht, dass an und für sich die 
basische Vitalfärbung stets mit einer Zellschädigung verbunden ist oder Kunst- 
produkte darstellt. 


456 E. HERZFELD, 


chemische Bindung an Protoplasmaeiweiss halten Arnold und 
Ehrlich für möglich. Die verschiedenen Varianten dieser 
Auffassungen, besonders die Erörterungen darüber, ob sich 
nun lebendes Protoplasmaeiweiss oder. paraplastische Sub- 
stanzen tingieren, einzeln anzuführen, würde über den Rahmen 
dieser Betrachtungen hinausgehen. 

Weitere Verschiedenheiten im Verhalten saurer und basi- 
scher Farbstoffe zeigt uns neben der Speicherung noch 
die Art ihres Eindringens in die Zelle. Bezüglich dieser 
Fragen der Zellpermeabilität verweise ich auf die verzügliche 
Erörterung des Problems bei Höber (Physikalische Chemie 
der Zelle und der Gewebe, 4. Aufl. 1914). Höber steht mit 
den meisten Forschern (Fischel, Arnold, Pappenheim, 
Rost und vielen anderen) auf dem Boden der Overton schen 
Lipoidtheorie, nach der die aus Lipoiden bestehende Plasma- 
haut vorzugsweise für lipoidlösliche (basische) Farbstoffe durch- 
gängig ist und für die Schnelligkeit ihres Eintritts in die 
Zelle verantwortlich zu machen ist. Die sauren Farbstoffe 
dagegen dringen, wie schon erwähnt wurde, abhängig von 
ihrer Diffusibilität bzw. Kolloidität in die Zelle ein. Ruh- 
land glaubt allerdings, dass bei beiden Farbstoffarten die 
Schnelligkeit des Eindringens lediglich durch die Abhängig- 
keit von den Diffusionsgesetzen beeinflusst wird. Die basısche 
Färbung wird eher sichtbar, weil ihr Farbstoff durch eine 
schnell verlaufende lonenreaktion, der saure durch eine lang- 
sam verlaufende Kolloidreaktion gespeichert wird. Doch ist 
Ruhlands These von der „Ultrafiltration‘ oder „Diffusion“ 
der Plasmahaut für tierische Zellen noch nicht bewiesen. 

Eine Prüfung basischer und saurer Farbstoffe zu- 
sammen ist wohl besonders geeignet, die Verschiedenheiten 
ihres Verhaltens zu erklären. Höber stiess dabei mit den 
oben erwähnten Versuchen auf Widersprüche mit seiner An- 


sicht von der Speicherungsart der Farben. Bis jetzt sind seine 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 457 


Versuche noch nicht klargelegt, und doch liegt es auf der 
Hand, dass bei den fundamentalen Verschiedenheiten saurer 
und basischer Farben nicht beide in denselben „Vakuolen” 
gespeichert werden können, andernfalls wir unsere ganzen 
Speicherungstheorien umformen müssen. Seitdem sind schon 
Doppelfärbungen verschiedenster Art versucht, aber ohne 
recht befriedigendes Resultat. Loele fand im Gegensalz zu 
Höber bei Versuchen an Paramäcien, dass das basische 
Neutralrot und das saure Pyrrolblau getrennte Formelemente 
darstellen. Durch Kombination saurer Vital- und basischer 
Supravitalfärbung erreichte Goldmann eine Differenzierung 
von vitalgefärbten Klasmatozyten und supravital färbbaren 
Mastzellen. Garmus wieder versuchte Doppelfärbungen an 
der Nickhautdrüse vom Frosch, doch gelang ihm nur eine 
Färbung von Rhodamin und Methylenblau, die blaue Granula 
auf diffusem rosa Grund zeigte, und die Färbung mit Neutral- 
rot und Methylenblau, bei der zuerst rote, später blaue Granula 
entstehen. — Durch Kombination zweier saurer Farbstoffe 
hoffte Schulemann die Geheimnisse der Granula zu er- 
gründen. Bei gleichzeitiger Injektion von Trypanblau und Vital- 
neurot fand er rote Granula und sehr dunkle blaue, die viel- 
leicht auch roten Farbstoff enthielten; bei der Injektion nach- 
einander rein rote und blaue Granula. Dieser Versuch weist 
schon darauf hin, wie wichtig bei Doppelfärbungen die Zeit- 
folge für den Ausfall der Färbung ist. —- Kombinationen basi- 
scher Supravitalfärbungen reichen von Mich aelis (1900) bis 
Rost (1911). Letzterer prüfte an Erythrocyten vom Frosch 
zwei basische Farbstoffe vital und supravital und fand, dass 
sie teils gleichzeitig in Mischfarbe färben (Neutralrot und Nil- 
blau), teils nacheinander (Neutralrot und Methylenblau), oder 
dass einer den andern verdrängt (Neutralrot und Methylgrün). 
Die Erklärung hierfür sucht er in der verschieden starken 
Lipoidlöslichkeit der Farbstoffe. — Auch an Pflanzen wurden 


458 E. HERZFELD, 


Doppelfärbungen versucht. Ruhland fand, dass der basische 
Farbstoff Neutralrot nur in die Epidermiszellen von Primula 
chinensis eindringt, die noch nicht zuviel Säuregrün gespeichert 
haben. 

Ks ist nun ım folgenden versucht worden, mit Hilfe von 
Farbstoffkombinationen die Speicherung saurer 
und basischer Farbstoffe in der Zelle zu lokalisieren und 
zu zeigen, welchen Einfluss sie aufeinander ausüben können. 
Es ergaben sich dabei auch einige Hinweise auf die Natur 
der Granula. Die Untersuchungen sind an der Niere aus- 
geführt worden, weıl dort die Beziehungen zwischen Speiche- 
rung und Ausscheidung am besten beobachtet werden können. 
Schulemann schliesst zwar aus den Höberschen Ver- 
suchen, die Niere müsse eine Sonderstellung einnehmen, doch 
[ut sie das nicht, weil sie unter Umständen saure und basische 
Farbstoffe in denselben Granulis speichert, sondern nur be- 
züglich ihrer Permeabilität für beide Farbstoffarten, einer 
Eigenschaft, die noch andere Zellarten mit starker Durchströ- 
mung, wie die Sternzellen der Leber, mit ihr teilen. — Was 
die ın den letzten Jahrzehnten vielfältig beschriebene Fär- 
bung der Niere mit sauren Farbstoffen anbetrifft, so ver- 
weise ich auf die Arbeit von v. Möllendorff 1915, die 
neben einer Zusammenfassung der bis dahin erschienenen 
Iiteratur die Abhängigkeit des Speicherungs- vom Ausschei- 
dungsproblem bringt: „Zunahme, Maximum und Abnahme der 
Färbung in der Niere gehen nicht mit den entsprechen- 
den Stadien der Konzentrationskurve des Urins 
parallel.“ Da nur die Abnahme der Färbung mit der Abnahme 
_ der Urinkonzentration zusammenfällt, das Zunahmestadium der 
Nierenfärbung dagegen mit dem Stadium der höchsten Urin- 
konzentration, ist „die Färbung nicht mit der Ausscheidung 
gleichbedeutend, sondern als das Resultat einer Speicherung 


zu betrachten‘. Für basısche Farbstoffe bestanden dies- 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 459 


bezügliche Untersuchungen noch nicht; es war daher meine 
erste Aufgabe, die basische Vitalfärbung ım Zusammen- 
hang mit der Elimination des Farbstoffes im Urin 
zu studieren und zu sehen, ob entsprechend den fundamental 
verschiedenen Eigenschaften saurer und basıscher Farbstoffe 


auch ihre Speicherung und Ausscheidung verschieden verläuft. 


Il. Eigene Untersuchungen. 


a) Vitalfärbung mit basischen Farbstoffen. 

Die Versuche wurden an weissen Mäusen unternommen, 
denen subkutan je nach der Grösse ?/,—1 ccm des Farbstoffes 
in 1—2%iger wässriger Lösung injiziert wurde. Nachdem sich 
bei Doppelinjektionen herausgestellt hatte, dass saurer und 
basischer Farbstoff auch ım Organismus Fällungen bilden, also 
eine Reaktion eingehen, die nach stöchiometrischen Gesetzen 
verläuft (S. 477 u. 483), wurde mit Normallösungen gearbeitet. 
Die eingeklammerten Zahlen geben stets den entsprechenden Pro- 
zentgehalt an. Die Molekulargewiehte wurden nach den Formeln 
in Pappenheims l’arbehemie (1961) und in den Farbstoff- 
tabellen von Schultz und Julius (1913) berechnet. Sämt- 
liche Farbstoffe wurden von der Firma Grübler bezogen. 
Leider machte sich bei den Mäusen die Giftigkeit der basi- 
schen Farbstoffe meist bald bemerkbar. Selbst schwächere 
Konzentrationen, z. B. von Nilblausulfat, wurden dann schlecht 
vertragen. Es wurden darum die widerstandsfähigeren Frösche 
zu Hilfe genommen. Der Urin wurde bei Mäusen alle Viertel- 
stunde auf Fliesspapier aufgefangen, bei Fröschen in grösseren 


Zeitabständen durch Katheterisieren gewonnen. Die Mäuse 


460 E. HERZFELD, 


wurden durch Chloroform, Frösche durch Durchschneidung des 
Rückenmarks getötet und ein Schabsel der Niere und Leber, 
meist auch der übrigen Organe, in 0,9 resp. 0,65%%iger Koch- 
salzlösung untersucht. 

Beifolgende Tabelle nennt die injizierten Farbstoffe (S. 461). 

Basısche Farbstoffe, besonders immer Neutralrot und 
Methylenblau, sind schon oft (von Mitrophanow, 
Galeotti,Schultze, Gurwitsch, Arnold Hober, 
Policard und vielen andern) injiziert worden. Vielfach wurde 
der Farbstoff in mehreren Dosen nacheinander verabfolgt, was 
dann stets zum Tode des Tieres führte. Für mich war, der 
Doppelfärbungen wegen, nur eine einmalige, möglichst un- 
schädliche Dosis zulässig. Die Ergebnisse waren die gleichen 
wie bei den oben erwähnten Autoren. Stets werden in der 
Niere die ersten Granula an der Lumenseite der 
Zelle beobachtet, doch bald erstrecken sie sich durch die ganze 
Zelle, in der sie unregelmässig verstreut liegen. Die Färbung 
in den geraden Harnkanälchen ist bei den einzelnen 
Farbstoffen sehr verschieden stark. Thioninblau GO gibt bei 
der Maus dort nur wenige Granula, Nilblausulfat und Nilblau- 
chlorhydrat gar keine. Die beiden Nilblau bilden in der Niere 
überhaupt nur auffallend wenige Granula, sie geben allerdings 
Niederschläge mit den Gewebssäften. Für das Eindringen in 
die geraden Kanälchen kommt vielleicht der Grad der Lipoid- 
löslichkeit in Frage. — Die Färbung in den Hauptstücken 
breitet sich bei basischen Farbstoffen in derselben Weise aus, 
wie es für saure beschrieben ist (v. Möllendorff 1915). 
Die ersten Granula erscheinen in der Nachbarschaft der Glome- 
ruliı und während hier die Färbung immer an Intensität zu- 
nımmt, breitet sie sich in die mittleren und die distalen An- 
teile der Hauptstücke aus; einige Granula entstehen zur selben 
Zeit in den geraden Harnkanälchen. Am stärksten wird also 


auch bei basischen Farbstoffen die Färbung im proximalen 


461 


Färbungen etc. 


Natur d. 


Über d. 


am lebenden Tier erhaltenen granul. 


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462 E. HERZFELD, 


Anteil der Hauptstücke. Umgekehrt bleibt bei der Ausscheidung 
der Farbstoff hier am längsten erhalten. 

Die Beobachtungen über die verschiedene Grösse 
der Farbgranula nach bestimmter Zeit kann ich bestätigen. 
So gibt Höber für die Froschniere an, dass 24 Stunden 
nach der Injektion Toluidinblau und Neutralrot in kleinen runden 
Tröpfchen, Methylenblau in staubförmig feinen Granula, Bis- 
marekbraun in grossen Tropfen aller Dimensionen gespeichert 
ist. Man kann aber bei jedem Farbstoff in verschiedenen 
Zeiträumen alle diese Stadien der Granulabildung sehen; deut- 
licher an der Frosch- als an der Mäuseniere, da beim Kalt- 
blütler die Bildung der Granula langsamer verläuft und die 
Granula an und für sich viel grösser sind. So ist Neutralrot 

n 


30 
tückenlymphsack in den 2. Abschnitten der Froschniere staub- 


(1 ccm 10,953%ig]) 12 Stunden nach der Injektion in den 


förmig fein gespeichert. Die Granula sind über die ganze 
Zelle verstreut und liegen oft zu mehreren beisammen. Erst 
wenige tropfenförmige Granula sind sichtbar, wohl durch Zu- 
sammenlagerung der feinen entstanden (Fig. 1). Nach 
24 Stunden (Fig. 2) bildet Neutralrot die kleinen, runden 
Tröpfchen, noch später neben den kleinen grosse, so dass 
in einer Zelle alle Granulagrössen vertreten sind, ein Bild, 
das gerade für basische Farbstoffe charakteristisch ist: in der 
ganzen Zelle verstreut liegende Granula aller Grössen- 
ordnungen. Saure Farbgranula liegen, besonders in früheren 
Stadien, immer viel regelmässiger zwischen Kern und Bürsten- 
saum und bilden stets Granula einer Grössenordnung. Wenn 
Methylenblau nach 24 Stunden erst ganz feine Granula bildet, 
so befindet es sich noch in einem früheren Stadium der Granula- 
bildung als Neutralrot. 


Betrachtet man ebenso stufenweise die verschiedenen 
Stadien der Entfärbung, so sieht man, wıe die Granula, 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 463 
ohne ihre maximale Grösse und Form wesentlich zu ändern, 
immer mehr abblassen. Es scheint der Farbstoff also all- 
mählich von dem die Niere immer neu durchströmenden Flüssig- 
keitsstrom ausgewaschen zu werden. Daneben findet man bei 
allen basischen Farbstoffen im Lumen mit Farbstoff beladene 
Zelltrümmer. Für eine „granuläre Ausscheidung" 
der Farbstoffe, wie sie z. B. die Höbersche Schule 
vertritt, ergaben sich mir keine Anhaltspunkte; die- 
selben tropfigen Granula wie in den Zellen habe ich im Lumen 
der Kanälchen nicht beobachten können. Diese Befunde decken 
sich zum grössten Teil mit den bei sauren Farbstoffen er- 
haltenen. Von Möllendorff (1915) beobachtete ein all- 
mähliches Abblassen der Granula und daneben in den proxi- 
malen Anteilen der Hauptstücke, wenn eine starke Farbstoff- 
ablagerung zur Schädigung einzelner Protoplasmabestandteile 
geführt hatte, eine Ausstossung von mit Farbstoff beladenen 
Zelltrtümmern ins Lumen der Kanälchen. Auch bei basischen 
Farbstoffen ist das Vorhandensein von mit Granulis beladenen 
Zellbestandteilen als ein Zeichen der Zellschädigung aufzu- 
fassen. 

Sehr verführerisch war es, das verschieden schnelle Ein- 
dringen der basischen Farbstoffe in Beziehung zu ihrer 
Lipoidlöslichkeit zu setzen; doch sind da die ver- 
schiedensten Nebenumstände zu berücksichtigen tl. Bei der 

!) Als Massstab galt die Löslichkeit der Farbstoffe in Leeithin-Xylol, 
wie sie die Tabelle S. 508 angibt. Um die verschiedene Eindringungsgeschwin- 
digkeit der Farbstoffe festzustellen, wurden auch Doppelfärbungen mit zwei 
basischen Farbstoffen, vital und supravital, unternommen, die im wesent- 
lichen dieselben Ergebnisse wie die Rostschen Versuche lieferten. Doch ist 
da zum wenigsten neben dem Grad der Lipoidlöslichkeit noch der Kolloiditäts- 
grad zu berücksichtigen, wie Versuche mit dem stark lipoidlöslichen, aber hoch- 
kolloidalen, wenig eindringenden Viktoriablau 4R zeigten. Wahrscheinlich 
kommt auch für die Schnelligkeit der Speicherung, also für das Sichtbarwerden 
des eingedrungenen Farbstoffes der Basizitätsgrad in Frage, der wieder mit 


der Giftwirkung in Zusammenhang steht (s. S. 485). Erst nach Berücksichtigung 
aller dieser Faktoren nebeneinander wird man entscheiden können, ob die Lipoid- 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft. (54. Bd., H. 3.) öl 


464 E. HERZFELD, 


Maus differieren die Eindringungsgeschwindigkeiten der nicht 
oiftige wirkenden Farben so wenig, dass nach einer Stunde 
schon alle in der Niere sichtbar sind. Es wird ja Neutralrot 
ein wenig eher und intensiver gespeichert als z. B. das weniger 
lipoidlösliche Thioninblau GO, doch sind die Unterschiede nur 
minimal, und es scheint auch der Individualität ein gewisser 
Spielraum gelassen zu sein. Phlegmatische Tiere mit trägem 
Stoffwechsel speichern entschieden etwas langsamer als leb- 
hafte Tiere, die sich oft durch Polyurie auszeichnen. Auch 
bei Fröschen sind die Resultate unter sonst gleichen Versuchs- 
bedingungen nicht immer die gleichen; besonders wirkt hier 
störend das gegen den Herbst hin immer häufiger in Niere 
und Leber auftretende Pigment, das schon Goldmann und 
Schulemann erwähnen. Dieses gelbliche Pigment ist, wie 
v. Möllendorff beschreibt und ich bestätigen kann, in der 
gleichen Weise in den Hauptstücken einer und derselben Niere 
angeordnet, wie es für saure Farbstoffe allgemein gilt. Es 
verhält sich den Farbstoffen gegenüber sehr verschieden. Von 
basischen Farbstoffen wird es meist überfärbt, so dass 
es z. B. mit Nilblausulfat oder Methylenblau blaugrüne Granula 
bildet (Figg. 10 u. 14). Den Eintritt saurer Farbstoffe in 
die Zelle scheint es zu beeinträchtigen; in stark mit Pigment 


löslichkeit das Eindringen in die Zelle beeinflusst. Dementsprechende Ver- 
suche sollen im hiesigen Institut unternommen werden. — Eine Beobachtung, 
die man öfter an basischen, nie an sauren Farbstoffen machen kann, spricht 
vielleicht für die Bedeutung der Lipoidlöslichkeit. So wurde Methylenblau BX 
bei Mäusen stets in solchen Rindenkanälchen der Niere in intensiv gefärbten 
Granulis gespeichert gefunden, die der subkutanen Injektionsstelle direkt an- 
lagen. Die übrigen Kanälchenabschnitte waren ganz frei von Granulis. Der 
Farbstoff war entschieden quer durch die Gewebe, nicht auf physiologischem 
Wege, in die Niere eingedrungen (s. S. 493). Eine stärkere Granulafärbung der 
der Injektionsstelle anliegenden Kanälchenanteile findet man noch bei anderen 
basischen Farbstoffen. Auch die mit Methylenblau in Kombinationsfärbungen 
erhaltenen Granulaarten, nur basische und saure, ganz getrennte Granula, 
scheinen dafür zu sprechen, dass der Farbstoff nicht wie die anderen auf physio- 
logischem Wege in die Niere eindringt. Genauere Erklärung S. 492—494, siehe 
auch Fig. 17. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 465 


gefüllte Zellen geht der Farbstoff nicht hinein, in schwächer 
tingierten liegt er neben den gelben Granula. Schlüsse auf 
die Substanz der Pigmentgranula lassen diese Beobachtungen 
nicht zu, es sei denn, dass man ihnen saure Reaktion zu- 


schreiben müsste (S. 488). 


Bedeutende Unterschiede im Verhalten basischer und saurer 
Farbstoffe zeigt uns ein Vergleich ihrer Speicherungs- 
und ihrer Ausscheidungsgeschwindigkeit. Die 
basische Färbung tritt im Verhältnis zur sauren überraschend 
schnell ein. Der Transport der Farben im ÖOrganısmus mag 
wohl durch das verhältnismässig geringe Molekulargewicht und 
die grosse Diffusibilität begünstigt werden; vielleicht spielt 
hierbei die Lipoidlöslichkeit eine Rolle. Andererseits muss die 
„Echtheit“ der Färbung im Vergleich mit der saurer, gleich 
diffusibler Farbstoffe überraschen, wie man leicht an der 
Froschniere sehen kann. Die basıschen Farbstoffe scheinen 
bezüglich der Speicherung den Diffusibilitäts- 
gesetzen nicht zu gehorchen 1). — Bei der Maus färbt das 
saure hochdiffusible Patentblau nur diffus, indigschwefelsaures 
Natron und Lichtgrün SF, die etwas weniger diffusibel sind, 
werden eben kaum erkennbar granulär gespeichert. Sämtliche 
untersuchten basischen Farbstoffe, die bei der Maus granulär 
färben, sind mit dem Dialysierschlauch gemessen diffusibler 
als das von v. Möllendorff (1915) gebrauchte Lichtgrün 
und teilweise auch als indigschwefelsaures Natron. Es kommen 
für die basische Speicherung also ganz andere Ge- 


!) In der Frage, ob die basische Färbung eine Ausscheidungs- oder Speiche- 
rungsfärbung ist, zeigte die Betrachtung der Ausscheidungskurven genau die- 
selbe Divergenz mit der Nierenfärbung wie sie v. Möllendorff 1915 für saure 
Farbstoffe beschrieb. Nur die Abnahme der Nierenfärbung fällt mit der Ab- 
nahme der Urinkonzentration zusammen, das Zunahmestadium mit dem Maxi- 
malstadium der Urinkonzentration. 

Wir haben also auch die Färbung mit basischen Farbstoffen als „das 
Resultat einer Speicherung zu betrachten“. 


al* 


466 E. HERZFELD, 


setze in Betracht wie für die saure. Noch auffallender 
tritt das beim Vergleich der Ausscheidungskurven zu- 


- ä 3 n Ks; “er 8 x r 
tage. Bei der Injektion einer ;n (2,010oigen) Lösung von Licht- 


erün sinkt die Urinkonzentration nach 3 Stunden stark ab, 
nach 7 Stunden ist das Tier schon völlig farblos, die Urin- 
farbe ganz hell geworden (s. Kurve Abb. 1). Neutralrot ist, 
mit den von Abderhalden geprüften Dialysierschläuchen 
der Firma Rud. Schoeps (Halle) ebenso mit dem Gelatinegel 
nach Ruhland oder Traube geprüft, verhältnismässig sehr 


diffusibel, wird allerdings noch von einigen der von mir ver- 


Ya 
4 
7 
I 
"3 
fo4 
Yızs U 
E : 3 ’ 5 + F 
Coneenbiabionskurus des Uns ka Aichtgrim BER 
Fig. 1. 
Konzentrationskurven des Urins für Liehtgrün SF. (Aus v. Möllendorff 1915, 
S. 154.) 


wendeten basischen Farbstoffe, wie z. B. Methylenblau rect., 
Toluidinblau übertroffen. Das von Traube geprüfte Licht- 
erün S ist im Gegensatz zu dem von Grübler bezogenen 
Lichterün SF recht wenig diffusibel; doch konnte das letztere 
leider nicht mehr mit dem Gelatinegel geprüft werden, da ein 
neu bezogenes Präparat ganz anders als das früher gebrauchte 
sich verhielt und noch stärker diffundierte. Dies ist wieder 
eine Mahnung, der Verschiedenheit der Farbstoffpräparate Be- 
achtung zu schenken. 

Meine Ausführungen beziehen sich auf das von 
v. Möllendorff (1915) beschriebene Lichtgrün SF, das 


Y6% 


Yo 


0 Nadı 


1 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 467 


zwar ziemlich diffusibel war, doch bedeutend weniger als 


Neutralrot. Injiziert man nun eine 30 (0,7201ge) Neutral- 
rotlösung, so beginnt nach 1—2 Stunden, wo die Urin- 
ausscheidung ihren Höhepunkt erreicht, ein ganz allmählıches 
Abnehmen der Urinkonzentration, so dass noch nach 26 bis 
30 Stunden eine deutliche Urinfärbung vorhanden ist, nach 
48 Stunden meist noch eine ganz leichte Färbung (s. Kurve 
Abb. 2). Eine längere Prüfung stösst wegen der Giftwirkung 
des Farbstoffes auf Schwierigkeiten. Analog verhalten sich 
alle geprüften basischen Farbstoffe bis auf Bismarckbraun (s. 


Kurve Abb. 3). Dies wurde bei der Maus nie granulär 


2 3 4 3 6 7 8 ® w n [v2 ıH 24 
Fig. 2. 


Konzentrationskurve des Urins für Neutralrot = (0,72°/ 18). 


gespeichert gefunden und gibt auch die Ausscheidungs- 
kurve eines hochdiffusiblen Farbstoffes ähnlich der des Patent- 
blau). 


1) Man könnte einwenden, dass Bismarckbraun, das bekanntlich leicht 
reduziert wird, eben aus diesem Grunde keine sichtbare granuläre Speicherung 
geben könne, doch ist demgegenüber zu erwähnen, I. dass man beim Frosch 
eine Färbung findet, die in ihrer Art sich unter die Färbung hochdiffusibler 
Farbstoffe einreihen würde (schon nach 24 Stunden grosse Tropfen aller Dimen- 
sionen), 2. ist die Diffusionsgeschwindigkeit des Bismarckbraun, mit dem 
Gelatinegel nach Traube geprüft, bedeutend grösser als die der anderen ver- 
wandten basischen Farbstoffe, 3. kreisen auch saure Farbstoffe reduziert im 
Blut, erscheinen trotzdem oxydiert in der Nierenzelle (v. Möllendorff 1915) 
und 4. erscheint der Farbstoff im Urin in einer Konzentration, die, bedeutend 
höher als die der granulär gespeicherten basischen Farbstoffe, die Konzentration 
der injizierten Farblösung erreicht. Die letztere Tatsache spricht dagegen, 
dass grössere Mengen des Farbstoffes in die von Michaelis u. a. erwähnte 
reduzierte, nicht wieder reoxydable Form übergeführt sein können. 


30 


48 


468 E. HERZFELD, 


Die Prüfung der Ausscheidung basischer Farbstoffe ergibt, 
dass diese sich nicht einfach bezüglich ihrer Diffusi- 
bilität und Speicherung den für saure Farb- 
stoffe aufgestellten Gesetzen einreihen lassen. 
Trotz einer Diffusibilität, die die der meisten sauren Farben 
weit übertrifft, werden sie stark granulär gespeichert. Einer 
srossen Färbegeschwindigkeit steht eine verminderte Ausschei- 
dungsgeschwindigkeit gegenüber. Die Ausscheidungskurven der 
gespeicherten basischen Farbstoffe verlaufen sämtlich sehr 


protrahiert. 


Fig. 3. 


Konzentrationskurve des Urins für Bismarckbraun 55 (1530/12): 


Es ereibt sıch, hieraus. rur “d4es Grammar 
bildung und Speicherung basischer Farbstoffe 
Tolgendes: 

1. Bei’ der"Bildung der basischen 'Granula 
sieht man, zuerst ieınnadlige, dann kleine 
runde, zuletzt grosstropfige Granula entstehen. 
Schliesslich liegen Granula aller Grössenord- 
nungen verstreutin der Zelle. 

2. Im’ Stadıum der’Entfärbung finder ein ame 
blassen der Granula statt; eın Teil des Farb- 
stoffes wird ausgewaschen, ein Teil in seinen 
Granulis mit Zellbestandteilen ns Lumen der 


Färbungen etc. 469 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. 


Kanälchen entleert, wobei der letztere Vorgang 
als Zellschädigung aufzufassen ist. 

3. Die Speicherung der basischen Farbstoffe 
istnichtindergleichen WeisevonihrerDiffusi- 
bilitätskonstante abhängig wie die der sauren. 

4. Die gebräuchlichen basischen Vitalfarben 
haben eine 'erössere 'Diffusibılıran abs vzur 
Nierenvitalfärbung brauchbare saure Farb- 
stoffe (an der Maus festgestellt). 

5. Die basische Färbuns übertrifft an Echt- 
heitdie gleich diffusibler saurer Farbstoffe (am 
Frosch zu vergleichen). 

6. Die Ausscheidungskurven der basischen 
Farbstoffe verlaufen sämtlich sehr protrahier!t. 

7.Eıne Ausnahme bildetnurBismarckbraun, 
das (offenbar seiner grossen Diffusıbilıtät 
wegen) bei der Maus nicht granulär gespeichert 
wird. 

Ergibt so schon ein Vergleich der sauren und basischen 
Färbung, dass für die Speicherung beider Farbstoffarten 
im Organismus ganz verschiedene Bedingungen 
in Betracht kommen müssen, so erhellt dies noch besser aus 


den Doppelfärbungen. 


b) Doppelfärbungen mit sauren und basischen Farbstoffen. 

Bei Farbstoffkombinationen injizierte ich beide Farbstoffe 
nicht gleichzeitig, schon um eine Ausfällung grösserer Farb- 
stoffmengen an der subkutanen Einstichstelle zu vermeiden, 
sondern ich liess die Injektionen in Zeitabständen, deren Mass 
sich aus der beobachteten Eindringungsgeschwindigkeit der 
Farbstoffe ergab, aufeinander folgen. Es gelingt auch so besser, 
die Gesetze, nach denen beide sich beeinflussen, zu finden. 


470 E. HERZFELD, 


Doppelfärbungen sind viel leichter mit früherer Einspritzung 
des sauren Farbstoffes und folgender basischer Färbung zu 
erzielen als umgekehrt. Der Grund ist sehr einfach: Man in- 
jiziert den basischen Farbstoff nach genügend langer Einwirkung 
des meist unschädlichen sauren. Schon nach 1—2 Stunden 
ist der basische Farbstoff bei der Maus in hinreichender Menge 
in die Nierenzelle eingedrungen; solange halten ihn die meisten 
Tiere gut aus. Die Giftwirkung des basischen Farbstoffes 
scheint sogar durch die Gegenwart des sauren abgeschwächlt 
zu werden (S. 485). 

Geht dagegen die basısche Injektion der sauren voraus, 
so übersteht das schon geschwächte Tier die mehrstündige 
Einwirkung des sauren Farbstoffes (Neuvitalrot 4h, Trypan- 
blau 6h), die zur Erzielung einer deutlichen Färbung nötig 
ist, viel schwerer. Bei Fröschen endlich, wo der saure Farb- 
stoff erst nach Tagen in der Niere sichtbar wird, ist der 
basische oft schon teilweise oder völlig ausgeschieden. Es 
gilt also eine sorgfältige Auswahl der Farbstoffe sowohl hin- 
sichtlich ihrer Diffusibilität und Giftwirkung wie bezüglich 
ihrer Farbnuance, und dadurch wird die Zahl der zu solchen 
Versuchen brauchbaren Farbstoffe natürlich wesentlich be- 
schränkt. Doch hoffe ich auch mit wenigen Farbstoffen ge- 
nügend sichere Resultate bieten zu können. 


1. Vitale basische Färbung am vorher sauer gefärbten Tier. 

Bei einer sauren Färbung mit folgender Injektion eines 
basıschen Farbstoffes ergab sich mir dasselbe Resultat wie 
Höber: Granula in der Mischfarbe, die Farbstoffe werden 
in „denselben Vakuolen‘“ gespeichert. Folgende Protokolle 
mögen das beweisen: 


Maus 8: 
8? h. a. m. Injektion von 1 ccm Trypanblau So (0,953 /, ig) 
3°° h. p. m. Injektion von 1 ccm Neutralrot 2 (0,953 0/18). 


30 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 471 


Der blaue Urin wird immer violetter, bis er schliesslich 
die Farbe des Neutralrots annımmt. 

440 h. p. m. getötet durch Chloroform. 

Niere makroskopisch violett. 

Die Zellen der Hauptstücke zeigen rein violetle Granula, 
in den geraden Kanälchen rote. Im Lumen violett gefärbte 
Zelltrümmer. In den Sternzellen der Leber violette Granula. — 
Die Haut an der Injektionsstelle zeigt violetten, feinflockigen 
Niederschlag. —- Im Formolpräparat (10%Yiges Formol) nehmen 
die Granula eine etwas blauere Farbe an, doch bleibt noch 


genügend Neutralrot in den Granulis erhalten. 


Frosch,492: 


- is 1 
9, VI. 12 h. m. l ccm Crocein - 


20 (2,93%/,ig). 


6. h. p. m. 1 ccm Nilblausulfat (1,00%/,18). 


10. VI. 920 a. m. getötet. 


n 
40 


Die Niere bietet ein sehr klares Bild. Dunkelblaue, fast 
schwarze, sehr scharf umrissene Granula in den 2. Abschnitten, 
die durchaus in der Anordnung saurer Granula den Kern an 
der Lumenseite girlandenförmig umgeben. In den übrigen 
Kanälchen sieht man sehr mattblaue Granula von der Farbe 
des Nilblausulfat. Die Sternzellen der Leber enthalten gleich- 
falls tiefdunkle neben ganz hellblauen Granula. Im Iso- 
lationspräparat mit Salzsäure vom spez. Gewicht 1,124 
sind die schwarzen Granula etwas abgeblasst erhalten, bei 
Zusatz von Wasser unter dem Deckglas werden sie rötlich, 
ein Beweis dafür, dass sie Crocein enthielten; denn aus dem 
dicken unfiltrierbaren Niederschlag von Crocein und Nilblau- 
sulfat im Reagenzglas löst sich das Nilblau bei Säurezusatz. 
Es bleibt ein gelbbrauner Niederschlag von salzsaurem Crocein 


zurück, der in Wasser mit roter Farbe löslich ist. 


472 E. HERZFELD, 


Noch be: einer grossen Anzahl anderer Versuche ergab 
sich stets eine Umfärbung der sauren Färbung durch 
die basische.: Bei genügend grossen Farbstoffmengen ent- 
stehen opake Granula von unregelmässigster Form, die sich 
aufs deutlichste von den regelmässigeren, tropfenförmigen oder 
feinnadligen, meist stark lichtbrechenden Granula der Einfach- 
färbung unterscheiden. Diese Granula bestehen, wie schon aus 
dem eben zitierten Versuch hervorgeht, aus einem Nieder- 
schlag beider Farbstoffe und sollen im folgenden als „Nieder- 
schlagsgranula“ bezeichnet werden. Oft findet man in 
der Nierenzelle auch durchsichtige tropfige Gebilde in der 
Mischfarbe beider Farbstoffe, die sich in diesen Granulis an- 
scheinend in Lösung befinden. Ihre regelmässige Form, ihre 
hellere Farbe unterscheidet sie auf den ersten Blick von den 
opaken, klumpigen Niederschlagsgranula. Nicht so leicht sind 
diese „Mischgranula“ gegenüber den rein basischen oder 


rein sauren kenntlich. So gibt z. B. eine Doppelfärbung von 


wenig Trypanblau (M. 37: 1 com zog [0,476 Yig]) und nach 


12 Stunden im Überschuss t) Neutralrot (1 cem = [0,953°/o ig]) 


Granula roter Farbe, dunkle bis ganz hellrötliche, die nur 
ein leichter blauer Schimmer als Mischgranula erkennen lässt. 
Meist finden sich beide Arten nebeneinander: die opaken, 
amorphen Granula und die durchsichtigen, tropfigen Misch- 
granula, noch ganz in Gestalt und Grösse der entsprechenden 


sauren. 


Folgende aus einer grossen Reihe ausgewählte Versuche 
mögen dies belegen. Ich gebe nur kurz den Nierenbefund 
an, in den Kupferschen Sternzellen der Leber, in den Pyrrol- 


zellen fanden sich fast stets dieselben Granulaarten: 


1) Inwiefern diese Menge Neutralrot in bezug auf die eingegebene Menge 
Trypanblau einen Überschuss bedeutet, ergeben die Erörterungen auf S. 483. 


Über d. Natur d. am lebenden 


Tier erhaltenen eranul. Färbungen etc. 473 
o°- {>} 


M. 13. Wasserblau und Neutralrot: 


Nach 7!/, Std. Wbl. 3/, ccm 0 (20/,ig) — ?/,ccm Ntr. 30(0:953%, ig) 11/, Std, 


Gesamte Versuchsdauer 9 Std. 
Hauptstücke: zierliche Granula von rötlichblauer Farbe. 


M. 25. Trypanblau und Neutralrot: 


& ern n 
Nach 14 Std. Trypbl. 1 ccm 100 
2 Std. 
Gesamte Versuchsdauer 16 Std. 
Hauptstücke: violettrote, teilweise sehr dunkle Granula. 


(0,953 %/,ig) — ®/, ccm Ntr. Em (0,720/,ig) 


M. 34 u. 59. Lithionkarmin und Nilblausulfat 
(Fig. 12): 
Nach 12!/, Std. Lith. 1 cem 1°/,ig — 1 cem Nilbl. 40 (1,00% ig) 47, Std. 


Gesamte Versuchsdauer 17 Std. 
Hauptstücke: 1. rote (Lithionkarmin), 2. hellviolette Mischgranula, bald 
mehr rot, bald mehr blau, 3. blaue Granula (Nilblausulfat). 


F. 22 u. 30. Trypanblau und Neutralrot (Figg. 6—9)): 


Ein mit Trypanblau alleingefärbter Frosch gibt während der ersten Tage 
rein rötlichen Urin, wie es für die Maus während der ersten Stunden beschrieben 
ist. v. Möllendorff (1913) hat festgestellt, dass die rote Farbe von einer 
diffusibleren rötlichen Komponente herrührt, die dem Trypanblau 
beigemengt ist, entgegen der Anschauung von Gross, der die rote Farbe für 
ein Oxydationsprodukt des Trypanblau hielt. Schulemann hat schon 
bei Fröschen den rötlichen Urin bemerkt, bei seinen Untersuchungen aber nur 
blaue und grünlichblaue, mit Pigment untermischte Granula gefunden. Wahr- 
scheinlich hat er die Niere erst nach mehreren Tagen untersucht. Zuerst ent- 
stehen in den zweiten Abschnitten der Niere nur rötliche Granula, nach 
drei Tagen ungefähr sieht man, wie das Salzsäure-Isolationspräparat deutlich 
zeigt, auf denfarblosen Halsteil den zweiten Abschnitt mitrein blauen Granulis 
folgen, die im weiteren Verlaufe des Kanälchens allmählich in violette, dann 


I) Erst nach Fertigstellung der Arbeit kamen mir die Ausführungen 
von Gross über seine neuerlichen Untersuchungen mit Diaminblau zu Ge- 
sicht (Verhandlungen d. deutsch. path. Gesellsch. 1914). Gross sieht jetzt 
die rote Komponente des Diaminblau, das dem Trypanblau nach chemischer 
Zusammensetzung, Vitalfärbungsvermögen ete. völlig analog ist, auf Grund 
von Dialysierversuchen für Beimengungen eines leichter diffusiblen Farb- 
stoffes an. 


474 E. HERZFELD, 


in rein rötliche übergehen. Der proximalste Anteil der zweiten Abschnitte 
enthält auch hier die ältesten, der distalste die jüngst gebildeten Granula.. Wenn 
Gross die Ausscheidung des blauen Farbstoffes in den Hauptstücken, die des 
roten in den breiten Schleifenschenkeln der Kaninchenniere lokalisiert, so muss 
demgegenüber bemerkt werden, dass rote und blaue Granula sich lediglich 
auf die zweiten Abschnitte der Froschniere beschränken, die doch den 
Hauptstücken der Kaninchenniere entsprechen. Die vorübergehende Speiche- 
rung der roten Komponente des Trypanblau beim Frosche lässt sich unge- 
zwungen aus der Tatsache erklären, dass die Nieren des Frosches eine geringere 
Durchlässigkeit zeigen als die Mäuseniere (v. Möllendorff 1915, S. 242 ff.). 
Die letztere scheidet die rote Trypanblaukomponente leicht aus, während die 
Dichtigkeit des Froschnierenprotoplasmas eine Speicherung derselben ver- 
anlasst. 

Erst nach 6—8 Tagen sind alle rötlichen Granula durch blaue ersetzt. 
Will man bei Doppelfärbungen die rötliche Komponente mit Sicherheit ver- 
meiden, so tut man gut, die basische Injektion nicht vor dem 10. Tage folgen 
zu lassen. Dementsprechend gibt die Folge Try panblau-Neutralrot recht 
verschiedene Bilder: 


F. 22. Nach 5 Tagen Trypbl. 1 ccm 00 (0,953 0/,ig) — 1 ccm XMtrl. 35 
(0,953 /,ig) 1 Tag. 

Gesamtversuchsdauer 6 Tage. 

2. Abschnitte: statt der blauen und rötlichen Trypanblaugranula violette 
und himbeerfarbene Mischgranula. 


F. 30. Nach 12 Tagen Trypbl. 1 cem m (0,953 °/,ig) — 1 ccm Ntrl. 55 
(0,953 %/Jig) 1 Tag. 
o!s 5 
Gesamtversuchsdauer 13 Tage. 
2. Abschnitte: violette Niederschlags- und Mischgranula. 
F. 33. Trypanblau und Bismarckbraun: 
Nach 13 Tagen Trypbl. 1 ccm 0 (0,953 0/,ig) — 1 cem Bsmbr. 55(1,73% ig) 


l’/, Tag. Gesamtversuchsdauer 14!/, Tage. 
2. Abschnitte: blaugraugrüne Mischgranula neben spärlichen braunen. 


FR. 28. Trypanblau und Tolmid mh lau: 


n 


30 (O6! ig 


Nach 12 Tagen Trpbl. 1 ccm mm (0,953 d/,ig) — 1 cem Tolbl. 
16 Std. 

Gesamtversuchsdauer 12 Tage 16 Std. 

2. Abschnitte: dunkle rotviolette Niederschlagsgranula, wenig mattblaue 
(Irypanblau). 


I 
ı Qu 


F. 29. Trypanblau und Diazingrün: 


Nach 12 Tagen Trpbl. 1 ccm 0 (0,953 0/,ig) — 1 cem Dagr. 40 
(1,175 °/,ig) 3 Tage. 

sesamtversuchsdauer 15 Tage. 

2. Abschnitte: 1. leuchtend blaue Granula, zu intensiv für reines Trypan- 
blau, 2. wenig rotviolette Niederschlagsgranula. 

(Diazingrün allein gibt blaue und rötliche Granula.) 


F. 45. Crocein und Methylenblau BX (Fig. 3): 


Nach 60 Std. Croc. 1’cem 3 (2,93 %/,ig) — 11/; cem Methylbl. BX a 
(1,063 0/,ig) 10 Std. 

Gesamtversuchsdauer 70 Std. 

2. Abschnitte: 1. tief schwarzblaue Niederschlagsgranula, 2. rein Methylen- 


blaue in allen Grössen. 


Er 37. Neuvisalres und Meihylenbrau BX- 


Nach 47 Std. Nvirt. 1 cem En (2,09%/.i8) — 1 ccm Methylbl. 30 
(1,063 %/,ig) 5 Std. 


Gesamtversuchsdauer 52 Std. 
2. Abschnitte: 1. rötliche Granula, 2. wenig mattviolette Mischgranula. 


F. 40. Neuvitalrot und Toluidinblau (Figg. 10—11): 
n 


Nach 48 Std. NvIrt. 1 ccm = (2,09%/,ig) — 1 ceem Tolbl. 30 


(1,02 %/,ig) 24 Std. 


Gesamtversuchsdauer 72 Std. 
2. Abschnitte: 1. dunkelviolette Niederschlagsgranula, 2. violette Misch- 


granula, 3. blassblaue Granula. 


Br 62: "N euvmitalr tan aN IS FE: 
n 


— 11, e Nbls. — 
/s ccm Nbls. —, 


Nach 62 Std. Nvlrt. 1 cem = (2,09 %/, ig) 
(1,00%/,ig 8 Std. 


Gesamtversuchsdauer 70 Std. 
2. Abschnitte: 1. amorphe Niederschlagsgranula, 2. dunkel- bis hellviolette 


Mischgranula, 3. einige rein blaue. 


E63. NeuvitalroetzasdNGtih laueultat: 


n 


n . 
3.099 1 11/. cc Nbhls 
(2, /o g) 2 em N l 40 


Nach 62 Std. Nvlrt. 1 cem 7 
50 


(1,009%/,i8) 49 Std. 


476 E. HERZFELD, 


Gesamtversuchsdauer 111 Std. 

2. Abschnitte: grosstropfige Mischgranula nicht mehr vorhanden, 1. spär- 
liche, feine Niederschlagsgranula, 2. neu entstandene rot- bis blauviolette Misch- 
granula. 

Diese Versuche lassen wohl mit Deutlichkeit erkennen, 


dass in der Tat der basische Farbstoff mit in den sauren 
Granulis gespeichert wird!),. Wir haben in den Nieder- 
schlags- und Mischgranula das Produkt einer 
Reaktion zwischen beiden Farbstoffiarten zu 
sehen: 

Dass saurer und basischer Farbstoff in wässriger Lösung 
mit grösster Leichtigkeit miteinander reagieren, ist schon länger 
bekannt. „Es entsteht als Resultierende die betreffende „Neu- 
tralfarbe“ (Ehrlich), eine Verbindung der Farbsäure mit 
der Farbbase, die meist dunkel gefärbt ist und in der Regel 
als unlöslicher Niederschlag zu Boden fällt.“ (M. Heiden- 
hain 1902.) Neuerdings wurde diese gegenseitige Fällung von 
Pelet und Garuti zu einer Methode der quantitativen Be- 
stimmung der Farbstoffe verwandt. Die dunklen Niederschlags- 
eranula, die man ım vitalen Versuch bei richtiger Dosierung 
der Farbmengen beobachten kann, stimmen in Form und Farbe 
genau mit den in vitro erhaltenen Niederschlägen überein. 
So gelingt es z. B. im Reagenzglas mit verschiedenen Mengen 
und Konzentrationen Trypanblau und Neutralrot Niederschläge 
von bald mehr blauvioletter, bald mehr roter Farbe zu er- 


zeugen, so dass man die ganze Farbskala: 


blau — Trypanblau 
blauviolett 

violett 

rotviolett 

rotbraun — Neutralrol 


!) Wenn im folgenden der Kürze halber von basischen oder sauren Granulis 
gesprochen wird, so werden darunter die durch basische oder saure Farbstoffe 
hervorgerufenen Granula verstanden; das gleiche gilt von den Ausdrücken 
„basische Färbung“ ete. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 477 
erhalten kann. DieselbeFarbskaladerGranulakann 
man-ım vitalen Wersuech mitsentsprechend.ab-- 
gestuften Farbstoffmengen oder Variation der 
Zentfolge erhalten: 

Die Niederschläge basischer und saurer Farbstoife 
sind schwer löslich; in Alkonol, Toluol, Schwefelkohlen- 
stoff ete. lösen sie sich nur wenig (Pelet): So bleiben auch 
die vitalen Niederschlagsgranula im Formalinpräparat (10 %Yiges 
Formol) gut erhalten. Während eine basische Färbung in 
Formo! und Alkohol leicht auszieht, blieben die sauer-basischen 
Granula in den Präparaten, die nach Formolfixation auf dem 
(refriermikrotom geschnitten und in Alkohol und Xylol ent- 
wässert wurden, fast unverändert; höchstens trat die Farbe 
der sauren Komponente ein wenig mehr hervor, weil eine 
leichte Spur basischen Farbstoffes in Lösung ging. Besonders 
schön wurden so Granula von Wasserblau und Neutralrot, 
Crocein und basischen Farben, überhaupt alle opaken Nieder- 
schlagsgranula konserviert. — — 

Gehen bei diesen Kombinationsfärbungen 
wirklich basischer und saurer Farbstoff eine 
Verbindung miteinanderein, so muss die Stärke 
der resultierenden Färbung von der Grösse 
der miteinander reagierenden Farbmengen ab- 
hängig sein: 

Es kommt da in erster Linie die Stärke der vor- 
handenen sauren Färbung in Betracht. Das zeigte eine 
Versuchsreihe Wasserblau — Neutralrot an Mäusen: M. 74 


erhielt nach 3 Std. Wasserblaueinwirkung (1! cem 1 2,00%ig]) 


1 ccm Neutralrot ET [0,953% ig]. Die Tiere wurden 1!/, Std. 
nach der Neutralrot-Injektion durch Chloroform getötet. Wie 


schon das Überwiegen der roten Komponente anzeigte, ent- 


hielt die Niere einen Überschuss Neufralrot. Im glomerularen 


478 E. HERZFELD, 


Anteil der Hauptstücke sah man 1. feine und feinste Nieder- 
schlagsgranula von dunkelvioletter Farbe und unregelmässiger 
Form, 2. Mischgranula von Dunkelviolett bis zum hellsten 
Blauviolett, 3. ganz matt himbeerfarbene Granula. In distaleren 
Abschnitten der Hauptstücke, die noch nicht soviel Wasserblau 
enthielten, lagen violette Mischgranula in allen Schattierungen 
neben deutlich rein roten. Die geraden Harnkanälchen ent- 
hielten neutralrote Granula. Der basische Farbstoff hatte also 
sämtlichen sauren gefällt und noch eigene Granula gebildet. 
Im ganzen boten Niere und Leber, die dieselben Granula- 
arten aufwies, ein recht helles Bild. 


Wurde die gleiche Menge Neutralrot nach 9stündiger 
Wasserblaueinwirkung injiziert, so war die Niere viel intensiver 
gefärbt. Wasserblau ist zu dieser Zeit schon reichlich fast in 
der ganzen Länge der Hauptstücke vorhanden. Man sieht dort 
dicke, klumpige Niederschlagsgranula, Mischgranula in allen 
Farbtönen bis zum hellsten Blauviolett; denn hier ist die blaue 
Komponente überwiegend. Im distalen Hauptstückabschnitt sind 
nur Mischgranula aller Nuancen vorhanden, in der regelmässigen 
Anordnung saurer Farbgranula, keine rein roten Granula! Die 
Kanälchen sind mit Granulis ganz vollgepfropft. In den ge- 
raden Kanälchen liegen wieder basische Granula. — 


Diese Versuche zeigen, dass die gleiche Menge Neu- 
tralrot eine verschieden starke Färbung hervorrufen 
kann, deren Stärke und deren Farbnuance sich nach 
der vorhandenen sauren Färbung richtet. 


Diese Stärke der sauren Färbung kann man wie durch 
Änderung der Zeitdauer des Versuchs so durch Änderung der 
Konzentration des sauren Farbstoffes beeinflussen; hat man 
vorher eine verdünntere Lösung des sauren Farbstoffes in- 
jiziert, so wird die Niederschlagsfärbung auch zugunsten der 
Mischfärbung. zurücktreten. — — 


Über d. Natur d. am ' lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 479 


Etwas anders ist der Einfluss des basischen 
Farbstoffes auf die resultierende Färbung. Es ist gleich- 
gültig, ob man stark verdünnte oder konzentrierte 
Lösungen nimmt, nur die absolute Menge des zuge- 
führten basischen Farbstoffes ist von Bedeutung. M. 26, die 


vor 14 Std. 1 ccm Trypanblau —— (0,953%ig) erhalten hatte, be- 


kam I ccm Neutralrotlösung u (0,144%%1g). [Eine - =(0, 41% ige) 
200 zo 
Neutralrotlösung gibt beim normalen Tier angewandt noch eben 
sichtbare granuläre Speicherung, mit verdünnteren Lösungen 
konnte keine Speicherung erzielt werden.| Im Urin erschien 
nur eine leichte Spur von Rot, sonst wurde aller basısche 
Farbstoff im Körper durch das Trypanblau zurückgehalten. 
Nach 2 Stunden waren die Anfänge der Hauptstücke voll vio- 
letter Granula, vielleicht etwas mehr Misch- und weniger Nieder- 
schlagsgranula als bei Injektion stärkerer Neutralrotlösungen. 
Daneben lagen noch rein blaue Granula, auch sind natürlich 


keine rein roten Granula sichtbar. — Auch M. 73, die nach 
er 5 R n ba 
) stündiger Wasserblaufärbung (1 cm 79 [200ig]) Neutralrot 


1 Gen (0,287 %%ig) erhalten hatte, zeigte Hauptstücke und 


Sternzellen mit ziemlich intensiv gefärbten Niederschlags- und 
Mischgranula. 

Es scheint also, dass der saure Farbstoff den 
basischen mit so grosser Gewalt an sich reisst, dass er 
ihn selbst aus sehr verdünnten Lösungen (die alleın 
keine granuläre Färbung hervorrufen) zu speichern ver- 
mag. — — — 

Wird die resultierende Färbung als das Ergebnis 
einer Reaktion zwischen saurem und basischem Farbstoff — 
also als das Ergebnis einer Kolloidfärbung — betrachtet 
(s. Pelet-Jolivet, Seyewetz u. a.), so muss hierbei 
der Kolloidgrad der Farbstoffe eine Rolle spielen: 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 3). 32 


450 E. HERZFELD, 


Man findet in der Literatur viele, teilweise voneinander 
abweichende, Angaben über die Kolloidität der Farbstoffe 
(Freundlich und Neumann, Ostwald, Höber u.a.) 
Es kommt für die Frage der Fällbarkeit weniger eine Ein- 
teilung der Farbstoffe auf Grund ihres Diffusionsvermögens — 
wie sie für die Frage des Eindringens in die Zelle berück- 
sichtigt wurde (S. 465) — als eine Kinteilung auf Grund des 
ultramikroskopischen Bildes und der Elektrolytfällbarkeit in 
Frage. Ich richte mich nach den Angaben von Teague und 
Buxton, die die Farbstoffe auf Grund ihrer gegenseitigen 
Ausfällbarkeit und der Beständigkeit dieser Fällungen in hoch, 
wenig und schwach kolloidale einteilten, wobei es ohne weiteres 
einleuchtet, dass mit der Kolloidität der Farbstoffe auch die 
Beständigkeit ihrer Fällungen zunimmt t). — So geben im Orga- 
nismus hochkolloidale saure Farbstoffe, z. B. Wasserblau, 
Trypanblau, Kongorot mit basischen Farbstoffen sehr dauer- 
hafte Fällungsfärbungen. Wenn man wegen der eintretenden 
Zellschädigungen oft schwer feststellen kann, wie lange sie 


in vivo erhalten bleiben, so ist die Formolfixation ein guter 


1) Teague und Buxton haben festgestellt, dass 1. bei zwei ausgesprochen 
kolloiden Farbstoffen der geringste Überschuss eines der beiden Farbstoffe den 
Niederschlag löst. 2. Ist ein Farbstoff hoch, der andere wenig kolloid, so löst 
der kleinste Überschuss des hochkolloiden, oder eine grosse Menge des wenig 
kolloiden den Niederschlag. 3. Bei zwei schwach kolloiden Farben ist die Fällung 
unvollständig und wird erst durch grossen Überschuss eines der Farbstoffe 
gelöst. Auch dies muss möglicherweise bei vitalen Doppelfärbungen be- 
rücksichtigt werden. Denn es ist auffallend, dass man manchmal bei genügend 
im Organismus vorhandenen Farbmengen nur Misch-, keine Fällungsgranula 
sieht, z. B. bei der Versuchsfolge Trypanblau-Neutralrot M. 8, S. 471. Es war 
auf eine Trypanblaufärbung, die an und für sich schon stark genug gewesen 
wäre, mit Nrirt. Fällungen zu geben, ein Überschuss Nrlrt. gefolgt. Es ist, 
wie die starke Rotfärbung des Urins anzeigt, ein grosser Überschuss des wenig 
über den hochkolloidalen Farbstoff vorhanden; der Niederschlag wird gelöst, 
es entstehen Mischgranula. Ebenso könnte man vielleicht den Versuch an 
F. 33, S. 474, wo ein Überschuss Bismarckbraun (1. Überschuss kenntlich im 
Urin, 2. rein braune Granula) mit der vorhandenen Tryplbl.-Färbung nur Misch-, 
keine Fällungsgranula ergab, erklären. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 481 


Prüfstein (S. 477). Diffusiblere saure Farbstoffe wie Patent- 
blau das ja beim Frosch gespeichert wird — und basische 
Farben geben Fällungen, die schon in Kochsalzlösung nach 
kurzer Zeit ausziehen. Mit dem schwach kolloidalen Chromo- 
trop und dem basischen Methylenblau habe ich beim Frosch 
überhaupt keine Fällung, nur eine Mischfärbung erzielen können, 
die schon unter dem Mikroskop hinauszudiffundieren schien. 
— Da die basischen Farbstoffe meist wenig (z. B. Neutralrot) 
oder schwach kolloidal sind (z. B. Methylenblau), wird man 
eine um so dauerhaftere Doppelfärbung erhalten, je kolloidaler 
der saure Farbstoff ist. 

Wichtige Aufschlüsse über das Verhalten der Farbstoffe 
im Organısmus können wir nun mit Hilfe der Farbstoffe er- 
langen, die für gewöhnlich, einer zugeringenKolloidität 
wegen, nicht gespeichert werden, wie z. B. Bismarck- 
braun, das bei der Maus nur Diffusfärbung, keine granuläre 
Speicherung gibt. Eine mit Trypanblau gefärbte Maus, der 
Bismarckbraun injiziert wurde, zeigte die schönsten Nieder- 
schlags- und Mischgranula von schmutzig blaugrüner Farbe, 
in denen der gelbe Farbton mehr oder weniger deutlich hervor- 
trat, in allen Kanälchenabschnitten, die Trypanblau enthielten 
(Fig. 13). 

Der saure Farbstoff vermag also den basischen auch 
aus sehr diffusiblen Lösungen (die allein keine sicht- 
bare granuläre Färbung hervorrufen) zu speichern. 

Betrachten wir einen hochdiffusiblen, nicht 
granulär färbenden sauren Farbstoff neben einem 
speicherungsfähigen basischen, so sehen wir, dass 
der basische Farbstoff den sauren nicht in gleicher Weise 


in seine Granula zu reissen vermag: Bei einem Versuch an 


ae Re Y n 
M. 75 war auf eine 2stündige Patentblaufärbung (1 ccm 30 
ee ee a Re R 

[2,57 %oig]) Neutralrot (1 ccm 30 i0,953%ig|) während 11/, Std. 


32* 


482 E. HERZFELD, 


sefolet. (Patentblau wird als hochdiffusibler Farbstoff bei der 
Maus nicht geranulär gespeichert und durchsetzt die Niere mit 
so starkem Flüssigkeitsstrom, dass schon nach 6 Std. aller 
Farbstoff aus dem Körper entfernt ist.) Die Hauptstücke zeigen 
wenig kleine dunkelrote Granula neben tropfigen hellroten. In 
den Henleschen Schleifen lagen massenhaft grosse und kleine 
rote Granula. Die geraden Kanälchen waren leicht diffus ge- 
bläut. Wichtig ist, dass keine Niederschlags- und Mischgranula, 
nur rein rote vorhanden waren. Es hat also der basische 
Farbstoff nicht die Fähigkeit, den sauren in seine Granula 


zu ziehen. 


Zusammenfassung der Ergebnisse über basische Vitalfärbungs- 
versuche am vorher sauer gefärbten Tier. 

1. Eine worher saure. Färbung wird durch 
basische Farbstoffe umsefärbt. 

2. Es tritt dabei eine Ausfällung des-Farb- 
stoffes ein, die mit den Versuchenin vitro über- 
einstimmt. 

3. Die Stärke der resultierenden Färbungist 
abhängig 

a) von der Stärke der vorhandenen sauren 
Färbung, 

b) von derabsoluten Menge desinjizierten 
basischen Farbstoffes, wobei Konzen- 
tration oder Diffusibilitätsgrad der ba- 
sischen Farblösung nicht von Bedeu- 
LUME St. 

4. Für-rdie „Echtheit der resultzerennken 
MischfärbungistderKolloidgradderFarbstoffe 
von Bedeutung. 

5. Der basische Farbstoff scheint den sauren 


nicht in seine Granula ziehen zu.konnen 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 485 


Mit Hilfe obiger Feststellungen können wir leicht die ver- 
schiedenen Färbungsbilder ım Organismus er- 
klären, und das verwirrende Vielerlei der Erscheinungen 
als verschiedene Stadien einer nach bestimmten Gesetzen ver- 
laufenden Färbung darlegen: 

Einmal hat der basische Farbstoff noch nicht genügend 
lange eingewirkt, um alle sauren Granula abzusättigen. So 
gab (F. 37, S. 475) Neuvitalrot mit folgender nur 5 stündiger 
Methylenblaufärbung rötliche saure Granula neben erst wenig 
violetten Mischgranula. Niemals zeigt ein solcher Versuch rein 
basische Granula. Ein andermal (F. 45, S. 475) finden wir 
nach Absättigung aller sauren Croceingranula noch reine Me- 
thylenblaugranula des basischen Farbstoffes, der hier im Über- 
schuss injiziert wurde !). 

Bei geeigneter Versuchsanordnung — es muss der saure 
Farbstoff schon eine ziemlich starke Färbung gegeben haben, 
aber noch immer neu hinzuströmen, der basische auch schon 
hinreichend in die Niere eingedrungen sein — finden wir drei 
Granulaarten: 1. Niederschlagsgranula, 2. Mischgranula, 3. rein 
basische Granula, so in dem Versuch an F. 62 (S. 475) mit 
Neuvitalrot und Nilblausulfat. Der saure Farbstoff ist nach 
62 Stunden in den 2. Abschnitten in roten Granula gespeichert, 


1) Ob ein Überschuss eines Farbstoffes zurzeit in der Niere vorhanden ist, 
kann man mit ziemlicher Sicherheit nach der Farbkonzentration des Urins 
bestimmen. Die idealste Fällungsfärbung würde man bei einem Gleichgewicht 
der miteinander reagierenden Farbmengen erhalten. Im Titrierversuch kann 
man die hierzu erforderlichen Farbmengen leicht bestimmen. Durch Auftropfen 
auf Fliesspapier findet man den neutralen Punkt (Pelet Jolivet). So reagieren 
2 Mol. Neutralrot mit 1 Mol. Trypanblau; wie überhaupt stets 1—3 Mol. eines 
basischen Farbstoffes sich mit 1 Mol. des sauren umsetzen (Vaubelund Bartlet). 
Im vitalen Versuch muss man noch den Niederschlag an der Injektionsstelle, 
die verschiedene Eindringungsgeschwindigkeit der Farbstoffe ete., in Rechnung 
ziehen, kann aber nach obigem Versuch, wo sehr viel mehr Farbstoff in- 
jiziert war, als der saure insgesamt binden konnte, sagen, dass der basische 
im Überschuss in der Niere vorhanden gewesen sein muss (immer mit Hilfe 
der Urinprobe). 


484 E. HERZFELD, 


die den Farbstoff in ziemlich hoher Konzentration enthalten. 
Daneben liegen, da immer neuer Farbstoff hinzuströmt — 
Speicherung und Ausscheidung der hochkolloidalen sauren 
Farbstoffe erstrecken sıch beim Frosch über mehrere Wochen —, 
Granula von schwächerer Farbkonzentration; erstere bilden 
nun mit dem basischen Farbstoff Fällungs-, letztere Misch- 
granula. Nie wird man bei diesen Versuchen rein basische 
Granula entstehen sehen, ehe alle sauren überfärbt sind. 
Es muss also als Regel gelten, dass der saure Farbstoff den 
basıschen an sich reisst, ihn in seinen Granula fällt und 
erst, wenn er abgesättigt ist, sucht der basische seine eigenen 
Granula auf. 

Dieser Regel scheint das Färbungsergebnis des öfter wieder- 
holten Versuchs mit Lithionkarmin und Nilblausulfat (s. z. B. 


M. 34, S. 473) zu widersprechen. 1 cem Lithionkarmin 1%oig 
(121/, Std.) und 1 ccm Nilblausulfat 26 (1,00 %%ig) (41/, Std.) 


geben ın den Hauptstücken blassrote, violette und blaue 
Granula. Die violetten sind nicht sehr intensiv gefärbte Misch- 
granula. Die Konstitutionsformel des Lithionkarmin ist nicht 
bekannt. Es wurde durch Lösen von 1 g Karmin in 100 cem 


konzentrierter Lithionkarbonatlösung gewonnen. Titriert man 


Be ira R ER 
damit eine 40 Nilblaulösung, so sind 2 Mol. nötig, um 1 Mol. 


Nilblau zu fällen. Eine vollständige Ausfällung tritt nicht ein, 
wie der unscharfe neutrale Punkt anzeigt!). Die Azidität des 
Lithionkarmin ıst nicht gross, dazu ist nach 12!1/, Stunden 
bei Anwendung einer so schwachen Lösung die Konzentration 


seiner Granula ziemlich gering; es vermag also nur einen Teil 


!) Auch Schulemann (1915) sagt von der Karminsäure, dass ihre Salze 
in wässriger Lösung stets alkalische Reaktion zeigen, da „die Dissoziation der 
schwachen Karminsäure eine relativ geringe gegenüber dem Dissoziationsgrad 
des Alkalis ist, so sind stets freie Hydroxylionen in der Lösung vorhanden“. 
Mein Lithionkarmin zeigte, wie der Titrierversuch ergab, saure, wenn auch 
schwache, Reaktion. 


des basischen Farbstoffes zu fällen, der Rest sucht eigene 
(Granula auf. 

Wie man das den Kombinationsversuchen eigentümliche 
Färbungsbild leicht mit einer Reaktion beider Farb- 
stoffgruppen erklären kann, so auch die übrigen ins Auge 
fallenden Begleiterscheinungen der Doppelfär- 
bungen: 

So bemerkt man stets, dass die Giftwirkung des 
basischen Farbstoffess abgeschwächt wird. Ich habe bei 
Fröschen nie mit einer stärkeren Diazingrünlösung Vitallärbung 
n 
100 
unfehlbar nach 24 Std., wo eine bis zur Sichtbarkeit ge- 


erzielen können, Konzentrationen über (0,47 ig) wirkten 


diehene Färbung noch nicht vorhanden war, tödlich. Erst mit 
n 
100 
2. Abschnitte der Niere enthielten schwach bläuliche und röt- 
liche Granula auf diffus rötlichem Grunde. Eine vorherige 
n 
40 


Diazingrünlösung (F. 29, S. 475). Nach drei Tagen sieht man 


einer Lösung erzielte ich eine schwache Färbung. Die 


Trypanblaufärbung erlaubt dieAnwendung einer — (1,175 %igen) 


in der Niere blaue Granula, die viel intensiver und leuchtender 
gefärbt sind, als die stumpfer blauen, rein sauren Granula; 
daneben findet man rotviolette Niederschlagsgranula, in denen 
der saure Farbstoff durch die rote Diazingrün-Komponente 
(S. 475) gefällt ist. — Auch Nilblausulfat wird bei Doppel- 
färbungen gut vertragen, während es bei der Maus allein in- 
jiziert selbst in schwachen Konzentrationen en 0,5 oig) giftig 
wirkt. — Die Abschwächung der Giftwirkung des 
basıschen Farbstoffes ist damit zu erklären, dass er von 
dem sauren Farbstoff gebunden und so verhindert wird, 
seine Giftwirkung auszuüben. 


Als eine Folge der Fällung des basischen Farb- 


486 E. HERZFELD, 
stoffes durch den sauren haben wir auch die Erscheinung 
anzusehen, dass der basische Farbstoff, wenn eine saure Fär- 
bung voraufgeht, viel stärker in der Niere (und Leber) 
gespeichert wird, als bei basischer Einfachfär- 
bung in der gleichen Zeit. — Bei Fröschen wurde stets 
ein Kontrollfrosch nur mit dem basischen Farbstoff injiziert 
und dann zur selben Zeit wie der mit saurem und basischem 
Farbstoff gefärbte Frosch getötet; stets zeigte der Kontroll- 
frosch eine weniger intensive granuläre Färbung. Auch die 
regelmässig bei Doppelfärbungen zu beobachtende starke Ab- 
nahme der basischen Komponente im Urin zeigt an, dass mehr 
basischer Farbstoff im Körper zurückbehalten wird. Man denke 
z. B. an den oben zitierten Versuch (M. 26, S. 479), wo der 
mit Trypanblau gefärbten Maus eine sehr verdünnte Neutral- 
rotlösung injiziert wurde. Fast alles Neutralrot wurde im Körper 
vom sauren Farbstoff gebunden, wie die nur ganz leicht röt- 
liche Urinfarbe erkennen liess. (An und für sich durchströmt 
eine so schwache Neutralrotlösung den Körper schnell, ohne 
sichtbar gespeichert zu werden, die Farbkonzentration im Urin 
erreicht die der injizierten Lösung, und schon nach ca. 6 Stunden 
ıst aller Farbstoff aus dem Körper verschwunden.) Es ist 
also die Gesamtmenge des abgelagerten basi- 
schen Farbstoffes nach bestimmter Zeit bei An- 
wesenheit eines sauren Farbstoffes grösserals 
ohne diesen. Der saure Farbstoff befördert die Speiche- 
rung des basischen, indem er eine Kolloidfällung mit ihm 
gibt. Darin haben wir sicher nichts anderes zu sehen, als 
eine Beschleunigung der Fällung kolloidaler Lösungen durch 
!onen mit entgegengesetzter Ladung (Pelet, Grand, 
Traube). 

Um dies hinreichend zu erklären, müssen wir uns die 
chemischen Bedingungen einer Reaktion zwischen sauren und 


basischen Farbstoffen näher betrachten, und dabei ergeben 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 487 


sich wichtige Schlüsse auf die Speicherungsart 
saurer Farbstoffe: 

Die Farbstoffe sind als Klektrolyte in wässriger Lösung 
in ihre Ionen, das grosse organische und das viel kleinere 
anorganische dissoziiert. Bei der gegenseitigen Ausfällung treten 
die organischen Ionen zu einem Salz aus Farbsäure und Farb- 
base zusammen. Nach Pelet-Jolivet findet dabei, wenn 
BCl den basischen, A — Na den sauren Farbstoff bedeutet, 


folgende Reaktion statt: Be EIN N NaCl-+- BA. — Da 
die Farbstoffe im Organismus Fällungen bilden, müssen diese 
Verhältnisse auf unsere Kombinationsfärbungen anwendbar 
sein: Das negativ geladene Ion des sauren Farbstoffes fällt 
in seinem Granulum das positiv geladene lon des basischen 
Farbstoffes: es findet aber weiterhin, wie wir oben sahen, 
sogar eine beschleunigte Speicherung des basischen Farbstoffes 
statt. Diese wird auch durch die Gegenwart des sauren Farb- 
stoffes bewirkt. Wie man in der Färbepraxis die Fixierung 
von Farbstoffen durch Zusatz von Salzen mit lonen entgegen- 
gesetzter Ladung beschleunigt, so befördert im Organis- 
mus die Gegenwart des negativen Farbsäureions die 
Fällung der positiven Farbbase. | 

Soll der saure Farbstoff mit dem basischen eine Kolloid- 
fällung geben können, wobei seine entgegengesetzt geladenen 
lonen noch eine beschleunigte Speicherung der basischen Farb- 
lösung bewirken, so ergeben sich daraus wichtige Schlüsse 
für die Speicherungsart saurer Farben. — Dersaure Farb- 
stoff muss so in seinem Granulum gespeichert 
sein, dass seine Ionen frei reagieren können. Er 
kann unmöglich an Protoplasmabestandteile (z. B. an basısche 
Fiweisse mit seinem Amboceptor, wie z. B. der Sulfosäure- 
gruppe) gebunden sein. 

Diese Folgerung, dass die Speicherung des Farbstoffes 
die Reaktionsfähigkeit seiner Ionen nicht beeinflussen kann, 


488 EB. HERZFELD, 


stimmt überein mit den neuesten Ansichten über die Natur 
der sauren Vitalfärbungsgranula (v. Möllendorff, Schule- 
mann) (S.453). Die „Granula enthalten den Farbstoff in hoch- 
konzentrierter Lösungsform“. Er ist chemisch unverändert, also 
wohl fähig, mit dem basischen Farbstoff Reaktionen einzu- 
schen. 

Die obigen Untersuchungen fielen immer in verhältnismässig frühe Stadien 
der sauren Vitalfärbung, wo der Farbstoff in seinem Granulum noch in Lösung 
war. Allmählich tritt eine immer stärkere Konzentrierung und Ausflockung 
des Farbstoffes ein bis zum ‚„‚Granulum als Substanzkörnchen‘‘ — nach Schule- 
mann das Endstadium jedes sauren Granulums. Das Ausflockungsstadium 
habe ich an der Froschniere, z. B. mit Neuvitalrot wiederholt beobachtet. Nur 
Vorstadien der Granulabildung liefert also die Niere nicht. Es bliebe nun zu 
untersuchen, ob man in späteren Stadien der sauren Färbung andere Kombi- 
nationsfärbungen erhält. Die wenigen Färbungen, die ich zu diesem Zwecke 
unternahm, lassen es mir wahrscheinlich erscheinen, dass dann ganz andere 
Kombinationen stattfinden. Man denke z. B. an Ruhlands Versuche an 
Pflanzenzellen (s. S. 458), der fand, dass der basische Farbstoff in stark mit 
saurem ausgeflocktem (!) Farbstoff gefüllten Zellen nicht gespeichert wurde. 


Zusammenfassung und Schlüsse. 

1. Bei Doppelfärbungen findet eine Kolloid- 
fällung: ıdes’basischen Farhstoffes dureh den 
SEUTen Slate: 

2. Dadurch wird die Giftwirkung. des basi- 
schen Farbstoffes abgeschwächt. 

3. Dadurch wird die Speicherung des basi- 
schen. /Farbstoffes beschleunigt,’ so dass die 
Menge abgelagerten basischen Farbstoffesnach 
bestimmter Zeit bei Anwesenheit eines sauren 
Harbstoites grösser ash alsı bei! der.bası schen 
Einfachfärbung. (So beschleunigt man in der 
Färbepraxas "die Fixierungs' yon Farcbetortten 
durch Zusatz von Salzen mit lonen entgegen- 
gesetzier- bad uno, 

4. Der saure Farbstoff ist so gespeichert, 


dass seine lonen frei reagieren können; erkann 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 489 


nicht chemisch an Protoplasmaeiweisse ge- 
bunden sein. 

Aus einigen dieser Versuche ging schon hervor, dass der 
basische Farbstoff für gewöhnlich nicht in denselben Granulis, 
die saure Farbstoffe speichern, angetroffen wird, und dass 
er nicht die Fähigkeit besitzt, den sauren Farbstoff in seine 
Granula zu reissen. Eine Erklärung hierfür geben uns die 
folgenden Versuche: 


2. Vitale sauere Färbung am vorher basisch gefärbten Tier. 
Maus 65: 

I 

3 

12 h. m. 1 cem Neuvitalrot En (2,10/, ig). 


84 h. a. m. ?/, ccm Methylenblau rect. r (1.063°/, ig). 
330 h. p. m. durch Chloroform getötet. 

Im Urin tritt das Rot immer stärker in den Vordergrund, 
das Blau verschwindet. Niere makroskopisch rötlich, Mark 
bläulich. In den Hauptstücken ist der Höhepunkt der Me- 
thylenblau-Färbung schon vorüber, doch sind die proximalen 
Abschnitte noch stark mit blauen, ziemlich intensiv gefärbten 
Granulis gefüllt; die unregelmässige Form, die sehr dunkle 
Farbe einzelner sprechen dafür, dass sie Neuvitalrot enthalten, 
neben ihnen liegt eine Anzahl ganz mattrosa gefärbter Granula. 
Nach Reduktion des Methylenblau mit Natriumhydrosulfid wird 
die Zahl der rosa Granula sehr vermehrt. Also: 

1. Rein blaue (Methylenblau), 

2. Methylenblau-Neuvitalrot-Granula, 

3. ganz mattrosa Granula (Neuvitalrot). 

Die Leber zeigt dieselben Granulaarten in den Stern- 
zellen. 


Erosche3c: 
23. VI. 1 h. p. m. 1 cem Nilblausulfat 6 (1.00%/, ig). 


7 h. p. m. 1 cem Lithionkarmin 2°/,ig). 
24. VI. 6 h. p. m. getötet. 


490 E. HERZFELD, 

Niere makroskopisch blassbläulich. Im Lymphsack etwas 
violetter Niederschlag. — In den 2. Abschnitten der Niere 

li. sehr blasse, hellblaue Granula (Nilblausulfat), 

2. dunkle Niederschlagsgranula. 

Die übrigen Kanälchen enthalten rein blaue Granula. In 
den Sternzellen der Leber liegen dieselben Granulaarten; in 
der Gallenblase Farbstoffniederschläge. — 

Dann möchte ich noch in Kürze folgende Versuche, von 
denen die meisten mehrfach wiederholt wurden, anführen. Die 
Schwierigkeit liegt stets darin, das Tier in einem Stadium 
der Färbung zu töten, wo die Ausscheidung des basischen 
larbstoffes noch nicht vorüber ist und der langsamer ein- 
dringende saure Farbstoff schon genügend in der Niere ge- 
speichert ist. 


M. 22 u. 27. Neutralrot und Wasserblau: 


Nach 21/, Std. Nrirt. ®/, ccm 
21/, Std. 
Gesamte Versuchsdauer 4!/, Std. 


Hauptstücke: 1. rote Granula, (Nrirt.), 2. dunkelviolette Niederschlags- 
granula. 


10 (0,718 %/,ig) — ®/, cem Wbl. er (2%/,ig) 


M. 20 u. 21. Neutralrot und Wasserblau: 


n 


= (0,718°%/,ig) — °/ı ccm Wbl. 10 (2°/,ig) 


Nach 6 Std. Nrirt. ®/, cem - 
ıch 6 to rIrt. °/, ccm 40 


4 Std. 
Gesamte Versuchsdauer 10 Std. 


Hauptstücke: 1. rein rote (Nrlrt.), 2. dunkelviolette Niederschlagsgranula, 
3. ganz blasse, rein blaue (Wbl.) Granula. 


M. 24. Neutralrot und Trypanblau: 


Nach 2 Std. Nrirt. ?/, ccm 46 (0,718°/,ig) — °/s cem Trypbl. 
(0,953 0/,ig) 4 Std. 

Gesamte Versuchsdauer 6 Std. 

Hauptstücke: 1. rein rote (Nrlirt.), 2. ganz blassblaue (nur bei ge- 
nauester Beobachtung zu sehen) Granula. 


n 
100 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 491 


M. 76. Nilblauchlorhydrat und Neuvitalrot: 
Nach 2 Std. Nilbl. lcem 5 (1,18%/,ig) — 1 ccm Nılrt. En (2,1%/,ig) 


4 Std. 
Gesamte Versuchsdauer 6 Std. 
Hauptstücke: 1. vereinzelte, ganz mattblaue Granula (Nilbl.), 2. ver- 


einzelte rotblaue Mischgranula. 


FE. 120. Toluidinblau und Neuvitalrot: 
n 


(0,306 %/,ig) — 1 eem Ntlirt 50 


Nach 6 Std. Tolbl. 1!/,; ccm 
(2,1°/,ig) 16 Std. 
Gesamte Versuchsdauer 22 Std. 


3. Abschnitte: 1. hellblaue Granula (Tolbl.), 2. hellviolette Granula, 
3. einige ganz dunkle Granula. 


> 
100 


F. 58. Neutralrot und Wiasserblau: 
Nach 5 Std. Nrirt. 1 ccm 3, (0,953 0/,ig — 1 cem Wbl. Si 
(2°/,ig) 22 Std. 

sesamte Versuchsdauer 27 Std. 

2. Abschnitte: Nur nicht sehr zahlreiche Niederschlagsgranula von sehr 


dunkelblauer Farbe. 


F. 59. Neutralrot und Wasserblau (Fig. 4): 
\: RS N DESK 7 Ir 
Nach 18 Std. Nrlrt. 1 cem 50 (0,953 P/,ig) 1 ccm Whbl. 10 


(2%,ig) 19 Std. 
Gesamte Versuchsdauer 37 Std. 
3, Abschnitte: 1. viele grosstropfige und kleine rote Granula (Nrlrt), 


2. Niederschlagsgranula. 


F. 60. Neutralrot und Wasserblau (Fig. 5): 

Nach 20 Std. Nrirt. 1 ccm 55 (0,953 0/,ig) — 1 eem Wlbl. . 
(2%,ig) 29 Std. 

Gesamte Versuchsdauer 49 Std. 

3. Abschnitte: 1. kleintropfige (keine grosstropfigen mehr) rote, 2. klumpig 
unförmliche Niederschlagsgranula, 3. rein blaue (Wbl.). 


N 


F. 49. Neutralrot und Wasserblau: 
3 n THE n n 
Nach 24 Std. Nrirt. 1 cem 30 (0,953 %/,ig) — 1 cem Whbl. A, 


(2°/,ig) 52 Std. 


492 E. HERZFELD, 


Gesamte Versuchsdauer 76 Std. 

2. Abschnitte: 1. sehr vereinzelte blassrote Granula (Nrlrt)., 2. scharfe 
schwarzblaue Niederschlagsgranula, 3. nicht sehr scharf umrissene hellblaue. 

Das Zupfpräparat zeigt, dass auf den dünnen Halsteil der Kanälchen- 
abschnitt mit allen drei Granulaarten folgt, dann ein Abschnitt nur mit blauen. 

Aus den Protokollauszügen geht deutlich hervor, dass bei 
dieser Versuchsfolge die Niederschlags- und Mischgranula nicht 
dadurch entstehen, dass der saure Farbstoff in die vorhandenen 
basıschen Granula gezogen wird. Ist das Stadium der basi- 
schen Ausscheidung noch nicht ganz vorüber, so kann man 
stets rein basısche Granula neben den sauer-basischen und 
den event. schon vorhandenen rein sauren finden. Eine vor- 
herige basische Färbung wird also durch saure 
Farbstoffe nicht überfärbt. 

Die Richtigkeit dieses Satzes, dem das Entstehen von 
Fällungs- und Mischgranulis auch in den zuletzt beschriebenen 
Versuchen zu widersprechen scheint, wird bewiesen durch eine 
Betrachtung des physiologischen Verlaufs der Versuche. Es 
zeigt sich, wie wichtig eine solche Überlegung in jedem Falle 
ist, da sonst nur sehr unvollkommene Vorstellungen aus den 
Versuchen abgeleitet werden können: 

Wird einem vital mit sauren Farbstoffen gefärbten Tier 
der basische Farbstoff injiziert, so vermag der gespeicherte 
saure Farbstoff, durch keine chemischen Affinitäten an das 
Protoplasma gekettet, den basischen, der nun neu die Zellen 
durchströmt, zu binden. Ist eine saure Färbung schon im 
ganzen Verlauf der Hauptstücke vorhanden, so kann man 
überall Fällungs- resp. Mischgranula sehen. So ist Trypan- 
blau nach 14 Stunden im proximalen Anteil der Hauptstücke 
in zahlreichen, stark gefärbten Granulis gespeichert — hier 
sieht man bei Doppelfärbungen vorwiegend die dunklen Nieder- 
schlagsgranula. In den distaleren Abschnitten, wo die Trypan- 
blau-Granula an Zahl und Intensität abnehmen, entstehen mehr 


Mischgranula, bis schliesslich da, wo die saure Färbung auf- 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 493 


hört, rein basische Granulierung beginnt. Dasselbe Abnehmen 
der Niederschlags- zugunsten der Mischfärbung distalwärts 
zeigte die Folge Wasserblau-Neutralrot (M. 74, S. 477). 


Dabei kann man immer wieder beobachten, dass die ersten 
Niederschlagsgranula an der dem Lumen zugewandten Seite 
der Zelle entstehen. Wir wollen auch den folgenden Aus- 
führungen die Vorstellung zugrunde legen, dass die Farbstoffe, 
mit reichlicher Flüssigkeit in den Glomerulis abgesondert, die 
Nierenzellen von der Lumenseite her berühren, eine Auffassung, 
die v. Möllendorff (1915, S. 302f£.) für saure Farbstoffe 
vertritt; dabei wird dann ausser acht gelassen, dass der 
basische Farbstoff wohl auch auf unphysiologischem Wege 
die Gewebe durchdringen und von aussen her die Kanälchen 
durchströmen kann. — Durchsetzt nun der basische Farbstrom 
die Zellen der Hauptstücke vom Bürstensaum aus, so wird 
der Farbstoff von den hochkonzentrierten, also stark sauren 
Granulis abgefangen und diese Affinität ist so stark, dass der 
basische Farbstoff verhindert wird, seine gewohnten Zellorte 
aufzusuchen. Die Speicherung in sauer-basischen Granulis 
dauert solange, bis aller saure Farbstoff entweder abgesättigt 
ist oder bis er schon soweit ausgespült ist, dass seine Azidıtät 
nicht mehr zur Bindung der Farbbase ausreicht. Jetzt ent- 
stehen auch rein basische Granula; sie liegen unregelmässig 
verstreut ın der Zelle, während die sauren girlandenförmig 


den Kern in der supranukleären Zone umgeben. 


Betrachten wir nun den Färbungsverlauf bei umgekehrter 
Versuchsanordnung: dem vital mit basischen Farbstoffen ge- 
fürbten Tier wird ein saurer Farbstoff injiziert, der nun in die 
Zellen, in denen schon basische Granula liegen, hineinströmt. 
Er berührt auch die basıschen Granula, doch vermag er mit 
dem in ihnen gespeicherten Farbstoff keine Verbindung ein- 


zugehen. Der basısche Farbstoff muss also in seinen 


494 E. HERZFELD, 


Granulis chemisch so gebunden sein, dass die Farb- 
base sieh nieht mehr mit der Farbsäure des neu 
hinzuströmenden sauren Farbstoffes verbinden kann. Man 
kann. wie schon erwähnt wurde, bei geeigneter Versuchs- 
anordnung stets rein basische Granula, frei von saurem Farb- 
stoff finden. — Es entstehen also unabhängig von den bası- 
schen, die immer dazwischen zu finden sind, saure Granula 
an den von ihnen stets bevorzugten Zellorten. Nun aber strömt 
fortwährend basischer Farbstoff neu hinzu, und kaum ıst der 
saure bis zu einer oft noch nicht sichtbaren Intensität ge- 
speichert, so reisst er den basischen in seine Granula. Es 
bilden sich Misch- und bei genügender Konzentration des sauren 
Farbstoffes Niederschlagsgranula. |Ihre Zahl ist natürlich ge- 
ringer als bei der umgekehrten Versuchsanordnung, denn es 
ist schon ein Teil des basischen Farbstoffes zur Bildung der 


eigenen Granula verbraucht — desto mehr, je später der saure 
Farbstoff nachinjiziert wird —.| Allmählich nähert sich die 


Ausscheidung des basischen Farbstoffes ihrem Ende. Seine 
Konzentration reicht nicht mehr aus, die sauren Granula ganz 
abzusättigen, es bilden sich vorwiegend Mischgranula. Schliess- 
lich, wenn aller basische Farbstoff ausgeschieden ist, speichert 
sich der saure, der nun allein vorhanden ıst, unvermischt. 

Unsere Versuche zeigen nun die verschiedensten Stadien 
der Färbung. Bei M.22 (S. 490) hatte das Neutralrot in 21/, Std. 
rote Granula gebildet, dann wurde Wasserblau injiziert, das 
den weiteren basischen Farbstoff, der die Nierenzellen durch- 
strömte, in seine Granula zog. Als 21/, Std. später das Tier 
vetötet wurde, war die basische Ausscheidung noch ın vollem 
(range; wir finden also keine rein sauren Granula. — Bei 
dem entsprechenden Versuch an M. 20 (S. 490), wo die Maus 
nach 10 stündiger Versuchsdauer getötet wurde, sehen wir schon 
sanz blasse rein saure Wasserblaugranula. Die Neutralrot- 


Ausscheidung war, wie die rein blaue Urinfarbe anzeigt, wohl 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 495 


Ex 3 n 
vorüber — das Tier hatte nur 3/, ecm Neutralrot 10 erhalten, 


und ein Teil des Farbstoffes wird noch durch den Nieder- 
schlag an der Injektionsstelle verbraucht —, daraus erklärt 
sich das Entstehen rein blauer Granula. (sanz andere Zeil- 
folge der Injektionen muss man für die entsprechenden Ver- 
suche am Frosch wählen. Bei Frosch 58 (S. 491) gab eine 
> stündige Neutralrotfärbung mit folgender Wasserblauinjektion 
nur nicht sehr zahlreiche Niederschlagsgranula in den 2. Ab- 
schnitten. Die ganz wenigen rein roten Granula, die vielleicht 
nach 5 Std. Neutralrot-Einwirkung schon entstanden waren, 
sind wohl am Ende des Versuchs (nach 27 Std.) schon wieder 
ausgewaschen. Rein saure Granula können nach dieser Zeit 
noch nicht entstehen, weil noch immer basischer Farbstoff 
vorhanden ist, der die sauren Granula überfärbt. — So lassen 
sich durch Betrachtung des physiologischen Verlaufs der Aus- 


scheidung alle die verschiedenen Färbungsbilder erklären. 


Dass ın der Tat der gespeicherte basische Farbstoff den 
te) 


sauren nicht in seine Granula zu ziehen und zu fällen ver- 


mag, zeigt noch ein Versuch an M. 61. Neutralrot 1 cem en 
(0,953%ig) 1 Std. und Patentblau 1 cem 30 (1,876 0ni) 2 Std. 


gibt keine Kombinationsgranula, nur rein rote. Niederschläge 
beider Farbstoffe finden sich nur in Gestalt violetter Farb- 
stoffzylinder im Lumen der von der Diurese stark erweiterten 
Kanälchen. Diese Zylinderbildungen durch Reaktion der beiden 
Farbstoffe miteinander zeigen, dass die Farbstoffe an und für 
sich, wie auch in vitro und an der subkutanen Injektions- 
stelle, miteinander Niederschläge bilden. Dass solche in den 
Zellen nicht gefunden werden, rührt daher, dass die Neutralrot- 
granula das Patentblau nicht an sich zu reissen vermögen. 
Da andererseits Patentblau infolge seiner Diffusibilität bei der 


Maus nicht granulär gespeichert wird, kann es hier auch aus 


Anatomische Hefte I. Abteilung. 164. Hoft (54. Bd., H. 3), 33 


496 E. HERZFELD, 


diesem Grunde nicht zur Bildung von Mischgranula kommen; 
dieser Versuch kann also als sicherer Beweis dafür gelten, 


dass unsere obige Erklärung zu Recht besteht. 


Ws wird also bei der eben beschriebenen Versuchsfolge 
der zuerst injizierte basische Farbstoff an seine gewohnten 
Zellbestandteile gebunden, der Rest von dem darauf injizierten 
sauren Farbstoff gebunden. Dass sich eine Abschwächung der 
Giftwirkung des basischen Farbstoffes bei dieser Versuchs- 
anordnung viel weniger bemerkbar macht, erklärt sich durch 
die viel umfangreichere Bindung des basischen Farbstoffes an 
lebenswichtige Bestandteile. — Ebenso ist von einer Beschleunı- 
sung der sauren Färbung durch die positiv geladenen lonen 
des basischen Farbstoffes nichts zu merken, da diese ja nicht 


mehr reaktionsfähig sind !). 


Zusammenfassung der Ergebnisse über saure Vitalfärbungs- 
versuche am vorher basisch gefärbten Tier. 


1’ Der inseinen Granulis cespeichertesba: 
sische Farbstoff vermag nicht den sauren Farb- 
stoff zu fällen oderirgendwie chemisch mitihm 
zu reagieren. 

9. Daher vermag er auch nıcht seine speiche- 
rung zu beschleunigen, so dass die nach be- 
stimmter Zeit abgelagerte Menge sauren Farb- 
stoffes bei Anwesenheit eines basischen nicht 


srösser ist als bei der sauren Einfachfärbung. 


!) Die Speicherung basischer und saurer Farbstoffe in verschiedenen 
Granula kann man am klarsten an Tieren zeigen, bei denen die beiden Färbungen 
nicht neben-, sondern nacheinander verlaufen. Versuche an Kaulquappen im 
hiesigen Institute haben ergeben, dass in der Tat, wenn die Tiere erst in basischer, 
dann in saurer Farblösung weilen, ganz getrennte basische und saure Granula 
entstehen. Bei umgekehrter Versuchsanordnung tritt eine chemische Beein- 
flussung der basischen durch die vorhandene saure Färbung ein. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 497 


3. Der basische Farbstoffist so gespeichert, 
das säzs eimen lonen mich mehmerzemreagieren 
können; tdietbasischen’ Granwla können nicht 
durchlaNMmähliche Konzentrrerungssdess Farb- 
stoffesin Vakuolen des Protoplasmasentstehen. 

4. Saurer und basischer Farbstoff werden 
für gewöhnlich an verschiedenen Zellorten ge- 
spemchert und"»damit ist 'GurwitschsTheerie 
einerseits bestätigt, andererseits liegt den 
sauren Granulis keine Substanz, die den Farb- 
stoff chemisch bindet, wie eine Salzlösung, ein 
Bes schles+Ei weissiuwirdelrzugrunde,. sondermies 
handelt sich um eine Konzentrierungserschei- 
nung. 

Die verschiedenartige Speicherung der Farbstoffe, die aus 
diesen Versuchen klar hervorgeht, wird bestätigt durch Ver- 
suche mit sauren Farbstoffen, dıe vital, und basischen, die 
supravital angewandt wurden. Zu diesem Zweck wurden zu- 
erst mit basischen Farbstoffen allein Supravıtalfärbungs- 
versuche angestellt. Dabei zeigte sich, dass von allen ge- 
prüften Farben, denselben, die auch vital verwandt wurden, 
die schönsten Resultate stets Neutralrot gibt. Arnold, der 
vorwiegend mit Methylenblau und Neutralrot supravital färbte, 
erwähnt schon, dass das letztere hierzu besser geeignet ist, 
er meint sogar, die Supravitalfärbung sei ergiebiger als die 
Vitalfärbung und stelle eine grössere Anzahl Zellgebilde dar. 
Bei den anderen Farbstoffen, z. B. Naphtholblau, Thionin- 
blau GO musste man zur Supravitalfärbung bedeutend stärkere 
Konzentrationen verwenden, und es dauerte meist längere Zeit, 
bis die ersten Granula auftraten, die dann oft im diffus- 
gefärbten Grunde lagen. Hier waren zweifellos nicht mehr 
dieselben Bedingungen vorhanden wie bei der Färbung im 
Organısmus, und es kann diese „postvitale“ Färbung nicht 


33* 


498 E. HERZFELD, 


mit der vitalen basischen verglichen werden). Recht gute 
Granulafärbung gibt neben Neutralrot und Methylenblau rect. 
noch Nilblausulfat; die Ergebnisse waren die gleichen wie 
bei der Anwendung von Neutralrot, so dass ich nur die letzteren 
anführe. Die Farbstoffe gaben supravital angewandt ausser- 
ordentlich ähnliche Färbungsbilder wie vital (Figg. 18 u. 19). 
Dementsprechend gaben die im folgenden beschriebenen Ver- 
suche auch sehr ähnliche Färbungsresultate wie die basische 


Vitalfärbung am vorher sauer gefärbten Tier. 


3. Basische Supravitalfärbung am vorher sauer gefärbten Tier. 
Maus 60. 


8 h. a. m. 1 ccm Trypanblau (0.953% ig). 


n 
100 
5 h. p. m. durch Chloroform getötet. 
Sofortiges Herstellen des Präparates. Zusatz eines 
Tropfens Neutralrotkochsalzlösung unter dem Deckglas (Koch- 
salz 0,9 Yoig). 


nn nn —mu 


| | 


| Eintritt der | 


Neutralrot- R Verhalten der roten zu 
3 \ Rotfärbung ; i Bemerkungen 
lösung den blauen Granulis 
5 nach 
Zee — 
1:80 000 Ne rein rote und blaue Gra- | Rote Granula vor- 
| nula nebeneinander. ' wiegend a.d. Basis- 
| seite der Zellen. 
1: 60 000 | 6' neben roten und blauen BEE 
| Bei stärkeren Kon- 


einige violette Granula. en trainer 


1:40 000 D2 | Zahl der violetten ver- Zusatz von grösse- 
| renFarbmengen,wo 


| |  mehrt. Ser 
| | 'f sich ihre Zahl ver- 
1:20 000 | 4' fast nur violette neben | mehrt, liegen die 
| etwas Diffusfärbung. roten Granula dem 
! Lumen näher. 
1: 10. 000 3. starke Diffusfärbung. 
| | 


I) Schulemann meint zwar, dass aller Supravitalfärbung nekrobiotische 
Vorgänge zugrunde lägen, denn es bliebe eine Farbspeicherung in der ersten 
g | [ 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 499 


Die Ergebnisse sind wohl folgendermassen zu erklären: 
der basische Farbstoff, der in ganz schwacher Konzentration 
{:80000 verwandt wird und von der Zellbasis aus eindringt, 
wird an den ihm eigenen Zellorten gespeichert, ehe er die 
sauren Granula erreicht. Bei Verwendung von stärkeren Kon- 
zentrationen oder wiederholtem Zusetzen von Tropfen der 
schwachen Lösung entstehen violette Granula, von Form und 
Farbe der bekannten Mischgranula. Wenn man viel Neutral- 
rot zusetzt, kann man alle sauren Granula überfärben und 
auch das Auftreten von Niederschlagsgranula beobachten. 

Es liegt die Vermutung nahe, dass auch hier beide Farb- 
stoffe eine Reaktion eingehen und sich wieder die organischen 
lonen zu dem Salz aus Farbsäure und Farbbase umselzen. 

Auch die Tatsache, dass bei supravitaler Anwendung 
des basischen Farbstoffes am vorher mit sauren Farbstoffen 
sefärbten Fier die Stärke der resultierenden Färbung von der 
absoluten Menge des verwandten basischen Farbstoffes abhängt, 
stimmt auffallend mit den bereits erwähnten Ergebnissen bei 
vitaler Anwendung beider Farbstoffarten überein (s. S. 482). 
— Ebenso folgende Erscheinung: Bringt man an einer Maus, 
die z. B. 24 Std. nach der Trypanblauinjektion eine ‚grössere 
Zahl und viel stärker konzentrierte saure Granula zeigt als 
die eben erwähnte M. 60 (S. 498), nach 9 Std. Trypanblau- 
einwirkung, Neutralrot supravital zur Anwendung, so treten 
schon bei viel schwächerer Konzentration des basischen Farb- 
stoffes violette Granula auf. Eine Neutralrotlösung 1:80000 


bewirkt dann schon eine deutliche Verminderung der rein 
Zeit des Färbungsversuches aus. Auch würden Gebilde dargestellt, die sich 
nach anderen Methoden als chemisch ganz different erwiesen. Dagegen muss 
aber gesagt werden, dass Vital- und Supravitalfärbung z. B. in der Niere 
vorher sichtbare Granula färben. Die Milieuänderung beim Absterben 
ist auch sicher bei einem so schnell eindringenden Farbstoff wie Neutralrot 
nicht so gross, dass man die Resultate nicht mit den im vitalen Versuch erhaltenen 
vergleichen dürfte. 


500 E. HERZFELD, 


roten und rein blauen Granula zugunsten der violetten ent- 
gegen obigem Versuch (M. 60, S. 498), wo die Konzentration 


:80000 rein rote und blaue Granula ergab. Es ist also auch 


hier die Stärke der Mischfärbung, wie bei vitaler basischer 
Färbung nach voraufgehender saurer, abhängig von der Stärke 
der vorhandenen sauren Färbung. 

Bei soweit übereinstimmenden Ergebnissen beider Ver- 
suchsreihen scheint es wohl erlaubt, sie miteinander in Par- 
allele zu setzen: Hier wie dort wird die basische Färbung 
von der vorhandenen sauren beeinflusst, der basische Farb- 
stoff verhindert, seine eigenen Zellorte aufzusuchen und in 
die sauren Granula gezogen, mit deren Farbstoff er eine che- 
mische Reaktion eingeht, und das natürlich um so lebhafter, 


je grösser die miteinander reagierenden Farbmengen sind. 


Diese Ergebnisse wurden bestätigt durch einige Supra- 
vitalfärbungsversuche am Frosch. 


Nur ist beim Frosch eine Supravitalfärbung noch schwerer 
zu erzielen als bei der Maus, was schon Michaelis er- 
wähnt. Es hängt wohl mit der geringeren Permeabilität der 
Froschniere und dem langsameren Verlauf aller Reaktionen 
beim Kaltblüter zusammen; doch erhält man mit Neutralrot 
auch hier, mit etwas stärkeren Konzentrationen wie bei der 
Maus, gute Färbungsresultate. Die verschiedenen Arten der 
Granula sind sogar schöner zu beobachten, da beim Frosch 
die Granula bedeutend grösser sind. Meist wurde eine Neutral- 
rotkochsalzlösung (NaCl 0,65%ig) 1:40000 verwandt, doch 
geben auch Konzentrationen 1:10000 noch keine Diffusfär- 
n 
40 


Frosch zeigte die Supravitalfärbung mit Neutralrot in den 2. Ab- 


bung. Bei einem mit Wasserblau | [2%ig] 4 sid.) gefärbten 
schnitten der Niere neben blauen Vakuolen dunkelviolette Fäl- 
lungs- und rein rote Granula. Ihre Farbe wechselt wieder 


je nach den angewandten Neutralrotkonzentrationen. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 501 


Dieselben Granulaarten gaben 
Patentblau 36 (1876.08) und Neutralrot 1:40000 (Fig. 21), 
Lithionkarmin 2%ig und Methylenblau BX 1:30000, 


Lithionkarmin 2%ig und Nilblausulfat 1:25000, 


Trypanblau nG (0,953 %Yoig) und Neutralrot 1 : 40.000 (Fig. 20) 


und andere. 

Betrachten wir nun noch einmal den Verlau rder Far- 
bung. Arnold erwähnt bei Beschreibung der Supravital- 
färbung, dass die ersten gefärbten Granula stets nahe dem 
Lumen auftreten, dann erst sich in die Stäbchenzone hin er- 
strecken; dies kann ich für Kanälchen mit besonders weitem 
Lumen oder mit offenem Lumen, z. B. für abgerissene Kanäl- 
chen, wie sie vielfach am Rande der Schabsel liegen, be- 
stätigen. Und Amold untersuchte ja auch vorwiegend mög- 
lichst isolierte Zellen, also zerrissene Kanälchen. Die Färbung 
erstreckt sich stets vorzugsweise über die am Rande gelegenen 
Kanälchen, die Mitte des Präparates bleibt ungefärbt oder färbt 
sich erst nach langer Zeit. Für sewöhnlich nun scheint der 
Farbstoff in die intakten Randkanälchen, für die meine bıis- 
herige Schilderung galt, von der Zellbasis aus einzudringen; 
die ersten Granula liegen in der infranukleären Zone. Aus 
dieser Betrachtung des physiologischen Verlaufs der Fär- 
bung erklärt sich auch das andersartige Färbungsbild bei vitaler 
Anwendung des basischen Farbstoffes, bei der erst alle sauren 
Granula überfärbt werden, ehe rein basische entstehen. Im 
vitalen Versuch, wo der Farbstoff vermutlich vom Glomerulus 
aus durch das Lumen der Kanälchen herabströmt, findet er 
oleich nach seinem Eintritt durch den Bürstensaum saure 
Granula vor, deren Farbstoff ihn fällt und seinen eigenen (ira- 
nulis entzieht. 

Wenn man diesen supravitalen Färbungsversuchen auch 


nur beschränkte Gültigkeit zugesteht, so zeigen sie doch für 


302 E. HERZFELD, 


die verwandten basischen Farbstoffe, dass saurer und basi- 
scher Farbstoff für gewöhnlich an verschiedenen Orten im 
Protoplasma gespeichert werden und dies geschieht ja, wie 
wir schon sahen, auf ganz verschiedene Weise Es ergibt 
sich nun die Frage: Wie werden die basischen Farbstoffe ge- 


speichert ? 


ce) Sehlüsse auf die Natur der basischen Vitalfärbungs- 
granula. 

Einige Schlüsse auf die Natur der basischen Vitalfärbungs- 
granula lassen unsere Versuche schon zu. Wir sahen, dass 
der basische Farbstoff so gespeichert war, dass sein organisches 
Ion sich nicht mit dem Farbsäureion des sauren Farbstoffes 
umzusetzen vermochte. Welcher Art ist nun diese Bindung ? 
Der Farbstoff kann auf physikalische oder chemische Art ge- 
speichert sein. Betrachten wir zuerst Gründe für und gegen 
die physikalische Speicherungstheorie: 

Der physikalischen Bindung, der Lösung in der 
Iipoiden Substanz oder der lipoiden Membran der Granula 
widerspricht die Tatsache, dass lipoidunlösliche basische Farb- 
stoffe, wie Thionin, augenscheinlich auf dieselbe Art und an 
denselben Zellorten gespeichert werden, wie lipoidlösliche. 

Nach unseren Versuchen, der vitalen sauren mit nach- 
folgender basischer Färbung wäre es sehr wohl denkbar, dass 
der basische Farbstoff für gewöhnlich in Lipoiden ge- 
speichert würde, nur jetzt durch grössere Affinität zum sauren 
Farbstoff sich mit dessen Farbsäureion verbände. Anders bei 
der umgekehrten Versuchsanordnung, wo der basische Farb- 
stoff ın der Zelle gespeichert ist, wenn der saure hinzuströmt. 
Ein in Lipoiden gelöster basischer Farbstoff 
müsste bei stärkerer Konzentration wohl den sonst 
lıpoidunlöslichen sauren in sein Granulum hinein- 


reissen und dort fällen können. Wenigstens sieht man, 


L & m: £ ; Yon : 0% 
Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 508 


wenn man im Reagenzglas Lösungen von basischen Farbstoffen, 
die in Lipoiden, Leeithin-Xylol und Terpentin-Cholesterin, ge- 
speichert sind, und sauren Farbstoff ın wässriger Lösung mil- 
einander schüttelt, dass sich ein Niederschlag beider Farb- 
stoffe auch im Lipoid bildet. Bei schwächeren Konzentrationen, 


ZB: Lösungen, entsteht ein dicker Niederschlag an 


n 
10000 
der Grenzschicht Lipoid-wässrige Lösung, der sich auch eine 
Strecke weit ins Lipoid erstreckt. Demnach müsste man sich 
denken, dass ein in Lipoiden gespeicherter basischer Farb- 
stoff den sauren, wenn nicht in seinem Granulum, so doch 
an dessen Peripherie fällen würde, ähnlich wie Höber (1901) 
mit dem lipoidunlöslichen Farbbasenfällungsmittel Ammonium- 
molybdat, das nicht in die Zelle einzudringen vermag, Nieder- 
schläge an der Zellperipherie erhält. Unsere Versuche zeigen 
keine solchen Bilder. 

Genaueren Aufschluss darüber, ob die Lipoide für die 
Speicherung der Farbstoffe wesentlich in Betracht kommen, 
schienen die lipoidlöslichen sauren Farben gewähren 


zu können. 


1. Färbungen mit lipoidlöslichen sauren Farbstoffen. 


lÜchtrot A, Eosin und Erythrosin wurden bei Fröschen 
injiziert. Ihrer Kolloidität nach müssten alle drei granu- 
lär gespeichert werden. Sie gaben nun zwar mehr oder 
weniger starke Diffusfärbung, ein Zeichen, dass der 
Farbstoff in die Zellen eindringt, aber keine granuläre 
Speicherung. Nach der Injektion von Echtrot A fanden 
sich neben einer sehr starken diffusen Rotfärbung manchmal 
in der Niere vereinzelte grosse blaurote Tropfen, vielleicht 
2-3 im Verlaufe eines Kanälchens; diese Färbung unterscheidet 
sich natürlich aufs deutlichste von der gewöhnlichen Granula- 


färbung. Da Echtrot in Lipoiden blaurot gespeichert wird, liegt 


504 E. HERZFELD, 
es nahe, diese Färbung in Beziehung zu den nach Nilblau- 
sulfatinjektion teilweise auftretenden violetten tropfigen Granula 
zu bringen (Figg. 15 u. 16). Möglicherweise handelt es sich 
wieder um die bei der Autolyse reichlicher auftretenden lipoiden 
Substanzen (Albrecht, Cesa-Bianchi), die hier durch 
chtrot sichtbar gemacht werden. — Eosin und Erythrosin 
zeigen neben starker diffuser Rötung von Niere und Leber 
eine für den Frosch ungewöhnlich starke Urinfärbung; es wird 
fast die Konzentration des eingespritzten Farbstoffes erreicht, 
eine Konzentration, die gegenüber dem Diffusibilitätsgrad der 
Farbstoffe als auffallend hoch überrascht. Es sind im hiesigen 
Institut noch Versuche im Gange, die die Ursache dieser Er- 
scheinung aufdecken sollen. Möglicherweise spielt die Lipoid- 
löslichkeit hier eine Rolle. Jedenfallssprichtdas Aus- 
bleiben einer „normalen“ granulären |Speiche- 
rung bei lipoidlöslichen sauren Farben gegen 
die Lipoidnatur der mit lipoidlöslichen (bası- 
schen) Farbstoffen färbbaren Granulationen. 
Kombinationsversuche der drei sauren lipoidlöslichen Farb- 
stoffe mit folgender basischer Vitalfärbung (z. B. Methylen- 
blau) zeigten basische Granula auf diffus gerötetem Grunde. 
Es war also der basische Farbstoff nicht imstande, den sauren 
an sich zu reissen und zu fällen, und der saure seinerseits 
wurde ja nicht granulär gespeichert. Bei der Verwendung eines 


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kolloidaleren basischen Farbstoffes (z. B. Thioninblau GO, 


(1 cem = 11,1%ig] 7 Std.) und 24 Std. später Echtrot A 


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1 ccm —— |1,5%ig]|) zeigten die Anfangsteile der 2. Abschnitte 
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einige wenige dunkle, ziemlich grosse Granula; auf diese folgten 
Kanälchenanteile, in denen blaue Granula auf rotem Grunde 
lagen. In den wenigen dunklen Granula hatte wohl das ın 
den lipoiden Substanzen gespeicherte Echtrot den basischen 


Farbstoff an sich gerissen und gefällt, denn beim Zusatz von 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 508 


Kalilauge nehmen sie rotviolette Farbe an. (Der braunschwarze 
Niederschlag Thioninblau-Echtrot wird durch Lauge rotbraun.) 
— Versuche mit diesen lipoidlöslichen sauren Farben in Kom- 
bination mit anderen sauren, z. B. Trypanblau und Wasserblau, 
saben rein blaue Granula auf diffus rötlichem Grunde. Bei der 
Folge Trypanblau und 8 Tage später Echtrot traten die er- 
wähnten blauroten Tropfen besonders reichlich auf. Wahr- 
scheinlich war das späte Trypanblaustadium mit Zellschädi- 
gungen verknüpft, die die Ansammlung der lipoiden Sub- 
stanzen bewirkten. — Jedenfalls geben diese Versuche wohl 
einen Anhalt dafür, dass es für gewöhnlich nicht lipoide 
Substanzen sind, die für die Speicherung basi- 
scher, lipoidlöslicher und unlöslicher Farbstoffe in Be- 
tracht kommen. 

Wäre die Lipoidlöslichkeit für die Speicherung basischer 
Farbstoffe von Belang, so müsste sich ferner eine Parallele 
zwischen dem Grade der Speicherung und der Grösse der 


Lipoidlöslichkeit ergeben. 


2. Verteilungsmessungen lipoidlöslicher Farbstoffe in Leeithin- 
Xylol. 

Zu diesem Zwecke stellte ich Messungen über die Ver- 
teilung der lipoidlöslichen Farbstoffe in Wasser und Lipoiden 
an. Ich hoffte, den Verteilungskoeffizienten der verwend- 
deten Farbstoffe bestimmen zu können. Dabei erhielt ich 
das überrascehnde Ergebnis, dass das Verhältnis der Kon- 
zentration der lipoidlöslichen Farbstoffe in Wasser zu der 
Konzentration in Lipoiden nicht konstant ist. Aus verdünnten 
Lösungen des Farbstoffs. wird relativ am meisten in der lipoiden 
Phase gespeichert, von einer bestimmten Farbstoffkonzentration 
an bleibt auch die Farbkonzentration im Lipoid konstant. Nach 
Beendigung meiner Versuche bekam ich die Arbeit von Loewe, 


der die Verteilung von Methylenblau in verschiedenen Lipoiden 


506 E. HERZFELD, 


untersucht hat, zu Gesicht. Meine Ergebnisse erhielten da- 
durch eine Bestätigung, denn auch Loewe fand, dass das 
Konzentrationsverhältnis von Methylenblau in Wasser einer- 
seits, der lipoiden Phase andererseits von den niederen Kon- 
zentrationen zu den höheren abnimmt. — Als Lipoid wurde 
anfangs Cholesterin in Terpentinöl gelöst verwendet; doch ist 
die Farbstoffaufnahme durch die Cholesterinphase, was auch 
Loewe schon erwähnt, so gering, dass diese Methode zu 
vergleichenden Bestimmungen zwischen den einzelnen Farb- 
stoffen nicht verwertbar ist. Es wurde nun eine Lösung von 
wasserfreiem Lecithin in Xylol genommen, wobei die Quell- 
barkeit des Lecithin, die zu hohe Löslichkeitswerte ergeben 
soll, für meine Versuche nicht weiter in Betracht kam. Die 
Konzentration der Farbstoffe in den einzelnen Phasen wurde 
mit Hilfe der kolorimetrischen Methode, Auftropfen auf Fliess- 
papier, Vergleich mit Stammlösungen, bestimmt. Für meinen 
/weck waren die hiermit gefundenen Werte genau genug. 
Es wurden stets 10 ccm der wässrigen Farbstofflösung 
mit 1 cem Leeithin-Xylol überschichtet. Die Berührungsdauer 
betrug 24 Std. Die Farbstoffe sind nach steigender Lipoid- 
löslichkeit geordnet. (Siehe umstehende Tabellen S. 508.) 
Die Löslichkeit der Farbstoffe in Lecithin-Xylol, bei der 
die Quellbarkeit des Lipoids noch etwas zu hohe Werte hervor- 
ruft, ist nicht sehr beträchtlich, wenn man sie mit der Lös- 


lichkeit m Wasser vergleicht. Neutralrot z. B. löst sich in 
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Lösung enthält in 1 ccm 0,00953 g Neutralrot. Die maxi- 


Neutralrotlösung zeigt fast allen Farbstoff gelöst. Eine 


male Farbkonzentration in 1 cem Leecithin-Xylol betrug nur 
0,0001435 g Neutralrot. Es ist also die absolute Wasserlös- 
lichkeit wohl 66 mal so gross wie die Lecithin-Xylollöslichkeit. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen etc. 507 


Ebenso zeigen die anderen geprüften Farbstoffe, die alle ın 
ungefähr 1%iger Konzentration löslich sınd, eine grössere 
Wasser- als Lecithinlöslichkeit. Allein beim Viktoriablau +4R 


ist das maximale Lösungsvermögen in Wasser geringer als 


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in Leeithin. In einer — Lösung, in der noch gerade aller Farb- 


20 
stoff gelöst ist, sind in 1 ccm 0,0104 g Viktoriablau enthalten. 


1 cem Lecithinxylol dagegen speichert aus einer Lösung 


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100 
0,01305 g Viktoriablau, wobei allerdings schon ein Teil des 
Farbstoffes in dem Lipoid ausgefällt ıst. Nun ist zwar hier 
die maximale Wasserlöslichkeit geringer als die Lecithinlös- 
lichkeit, doch sahen wir gerade beim Viktoriablau, dass es 


so ausserordentlich wenig gespeichert wird. 


Würde sich nun die hypothetische Lipoidspeicherung in 
der lebenden Zelle der Speicherung in vitro analog verhalten, 
so wäre auch ein Iipoides Granulum nur imstande, den Farb- 
stoff im Verhältnis seines Teilungskoeffizienten Plasma : Lipoid 
anzureichern. Nur bis zu einer verhältnismässig geringen maxl- 
malen Konzentration würde der Farbstoff gespeichert werden 
können, unabhängig von dem Farbstoffgehalt des umgebenden 
Plasmas. Es ist fraglich, ob dabei so intensive granuläre Fär- 
bungen, wie wir sie ım vitalen Versuche sehen, zustande 
kommen könnten. Eine Lösung eines basischen Farbstoffes 
in Lecithin ist ın dünner Schicht mikroskopisch betrachtet 
stets so hell, von so geringer Farbintensität, dass nicht im 
entierntesten die hohe Konzentrierung der vitalen Farbgranulis 
erreicht wird. @. Schmidt (1906) wies für Methylenblau 
nach, dass es in seinen Zellgranulis in einer Konzentration 
aufgespeichert werde, die das maximale Lösungsvermögen in 
Wasser um das 200 fache überträfe; um noch mehr also das 
Lösungsvermögen in einem lecithinähnlichen Lipoid. — Nun 


wäre es ja möglich, dass die körpereigenen Lipoide ein ganz 


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Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H, 3). 


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Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 513 


ausserordentlich hohes Konzentrierungsvermögen für Farbstoffe 
besässen, doch spricht nichtinursdre Intensität, 
sondern auch die Farbe der Granula gegen eine 


Speicherung in Lipoiden. 


Wir sahen, dass Nilblausulfat aus stärkeren Lösungen in 
Lecithin violett bis rotbraun, in der Farbe der freien Base, 
gespeichert wurde. Bei der vitalen Nilblaufärbung zeigen 
einzelne wenige -tropfige Granula hellviolette Farbe, die sich 
auch an der Luft nicht verändert. Wir hatten angenommen, 
dass ihnen Jlipoide Substanzen zugrunde liegen. Die blaue 
Farbe der gesamten übrigen Granula spricht dafür, dass in 
ihnen Lipoide für die Farbstoffspeicherung nicht wesentlich 
in Betracht kommen. 


Sieht man von dieser Art der Speicherung ab, so können 
die basischen Farbstoffe nur noch chemisch an Proto- 
plasmabestandteile gebunden sein. Es würde sich 
da um eine Bindung an saure Eiweisse handeln, durch die 
der Farbstoff ausgefällt würde. An Stelle der sauren Eiweisse 
kann der saure Farbstoff treten, der den basischen Farbstoff 
verhindert, seine eigenen Zellorte aufzusuchen und mit ihm 
Granula in ‚„Neutralfarbe‘“ bildet. Ist andererseits der basische 
Farbstoff einmal gespeichert, und ist er mit dem sauren Ei- 
weiss seines Granulums eine Verbindung eingegangen, so ver- 
mag er neu hinzuströmenden sauren Farbstoff nicht mehr zu 
fällen. So erklärt sich das Vorhandensein rein basischer 
Granula bei einer basischen Färbung mit folgender saurer. 
NachdenErgebnissenderDoppelfärbungen,den 
Prüfungen der lipoidlöslichen sauren Farb- 
stoffe und den Lipoidlöslichkeitsmessungen 
scheint also am wahrscheinlichsten, dass eine 
Speicherung der basischen Farbstoffe durch 
Bindung an saure Eiweisse anzunehmen ist. 


34* 


514 E. HERZFELD, 


Ob nun der basische Farbstoff an lebende Eiweisse oder 
Stoffwechselprodukte gebunden ist, dafür geben diese Versuche 
keinen Anhalt, es sei denn, dass die häufig beobachtete, be- 
sonders starke Färbung abgestossener Zellbestandteile für eine 


Bindung an tote Protoplasmabestandteile spricht. 


III. Zusammenfassung der Untersuchungen über 
die Natur der basischen Vitalfärbungsgranula. 


1. Bei der Bildung der basischen Granula 
sieht man zwerst ‚feınnadlıese, "@ann kleine 
runde, zuletzt erosstroplise Granula entstehen. 
Schliesslich liegen. Granula aller Grössenord- 
nuneen verstreut in der Zelle. 

3. Im Stadium der Entfärbung findet ein Ab- 
blassen der Granula statt, ein Teil‘ des-Farb- 
stoffes wird ausgewaschen, ein Teil in seinen 
GranulismitZelltrümmerninsLumenderKanäl- 
chen entleert, wobei der letztere Vorgang als 
Zellschädigung aufzufassen ist. 

34“ Die in den Granulis. gespeicherten Abasse 
schen Farben haben eine grössere Diffusibilität 
als zur Nierenvitalfärbung brauchbare saure 
Farben, auch übertrifft die basische Färbung 
an „Echtheit“ die gleich diffusiblersaurer Farb- 
stoffe. 

4. Es muss also dem basischen Granulum 
eineSubstanzzugrundeliegen,dieeine>Speiche- 
rung des Farbstoffes trotz der sehr hohen Dif- 
fusibilität veranlasst. 

5. Für gewöhnlich entstehen saure und ba- 


sische Granula an getrennten Zellorten. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen elc. 515 

6» Das sauneiGranulumdentsteht durch all- 
mähliche Konzentrierung des Farbstoftes; da- 
her wird bei Doppelfärbungen (der.basische 
Barhstost ‚durehyden ssaurem von, sermenzire- 
wohnten: Zellorten „abgelenkt, in“ das, saure 
Granulum sezogen und, dort gefällt. Erst nach 
Absatıreume aller sauren entstehen basısche 
Granula. 

TabensaureeuVıtallfärbungs am worherbasıs ch 
gefärbten Tierfindetmandagegenstetsbasische 
Granula unvermischt. 

8. Der ın seinen Granulis gespeicherte ba- 
Siscchewaebstort wermas.niıcht, den sauren u 
wulllenssodersrreendyzıezchemisch’ mit ıhmezu 
Weagjeren. 

gelessbrasısche Rarbstoff ist so’gespeichert. 
Besser sienmie Konen, nicht mehr. frei reagieren 
könmene die chasıschen Vitalgeranula, werden 
mehr durch altmahliche'Konzentrierung des 
Farbstoffes in Vakuolen des Protoplaamas ge- 
bildet. 

10. Läge den basischen Granulationen eine 
!ipoide Substanz zugrunde, so müsste eine Fäl- 
Innoerdes sauren "Rarbstoffes an der Peripherie 
des basischen Granulums stattfinden. 

EeeDarse 2 susihlerbien einer „normalen eramu- 
krrzemy ss pereherung bei dem läpoidloshhehen 
Sauren Karben (Echtrot A, Bosın, Erythrosim) 
spricht gegen die Lipoidnatur der mit lipoid- 
löslichen (basischen) Farbstoffen färbbären 
Granulationen. 

12. Die basischen Farbstoffe werdenin Leci- 
thin-Xylolnurbiszueiner verhältnismässigge- 


516 E. HERZFELD, 


ringen maximalen Konzentration gespeichert, 
während diemaximale Konzentrationin Wasser 
z. B. für Neutralrot 66mal so gross ist. 

13. Die Farbintensität der Vitalgranula über- 
trifft die Konzentrierung des Farbstoffes in 
einem lecithinähnlichen Lipoid bei weitem. 

14. Gegen eine weitgehende Speicherung in 
lipoiden Substanzen spricht auch die Farbe der 
Granula. Während Nilblausulfat in Lipoiden 
mit violetter bis rotbrauner Farbe gespeichert 
wird, sind seine Vitalgranula vorwiegend blau. 

15: Der. basisehe Farbstoff muss also che 
mischanProtoplasmabestandteile, undzwaran 
saure Eiweisse mit seinem Amboceptor, der 
Amidogruppe, gebunden sein. 

162 Der saure Farbstoff kannvan die stelle 
der dem basischen Granulum zugrunde liegen- 
den Substanz treten, er geht mit dem basischen 
Farbstoff eine chemische Verbindung ein und 
verhindertihn so, seine gewohnten Zellorte auf- 
zusuchen. 

17: Ist:.der basische Farbstoff schon an das 
saure Eiweiss seines Granulums gekettet, so 
können seine Ionen nicht mehr frei reagieren. 
Der basische Farbstoff vermag sauren, der.neu 
hinzuströmt, in keiner Weise zu beeinflussen. 
Wir finden dementsprechend bei sauren Fär- 
bungen am vorher basisch gefärbten Tier ba- 
sische Granula unvermischi. 


Über d. Natur d. am lebenden Tier erhaltenen granul. Färbungen ete. 517 


Am Schluss dieser Arbeit danke ich Herrn Prof. 
Dr. Kallius dafür, dass ich im anatomischen Institut arbeiten 
durfte, sowie Herrn Privatdozent Dr. von Möllendorff für 
die Anregung zu dieser Arbeit, das Interesse und die Förde- 
rung, die er ihr fortwährend in grösstem Masse zuteil werden 


liess. 


IV. Erklärung der Tafelabbildungen. 


Sämtliche Figuren sind mit dem Zeichenapparat entworfen. Es wurde 
Leitz !/ Immersion, Oc. 2 verwendet. Die Zeichnungen stellen, wo nichts 
anderes bemerkt ist, die Nierenkanälchen im frischen Zupfpräparat nach Zu- 
satz von Kochsalzlösung dar. 

Fig. 1. Neutralrot vital, 12stündiger Versuch. Proximaler Teil des 
2. Abschnittes einer Froschniere.. Granula noch klein, staubartig fein, erst 
wenig grössere, tropfenförmige Granula (S. 462). 

Fig. 2. Neutralrot vital, 24stündiger Versuch. Proximaler Teil des 
2. Abschnittes einer Froschniere. Granula schon viel grösser, tropfig (S. 462). 

Fig. 3. Crocein vital, Methylenblau vital, F. 45 (S. 475). 2. Abschnitt: 
Tiefschwarzblaue Niederschlagsgranula, reinblaue Granula. 

Fig. 4. Neutralrot vital, Wasserblau vital, F. 59 (S. 491). Proximaler An- 
teil des 2. Abschnittes: Dunkelviolette Niederschlagsgranula neben rein roten. 

Fig. 5. Neutralrot vital, Wasserblau vital. Späteres Stadium F. 60 
(S. 491). Formolpräparat, Gefrierschnitt. Die wenigen reinroten Granula 
der proximalen Anteile der 2. Abschnitte sind im Formol verblichen. 1. Proxi- 
maler Anteil viele, teils klumpige, dunkelviolette Niederschlagsgranula, 2. distaler 
Anteil reinblaue Granula. 

Fig. 6. Trypanblau vital, 3tägiger Versuch. Proximaler Anteil eines 
2. Abschnittes. Die blauen Granula gehen allmählich in violette über (S. 473). 

Fig. 7. Trypanblau vital, 3tägiger Versuch. Distaler Anteil eines 2. Ab- 
schnittes. Rötliche Granula. 

Figg. 8-9. Trypanblau vital, Neutralrot vital, F. 22 (S. 473). 

Fig. 8. Proximaler Anteil eines 2. Abschnittes. Blauviolette Granula, 
die distal immer röteren Farbton annehmen. s 

Fig. 9. Distaler Anteil eines 2. Abschnittes. Rötlichbraune Granula. 

Figg. 10-11. Neutralrot vital, Toluidinblau vital, F. 40 (S. 475). 

Fig. 10. Distales Kanälchen eines 2. Abschnittes. Gelbe Pigmentgranula 
und dunkle Niederschlagsgranula. 

Fig. 11. Kanälchenabschnitt ohne Pigmentgranula. Dunkle Nieder- 
schlagsgranula, einige blaue. 

Fig. 12. Lithionkarmin vital, Nilblausulfat vital, M. 34 (S. 473). Proxi- 
maler Hauptstückabschnitt. Rote, violette und blaue Granula. 


Erklärung der Tafelabbildungen. 519 


Fig. 13. Trypanblau vital, Bismarckbraun vital, M. 63 (8. 481). Distaler 
Hauptstückabschnitt. Blaue Granula, schmutzig braungrüne Niederschlags- 
granula. 

Figg. 14—16. Nilblausulfat, Vitalfärbung. Frosch (S. 464). 

Fig. 14. Kanälchen eines 2. Abschnittes. Zahlreiche Pigmentgranula 
von Nilblausulfat überfärbt zu blaugrünen Granulis. 

Fig. 15. Zelle eines 2. Abschnittes. Blaue Granula und violette tropfige 
Granula. 

Fig. 16. Rein blauer Anteil (proximal) eines 2. Abschnittes. 

Fig. 17. Lithionkarmin vital, Methylenblau vital. Maus (S. 464). 
Intensiv blaue Granula, rote Granula. Proximaler Hauptstückabschnitt. 

Fig. 18. Nilblausulfat supravital. Maus (S. 498). Distaler Hauptstück- 
abschnitt. 

Fig. 19. Neutralrot supravital. Frosch. 2. Abschnitt (S. 498). 

Fig. 20. Trypanblau vital, Neutralrot supravital (S. 501). Zelle eines 
. Abschnittes. Rote, blaue, violette Granula. 

Fig. 21. Patenblau vital, Neutralrot supravital (S. 501). Zelle eines 
2. Abschnittes. Rote, blaue, violette Granula. 


D&D 


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OT 


= 


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Kenn 
5 2} j 


es 


Aus DEM IJI. ANATOMISCHEN INSTITUT zu Wien. 
VORSTAND PROF. HOCHSTEFTTER. 


ÜBER EINEN 


GEMEINSAMEN KALKANEO-NAVIKULARKNORPEL NEBST 
BEMERKUNGEN ÜBER DAS 05 GUBOIDES SECUND, 


VON 


DR. RUPPRICHT, 


PROSEKTOR AM II. ANATOMISCHEN INSTITUTE UND CUSTOS DES 
ANATOMISCHEN MUSEUMS ZU WIEN. (ZUR ZEIT IM FELDE.) 


Mit 26 Figuren auf den Tafeln 57—45. 


Tal rl 


Zr ur X Bee u ; vs Dan AR 
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A % x ur ‘23 2 t 
aerart Er Di ff Birk a t Lrt ne du g r : Kin 
RS Jar AU a2 AR; u RL m N Hi 


Über Abweichungen im Aufbau des menschlichen Tarsus 
ist oft und viel geschrieben worden. Ich will gelegentlich 
dieses kleinen Beitrages nicht mit einer umständlichen Auf- 
zählung der ähnlichen veröffentlichten Fälle ermüden, sondern 
nur das Nötigste heranziehen. Wen die einschlägige, besonders 
ältere, Literatur näher interessiert, den verweise ich auf die 
bekannten Arbeiten von Pfitzner und Wilhelm Krause. 

Es soll ferner an dieser Stelle nicht etwa eine besondere 
Wichtigkeit durch gegenseitiges Abwägen mit andererseits be- 
obachteten Variationen am Tarsus hervorgeholt werden. Nur 
über die Eigenart und die Frequenz, welch beide m. E. doch 
bei jeder Variation annähernd festgestellt werden sollten, muss 


ıch mich etwas äussern. 


IB 


In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle steht am 
knöchernen Fuss das Naviculare, mit Ausnahme des Calcaneus, 
mit allen!) Tarsalknochen in unmittelbarer gegenseitiger Be- 
rührung. In gar nicht so seltenen Fällen aber kommt es auch 
zu einer Berührung mit dem Fersenbein, und zwar in einer 


ziemlich regelmässigen Art. Zuckerkandl?) bezeichnet 


!) Die Häufigkeit der inkonstanten Gelenkverbindung zwischen Navi- 
culare und Cuboid ist vielleicht mit W. Gruber auf 50°/, der Fälle anzunehmen 
(Müllers Archiv 1871). 

?) E. Zuckerkandl, Über eine typische Varietät des Chopartschen 
Gelenkes; in: Medic. Jahrb. N. F. 1888. Wien. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 3). 35 


528 RUPPRICHT, 


diese Kombination „Calcaneus-Naviculare“ als typische Varietät 


‘ 


des „Chopartschen Gelenkes“; er sah sie in allen Stadien 
„von der punktförmigen Berührung“ bis zum „Kontakte von 
langen und breiten Flächen‘. 

Danach könnten wir zwei Arten der „Kombination“ unter- 
scheiden: die blosse Berührung und den Kontakt mit „breiten 
Flächen“. So ist der letztere am knöchernen Fussskelet wahr- 
nehmbar; am nicht macerierten Fuss dagegen ist der Kontakt 
mittelbar durch fibröses Gewebe verstärkt. Diesen Zustand be- 
zeichnet Pfitzner als „Koalescenz‘“, d. h. als durchaus nicht 
gleichwertig mit Synostose: „man muss dabei ‚Koalescenz‘ 
als werdenden Zustand von ‚Koalition‘, dem Endergebnis, unter- 
scheiden‘ 1). Als dritte Art muss man eine echte gelenkige 
Verbindung (sehr selten und fraglich?) und als vierte eine 
wirkliche Vereinigung aufstellen, sei es im knöchernen Stadium 
„Synostose“ — sei es im Knorpelstadium ‚Knorpelbund“. (Ich 
bitte wegen dieses neuen Wortes um Verzeihung, aber Syn- 
chondrose und Koalition sind schon anderweitig vergeben.) 

Die Autoren berufen sich vielfach auf Koalitionsfälle des 
Caleaneus und Naviculare, teils Koalescenzen im Sinne 
Pfitzners, teils knorplige Verschmelzungen, teils Synostosen: 
— aus dem Wiener Anatomischen Museum. Soweit mir bekannt 
wurde, sind von den Wiener Fällen bisher 1—2 von Zucker- 
kandl und 2 von Holl genau beschrieben, vielleicht sind 
einzelne auch noch anderswo näher erwähnt, doch scheint 


mir das nicht sicher?). Ich glaube daher, es dürfte nicht 


ı) W. Pfitzner, Beiträge zur Kenntnis des menschlichen Extremi:öten- 
skelets; in: Schwalbes Morpholog. Arbeiten, Bd. 4, S. 369. Ebendort auch 
der Passus: „„Es kommen nämlich ausgedehnte Koalescenzflächen vor an Stücken, 
die durch eine verhältnismässig mächtige Schicht von Weichteilen abgetrennt... 
an Stücken, die ganz locker, ganz beweglich miteinander verbunden sind.“ 

®) Pfitzner bezieht sich auf vier Wiener Fälle von Synostosis calcaneo- 
navicularis: wir besitzen nur eine. Ich glaube, dass seine Notiz auf einer 
irrtümlichen Auffassung einer Bemerkung von Holl fusst. Holl meinte aber 
vier Synostosen von Calcaneus und Talus. 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel ete. 529 


ganz interesselos sein, wenn ich kurz auf sämtliche ın 
unserem Museum verwahrten Fälle von Koalitionen des Cal- 
caneus und Naviculare im weiteren Sinne eingehe. 

Bei genauer Durchsicht unserer 37 Skelete von Er- 
wachsenen (die reiche Sammlung von kindlichen und jugend- 
lichen Skeleten kommt nicht in Betracht: die Tarsalia sind 
—- aus technischen Gründen — nicht völlig maceriert) fanden 
sich, bei sorgfältiger Berücksichtigung vorhandener Montierungs- 
fehler, ausgesprochene Berührungen des Calcaneus 
mit dem Naviculare bei: 

Nr. 75, 2 aus Böhmen; am rechten Fuss; 

Nr. 84, d Mumie aus Theben; rechter Fuss; 

Nr. 418, 5 Australneger; rechts; 

Nr. 404, 5 aus Russland; rechter Fuss; 
ım ganzen 4 Fälle unter 74 Füssen. 

Bei diesen Fusswurzeln ist auf der dorsalen Fläche die 
Chopartsche Amputationslinie nicht beeinflusst. An der 
Plantarseite kommt es aber zu einer Berührung der beiden 
Tarsalknochen, indem sich Knochenvorsprünge in den Raum 
zwischen Talus und Cuboid einschieben. Diese Vorsprünge 
gehen, wie dies seinerzeit Zuckerkandl (1888) hervor- 
hob, teils vom Naviculare, teils vom Fersenbein aus. Beim 
Kahnbein handelt es sich um die plantare, fibulare, hintere 
(proximale) Ecke — die Tuberositas navicularis minor nach 
Wenzel Gruber. Vom Calcaneus beteiligt sich die — 
normalerweise kleine — Knochenzacke, die in der Mitte 


Die betreffende Stelle lautet: „Es haben jedoch nicht nur die Koalitionen 
vom Fersenbeine und Kahnbeine Plattfussstellung im Gefolge, sondern auch 
die anderer Knochen, so die des Fersenbeines mit dem Sprungbeine. Das 
Museum bewahrt von solchen -angeborenen synostotischen Verbindungen vier 
Fälle auf, welche von Zuckerkandl beschrieben wurden, ich habe dieselben 
in bezug auf die Stellung des ganzen Fusses untersucht und gefunden, dass 
sämtliche mit Plattfussstellung im Zusammenhange sind, wenn auch dieselbe 
nicht in dem Masse vorhanden ist wie bei Koalition des Fersenbeines mit dem 
Schiffbeine . . .“ 

35* 


530 RUPPRICHT, 


zwischen Facies cuboidea und sustentaculum gelegen, bei 
plantarer Ansicht diese beiden Teile des Fersenbeines deul- 
lich voneinander scheidet. Diese Zacke bildet mit ihrer distalen 
Fortsetzung eine dünne Leiste, die im Körper ziemlich genau 
horizontal eingestellt ist: dorsalwärts weist sie die Facies 
articularıs anterior, plantarwärts einen Teil der Facies articul. 
cuboidea auf. Dieser Knochenteil ist bei Berührungen (bei 
den Koalescenzen natürlich noch stärker) verdickt und er 
kommt dem Knochenvorsprung des Naviculare entgegen. Es 
will mir scheinen, als ob es sich bei diesem Knochenteile 
um dasselbe handelt, was Gruber und mit ihm Zucker- 
kandl als Sustentaculum talı anticum bezeichnet. 

Auf die in dieser Gegend vorkommenden überzähligen 
Tarsalknochen werde ich später noch zurückkommen. 

Die eben erwähnten Fälle von Berührungen sınd sehr 
ausgesprochene, natürlich ohne dass an den betreffenden Stellen 
(relenk- oder Koalescenzflächen vorhanden waren. Ob aber 


hier nicht doch Berührungen geringeren Grades — bis zu 
den „punktförmigen“ von Zuckerkandl — ganz erheblich 


häufiger vorkommen, als es das Verhältnis von 4:74 aus- 
drückt, lässt sich wohl vermuten, ist aber nach meiner Meinung 


am macerierten Fuss allein nicht zu entscheiden. 


Von Koalescenzen ım Sinne Pfıtzners also von 
Berührungen, Kontakten mit breiten Flächen fanden sich 


die folgenden: 


1. Nr. 271, Katalog-Angabe: Skelet eines rechten gering- 
eradigen Plattfusses, dessen Fersenbein mit dem Kahnbeine 
durch derbe Bindegewebs- und Knorpelmassen koaliert waren 


(Figg. 1 und 2). 


2. Nr. 272. Im Katalog bezeichnet: „Linker normaler Fuss 


desselben Individuums, wie unter 271 (Fieg. 3 und 4).“ 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 531 

Ich halte diese letztere Bezeichnung für unrichtig; man 
erkennt aus der Abbildung den, wenn auch kleinen, aber deul- 
lich flächenhaften Kontakt. Auch zeigt das Kahnbein am frei- 
gelegten Knochen eine deutliche Koalitionsfläche. 

3. Nr. 282, K. A.: Kongenitale Syndesmose zwischen 
Navieulare und Calcaneus durch straffe Bandmassen (Fig. 5). 

4. Nr. 283, K. A.: Skelet eines linken Fusses, dessen 
Kahnbein mit dem Fersenbeine durch straffe Band- und 
Knorpelmassen verbunden waren (Fig. 6). 

5. Nr. 284, K. A.: Fuss mit angeborener Koalition des 
Naviculare und Calcaneus durch straffe Bänder (Fig. 7 u. 8). 

Diese Fälle zeigen fast durchwegs das Wesen der Variation 
sehr schön und ich glaube, dass man sich aus den beige- 
eebenen Abbildungen und Hinweisen leicht über dieselbe 
orientieren kann. Wie schon oben erwähnt, sind einige der 
Fälle publiziert (Zuckerkandl 77, 80), auf welche Abhand- 
lungen ich den näher Interessierten verweisen möchte. Ich 
will hier nur die Haupteigentümlichkeiten aller Fälle kurz zu- 
sammenfassen. 

Dorsal betrachtet fällt besonders die Unterbrechung der 
Chopartschen Linie auf, die dadurch ihrem Wesen nach 
als Amputationsstumpffläche verloren geht (Figg. 1, 6, 8!). 
Von lateral her sieht man, dass der Sinus Tarsı beträchtlich 
erweitert, das Naviculare nach der fibularen Seite verbreitert 
(Fig. 6) und an diesem Ende etwas nach hinten verschoben 
ist. So kommt es auch immer zu einer Articulatio cuboidea- 
navicularis und zugleich sind die ziemlich nahen Beziehungen 
des Cuboides zum Taluskopf in erheblicher Weise gestört. 
Der dorsale Anteil des sogenannten Processus anterior calcaneı 
ist verdickt, z. B. besonders nach der Facies articularıs cuboidei 
hin. Verfolgt man nun diesen Teil bis auf die plantare Seite, 
so erkennt man deutlich die mächtige Knochenzacke und -leiste 


532 RUPPRICHT, 


zwischen Facies cuboidea und sustentaculum, welche ich schon 
oben gelegentlich der „Berührungen“ erwähnte. 

Durch die starke mediale Ausbreitung des vorderen 
Calcaneusendes kommt es auch im allgemeinen meist zu einer 
kräftigeren Form des Knochens. So messe ich hier bei einer 
Länge von 78,4 mm, die ungefähr einem normalen Mittel- 
mass entspricht, an grösster Breite 62,0 mm, gegen eine 
mittlere Breite von 43,4 mm. 


Die Masse der Fusswurzelknochen sind bisher von anatomischer Seite 
weniger beachtet worden und bevor ich die ausführliche Arbeit von Laidlaw 
zur Hand bekam, hatte ich mir, um wenigstens einen kleinen Anhalt zu haben, 
die grössten Längen-, Breiten- und Höhenmasse von einer kleinen Serie (44 Stk.) 
gut macerierter nicht gefasster Fersenbeine von Erwachsenen notiert. Ich 
fand im Mittel 77,2 Länge, 43,4 Breite und 43,5 grösste Höhe (an der Calx.). 

Laidlaw, dem vom Cambridge-Museum die stattliche Zahl von 750 
Calcanei zur Verfügung stand, bringt leider keine Mittelzahlen; statt dessen 
Breite x 100 

Länge 
einen durchschnittlichen Wert von 50—60. Wenn ich ebenso verfahre, komme 
ich auf Indexwert 56,2, so dass ich in Höhe und Breite ziemlich gleich gemessen 
habe. Die Anthropologen Volkow, Testut und Reicher messen die mittlere 
Breite; es hätte mich zuweit geführt, auf die äusserst genauen und subtilen 
Masse der anthropologischen Technik einzugehen und es sollen hier meine be- 
scheidenen Massangaben nur eine ungefähre Vorstellung des Mittelwertes geben. 
Für genaue anthropologische Masse kann ich am besten auf Reicher (1913) 
verweisen. 


aber einen Breitenlängenindex. Er setzt Ind = und erhält 


An Synostosen, d. h. an wirklichen Knochenverschmel- 
zungen weist die Sammlung 1 Exemplar auf. Fig. 9 zeigt 
die plantare Ansicht, weitere dorsale Ansichten findet man 
bei Holl (Langenbecks Archiv Bd. XXV, Heft 1), der 
den Fall ausführlich beschrieben und erörtert hat. Im 
übrigen ist der gleichmässige Übergang der Knochenmasse des 
Naviculare in die des Fersenbeines aus der Figur wohl ohne 
weiteres ersichtlich. 

Die Verschmelzungen im Zustande des knorpeligen Skeletes 
von Calcaneus und Naviculare zu einem Knorpel sind bisher 
im Museum durch 2 Füsse von einem Kinde (Neugeborenen) 
vertreten. Diese um es gleich hier vorauszuschicken — 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 533 


seltenen Fälle von Knorpelbund sind ebenfalls von Holl 
(Langenbecks Archiv .Bd. XXV, Heft 4) veröffentlicht 
worden. Von einer weiteren Abbildung derselben musste ich 
absehen : die Präparate haben durch ungeeignete Konservierung 
mit der Zeit sehr gelitten. 

Ich verdanke nun der grossen Liebenswürdigkeit meines 
verehrten Chefs, Professor Hochstetter, die Möglichkeit 
über einen weiteren Fall von Knorpelbund zu berichten, der 
nunmehr auch dem Bestande des Wiener Anatomischen 
Museums hinzugefügt wurde. Das Präparat wurde seinerzeit 
zur Darstellung der Knochenkerne an einem kindlichen etwa 
11/,jährigen Fuss angefertigt und stellt einen Flachschnitt 
(untere 3/, des Fusses) parallel zum Dorsum pedis dar. Es 
wurde vor längerer Zeit unter dem Demonstrationsmaterial 
zurückgestellt und an demselben gelegentlich einer Hauptreini- 
gung vom Diener Leberl als erstem eine Unregelmässigkeit 
am Tarsus gefunden. Fig. 10 zeigt die dorsale Ansicht des 
angeschnittenen Fusses. Vom medialen zum lateralen Fuss- 
rand erstreckt sich die gleichmässige Knorpelmasse ent- 
sprechend den Stellen, an welchen man in gleicher Höhe auf 
Naviculare und Proc. anter. calcanei im Schnitte trifft. Dabei 
ist der sonst (bei x) zwischen beiden Tarsalien befindliche 
— übrigens bei einer derartigen Schnittfläche nicht sehr 
grosse — Raum durch Knorpelgewebe völlig ausgefüllt. Der 
vordere Rand des gemeinsamen Knorpelstückes ist ın der 
medialen Hälfte schwach konvex, in der lateralen ziemlich 
stark konkav. An diesem vorderen Rande beträgt der grösste 
(längste) Durchmesser (vom inneren zum äusseren Fussrand) 
29 mm, bei einer grössten Fusslänge von etwa 107 mm. Die 
Breite der dorsalen Fläche beträgt in der Mitte des Naviculare 
— an der Grenze des Ento- und Meso-cuneiforme gemessen — 
6,5 mm; an der Übergangsstelle, also etwa gegenüber des 


- 


Gelenkspaltes zwischen Eeto-cuneiforme und Cuboid: 5 mm. 


or 
sw 
> 


RUPPRICHT, 


Diese Mächtigkeit des Knorpels an der Übergangsstelle bleibt, 
in die Tiefe verfolgt, ziemlich gleich stark, nur dicht an der 
plantaren Oberfläche ist sie etwas geringer, aber immer noch 
4 mm dick. Es findet sich also nirgends ein gegen das Volumen 
der beiden Tarsalia deutlich abgesetzte Brücke, sondern ein 
gleichmässiges Übergehen des einen Tarsalknorpels in den 
andern. 

Um das Präparat in seinem Zusammenhange nicht zu 
zerstören, habe ich von der nicht präparierten, plantaren Seite 
nur soviel freigelegt, um das unmittelbare breite Übergehen 
der Knorpelsubstanz eines sonst vorhandenen abgegrenzien 
Naviculare in eine solche des Calcaneus zu übersehen. Fig. 11 
stellt diese Ansicht dar: in dem Raum zwischen Taluskopf 
und Tuberculum post. des Cuboid ist die Knorpelmasse (x-x) 
zu erkennen. Medial ist ein Teil des Ligament. calcaneo- 
naviculare plantare, lateral das Ligament. calcaneo-cuboideum 
plantare dargestellt. 

Der tiefe Teil der Pars calcaneo-navicularıs des Ligam. 
bifurcatum ist wahrscheinlich gar nicht vorhanden. 

Die distale Fläche des gemeinsamen Knorpelstückes dient 
zur Artikulation der distalen Tarsalia. Vier Gelenkfacetten 
folgen sich in einer Reihe: I, II und Ill für die entsprechenden 
Cuneiformia (Fig. 12) und dann folgt eine grosse Gelenkfläche 
(cu) für das Cuboid. Diese ist in der Mitte vertieft, und zwar 
stossen in einer vertikal verlaufenden Rinne in einem Winkel 
von etwa 150% eine grössere laterale Gelenkfacette mit einer 
kleineren medialen zusammen. Beide sind ziemlich plan und 
korrespondieren mit entsprechenden Facetten des Cuboids, 
dessen Gelenkfläche — proximalwärts — somit von der üb- 
lichen oval-sattelförmigen abweicht. 

‘s findet sich also — kurz zusammengefasst — ein 
überall einheitliches Knorpelstück, dessen Hauptflächen (dorsal, 


plantar, distal) nach Form und Funktion entsprechend und 


Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 37/38. 


Fig. 1. Fig. 2. 
Cc cenz von Kahn- und Fersenbein. Fig. 6. 
Dorsalansicht,. (Katalog N 1.) 2/5 Plantaransicht. 


(Zu 


7 Dorsalansicht ?/,. 
Plantare 


b Ya. (Katalog Nr. 283.) 


Syndesmose, 


Fig. 3. Fig. 4. 
Conlescenz von Kahn- und Fersenbein. y 
Dorso-laterale Ansicht. ] 


Fig. 8. 
Dorsalansicht %/. 


Plantaransicht. 


Is 
(Katalog Nr. 


Verlag von J. F. Berfmann in Wiesbaden. 


Anatomische Hefte. 1. 


Talus 


Susten- 
taculum 


n > Ver- 
a Talus mit Kuöch erben 
_ ER Knochen- al 
Fig. 9. Ban 
Synostose-Plantaransicht '/,. 
Dorsaler 
——— (hinterer) 
Anteil! 
la BS—3X 
| 
Cuboid Tub. 
post. ecub. _ dors. 
Z ER Fr 
N er T 
Lie. cale. II, Er 7 Lig. calec. nav. plant. — = IB 
cub. plant. ; F ER (2 RR } \ 
F Taluskopf R \ 
l. “ Am: 1» m. 
Calcaneus ——. Fig. 12. 
(calx.) 
D- 
Fig. 11 


Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3). Tafel 39. 


Naviculare 


Calcaneus 


Naviculare 


—Rnorpel 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


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des Calcaneus 


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_ Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 40, 


Fig 19: 


Ruppricht. 


 Königl.Universitätsdrcckerei H.Stürtz AG Würzburg. Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 535 
einheitlich gestaltet sind. Die Formen eines Calcaneus und 
Navieulare sind nur an den medialen, lateralen und proxi- 


malen Teilen dieses eigenartigen Knorpels zu erkennen. 


I. 


Findet sich ein solches Knorpelstück im menschlichen 
Tarsus häufig? Kann man insbesondere das Auftreten eines 
gemeinsamen Knorpels an Stelle von Calcaneus und Naviculare 
oft beobachten ? 

Pfitzner behandelt in seinem Beitrag zur Kenntnis des 
menschlichen Extremitätenskelets betreffend das Fussskelet, 
vom Jahre 1896, die bis dahin erschienene Literatur sehr 
genau und ich kann wohl annehmen — fast erschöpfend. Er 
fand nun von Verbindungen aller Arten des Naviculare und 
Calcaneus, die er unter dem Sammelnamen „Concrescenzen“ 
(also Koalescenz, Synostose, Fusion, Assimilation) zusammen- 
lasst: 

Durch eigene Beobachtungen: 15 Fälle, aus der Literatur: 
38 Fälle; hiervon waren wirkliche Knochenverschmelzungen 
(Synostosen) bei den eigenen Beobachtungen: kein Fall, ın 
der Literatur angeführt: 9 Fälle. 

Nach seinen Erfahrungen aber glaubt er, dass unter den 
9 Fällen „es nicht ausgeschlossen sei, dass einzelne dieser 
Fälle eine Synostose nur vortäuschen“. Ich ersehe nun aus 
seinen Literaturangaben, dass es sich bei seinen 9 Fällen nur 
um folgende handeln kann: Cruveilhier (1), Wedding (2), 
Holl (1), Leboucg (1), im ganzen also 5 Fälle bis zum 
Jahr 1896. Denn die 4 Synostosen des Wiener Museums, die, 
wie ich es bereits oben darlegte, Talus-Calcaneus-Verschmel- 
zungen darstellen, sind abzuziehen. Von 1896 ab fand ich 
bis zum Jahre 1913 keinerlei Erwähnung. 

Wenn man nun bedenkt, welch grosse Zahl von Tarsen 


und einzelnen Tarsalknochen (hierbei auch besonders von 


536 RUPPRICHT, 


Caleanei und Navieularia) — seitdem die Aufmerksamkeit auf 
die Zusammensetzung des Tarsus gelenkt wurde, man könnte 
vielleicht sagen seit den Zeiten des Entdeckers des Os 
vesallanum -—- untersucht wurden, so ist die Zahl der be- 
kannten Fälle unserer Variation eine sehr geringe. 

Um dies Zahlenverhältnis näher zu beleuchten, will ich 
erwähnen, dass Pfitzner (1896) 520 Füsse (nach Schwalbe 
im ganzen 1600) genau untersuchte; Laidlow (1904) 750 
Calcanei, Hasselwander 301 Füsse (1905) und Manners- 
Smith 600 Navicularia im Jahre 1907 durchsahen. Wenn 
ınan ferner in Betracht zieht, dass bei jedem Gelenkpräparat 
eine so auffallende Veränderung nicht gut übersehen werden 
kann und z. B. am Präpariersaal des hiesigen II. Anatomischen 
Institutes jährlich etwa 250 Füsse nur auf Gelenke präpariert 
werden, dass endlich seit Anwendung des Röntgenverfahrens 
von anatomischer und besonders von chirurgischer Seite eine 
sehr grosse Zahl von Füssen auf diesem Wege untersucht 
wurden, dann kann man wohl annehmen, dass die Zahl 5 
im Vergleich zu den Tausenden allein in den letzten 20 Jahren 
untersuchten Objekten eine verschwindend kleine, die Selten- 
heit der Varietät also eine ausserordentlich hohe ist. 

Ganz ähnlich verhält es sich mit den „Verschmelzungen“ 
im Knorpelstadium. In Pfitzners Angaben finde ich 7 Fälle, 
von Verneuil 2 Fälle, von Holl 2 und Weber 3. Von 
letzteren betreffen zwei Fälle die Füsse eines 13 jährigen 
Knabens (das Original war mir leider nicht zugänglich): nur 
eine relativ schmale — 5 mm dicke — Knorpelbrücke stellt 
die Verbindung dar. Zu diesen könnte man hier vielleicht 
die beiden Gruberschen Fälle (Beobachtungen 1879, Heft 1), 
denen Gruber als Vergleich nur die Verneuilschen Fälle 
als genügend erachtet, hinzuzählen. (Leider fehlen bei Gruber 
die Abbildungen. An Beweismaterial sind aber die Verneuil- 


B 


schen Fälle ja auch nicht glänzend ausgestattet: man findet 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 537 


nur den Abdruck einer mündlichen Mitteilung, die Verneuil 
an Robert [des vices congenitaux de conformation des arti- 
culation, Paris 1851] machte!) 

Zu den sicheren Fällen muss ich aber noch einen von 
Leboucg publizierten Fall bei einem Fötus von 25 mm Länge 
hinzufügen. Diese Angabe ist wohl Pfitzner entgangen; mir 
aber erscheint sie ziemlich wichtig und ich bringe daher in- 
Fig. 13 die Pausreproduktion der Leboucgschen Abbildung. 
Bei seiner Längenangabe sehen wir hier einen der frühesten 
Typen eines gemeinsamen Kahn- und Fersenbeinknorpels, zu 
einer Zeit, in der sich noch nicht das betreffende skeletogene 
Blastem ganz in Knorpel umgesetzt hat. Zum Vergleich gebe 
ich daneben (Fig. 14) eine Abbildung eines Schnittes eines 
Embryos von fast gleicher Grösse — 27 mm. Diese, wie 
die später gegebenen Abbildungen von Schnitten embryonaler 
Extremitäten sind dem reichen Serienmaterial des Herrn Prof. 
Hochstetter entnommen, welcher mir dieselben in gütigster 
Weise zur Verfügung stellte. 


Kompakte Knorpeleinheiten, wie sie der Leboucgqsche 
und der oben von mir neu publizierte Fall so klar und deutlich 
zeigen, sind zur Beurteilung der Genese, auf die ich im folgen- 
den alsbald eingehen werde, sehr wichtig. Was aber die 
Frequenz der knorpeligen Variante anlangt, so muss ich noch 
erwähnen, dass ich auch hierfür die Literatur nach der 
Pfitznerschen Arbeit (über Tarsus), also von 1896 ab, sehr 
genau durchgesehen habe, und dass ich selbst unter anders 
lautenden Titeln keine neuere Beobachtung von ‚„Knorpelver- 
schmelzung‘“, richtiger: Knorpeleinheit oder Knorpelbund 
zwischen Calcaneus und Naviculare gefunden habe. 


Ich möchte daher über die Häufigkeit des Vorkommens 
unserer Varietät mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, dass sie 


ebenso wie die der Synostosen eine ausserordentlich seltene ist. 


538 RUPPRICHT, 


8 


Was nun die Deutung dieser Varietät betrifft, so möchte 
ich vorweg kurz erwähnen, dass es sich in unserem Falle 
wirklich um eine Varietät und nicht um einen patho- 
logischen Zustand handelt. Weder an dem Knorpel- 
stück selbst noch in seiner Umgebung ist irgend etwas von 
einer vorliegenden oder abgelaufenen Veränderung wahrzu- 
nehmen. 

Auch sekundär — post partum — ıst diese Knorpelein- 
heit nicht entstanden; ich brauche wohl kaum zu erwähnen, 
dass wir heutzutage nach unseren Erfahrungen am embryonalen 
Extremitätenskelet diese Varietät als eine kKongenitale be- 
zeichnen müssen. 

Was die weitere Behandlung und Beurteilung einer Varietät 
— von der chirurgisch-anatomischen Wichtigkeit abgesehen — 
anlangt, so möchte ich mich der Ansicht W. Krausest) 
anschliessen: „Wie die anatomischen Varietäten gewöhnlich 
behandelt werden, bilden sie wahrscheinlich das langweiligste 
Kapitel der Naturwissenschaften überhaupt. Ganz etwas anderes 
ist es, wenn bei der einzelnen Varietät ihre ontogenetischen 
und phylogenetischen Beziehungen aufgedeckt werden können, 
aus denen ihr Vorkommen zwar nicht eigentlich erklärt, aber 
doch dem Verständnis näher gebracht werden kann. Leider 
ist dies nicht immer der Fall!“ 

Will man die Varietät ontogenetisch erklären, so kann 
man wohl nur zwei Fragen erheben. Gibt es im Verlaufe der 
Entwickelung des Tarsus einen Zustand gemeinsamer Anlage 
von zwei oder mehr Tarsalelementen, insbesondere des 
Calcaneus und Naviculare und kann ein Bestehenbleiben dieser 


gemeinschaftlichen Anlage die Form unserer Varietät erklären ? 


!) Handbuch der Anatomie (herausg. v. Bardeleben), Skelett der oberen 
und unteren Extremität. Jena 1909. 


I. Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3). 


Anatomische Hefte. 


I, II, III. 
Cub, 


Nav. 


Calc. 
Talus. 


Fig. 16. 


Embryo humanus 19,4 mm. 


Anlage des Gelenkspaltes 


Nav. 


Knorpel 


—- Grenzsaum \a k h 
—Randschicht | nes 


Verlar von J. 


F, BereMaun in Wiesbaden. 


Tafel 41/42. 


Randschicht 


Golenkspaltanlage (noch von Gewebe 
— schraffierte Linien — ausgefüllt) 
1 


Blastem noch undifferenziert, die 
Randschicht noch nicht abzugrenzen 


Fig. 19. 


Gelenkspalt 


nicht ganz 
entwickelt 


noch nicht 
vorhanden 


Randschicht des Naviculare überall, 
auch gegen Calc. abgegrenzt. R 
Die schraffierten Linien deuten das verschieden entwickelte Zwischengewebe an. 


Fig. 20. 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel ete. 531 


Oder kommt es entwickelungsgeschichtlich bei gesonderler An- 
lage aller Tarsalknochen später zu Verschmelzungen, die durch 
stärkeres Auftreten zu einem Calcaneanaviculare führen 
können ? 

Untersucht man — um der ersten Frage näher zu treten -— 
eine Schnittserie durch einen der äusseren Form nach bereits 
ziemlich gut entwickelten embryonalen Fuss, etwa bei einem 
Fötus von 25-30 mm grosser Länge, so findet man die Tarsalıa 
schon in fast vollkommener Knorpelausbildung! Wir müssen 
also schon sehr weit zurückgehen, wollen wir die ersten An- 
lagen der Tarsalia, d. h. die ersten Knorpelkerne aufsuchen. 
Und damit geraten wir alsbald in technische Schwierigkeiten. 
Wie bekannt, treten die Knorpelkerne ım Zentrum der be- 
treffenden skeletogenen Partie auf; es ist aber in sehr frühen 
Stadien sehr schwer, genaue Grenzen zu ziehen und dadurch 
unmöglich, mit Bestimmtheit die eine oder andere kernlichtere 
Stelle als „Anlage“ zu bezeichnen. 

Dank der grossen Liebenswürdigkeit meines Chefs konnte 
ich aus der „Sammlung Prof. Hochstetter‘ sieben Serien 
untersuchen, von welchen ich selbst 4 geschnitten hatte. Es 
fand sich nun bei 12,5 mm grösster Länge (Embr. hum. Ma,) 
drei deutliche Knorpelanlagen, wie aus‘der beigegebenen Fig. 15, 
die nach einem der charakteristischsten Schnitte der Serie 
abgezeichnet wurde, zu ersehen ist. Nach ihrer Lage aber 
könnte ich sie nicht zum Tarsus zählen, höchstens vielleicht 
die beiden distalen und es wäre dann das proximale etwa 
als Tibiaanlage anzusprechen. Jedenfalls aber kann man sagen, 
dass zu dieser Zeit (bzw. bei dieser Grösse) von einer Unter- 
scheidung der ersten knorpeligen Tarsalanlagen gewiss noch 
nicht die Rede sein kann! 

Betrachtet man dagegen ein späteres Stadium, so findet 


man bei 19,4 mm grösster Länge (Embr. hum. Ma,, Fig. 16) 


te} 


540 RUPPRICHT, 


den distalen Teil der Tarsalelemente — z. B. besonders gut 
erkennbar das Cuboid — gut abgegrenzt, während die Grenzen 


der proximalen Tarsalien noch etwas verwaschen ineinander 
übergehen. Auf der Zeichnung findet man im Zentrum dieser 
Gruppe von Knorpelanlagen einen Gefässdurchschnitt (die den 
Tarsus perforierende Hauptarterie des Fusses), der uns am 
besten auf die Unterscheidung der einzelnen proximalen An- 
lagen hinweist, besonders zwischen Talus und Calcaneus. 

Wir können also beim ersten Bilde (Fig. 15) keine, beim 
zweiten (Fig. 16) alle Anlagen der Tarsalknorpel mit Bestimmt- 
heit erkennen. Zugleich aber erkennt man im letzteren Falle, 
dass die Anlagen gesondert sind. 

Aus dem Umstand allein, dass die Grenzen verwaschen 
sind, darf man aber nicht schliessen, dass die Anlage zweier 
oder mehrerer Tarsalia früher gemeinsam war, und dass dann 
eine Sonderung einsetze, die zur Zeit des Bildes noch nicht 
ganz abgeschlossen wäre. — Es ist natürlich auch denkbar, 
dass die beiden Tarsalelemente unserer Varietät in früher 
Zeit — vielleicht auch in ihrer Anlage — kontinuierlich zu- 
sammenhingen und ihre weitere Umwandlung in Knorpel so 
vor sich ging, dass gleich eine einheitliche Knorpelmasse für 
beide Skeletelemente erscheint. Doch ist das Vorkommen eines 
solchen Vorganges nicht — bewiesen. Nur eine umfassende 
Untersuchung der Tarsen menschlicher Embryonen innerhalb 
der obigen Grössen, also etwa zwischen 13 und 19 mm, könnte 
weitere Aufschlüsse ergeben. Allerdings ist es nicht leicht, 
für diese Stadien reichliches, wirklich frisches und wirklich 
gut konserviertes Material zusammenzubringen. 

Es lässt sich die Annahme einer Entstehung der Varietät 
aus einer einheitlichen Anlage aber auch nicht ohne weiteres 
von der Hand weisen. Analoge Fälle liessen sich wohl auch 
aus den Beobachtungen der Entwickelungsgeschichte finden. 


Ich will nur erinnern an das bei einer Reihe von Säugetieren, 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel ete. 541 


besonders bei den Carnivoren bestehende Scapholunatum. Seit 
Cuviers Zeiten wird dieser Knochen aufgefasst als aus 
zweien zusammengesetzt — seine Anlage aber ist ein einheit- 
licher Knorpel, wie wir es schon aus dem Gegenbauer 
gelernt haben. 

Aber ich möchte wiederholen: bisher haben wir Beweise 
für eine solche Annahme beim menschlichen Tarsus nicht. 

Die zweite Frage: ob bei gesonderter Anlage der Tarsal- 
knochen im regelrechten Verlauf der Entwickelung Verschmel- 
zungsprozesse auftreten, die dann erst zu normaler Zahl und 
Form der Tarsalelemente führen? — Diese Frage setzt zu- 
gleich die Annahme voraus, dass vor der angenommenen Ver- 
schmelzung mehr Knorpel ganz oder teilweise (rudimentär) 
angelegt, oder einzelne Knorpelanlagen von grösseren Dimen- 
sionen, mit vorübergehenden Fortsätzen etc. in der Regel 
gebildet werden !t). 

Diese Frage wäre ontogenetisch eigentlich kurz mit „nein“ 
zu beantworten, wenn nicht vielfach die Verführung bestände, 
die Ontogenese des Carpus, bei dem ja regelmässig ein Karpal- 
knorpel verschmilzt, auf den Tarsus zu übertragen, und — 
wenn nicht gerade bei der uns vorliegenden Varietät das Navi- 
culare beteiligt wäre. | 

Das Os naviculare tarsı wird vielfach homologisiert mit 
dem Centrale carpı, und wenn sich nun mit ihm und bei ihm 
Unregelmässigkeiten im Aufbau des Tarsus ergeben, wenn be- 
sonders anscheinend Verschmelzungen vorliegen — dann mit- 
unter erst recht. „Manchmal findet sich“, schreibt R. Fick 2), 


1!) Selbstverständlich kommen in der Entwicklung sowohl des Carpus 
wie des Tarsus mitunter (vielleicht auch häufiger als bisher bekannt) über- 
zählige Knorpel-Anlagen und -Teile vor, deren Kenntnis wir unter anderen 
besonders Pfitzner und Thilenius in letzter Zeit verdanken. Das ist aber 
nicht die Regel. Auf ihre phylogenetische Bedeutung komme ich später. 

2) Anatomie und Mechanik der Gelenke, I. Teil. Jena 1904 (Handb. d. 
Anatomie, herausgeg. v. Bardeleben). 


542 RUPPRICHT, 
„auch ein kleines oder grösseres (selenk zwischen der lateralen 
Kahnbeinkante und der oberen Kante des Processus anterior 
les Fersenbeines. Dann zeigt das Kahnbein so recht seinen 
primitiven Charakter als ‚Os centrale tarsı‘, indem es mil 
allen Tarsalknochen artikuliert. — — Statt gelenkiger Ver- 
bindung kommt auch hyaline Synchondrose oder gar Koales- 
cenz vor.“ 

Und ähnlich äussert sich Leboucgq (l. ce. 90) bei der 
Deutung seines bereits oben (S. 537, Fig. 13) erwähnten Falles 
von einem Fötus von 25 mm Länge. Der Embryo befände 
sich zeitlich in einem Entwickelungsstadium, innerhalb dessen 
er annimmt, dass Verschmelzungen auftreten (s’etablit la 
soudure). Er meint eine Epoche, in der die embryonalen 
Knorpel vollständig differenziert werden, eine Epoche, in der 
an der Hand auch das Os centrale carpı mit dem Naviculare 
verschmilzt. 

Von der Berechtigung, das Os navic. tarsi überhaupt mil 
dem Os centrale mehr weniger homologisieren zu können, 
hier ganz abgesehen, erwecken diese Ausführungen von 
Leboucegq den Eindruck, als ob unter Bezugnahme auf Vor- 
gänge beim Carpus!) die Vorstellung zugrunde läge, dass zu 
einer gewissen Zeit der Tarsalentwickelung, seien es Teile 
der angelegten Knorpel, seien es uns bisher unbekannte 
Knorpel — zwecks regelmässiger Entwickelung — Verschmel- 
zungen eingehen müssten, damit die kanonische Zahl und Form 
der Fusswurzelknochen zur Ausbildung komme. Eine dimen- 
sional stärkere Verschmelzung müsste dann die Erscheinung 
eines gemeinsamen Calcaneonaviculare erklären. 

Ich kann diesem Wege nicht folgen, ich kann mir ein 
solches Knorpelstück nicht aus einer Änderung des normalen 


Entwickelungsmechanismus -—- also rein ontogenetisch — er- 


!) Hier ist ja ein Verschmelzungsvorgang (Centrale carpi) und dadurch 
eine Verminderung der Knorpelzahl von 9 auf 8 die Regel. 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 543 


klären, sondern ıch halte dasselbe [für den Ausdruck einer 
unmittelbaren Varietät beim lölus, genau wie — längere Zeit 
später — eine solche Synostose eine Varietät beim Erwachsenen 
ist. Und ıch kann in dieser Beziehung Pfitzner nur bei- 
pflichten, wenn er fand, „dass man beim lKimbryo voraus- 
sichtlich ebensogut eine gewisse Variationsbreite zu erwarten 
hat, wie beim Erwachsenen. Vielleicht hat das eigentümliche, 
geradezu eine Ausnahme bildende Verhalten des 
Centrale carpi beim Menschen dazu verführt, die individuelle 
Variation der einzelnen Embryonalstufen zu übersehen“. 

Um aber in dieser Frage noch sicherer zu gehen, sah 
ich noch eine Reihe von Schnitten durch embryonale Füsse 
daraufhin durch, ob irgendwelche Anhaltspunkte für Verschmel- 
zungsvorgänge im allgemeinen und am Umkreis des Os navi- 
culare im besonderen vorliegen könnten. 

Um welche Stadien kann es sich dabei handeln? Wenn 


ich noch einmal auf Fig. 15 verweisen darf, so erkennt man 


ohne weiteres, dass ein Präparat aus dieser Zeit ——- grösste 
Länge von 12,5 mm — viel zu jung ist. Erst von etwa 


18—-19 mm grösster Länge!) ab (Fig. 16) kann eine Unter- 
suchung in Betracht kommen. Die Figur lässt, wie schon 
früher erwähnt, alle Tarsalia erkennen: wo ihre Peripherie 
noch undeutlich abgegrenzt ist, da 'hat sich das ursprüngliche 
embryonale (Gewebe noch nicht differenziert. 

Bald darauf bei 20 mm grösster Länge (Embr. hum. Eh,) 
fand ich in den Schnitten der Serie überall deutlich abge- 


!) Ähnlich Lebouegq für den Carpus: In seiner umfassenden Arbeit über 
den Carpus (Recherches sur la morphologie du carpe, in Arch. d. biolog. Tome V, 
1884), der die Erfahrungen aus den Schnittserien von 65 Händen menschlicher 
Embryonen vom 2.-—-5. Monat zugrunde liegen, fand er den Beginn der Ver- 
schmelzung des Centrale bei 13 mm; das Ende bei 50 mm: also einer relativ 
langen Epoche. Ähnliche Angaben für den Carpus macht Thilenius, der 
nach Untersuchung von Schnittserien von 126 Händen: in der ersten Hälfte 
des zweiten Monats — also wohl auch bei gleicher Grösse — die 9 Carpalia 
deutlich erkennbar findet. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164 Heft (54. Bd, H. 3). 36 


544 RUPPRICHT, 


erenzte Knorpelanlagen. Ich konnte hier alle 7 Tarsalıa fest- 
stellen und fand, was die Zahl betrifft, nıcht mehr — aber 
auch nicht weniger. 

Doch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich an 
2-3 Schnitten dieser Serie gerade ım (rebiete des Calcaneus 
und Naviculare eine Art Übergehen der einen Knorpelanlage 
in die andere fand. Ob es sich hier auch um eine Varietät 
handelt, lässt sich nicht sagen; denn einmal handelt es sich 
nur um wenige Schnitte, ferner war das Objekt nicht ganz 
einwandsfrei konserviert und endlich kann auch, bei einem 
eigentümlichen Schnittbild, eine besondere Schnittrichtung 
manches vortäuschen. 

Es wäre hierbei zu bemerken, dass, wenn man an Schnitten 
eine scharfe Grenze zwischen zwei Skeletanlagen, bzw. ıhren 
oberflächlichen Schichten nıcht wahrnehmen kann, solche 
Grenzen doch ganz gut vorhanden sein können. Die Grenze 
wird vielfach nicht sichtbar, weil an den Stellen, an welchen 
sie der Schnitt trıfft, gerade die Anlage eines die Skeletteile 
verbindenden Ligeamentes durchschnitten wurde, oder aber weil 
der Schnitt die Trennungszone zwischen den Skeletelementen 
in schiefer Richtung getroffen hat. Die Untersuchung und Be- 
schreibung solcher Schiefschnitte hat ja auch schon vielfach 
zu bösartigen Trueschlüssen geführt, ein Umstand, auf den 
mich öfters mein Chef Prof. Hochstetter hinwies. 

Kin nicht ganz gleiches, aber doch sehr ähnliches Stadıum 
von ca. 23 mm grösster Länge (Embr. hum. provis.: San. Löw), 
das ich zum Vergleiche in eine lückenlose Serie zerlegte, 
zeigte von solchen Beziehungen nichts! 

Von 27 mm grösster Länge (Embr. hum. Ha,) ab. ist 
das Bild der Tarsalknorpel sehr viel deutlicher. Der Knorpel- 
kern ist jetzt relativ sehr gross, er setzt sich scharf gegen 
seinen Grenzsaum ab (cf. Fig. 17). 


An vielen Gelenkstellen beginnt bereits die Anlage des 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 545 


späleren Gelenkspaltes sich geltend zu machen. An anderen 
Stellen dagegen kann man auch bei gut abgegrenzten Knorpel- 
anlagen von einer Trennung in je 2 nachbarliche Grenzschichten 
des Gelenkspaltes noch nichts erkennen. 

Diese beiden Stadien der (Grewebsentwickelung sind aus 
den beiden Figg. 17 und 18, die nach ziemlich benachbarten 
Schnitten gezeichnet sind, wohl ohne weiteres aus den Hin- 
weisen erkennbar. 

(Ich habe absichtlich nicht eine Stelle im Zwischenraum 
zwischen Calcaneus und Naviculare ausgesucht, um dies nicht 
besonders ın den Vordergrund treten zu lassen. Die betreffende 
Stelle weist hier ebenfalls noch keine Anlage eines (Gelenk- 
spaltes auf; es liegt mir aber gerade daran, die Aufmerksamkeit 
auch auf die vielen anderen Stellen des Tarsus zu lenken, 
in denen zu dieser Zeit die Anlage des Gelenkspaltes eben- 
falls noch nicht begonnen hat. Unbeschadet einer abschliessen- 
den Zusammenfassung möchte ich aber doch schon jetzt be- 
merken, dass ın diesen Stadien (27 mm grösster Länge), in 
denen schon so reichlich Gelenkspalten auftreten, dort, wo 
sich diese finden, an eine nunmehr einsetzende Verschmelzung 
zweier Knorpel doch gar nicht mehr zu denken ist. Aber 
auch da, wo noch kein Gelenkspalt aufgetreten ist (8. en 
Fig. 18), da ist doch die Knorpelabgrenzung so vorherrschend, 
dass auch hier ein Verschmelzen im weiteren Entwickelungs- 
verlauf kaum zu erwarten ist! 

Aber ich will nicht weiter vorgreifen.) 

Etwas später bei Embryo E, (grösste Länge 37,6 mm) 
ıst entsprechend alles wesentlich weiter fortgeschritten. An 
den Gelenkstellen kann man teilweise schon sehr deutliche 
Spaltbildungen wahrnehmen; wo dies nicht der Fall ist, so 
heht sich doch das am späteren Gelenkspalt befindliche Ge- 
webe durch seine viel lockere Konsistenz von den (renz- 


schichten der beteiligten Knorpel sehr viel deutlicher ab als 


36* 


546 RUPPRICHT, 


früher. Die Stellen der Tarsalgelenke aber, bei denen eine 
Differenzierung des Gewebes der Gelenkanlage noch gar nicht 
stattgefunden hat, sind weniger zahlreich. Ich füge zwei Ab- 
bildungen (Figg. 19 und 20) bei, aus denen man diese Ver- 
hältnisse ersehen kann. Es sind im Vergleich zu den vielen 
Durchschnitten von Gelenkflächen, die ins Gesichtsfeld treten, 
nur wenige Stellen, die noch undifferenziert geblieben sind. 
Auch der Raum zwischen Calcaneus und Naviculare ıst an 
manchem Durchschnitt noch nicht gesondert; allein eine Reihe 
anderer Stellen verhalten sich ebenso. (Gerade hier ist aber 
an das weiter oben {S. 544) Ausgeführte zu denken. Neben 
schiefen Schnittebenen, welche die Grenzen verdecken, kommt 
hier besonders die Anlage der verbindenden Ligamente in 
Betracht. 

So findet man mit der nächsten Serie (menschl. Embryo 
68 mm Steiss-Scheitellänge), die naturgemäss schon eine viel 
spätere Entwickelung darstellt, und nicht völlig ausgebildete 
Gelenkspalten schon sehr in der Minderheit, fast nur aus- 
nahmsweise, aufweist — ein Paar interessanter Bilder, die 
auch ein gewisses Licht auf die Lageverhältnisse zu dieser 
Zeit werfen, die Berührungsflächen von Naviculare, Cuboid, 
Calcaneus und Talus dicht beieinander übersehen lassen. Auf 
den ersten Blick (Fig. 21), bei schwacher Vergrösserung will 
es scheinen, als ob hier ein auffallendes Zurückbleiben der 
Gewebsdifferenzierung an den zentralen Kanten von Calcaneus, 
Cuboid und Naviculare bestünde. Man könnte zu der An- 
nahme kommen, dass sich dabei die Scheidung der Knorpel- 
erenzen noch nicht entschieden hätte. Bei einer stärkeren Ver- 
erösserung dagegen (Fig. 22) erkennt man, dass das Zwischen- 
oewebe hier in einer ganz anderen Weise entwickelt ist. Es 
handelt sich hier wohl um die Anlage kollagener Elemente, 
besonders für die Pars calcaneo-navicularıs des Ligament. 


interosseum (bifurcatum). 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 547 


Eine Schnittserie eines noch späteren Stadiums — Embryo 
von ca. 100 mm Steiss-Scheitellänge — zeigt den knorpeligen 


Tarsus bereits ziemlich fertiggestellt. Wenn somit auch von 
späteren Stadien ein weiterer Aufschluss nicht zu erwarten 
war, so untersuchte ich doch, der Vollständigkeit halber, auch 
solche, und zwar durch Präparation unter der Lupe. Im ganzen 
wurden hierzu 45 fötale Füsse untersucht, und zwar: 


21 Füsse bei 120 mm Steiss-Scheitellänge 


4 R „150. mm 4: 
5 n  Anealen * 
4 e + 1170: mm a 
4 ; +4 980) mm * 
2 je , 5190 mm er 


45 Füsse im ganzen. 

Es ergab sich für die Lage und die Beziehungen des 
Kahn- zum Fersenbeine nichts Besonderes, nur bei einem Fuss 
eines Fötus von 170 mm Steiss-Scheitellänge konnte ich eine 
geringe Verlängerung des Proc. ant. des Calcaneus nach distal 
zu feststellen. 

Ehe ich nun all diese Befunde zusammenfasse, muss ich 
noch vielmals um Verzeihung bitten, dass ich durch die Dar- 
stellungen einiger eigener Untersuchungen mich bei der Onto- 
genese so lange aufgehalten habe. Es fällt das ja eigentlich 
aus dem Rahmen einer kleinen Notiz über eine Varietät elwas 
heraus ')! Ich wollte aber bei einer eventuellen Deutung doch 
recht sicher gehen, — und so Vieles und Bedeutendes auch 
über Carpus und Tarsus geschrieben worden ist, so liegt doch 
speziell über die Entwickelung des menschlichen Tarsus an 
eingehenderen Untersuchungen wenig vor. Sonst hätte ich mich 
lieber und unter Zeitersparnis auf Befunde und besonders auf 
Abbildungen der Autoren beziehen können. 


!) Auch soll diese kleine Arbeit ja durchaus keine embryologische Unter- 
suchung darstellen. 


348 RUPPRICHT, 


Zusammengefasst kann ich nach dem von mir durch- 
musterten Material nur sagen, dass sich im reinen Entwicke- 
lungsverlauf irgend eine Neigung zur Verschmelzung weder 
bei den Tarsalknorpeln im allgemeinen, noch besonders in 
der Umgebung des Os naviculare tarsı zeigt. In ausgeprägter 
Weise schreitet die Knorpeldifferenzierung und Spaltbildung 
immer weiter vor: ein stetig und sicher fortschreitender Son- 
derungsprozess im Werdegang des Tarsalskeletes. 

Nach den bisherigen Erfahrungen halte ich daher eine 
Entstehung eines Calcaneonaviculare durch Verschmelzung im 
Verlaufe des rein ontogenetischen Entwickelungsganges (etwa 
anklingend an Vorgänge wie z. B. beim Os centrale carpı oder 


beim Tritibiale tarsı Rabl) für nicht erwiesen. 


Die Ontogenese gibt uns für die Ursachen unserer Varietät 
keine Auskunft, es erhebt sich somit die Frage, ob wir zur 
Erklärung unseres Falles an phylogenetische kausale Momente 
denken können. 

Nimmt man einen Verschmelzungsprozess an, so leuchtet 
ein, dass hier die accessorischen Tarsalia eine grosse Rolle 
spielen können. Das palingenetische Auftauchen eines alten 
Tarsalelementes zwischen den Knorpelanlagen des Kahn- und 
Fersenbeines kann wohl den Anstoss zu einer Verschmelzung 
geben. 

Es ist ein besonderes Verdienst Pfitzners, die engen 
Beziehungen zwischen Verschmelzungen unter kanonıschen 
Fuss- und Handwurzelknochen — und dem Auftreten accessori- 
scher Elemente wesentlich in den Vordergrund gerückt zu haben. 
Hier näher auf den Modus einzugehen, besonders auch zu er- 


örtern, wie weit dabei Erscheinungen des Rudimentärwerdens 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 549 
und Abortivwerdens ete. mitspielen das würde jetzt zu weil 
führen. Es fragt sich nur, ob ein solches Accessorium und 
welches in Betracht käme? 

Nach Pfitzner sind es zwei: der Calcaneus secundarius, 
der schon eingehend von W. Gruber beschrieben und mit 
Verschmelzungen in Beziehung gebracht wurde, und das Cu- 
boides secundarium, letzteres besonders bei erösseren kom- 
pakten Verschmelzungen. Bei der vorliegenden, doch recht kom- 
pakten Knorpelvereinigung müsste es sich vornehmlich um 
ein solches Cuboides secundarium als Ursache der Verschmel- 
zung handeln. 

Um dies aber näher beurteilen zu können, ist es gut, sich 
über Form und Ausdehnung dieses inkonstanten Tarsalele- 
mentes unterrichten zu können. Das ist aber insofern nicht so 
leicht, als dieser Knochen ein äusserst seltener ist. 

Ich hatte nun die Freude, beim Durchsehen unserer Mu- 
seumsbestände ein paar Fussskelete aufzufinden, die diese Varie- 
tät zeigen, und ich bringe beiliegend (Fig. 23) eine Photographie 
derselben von der Plantarseite. Im Katalog sind sie folgender- 
massen angeführt: 

416. Rechtes und linkes Fussskelet ohne Zehen ‘eines und 
desselben Individuums. Überzä hliger Tarsalknochen 
an der Plantarseite, zwischen Naviculare. Cuboideum 
und Calcaneus eingefügt und mit den zwei letztgenannten Kno- 
chen artikulierend. 1887-1889. 

Um nicht durch Wiederholungen zu ermüden, will ich die 
erforderlichen Erklärungen gleich mit denen des folgenden 
alles verbinden. 

Ein Fuss, der schon bei der Präparation im Seciersaal 
des letzten Winters durch Besonderheiten auffiel, wurde des- 
halb sorgsam maceriert. Hierbei hatte ich das Glück, wieder 


ein Cuboides secundarium zu finden. 


550 RUPPRICHT, 


Alle drei Knochen der Figuren 23 und 24 sind in ihrer Art 
gut entwickelt; sie gleichen einander in Grösse, Form, Ge- 
stalt und Lagerung ziemlich genau. 

Die Form ist vergleichbar mit einer spitzen Pyramide: 
Die Spitze ist distalwärts gerichtet, die Basis ist etwa halb- 
kugelig abgerundet. Die plantare Fläche des Knochens passt 
sich dem Niveau der Planta sehr gleichmässig an, die «dorsale 
weist (in der Nähe der „Pyramidenbasis“) die Gelenkfacetten 
auf. Es gibt deren zwei, je eine zur Artikulation mit den Cu- 
boid und dem Calcaneus, sie sind ziemlich plan, ihre Anord- 
nung am besten auf Fig. 24 ersichtlich !). 

Im nicht skeletierten Zustand waren die Accessoria wohl 
durch kräftige Bandmassen mit dem Tarsalskelet versichert, 
teilweise sind diese bei dem linken Fuss der Fig. 23 noch 
jetzt erhalten, wodurch uns auch ein guter Anhalt für den 
Situs des überzähligen Knochens gegeben ist. Es erhellt der- 
selbe aber auch aus der allgemeinen Anpassung an den ge- 
sebenen Raum, wie man dieses aus einem Vergleich der beiden 
Figuren 25 und 26 erkennen kann. Fig. 25 zeigt das Cuboides 
secund. in situ, Fig. 26 dasselbe Fussskelet nach Entfernung 
des überzähligen Tarsale. Diese Lagebeziehungen sind bei allen 
drei Knochen dieselben. 


Von den Maassen will ich hier nur die des letzten der drei 
überzähligen Cuboiden anführen. Die grössten Durchmesser 


betragen bei ihm: 


distal-proximal 20,5 mm, 
medio-lateral 11,2 mm, 
dorso-plantar 14,0 mm, 


also ein recht grosser überzähliger Tarsalknochen. 
!) Beim rechten Fuss der Fig. 23 erschienen die Anlagerungsflächen an 
ans Naviculare einigermassen eingeschränkt und diese könnten auch sonst 


nach ihrem Aussehen für Koalescenzflächen im Sinne Pfitzners angesprochen 
werden. 


Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 43. 


C alcaneus. 


Fig. 2. 


Ruppricht. 


Kö “ L.U . Den Part a. an r H 1 
önigl.Universitätsdruckerei H,Stürtz AG Würzburg, Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


ot 
I no 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. 9: 


Sind nun diese drei Knochen als Cuboidea secundaria 
zu bezeichnen ? 

Wie ich schon oben erwähnte, ist das Cuboides secund. 
sehr selten. Pfitzner hat es früher beschrieben und re- 
eistriert, als es entdeckt wurde. Er hatte es theoretisch jahre- 
lang voraus berechnet, aus Beobachtungen einer Knochenparlie, 
die bald als Fortsatz des Naviculare (auch Morestin), bald als 
Fortsatz des Cuboids (auch Sutton, Thane, Macalister) 
auftritt. Entdeckt wurde es erst 1897/98 durch Schwalbe, 
als selbständiger Knochen. Da Pfitzner wenige Jahre später 
starb und nach 1900 meines Wissens nichts mehr Ausführ- 
liches über die Tarsalaccessoria veröffentlichte, ıst dies die 
einzige mir bekannte Notiz über ein selbständiges Cuboides 
secundarıum. Ausserdem liegen natürlich die bekannten Sche- 
mata Pfitzners für Hand und Fuss (deren Originalpublika- 
tionen ich leider nicht erreichen konnte) vor. 

Aus diesen Abbildungen, dıe das Cuboid. sec. sehr deutlich 
an der Planta ın einer unseren dreı Fällen recht ähnlichen Art 
darstellt — ferner aus der Schwalbeschen Erwähnung, dass 
sein Cub. acc. mit Calcaneus, Naviculare, Cuboid und Cuput 
talı artikulierte, sich also auch in denselben Raume einfügte, 
kann ich wohl ziemlich sicher annehmen, dass es sıch bei 
meinen Fällen wohl um dasselbe handelt !). 

Wenn ich nun auf einige, eingangs gemachte Bemerkungen 
über das eigentümliche Verhalten der Tarsalia bei abnormen 
Berührungen und Koalescenzen, auf das Entgegenwachsen von 
Tuberositas oss. navic. mınor und Sustentaculum tal. antı- 


cum (Gruber, Zuckerkandl) in den Raum zwischen 


1) Kurz vor Ausbruch des Krieges konnte ich — dank dem liebenswürdigen 
Entgegenkommen des Herrn Geheimrat Schwalbe — auch die Strassburger 
trefflichen Präparate besichtigen; leider durch den Drang der Ereignisse nur 
zu kurze Zeit! Meine betreffenden Aufzeichnungen sind mir jetzt nicht zur 
Hand: ich muss mir vorbehalten erforderlichen Falles später hierauf zurück- 
zukommen. 


552 RUPPRICHT, 


Taluskopf und mediale Cuboidecke erinnern darf, so kann die 
weitere Kenntnis vom Auftreten eines Accessorium an dieser 
Stelle-den Vorgang einer Verschmelzung dem Verständnis wohl 
näher bringen. Auf Fie. 26 sieht man die Planta ohne das 
Accessorium; der freie Raum ist dort recht beträchtlich: eher 
also ein Weiterabstehen der betreffenden Knochenecken. Das 
Cuboides secundarium ist dafür aber so ausreichend gross, 
dass es die Lücke überreichlich ausfüllt. Kommt nun in früher 
embryonaler Zeit zu den Knorpelanlagen der kanonischen Tar- 
salia dort der Knorpelkern eines solchen überzähligen Elementes 
hinzu, so kann man sich wohl vorstellen, dass dies gegebenen- 
falls den Anstoss zu einer kompakten Verschmelzung der An- 
lage des Naviculare und der des Calcaneus geben kann. 

Soweit kann man dem Gedankengang einer phylogeneti- 
schen Deutung wohl folgen, aber so ansprechend dieselbe — 
besonders im Verfolg der Pfitznerschen Theorie — auch 
ist, vollkommen erklärt sie die Entstehung der uns vorliegenden 
Varietät doch nicht. Ja man kann auch mancherlei dagegen 
einwenden. 

Der stärkste Einwand ist der: wenn in der noch nicht 
definitiv differenzierten (Grewebsmasse zwischen den Anlagen 
für Calcaneus und Naviculare eine solche für ein Os cuboides 
secundarium auftritt, so ıst das doch eher ein Zeichen einer er- 
höhten Sonderung (Differenzierung), als das einer Neigung zur 
Verschmelzung. Hier muss man sich nun allerdings erinnern, 
dass, wie Pfitzner und Thilenius zeigten, die Accessoria 
bei der Weiterentwickelung grosse Neigung zur Verkümmerung 
und dann weiterhin zur Verschmelzung zeigen. 

Immerhin lehren alle Einwände, wie gut es bei jeder Deu- 
tung ist, ehe man sich ins Ungewisse verliert, sich immer 
wieder an den objektiven Befund zu erinnern. Was uns vor- 
liegt, ist ein wohlentwickelter jugendlicher Knorpel, dessen Navı- 


cular- und Calcaneusanteil gleichmässig ineinander übergehen, 


>ı] 
os 


Über einen gemeinsamen Kalkaneo-Navikularknorpel etc. Id: 


an dem auch kein Formbestandteil irgendwelche Teile oder Um- 
rısse eines überzähligen Tarsale erkennen lässt. Das ist die 
vorliegende Wirklichkeit. 

Es kann daher — kritisch streng genommen — die Er- 
fahrung vom Vorkommen der Ossa cuboid. secund. lediglich 
ein weiterer Beweis dafür sein, dass am Orte „der noch 
nicht definitiv differenzierten Gewebsmasse zwischen Calca- 
neus- und Navicularanlage‘“ auch etwas anderes als das nor- 
male Tarsalskelet, dessen Ligamente etc. entstehen kann. 

Es können also erfahrungsgemäss hier vorkommen: 

a) vergrösserte Dimensionen des Calcaneus (z. B. stark 
entwickeltes Sustentaculum tali anficum: Gruber, 
Zuckerkandl), 

b) vergrösserte Dimensionen des Cuboids (z. B. ein me- 
dialer Fortsatz: Pritswer!Sutton, Thaneree), 

c) ähnliche Erscheinungen am Naviculare (Tuberositas 
0ss. navic. minor: Gruber, Pfitzner, Morestin), 

wobei a, b und e zu Berührungen, Koalescenzflächen, Gelenke, 
Syndesmosen der betreffenden Tarsalia führen. 

d} Os calcanei secundarium (Gruber, Pfitzner), 

e) Os cuboides secundarium (Pfitzner, Schwalbe, 
diese Arbeit), 

f) gemeinsamer Calcaneo-Navicularknorpel (z. B. Le- 
boucgq, diese Arbeit). 

Mit Sicherheit sind nur d und e phylogenetisch zu erklären, 
beı den anderen Formen lässt sich nur vermuten, dass ein 
nicht genügend intensiver, phylogenetischer hückschlag zu ihrer 
Entstehung geführt hat. 

Eine weitere Untersuchung dieses Zwischengewebes, wie 
überhaupt der Genese des menschlichen Tarsus, wäre sehr 
erwünscht. 


og: 


10. 


Literatur. 


Cruveilhier, ‚J., Anatomie pathologique du corps humain. Vices de 
conformatior. 2. livr. Paris 1829—35. Folio. 
Holl, M., Beiträge zur chirurgischen Osteologie des Fusses. In Langen- 
beceks Arch. Bd. 25, 1880, Heft 1. 
— Zur Ätiologie des angeborenen Plattfusses. In Langenbecks Arch. 
Bd. 25, 1880, Heft 4. : 
Gegenbauer, Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie. I. Carpus 
und Tarsus. Leipzig 1864. 
Gruber, W., Abhandlungen aus der menschlichen und vergleichenden 
Anatomie. St. Petersburg 1852. 
— Nachträge zur Osteologie der Hand und des Fusses. VII. u. VIII. 1870. 
— Über den Fortsatz des Höckers des Knochenbeines der Fusswurzel etc. 
in Arch. f. Anatomie u. Physiologie u. wissenschaftl. Med. 1871. 
— Über einen neuen sekundären Tarsalknochen — Calcaneus secundarius 
mit Bemerkungen über den Tarsus überhaupt. In Memoires de l’aca- 
demie de St. Petersbourg, Tome 17, 1871. 
— Beobachtungen aus der menschlichen und vergleichenden Anatomie. 
Heft 1, Berlin 1879. 
Hasselwander, A., Über die Ossifikation des menschlichen Fussskelettes. 
In Zeitschr. f. Morphologie u. Anthropologie. Jahrg. 1909. (Nach Referaten 
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Lebouceg, H., Recherches sur la morphologie du carpe. In Arch. de 
biologie. Tome V, 1884. 
— De la soudure cong£nitale de certains os du tarse. Bulletin de l’acad. 
de medeeine de Bruxelles 1890. 
Pfitzner, W., Beiträge zur Kenntnis des menschlichen Extremitäten- 
skelettes, I.—III. In Schwalbes Morpholog. Arbeiten. I. 1891. 
— Dieselben. V. Ebendort, 1893. 
— Dieselben. VI. Ebendort, Bd. 4, S. 369. 

Dieselben. VII. Ebendort, Bd. 6, 1896. 

Über Variationen im Aufbau des menschlichen Hand- und Fuss- 
skelettes. In Verhandl. d. anat. Gesellsch. 5. Vers., München 189]. 


Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3). Tafel 44. 


Accessorium 


Accessorium 


Ilier auch z. T. Gelenk- 
lacette zu erkennen 


distal 


y 


lateral — 


G. F. cub.——— 


ie ehircale: 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Anatomische Hefte. I. Abt. 164. Heft (54. Bd. H. 3). Tafel 45 


Cuboideum 
secundarium 


Fig 


Q 


20: 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


18. 


19. 


Literatur. 555 


Thilenius, G., Die „überzähligen‘ Carpuselemente menschlicher Em- 
bryonen. In Anat. Anz. Bd. 9. 1894. 
— Untersuchungen über die morphologische Bedeutung akzessorischer 
Elemente am menschlichen Carpus (und Tarsus). in Schwalbes Morphol. 
Arb., Bd. 5, 1895. 
Verneuil, Mündliche Mitteilung bei A. Robert, Des vices congenitaux 
de conformation des articulations.. These de Paris 1851. 
Weber, Over coalescentia calcaneo-naviculare.. In Versl. an meded. 
kongl. acad. d. weten. Amsterdam. Zitiert nach Pfitzner. 
Wedding, Quaedam de ancylosibus. Dissert. Berolin. 1832. Zitiert 
nach Pfitzner. 
Zuckerkandl, E., Zur Anatomie der Fusswurzelknochen. In Wiener 
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— Über einen Fall von Synostose zwischen Talus und Calcaneus. In 
Allgemeine Wiener med. Zeitschr. 1877. 

Neue Mitteilungen über Koalition von Fusswurzelknochen. In Wiener 
med. Jahrbücher 1880. 

Über eine typische Varietät des Chopartschen Gelenkes. In Mediz. 
Jahrb. N. F. 1888, Wien. 


Abgeschlossen: Juli 1914. 


Die Aufstellung des Literaturverzeichnisses konnte erst nach Kriegsaus- 


bruch, ebenso wie die endgültige Redaktion und Fertigstellung der Arbeit, 
während des Kriegsdienstes des Verfassers bei gelegentlich sich ergebender 
freier Zeit vollendet werden. Er bittet daher mancherlei Mängel und Unvoll- 
kommenheiten zu entschuldigen. 


Im Februar 1916. 


Tafelerklärune. 


Fig. 1. Rechter, skeletierter Fuss in Dorsalansicht mit Koalescenz von 
Naviculare und Calcaneus. Sehr deutlich ist die breite Ausladung des Navi- 
culare an seiner lateralen Seite zum Kontakt mit dem Calcaneus zu erkennen. 
(Photographie; etwa °/,; natürliche Grösse.) 

Fig. 2. Derselbe Fuss in plantarer Ansicht (Reproduktion wie oben). 
Katalog-Nr. des Wiener anatomischen Museums: 271. Der laterale Teil des 
Naviculare greift weit zum Calcaneus herüber und erfüllt den Raum zwischen 
Talus und Cuboid in ansehnlicher Breite: sehr starke Tuberositas navicularis 
minor Gruber (a). 

Fieg. 3 und 4. Linker skeletierter Fuss. Präparat des Wiener Anato- 
mischen Museums (Kat.-Nr. 272); als linker zum rechten der Figg. 1 und 2 
gehörig. Fig. 3 dorsolaterale Ansicht, Fig. 4. Plantaransicht ?/,; natürliche Grösse. 
Im Katalog als normal bezeichnet, jedoch deutliche Berührung bei a (Fig. 3). 

Fig. 5. Skeletierter rechter Fuss ohne Phalangen. Präparat des Wiener 
Anatomischen Museums (Kat.-Nr. 282) bezeichnet: Kongenitale Syndesmose 
durch straffe Bindegewebsmassen. Kräftig entwickelte Tuberositas navicularis 
minor (Gruber), die sich zwischen Taluskopf und Cuboid schiebt. 

Fig. 6. Skeletierter linker Fuss. Nr. 283 des Wiener Anatomischen 
Museums. Deutliche Koalescenz, die die Chorpatsche Fläche völlig unter- 
brieht. (2/.) 

Fig. 7. Skeletierter linker Fuss ohne Phalangen (Wiener Anatomisches 
Museum Nr. 284), besonders von Zuckerkandl beschrieben. Bei a das Susten- 
taculum tali anticum Gruber-Zuckerkandl. 

Fig. 8. Dasselbe Präparat in dorsolateraler Ansicht (°/z). 

Fig. 9. Plantaransicht des skeletierten Talus und eines zweiten Knochens, 
der eine Vereinigung von Naviculare und Calcaneus ist. Linker Fuss. Präparat 
des Wiener Anatomischen Museums Nr. 292. Von Holl näher beschrieben. (!/,). 

Fig. 10. Anschnitt eines rechten kindlichen Fusses von etwa 1!/, Jahren. 
Schnittrichtung ungefähr parallel zum Dorsum pedis. Bei a die Stelle an der 
sonst Naviculare, Cuboid und Calcaneus getrennt erscheinen; hier ein einheit- 
licher Knorpel. Navieulare und Calcaneus sind nur durch die Formen der 
Randteile bestimmbar (ca. 1,2). 


Tafelerklärung. 557 


Fig. 11. Plantaransicht des proximalen Tarsalteiles desselben Fusses 
Bänder und Gelenke dargestellt, 1 — lateral, m — medial, d — distal, p = 
proximal. Bei x—x Teil des gemeinsamen Calcaneus- und Navicularknorpels. 


Fig. 12. Ansicht des distalen (Gelenkflächen-) Teiles desselben gemein- 
samen Knorpels, nach starkem Auseinanderdrängen der proximalen und distalen 
Knorpelreihen. Die distalen Tarsalia in Umrissen angedeutet. I, II, III die 
Gelenkfacetten für die entsprechenden Cuneiformia; cu für das Cuboid; |, m: 
lateral, medial; dors.: nach dem Dorsum pedis zu gelegene Fläche. 


Fig. 13. Pause einer Abbildung von Leboucq (Bulletin de l’academie 
de medecine de Bruxelles 1890), die einen Serienschnitt eines seiner Präparate 
von einem menschlichen Embryo von 25 mm grösster Länge darstellt. As — 


Talus, Ca = Calcaneus, Cu = Cuboid, F = Fibula, T = Tibia, S = Naviculare, 
l, 2, 3 = Cuneiforme primum, secund., tert., I, II, III, IV, V = erster bis 


fünfter Metatarsus um !/, verkleinert. 


Fig. 14. Abbildung eines Serienschnittes durch den Fuss eines mensch- 
lichen Embryo von 27 mm Länge (Steiss-Scheitel). Präparat der Sammlung 
Hochstetter: Ha®. Vergr. 20. Hier sind im Gegensatz zu dem Leboucgschen 
Falle Calcaneus- und Naviculareanlage, wie üblich, völlig getrennt. Der aus- 
gewählte Schnitt entspricht dem von Leboucq am besten; Metatarsus IT—V 
wurden nicht gezeichnet. Auch an den vorhergehenden und folgenden Schnitten 
sind die beiden Knorpel getrennt angelegt wahrzunehmen. Die Beschriftung 
entspricht der von Fig. 13. Um !/, verkleinert. 


Fig. 15. Schnitt einer Serie durch die untere Extremität eines mensch- 
lichen Embryos von 12,5 mm grösster Länge. Präparat der Sammlung Hoch- 
stetter (Ma. 1. IV. Reihe. Nr. 4). Vergrösserung Zeiss Obj. A. Oc. 2. Tisch- 
höhe. 

Fig. 16. Schnitt einer Serie durch die untere Extremität eines mensch- 
lichen Embryos von 19.4 mm grösster Länge. Aus der Sammlung Hoch- 
stetter (Ma. 2, aus der Mitte der Serie). Orientierung über Metatarsal-Pha- 
langenanlage etc., besonders auf der Seite des Randgefässes ist wohl unschwer. 
Vergrösserung wie Fig. 15 um !/, verkleinert: 

Fig. 17. Aus einem Serienschnitt der unteren Extremität. Menschlicher 
Embryo von 27 mm grösster Länge (Sammlung Hochstetter: Ha? Nr. 6, 
II. Reihe), Obj. ©.—0Oc2, um !/, verkleinert, frei gezeichnet, halb schematisch. 
Cun I = erstes Keilbein; Nav — Kahnbein. 


Fig. 18. Aus derselben Serie Obj. C—Oc2, um !/, verkleinert, frei ge- 
zeichnet, halb schematisch. G. St— Anlage der Gelenkspalte, spätere Gelenk- 
stelle, Rd— Sch Randschicht des Knorpels, Met I — Metatarsus I, Cun I = 
erstes Keilbein. 


Fig. 19. Aus einem Serienschnitt durch den Fuss eines menschlichen 
Embryo von 37,6 mm grösster Länge (Sammlung Hochstetter, embr. hum. 
E 1), Cale = Calcaneus, Tal — Talus, Cub — Cuboid, Nav — Naviculare, Cun 3 
— Cuneiforme III. (Objektträger 3, II. Reihe, Nr. 6.) Vergrösserung 50 : 1. 
Camera obscura — Pause, um !/, verkleinert. 


Tafelerklärung. 


Qu 
a 
[6°o) 


Fig. 20. Aus derselben Serie, bei gleicher Vergrösserung und Wiedergabe. 
Mall — Malleolus med., Astr = Talus, Sca = Naviculare, Cu, Cu, = Cunei- 
forme I bez. III, M,,;,4,; = Metatarsus 1, 3, 4 und 5. Sonst Beschriftung 
wie Fig. 19. 

Fig. 21. Längsschnitt durch den Fuss eines menschlichen Embryo von 
68 mm Steiss—Scheitellänge (Sammlung Hochstetter, Obj. 18, Schnitt 
Nr. 9). Färbung nach Mallory. Vergrösserung Oc2—-Obj. A. Zeiss-Kammer. 

Fig. 22. Derselbe Schnitt; stärkere Vergrösserung, Ocular 2—Objektiv €. 

Fig. 23. Rechter und linker skelettierter Fuss (ohne Zehen) von dem- 
selben Individuum. Präparate des Wiener Anatomischen Museums (Kat. 
Nr. 416). Photographie; etwa °/; natürliche Grösse. 

Fig. 24. Os cuboides secundarium. Präparat des Wiener Anatomischen 
Museums (neuer Zuwachs von 1914), linksseitig. Zeichnung nach der Natur, 
Vergrösserung 2: 1!). G. F. cub: Gelenkfacette für das Cuboid; G. F. cale: 
Gelenkfacette für den Calcaneus. 

Fig. 25. Linker sleketierter Fuss von der Plantarseite mit überzähligem 
Tarsalknochen — Os cuboides secundarium (dasselbe der Fig. 24). Präparat 
des Wiener Anatomischen Museums (neuer Zuwachs 1914). Photographie etwa 
3/, natürl. Grösse. 

Fig. 26. Derselbe Fuss ohne den überzähligen Tarsalknochen. 


!) Durch ein Versehen des Lithographen ist Zeichnungsvergrösserung 
von 2:1 noch einmal auf dem Stein auf 2:1 vergrößert worden; das 
Bild stellt also die 4fache Vergrösserung des kleinen überzähligen Fuss- 
wurzelknochens dar. 


AUS DEM ANATOMISCHEN INSTITUT IN MÜNCHEN. 


VORSTAND: PROF. RÜCKERT. 


DIE NASENMUSCHELN DES MENSCHEN 


DARGESTELLT AUF GRUND DER 


ENTWICKELUNG UND DES VERGLEICHS 


VON 


L. GRÜNWALD. 


Mit 52 Abbildungen im Text und auf Tafel 46/49. 


Anatomische Hefte, I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H, 3. 37 


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Inhaltsverzeiehnis. 


Einleitung a a ll 
I. Die Muscheln der Wirbeltiere 
a) Definition und Benennung. 
b) Muschelbesitz 
1. Atrio-Turbinale 
. Limino-Turbinale 
. Septo-Turbinalia . 
. Naso-Turbinale 
. Maxillo-Turbinale 
6. Ethmo-Turbinalia 5 2 
II. Ursprüngliche Gestaltung dee eh Netenienn 
III, Die Ethmo-Turbinalia des Menschen . 
a) Die bisher geltende Lehre 
b) Die Typen der Ethmo-Turbinalia . 
e) Untergeordnete Bildungen . ; 
E Zwischenfurchen und Teilw ülste i 
Sekundärfurehen und Sekundärwülste . 


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Einleitung. 


Die Kinteilungen des inneren Nasenaulbaues seilens ver- 
schiedener Autoren sind bisher grösstenteils, ja fast ausschliess- 
lich, auf jeweils anderen Grundlagen erfolgt; fast jeder Forscher 
hal sie vorzugsweise auf jener Gruppe von Erscheinungen aul- 
gebaut, aus der er selbständige Neufunde beigebracht hatte. 

Nach und nach wurden in dieser Weise Teile der Verte- 
bratenreihe verwendet (Gegenbaur [1871], Seydel ;1891|, 
Paullı|1900]); dann haben einzelne Abschnitte der Ontogenese 
des Menschen (G. Killian [18935 —96|) und der niederen 
Säuger (Peter |1902]), ja sogar die rein deskriptive mensch- 
liche Anatomie (Zuckerkandl [1893 
meiner Einteilung dienen müssen; und auch die Verknüpfung 


) als Unterlage allge- 


der jeweiligen eigenen Befunde mit denen der anderen Forscher 
litt darunter, dass überall nur mehr oder weniger beschränkte 
Ausschnitte der Vergleichsreihen zu Grebote standen oder heran- 
gezogen wurden. 

Auf dieser, häufig wankenden, immer unzulänglichen, meist 
ganz einseitigen Grundlage hat man dann Definitionen errichtet, 
die unmöglich alle vorkommenden Verhältnisse decken konnten. 

Zu diesem Mangel an der notwendigen Kenntnis allgemein 
vorhandener Verhältnisse kommt noch ein weiterer Umstand, 
der bisher gar nicht gewürdigt worden ıst: das Vorhandensein 
individueller Variationen, wie sie sich nur bei der 
Untersuchung mindestens mehrerer, womöglich aber sehr vieler 


Individuen derselben Altersstufe einer Species erkennen lassen. 


561 L.. GRUNWALD, 


Gerade diese Variationen aber kommen (soweit bekannt!) bei 
niederen Säugern und Primaten bereits nicht selten, beim Men- 
schen sogar überaus häufig vor und haben ganz anderen als 
Zufallswert. 

Ferner hat es an der genügenden Rücksicht darauf gefehlt, 
dass die einander ähnelnden, aber auch wieder ganz prinzipiell 
verschiedenen Bildungen der ganzen Vertebratenreihe im 
Laufe der Ontogenese Veränderungen, oft recht 
erheblicher Art, unterworfen sind. Das gilt schon für niedere 
wie für höhere Säuger häufig; ob durchgehend, wissen wir 
noch nicht. Beim Menschen aber ist es die Regel. 

Ks sınd also überaus mannigfache Vorkommnisse, mit denen 
wir zu tun haben. Nur Definitionen, die alldiesen 
Vorkommnissen gerecht werden, können all- 
gemeine Geltung gewinnen. 

Verfügen wir bereits über diese als Vorbedingung jeder 


Einteilung aufzustellende Kenntnis sämtlicher Vorkommnisse ? 


Leider noch nicht, soweit es die Säuger, auch nur die 
repräsenlativen Species der verschiedenen Familien betrifft. 
Hier sind nur Fragmente vorhanden und die riesige Grösse der 
Aufgabe, wenn man sie voll erfasst, lässt die Möglichkeit ihrer 
Lösung erst in dunklen Fernen erscheinen. Die Variationsbreite 
menschlicher Verhältnisse aber und die Erscheinungen ihrer 
Ontogenese können jetzt den Anspruch auf annähernd lücken- 
lose Darstellung erheben; höchstens, dass vereinzelte, ganz 
seltene Varianten im Laufe der Zeit sich hinzugesellen mögen ; 


als quantıtative, kaum mehr als qualitative Bereicherung. 


Diese Darstellung zu geben, und zwar auf Grund eigener 
Untersuchungen, wird die Hauptaufgabe dieser Mitteilungen sein. 
Sie war bisher nicht erfüllt. Und doch ist sie Voraussetzung 
für das bisher geübte Vorgehen, welches jeweils ein Verständ- 


nis für die Gesamtheit der Ereignisse zu geben suchte, ohne 


Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 565 


Rücksicht auf die weitklaffenden Lücken in der Kenntnis jener 
und auf ihre Vieldeutigkeit. 

Diese letztere immer wiederkehrende Tatsache bezeugt aber 
das Bedürfnis nach Aufklärung der Zusammenhänge; nach 
einem Verständnis. Es wird also auch unsere Aufgabe sein, 
ein solches Verständnis anzustreben, nachdem wir die Lösung 
der Gleichung wenigstens durch Ausschaltung einer Unbe- 
kannten nähergerückt sehen. 

Vorausgesetzt selbst, dass uns auch alle Tatsachen der 
vergleichenden Anatomie und vergleichenden Entwickelungs- 
geschichte bereits in Ähnlicher Weise zur Verfügung ständen, 
wie (jetzt) diejenigen der menschlichen Anatoniie und Onto- 
genese, muss ihre Verwertung für das Verständnis der mensch- 
lichen Tatsachen in anderer Weise erfolgen, als dies in unserer 
Frage bisher geschehen ist: Die Auskünfte der vergleichenden 
Tierkunde brauchen und dürfen nicht einseitig vom phylo- 
genetischen Gesichtspunkte aus betrachtet werden. Es muss 
auch für unser enges Gebiet zur Geltung kommen, was sonst, 
auf anderen Gebieten, längst unbestritten ist: Die Ontogenese 
ist weder der treue und lückenlose, noch überhaupt der not- 
wendige Abklatsch einer ins einzelne gehenden Phylogenese. 
Wollte man ein derartiges Verhältnis nicht nur aufstellen, son- 
dern auch nachweisen, so müsste man ın erster Linie einen 
phylogenetischen Stammbaum besitzen; und der fehlt uns. 

Solange nicht für unsere Species die Glieder ihrer Ab- 
stammung mit Sicherheit nachgewiesen sind, können wir uns 
nicht wahllos, oder vielmehr zweifellos, auf Vorkommnisse an 
anderen „niederen“ Species beziehen, von denen die eine oder 
andere möglicherweise überhaupt nicht in der Ahnenreihe ver- 
(retfen, sondern Glied einer Nebenreihe ist. 

Noch unsicherer werden diese Beziehungen, wenn sie Or- 
gane betreffen, die ihrer Konstruktion nach als relativ jung 
betrachtet werden müssen : die innere Nase erscheint im grossen 


966 l.. GRÜNWALD, 


und ganzen gleichartig kaum von den Vögeln ab, eigentlich 
erst in der Säugerreihe. 

Übereinstimmungen der Entwickelung mit den vergleichend- 
anatomischen Befunden können wir schon aus diesen Gründen, 
wenn überhaupt, dann nur in den grossen Zügen, aber nicht 
in Einzeiheiten erwarten. 

Treffen wir nun wirklich solche Übereinstimmungen in 
Kinzelheiten an, so erhebt sich die Frage, ob sie im Sinne des 
biogenetischen Grundgesetzes für die Ontogenese der höheren 
Art massgebend sind. Diese Bestimmung prospektiv oder, mil 
anderen Worten, spekulativ zu treffen, ist nicht leicht und 
nicht immer einwandfrei; es heisst ja voraussagen, welche 
l"ormen der Ontogenese niederer Arten elektiv zur Wieder- 
kehr in der Ontogenese der höheren Art bestimmt sind. Am 
ehesten liesse sich die Wiederholung früher, primitiver Formen 
erwarlen, als Rückgriff auf den phylogenetischen Ausgangs- 
punkt. Aber gerade hier fehlt uns die Anknüpfung: Die den 
Sauropsiden eigentümlichen Bildungen des Naseninneren suchen 
wir. vergeblich ın unserer Ontogenese. Diese lässt über die 
menschliche Nase nichts weiter aussagen, als dass sie eine 
Säugernase ist. 

Das ıst also keine prospektive, sondern allein eine retro- 
speklive Bestimmung. Wenn wir aber in der Retrospektive 
weiter gehen und den einzelnen ontogenetischen Erscheinungen 
entsprechende phyletische Formen suchen wollten, stossen wir 
auf ein weiteres Hindernis: 

in der Entwickelung kann zu den (phylogenelischen) Er- 
innerungsbildern noch eine Reihe weiterer, nur für die be- 
(reffende Gattung oder Species charakteristischer Formen hin- 
zutreten; selbstverständlich am Schluss, wo die bis dahin vor- 
liegende Entwickelungshöhe überschritten werden muss, oder 
an diejenigen Stellen, wo die seitliche Abzweigung erfolgt; 


ausserdem aber aus anderen Gründen : 


Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 567 


Erstens werden schon die Erinnerungsbilder von vornherein 
durch die prospektive Tendenz zur späteren Abweichung be- 
einflusst: später vollwertige Organe werden auf der onto- 
venelischen Gleichstufe bereits reicher differenziert angelegt 
sein als solche, die später zum Verschwinden oder Rudimentär- 
bleiben bestimmt sind; später reich gegliederte Teile werden 
wir schon auf der Gleichstufe ım Besitze von mehr Material 
zu sehen erwarten dürfen, als später einfach bleibende; u. U. 
zeieen sie auch schon Ansätze zur definitiven Gliederung, 
die den später einfachen sowohl dauernd als ontogenetisch 
[ehlen können. 

Auf diese Weise gesellen sich zu den palingenelischen Er- 
innerungsbildern känogenetische Vorgänge, nicht nur in der 
"orm der Aufpfropfung auf bisher bekanntes, sondern als derar| 
qualitative und weit zurück verfolebare Veränderungen, «dass 
sie den Ausdruck nahelegen: jede Species unterliege, 
neben den allgemeinen, füralle Arten eültieen, 
noch besonderen, nur für sie gültigen Gesetzen. 

Finden wir nun, trotz all diesen notwendigen und häufigen 
Abweichungen vom biogenetischen Grundgesetz, ähnliche oder 
ganz übereinstimmende Formen der Onto- und Phylogenese, 
so darf die weitere Möglichkeit von Konvergenzwir- 
kungen nicht ausser acht gelassen werden: Kirgebnissen 
gleicher Art und Gestalt auf Grund gleicher von aussen, d.h. 
von der Nachbarschaft herwirkender mechanischer (u. a. sta- 
lischer) Momente. 

Selbst dort also, wo die vergleichende Anatomie Ähnliche 
oder annähernd oder ganz gleiche Erscheinunsen mit «denen 
der menschlichen Ontogenese darbietet, sind wir durchaus nich! 
gezwungen, also auch nicht berechtigt, jene als die notwendigen 
Vorbilder dieser anzusehen. Noch weniger liegt diese Berech- 
ligung dort vor, wo die menschlichen Verhältnisse nur zwangs- 


weise, durch Recken und Drücken, zur Deckung mit irgend- 


568 L. GRÜNWALD, 


welchen, noch dazu nur an einzelnen Species der Tierwelt 
zu beobachtenden, Vorkommnissen gebracht werden können. 
Besonders wird ein solches Postulat dort abzuweisen sein, wo 
es sich nur um vorübergehende und ganz vereinzelte Erschei- 
nungen in der Ontogenese des Menschen handelt. Speziell für 
(diese, aber auch für viele dauernde Tatsachen der menschlichen 
Anatomie wird die Tieranatomie uns nichts anderes als Ver- 
sleichswerte liefern, die wir zur Erklärung jener in ver- 
schiedener Weise zu würdigen haben werden, ohne uns in 
mechanisch-phylogenetischer Weise zu binden. 

Diese Auffassung rechtfertigt es, wenn wir heule, ausser 
der völligen Darstellung der menschlichen Verhältnisse, zwar 
auch vielfach die tierischen, aber nur zur Herstellung des 
Verständnisses heranziehen, da in diesen uns bereits zahlreiche 
Vergleichswerte zu (Gebote stehen, auf deren Grundlage ratio- 
nelle Erkiärungen für das Zustandekommen der menschlichen 
Formen gegeben werden dürfen. 

So kann unsere Darstellung ungebunden zunächst den wirk- 
lichen und rein menschlichen Verhältnissen und den für diese 
Species allein gültigen (Gresetzen gerecht werden, ohne sich 
nach irgend einer Seite von vornherein zu binden, wie dies 
bei einer rein phylogenetischen Auffassung der Fall ıst. Es 
wird interessant genug sein, die aus der lückenlosen Betrachtung 
sich von selbst ergebenden gesetzmässigen Anordnungen zu 
(ypischen Gruppen von Varianten zu erkennen und nur dort, 
wo es wirklich zwingend nötig ist, die Entstehung mensch- 


lıcher aus tierischen Verhältnissen festzustellen. 


I. Die Muscheln der Wirbeltiere. 


a) Definition und Benennung. 
Die Schilderung und Benennung der auffälligen Vorsprünge 


des Naseninneren wurden zunächst den rein deskriptiv-anatomi- 


Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 360) 


schen Befunden beim Menschen entnommen. Der in aul- 
fälligster Weise sich darbietenden Beschäffenheit eines Teiles 
der überziehenden Schleimhaut entsprach der von A. Haller 
(1749) gewählte Ausdruck „Corpus spongiosum”. Es war 
wohl weniger die kritische Erwägung, dass diese Bezeichnung 
eben nur einen Teil der Erscheinungen decke, die die allgemeine 
Annahme dieser Benennung hinderte, als die viel oberfläch- 
lichere Betrachtungsweise der Anatomen jener Zeit, denen der 
erosse physiologische Anatom weit vorauseilte. 
Vergleichende Betrachtungen der rein äusserlichen Form 
halten nämlich schon vorher den Franzosen das Bild eines 
Hörnchens, „Cornet“, ergeben; wir begegnen dieser Bezeich- 
nung bereits in der im Jahre 1733 erschienenen Übersetzung der 
zweiten Auflage des Werkes von Winslow durch Petit, 


[3 


während die Deutschen das Bild einer „Muschel“ zutreffender 
gefunden zu haben scheinen. Beide Sprachen haben bis heute 
diese Vergleichsbenennungen beibehalten. 

Im Jahre 1866 führte Owen auf Grund der Betrachtung 
lierischer Verhältnisse ein neues Vergleichswort ein: in An- 
betracht der Ähnlichkeit der dort vorkommenden Formen mit 
einem Kegel nannte er die Vorsprünge „turbinal“. Das 
grammatikalisch gut wandelbare, speziell als Affıx sich leicht 
anschmiegende Wort hat wegen dieser Eigenschaften besonders 
dort rasch Bürgerrecht erworben, wo es auf die Bezeichnung 
homologer Erscheinungen ankommt, also in der vergleichenden 
Anatomie. 

Die unterschiedslose Anwendung jeder dieser Bezeich- 
nungen auf alle Vorsprünge des Naseninneren entsprach, be- 
wusst oder unbewusst, ihrer gleichen Bewertung. 

Erst Gegenbaur stiess sich daran, die augenscheinliche 
Ungleichwertigkeit der verschiedenen Gebilde durch ge- 
meinsame Benennung zu verschleiern. Nur den vom Kiefer- 


knochen ausgehenden und allenfalls noch den im Nasenvor- 


70 li. GRÜNWALD, 


hofe liegenden Waulst wollte er „Muschel“ genannt wissen. 
Damit stellte er erstmals die Muschelfrage als solche auf, 
die wir jetzt dahin präzisieren können: 

l. Der Begriff einer „Muschel“ ist zu umgrenzen. 

2. Die Gleichwertigkeit oder Ungleichwertigkeit der ver- 
schiedenen Wülste muss bejaht oder verneint werden. 

3. Im Falle der Anerkennung der Ungleichwertigkeit 
müssen die fraglichen Vorsprünge auch ungleich benann! 
und bei Aufstellung eines Systems ungleich bewertet werden. 

Wichtiger als die Ungleichheiten der äusseren Form er- 
schien die Ungleichheit der Funktion. Mit Recht hat Born 
(die Forderung aufgestellt, diese wichtige Kigenschaft der Kin- 
leiılung zugrunde zu legen. 

Gegenbaur halle das schon getan, als er die ‚„Riech- 
hügel der Vögel von den echten (die Trigeminusverbreitung 


‘ 


Iragenden) „Muscheln“ unterschied. Aber er fügte dieser 


physiologischen Scheidung sofort die (zugleich erste) morpho- 


‘ 


loeısche Definition der „Muscheln“ hinzu als „von der Wand 
her entispringender selbständiger, von einer einfachen Fort- 
setzung des Skeletes der Wand gestützter Einragungen“. 

Wie man auch über diese Art der Definition denken mag, 
so wäre doch zu fordern gewesen, dass nur die eine Art der 
Unterscheidung zur Einteilung und die andere höchstens zur 
Untergruppierung verwendet wurde. Statt dessen stossen wir 
in der nun folgenden und für lange Zeit, ja teilweise bis heute 
massgebend gewordenen Darstellung Schwalbes (1882) auf 
die Homologisierung von „Riechwülsten“ der Vertebraten mil 
„Muscheln“ des Menschen; mit dieser Mischung von morpho- 
logischen und funktionellen Grundlagen der Einteilung musste 
die grösste Verwirrung einreissen. 

Zunächst geschah es allerdings, dass die Erörterungen so- 
wohl als die Definitionsversuche sich auf die physiologisch 


sowohl als morphologisch interessanteren „Riechwülste“ kon- 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. Hym! 


zentrierten, unter Vernachlässigung der ‚indifferenten“ Wulst- 
bildungen. Seydels (1891) sowohl als Paullis (1900) ver- 
dienstvolle Arbeiten haben sich vornehmlich mit den Sıeb- 
beinwülsten beschäftigt und brauchten dem Muschelproblem 
als solehem noch nicht nahezutreten, haben das wenigstens 
nicht ausdrücklich getan. Immerhin vermischten auch sie wieder 
das funktionelle mit dem morphologischen Element, indem sie 


‘ 


[raglos das Wort „Riechwülste“ in morphologischem Sinne, 
wenn auch in anderer Weise als Schwalbe benutzten. 

Der Versuch Borns, die Funktion als Hauptkriterium 
und durchgehend zu verwerten und erst ınnerhalb der zwei so 
geschaffenen Hauptgruppen das morphologische oder topo- 
eraphische Moment vortreten zu lassen, blieb lange unbeachtet. 

Krst Peter (1902) hat diesen Versuch wieder aufgenommen 
und den Muscheln mit indifferentem Epithel diejenigen mit „ur- 
sprünglichem Sinnesepithel“ gegenübergestellt. Auch dieser Vor- 
schlag ist nicht einwandfrei: Zunächst waren hier die von nur 
sensiblen Nervenfasern versorgten Partien funktionell mit den 
rein olfaktorischen Wülsten vereinigt, obgleich man doch nur 
(den letzteren spezifisches Sinnesepithel zubilligen kann; ferner 
beschränkt sich die Verteilung des letzteren durchaus nicht auf 
die Wülste, sondern erstreckt sich auch auf freie Flächen der 
Scheidewand; endlich aber ist die Verteilung olfaktorischer 
ndorgane makroskopisch nicht erkennbar, denn die gelbe 
„Riech“schleimhaut, d. h. die Verbreitung von Pigment ent- 
spricht nicht dem Vorkommen von Riechzellen, sondern ist im 


(regenteil nur an indifferente Epithelien gebunden (v. Brunn 
11875, 1892 


unktionelle Einteilung vorzunehmen. Zur Einteilung 


). Diese Verhältnisse verbieten also überhaupt, eine 


bleibt nur die Morphologie und Topographie 
verwertbar. 
kin grosser Vorteil an Peters Einteilung ist allerdings 


der, dass wenigstens sprachlich nicht mehr die Trennung 


572 L: &RÜNWALD, 


zwischen den ominösen und problematischen ‚„Riechwülsten‘ 
und „Muscheln“ festgehalten wurde. Es musste demnach auch 
eine neue Definition für dieses nicht mehr partiell gültige, 
sondern gemeinsame Gestaltelement gefunden werden. 

Dies unternahm wiederum Peter (1912), indem er als 
Muscheln „alle Einragungen der lateralen Nasenwand“ be- 
zeichnete. 

Diese Definition kann allerdings nur die Erscheinungen 
am voll entwickelten menschlichen Körper decken, sie trifft 
aber nur zum Teil die Tatsachen der frühen Entwickelungs- 
stufen, an deren Erforschung ja gerade Peter so hervorragend 
beteiligt ist, und sie vernachlässigt völlig eine Reihe von Ge- 
bilden der Säugernasen. 

Die primitiven „Siebbeinmuscheln‘ des Menschen sowohl 
als des Kaninchen (Peter |1902]|) und der Ratte (Glas) sitzen 
teils dem (späteren) Septum, teils dem Hintergrunde der Nasen- 
höhle auf; in der Reife treffen wir das gleiche Verhalten bei 
Pferd und Kaninchen u. a.; bei Echidna und Choloepus finden 
sich nach der Angabe von Paulli (1900, S. 165) „typisch ge- 
baute Ethmoturbinalien“, sogar mit Geruchsepithel, auf der 
l,amina perpendicularis und Lamina eribrosa; und das Naso- 
turbinale findet sich in überraschender Häufigkeit (beim Igel, 
Hund, Löwen, Pferd, Halichoerus u. a.) an ersterer Stelle vor 
(vgl. Paulli S. 190, 484, 491, 504, 506, 513). 

Peters Definition ist also zu eng. Wollten wir sie im 
Sinne der eben angeführten Tatsachen erweitern, so wären 
„alle Einragungen der Nasenwände“ als Muscheln zu bezeich- 
nen. Aber auch diese Definition ist unbehilflich; sie ist (wie 
andererseits wieder diejenige Peters) viel zu weit; die Ein- 
ragungen der Nasenwände sind zu ungleichartig, um gleich 
bewertet und benannt werden zu können: 

Erstens trifft man bei vielen niederen Säugern (Reh, Hund, 
Igel, Dasypus, s. Paulli S. 484-511) Verdickungen der 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. He 
Schleimhaut der Scheidewand an, die sich in die gegenüber- 
liegenden Furchen zwischen den „Muscheln“ hineinlegen, aber 
von keiner skeletären Stülze getragen sind und bei näherer Be- 
trachtung nichts anderes vorstellen als Grenzwälle zwischen 
Kindrücken, die dem Septum von den weit vorragenden Firsten 
der „Muscheln“ eingeprägt werden; es handelt sich also um 
zwar auffallende, aber rein passiv-sekundäre Bildungen, die 
(trotz ihrer Konstanz innerhalb der betreffenden Species nich! 
den, wie immer, doch unzweifelhaft funktionell wichtigen und 
skeletär gestützten Muscheln gleichgestellt werden dürfen. Aller- 
dings kommen auch hier Übergangsformen vor: abgerundete 
knöcherne Wälle in der Basıs der Vorragungen; in grösseren 
kammförmigen derartigen Wülsten dünne Knochenblätter; und 
endlich gar die schon oben erwähnten Scheidewand-Turbinalien 
von Echidna und Choloepus. Aber alles das erhöht nur noch 
mehr die Notwendigkeit, diesen verschiedenartigen und ver- 
schiedenwertigen Bildungen durch verschiedene Nomenklatur 
gerecht zu werden, sie nich! in den gemeinsamen „Muschel“- 
Topf zu werfen. 

Zweitens aber sieht man bei Menschen sowohl als bei 
Tieren (mir liegt eine derartige Beobachtung beim Kalbe gegen- 
über dem erwachsenen Rind vor) ım Laufe der Entwickelung 
gut differenzierte Wulstungen auftreten, später aber wieder völlig 
verschwinden; ıhre rein temporäre Existenz gestattet demnach 
nicht, ihnen das Recht eigener Benennung zuzuerkennen, sicher 
aber nicht im Sinne gleicher Benennung mit den Gebilden von 
dauerndem Wert. 

Endlich wird die Gleichwertigkeit jener Einragungen zu 
bestreiten sein, die zunächst zwar durch deutliche Aberenzune 
und häufiges Vorkommen auffallen, sich bei näherer Betrachtung 
aber nur als Teile anderer Wülste darstellen. Zumeist werden 
diese, tatsächlich unselbständigen, Teilwülste mit den nur tem- 


porär existierenden identisch sein. 


974 L. GRÜNWALD. 


Wir werden demnach unsere Erweiterung der Peterschen 
Definition dahin einzuschränken und zu formulieren haben: 

„Muscheln sind alle innerhalb einer Species Kon- 
stanten, dauerhaften und selbständigen Einragungen der 
Nasenwände. 

In dieser Definition bedarf das Prädikat der Selbständie- 
keit noch einer besonderen Festlegung. Dass Geeenbaurs 
Definition der Selbständigkeit (die ın seiner Erklärung zwar nur 
heigefügt, aber offenbar definierend gemeint ıst) — Stützung 
der KEinragung durch eine einfache Fortsetzung des Wand- 
skelels nicht zureicht, ergibt sich schon aus dem erwähnten 
Vorkommen solcher knöchern gestülzter, aber doch bedeutungs- 
loser Prominenzen an der Scheidewand. Es wird kaum etwas 
anderes übrig bleiben, als die Selbständigkeit in guter und 
dauernder Abgrenzung einer Vorragung zu suchen 
und auf die Heranziehung der skeletären Stützen um so mehr 
zu verzichten, als wir dıe fraglıchen Gebilde auch schon in der 
Embryonal- und frühen Fötalzeit unterscheiden wollen, während 
welcher das Skelet noch ganz fehlt oder nur knorpelig angelegt 
ist oder nur provisorisch besteht, um später am fraglichen 
Ort wieder zu verschwinden. 

Ich verhehle mir dabeı nicht, dass dem derart bestimmten 
Merkmal der Selbständigkeit eine gewisse Dehnbarkeit zu- 
kommt. Aber darın liegt kein besonderer Schaden; der Raum 
für abweichende Auffassungen ist einerseits doch recht be- 
schränkt und erstreckt sich nicht auf Wichtiges; andererseits 
wird eine Divergenz der Ansichten in untergeordneten Einzel- 
heiten der Muschelfrage nie völlig auszuschalten sein. 

Als Synonym der Worte Muschel, Concha oder Cornet, wie 
sie sozusagen dialektisch in den Sprachgebrauch übergegangen 
sind, wird es sich, besonders im Hinblick auf die Vergleichs- 
werte der Zoologie, empfehlen, Owens „Turbinale“ in der 


Nomenclatur in den Vordererund zu stellen und daher auch die 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 575 


auf die Topographie bezüglichen Präfixe weiter in Verbindung 
mit dem Hauptwort zu verwenden, wenngleich sie nicht immer 
oanz korrekt der Lage der Turbinalıa entsprechen. Das gilt 
besonders für das Naso-Turbinale, dessen Ausdehnung bei 
vielen Tieren weitaus die Erstreckung des Nasenbeins über- 
schreitet. ebenso auch für Maxillo- und besonders wiederum 
für das Ethmo-Turbinale. Da aber die benennenden Knochen- 
teile die Haupt-, jedenfalls aber die am meisten charakteristische 
Reeion des Sitzes der betreffenden Gebilde darstellen, mag es 
sein Bewenden bei den bereits eingeführten Namen haben; 
nur muss man sich über ihre Fehlerhaftigkeit klar sein. 

Die seit Owen erheblich gewachsene Kenntnis verlangt 
aber die Erteilung neuer Nomenclaturen für neu hinzu ge- 
kommene Beeriffe. 

Zunächst finden sich ausser den selbständigen Einragungen 
einerseits, den konstanten und dauerhaften andererseits, (re- 
bilde von untergeordneter Art. Jene werden wir demnach nach 
ihrer übergeordneten Bedeutung als Hauptwülste (Haupt- 
turbinalia ete.) zu bezeichnen haben. 

Während sie beim Menschen fast durchweg ungegliedert 
sind, ist dagegen bei Säugern, von den Primaten und Prosimiern 
abwärts, eine mehr oder weniger weitreichende Gliederung die 
Regel. Hierfür (allerdings ebenso wie für die einfachen, von 
Schwalbe bereits als Riechwulst bezeichneten Einröllungen 
der Ethmoturbinalia) hat Paulli (l. ec. S. 158) den Namen 
„Riechwülste“ gewählt. Da hierin ein möglicherweise gar nicht 
haltbares Präjudiz der Funktion liegt, ist dieser Name für uns 
nicht annehmbar, abgesehen davon, dass er ausserhalb des 
Rahmens einheitlicher morphologischer Einteilung fällt. Wir 
werden die für verschiedene Species konstanten und, unter 
Umständen wenigstens, zwar dauerhaften, aber unselbständigen 
und daher untergeordneten Abspaltungen der Hauptwäülste als 
Teilwülste, Tori partiales, oder Turbınal-(Muschel-)Blätter 


Anatomischo Heftes I. Abteilung. 164. Heft (54. Rd. H. 3). 38 


576 l,. GRÜNWALD, 


bezeichnen. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob ein oder mehrere 
solche Blätter durch Spaltung oder Einrollung oder Einstülpung 
entstanden sind. — Auch diese untergeordneten, unselbständigen 
Wiülste können konstant und dauerhaft sein, sind es auch 
meistens. 

Nun kommen aber ausserdem Wulstungen nur zu gewissen 
Zeiten der Entwickelung vor, um später wieder zu verschwinden. 


Welche Bedeutung diesen (rebilden auch immer zukommen 


mag — und es ist durchaus nicht leicht, noch immer einwand- 
[rei, ihnen eine bestimmte Bedeutung zuzuerkennen — sicher 


ist das, dass diese nurtemporäre Existenz ihnen wiederum 
nur einen untergeordneten Charakter verleiht: ıch bezeichne 
sie als Sekundärwülste, soweit sie Regelmässigkeiten im Vor- 
kommen und ın der Form nicht verkennen lassen. Wo auch 
letzteres fehlt, wo es sich also um Gebilde handelt, die sowohl 
inkonstant in der Form, als nur vorübergehend von Erscheinung 
sind, wird die Bezeichnung als akzidentelle Wülste dem 
Wesen der Sache konform erscheinen. 

Zwischen den Wülsten finden sich Furchen. Auch diese 
werden wir sinngemäss als Haupt-, Zwischen-, sekundäre 
und akzidentelle Furchen anzusprechen haben. Darauf des 
näheren einzugehen, bleibe der Darstellung der menschlichen 
Ontogenese vorbehalten. 

Auch die Hauptwülste sind, unter sich verglichen, un- 
gleichwertig. Das müssen wir wiederum einerseits anerkennen, 
andererseits durch Benennung zum Ausdruck bringen. — 

Bereits Owen (1866—68) und Allen (1882, 1883) haben 
die Zusammengehörigkeit der ethmoidalen Wülste erkannt und 
ihr dadurch Rechnung getragen, dass sie den Gesamtkomplex 
als Ethmoturbinale bezeichneten ; da sie diese Benennung aber 
ın gleicher Weise für jeden einzelnen ethmoidalen Hauptwulst 
verwendeten, kann die gleiche Verwendung für den Komplex, 
als irreführend, nicht zugelassen werden. Aktuell ist übrigens 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 577 
diese Frage und die nach der Berechtigung der ihr zugrunde 
liegenden Auffassung erst geworden, als Schönemann an- 
nahm, dass die Einzelwülste des Siebbeinkomplexes erst sekun- 
där aus einem zunächst einheitlichen Wulst herausgeschnitten 
wurden. Als Ausdruck dieser Annahme verlangte er die Be- 
zeichnung des supponierten gemeinsamen Primärwulstes mit 
dem Namen „Basiturbinale‘“. 

Peter hat die Irrigkeit dieser Annahme erwiesen; tat- 


sächlich legen sich die Muschelwülste einer nach resp. neben 


£ 


F 


Bıozle 
Kalb. 
Ia, Ib— Geteiltes 1. Ethmoturbinale. IIa, IIb = Geteiltes 2. Kthmoturbinale. 
IIT=3. Ethmoturbinale. e— Lamina terminalis. b—a = Aufgeklappter 
recessus posterior. 


dem anderen, jeder für sich an, und damit musste auch der ver- 
langte Namen fallen. Für uns wäre er ausserdem schon deshalb 
nicht haltbar, weil wir festhalten wollen, dass eben nur der 
einzelne Hauptwulst Turbinale heissen darf. 

Aber die Zusammenfassung der Ethmoturbinalia in einem 
gemeinsamen Begriff bleibt trotzdem ein Postulat. Wenn auch 
nicht in der ersten Anlage, so doch in späteren Stadien der uns 
bekannten Entwickelungsreihen der Säuger inkl. des Menschen, 
und ganz besonders im Reifezustand vieler Species bildet der 
Komplex ein zusammengehöriges Ganzes, dessen einzelne Teile 


nur unter weitreichender Zerstörung getrennt werden können. 


38% 


L. GRÜNWALD, 


578 
Das eilt vielfach, ja zumeist schon für die Zustände in der 
Nase des erwachsenen Menschen; die Untrennbarkeit des Kom- 


plexes drängt sich dem Betrachter aber vollends beim Anblick 


TEC) 
Fie. 2: 


Neugeborenes Kaninchen. A.-T. = Atrioturbinale. 


Seitenraum 


EEE EEE nun Sr NETT I 


zu 


nu . ‘> 
Fig. 3. 


Neugeborener Hund. 


der meisten niederen Säuger aul, wo die Lamina terminalıs 
mit dem Körper des ersten Ethmoturbinale vereinig! eine Schale 
bildei, in der sich die übrigen Eihmoturbinalia eingebettet 


finden (vel. Fig. 1, 2, 3). Im Hinblick darauf, dass die ursprüng- 


Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 579 


lichen Anlagen der einzelnen Ethmoturbinalia aus dem mittleren 
Stirnfortsatze, also einer Vorragung der Schädelbasıs, und 
ausserdem unmittelbar aus der letzteren herausgeschnitten 
werden, habe ich die komplexe Einheit als „Basalwulst” be- 


zeichnet (Grünwald [1912, S. 40]). Der innige Zusammen- 


hang des Komplexes mil der basalen Bildung, wie sie die 


Seitenraum 


Fig. 4. 


Ausgewachsener Hund. 


Frontalsehnitt. 


Scheidewand darstellt, erhellt unter anderem am besten aus 
der Betrachtung der Verhältnisse beim Hunde, wo man Lamina 
terminalis und Septum noch untrennbar vereinigt sieht (Fig. 4). 
Dasselbe Verhältnis findet sich auch beim Schwein (Fig. 5). 
Übrigens empfiehlt sich diese Zusammenfassung und zu- 
sammenfassende Bezeichnung ausserdem noch dadurch, dass 


sie sowohl das Verständnis für die Pneumatisationsvorgänge als 


580 L. GRÜNWALTD, 


die klinische Darstellung sehr wesentlich erleichtert, wie sich 


an entsprechender Stelle ergeben wird). 


> Seiten- 
raum 


Fie. 5. 


Ausgewachsenes Schwein. 
Frontalschnitt. 
a= 1]. Ethmoturbinale b == Maxilloturbinale. 


Schon Zuckerkandl (1887) war bekannt, dass ausser 
(len vom längserölfneten Naseninneren aus sichtbaren Wülsten 


eine Reihe lateral gelegener, zunächst nicht, sondern erst nach 


!) Auch Peter (13) empfindet neuerdings die Notwendigkeit einer Kollek- 
tivbezeichnung und spricht deshalb im Frühstadium von Ethmoturbinalfläche. 
Da diese Bezeichnung nur frühesten Verhältnissen entspricht, spätere und 
tierische nicht deckt, sehe ich keinen Grund, die von mir aus rein praktischen 
Gründen gewählte und der Genese ebensowenig wie Peters neuer Name 
präjudizierende Benennung zu ändern. 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 581 


luntfernung der unmittelbar sichtbaren, oder auf dem Querschnitt 
(larstellbarer Wülste vorkommen. Paulli hat den Unterschied 
beider Komplexe durch die Namen ‚„Endoturbinalia‘ und ‚„Eeto- 
turbinalia“ zu decken versucht; Peter hat an Stelle dieser 
letzteren Bezeichnung diejenige der „Conchae obtectae“ zu 
setzen vorgeschlagen. Es ist gegen die eine sowohl als die 
andere Benennung nichts einzuwenden, soweit sie die Ver- 
hältniısse an erwachsenen Säugern betreffen. Aber in der 
Ontogenese lassen beide im Stich: im Fötal- wie im Kindheits- 
zustand mancher Säuger (Kaninchen, Hund) sieht man die später 
allerdings verdeckten seitlichen Muscheln offen zutage liegen, 
so dass die erwähnten Bezeichnungen für diese Verhältnisse 
absolut nicht zutreffen und daher für unser System, das alle 
Vorkommnisse decken soll, nicht brauchbar erscheinen. Ich 
ziehe daher vor, diese Wülste nach ihrem Situs zu bezeichnen : 
Soweit sie zwischen den Hauptwülsten stehen, wird der Name 
„Interturbinalia® oder „Zwischenmuscheln“ zutreffen. 
Ausserdem aber liegt die Tatsache vor, dass ein grosser Teil 


solcher Zwischenwülste — u. U. die einzigen Vorkommnisse 
dieser Art — in dem Raum vor dem Basalwulst, eventuell 


zwischen diesem und dem Nasoturbinale, vorhanden oder an- 
gehäuft sind. Nun ist aber diesem Raum ein besonderer Platz 
ın der Morphologie des Naseninneren zuzuweisen. Für Paulli, 
der «das Nasoturbinale nicht. als besonderen Bestandteil, sondern 
einfach als ersten Ethmoidalwulst ansah, ebenso für Killian, 
der dieser Auffassung schon früher folgte, besteht zwar dieses 
Bedenken nicht; für sie war hier nichts zu sehen, als die, den 
weiter hinten folgenden, gleichwertige, erste Ethmoidalfurche. 
Mit Rech! hat aber Peter das Nasoturbinale als besonderen 
morphologischen und genetischen Wert (s. u.) den Ethmo- 
turbinalien gegenübergestellt. Tut man das, so darf man auch 
den weiteren Schritt nicht. verweigern und muss dem zwischen 
dem Ethmoidalkomplex (dem Basalwulst) und dem selbständigen 


582 L. GRÜNWAELD, 


Nasoturbinale sıch erstreckenden Zwischenraum eine besondere 
Würdigung zuteii werden lassen. Das ist um so notwendiger, 
als. dieser Raum sowohl durch Ausdehnung als durch Form und 
Inhalt schon sich aufs lebhafteste von den Ethmoidalfurchen 
unterscheidet. Ein Blick auf die zahlreich bei Paulli abee- 
bildeten Querschnitte lehrt dies ebenso wie die Betrachtung von 


"rontalschnitten der menschlichen Nase; ganz besonders aber 


N 


Seiten- 
raum 
I 


Fig. 6. 


Embryo von 11 mm Ges.-Länge. Alter ca. 35 Tage. 


der Anblick von Frontalschnitten aus der Zeit, in welcher der 
[raglıche Raum noch frei von Wulstbildungen ist und doch 
schon die im Verhältnis zu den spaltförmigen Ethmoidalfurchen 
relativ grosse Flächenerstreckung erkennen lässt (Fig. 6, 7, 8), 
ebenso wie die relativ grosse Seitenausladune, die besonders 
bei niederen Säugern in hohem Masse auffällt (vel. Fie. 4 
und 5). 

Die bisher, wenigstens auf menschliche Verhältnisse ange- 


wandte, Bezeichnung als ‚mittlerer Gange“ kann wiederum des- 


F’ 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd. H. 5). Tafel 46. 


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Fig. 13. 


Embryo von 10,5 mm Ges.-Länge. 


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Fig. 14. 


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Fig. 15. 
Embryo von 12,2 mm Ges.-Länge. P; 
“ 


Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 583 


halb nicht als geeignet betrachtet werden, weil sie ıhn den, 
doch absolut ungleichwertigen, Ethmoidalfurchen, dem „oberen“ 


und (eventuell) „obersten“ Gange gleichstellt, von denen ihn ein 


EEE 
EHRT 0: 


IS 


Fötus von ca. 55 Tagen. 
ang. lat. — angulus lateralis. f. e 
idalis inferior. 


S.-R. = Seitenraum. . 1. = fissura ethimo- 


wesentliches unterscheidet: Jene liegen zwischen den Ethmoidal- 
wülsten, dieser ausserhalb des Ethmoidalkomplexes oder, wie 
ich ihn nenne, Basalwulstes; also auch genetisch besteht völlige 
Ungleichheit. 


Aus al! diesen Gründen muss ich auf Durchführung meines 


84 1. GRÜNWALD, 
schon früher (l. e.) gemachten Vorschlages der Isolierung und 
Sonderbezeichnung des Raumes als Seitenraum bestehen. In 
den Rekonstruktionen aus früher Zeit (Fig. 21, 22, Taf. 49) sieht 
man deutlich seine breite und noch inhaltlose Erstreckung 
zwischen dem medial liegenden Basalwulst und den late- 


ralen Vordermuscheln. 


Fig. 8. 
Schnitt etwas weiter vorne als in Fig. 
t. 1. = torus lateralis im Seitenraum. 


Eine weitere Konsequenz aber führt zu besonderer Würdi- 
eung der Wülste, die in diesem Seitenraume liegen. Sie pflegen 
durch besondere Grösse, Mannigfaltigkeit der Gestalt, vor allem 
aber dadurch ausgezeichnet zu sein, dass man sie individuell‘ 
sowohl als nach Species verschieden, häufig auch dort antrifft, 
wo keine anderen Zwischenmuscheln gebildet werden. Ich halte 
es daher für zweckmässig und organisch begründet, diese 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 585 
solitären oder komplexen Wülste als Paraturbinalia auch 


namentlich von den anderen abzuscheiden. 


b) Muschelbesitz. 


In der (tesamtreihe der Vertebraten, allerdings nicht als 
gemeinsamer Besitz, treffen wir folgende Arten von Turbinalia: 
I. Die Eingangsmuschel oder «das Atrioturbinale stell 
sich als leicht in S-Form geschwungener Wulst dar, der 
vom Innenrande des Nasenflügels, parallel dem Nasenboden, 


bis zur Apertura piriformis hinzieht. Bei vielen Säuger- 


Rie,. 9. 
Grünaffe. 


species in mehr oder weniger starker Ausbildung, erhält diese 
Muschel ihre deutlichste Ausprägung wohl bei den Primaten 
(s. Fig. 9), und zwar der verschiedensten Gattungen: Semno- 
pithecus, Cercopithecus, Cynocephalus. Hier sieht man den 
Wulst überall deutlich isoliert in voller Selbständigkeit, während 
er bei niederen Säugern häufig nur eine vordere Abschnürung 
der unteren Muschel (Maxilloturbinale) darzustellen scheint 
(vel. Fig. 1) und bei den anderen gar nur als Verbindungsfalte 
des oberen Körpers des Maxilloturbinale zur Wand «der Nasen- 
öffnung hin erscheint (Fig. 2, A.—T.). Im letztiargestellten Falle 
würde es überhaupt nicht möglich sein, diese unscheinbare 
Falte richtig anzusprechen, wenn wir nicht durch den im frühen 
Fötalzustand gut ausgebildeten Stützknorpel darauf hingewiesen 


986 L. GRÜNWALD, 


würden, wie er sich in Voits (1909) Rekonstruktion des 
Primordialeranıum des Kaninchens erkennen lässt. 

Auch manche Affenart, z. B. Semnopithecus nasıicus, lässt 
kaum eine Spur bemerken, bei anderen wieder ist der Wulst 


zwar deutlich, aber unauffällig (Fie. 10) und in dieser Form 


Fig. 10. 
Meerkatze. 


für uns sehr bedeutungsvoll, weil nur ein kleiner Schritt weiter 
im Rudimentärwerden zu der Erscheinung führt, wie sie mil- 


unter beim Menschen beobachtet werden kann (Fig. 11). Die 


Fig. 11. 


Ähnlichkeit der beiden letzten Bilder springt in die Augen; 
sie ist eigentlich noch deutlicher, als beim Betrachten der 
stärkeren Wülste, wie wir sie mitunter im Fötalleben antreffen 
(Fig. 12). Während nun bei einer Reihe von Tieren, offen- 
sichtlich besonders bei den Primaten, diese Vorhofsmuschel 


ein stark differenziertes Organ ist, kann das von dem, der Er- 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 587 


scheinung nach gleichen, Gebilde beim Menschen nicht 
oesagt werden. Was wir bei diesem an entsprechender Stelle 
S. 38) als 


sehen, ist nichts anderes als das, was ich (l. e. [1912 
Limen vestibuli bezeichnet habe), d. h. ein Vorsprung, 
der der unteren, nach dem Lumen vorspringenden Kante des 
lateralen Flügels der Cartilago triangularis entspricht und keine 
wesentlichen Bestandteile von Gefässen oder Nerven enthält; 
und zwar entspricht dem Vestibuloturbinale nur der seitlichste 
Teil des „Limen“. Es ist nach alledem nicht mit Sicherheil 
möselich, von einer Analogie oder Homologie, sondern nur von 


Homotopie des Gebildes beim Menschen zu sprechen, wenn- 


oleich die grosse Ähnlichkeit mit der primordialen Atrioturbinal- 
bildung beim Kaninchen zu denken gibt. 

2. Als Schwellenmusehel oder Liminoturbinale: möchte 
ich die sog. vordere Muschel der Vögel und Schildkröten be- 
zeichnen. Dieses Gebilde stellt sich als glatter Wulst dar, 
der vom vorderen Rande der bei den Sauropsiden hoch oben 
am Oberkieferansatz einmündenden Nasenöffnung quer durch 
die Nasenlichtung zur Scheidewand hinzieht. Im ganzen Be- 
reiche der Säugerreihe findet sich keine sicher ähnliche Bildung ; 
eine Analogie mit der Lamina transversa anterior, die im 
Chondrocranium des Kaninchens von der Cartilago para- 

!) Zuckerkandl hat das gleiche Gebilde, aber in undeutlicher Abbildung, 
als plica vestibuli heschrieben. Ich habe eine genaue Auseinandersetzung 


der Verhältnisse und der wünschenswerten Nomenelatur in einer Mitteilung 
in der Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1914, Nr. 2 gegeben. 


588 L. GRÜNWALD, 


sphenoidalis zum Atrioturbinale hinzieht (s. Voit, Fig. 8), 
liegt nahe, ist aber nicht mit Sicherheit aufzustellen. 

Noch weniger gilt dies für Zuckerkandls (189) 
Cristanasodentalis; der Verlauf des Ramus nasalıs des 
Nervus dentalis nebst den entsprechenden Gefässen innerhalb 
(dieses Wulstes dürfte ihn eher als Ergebnis nicht nasal-funktio- 
neller Beanspruchung erscheinen lassen. 

Das häufige Vorkonmen einer Grista intermaxilla- 
is (Holl |1882]), die etwas weiter vorne liegt und allerdings 
keine funktionelle Deutung zulässt, gibt dem Gedanken an eine 
rudimentäre Erinnerungsbildung zwar eher Raum, aber doch 
keine zwingende Unterlage. ; 

3. Scheidewandmuscheln oder Septoturbinalia be- 
schreibt oder erwähnt vielmehr Paullı (S. 165) bei Echidna 
und Choloepus in voller Ausbildung, in rudimentärer auch bei 
anderen Säugerarten. Das, nur theoretisch gestützte, Postulat 
einer knöchernen oder mindestens knorpeligen Stütze zur An- 
erkennung des Muschelbegriffes hat es bisher verhindert, all 
diesen sehr verschiedenartigen Gebilden irgendwelche Aner- 
kennung innerhalb der Muschelreihe zu verschaffen. Nach 
unserer mehr Raum gebenden Definition müssen wir aber 
allen in Betracht korimenden Vorragungen unsere Beach- 
tung schenken, sofern sie nur die Erfordernisse der Kon- 
stanz, Dauerhaftigkeit und Selbständigkeit, d. h. guter und 
dauernder Abgrenzung, aufweisen. Das ist nun beim Menschen 
mit dem sog. Tuberculum septi der Fall. Es enthält 
Iymphadenoides Infiltrat, entbehrt aber nicht, wie Zucker- 
kandl behauptet, einen Schwellkörper gänzlich, sondern be- 
sitzt ihn im Gegenteil sehr häulig, wie man am Lebenden ganz 
deutlich durch die auf anämisierende Einwirkungen fast voll- 
kommen eintretende Schrumpfung nachweisen kann. Gerade 
dieser Umstand aber ist es, der an der Leiche den Vorsprung 


nur selten, und dann sehr unbedeutend erscheinen lässt. Ob 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 589 


er bei Säugern häufiger vorkommt, ist aus eben demselben 
(runde — es liegen nur Leichenuntersuchungen vor — nicht 
zu beurteilen. Die Ubiquität (wenn auch wechselnde Grösse) 
des Wulstes aber, sowie seine häufige Versorgung mit Schwell- 
sewebe legt aber doch recht nahe, in ihm ein echtes, wenn 
auch rudimentäres Septoturbinale anzuerkennen. 

Es verstärkt nicht nur, sondern beweist die Gültigkeit dieser 
Auffassung, dass die genaue Durchmusterung von acht aus dem 
zweiten Fötalmonat stammenden Serien (Föten von 11 bis 
23 mm Gesamtlänge) das Vorhandensein von Wülsten an der 
vordersten Septumpartie feststellen liess, die in ihrem ganzen 
Aussehen den, (derselben niederen Entwickelungsstufe ent- 
sprechenden, anderen Turbinalien ähneln, also als echte Septo- 
turbinalien anzusprechen sind. Nur zwei der Serien lassen 
diese (rebilde vermissen, im Einklange mit der später |des 
näheren zu erörternden Tatsache, dass sowohl innerhalb der 
Entwickelungszeit, als in der Reife nur wenige Muschelarten 
beim Menschen vollständige Konstanz des Vorkommens auf- 
weisen. 

Sehr merkwürdig ist das (scheinbar) völlige Verschwinden 
des Gebildes aus den späteren, der eigentlichen Entwickelung 
des Naseninneren gewidmeten Stadien des Fötallebens, so dass 
es erst in der Kindheit wieder auftaucht; ein Verhalten, das von 
der anderen, ebenfalls beim erwachsenen Menschen rudimentär 
bleibenden Muschel, dem Nasoturbinale (s. u.) geteilt wird. 
Man darf wohl gerade in diesem Verhalten die (materielle) 
Bedingung für die mangelhafte Ausbildung des bleibenden Vor- 
sprunges, dem eben in der Hauptentwickelungszeit zu wenig 
Bildungsstoff geliefert wird, erblicken. 

Die fötalen Varianten ‘der Form ersieht man aus Fig. 14c, 
15a, 16d, 17f (Taf. 46, 47, 48). Eine genaue Darstellung ihrer 
Erscheinung ergibt die photographische Abbildung Fig. 18 (aus 


derselben Serie, deren Reihenfolge in Fig. 14 dargestellt ist), 


590 L. GRÜNWALD, 


besser noch als die plastische Darstellung in der Rekonstruk- 
tion: der gelbe Wulst in Fig. 21a (Taf. 49). Im ganzen erstreckt 
er sich in der hier vorliegenden, einem Individuum von 12,2mm 
(Gesamtlänge entstammenden, 465 u langen Nasen,,höhle“ über 


75 u und ist durch einen nicht weniger als 225 u langen 


Frontalsehnitt aus einer Schnittserie eines Embryo von 11 mm Ges.-Länge. 
Lateral Nasoturbinale, medial Tubereulum septi. 


Fig. 19. 
Frontalschnitt aus einer Schnittserie eines Embryo von 9 mm Ges.-Länge. 
Oberes und unteres Septoturbinale, die Jacobsonsche Furche umgrenzend. 


[lachen Zwischenraum von dem septal gebildeten (zweiten) 
Kthmoturbinale geschieden, so dass von einem Zweifel über 
die selbständige Natur der Bildung in diesem (wie in den 
anderen einschlägigen Fällen) keine Rede sein kann. — 
Im selben Frühstadium, sogar schon bei einem Embryo 


von 9 mm Gesamtlänge (also wohl noch vom Ende des ersten 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 591 


Lunarmonats herrührend), zum erstenmal vorkommend, fällt 
eine weitere, meistens als Doppelvorsprung erscheinende Ge- 
staltung auf, die an die Jacobsonsche Furche gebunden, als 
eine Art oberer (und unterer) Lefze diese begrenzt. In hoher 
Ausbildung zeigt sich ein solcher zungenförmiger oberer Wulst 
ın Fig. 19, während dem unteren nur ein flacher Hügel entspricht. 
Im allgemeinen bleibt überhaupt der untere Vorsprung immer 
an Grösse hinter dem oberen zurück. In mächtigster Entfaltung 


Fig. 20. 
T. s. = Tubereulum septi. S.-T. = Septoturbinale. 
zeigt sich dieser weiter vorne in Fig. 20 rechts, wo er nur 
durch eine seichte Furche vom Tuberculum septi geschieden 
wird. Rekonstruktiv zeigt sich das Verhältnis in Fig. 21a, 
Taf. 49: der rote Wulst gegenüber dem gelben, oben erwähnten. 
In klarer Formung erhalten sich diese beiden Septo- 
turbinalien im allgemeinen nur, so lange das Jacobsonsche 
Organ in Rinnenform besteht; übrigens nicht ausnahmslos: 
von 9 mm bis 19 mm fehlten sie in einem 14,5 mm langen 
Fötus und waren im nächsten, 16 mm langen, kaum bemerk- 
bar (Fig. 16e, Taf. 47), liessen sich an einem 23 mm langen 
Fötus gar nicht finden, waren aber wieder in einem 27 mm 
messenden deutlich ausgebildet. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H. 3). 39 


592 L. GRUNWALD, 


Der Übergang der Furche zur Röhre am fraglichen Organ 
scheint dem Dasein dieser Gebilde ein Ende zu setzen; beim 
Fötus von 23 mm Länge wenigstens ist der letzte Rest einer 
Wulstung nur am Eingangswall in dürftiger Erstreckung sichtbar. 

Es läge nahe, diese (Gebilde als Vorläufer der von G. 
Killıian zuerst beschriebenen, in den späteren Fötalmonaten 


auftauchenden Plicae septi aufzufassen, besonders wenn 


.. *) 
Io 
F IS. od. 


Hintere Ohoane mit Tubereulum vomeris beiderseits. 


man erwägt, dass der Übergang aus der Rinnen- in die Rohr- 
[form beim Jacobsonschen Organ dadurch erfolgt, dass nur 
der hintere Teil sich zu letzterer Form ausbildet, während der 


vordere verstreicht (Peter [1913] S. 62). Doch steht dem 


entgegen, dass ım Fötus von 27 mm Länge Bildungen, welche 
man einerseits als Reste der Septoturbinalien, andererseits als 
Beginn von Faltenbildung auffassen könnte, weit vor dem 
vordersten Ende des Rinnenteils des Jacobsonschen Organs 
stehen. Über ein Verstreichen der Rinne gerade in ihrer Mitte 


ıst aber nichts bekannt, es scheint im Gegenteil von vorne 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 593 


nach hinten gleichmässig vor sich zu gehen und ausserdem 
sind die (späteren) Plicae gerade im hinteren Septumabschnitte 
zu finden. So ist ein Zusammenhang zwischen den Plicae und 
den primitiven Septoturbinalien abzuweisen. Man hat überhaupt 
kaum das Recht, ersteren einen höheren Platz als den von 
akzidentellen Furchenbildungen, wie sie an den Ethmoturbinalia 
vorkommen (s. u. S. 628 f.), zuzuerkennen. 

Ebensowenig will es gelingen, das sog. Tuberculum 
vomerıs den Turbinalien gleichzusetzen, obwohl es immer 
an typisch gleicher Stelle und, soweit stärker entwickelt, auch 
von typisch gleicher Gestalt (Fig. 23) erscheint. Da diesem 
Wulst nichts Gleiches in der Tierreihe entgegensteht, darf es 
als Neuerwerbung im Sinne einer stärkeren Benutzung der, 
gegenüber den niederen Säugern weitaus grösseren, hinteren 
Choane des Menschen angesehen werden. 

4. Das Nasoturbinale war bereits von Schwalbe 
in Gegensatz zu den ethmoidalen „Riechwülsten“ gestellt 
worden; es wurde ihm keine Riechschleimhaut zuerkannt. 
Die Unhaltbarkeit dieser physiologischen Unterscheidung habe 
ich schon oben dargelegt: abgesehen vom Mangel des Nach- 
weises fehlender Verbreitung des Sinnesepithels in den frag- 
lichen Regionen ist auch gar nicht mit der sicher höchst ver- 
schiedenen Anordnung innerhalb der verschiedenen Species ge- 
rechnet. Damit ist aber andererseits noch nicht die Berech- 
tigung gewonnen, das Nasoturbinale mit den Ethmoturbinalien 
zusammenzuschlagen, wie das Killian und ebenso Paulli 
getan haben. Wir haben uns schon oben Peters aus der 
(senese gewonnenem Gegenargument angeschlossen: das Naso- 
turbinale entsteht, auch bei den Säugerembryonen, im Geeen- 
satz zu den medial angelegten Ethmoturbinalien lateral (S. 
Fi 18.215 22): 

Hohen, wenn auch nicht durchschlagenden Wert muss man 


auch der fast durchgehend grossen Gestaltabweichung zwischen 


39 


>94 L. GRÜNWALD, 


beiden Arten von Bildungen zumessen; vereinzelt allerdings, 
z. B. beim Igel, ist die gestaltliche Verschiedenheit zwischen 
dem Nasoturbinale und dem ersten Ethmoturbinale nicht sehr 
erheblich. 

Entscheidend in morphologischer Beziehung ist aber der 
Umstand, dass das Nasoturbinale niemals Bezie- 
hungen zur Lamina terminalis besitzt, welcher 
doch, im Gegensatze hiezu, jedes einzelne Ethmoturbinale mit 
seiner „Haftfalte“ (Schwalbe) verbunden ist. Diese Tatsache 
steht in engem Korrelat zu derjenigen der basalen Entstehung 
und zugleich komplexen Natur der Ethmoturbinalia. 

Wenn Paulli im, allerdings unbewussten, Gegensatz zu 
dieser meines Erachtens entscheidenden Tatsache die Kinord- 
nung des Nasoturbinale in die Ethmoturbinalia damit begründet, 
dass jenes, ebenso wie diese, mit seinem hinteren Ausläufer 
an der Lamina cribrosa haftet, so liegt in dieser rein osteo- 
logischen, also späten Tatsache, kein entscheidendes Argument 
für die Gleichheit der Gebilde, sondern nur ein Einwand gegen 
die Nomencelatur: infolge dieser Anheftung müsste allerdings 
das Nasoturbinale zum Siebbein gerechnet und könnte nicht 
von „Siebbein“-Muscheln getrennt werden. Dem wäre sofort aus- 
zuweichen, wenn wir die letzteren in genetisch richtiger Weise 
nicht Ethmo-, sondern Basıturbinalia nennen würden: 
ihre osteale Zusammensetzung aus ethmoidalen Elementen ist 
ja tatsächlich von ganz untergeordneter Bedeutung. Und ich 
würde nicht zögern, diese Lösung der Frage durch konsequente 
Nomenelatur auch hier vorzuschlagen, wenn nicht der Name 
„Ethmoturbinahla‘“ bereits zu stark eingeführt wäre und wenn 
wir nicht auch die anderen Muschelarten bereits mit topo- 
graphisch-osteologischen, nicht genetischen Namen belegt 
hätten; dass man sich dabei der stattfindenden und willkür- 
lichen Fehlerhaftigkeit bewusst bleiben muss, habe ich bereits 


betont. 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 595 


Die Identität dieser bei Säugern hoch ausgebildeten Muschel 
mit dem rudimentären, oft kaum festzustellenden Agger nası 
des erwachsenen Menschen hat bereits Schwalbe dargetan; 
begreiflicher wird sie beim Anblick der Übergangsformen, wie 
sie sich an der fötalen Nase und in mehr (Fig. 24) oder weniger 
(Fig. 9) deutlicher Ausbildung bei Primaten vorfinden. Homo- 
loger Besitz bei Sauriern und Vögeln („obere Muschel‘ ?) ist 


zweifelhaft. 


Fig. 24. 
Pavian. 
N.-T. = Nasoturbinale. 


Der späteren minimalen Grösse dieser Muschel (oder viel- 
mehr des ihr entsprechenden Vorsprunges) entspricht auch ihre 
primitive Anlage beim Menschen: ein kaum unterscheidbarer 
Hügel, weit vor dem ersten Ethmoidalwulst (Fig. 21 und 22), 
der sich am besten noch ım Durchschnitt (Fig. 16e links und 
18). erkennen lässt. Bemerkenswert ist die Pneumatisations- 
fähigkeit dieser Muschel, die bei niederen Säugern erheblich 
ist, aber auch beim Menschen trotz der rudimentären (Be- 
schaffenheit des Organs gelegentlich nicht vermisst wird. Hier- 
über a. a. 0. 

5. Maxilloturbinale der Säuger und untere Muschel 


der Menschen sind schon seit langem als identisch anerkannt. 


596 L. GRÜNWALD, 


Von niederen Vertebraten finden wir sie bei Sauriern und 
Schlangen als „untere“, bei Vögeln als „mittlere“ Muschel vor. 
Beim Menschen und allen Primaten bleibt diese Muschel ein- 
fach, undifferenziert; der Ausbildung einer Leiste am oberen 
Rande in Analogie zu der doppelten Abbiegung bei einigen 
Säugern (so auch noch bei einigen Primaten) ist man auch 
seit Dursys Entdeckung dieser Tatsache noch nie anders 
als im Fötalzustand begegnet. 

Vorgreifend ist hier zu bemerken, dass bei einigen Säuger- 
arten (Schaf, Rind u. a.) die Differenzierungsvorgänge an dieser 
Muschel sich in Form von Einrollungen abspielen, die schliess- 
lich zu dütenförmigen Hohlraumbildungen mit minimalem Zu- 
gang, also zu echten Höhlengestaltungen führen. Die allerdings 
sehr seltenen Befunde von Hohlräumen der unteren Muschel 
(auf die wir erst bei Besprechung der Pneumatisationsvorgänge 
näher eingehen können) lassen an die Möglichkeit denken, dass 
solche Einrollungen auch beim Menschen der Oberflächenver- 
erösserung dienen. Phyletische Folgerungen aus diesen, noch 
dazu enorm seltenen und ihrer genetischen Art nach durchaus 
problematischen Vorgängen zu ziehen, geht natürlich nicht an. 
Ebensowenig aus dem zwar etwas häufigeren, doch immerhin 
noch recht seltenen Vorkommen von Spalt- und Furchen- 
bildungen der freien Fläche, die morphologisch der bei den 
meisten anderen Säugerarten üblichen Oberflächenvermehrung 
durch Spaltung in einzelne Blätter entspricht (vgl. Fig. 2). Die 
weitere Entwickelung einer solchen Furchenbildung führt 
schliesslich wieder zur Pneumatisierung, einem jedenfalls sehr 
seltenen Ereignis, dessen Vorkommen in einem Fall von Eiter- 
höhle der unteren Muschel (Baurowicz [1906], Arch. £. 
Laryngol., XVIIl., S. 388) mir aber gesichert erscheint. 


6. Die Ethmoturbinalia geben dem Naseninneren sein 
wesentliches Gepräge. Ihre Ausbildung kann nur im Zusammen- 


hange mit dem Aufbau des ganzen Naseninneren verfolgt werden. 


597 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 


Il. Ursprüngliche Gestaltung des menschlichen 
Naseninneren. 
Das Riechfeld versinkt in den Grund einer flachen, dorsal- 
wärts vertieften Grube, indem sich mittlerer Stirnfortsatz einer- 
und Oberkieferfortsatz anderer- 


seits, lateraler Stirnfortsatz 


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Fig. 25. 
Embryo von 9,1 mın Ges.-Länge. Alter ca. 30—32 Tage. 


seits zur Umwallung vereinigen (Fig. 25). Dies geschieht un- 
gefähr am 30.32. Tage. Durch Vorwachsen der Umwallung 
sinkt der Grund der Nasengrube immer tiefer, so dass diese zur 
zunächst nur vorne offenen Nasenhöhle, also einem Blindsack 
wird. Alle Einzelheiten dieses Vorganges zu kennen, ist für 
das allgemeine Verständnis nicht wichtig. Die Untersuchung 


598 L. GRÜNWALD, 


der Schnittserien aus dem entsprechenden Lebensalter bestätigt 
die von Hochstetter (1891, 1892) und Peter (1902) darüber 
erhobenen Befunde. 

Unmittelbar nach der Vertiefung zum Blindsack beginnt 
schon die Wulstung der Innenflächen, und zwar zunächst am 
medialen und cranialen Teil des hintersten Teiles des Sackes. 
Diese letztere Partie bildet nämlich eine beim frühfötalen Men- 
schen sehr geringfügige, aber doch deutliche Ausbuchtung, den 
„Recessusposterior“. In der Rekonstruktion tritt sie nicht 
sehr auffallend hervor, immerhin wird sie auch hier deutlich 
ersichtlich, wie die Abbildungen Nr. 44, 45, 66 und 67 beı 
Peter (1913) zeigen. Nach unten abgeschlossen und damit 
in deutlicher Abgrenzung auf Frontschnitten erkennbar, er- 
weist sich dieser Recessus nur ım zweiten Lunarmonat. 

Eshandeltsichalso m.a. W.um die Tatsache, 
dassdieNasenhöhle des Fötusimzweiten Monat 
nicht mit der (primitiven) Choane ihr Ende er- 
reicht, wiedasspäterhin und durchweg beimer- 
wachsenen Menschen der Fallist, sondern dass 
sie sich hinter und über der hinteren Nasen- 
(Rachen-)Öffnung noch ein Stück weit fortsetzt. 

Entsprechend dem nur zeitweiligen Vorkommen ist diese 
eigentümliche Partie des Naseninneren individuell sehr ungleich- 
artıg entwickelt, fehlt sogar vereinzelt gänzlich, so bei je einem 
Fötus von 11 bzw. 14,5 mm meiner Beobachtung. Bei den 
anderen steht sie in jeweils sehr verschiedenem Verhältnis zu 
den Ausmassen des übrigen Naseninneren, das von 3—-300%e 
der Länge schwankt und sogar auf den beiden Seiten desselben 
Präparates Verschiedenheiten um das Doppelte bis sogar zum 
Siebenfachen aufweist. 

Über ihre Erscheinung gibt die Betrachtung von, den ver- 
schiedenen aufeinanderfolgenden Teilen des Naseninneren ent- 
nommenen, Schnitten (Taf. 46--48) den besten \ufschluss: 


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Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164, Heft (54. Bd., H. 3). > 2 Tafel 47. 
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Fig. 16. 
Embryo von 16 mm Ges.-Länge. 


# Verlag von J, F. Bergmann in Wiesbaden. 


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Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 599 


In Fig. 13 sehen wir bei einem 10,5 mm langen Fötus 
zunächst eine offene Rinne (a); diese wird weiter hinten durch 
Zusammenschluss der unteren Ränder zur geschlossenen 
Röhre (b), um wiederum in eine nach unten klaffende Spalte (ec) 
überzugehen ; die drei nächsten Stadien, d, e, f, zeigen wiederum 
einen geschlossenen Hohlraum. 

a entspricht der offenen Nasengrube, b der über dem 
primitiven Gaumen verlaufenden Strecke, c der primitiven 
Choane und von hier ab erstreckt sich in d—-f der Recessus 
posterior. 

Fig. 14 zeigt die entsprechenden Verhältnisse bei einem 
Fötus von 11 mm: in a die offene Nasengrube; in b und « 
beginnend, in d vollkommen ausgebildet den geschlossenen 
Verlauf über dem primitiven Gaumen, in e—g den teils be- 
ginnenden, teils vollendeten Durchbruch der Membrana bucco- 
nasalis zur primitiven Choane und dahinter in g und h nur 
mehr einen ganz kurzen Epithelpropf, aber kein Lumen mehr. 

Der nur wenig grössere Fötus von 12,2mm Länge in Fig. 15 
zeigt hinter dem primitiven Gaumen (b, ec) den Durchbruch zur 
primitiven Choane in d und dahinter (in ziemlich weiter Er- 
streckung) den Recessus posterior. 

Das Verhalten des Recessus gegenüber der voll ausgebil- 
deten primitiven Choane zeigt die von einem 23 mm langen 
Fötus herrührende Fig. 17. Hier besteht keine Nasengrube 
mehr, die vorher offene Rinne ist durch den Zusammenschluss 
der Mesodermmassen ganz in die Tiefe versenkt worden (b—e), 
ausserdem die so entstandene Röhre durch Epithelwucherung 
ganz oder grossenteils ausgefüllt, und diese Epithelwucherung 
erfüllt auch den vordersten kurzen, noch an die frühere Nasen- 
grube erinnernden Teil a. Auf einer weiten Strecke verläuft dann 
die offene Nasenhöhle mit reich differenzierten Wandungen 
im Mesoderm (f) und öffnet sich, wiederum unten, zu einem 
langen, der primitiven Choane entsprechenden Spalt (g, h, i), 


600 L. GRÜNWALD, 


dem dann ein geschlossener Spalt von ganz ähnlicher Gestalt (k) 
in sehr ausgiebiger Erstreckung (rechts 12, links 22%0 der 
(Gesamtlänge der Nase) folgt, dessen Verschluss ganz deutlich 
am unteren Ende zunächst durch Verschmelzung der epithelialen 
wänder zu erfolgen — scheint. Denn dieser Vorgang kann auch 
anders gedeutet werden, nämlich als Beginn des sekundären 
Durchbruches des zum Recessus posterior geschlossenen hin- 
teren Röhrenteiles, wodurch dieser schliesslich als solcher ver- 
schwinden und der ganze hintere Nasenteil sich über die, da- 
durch wesentlich verlängerte, primitive Choane erstrecken wird. 
Ein Vergleich mit Fig. 15 erläutert die Wahrscheinlichkeit, dass 
es sich um letzteren Vorgang handelt; denn der in einem grossen 
Teil des Recessus posterior dieses Präparates sich von seinem 
Boden zur unteren Schädelfläche hinunter erstreckende Epithel- 
fortsatz (e) lässt kaum eine andere Deutung zu, da hinter sowohl 
als vor ihm dicke Mesodermmassen den Boden bilden. Nur 
würde hier der Durchbruch in der Mitte des Recessus beginnen, 
was gar nicht ausschliesst, dass er dann nach vorne fortschreitet 
und erst von der, so schon erheblich erweiterten, primitiven 
Choane aus die weitere Spaltung nach rückwärts erfolgt. 
Der Umstand, dass Fig. 13 von einem soviel kleineren 
Fötus, als der der Fig. 17 ist, herstammt und andererseits die, 
jenem fast gleichgrossen, Föten der Figg. 14 und 15 nur ganz 
einfache Verhältnisse erkennen lassen, ın denen die Bildung 
des Recessus posterior offenbar eben erst erfolgt ist, spricht 
gar nicht dagegen, dass der Fötus der Fig. 13 bereits ein vor- 
geschritteneres Entwickelungsstadium aufweise: seine Wände 
sind jedenfalls ganz erheblich differenzierter, als die des in 
Fig. 14 dargestellten, nur eine Kleinigkeit grösseren. Schliess- 
lich sind ja ausserdem die Verhältnisse des Recessus posterior 
individuell so sehr verschieden (s. o.), dass daraus allein schon 
die Inkongruenz seiner Entwickelung gegenüber den allgemeinen 


intwickelungsfortschritten erklärbar wird. 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 601 

Auf diesem Umstand beruhen offenbar auch die Verhältnisse 
der Fig. 16. Diese, dem früheren Stadium einer Gesamtlänge 
von 16 mm entstammend, lässt überhaupt keinen Recessus 
erkennen, hinter dem letzten offenen Choanenabschnitt ist nur 
ein einziges, von solidem Epithel ausgefülltes Segment (hier 
nicht abgebildet) erhalten; es würde demnach entweder die 
Bildung des Recessus völlig ausgeblieben oder seine Rück- 
bildung schon vollständig ausgesprochen sein; letzteres Ver- 
halten würde der allgemeinen Entwickelung allerdings voraus- 
eilen, jedoch ist das nach den eben erörterten Allgemeinver- 
hältnissen des Recessus nicht undenkbar. Jedenfalls kann man 
sich immer noch eher diese beiden Modalitäten vorstellen, als 
die dritte, der Annahme eines sekundären, die Choane ver- 
kürzenden Verschlusses des Spaltes von unten her ent- 
sprechende. Denn für diesen Verschluss, der doch im allge- 
meinen sehr frühzeitig (vgl. Fig. 13) einsetzen müsste, erschiene 
selbst bei Bewilligung grössten Spielraums die Reifezeit doch 
schon zu vorgeschritten. 

Es wäre wenig wichtig, diese Frage, ob der Hecessus 
also durch Ausbohrung der soliden Schädelmassen oder durch 
sekundären Verschluss einer zunächst offenen Röhre zustande 
kommt, zu erörtern oder zu entscheiden; aber die eigentüm- 
lichen, sonst unerklärbaren Zwischenstadien der Fig. 13 drängen 
einerseits dazu, andererseits der Umstand, dass gerade ım 
Recessus die ersten Anfänge der ethmoidalen 
Nulkstungen auftreten: 

In den vorderen offenen und geschlossenen Abteilungen 
der Fig. 14 (a—d) fehlt noch jede Wulstung, ausser der dem 
Tuberculum septi entsprechenden in e; erst in den der primitiven 
Choane entsprechenden und den darüber liegenden, dem 
Recessus angehörigen Durchschnitten, e—g, treten die primitiven 
Ethmoturbinalien in Erscheinung. 


(Ganz Ähnlich verhalten sich die Strecken a-—e zu d—f ın 


602 L. GRÜNWALD, 
Fig. 15, nur dass hier im vorderen Abschnitt neben dem 
Tuberceulum septi auch Septoturbinalien auftauchen; die Ethmo- 
turbinalien bilden sich auch hier erst über der primitiven Choane 
und im Recessus selber. 

In der Fig. 13 endlich sieht man Ethmoidalien nur in 
der Recessus-Strecke d--e, während die Decke der primitiven 
Choane, ce, ganz wulstlos verläuft und im vorderen Anteil neben 
septalen Wulstansätzen ein nasoturbinaler Vorsprung sichtbar wird. 

Sehr bemerkenswerterweise erscheinen nun in Fig. 16 die 
Ethmoturbinalien erst in jenem Teil der geschlossenen Röhre, 
an dessen Grunde der Epithelstrang zur Basis hinführt, während 
der davor liegende Teil der Wandungen zunächst undifferenziert 
ist, weiter vorne aber (in e) nur das Nasoturbinale erkennen 
lässt. Nach rückwärts aber setzen sich die Ethmoturbinalien 
noch eine Strecke weit in den oberen Partien des offenen 
Spaltes fort, um erst in dessen hinterem Abschnitt ganz zu 
verschwinden. Wenn in diesem Entwickelungsstadium also Kth- 
moidalien dort sitzen, wo gar kein Recessus sichtbar ist — es 
fehli ja im vorliegenden Präparat überhaupt gänzlich —, so 
spricht der Vergleich mit den früheren Stadien dafür, dass die 
von den fraglichen Wulsten eingenommene Strecke der Nasen- 
höhle dem früheren, teils schon nach unten eröffneten, teils 
eben in der Eröffnung begriffenen Recessus entspricht und 
dass der dahinter befindliche offene Abschnitt einem auch nach 
der Wanddifferenzierung noch fortdauernden Wachstum des 
Epithelschlauches nach rückwärts entstammt. Durch letzteres 
würde ein hinterer glatter Abschnitt geschaffen, der jedenfalls 
bestimmte Beziehungen zum späteren Epipharynx besitzt. 

Die Verhältnisse der Fig. 17 bestätigen diese Auffassung: 
in dem vordersten Teil des Recessus, k, sitzen gerade noch 
die letzten Reste der Ethmoidalia, während der grösste Teil 
der Recessuswandungen undifferenziert ist und sich anderer- 
seits die eigentliche Ethmoidalwulstung weiter vorne über der 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 603 


Choane (i) entfaltet: ein neuer Hinweis auf die ursprüngliche 
Zugehörigkeit dieser Partie zum Recessus. 

Es besteht also ursprünglich ein enges Ver- 
hältnis des Recessus posterior zur Ethmoturbi- 
nalanlage und dieses Verhältnis müsste weiter andauern 
oder gar auf Lebenszeit bestehen, wenn dem Recessus beim 
Menschen nicht gar so kurze Lebensdauer beschieden wäre. 
Das ist ganz anders bei den niederen Säugern. Bei diesen 
besteht der Recessus in der Reife fort, und entsprechend den 
ursprünglichen Beziehungen zur Ethmoidalwulstung dient er 
der grössten Menge der Ethmoidalia dauernd zur Behausung. 
(Vgl. Fig. 1—3, in denen die mediale, aus dem hinteren Sep- 
tumabschnitt gebildete Wand aufgeklappt bzw. weggeschnitten 
ist, so dass der Recessus ganz frei liegt.) 

Hand in Hand damit geht, dass diese hier eine relativ 
viel grössere Ausdehnung erreichen, als beim Menschen. Bei 
den niederen Säugern ähnelt also das Verhältnis der Ethmoidalia 
zum Recessus posterior noch in der Reife demjenigen der 
Frühentwickelung, beim Menschen ändert es sich, und zwar 
deswegen, weil hier der ganze Vorderhirnschädelabschnitt die 
grössten Veränderungen erfährt. Nach aussen zeigen sich diese 
in der Ausbildung des „Gesichtes‘‘ an, dessen am meisten 
charakteristische Funktion die Erhebung der Stirn nahezu in 
die Frontalebene zugleich mit der in der Tiefe erfolgenden 
Verlängerung des subfrontalen Basisanteils nach vorne darstellt. 
Der dadurch bedingten Verschiebung der Lamina ceribrosa folgen 
diejenigen Teile, an denen die Endausbreitungen des Riech- 
nerven verlaufen, nämlich das hintere Drittel des Septum und 
fast das ganze zweite (resp. dritte) Ethmoturbinale (Effie 
Read [1908] S. 17) und entwachsen damit dem Bereiche des 
Recessus. In der Ontogenese kommt dieser Vorgang nur indirekt 
zum Vorschein: der Recessus, der ja durch diese Entwickelungs- 
verhältnisse überflüssig wird, bildet sich — wie wir sahen, 


604 L. GRÜNWALD, 


sehr frühzeitig zurück: nur kurze Zeit hindurch deutet sich 
in einzelnen Fällen die Vertiefung, der aber der Wulstinhalt 
rasch entwächst, als parasphenoidaler Recessus 
(Fig. 26) noch an, aber selbst jetzt noch fällt die stark rück- 
wärtige Lage der Ethmoturbinalien, die sogar die (sekundäre) 
Choane noch etwas nach hinten überragen, auf, während die 
vordere Hälfte des Maxilloturbinale nach oben völlig frei liegt: 
hier wie beim Säuger besitzen die letzteren Muscheln keine 
Beziehungen zum olfaktorischen Bereich, gehören nur dem Ober- 


kiefer an und teilen daher sein Verhältnis zur Schädelbasis; 


Fig. %6. 
Fötus von ca. 60 Tagen. r. p.-s. = recessus parasphenoidalis. 

so lange diese den Oberkiefer nicht überragt, bleiben auch jene 
von der Basis und ihren nasalen Anhängen nach oben hin frei. 

Die im vorliegenden Präparat vom 60. Tage erreichte Höhe 
der Entwickelung liesse sich annähernd als Indifferenz- 
stadıum bezeichnen, von dem aus beim Menschen dann das 
Vorwärtswachstum energisch einsetzt, während bei den niederen 
Säugern im Gegenteil nur das junge Individuum kurze Zeit eine 
Art von „Gesichts“bildung aufweist (s. Fig. 1 u. 3), aus der die 
einseitig, ohne Mitwachstum des Stirnschädels verlaufende Aus- 
bildung der Kiefer die tierische Physiognomie entstehen lässt: 
das Entwachsen des Schnauzenteils aus dem Bereich der Basis, 


innerhalb dessen aber die Ethmoturbinalia zurückbleiben. 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 605 


III. Die Ethmoturbinalia des Menschen. 


Reiche Gliederung sowie enge Beziehungen zum Riech- 
nerven lassen diese Gruppe der Turbinalia als die wichtigste, 
besonders in vergleichender Hinsicht, erkennen. Es wäre des- 
halb, besonders im Hinblick auf Fragen der Stammesgeschichte, 
eigentlich notwendig, die Verhältnisse der verschiedensten Men- 
schenrassen zu erforschen. Es ist aber schon schwer genug 
gewesen, das heimische Material in genügender Menge zu unter- 
suchen und den nachfolgenden Bemerkungen zugrunde zu legen. 
Dass es im grossen ganzen dem Verhalten des europäischen 
Menschen überhaupt entspricht, lässt sich aus dem Vergleich 
mit Mitteilungen der Forscher benachbarter Länder und auch 
von Amerika entnehmen, wenngleich diese jeweils nur einem 


Teile des (resamtmaterials entstammen. 


I 


Vergleichen wir nur eine kleine Reihe von menschlichen 
Naseninneren der Erwachsenen, so fällt sofort eine Reihe von 
Verschiedenheiten des Vorkommens auf, Verschiedenheiten, die 
nur an der Hand einer grossen Individualreihe 
nach ihrer Gesetzmässigkeit gewürdigt werden können. Schon 
diese ohne weiteres sich ergebende Notwendigkeit zeigt den 
durchaus problematischen Wert von Betrachtungen und Folge- 
rungen, die auf der Kenntnis nur einiger oder bestenfalls weniger 
Dutzend Individualfälle aufgebaut werden. Wir glaubten mil 
der immerhin recht eintönigen Durchmusterung der Köpfe erst 
dann Halt machen zu dürfen, als auch dıe seltener beobachteten 
Vorkommnisse in unserem Gesichtskreis zu wiederholten Malen 
auftauchten, so dass, mit vielleicht seltensten Ausnahmen, alle 
Eventualitäten sowohl an sich, als ın ıhrem Verhältnis zur Ge- 
samtzahl, sich darstellten }). 

!) Die vorliegenden Beobachtungen entstammen 32 Präparaten aus dem 
2. u. 8, 18 aus dem 4., 17 aus dem 5., 45 aus dem 6. u. 7., Si aus dem 


S.—10. Intrauterinmonat; 22 aus dem Alter bis zu 9 Jahren; 133 von Er- 
wachsenen; im ganzen also 348 Präparaten. 


606 L. GRÜNWALD, 


Dasselbe gilt in erhöhtem Masse für die Stufen der Ent- 
wiekelung. Je näher dem ursprünglichen Zustande unsere Unter- 
suchungen führten, desto deutlicher wurde auch hier das Vor- 
handensein einer Anzahl von eigentümlichen, aber fast in jedem 
Alter wiederkehrenden Formen erkennbar, von deren keiner 
also hätte gesagt werden dürfen, dass sie „die“ Form der vor- 
liegenden Altersstufe sei. Es konnte also zunächst für jedes 
Entwickelungsstadium das Vorkommen einer Anzahl von Ge- 
staltungstypen festgestelit werden, die untereinander, zwar 
nicht dem prozentualen Vorkommens nach, aber nach der Ge- 
setzmässiekeit ihres Auftauchens, durchaus gleichwertig er- 
scheinen. 

Was diesen Beobachtungen des Vorhandenseins verschie- 
dener Typen aber erst ihren vollen Wert verlieh, war der Um- 
stand, dass sie ın jeder Altersstufe immer wıiederkehrten, wenn- 
gleich die frühen Entwickelungsstadien häufig, die frühesten 
immer, eine scharfe Ausprägung nur der Hauptzüge aufweisen, 
ın den feineren Formen aber mehr oder weniger Verwischungen 
zeigen. Dieser Umstand hat es auch gestattet, die naturgemäss 
viel schwierigere Untersuchung der Frühformen (an lücken- 
losen Schnittserien und ın Rekonstruktionen) auf bedeutend 
weniger (15) Individuen zu beschränken, da die Varianten sich 
hier viel rascher erschöpfen. Dasselbe gilt für die postfötalen 
Entwickelungsstufen: Schädel von Kindern sind einerseits viel 
schwerer zu beschaffen, andererseits sind die an ihnen vor- 
findlichen Gestaltverschiedenheiten der Muscheln kaum mehr 
von denen der Erwachsenen zu trennen. 

Die sonach erschöpfend durchgeführte Untersuchung sämt- 
licher Entwickelungsstufen hat weiter zu der Erkenntnis ge- 
führt, dass den verschiedenen, wie schon erwähnt, jedem Alter 
eigentümlichen Gestaltungstypen ganz gleiche bzw. nur, der 
Entwickelung entsprechend, ähnliche Typen der anderen Alters- 
stufen entsprechen, mit anderen Worten, dass eine Anzahl 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 607 


von-Typen durch dieganze Entwickelung durch- 
laufen. 


Sobald dies zu klarer Erkenntnis gekommen war, wurde, auch aus diesem 
Grunde, die Möglichkeit hinfällig, sich Killians Ansichten anzuschliessen. 
In seinen Beobachtungsreihen war natürlich auch ihm die große Anzahl ver- 
schiedener Bilder aufgefallen, ihre scheinbare Regellosigkeit liess ihm aber 
die Deutung mehr oder weniger vollkommener Rückbildungsvorgänge aus 
einem (tierischen) Frühtypus, seinen evolutionischen Voraussetzungen ent- 
sprechend, zu. Wie immer die Entwickelung stattgefunden habe, dass sie 
nicht auf eine einzige Frühform zurückzuführen ist, das geht mit Sicherheit 
aus unserer Typenreihe hervor. 


Die Gesetzmässigkeit im Vorkommen einer grösseren Reihe 
von Gestaltungen des Reifealters nötigt dazu, eine jede einzelne 
dieser Gestalten besonders zu kennzeichnen. Der Umstand, dass 
jeweils mehrere von ıhnen im Laufe der Entwickelung sich 
nur als Differenzierungen gröberer Formen darstellen, gestattete, 
die Zahl der Typen (die unter sich keinen wesentlichen Zu- 
sammenhang mehr zeigen) auf nur vier zu beschränken und 
schliesslich in der Hauptsache zwei Gruppen zu unterscheiden. 

Näher auf diese Verhältnisse einzugehen und sie zu be- 
gründen, gestattet erst die unten folgende zusammenhängende 
Darstellung; einzelne Hauptzüge mussten schon  vorwegge- 
nommen werden, weil jener zunächst eine Auseinandersetzung 
mit den bis heute massgebenden, aber sehr abweichenden An- 
schauungen Killians vorausgehen muss, von denen anderer- 
seits einiges, als bleibender Erwerb, auch in unsere Auffassung 


übergehen durfte. 


a) Die bisher geltende Lehre von den Siebbeinmuscheln 
des Menschen. 

Zunächst ist der prinzipielle Gegensatz unserer (mit der- 
jenigen Peters übereinstimmenden) Auffassung und der von 
Kıllıan und Paullı vertretenen hier nochmals mit aller 
Schärfe festzulegen : Diese rechnen das Nasoturbinale den Sieb- 
beinmuscheln, deren Zahl dadurch allein schon um eine ver- 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft. (54. Bd., H. 3.) 40 


608 L. GRÜNWALD, 
mehrt wird. hinzu. Dass und warum das nicht zulässig ist, 
wurde schon oben (S. 593) erörtert. Dass es überhaupt ge- 
schehen konnte, erklärt sich allein schon daraus, dass die 
Nomenklatur nicht allein, sondern auch die anatomische Be- 
trachtung dieser Autoren auf das Skelet zurückgreift und da- 
mit auf sehr spät zur Entwickelung kommende Verhältnisse; 
selbst die frühesten Kıllıanschen Rekonstruktionen be- 
treffen solche, ausschliesslich in der Tiefe sich abspielende Vor- 
gänge und Zustände. Erst die mit Peter beginnende Unter- 
suchung frühester Stadien liess die primäre Existenz von 
Furchenbildung der Oberfläche, bevor noch in der Tiefe Ver- 
änderungen sichtbar werden, erkennen. 

Zwar kann ich mich Peters Anschauung, dass die später 
als Siebbeinmuscheln ıimponierenden Einzelwülste nur durch 
Tieferdringen dieser Furchen aus der vorhandenen Gewebsmasse 
in vollem Umfange herausgeschnitten werden, nıcht rückhaltlos 
anschliessen; das verbietet schon die Betrachtung einzelner 
Exemplare frühester Stadien, die bereits schmale Vorragungen 
zwischen breiten Gruben zeigen, deren gegenseitige Entstehung 
doch nur durch einen mindestens gleichwertigen Vorgang von 
Vertiefung einerseits, (Gewebsvermehrung der Vorragungen 
andererseits erklärbar ıst (vel. Fig. 18, 19 ete.); ferner müsste 
das Bild, soweit es durch Herausschneiden allein erzeuebar ist. 
mehr oder weniger einer Basreliefform entsprechen, d. h. die 
Oberfläche müsste nahezu eben oder doch, auch in späteren 
Stadien, nahezu den frühesten Stadien gleich gestaltet sein. Das 
trifft (im Gegensatz zu manchen derartigen Bildern bei Tieren | 
u. a. beim Menschen nicht zu, und zwar schon in sehr frühen 
Zeiten (s. Fig. 27); speziell aber und ausschliesslich beim sog. 
l,obulus (s. u.) der ‚mittleren‘ Muschel, der sich als Hautrelief 
plastisch von der im übrigen noch ziemlich flachen Umgebung 
abhebt (s. Fig. 30). Dass in späteren Zeiten auch ein selbst- 


verständlich nicht nur absolutes, sondern auch relatiıves Wachs- 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 609 


tum der ausgeformten Muschelmassen besteht, davon ist hier 
abzusehen ; die angeführten Tatsachen beweisen das Vorhanden- 
sein solcher Vorgänge auch in Anfangsstadien. 

Doch besteht trotz der Betonung dieser Abweichung durch- 
aus kein prinzipieller Gegensatz zwischen meiner und Peters 
Auffassung: gestaltgebend ist und bleibt, zwar nicht 
ausschliesslich, aber primär und auch weiterhin die 


bereits in der indifferenzierten Gewebsmasse 


E.-T. I 
\ 


Fig. 27. 
Embryo von 11 mm Ges.-Länge. Frontalsehnitt. Linke Seite, 
E.-T. I= Ethmoturbinale primano. 


erkennbare Furche. Der Inhalt, das Skelet, der zwischen 
den Furchen ausgeschnittenen Masse, bildet sich zeitlich se- 
kundär und kann demnach nicht, selbst soweit es aus Primordial- 
knorpel besteht, das Kriterium der Entwickelungsvorgänge ab- 
geben, schon weil es den frühesten fehlt. Alle Folgerungen, wie 
sie Kıllıan aus den frühesten, von ihm rekonstruierten Skelet- 
bildern, Paulli gar nur aus dem reifen Skelet zieht, sind da- 
mit für eine voll evolutionistische Darstellung hinfällig. 

Wir müssen die Gliederung der primitiven 
Ethmoturbinaliaallein auf die Furchen stützen. 

Aber auch auf die Verhältnisse späterer Entwickelungs- 
stufen und der Reife darf dasselbe Einteilungsprinzip übertragen 


40* 


610 L. GRÜNWALD, 


werden, weil, wie die nachfolgende Einzelerörterung ergeben 
wird. hier dieselben Furchen, soweit sie als Haupt- oder Teil- 
furchen zu bezeichnen sind, erhalten bleiben und nur die se- 
kundären und accidentellen Furchen (s. 0. 5.576) verschwinden. 

In der Anerkennung eines solchen qualitativen Unter- 
schiedes in der Furchenbildung liegt ein weiterer prinzipieller 
und erklärender Gegensatz zu Killıans Darstellung, dass, 
bei qualitativ unfraglicher Gleichheit aller Furchen, nur ein 
formaler Unterschied zwischen Hauptfurchen der Oberfläche 
und Nebenfurchen der Tiefe (dementsprechend oberflächlichen 
Haupt- und verborgen liegenden Nebenmuscheln) vorschwebt. 

Killians, auf die Voraussetzung der ım wesentlichen 
völligen Identität tierischer und menschlicher Verhältnisse ge- 
stützte Lehre vom Siebbein lässt sich folgendermassen zu- 


sammenfassen: 


An den reifen Siebbeinmuscheln der Säuger läßt sich eine längere, dor- 
salwärts gerichtete und eine kürzere ventral gerichtete Kante unterscheiden, 
denen gleichlaufende Furchen entsprechen (vgl. Fig. 2, 3). 

Beim Menschen ändern sich, entsprechend der Umlagerung der Lamina 
cribrosa aus einer steil aufrechten in wagerechte Lage, die Richtungen sowohl 
dieser Kanten, als der entsprechenden Furchen und ausserdem wird die Ge- 
stalt der von letzteren eingeschlossenen Wülste durch die Umlagerung wesent- 
lich, ja fast bis zur Unkenntlichkeit geändert, wozu besonders noch die Ver- 
kürzung der oberen, beim Menschen vorderen, Kante zugunsten der unteren 
beiträgt. An den so neu orientierten Gebilden ist ein auf- und ein ab- 
steigender Schenkel bzw. Äst zu unterscheiden, und zwar sowohl 
an Muscheln als an Furchen. 


Diese rein semiotischen Bezeichnungen drücken die sıcht- 
baren Verhältnisse im allgemeinen sehr gut aus und werden 
daher hier, wie bei früheren Autoren, weiterhin gebraucht, 
nur mit der Modifikation, dass wir anstatt von absteigenden 
bzw. aufsteigenden Schenkeln und Ästen besser von hin- 
teren und vorderen sprechen, da letztere nicht selten einen 
ganz horizontalen, zur Schädelbasis parallelen Verlauf zeigen. 


Nun sind aber die ursprünglichen Verhältnisse beim Menschen schon 
derart reduziert, dass sie, auch auf frühen Entwickelungsstufen bereits, nur 
zum Teil mehr deutlich, teilweise aber nur mehr lückenhaft erscheinen. Be- 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 6ll 


sonders die aufsteigenden Furchenschenkel verschwinden ganz oder büssen 
ihren zusammenhängenden Verlauf ein; jedoch bleibt vielfach noch so viel 
von ihnen übrig, dass der eigentliche Gesamtverlauf daraus hergestellt werden 
kann: wo auch das nicht mehr möglich ist, sind sie nach dem aus weniger 
rudimentären Bildungen konstruierten Schema zu ergänzen. 

So gelangt Killian zu dem Ergebnis, dass im Laufe der ganzen Entwicke- 
lung 6 Hauptwülste (nebst den entsprechenden 6 Hauptfurchen) erkennbar 
oder doch ergänzbar sind (immer das N.-T. mitgerechnet), deren phylogenetische 
„Verwachsung‘‘ weiterhin eine definitive geringere Zahl von Wülsten ergibt. 


Die auch Killian selbst nicht unbedenkliche, weil zu 
Missverständnissen verleitende Annahme phylogenetischer „Ver- 
wachsung“ der Wülste würde, unserer Auffassung der primi- 
tiven Existenz der Furchen entsprechend, besser durch den 
Ausdruck phylogenetischen Verstreichens der 
Furchen ersetzt. 

Abgesehen hiervon, bestehen erhebliche Einwände gegen 
die Konstruktion der sechs (bzw. 5!) Hauptwülste, wenn man 
die von ihrem Autor selbst angeführten Unterlagen auch nur 
quantitativ würdigt: 

ls besteht an sich kein prinzipielles Bedenken dagegen, 
auch rudimentäre Formen zu homologisieren; doch sind ge- 
rade solche Formen mit äusserster Vorsicht zu verwerten und 
müssen mindestens mehrfach beobachtet und ihrem Vorkommen 
nach einwandfrei sein, um beweiskräftig zu wirken. 

In Killians Sammlung befindet sich aber nur ein eıin- 
ziges Präparat, „welches gleichzeitig alle sechs Haupt- 
furchen zeigt, wenn auch zum Teil in mangelhafter Ausbildung 
(wie namentlich die vierte)“. Das ist doch wohl zu wenig, be- 
sonders wenn man weiss, dass gerade für diese vierte Furche 
kein Vollbeispiel zur Verfügung steht; ihr aufsteigender Ast 
findet sich nirgends in Killians Beobachtungen vollausge- 
bildet vor: „Seine Existenz und sein Aufsteigen bis ins Bereich 
der Lamina ceribrosa sind jedoch durch die lurchenreste in 
den Figuren 3 und 4 hinreichend dargetan“ (sic!). Die Ver- 
einzelung dieser Vorkommnisse allein schon, abgesehen von 


612 L. GRÜNWALD, 


ihrer Undeutlichkeit, würde ihre Beweiskraft unzulänglich er- 
scheinen lassen. 

Ebensowenig als die Annahme der hohen Zahl der Haupt- 
furchen und damit der Hauptwülste, kann die weitere Folge- 
rung Killians zugelassen werden: „Somit haben alle 
sechs Hauptfurchen ursprünglich einen zur La- 
mina cribrosa aufsteigenden Ast besessen. 

Die Bedeutung dieser Aufstellung wird erst dann klar, wenn 
man sich daran erinnert, dass die Siebbeinmuscheln der Säuger 
je eine dorsale und ventrale Kante besitzen, denen bei voller 
Homologie des Menschen ein auf- und ein absteigender Furchen- 
teil entsprechen müsste (vgl. Fig. 1—3 mit Fig. 43). 

Tatsächlich ist das auch an mehreren Furchen zu beob- 
achten, ebenso wie der den auf- vom absteigenden Furchen- 
teil trennende, von Killian „Knie“ benannte Winkel; aber 
nicht in der Anzahl, wie sie nach Killıan ver- 
forderlich wäre, um den Nachweis der Existenz von 
sechs aufsteigenden Ästen (s. o.) zu liefern. Tatsächlich 
verlaufen Killians ‚fünfte und sechste“ Haupt- 
furche nämlich ganz geradlinig und das für ihre 
HomologisierungerforderlicheKnieistnurkon- 
struiert: Eine die Knie der 1.4— „Hauptfurche“ verbın- 
dende Linie schneidet an der 5. und 6. „Hauptfurche‘“ obere 
Stücke ab; diese oberen Abschnitte „entsprechen demnach dem 
fünften bzw. sechsten Ramus ascendens“. 

Das ist eine Konstruktion von blendender KEindrucksfähig- 
keit, aber kein Befund von zwingender Beweiskraft! — 

Immerhin liegt, trotz der Anfechtbarkeit dieser Konstruk- 
tionen, soviel erklärender Sinn in der Durchführung der Homo- 
logie, dass man geneigt sein könnte, ausser über den Wert 
der rudimentären Formen auch über die Schwäche mancher 
Beweisversuche hinwegzugehen. Wie steht es aber mit den 


der angeblichen Homologie zugrunde liegenden (regenwerten ? 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 613 


Besitzen die Säuger überhaupt oder wenigstens die dem Genus 
homo zunächst stehenden Arten sechs Siebbeinmuscheln ? 
Weder das eine noch das andere ist der Fall: 

Erstens sind diese Verhältnisse bei einer ganzen Anzahl 
von Säugerarten verschieden: Die Chiropteren, Insectivoren 
und Hyracoıden haben 4, die Carnivoren teils 4, teils 6, die 
Pinnipodien 5 Siebbeinmuscheln ; unter den Edentaten gıbl es 
Species mit je 5, 6, 7 und 8 Ethmoturbinalien (immer das 
N.-T. mitgerechnet), unter den Nagern solche mit je 1, 2, 3 
4, 5 und 6 Wülsten. Von den dem Menschen nahestehenden 
Arten endlich tragen die Prosimier 5, die Primaten je 2, 3 
und 4 Sıebbeinwülste, bei manchen lässt sich mit Sicherheit 
nur ein einziger unterscheiden! In der durch die ganze Säuger- 
reihe ziehenden Vierzahl der Extremitäten, also einer kon- 
stanten Grösse, liegt wohl das Postulat, eine Homologie 
auch dort zu finden, wo sie zunächst durch rudımentäre Bil- 
dung verschleiert ist; in der ganzen Reihe inkon- 
stante Befunde aber können keine Homologie- 
Ansprüche erheben. Mit dieser Feststellung allein fällt 
der beste Teil der Kıllianschen Konstruktionen, ihr ge- 
danklicher. — 

Den Killianschen Betrachtungen liegt durchweg der Ge- 
danke zugrunde, dass seine Befunde nur so, wie er sie darstellt, 
gedeutet werden können und nicht anders. Er legt auch be- 
sonderen Wert auf die Kontrolle, die er selbst der Richtigkeit 
der als Beweisobjekte dienenden Zeichnungen gewidmet hat. 
Das Ergebnis dieser Beobachtungen ist die Gleichwertigkeit und 
damit Eindeutigkeit aller der von ihm und seinem Zeichner ge- 
sehenen Furchen und Wülste. Ich kann diese Eindeutiekeit 
nicht anerkennen. Die gleichen Befunde stellen sich, mir wenig- 
stens und wie ich denke manchem Betrachter, ganz anders dar, 
besonders da, wo sie sich in der unretouchierten photographi- 
schen Platte widerspiegeln. Zwar schaltet auch diese die ge- 


614 L. GRÜNWALD, 


dankliche Subjektivität in der Deutung nicht aus, doch kommen 
die auf diese Weise gewonnenen Abbildungen immerhin der 
Objektivität näher. Eines wird man sicher aus ihnen ersehen: 
den nicht geringen Spielraum für Deutungen, der allein schon 
es ausschliesst, jeder während der Entwickelung auftretenden 
F"urchenbildung ohne weiteres tiefen, phylogenetischen Wert zu- 
zubilligen. Wollten wir letzteres tun, so müssten wir bald For- 
derungen erheben, die weit über Killians Schemata hinaus- 
gingen: 

Es finden sich nämlich mehrfach Furchen- und Wulst- 
bildungen von genau demselben (hohen oder geringen) morpho- 


logischen Wert, wie die von Kıllıan beschriebenen, auch 


Schwelle _ 


Fig. 28. 


an anderen Stellen: In Fig. 29 (s. S. 617) schnürt sich un- 
mittelbar hinter der ziemlich seichten Furche a eine etwas mehr 
geneigt verlaufende tiefere b ab; während die erstere nach Lage 
und Verlauf dem Rudiment eines Crus ascendens S3Killians 
entsprechen würde, ist es ganz unmöglich, die b-Furche mit 
irgend einem Crus ascendens zu identifizieren. In Fig. 28 sieht 
man aufs schärfste ausgesprochen eine eigentümliche Bildung, 
der wir ın mehr oder weniger deutlicher Ausprägung sonst 
noch mehrfach (14 mal) begegnet sind: der obere Teil der 
Seitenwand ist durch eine ziemlich stark vorspringende 
Schwelle gegen den unteren, die Muschelwülste tragenden 
Teil abgegrenzt. Kein Zweifel, dass dieser obere Abschnitt mit 
Muschel- und entsprechender Furchenbildung gar nichts zu 


tun hat. Und doch finden sich hier eine Anzahl zur Lamina 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164, Heft (54. Bd., H. 3). Tafel 48. 


Fig. 17. 
Einbryo von 23 mm Ges.-Länge. 


Se 
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden, 


I 


RN KR 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 615 


cribrosa hinziehender Gruben, die schliesslich jeder Deutung 
zugängig wären. 

An derselben Stelle der Fig. 45 findet sich eine ziemlich 
tiefe Furche, darüber einige seichtere. Besonders interessierl 
die nahezu horizontale Tiefenfurche, da sie sehr an diejenige 
in Killians Fig. 4 erinnert, wo sie als Urus ascendens 4 an- 
gesprochen wurde (s. ©. S. 611). 

Ähnliche multiple Furchen, die aber nur auf gewaltsamste 
Weise einem Schema einzupassen wären, sieht man in Fig. 43, 
ebenso auf dem vorderen Teil der Basalplatte in Fig. 52. 

Die Anerkennung känogenetischer Vorgänge würde uns 
hier aus der Verlegenheit helfen. Da wir aber gar nicht im- 
stande sind, den Erscheinungen irgend einen plausiblen Wert 
beizulegen, ist es jedenfalls besser, unsere lenoranz einzuge- 
stehen, als gewaltsam zu deuten; besonders dort, wo solche 
Vorkommnisse nur vereinzelt auftauchen. 

Anders mit Erscheinungen, die immer oder doch häufig 
in der Entwickelung wiederkehren. Für sie werden wir gerne 
Erinnerungsbilder zur Erklärung verwenden, ohne zu vergessen, 
dass jede neue („höhere“) Art auch im einzelnen sich nach 
neuen, nur ihr eigenen Gesetzen formen können muss, sonst 
wäre ja ihrer Erscheinung nichts eigentümlich. 

All die anderen, eben geschilderten Formen sind für uns 


nunsarceıidentelle (s. S. 576). 


b) Die Typen der Siebbeinmuschelformen. 


Auch am Basalwulst (s. S. 579) des Menschen unterscheiden 
wir, wie im allgemeinen, Haupt- und Teilwülste und Furchen 
als dauernde - , sekundäre und aceidentelle als vorübergehend 
vorhandene Formen. 

Jede kann entweder einen vorderen und einen hinteren 


Schenkel bzw. Ast besitzen oder ungebrochen verlaufen. 


616 L. GRÜNWALD, 


Letztere Bezeichnung ziehe ich derjenigen Killians vor, der in solchen 
Fällen vom Vorhandensein nur eines absteigenden Schenkels bzw. Astes spricht. 
Das setzt voraus, dass der aufsteigende Teil phylogenetisch vorhanden gewesen 
und nur verkümmert sei. Nach meiner Auffassung aber darf einerseits gar 
keine Voraussetzung in die Darstellung hereinspielen, anderseits spricht gegen 
die Richtigkeit dieser Voraussetzung im besonderen der Umstand, dass bei 
allen mehr- oder vielmuscheligen Säugern die letzte, oft auch die vorletzte 
Furche ohne Winkel verläuft. Auch hier fehlt also einer angenommenen Ver- 
kümmerung der phylogenetische Gegenwert. 

Mit Killian darf man annehmen, dass bei den Säugern dem (,„aufsteigen- 
den‘) vorderen Schenkel jedes (gebrochenen) Wulstes der obere, von Schwalbe 
als Stiel, dem (‚‚absteigenden‘‘) hinteren Schenkel der untere, von diesem als 
Haftfalte bezeichnete Teil entspricht. 


Ebenso kann der Ausdruck „Lobulus“ für jenen öfter zu 
beobachtenden läppchenartigen Vorsprung am „Knie“ der 
menschlichen Muschel unbedenklich übernommen werden. 
Selbstverständlich setzt also die Erwähnung eines Liobulus 
voraus, dass der betreffende Schenkel und die ıhm  zuge- 


hörige Furche gebrochen verlaufen. 


Wenn man nicht vorgreifen will, darf man die innerhalb 
der Entwickelung sichtbaren Formen nicht bereits als Haupt- 
oder sekundäre Gebilde bezeichnen, da ja zunächst noch frag- 
lich bleibt, ob sie dauernden Erscheinungen des Reifealters ent- 
sprechen, oder sich in diesem nicht mehr vorfinden. Hier 
müssen wir uns damit begnügen, zunächst nur von tiefen oder 
Schnür-Furchen und vorspringenden oder vollen Wülsten rein 
erscheinungsmässig zu sprechen, denen seichte Furchen gegen- 
überstehen, die nur basreliefartig in die Masse einschneiden, 
ohne dass ihnen vorspringende Wülste entsprächen. 

Dies vorausgeschickt, trifft man im gesamten fötalen Ma- 
terial wenigstens eine und höchstens zwei tiefe 
Furehen an und kann hiernach zweı Hauptgruppen unter- 
scheiden, innerhalb deren sich wieder die ungebrochenen Fur- 
chen von den zweiästigen abheben. 


Danach begründet sich folgende Einteilung: 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 


617 


Gruppe A. Es existieren (primär) 2 tiefe Furchen und 
3 volle Wülste. 
1: Untergruppe: Eine oder beide Eurchen ver- 
laufen gebrochen: 
Typ la. Beide Furchen sind gebrochen, haben also je 
einen vorderen und hinteren Ast, die Wülste sind dement- 


sprechend durch je einen Lobulus markiert: Fig. 29. Es kommt 


Fig. 31. 


vor, dass die zweite (hintere) Furche sich nur durch ihren vor- 
deren Ast markiert, während der hintere kaum oder gar nicht 
hervortritt: Fig. 30. 

Typ Ib. Nur eine Furche zeigt gebrochenen Verlauf, dem 
die Bildung eines Lobulus am Knie des darüberliegenden 
Wulstes entspricht. 

Von den beiden in diesem Bereiche liegenden Möglichkeiten 
ist in meinem Material nur die eine vorgekommen, dass näm- 


lich die erste (untere) Schnürfurche ungebrochen bleibt, der 


618 L. GRÜNWALD, 


Lobulus sonach am zweiten Wulst fehlt, nur dem dritten (hin- 
tersten) aufsitzt: Fig. 31. Auch bei diesem Typ kann die Aus- 
bildung des hinteren Schenkels des dritten Wulstes ausbleiben, 
so dass er seitlich fast verschwindet: Fig. 32. (In der Reife 
ist dieser Typus verschwindend selten; in meinem Material, 


ebenso in der Literatur, stellt der in Fig. 33 abgebildete Fall 


ein Unikum dar.) 


2. Untergruppe: Beide Furchen verlaufen unge- 
brochen. | 

Die Furchen erreichen mit ihrem vorderen Ende noch 
die freie Oberfläche des Basalwulstes: 

Typ Ila. Die zweite Furche ist nach oben convex ausge- 
buchtet, so dass der dritte Teilwulst median mehr oder weniger 
stark vorspringt: Fig. 34, 35. (In der Reife ist dieser Typus 
nıcht selten anzutreffen, er stellt sich beim Erwachsenen in 


derselben Form wie beim Kinde dar: Fig. 36.) 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 619 


Typ IIb. Die zweite Furche schneidet nur ganz seicht 
ein, so dass der dritte Teilwulst nur wenig vorspringl (Fig. 37), 


oder nur mehr angedeutet wird: Fig. 12. 


Fig. 39. Fig. 40. 


Fig. 41. Fig. 42. 


Typ He. Die zweite Furche verläuft nahezu oder ganz 
parallel zur Schädelbasis: der zweite Teilwulst ist meistens 
sehr schmal: Fie. 38, 39. (Letztere Erscheinung gibt dem ın 
der Reife erhaltenen Typus seinen besonderen Charakter: 


Fig. 40.) 


620 L. GRÜNWALD, 


Ill. Die zweite (hintere) Furche erreicht die freie Fläche 
des Basalwulstes nicht mehr; ınfolgedessen verschwindet der 


zweite Teilwulst seitwärts ın der Tiefe: 


Fig. 48. 


Typ IHla. Die zweite Furche ist stark vertieft bzw. ver- 
breitert und dementsprechend der zweite Teilwulst wohl aus- 
gebildet: Fig. 41. (In der Reife kommt dieser Typus zwar sehr 
selten, aber in guter Entwickelung vor: Fig. 42.) 

Typ Ilb. Zweite Furche und zweiter Wulst zeigen nur 


mehr rudimentäre Andeutung: Fig. 43. 


Gruppe B. Es existiert (primär) nur eine tiefe Furche 
zwischen zwei vollen Wülsten. 
Diese einzige Furche könnte verschiedenartig verlaufen ; 
jedoch kam bisher nur ein einziger 
Typ IV zur Beobachtung, der einen gebrochenen Verlauf 


Fig. 44. 


der Furche zeigt; wobei der vordere Ast aber anstatt nach oben, 
sıch nach vorne wendet, so dass, im Gegensatz zu den Typen I, 


der Winkel nicht nach oben, sondern nach unten sich öffnet. 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 621 


Auch hier kann die Furchenbildung die Fläche des Basal- 
wulstes erreichen (Fig. 44) oder hinter ihr zurückbleiben, in 
welch letzterem Falle der zweite Teilwulst in der Tiefe ver- 
schwindet: Fig. 45. 

Das Bild des Typus wird wesentlich durch die reiche Aus- 
bildung accidenteller Furchen und Wülste, auf die weiter unten 
zurückzukommen ist, getrübt; erst wenn man sich diese weg- 
denkt, ergibt sich die klare Erscheinung des Typus, der in der 
teife dann am häufigsten in Form zweier Siebbeinmuscheln 


Siehrdarstellt. == 


Fig. 45. 


Überblickt man die durch die Anordnung einigermassen 
übersichtlich gewordenen Formenmengen, so ist es zunächst 
die Möglichkeit der Gruppierung in Individuen mit zwei und 
mit drei Wülsten, die ihre wahre Bedeutung dadurch erhält, dass 
wir jede dieser beiden Hauptformen in jeder Altersstufe der 
Entwickelung sowohl als wiederum beim erwachsenen Men- 
schen antreffen. 

Nun ist zwar, wie ein Blick auf Tabelle I lehrt, die Zahl 
zweiwulstiger Individuen in der Vollreife gegenüber der drei- 
wulstiger relatıv unvergleichlich grösser als während der Ent- 
wickelung und besonders auf einzelnen ihrer Stufen. Es lässi 
sıch also ohne weiteres annehmen, dass ein Teil der Zweiwulst- 
bildungen durch Reduktion aus drei primären Wailsten hervor- 


gegangen ist; aber nur ein Teil. Für den anderen Teil besteht 


622 L. GRÜNWALD, 
bereits in der frühesten Differenzierung die Grundlage in Form 
zweier wohlgebildeter Wülste, wie wir ihnen dann in jeder 
Altersstufe wieder begegnen (vgl. Tabelle I). Es gibt dem- 
nach von vornherein und dauernd Individuen 
mit zwei rund andere - mit .drer ethmoidalen 
Wülsten!). 

Dies von vornherein festgestellt, empfiehlt es sich, erst zu 
untersuchen, ob in dem durch die beschriebenen Typen darge- 
stellten Formenreichtum nicht noch weitere vereinfachende Züge 
erkennbar sind, bevor wir dem Verhältnis der Dreimuschel- 
formen zu den Zweimuschelformen ım ganzen nähertreten. 

Mehrfach lässt sich beim Vergleich der einzelnen Typen 
die Richtung zu bestimmten Entwickelungen hin feststellen: 

1. Typ Ib findet sich bereits am 75., weiter am 80., 105., 
108 und 110. Tage, am Ende des 5. Monates, im 6.—-7., 8.—10. 
Monate. In Gegensatz zu der Häufigkeit dieses Typus während 
der Fötalperiode steht es, dass er bei den Kindern meiner Be- 
obachtung gar nicht, bei Erwachsenen nur ein einziges Mal 
(Fig. 33) gesehen werden konnte. Es muss demnach die Ent- 
wickelungstendenz dieses fötalen Typus im allgemeinen in einer 
ganz anderen Richtung liegen: man braucht sich nur den Lo- 
bulus des dritten Hauptwulstes verstrichen zu denken, um 
sofort den durch Typus Ila in der Reife repräsentierten Ab- 
schluss erzielt zu sehen. Es ist demnach wahrscheinlich, dass 
ein Teil der nach diesem letzteren Typus gebildeten Reife- 
zustände auf dem Umwege über den Typus Ib durch Reduk- 


tıon zustande gekommen ist. 

!) Diese Tatsache hatte ich (als vorläufige Mitteilung) bereits im Jahre 
1910 im Manuskript zu Bd. IV der Lehmannschen Handatlanten, Teil I, 
S. 43 niedergelegt, der dann im November 1912 im Druck erschien. Unter- 
dessen hat auch Peter (1912) den bis dahin von ihm eingenommenen Standpunkt 
Killians (s. o.)„.aufgegeben und die Höchstzahl von 3 Hauptmuscheln aner- 
kannt. Wenn Peter (1913) neuerdings die dritte Muschel nur als ‚‚,Nebenmuschel“ 
bezeichnet, so fehlt dafür sowohl Definition als Begründung. 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 623 

Da der Typ la ebenfalls nur (ausschliesslich) fötale Exi- 
stenz aufweisen kann und seine Reduktion, durch Verstreichen 
der beiden vorhandenen Lobuli, zu demselben Bilde führen 
muss, darf auch für diesen Typus die gleiche Annahme Platz 
greifen: er dient höchstwahrscheinlich ebenfalls nur dem 
Typus Ila der Reife als Vorläufer. 

2. Im übrigen entsteht jedenfalls ein Teil der nach 
Typus lla, also als dreiwulstige, ausgebildeten Formen der 
Reife auf geradlinigem Wege ohne zwischentretende Reduk- 
tionen; denn bereits mit 90, dann mit 115 Tagen, weiter im 
ganzen Verlaufe der Entwickelung, lückenlos, tritt der fragliche 
Typ auf. Wenn dabei der Prozentsatz seiner Häufigkeit mit 
zunehmendem Alter wächst (s. Tabelle II), so entspricht das 
gut der Vermutung, dass ihm eben unterwegs sukzessiv Zu- 
wachs aus den Formen la und Ib entsteht. 

Das Endergebnis dieser Formenkonvergenz bzw. Formen- 


gebung ist in der vollen Ausbildung dreier Hauptwülste — 


mittlere, obere und oberste Muschel — zu suchen, deren tiefe 
Zwischenfurchen — ‚obere‘ und ‚oberster‘ Gang — Raum 


und Gelegenheit zu ausgiebiger Ausdehnung in die Tiefe — 
Pneumatisierung -—- gewähren. 

3. Als nächste geschlossene Reihe stellt sich der zum 
Typus Ile konvergierende Komplex 'IIb, Il b’, Ice dar {siehe 
Tabelle II). Im ganzen Fötalstadium finden sich Repräsen- 
tanten dieser durchweg mehr oder weniger dem in Fig. 40 
dargestellten Bilde, welches dem Typus Ile angehört, ähneln- 
den Formationen. In der Vollreife, bei Erwachsenen findet 
sich dieser letztere Typus in 10% der Fälle, in der Unreife da- 
gegen nur in 5% vor (s. Tabelle II). Vorläufer dieses Typus 
müssen daher in den anderen, ähnlichen, Typen IIb und IIb’ 
gesucht werden. Jedoch ist das Gesamtvorkommen der Typen 
IIb—e mit 23% wiederum zu hoch, um den 10% der Reife 


zu genügen. Es kann also nur ein Teil des Komplexes zur 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H. 3), 41 


624 L. GRÜNWALD, 


Bildune von Ile verwendet werden, 18% müssen einem an- 
deren Endziel zuneigen; welchem, werden wir gleich weiter 
unten zu erörtern haben. Wahrscheinlich ist es, dem ganzen 
Anblick nach, dass im wesentlichen der Typus Ilb (oder doch 
ein Teil von ihm) der progressiven, in Vertiefung der zweiten 
Hauptfurche bestehenden Veränderung unterliegt, die dann mit 


IIc zusammen zu folgendem Endergebnis führt: 


Es existieren drei Hauptwülste -—- mittlere, obere und 
oberste Muschel deren oberster aber nur wenig ausgeprägt 
erscheint; dementsprechend zwei Hauptfurchen —- „oberer“ 


und „oberster“ Gang —-, deren obere aber keine Tiefenaus- 
dehnung voraussehen lässt. 

Noch in der Reife wird man daran erinnert, dass ein Teil 
des hier allein herrschenden Komplex-Typus aus Ib, ein an- 
derer aus Il c hervorgegangen sein muss, Je nachdem die zweite 
Hauptfurche (oberster Gang) mehr gebogen oder gerade verläuft. 
Doch gestatten diese nicht sehr erheblichen Unterschiede jeden- 
falls keine Differenzierung des Endtypus. 

4. Eine völlig lückenlose Reihe stellt der Typus llla im 
lötalleben vor, wo er noch dazu in der verhältnismässig er- 
heblichen Häufiekeit von 14% auftrıtt. Um so auffallender er- 
scheint sein geringzähliges Vorkommen mit nur 1,500 ın der 
Vollreife. Es muss also der grösste Teil der nach IlTa ge- 
bildeten Formen Veränderungen erleiden, die sie zu ganz 
anderen Bildungen führen. Das können nur Reduktionen sein, 
denn der ganze Tvpus trägt bereits einen rudimentären 
Charakter zur Schau: der mangelhaft und nur ım hinteren 
(absteigenden) Teile mehr entwickelte zweite Hauptwulst ver- 
schwindet unter der freien Fläche des dritten Hauptwulstes. 
Das überaus seltene Vorkommnis, dass diese Reduktion in der 
Reife noch nicht völlig durchgeführt erscheint (Fig. 42), ist 
ohne Kenntnis des fötalen Bildes kaum verständlich ; man würde 


zur bequemen, aber durch nichts bewiesenen Annahme einer 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 625 


„Nebenmuschel“ zu greifen haben. Tatsächlich ist das, wenn 
auch sehr seltene Endergebnis der Entwickelungsreihe Ill a dies: 
Zwei Wülste, deren mittlerer aber so reduziert in der Grösse 
ıst und gegen die Oberfläche zurückweicht, dass praktisch nur 
von zwei Hauptwülsten und einem Zwischenwulst gesprochen 
werden kann; infolgedessen auch nur eine, zwischen dem 
unteren Haupt- und dem Zwischenwulst gelegene Furche. Mit 
anderen Worten: mittlere und oberste, dazwischen verborgen 
die verkümmerte obere Muschel; von Gängen nur der „obere“ 
vertieft und zu weiterer Tiefenausdehnung geeignet. 

Was geschieht nun mit den übrigen 12-13% des Typus 
Illa, wo führt die völlige Reduktion seiner rudimentären 
Formen hin? Verstreicht der ohnedies nur wenig vorspringende 
zweite Wulst, so konfluieren einerseits die vorher durch ihn 
geschiedenen zwei Furchen zu einer einzigen, andererseits treten 
nur zwei Hauptwülste mehr hervor: mittlere und oberste 
(nicht obere) Muschel, dazwischen ein Gang, der genetisch 
entweder als „oberer“ oder als Konfluenz von ‚oberem“ und 
„oberstem“ Gange aufzufassen ist. Dass dieser restierende 
oder konfluierende Gang erheblich weiter sein muss als ein 
solcher, der in gewöhnlicher Weise zwischen zwei wohlaus- 
gebildeten Wülsten entstanden ist, und dass hier der Tiefen- 
ausdehnung ein besonders weites Feld offen steht, darf man 
ohne weiteres annehmen. 

Äusserlich betrachtet, sind die auf diese Weise entstandenen 
Reiteformen praktisch nicht von denen nach Typus IV zu unter- 
scheiden ; ebensowenig als diejenigen, die durch Reduktion 
aus dem Typus IIlb hervorgehen. Dieser, von dem überhaupt 
nur das Fötalleben, noch dazu wenige, Exemplare aufweist, 
führt zur gleichen Gestaltung, wenn auch auf anderem Wege, 
hin: die seichte zweite Furche verstreicht, so dass der schmale 
zweite Wulst mit dem dritten zusammenfliesst. Wir haben es 
wiederum mit zwei Hauptwülsten, deren oberer aber relativ 


41% 


626 L. GRÜNWALD, 


grössere Mächtigkeit besitzen muss, da er aus der Vereinigung 
des obersten starken und oberen rudimentären hervorgegangen 
ist, zu tun und mit nur einer Furche, dem „oberen“ Gange: 
äusserlich wiederum dasselbe Bild, wie es Typ IV bereits 
fötal zeigt. 

Nicht unwahrscheinlich ist es übrigens, dass ein kleiner 
Teil der Fälle vom Typ Illa auf dem Wege über Typ IIIb 
die Gestaltung des Typ IV gewinnt; denn den letzteren sehen 
wir erstmals nur vom 108. bzw. 115. Tage an auftreten, wäh- 


rend der erstere bereits am 70. Tage angetroffen wird. 


So kommen wir zum Typ IV: zwei Hauptwülsten — 
mittlerer und oberer Muschel — mit einer Hauptfurche — 
‚oberem‘“ Gange, der, in voller Ausbildung vorhanden, Raum 


zur Tiefenausdehnung darbietet. 


Dieser Typus nimmt mit 60% den verhältnismässig grössten 
Raum beim Erwachsenen ein, dagegen kann er nur zum 
kleinsten Teile auf ursprünglich gleiche Verhältnisse zurück- 
oeführt werden, denn die in den Frühmonaten feststellbare 
Verhältniszahl von 8% sinkt kurz vor der Geburt sogar auf 
5% herab, und im ganzen. stehen nur 13% zur Deckung eines, 
also nur kleinen, Teiles der Frequenz in der Reife zur Ver- 
fügung. Nun konnten wir schon den grössten Teil der ur- 
sprünglich nach IHa und Illb gebildeten Formen zur Ge- 
staltung nach IV heranziehen. Immerhin blieben auch hiernach 
noch ungefähr 30 von den fraglichen 60% ungedeckt. Da 
haben wir uns zu erinnern, dass uns aus der Gruppe II ein 
erosser, nicht zur Bildung des Endtypus Ilc verwendeter Rest 
von 18% zur Verfügung steht. Tatsächlich braucht auch die 
im Typ IIb’ sichtbare oder vielmehr oft schwer sichtbare 
zweite Furche, die augenscheinlich im Verschwinden begriffen 
ist, nur zu verstreichen und wir haben wiederum das Bild 


zweier Hauptwülste — der mittleren und einer oberen (oberen 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 627 


und obersten) Muschel und einer Hauptfurche — des 
„oberen“ (ranges. 

Schliesslich fehlen nur noch 12%, um die grosse Häufig- 
keit des äusserlich gleichartig scheinenden, innerlich aber recht 
verschiedenartigen Typ IV zu erklären. Da ist auf die Typen la 
und Ib zurückzugreifen, von denen wir nur den geringsten Teil 
in der Reife erhalten, einen anderen ebenfalls nicht beträcht- 
lichen Teil in der Gestaltung des Typus Ila und IIb aufgehen 
sehen. So reich die Gliederung im Typ I auch ist, so sehr trägt 
sie doch schon ın der Ungleichmässigkeit der Wülste den 
Stempel der Vergänglichkeit in sich, der auch durch das Zu- 
rückweichen des zweiten Wulstes unter den ersten im Typ la 
besondere Prägung erhält. Sehr leicht kann es zum Verstreichen 
der zweiten Furche, zum völligen Zurücktreten des zweiten, 
dann ‘ohnedies nicht mehr differenzierten Wulstes kommen, 
wie ja auch die, doch so markante, Lobulusbildung erfahrungs- 
gemäss fast durchweg zurücktritt; dann haben wir wiederum, 
in der Reduktion, die äusserlich den anders entstandenen Bil- 
dern vom Typ IV gleiche Gestalt vor uns. 

So kommen wir schliesslich auf dem Wege der Verglei- 
chung der Formen zu dem gleichen Resultate, wie es uns 
schon zu Anfang der einfache Zahlenüberblick lieferte und das 
wir jetzt noch weiter ergänzen können: 

Es gibt von vornherein und dauernd Indivi- 
duen mitzwei und andere mit drei ethmoidalen 
Wülsten. Von den zweiwulstigeen Dauerformen 
Psanur ein kleiner Teil’ orıeinar angeleot, der 
andere grössereistaufdem Wegeder Reduktion 
aus dreiwulstigen hervorgegangen. 

Stellt man die geringe Zahl originär zweiwulstiger Formen 
der grossen der dreiwulstigen gegenüber, die im Laufe der 
Ontogenese in jene übergehen, so liegt es nahe, auch die 
originäre Zweiwulstform als Produkt eines Reduktionsvorganges 


628 L. GRÜNWALD, 


anzusehen, der sich schon vor der Embryogonie, also phy- 
letisch, abgespielt hat. Das würde voraussetzen, dass der 
Species homo (nicht aber etwa den Säugetieren im allgemeinen) 
ein dreiwulstiger Typ eigen gewesen sei, der phylogenetisch 
teils schon zur Zweiwulstigkeit reduziert wäre, teils noch diese 
Reduktion — ontogenetisch erwiesen — im Hliessen zeigte. 
Analoga gerade beim Menschen fehlen ja nicht, so besonders 
am Gebiss, dessen Reduktionsvorgänge sich im individuell 
verschiedenen Vorkommen und Grössenunterschied, sowie 
voller und rudimentärer Ausbildung der dritten Molaren und 
der Präcaninen aussprechen. 

Dass es sich um solche fliessende Reduktion handle, da- 
für spricht auch das Verhalten der definitiven Morphologie 
der dreiwulstigen Formen: 

Es findet sich kein einziges Exemplar mit Erhaltung beider 
Schenkel in beiden tiefen Furchen und entsprechenden Lobulis 
am zweiten und dritten Wulst; sehr selten ıst die Erhaltung 
auch nur eines einzigen Lobulus am (zweiten oder) dritten 
Wulst, obgleich in der Frühzeit an den entsprechenden Typen 


genug solcher Bildungen anzutreffen sind. 


c) Untergeordnete Bildungen. 
1. Zwischenfurchen und Teilwülste. 

Im Sinne unserer Definition (s. S. 576) verstehen wir hier- 
unter Furchen, die auf einem Vollwulst verlaufen, ohne seine 
Selbständigkeit aufzuheben, die aber doch imstande sind, eine 
mehr oder weniger weitgehende Spaltung in Teilwülste herbei- 
zuführen, die ihrer Form und Lage nach konstant sind und, 
wenn auch nicht ebenso vollzählig, noch in der Reife ange- 
troffen werden. 

1, Den ersten Platz unter ihnen nımmt eine auf dem ersten 
Vollwulst (mittlerer Muschel) nicht zu selten, jedenfalls am 


Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 629 


häufigsten unter allen, anzutreffende und häufig tief, in fast 
der ganzen Länge, einschneidende Furche ein, der eine Teil- 
wulstung (s. S. 575) entspricht. 


Die erste bewusste Erwähnung dieser Furche findet sich bei Killian. 
Wenn er sie nicht im Sinne seines Systems als „„Hauptfurche“ anerkannt hat, 
so liegt das wohl daran, dass, in seinen Beobachtungen wenigstens, diese Furche 
keinen Ramus ascendens und Ramus descendens aufweist, so dass die Erforder- 
nisse der Homologie mit den tierischen Vorkommnissen nicht erfüllt werden. 
Daß diese Unvollkommenheit übrigens nicht immer besteht, ist aus der Betrach- 
tung der Figg. 46, 47 ersichtlich. Hätte Killian solche Bilder, etwa gar noch 
innerhalb der Entwickelungsperiode, gesehen, so wäre die Einreihung dieser 
Furche in die Zahl seiner Hauptfurchen wohl kaum zu umgehen gewesen: um 
so mehr als einerseits in dem einen meiner Präparate die Furche einer Pneu- 
matisierung als Ausgangsstelle dient und anderseits in frühen Zeiten bereits 
das Skelett an der entsprechenden Stelle eine Vorragung aufweist, die, wiederum 
in Killians Sinne, wohl als Rudiment einer Hauptwuistbildung aufgefasst 
werden müßte (s. Schaeffer !), Fig. 19). Besonders aber wäre der, zu Killians 
Zeiten noch unbekannte, Umstand des Vorkommens analoger Bildung bei 
Säugern (s. u.) geeignet gewesen, auch dieser Furche einen eigenen Platz im 
phylogenetischen Schema anzuweisen. Gesehen hatte vor Killian die Furche 
bereits Zuckerkandl), jedoch ganz irrig gedeutet. Seine, noch keiner aus 
Entwickelung und Vergleich entstammenden Kritik unterworfene, rein semio- 
tische Betrachtung liess ihn den durch die Furche abgespaltenen Wulst einfach 
als „vierte Siebbeinmuschel, die sich zwischen die mittlere und obere Concha 
ethmoidalis einschiebt‘ (l. e. S. 68), bezeichnen. So einfach läßt sich natürlich 
diese schwierige Frage nicht abfertigen. 


Nahezu konstant findet sich die Spaltung des ersten Eih- 
moidalwulstes in zwei Teilwülste durch diese Furche in der 
Säugerreihe vor. Die grosse Reihe der in Paullis Arbeit ab- 
gebildeten Durchschnitte liefert die Belege. Ausnahmen bilden 
dort die folgenden Arten: Echidna, Dicotylus, Cholovepus, 
Equus und Petrogale; ferner scheinen sämtliche Prosimier und 
Primaten keine Teilung zu besitzen oder doch nur vereinzelt 
und in rudimentärer Form, wie sie die Abbildungen vom Schim- 
panse (und Hylobates?) bei Zuckerkandl (1893), Taf. VI, 
Fig. 6, 8, erkennen lassen. Die Teilwulstung ist bei den niederen 
Säugern so ausgiebig, dass erst näheres Zusehen sie von 
völliger Hauptwulstbildung unterscheiden lässt; das lehren 
Blicke aul unsere Präparate vom Kalb (Fig. 1), Hund (Fig. 3) 


630 L. GRÜNWALD, 


und Kaninchen (Fig. 2). Durchweg aber besteht nur ein einziger 
gemeinsamer Stiel und ebensolche Haftfalte; ebenso wie der 
beim Kaninchen bereits im Chondrocranıum ausgesprochenen 
Spaltung (Voıit [1909 
einheitlicher Vorsprung der Seitenwand entspricht (Peter 
11902]). 

Wo sich zugleich ein doppelter Skeletstiel vorfindet, wie 


S. 488) primär nur ein einziger, also 


bei einer Reihe von Zweihufern (vgl. bei Paulli Fig. 20-43), 
handelt es sich jedenfalls nur um sekundäre, durch Pneumati- 
sation erzeugte Vorgänge, wie das besonders der Vergleich 
mit den ähnlichen Erscheinungen beim Kamel, Lama und 
Wasserschwein lehrt (s. Fig. 14, 15, 18 und 31 auf S. 204 
bis 208 und S. 520 ebendort). 

Die echte Teilwulstung bei Säugern ist nicht durchweg be- 
ständig; beim Kalb z. B. stellt sich das erste Ethmoturbinale 
individuell auch einfach dar. Ähnlicherweise liegen die ent- 
sprechenden Verhältnisse beim Menschen recht verschieden- 
artig: 


Im 5. Fötalmonat fand sich die fragliche Furche unter 


20 Fällen 10 mal = 50%, ım 6. und 7. Monat unter 42 Fällen 
12 mal = 29%, kurz vor der Geburtsreife 3l mal in 85 Fällen 
— 36%. Gegenüber dieser relativen Häufigkeit fällt um so 
mehr der geringe Prozentsatz von 13 bei Kindern (3 mal an 
22 Schädelhälften) und von 6 bei Erwachsenen (8 auf 133) 
auf. Sehr bemerkenswert ist das Vorkommen der Spaltung 
bereits am Ende des zweiten Fötalmonates, wie es sich in 
einer meiner Serien (Präparat Nr. 338) beiderseits gleichmässig 
zeigte. Alles weist jedenfalls auf den hohen phylogenetischen 
Wert der Bildung hin, der jedoch meist nicht stark genug ist, 
um voll ausgeprägte Veränderungen zu setzen, so dass die in 
der überwiegenden Mehrzahl bereits von vornherein nur rudi- 
mentären Furchen und Wülste dann wieder völliger ontogene- 
tischer Reduktion unterliegen. — 


164. Heft (54. Bd., H. 3). 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 


Tafel 49. 


22 


lateral ——— 


Fig. 21a. 
Embryo von 12,2 mm Ges.-Länge. (Anblick vom Hinterhaupt aus.) 
rot = Maxilloturbinale orange = Tubereulum septi 
grün = Nasoturbinale 


rot = Septoturbinale super, 
blau = Ethmoturbinale II 
grün = Ethmoturbinale I 


medial 


— - lateral 
Fig. 21b. 
(Anblick vom Gesicht aus.) 
dunkelrot = Tubereulum septi grün = Nasoturbinale 
blau = Ethmoturbinale I rot = Maxilloturbinale 
hellrot = Septoturbinale 
grün = Ethmoturbinale II 
er, 
medial u lateral 
ee 
— 
Mn — et 


Fig. 22. 
Embryo von 19 mm Ges.-Länge. 


rot = Tuberculum septi 
blau = 


grün = Ethmoturbinale I 
Septoturbinale blau = Nasoturbinale 
schwarz = Ethmoturbinale II 
rot = Maxilloturbinale 


(Anbliek vom Gesicht aus ) 


Verlag von J. F, Bergmann in Wiesbaden, 


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Die Nasenmuscheln des Menschen ele. 631 


Morphologisch bietet sich in der Reife am häufigsten das 
Bild eines auf der „mittleren“ Muschel längsverlaufenden 
Spaltes von grösserer oder geringerer Breite (Fig. 46), während 


in der Entwickelung meistens nur schmale, mitunter allerdings 


Fig. 46, 


recht tiefe, in der Mehrzahl aber sehr seichte Längseindrücke 
bestehen (vel. Ries} 12, 29, 30, 32,35, 39, 40, 41, 48, 44), In 


einzelnen Fällen sieht man nur eine auf die Mitte der medialen 


lläche beschränkte, wenn auch etwas breitere Einsenkung, 


Fig. 47. 


sehr ähnlich dem Bilde beim Schimpanse; andere Male ent- 
wickelt sich diese Vertiefung sogar bis zur Aushöhlung des 
Muschelkörpers (Fig. 47), ohne dass jedoch der Gesamteindruck 
seiner Einheitlichkeit gestört würde. 


Das beginnt erst dort, wo die Spaltung die hintere oder 


632 L. GRÜNWALD, 


vordere Grenze des Vollwulstes überschreitet (Fig. 48); hier 
ist nur der geschlossene ‚Stiel‘ noch imstande, die Kontinuität 
zu wahren; würde die Spaltung sich, ähnlich wie in Fig. 50, 


auch auf den ‚Stiel‘ nach hinten fortsetzen, so wäre die Vor- 


. 


Fig. #8. 


stellung einer Teilwulstbildung des ersten Kthmoturbinale nur 
mehr durch Fiktion systematischer Vorstellungen aufrecht zu 
erhalten. Es ıst zwar bisher noch kein derartiges Bild be- 


kannt geworden, doch lässt der Anblick des letzten Präparates 


die Möglichkeit, dass eine solche einmal zur Entwickelung 
komme, nicht allzu entfernt erscheinen. Natürlich müsste dem 
Oberflächenanblick auch eine volle Ausbildung zweier skele- 
tärer, bis auf die Seitenwand reichender Stützen entsprechen. 
Ob eine solche Gestaltung, die einer freien phylogenetischen 
Weiterentwickelung in anderer als retrospektiver Richtung 


keine Tierhomologie oder -Analogie stünde ihr bisher zur 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 633 
Seite) überhaupt möglich ist, ist natürlich nicht diskutabel. 
Sollte sie wirklich einmal zur Beobachtung kommen, so müsste 
rückhaltlos vom Vorkommen einer vierten Siebbeinmuschel ge- 
sprochen werden. Bis jetzt aber, das sei nachdrücklich betont, 
berechtigt noch keine unserer Beobachtungen dazu. 

2. Eine der beschriebenen morphologisch, vielleicht auch 
phylogenetisch gleichwertige Furche zeichnet sich, allerdings 


in viel seltenerem Vorkommen, an der unteren Fläche des 


Fig. 50. 


ersten Vollwulstes ab. Hier sah ich sie, isoliert, nur einmal 
im 6. Monat, viermal bei (zwei) Neugeborenen und zweimal 
an Erwachsenen. Ausserdem kommt sie neben der erstbe- 
schriebenen Furche vor und trägt dann noch mehr zur Kom- 
plizierung, ja Verwirrung des Bildes bei: Fig. 49. 

3. Neben diesen einfachen Subdivisionen des ersten Ethmo- 
turbinale in zwei Teilwülste kommen auch mehrfache Furchen- 
bildungen, allerdings meist nur oberflächlichen Verlaufes, vor; 
zunächst Kombinationen von Furchen der medialen Fläche und 
der unteren Kante. Solche konnte ich einmal im 4. bis 5. Monat, 
sechsmal im 8.— 10. Monat und einmal beim Erwachsenen ver- 
zeichnen. 

4. In ähnlicher Weise, wie eine untere Furche das Vor- 
handensein einer medialen kompliziert, sind in einigen Fällen 
(dreimal bei Neugeborenen, einmal beim Erwachsenen) zwei 
mediale Furchen, übereinander verlaufend, zu sehen gewesen, 
fast jedesmal nur von geringer Tiefenerstreckung. Sie unter- 


634 L. GRÜNWALD, 


liegen derselben Deutung, wie die einfachen Furchen dieser 
Stelle. Wo einmal die Spaltung tiefer geht, wie in dem bereits 
besprochenen, in Fig. 50 dargestellten Präparat, ist der Punkt 
nicht mehr fern, an dem die volle Spaltung in drei Teilwülste 
erreicht würde. Jedenfalls liegt in dem Vorkommnis ein sehr 
deutlicher Hinweis auf die unscharfe Begrenzung der Bildungs- 
möglichkeiten, die sich übrigens nicht ausschliesslich auf das 
erste Ethmoturbinale beschränkt: 

5. Denn auch am zweiten Ethmoturbinale kommt ähn- 


liches vor: Die lobulusähnliche Verdiekung des Ethmoturbi- 


nale II in Fig. 51 (aus dem 6. Monat) trägt eine zwar seichte, 
doch recht scharf ausgeprägte Furche; das schon im Ethmo- 
turbinale I so reich gegliederte Präparat der Fig. 49 zeigt auf 
der lateralen, hier nicht darstellbaren Seite des Ethmoturbi- 
nale II sogar drei Einschnitte; ob die auf den „oberen“ 
Muscheln der in Fig. 44 und 49 abgebildeten Präparate längs- 
verlaufenden seichten Rinnen Reste einer echten zweiten Furche 
oder nur Subdivisionen sind, die zu keiner selbständigen Wulst- 
bildung geführt hätten, ist nicht ganz unzweifelhaft, doch spricht 
der ganze Anblick sehr zugunsten der zweiten Auffassung. 
Jedenfalls ist das Vorkommen von Subdivisionen mit unselb- 
ständigen Abschnürungswulsten durch die Befunde der ersten 
zwei Präparate erwiesen. 

Was nun diesen Teilwulstungen am Ethmoturbinale I 


erhöhtes Interesse verleiht, wohl auch ihr Vorkommen erklärt, 


Die Nasenmuscheln des Menschen etc. 635 


ist die Tatsache, dass auch in der Säugerreihe (dort aber ver- 
mutlich für die Species constante) Subdivisionen von einheit- 
lich gestielten Siebbeinmuscheln, und zwar nicht bloss der 
zweiten, sondern bis zur sechsten hin, beobachtet werden. 
Beispiele dafür finden sich bei Paulli mannigfaltig; sie be- 
treffen die Cerviden, Schafe, Musteliden u. a., am auffälligsten 
ist wohl die beim Schwein auf sämtlichen, vom ersten bis zum 
sechsten E.-T. sich vorfindende Spaltbildung oder Aufblätte- 
rung. Es fehlt somit der, wenn auch seltenen Bildung beim 
Menschen nicht an tierischer Analogie, vielleicht sogar Homo- 


logie. 


2, Sekundärfurehen und Sekundärwülste. 


1. Nur zeitweilig während der Entwickelung, niemals bis- 


her ım Zustande der Reife beobachtet sind einige Furchen und 


Fie. 52. 


zugehörigen Wulste, die unsere Aufmerksamkeit hauptsäch- 
lich deshalb in Anspruch nehmen, weil sie im Killian schen 
Schema der Aufstellung einer erweiterten Muschelzahl als 
Hauptgrundlage dienen. Es handelt sich um annähernd radiär, 
in sehr spitzem Winkel zueinander verlaufende, mehr oder 
weniger seichte Furchen auf dem hinteren Schenkel des zweiten 
Ethmoturbinale. In besonders ausgeprägter Form finden wir 
sie in Fig. 45, weniger scharf in Fig. 43 und 52. Im ganzen 


kommen sie in nur acht meiner Präparate vor, und zwar sieben- 


636 L. GRÜNWALD, 


mal davon in der unschärferen Form der Fig. 52, so dass die 
erstabgebildete auffallende Gestaltung als Unikum erscheint. 
Schon diese erosse Seltenheit des Vorkommens erschwert es, 
hinter der Erscheinung etwas genetisch Wichtiges zu suchen, 
noch mehr die Tatsache, dass es sich fast durchweg um Spät- 
erscheinungen der Entwickelung handelt; denn vier der Fälle 
voehören Neugeborenen an, drei stammen aus dem 7. und ein 
weiterer aus dem 5. Monat. Halten wir damit zusammen, dass 
mit zwei Ausnahmen nur je eine Seite der Föten mit der frag- 
lichen Furchenbildung behaftet war, so fällt es, besonders im 
Hinblick auf ihr ausnahmsloses Verschwinden mit Abschluss 
der Entwickelung, schwer, irgend einen anderen Grund für 
die Genese der Erscheinung als einen rein temporär-mechani- 
schen zu vermuten. Es scheint mir, als ob ein besonders starkes 
Wachstum des in der Tiefe (vgl. die Bilder!) liegenden hinteren 
Schenkels bei zugleich die Ausdehnung beschränkender Um- 
gebung (hinten liegt das feste Keilbein, vorne die Masse des 
ersten Ethmoturbinale an) zureichen würde, um eine Faltung 
ler Masse von der fraglichen Form hervorzubringen; Motive, 
die beim Weiterwachstum verschwinden. Dafür spricht auch, 
dass die Erscheinung gerade nur an den wenigst gegliederten 
Typen Illb und IV beobachtet wird, wo also das wenigste 
Material für definitive Differenzierung oder ihre Vorbereitung 
verbraucht wurde; sie kann demnach als Besgleit- 
erscheinung der Reduktion gelten. 

Den sehr wesentlichen Unterschied dieser sekundären Fur- 
chen gegenüber den tiefen von bleibender Bedeutung illustriert 
Fig. 43 und 52, wo die den schmalen zweiten Hauptwulst ab- 
schneidende Hauptfurche sich sowohl durch Verlauf, als Länge 
und Tiefe deutlich von dem Komplex radiärer seichter Ein- 
drücke abhebt. 

Die Zahl der fraglichen Furchen schwankt zwischen zwei 


(Fig. 43, und fünf (Fig. 52). 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 637 


2. Auf der freien Fläche des vorderen Schenkels des ersten 
thmoturbinale besteht zwar keine Einengung, wie an der 
eben geschilderten Stelle, wohl aber können auch hier zeit- 
weilig Überbildungen von Grewebsmasse in Gegensatz zum vor- 
handenen Raum treten und in Faltenbildung ausarten. Wenn 
wir daher an diesem Platze hie und da sehr seichten Furchen 
mit leicht gewölbten Zwischenflächen begegnen (Fig. 34), die 
im übrigen nach Gestalt und Anordnung ebenfalls fächerartig 
und in gewisser Regelmässigkeit verlaufen, so liegt es nahe, 
auch dieser Erscheinung die oben angezogenen mechanischen 
Motive von temporärer (Geltung zu unterlegen. 

Es sind gleichfalls nur sieben Vorkommnisse dieser Art 
unter meinen Präparaten zu verzeichnen gewesen, diesmal aber 
nur auf vier Individuen verteilt, d. h. je dreimal beiderseitig. 
In einem, aus dem 7. Monat stammenden Falle traten diese 
Sekundärwülste gleichzeitig (und beide Arten beiderseitig) mit 
jenen der ersten Art auf; sonst handelte es sich um zwei Neu- 
geborene und einen 6'/, monatigen Fötus; ım ganzen also Ähn- 
lıche Verhältnisse, wie sie oben geschildert wurden. 

Die grosse Regelmässigkeit in der Form der Erscheinung 
würde es nahelegen, hinter ıhr einen höheren Grad genetischer 
Bedeutung zu suchen. Keinerlei, auch nur scheinbare Analogien 
aber sprechen dafür, noch verlocken dazu, und der Mangel 
jeder, auch nur rudimentärsten Bildung ähnlicher Art innerhalb 
der Reife gestattet es, auch dieser Erscheinung dieselbe Rolle, 
wie der erstbeschriebenen, also die einer nur mechanischen 


Folgewirkung zuzuteilen. 


Ich fasse die Ergebnisse kurz zusammen: 

1. Die Berücksichtigung sämtlicher Tatsachen der ver- 
gleichenden Anatomie, der Ontogenese und deskriptiven Ana- 
tomie des Menschen erfordert einige Veränderungen bzw. Be- 


reicherungen der Namengebung, wie sie hier gegeben werden. 


638 l.. GRÜNWALD, 


2, Im besonderen sind die neuen Begriffe des ‚„Recessus 
posterior“, des „Basalwulstes“ und des „Seitenraumes“ einzu- 
führen. 

3. Die verschiedenen Formen der Ethmoturbinalia des Men- 
schen lassen sich zwanglos in Gruppen von Typen, die durch 
die ganze Entwickelung durchlaufen, einteilen. 

4. In der Hauptsache gibt es Typen mit zwei und solche 
mit drei Siebbeinmuscheln. Weniger oder mehr kommen weder 
früh noch spät vor. 

5. Aus den mannigfaltigen Typenreihen der frühen Ent- 
wickelungszeit lassen sich die spärlichen der Reife teils durch 
tück-, teils durch Ausbildung ableiten. 

6. Es gibt Teilwülste und ihnen entsprechende Zwischen- 
furchen von phyvlo- und ontogenetischer Bedeutung, besonders 
am ersten, aber auch am zweiten Ethmoturbinale. 

7. Sekundärwülste und entsprechende Sekundärfurchen 
kommen während der Spätentwickelung vor, haben aber keinen 
nachweisbaren phylogenetischen Wert, sondern sind wahr- 
scheinlich nur Wirkungen reichlicher Materialanlage ohne ent- 
sprechende Entfaltungsmöglichkeit. 

8. Eine feste Beziehung der Erscheinungen der mensch- 
lichen Ontogenese und Reife des Naseninneren zu bestimmten 
Säugetierformen lässt sich auf Grund der bisher bekannten 


Tatsachen nicht herstellen. 


Ks ıst mir eine angenehme Pflicht, Herrn Professor 
hückert für die freundliche Gewährung des zu vorliegender 
Arbeit benötigten Materials und Arbeitsplatzes wiederum meinen 


besten Dank auszusprechen. 


Die Nasenmuscheln des Menschen ete. 639 


Tabelle I. 


Zahl der Ethmoturbinalia. 


PR 2 | 3 3 Prozentsatz der Fälle mit 2 E.-T. 
der Bälle D) voll  |das dritte | das dritte ee 
> aus- | rudi- in im ganzen | voll | in der 
im Alter von | gebildet | mentär!) |Redukvion ausgebildet) Ausbildung 
| 
2.u.3.Monat| 10 PP = 31%? | 31%? — 
4. Monat 3 14 l — Zara, 0.1295 6% 
5. Monat 5 8 3 l 53% 30% 23% 
6.u.7.Monat| 11 19 — 15 51% | 24%, 33% 
8.—10.Monat|] 10 38 — 33 D289% 40% 12% 
Kinder bis 3 ee ar SE 
zu 9 Jahren “ 3 l 6 51% 27% 24 % 
Erwachsene | 100 23:15 SO 82, nl 7%?) 


Sa. | 145 | 133 Dee 


') Nicht alle rudimentären Formen verfallen vollständiger Reduktion. 


°) Bei Erwachsenen ist natürlich nur an phylogenetische Ausbildung zu 
denken. 


Tabelle II. 
Prozentuales Vorkommen der Ethmoturbinal-Typen. 
In der Davon im Er- AR 
Typus N Vom |wachs Zahl der Ethmoturbinalia 
hreile | 2.-7.Monat|g Monat an | Vachsene 
| 


TE TE 


Ia 3 2 1 _ 3 
Ib 12 9 3 0,5 3 
Ila 26 1l 15 28 3 
IIb [7 | [7 
IIb’ z a I | 10 \ 3 in der Unreife 
2 2 ENDE [re i 2—3 beim Erwachsenen 
IIe b 35 | 
R 3 in der Unreife 
IIla 14 9 2 1,5 2-3 beim Erwachsenen 
IIIb 4 2 2 — 3 
IV 13 8 on 60 B) 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd,, H. 3). 42 


Ike 
2 
34 
4 
5 


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Übers. Berlin. 


3. Zuckerkandl (1893), Norm. u. path. Anat. d. Nasenhöhle etc. Wien. 


AUS DEM ANATOMISCHEN INSTITUT IN AMSTERDAM. 


ÜBER DIE VERBINDUNGEN ZWISCHEN DEM SITZBEINE 
UND DER WIRBELSÄULE BEI DEN SÄUGETIEREN 


VON 


W. A. MYSBERG. 


Mit 6 Abbildungen im Text. 


nussaxata nad Marina Maaa 


Ne ARE BR 


lese ac 19a Rue 


a8 Ye = Be RER Br, THIS, br DAT: 4 i m ie he A x 5 Alan a En Fa ns 
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1030, 


u Ben En Es a Amen 
Ba 


RT 


h en 3 Rn 13 


Die Beschaffenheit der Verbindungen zwischen dem Sitz- 
beine und der Wirbelsäule ist innerhalb der Klasse der Säuge- 
tiere eine sehr wechselnde. Während bei einigen Säugetieren 
die genannten Skeletteile durch Muskeln verbunden sind, ist 
bei anderen die Verbindung ligamentöser, knorpeliger oder 
oar knöcherner Natur. Die Muskelmasse, welche vom Sitz- 
beine entspringt und sich an der Schwanzwirbelsäule inseriert, 
wurde früher als ein einheitlicher Muskel betrachtet, der als 
M. ischiocaudalis bezeichnet wurde. Zuckerkandl (15, 16, 
17) aber hat gezeigt, dass zwischen Sitzbein und Schwanz 
zwei verschiedene Muskeln sich befinden, von ihm Mm. spinoso- 
caudalis und ischiocaudalis genannt, von denen der M. spinoso- 
caudalis gewöhnlich von der Spina ischiadica und Umgebung, 
der M. ischiocaudalis vom Tuber ischii entspringt. Dass wirk- 
lich zwei verschiedene Muskeln vorhanden sind, lässt sich 
schliessen aus ihren Lagebeziehungen zum N. pudendus. Dieser 
Nerv tritt durch das Foramen ischiadicum majus aus der 
Beckenhöhle heraus, verläuft alsdann an der Aussenfläche des 
M. spinosocaudalis, gelangt weiterhin an die Innenfläche des 
M. ischiocaudalis, um alsdann seinem Endbezirke zuzueilen. 
Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Muskeln ergibt sich 
aus der Innervation. — Nicht immer, ja fast nur ausnahms- 
weise, treten beide Muskeln nebeneinander auf, bald fehlt der 
eine, bald der andere; ohne Rücksichtnahme auf die Topik 
des N. pudendus ist es dann nicht möglich, mit Sicherheit die 
Provenienz des vorliegenden Muskels zu bestimmen; dem Ur- 


64 W. A. MYSBERG, 


sprunge des Muskels ist zu diesem Zwecke kein grosser Wert 
beizulegen, hat sich doch aus Zuckerkandls Untersuch- 
ungen ergeben, dass bei einer Echidna aculeata der M. spinoso- 
caudalis, der gewöhnlich nur von der Spina ischiadica und 
Umgebung entspringt, seinen Ursprung in caudaler Richtung 
stark ausgedehnt hatte, so dass die caudalen Fasern vom 
unteren Sitzbeinaste entsprangen. 

Die Bandverbindungen zwischen dem Sitzbeine und der 
Wirbelsäule sind aus der menschlichen Anatomie, wo sie als 
Ligamenta spinososacrum und tuberososacrum bezeichnet wer- 
den, wohl bekannt. Zu vergleichend-anatomischen Zwecken 
können diese Namen im Prinzip beibehalten werden; da aber 
die Faserr bald am Sacralteile, bald am Caudalteile, bald an 
diesen beiden Teilen der Wirbelsäule sich anheften, empfiehlt 
es sich, die Bänder mit dem Sammelnamen Lig. spinososacro- 
caudale und Lig. tuberososacrocaudale zu nennen und in Einzel- 
fällen als Lig. spinoso- (bzw. tuberoso-) sacrale, -caudale und 
-sacrocaudale zu bezeichnen. (Gewöhnlich ist das Lig. spinoso- 
sacrocaudale an der Spina ischiadica und deren nächsten Um- 
sebung, das Lig. tuberososacrocaudale am Tuber ischiadicum 
befestigt; da aber dieser Unterschied der Festheftungsstellen 
am Sitzbeine sich, ebenso wie bei den Sitzbeinschwanzmuskeln, 
nicht immer bewährt, ist es empfehlenswerter, auch hier die 
Topik der Bänder zum N. pudendus als Unterscheidungsmerk- 
mal heranzuziehen. 

Es erheben sich nunmehr gegen den von Zuckerkandl 
dem dorsal vom ‘N. pudendus gelegenen Muskel gegebenen 
Namen ,„M. ischiocaudalis“ einige Einwürfe, welche diese 
Nomenclatur als eine weniger zutreffende erscheinen lassen: 
Erstens könnte es zu Veerwirrungen führen, dass der „M. ischio- 
caudalıs‘ früherer Autoren den ,M. ischiocaudalis“ Zucker- 
kandls wie auch den M. spinosocaudalis dieses Autors um- 
fasst, zweitens ist zu bedenken, dass nicht nur der Zucker- 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 645 


kandlsche M. ischiocaudalis, sondern auch der M. spinoso- 
caudalis vom Os ischii entspringt, drittens scheint es mir 
wenig rationell, den dorsal vom N. pudendus gelegenen Muskel 
als M. ischiocaudalis zu bezeichnen, hingegen ein sich in 
denselben Verhältnissen befindendes Band Lig. tuberoso- 
sacrocaudale zu nennen. Diese Einwände sind beseitigt, wenn 
man den betreffenden Muskel mit dem Namen M. tuberoso- 
caudalis andeutet, wodurch überdies der Ansatz am Sitzbeine 
in den typischen Fällen bezeichnet ist. Es wird dann auch 
letzterer Name in dieser Abhandlung beibehalten werden !). 

Da bald Muskeln, bald Ligamente die Verbindung zwischen 
Sitzbein und Wirbelsäule bilden, ist es fraglich, ob diese Bil- 
dungen als homolog zu deuten seien. Dieselbe Frage tut sich 
auf mit Bezug auf die knöcherne Verbindung, die man bei 
einigen Säugetieren vorfindet. Ehe man zur Beantwortung 
dieser Fragen schreiten kann, ist es notwendig, die Anatomie 
der Sitzbeinwirbelsäuleverbindungen bei den Säugetieren ge- 
nauer kennen zu lernen. Da den älteren Autoren die Unter- 
scheidung der Verbindungen nach ihren Lageverhältnissen zum 
N. pudendus nicht bekannt war, sind die älteren Angaben 
ın der Literatur nur dann zu verwerten, wenn auch die Topik 
des N. pudendus zu den betreffenden Muskeln und Bändern 
erörtert ist. Dies aber ist nur selten der Fall; die meisten 
Daten, die ich in den folgenden Zeilen mitteilen werde, ent- 
stammen daher eigenen Untersuchungen 

Ordnung der Monotremata. Zuckerkandl (16) 
fand bei einer Echidna aculeata einen M. spinosocaudalıs, 
welcher sich am 5. bis 11. Sacrocaudalwirbel inserierte und 
dessen Ursprung am Sitzbein sich in caudaler Richtung aus- 
gedehnt hatte, so dass die am meisten caudalen Fasern vom 
MS 1) Es sei im Vorbeigehen bemerkt, dass ein von Kohlbrugge (7) bei 
einem Cercopitheeus eynomolgus beobachteter Muskel, der seinen Ursprung 


nahm vom Sitzbeinknorren und an der Schwanzwirbelsäule zur Anheftung 
kam, von ihm unter dem Namen M. tuberosocaudalis beschrieben worden: ist. 


646 W. A. MYSBERG, 


el, med. 


eu 


o. i.+ gem. — 


Fis.l: 
Phalangista vulpina. Dorsalansicht der Beckenregion. 
s. 1.1, 8.1. d.= Verstärkungsbänder der Artie. saeroiliaca. i.=N. ischiadicus. 


p- = N. pudendus. gl. med. = M. glutaeus medius. gl. min. = M. glutaeus 
minimus. ce. f£ = M, caudofemoralis. sp. e. = M. spinosocaudalis. o. i. 
+ gem. = M. obturator internus und M. gemellus superior. s. t.=M. semi- 


tendinosus. 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 647 
unteren Sitzbeinaste entsprangen. Der M. tuberosocaudalıs 
fehlte. 

Ordnung der Marsupialia. In Fig. 1 sind einige 
Muskeln der Beckenregion einer von mir zergliederten Pha- 
langista vulpina dargestellt. Auf diesem Bilde ist es 
deutlich, dass der M. spinosocaudalis, an dessen Aussen- 
fläche der N. pudendus liegt, vom oberen Sitzbeinaste cranıal 
von der Stelle, wo der M. obturator internus sich um den 
Sitzbeinast herumbiegt, entspringt, während er sich an den 
Querfortsätzen des 2. bis 4. Schwanzwirbels inseriert. Auf 
der Abbildung ist auch der M. caudofemoralis dargestellt, 
welcher beim Fuchskusu in zwei Teile gespalten ist, die von 
den Querfortsätzen des 1. bzw. 2. Gaudalwirbels entspringen 
und am Trochanter major bzw. an der lateralen Fläche des 
Os femur zur Anheftung kommen. Bei allen Säugetieren, wo 
er sich findet, liegt der Muskel latero-dorsal vom N. pudendus, 
während der N. ischiadicus an seiner Aussenfläche verläuft. 
Durch diese Lagebeziehung zum N. ischiadicus unterscheidet 
er sich vom M. piriformis. Der M. tuberosocaudalis fehlt. 
Auch bei Didelphys marsupialis und Petrogale 
penicillata findet sich nur der M. spinosocaudalis, der 
sich beim ersteren an den Querfortsätzen des 1. bis 5. Schwanz- 
wirbels inseriert, beim letzteren an dem 1. und 2. Caudal- 
wirbel zur Anheftung kommt. An dem Skelett eines Phasco- 
lomys ursinus sah ich ein kurzes, kräftiges, fast gerade 
transversal gerichtetes Band zwischen dem Sitzbeinknorren 
und den Processus transversi von C, und C, ausgespannt. Auch 
Lubsen (12, S. 75) beschreibt bei einem Wombat ein solches 
Band. Nach der Anheftungsstelle am Sitzbeine könnte dieses 
Band den Namen Lig. tuberosocaudale beanspruchen, doch 
fehlt mir die Kenntnis seiner Lagebeziehung zum N. pudendus. 
Beim Beutelmull, Notorryctestyphlops, ist das Sitzbein 
mit den (Querfortsätzen der letzten zwei Sacralwirbel ver- 
wachsen (Abel [1]). 


648 W. A. MYSBERG, 


Ordnung der Insectivora. Bei Talpa europaea 
findet sich zwischen dem vorderen Teile des oberen Sitz- 
beinastes und dem Seitenrande des Kreuzbeines eine fast trans- 
versal gerichtete Knochenbrücke, welche die caudale Ab- 
schliessung des Foramens bildet, durch welches die Nn. ischia- 


dieus und pudendus aus der Beckenhöhle hinaustreten. Bei 


gl. max. — — — 


— — — — — — -gl med. 
en nn EEE sic beer 
LEN: Der: 
mare en AS ht 
sem. IT —— 
—-.—— — — — —— ln 


Fig. 2. 
Talpa europaea. Dorsalansicht der Beckenregion. 


gl. max. —= M. glutaeus maximus. | 
ten. — M. tenuissimus. nach links umgeklappt. 
sem. II = M. semitendinosus II | 
xl. med. — M. glutaeus medius. i. =N. ischiadieus. p. —= N. pudendus. 
ie —M. iliocoeeygeus und Lig. iliosacrale. 


einem der von mir zergliederten Exemplare war ebenso wie 
bei einem von Leche (9) untersuchten Objekt diese Brücke 
einerseits zum Teile fibrös. Offenbar entsteht sie durch Ver- 
knöcherung eines Bandes, das, wie seine Lage zum N. pudendus 
beweist, als Lig. spinososacrale bezeichnet werden muss. 
Ausserdem ist das Sitzbein noch durch einen Muskel und einem 
Bande mit der Wirbelsäule verbunden; Abbildung 2 zeigt die- 
selbe. Das Band spannt sich zwischen der Crista sacralis 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 649 


zur Höhe des 5., zum Teil auch des 4. Wirbels und der medialen 
Fläche des hinteren Teils des oberen Sitzbeinastes aus. {Nach 
lLeche liegt der Ansatz des Bandes an der Wirbelsäule am 
stark entwickelten Querfortsatze des 4. Sacralwirbels.) Un- 
mittelbar ventral vom Ligament findet sich an der medialen 
Fläche des oberen Sitzbeinastes hart am Rande des Foramen 
obturatum die Ursprungslinie eines Muskels, dessen Fasern 
in medio-caudaler Richtung verlaufen und sich an den vorderen 
Schwanzwirbeln inserieren. Leche bezeichnet den Muskel 
und das Band als M. ischiocaudalis, bzw. Lig. sacrotuberosum, 
jedoch mit Unrecht, denn, wie Fig. 2 zeigt, verläuft der N. 
pudendus dorsal vom Muskel und vom Bande. Auch der Ur- 
sprung des Muskels hart am Rande des Foramen obturatum 
stimmt nicht zu dem eines M. tuberoso- oder spinosocaudalis, 
deren Ursprünge gewöhnlich am dorsalen Rande des oberen 
Sitzbeinastes liegen. Offenbar ist der betreffende Muskel der 
M. iliococcygeus, dessen Ursprung jedoch caudalwärts ver- 
legt ist!), und das Band dessen craniale Partie, deren Fasern 
infolge ihrer Insertion am immobilen Kreuzbeine fibrös um- 
gewandelt worden sind. Beiläufig sei bemerkt, dass die Muskel- 
masse, deren Fasern vom ventralen Rande und von der pel- 
vinen Fläche des Ramus horizontalis ossis pubis entspringen 
und sich an der Schwanzwirbelsäule sehnig inserieren, einen 
einzigen Muskel, den M. pubococcygeus, repräsentiert. Wohl 
mit Unrecht unterscheidet Leche in dieser Masse zwei 
Muskeln: den M. iliococeygeus und den M. pubococeygeus. 

Bei Erinaceus europaeus ist, wie Fig. 3 zeigt, die 
Verbindung zwischen der Spina ischiadica und der Wirbelsäule 
im cranialen Teile, wo die Fasern sich am Querfortsatze des 
1. Caudalwirbels inserieren, fibrös; der caudale Teil hingegen, 


2 


dessen Fasern sich am 2. und 3. Schwanzwirbel inserieren, 


') Über den Ursprung des M. iliococeygeus bei verschiedenen Säugetieren 
berichtet Holl (5, S. 180 ff.) 


650 W. A. MYSBERG, 

ist muskulös. Der N. pudendus verläuft an der dorsalen Fläche 
der Verbindung, sie muss also als Lig. bzw. M. spinosocaudale 
(is) bezeichnet werden. Ausserdem findet sich dorsal vom 


3.1. d.Ie= 
Pr. zyg. Gı 


gl. med. - 


SDATH 
o. i.+ gem. — 


qu. fem.- — 


Fig. >. 


Erinaceus europaeus. Dorsalansicht der Beckenregion. 


Sp: Ss — SP. 8, SP. €, Sp. & = Proc. spinosi Vert. sacr. 1—4 et Vert. caud. 

1 et 2. pr. zyg. Sı, pr. zyg. c, = Proe. articularis anterior Vert. sacr. 1, 

bzw. Vert. eaud. 1. gl. med. = M. glutaeus medius. 0. i.+ gem.—=M. ob- 

turatur internus und Mm. gemelli. qu. fem. = M. quadratus femoris. 8. i. 

d.1. = Lig. sacroiliacum dorsale longum. s. i. s. = Lig sacroiliacum superius. 

t.s. e. — Lig. tuberososacrocaudale. sp. ec. =Lig. spinosoeaudale und M. 
spinosocaudalis. sy. —= Symphysenknorpel. 


N. pudendus ein Band vor, dessen Fasern vom Sitzbeinknorren 
entspringen, in cranio-medialer Richtung verlaufen und in die 
Fascie, welche die dorsalen Sacralmuskeln bekleidet, aus- 
strahlen. Der grössere Teil der Fasern erstreckt sich in die 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 651 


Richtung der Processus spinosi des 4. Sacral- bis zum 2. Caudal- 
wirbel. Von diesem Lig. tuberososacrocaudale entspringen die 
caudalen Fasern des M. glutaeus maximus. (Man siehe die 
Abbildungen bei Leche |9, Fig. 89] und Cuvier et Lau- 
rillard [3, Abb. 75].) 


Aus Leches (9) Beschreibung und Abbildung ist er- 
sichtlich, dass bei Tupaia der M. spinosocaudalis die einzig 


anwesende Sitzbeinwirbelsäuleverbindung_ ist. 


Ordnung der Chiroptera. „Bei mehreren Arten”, 
schreibt Leche {11, S. 582), „vereinigen sich die hinteren 
Ränder der Partes ventrales ischii mit der Wirbelsäule: bei 
Desmodus und Noctilio verwachsen die besagten Ischium- 
teile zu einem vertikalen Kamme, welcher mit der Wirbelsäule 
verschmilzt; bei Pteropus und Phyllostoma ver- 
wachsen die beiderseitigen Sitzbeine mit der Wirbelsäule, ohne 
sich miteinander zu verbinden.‘ Jedoch sei hervorgehoben, 
dass bei einem von mir zergliederten Pteropusedwardsii 
die Verbindung den Typus aufwies, wie Leche sie bei Des- 
modus beschreibt; ein Pteropus molossinus zeigte Je- 
doch die von Leche dargestellten Verhältnisse. Ob die 
knöcherne Verbindung entsteht durch Ligamentverknöcherung 
wie bei Talpa, oder durch Ossification einer erst knorpeligen 
Verbindung wie bei den Xenarthra, lässt sich mit Hilfe der 
Daten, über die ich verfüge, nicht mit Sicherheit entscheiden, 
doch ist letztere Entstehungsweise die wahrscheinlichere; 
jedenfalls wäre es wohl kaum denkbar, dass die Verwachsung 
der beiderseitigen Sitzbeine wie bei Desmodus und Noectilio 
durch Bandverknöcherung entstanden wäre. 


Bei Pteropus ist die knöcherne Verbindung die einzige 
zwischen Sitzbein und Wirbelsäule befindliche, bei Vesper- 
tilio murinus, wo die knöcherne Verbindung fehlt, fand 
ich nur einen M. spinosocaudalıs. 


652 W. A. MYSBERG, 

Ordnung der Galeopithecidae. Bej dem von mir 
untersuchten Pelzflatterer ist nur der M. spinosocaudalis an- 
wesend. Seine Fasern inserieren sich am Querfortsatze des 
1. Schwanzwirbels, während eine geringe Anzahl von cranialen 
Fasern sich am allerhintersten Teile des Seitenrandes des 
Kreuzbeines ansetzen. Die Fasern entspringen von der Spina 


Fig. 4, 
Tatusia novemeincta juv. Dorsalansicht des Beckens. 
.—N. ischiadieus; p. = N. pudendus. Knorpel schraffiert. 


ischiadica. {Man siehe die Abbildung bei Leche [10], wo 
der Muskel entschieden kräftiger ist als bei dem von mir 
zergliederten Exemplar.) 

Ordnung der Xenarthra. Bei den Xenarthra, mit 
Ausnahme nur des Cycloturus didactylus, verschmilzt bei er- 
wachsenen Exemplaren der hintere Teil des Sitzbeines mit 
dem Kreuzbeine; bei Bradypodidae ist diese Verbindung eine 
weniger ausgedehnte als bei Dasypodidae. Fig. 4 zeigt die 
Dorsalansicht des Beckens einer jungen Tatusia novem- 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 653 


eincta: das Darmbein und das Sitzbein, welche beim er- 
wachsenen Tiere mit dem Kreuzbeine verwachsen sind, waren 
hier noch knorpelig mit dem Os sacrum verbunden, obwohl, 
namentlich in der iliosacralen Verbindung, die Össification schon 
angefangen hatte. Offenbar entsteht die knöcherne ischiosacrale 
Verbindung bei den Xenarthra nicht durch Bandverknöcherung, 
wie bei Talpa; sie kommt dadurch zustande, dass die Sitzbeine, 
welche infolge irgend einer Ursache hart an die Wirbelsäule 
herangerückt sind, sich mit ihr anfangs knorpelig, später knö- 
chern verbinden. Ich hoffe bald über die Natur dieser Ursache, 
welche mit statischen Einflüssen zusammenhängt, in einer Ab- 
handlung über die Anatomie der Beckenverbindungen der 
Säugetiere mit Bezug auf die statischen Einflüsse, denen sie 
ausgesetzt sind, zu berichten. Ausser der genannten Sitzbein- 
wirbelsäuleverbindung findet sich bei den von mir unter- 
suchten Tatusia novemcincta und Bradypus tridactylus ein M. 
tuberosocaudalis, welcher vom Sıtzbeinknorren und vom 
unteren Sitzbeinaste entspringt und sich an den Querfortsätzen 
der vorderen Schwanzwirbel inseriert. Beim Faultiere sind 
die cranialen Fasern fibrös; sie setzen sich fest am ersten 
Schwanzwirbel, bilden also ein Lig. tuberosocaudale. 
Ordnung der Pholidota. Zwischen dem Sitzbein- 
knorren und dem unteren Sitzbeinaste einerseits und den Quer- 
fortsätzen des ersten und vieler folgenden Schwanzwirbel 
andererseits erstreckt sich beim Schuppentiere der M.tuberoso- 
caudalis. In eranialer Richtung schliessen sich an den Muskel 
fibröse Fasern an, welche sich am letzten sacralen und am 
ersten caudalen Wirbel inserieren, und also ein Lig. tuberoso- 
sacrocaudale bilden. Von mehreren Autoren (siehe z. BOwen 
13, Vol. II, S.:396|], Leche 11, S. 583]) ist bei Manis eine 
Verwachsung des Sitzbeines mit dem Kreuzbeine beschrieben 
worden, in neuerer Zeit aber wird das Bestehen einer solchen 
Verschmelzung von Weber (14, S. 424) in Abrede gestellt. 


654 W. A. MYSBERG, 
Bei dem von mir zergliederten Schuppentiere fand sich un- 
mittelbar ventral vom Lig. tuberososacrocaudale eine schmale, 
feste Verbindung zwischen dem Tuber ischii und dem Quer- 
fortsatze des letzten Sacralwirbels. Der mittlere Abschnitt 
dieser Verbindung war weniger fest und bei der Untersuchung 
der Konsistenz fiel er heraus; seine Form war die eines 
Cylinders, 1 mm hoch und 2 mm im Durchmesser. Es zeigte 
sich bei der mikroskopischen Untersuchung, dass er aus Binde- 
gewebsfasern besteht, zwischen denen Knorpelzellen liegen. 
Man dürfte nun meinen, dass hier ein verknorpelter Teil des 
Lig. tuberososacrocaudale vorläge; das mikroskopische Bild 
zeugt aber gegen diese Annahme, denn die Bindegewebsfasern 
sind nicht parallel geordnet, sondern sie verlaufen in verschie- 
dene Richtungen. Offenbar muss man die Verbindung als eine 
primär faserknorpelige deuten, welche wahrscheinlich in einer 
Weise, der Entstehungsweise der entsprechenden Verbindung 
der Xenarthra analog, entstanden ist. Ob die genannte Ver- 
bindung bei Manis später verknöchert, kann ich nicht ent- 
scheiden; das von mir untersuchte Tier war noch nicht ganz 
erwachsen, die iliosacrale Verbindung war immerhin fast völlig 
verknöchert. 

Ordnung der Rodentia. Lepuscuniculus und 
Mus decumanus besitzen nur den M. spinosocaudalis, wel- 
cher vom vorderen Teile des oberen Sitzbeinastes entspringt und 
sich beim Kaninchen, wo ihnKrause(8) alsM. abductor caudae 
anticus bezeichnet, an dem Seitenrande der letzten zwei Sacral- 
wirbel und an den Querfortsätzen und den Seitenflächen der 
Körper der vorderen drei bis vier Caudalwirbel, bei der Ratte 
an den Processus transversi der vorderen zwei Schwanzwirbel 
inseriert. Bei Dipus aegypticus verhält sich der Muskel 
hinsichtlich Ursprung und Insertion wie bei Mus, jedoch be- 
sitzt Dipus ausserdem ein Lig. tuberososacrocaudale, dessen 
Fasern sich ausspannen zwischen dem Tuber ischii und den 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 65: 
Querfortsätzen des ersten Caudal- und der hinteren Sacral- 
wirbel. Bei Dasyprocta aguti und Hystrix cristata 
finden sich der M. spinosocaudalis und der M. tuberoso- 
caudalis; Cavia cobaya besitzt nur den M. tuberoso- 
caudalıs. (Man vel. die Abbildungen Zuckerkandls.) 
Ordnung der Carnivora. Felis domestica und 
der von mir zergliederte Herpestes spec. besitzen nur 
einen M. spinosocaudalis, der sich zwischen der Spina ischia- 
dica und den Querfortsätzen der vorderen vier resp. sechs 
Schwanzwirbel erstreckt. Bei Canıs familiariıs inseriert 
sich der Muskel, von Ellenberger und Baum (4) als 
M. abduetor caudae internus (anterior) s. coceygeus bezeichnet, 
an den Processus transversi des zweiten bis vierten Caudal- 
wirbels; beim Hunde ist ausserdem ein Lig. tuberososacro- 
caudale zwischen dem Sitzbeinknorren und dem Seitenrande 
des Kreuzbeines und dem Querfortsatze des ersten Schwanz- 
wirbels ausgespannt. Beim Ursus malayanus findet sich 
ausser dem an der Spina ischiadica entspringenden und sich 
am ersten und zweiten Schwanzwirbel inserierenden M. spinoso- 
caudalıs eine dreieckige Verbindung zwischen dem Sitzbein- 
knorren und der Wirbelsäule, deren craniale Fasern, welche 
vom Ursprunge aus ın medialer und mehr oder weniger 
starker ceranialer Richtung zu ihrer: Insertion an dem Seiten- 
rande des Kreuzbeines und den Querfortsätzen von C, und C, 
gelangen, fibrös sind (Lig. tuberososacrocaudale), während die 
caudalen muskulösen Fasern vom Tuber in medialer und cau- 
daler Richtung am zweiten bis sechsten Caudalwirbel zur 
Insertion kommen (M. tuberosocaudalis). Cuvier und Lau- 
rıllard (3, Abb. 83 und 84) bilden beim Ursus americanus 
einen Muskel ab, dessen Fasern von ihrem Ursprunge vom 
Tuber ischiadicum aus in medialer und cranialer Richtung 
der Wirbelsäule zustreben. Offenbar stimmt dieser Muskel 
mit dem Lig. tuberososacrocaudale des Ursus malayanus überein. 


Anatomische Hefte. I. Abteilung. 164. Heft (54. Bd., H. 3). 43 


656 W. A. MYSBERG, 


Ordnung der Artiodactyla. Wie Fig. 5 zeigt, be- 
sitzt Cephalophus maxwelli einen kleinen, schwachen 


\M. spinosocaudalis, der vom vorderen Teile des dorsalen Randes 


Fig. 5. 


Cephalophus maxwelli, Seitenansicht der Beckenrevion. 
fo) 


tr. c, = Processus transversus Vert. eaud. 1. s. i. d. 1. = Dorsales Ver- 
stärkungsband der lliosaeralverbindung. t. s. e. — Lig. tuberosacrocaudale. 
sp. e. = M. spinosoeandalis. p. — N. pudendus: i. = N. isehiadiens. 


(des oberen Sitzbeinastes entspringt und sich an den Querforl- 
sälzen des zweiten, zum Teil auch des dritten Schwanzwirbels 
inseriert. An der Aussenseite des Muskels ist der Raum zwi- 
schen dem oberen Sitzbeinaste einerseits und dem Seiten- 
rande des Os sacrum und den Querfortsätzen des ersten und 


weiten Caudalwirbels andererseits erösstenteils durch ein 


I 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 65 


breites, dünnes Band abgeschlossen, das, weil der N. pudendus 
auf seiner Innenfläche liegt, als Lig. tuberososacrocaudale be- 
zeichnet werden muss. Das Band lässt dem N. ischiadieus ce. s. 
nur geringen Raum zum Austritt aus der Beckenhöhle, heftet 
sich weiter an dem eanzen dorsalen Rande des oberen 
Sitzbeinastes an mit Ausnahme der Stelle, wo der M. spinoso- 


caudalis vom Sitzbeine entspringt. Auch bei Sus scrofa 


Fig. 6. 


Sus serofa fera (neonatus). Ventralansicht der Sitzbeinwirbelsäule- 
verbindungen. 


s; = Corpus Vert. saer. 3. p.=N. pudendus. sp. e.—=M. spinosocaudalia. 
sp. s. ©. — Lig. spinososaerocaudale. t. s. e. = Lig. tuberososaeroeaudale. 


ist ein solches starkes, plattes Band vorhanden, wie aus Fig. 6, 
welche die Abbildung der Ventralansicht der Sitzbeinwirbel- 
säuleverbindungen eines neugeborenen wilden Schweines ist, 
ersichtlich ist. An der linken Seite ist das Band dargestellt, 
dessen caudaler Teil leider beschädiet war. Es zeigt sich, 
dass im Ligament zwei Fasersysteme unterschieden werden 
können: die Fasern des einen Systems entspringen von der 


Umgebung der Spina ischiadieca, die des zweiten vom Sitz- 


43* 


658 W. A. MYSBERG, 


heinknorren. Die Faserzüge der beiden Systeme sind im Bande 
kreuzweise geordnet. Der N. pudendus tritt durch die Lücke 
zwischen den Ursprüngen der Fasersysteme vom Sitzbeine 
wieder in die Beekenhöhle hinein; offenbar müssen also die 
Fasern des ersten Systems als Lig. spinososacrocaudale, die 
‚les zweiten als Lie. tuberososacrocaudale bezeichnet werden. 
Die caudale Grenze des Kreuzbeines war beim jungen Tier 
noch nieht deutlich.) Auf der Innenfläche des Bandes liegt 
ein Muskel, der von der Spina ischiadica, der Iigamentösen 
Beerenzung des Hiatus zum Durchtritt des N. pudendus und 
dem Sitzbeinknorren entspringt. Es ist klar, dass dieser sehr 
besondere Ursprung des Muskels die Ursache davon ist, dass 
man aus seiner Lagebeziehung zum N. pudendus nicht im- 
stande ist, seine Provenienz zu bestimmen. Aus seiner Faser- 
richtung, die mit der des Lig. spinososacrocaudale genau über- 
einstimmt, lässt sich jedoch schliessen, dass der vorliegende 
Muskel ein M. spinosocaudalis ist, dessen Ursprungslinie sich 
in caudaler Richtung stark verlängert hat. Zuckerkand! 
‘15, S. 665) berichtet, dass bei einem Huftiere der Familie 
der Cervidae das Band zwischen Sitzbein und Wirbelsäule 
nur durch ein Lig. spinososacrocaudale repräsentiert wurde. 

Ordnung der Simiae. Bei Cebus capucinus eI- 
streckt sich zwischen der Spina ischiadiea und den Querfort- 
sätzen (des dritten Sacral- und des ersten bis zum vierten Caudal- 
wirbels eine Verbindung, deren eraniale am Kreuzbeine sich an- 
heftende Fasern fibrös und deren caudale muskulös sind. Durch 
die Lage des N. pudendus an ihren Aussenflächen erweist 
das Band sich als Lig. spinososacrale, der Muskel als M. 
spinosocaudahs. Bei Cercopitheceus eynosurus findet 
sich nur ein M. spinosocaudalis, der sich inseriert an den drei 
vorderen Schwanzwirbeln. Bei Simia satyrus ist die spi- 
nososacrocaudale Verbindung gebildet wie bei Cebus, es setz! 


der muskulöse Teil sich aber nur an drei Schwanzwirbeln Test. 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 659 


Ausserdem erstreckt sich zwischen dem Sitzbeinknorren und 
der Schwanzwirbelsäule ein Lig. tuberosocaudale, von dessen 
dorsaler Fläche die eaudalen Fasern des M. glutaeus maxımus 
entspringen. Das Band lässt sich nicht scharf abgrenzen, weder 
am Ursprunge vom Tuber ischiadieum, noch an der Insertion 
an der Wirbelsäule, wo die Fasern sich in das Perimysium ex- 
ternum verlieren, das die ventrale Fläche desjenigen Teiles 
des M. glutaeus maximus, der vom letzten (dritten) Schwanz- 
wirbel entspringt, überdeckt. 

Übrige Daten, den Primaten betreffend, sollen später mit- 
geteilt werden. Hier sei nur noch kurz erwähnt, dass beim 
Menschen ein Lig. spinososacrum und ein Lig. tuberososacrum 
vorhanden sind, während an der ventralen Fläche ersteren 
Bandes namentlich im caudalen Teil Reste eines M. spinoso- 
caudalis in wechselnder Stärke erhalten sind. Es sei jedoch 
betont, dass diese Bänder eher die Namen Lig. spinososacro- 
caudale und Lig. tuberososacrocaudale beanspruchen könnten, 
da ihre caudalen Fasern sich am ersten bzw. ersten und zweiten 
Steissbeinwirbel ansetzen. 

In den folgenden Zeilen sollen die obigen Daten übersicht- 
lich dargestellt werden. In dieser Übersicht werden die Liege. 
spinoso- (bzw. tuberoso-) sacrale, -caudale und -sacrocaudale 
unter den Namen Lig. spinoso- \bzw. tuberoso-) sacrveaudale 
genannt werden. 

Die Verbindungen zwischen dem Sitzbeine und der Wirbel- 
säule werden gebildet durch: 

1.M. spinosocaudalis und M. tuberosocaudalis. 


Unter den Rodentia bei Dasyprocta agutı, Hystrix cristata. 


2. M. spinosocaudalis: 
Unter den Monotremata bei Echidna aculeata. 
Marsupialia bei Phalangista vulpina, Didelphvs 


marsupialis, Petrogale penicillata. 


560 W. A. MYSBERG, 


Unter den Insectivora bei Tupaia ferruginea. 
Chiroptera bei Vespertilio murinus. 
(aleopithecidae bei Galeopithecus volans. 
Rodentia bei Lepus euniculus, Mus decumanus. 
Carnivora bei Felis domestica, Herpestes spec. 
x „ >Simiae bei Cercopithecus cynosurus. 
3. M. spinosocaudalis und M. tuberosocaudalis 
—+ Lig. tuberososacrocaudale: 
Unter den Carnivora bei Ursus malayanus. 
4. M. spinosocaudalis und Lig. tuberososacro- 
caudale: 
Unter den Rodentia bei Dipus aegypticus. 
RE „ Carnivora bei Canıs familiarıs. 
& „ Artiodaectyla bei Cephalophus maxwell. 
5. M. spinosocaudalis — Lig. spinososacrocau- 
dale: 
Unter den Simiae bei Cebus capucinus. 
6.M. spinosocaudalis 4 Lig. spinososacrocau- 
dale und Lig. tuberososacrocaudale: 


Unter den Insectivora bei Erinaceus europaeus. 


5 ‚„ Artiodactyla bei Sus scrofa. 
e „ Simiae bei Simia satyrus. 


en „ Hominidae bei Homo recens. 
7. Lig. spinososacrocaudale: 
Unter den Insectivora bei Talpa. (Das Band ist gewöhn- 
lich gänzlich verknöchert.) 
s „ Artiodactyla bei einem Mitglied der Familie der 
Cervidae (Zuckerkandl, 15, S. 665.) 
8 M. tuberosocaudalis: 
Unter den Rodentia bei Cavia cobaya. 
9. Knöcherne Verbindung und M. tuberosocau- 
dalis: 


Unter den Xenarthra bei Tatusia novemeincta. 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 661 


10. Knöcherne Verbindung und M. tuberosocau- 
dalis — 'Lieistwberososacroeaudale:; 

Unter den Xenarthra bei Bradypus tridactylus. 

11. Knöcherne Verbindung: 

Unter den Chiroptera bei Pteropus edwardsil. 

12. Knorpelige Verbindung und M. tuberosocau- 
dalıs Lig. tuberososacrocaudale: 

Unter den Pholidota bei Manis spec. {Vielleicht findet bei 

älteren Tieren Verknöcherung statt.) 

Aus dieser Übersicht ergibt sich, dass die Formen, in 
denen die Verbindungen zwischen Sitzbein und Wirbelsäule er- 
scheinen, manniefaltig sind und dass auch innerhalb einer 
Ordnung die Beschaffenheit der Verbindungen bedeutende 
Unterschiede aufweist. Ks drängt sich uns nun die Frage auf 
nach der Homologie der Verbindungen ; die Herkunft der knö- 
chernen Verbindungen wurde schon erforscht; es erhebt sıch 
aber die Frage, ob das Lig. spinososacrocaudale dem M. spinoso- 
caudalis, das Lig. tuberososacrocaudale dem M. tuberosocau- 
dalıs homolog zu betrachten sei. 

Hinsichtlich der spinosocaudalen Verbindungen sind für 
die Beantwortung dieser Frage die sub 5-7 verzeichneten 
Säugetiere von Bedeutung; von den genannten sind die Ana- 
tomie der Verbindung und ihre Entwickelung beim Menschen 
am besten bekannt. Es empfiehlt sich daher, bei der Be- 
sprechung von dem Zustand beim Menschen auszugehen. Beim 
Neugeborenen ist die genannte Verbindung gewöhnlich gänz- 
lich muskulös, es werden aber während der postnatalen Ent- 
wickelung die muskulösen Elemente allmählich von Bandfasern 
verdrängt: Beim Erwachsenen findet sich an der Stelle des 
Muskels ein Band, an dessen innerer Fläche namentlich im 
caudalen Teil Reste des Muskels {mit dem Namen M. coceygeus 
bezeichnet) in verschiedener Stärke erhalten sind). Die Ent- 


PeVvok Hall (5.8. KILfE) 


662 W. A. MYSBERG, 


wickelung des Bandes auf Kosten des Muskels beweist beider 
innieen Zusammenhang. Die Ursache der fibrösen Umwandlung 
der Muskelfasern lässt sich leicht erraten. Beim rezenten Men- 
schen heften weitaus die meisten Fasern sich am unbeweg- 
lichen Kreuzbeine an, bei Stammformen des Menschen aber 
war das Kreuzbein aus einer geringeren Anzahl von Wirbeln 
zusammengesetzt als beim rezenten Menschen und der M. 
spinosocaudalis inserierte sich an beweglichen Schwanz- 
wirbeln. Während der Phylogenie jedoch wurden diese Wirbel 
in das sich nach hinten vergrössernde Kreuzbein aufgenommen. 
Der M. spinosocaudalis verlor damit seine Funktion. In diesem 
Verlust der Funktion liegt die Veranlassung zur fibrösen Um- 
wandlung der Muskelfasern, ein Vorgang, der während der 
ontogenetischen Entwickelung des rezenten Menschen erst ın 
einem späten Stadium stattfindet. Die andern sub 5 und 6 
genannten Tiere besitzen einen M. spinosocaudalis und ein 
Lig. spinososacrocaudale, deren Ursprünge wie auch deren In- 
sertionen sich kontinuierlich ineinander fortsetzen ; immer bildet 
das Band den eranialen Teil der Verbindung, seine Fasern in- 
serieren sich am Kreuzbeinseitenrand und bisweilen auch am 
Querfortsatze des wenig beweglichen ersten Schwanzwirbels. 
Auch hier ist also die Entstehung des Bandes durch fıhröse 
Umwandlung cranialer Fasern des M. spinosocaudalis infolge 
der Immobilisation ihrer Ansatzstellen sehr wahrscheinlich. 
Auch bei den sub 7 genannten Tieren dürfte eine analoge Her- 
kunft des Bandes angenommen werden, denn nichts wider- 
spricht dieser Auffassung, während es, sofern ich sehe, keine 
andere Entstehungsmöglichkeit gibt. 

Die Frage, ob das Lig. tuberososacrocaudale dem M. tu- 
berosocaudalis homolog sei, ist schwerer zu beantworten. In 
einigen Fällen ist es sehr wahrscheinlich, dass das Band durch 
fibröse Umwandlung von Fasern des M. tuberosocaudalis 


entstand infolge Immobilisation der Ansätze: bei Manis und 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule etc. 663 
bei Bradypus tridactylus schliessen sich an dem am Kreuz- 
bein und am wenig beweglichen ersten Schwanzwirbel, bzw. 
nur am ersten Schwanzwirbel, sich festsetzenden Lig. tuberoso- 
sacrocaudale bzw. tuberosocaudale die Fasern des M. tuberoso- 
caudalis unmittelbar an; auch beim Ursus malayanus ist dieses 
der Fall: bei letzterem Tiere wird die Wahrscheinlichkeit der 
genannten Annahme grösser durch den Umstand, dass beim 
Ursus americanus an der Stelle des Bandes Muskelfasern liegen. 
Dass jedoch bei allen Säugetieren die (renese des Bandes eine 
solche sein sollte, ist nicht wahrscheinlich: beim Igel z. B. 
setzt das Band sich nicht am Seitenrand des Kreuzbandes an, 
und es strahlen die Fasern in die Fascie, welche die dorsalen 
sacralen und caudalen Muskeln bedeckt, aus. Eine derartige 
Ausbreitung dürfte man nicht von einem Bande erwarten, das 
durch fibröse Umwandlung der Fasern eines sich an Querfort- 
sätzen inserierenden Muskels entstanden wäre; zu bedenken 
ist aber, dass die Ausbreitung eine sekundäre sein könnte. 
Wo ein Lig. tuberososacrocaudale vorhanden ist, Findet 
man es stets in enger Beziehung zum M. glutaeus maximus, 
und zwar so, dass die caudalen Fasern des Muskels vom 
Bande entspringen !). Beim Ursus malayanus, wo das Band 
sehr wahrscheinlich aus dem M. tuberosocaudalis hervorge- 
oangen ist, ist die genannte Beziehung oftenbar eine sekundäre: 
es fragt sich aber, ob dieses immer der Fall ıst. Das Gewicht 
dieses Punktes wird sich aus den Betrachtungen über die 
Homologie der tuberososacrocaudalen Verbindungen der Pri- 
maten, mit welchem Thema wir uns ın den folgenden Zeilen 
näher beschäftigen werden, zeigen. Beı den Primaten fehlt 


gewöhnlich ein M. tuberosocaudalis. Kohlbrugge 7) je- 


!) Bei Manis ist dies nicht der Fall. Der M. femorococeygeus (der 
caudale Teil des M. glutaeus maximus) entspringt von den Seitenrändern der 
stark entwickelten Querfortsätze von S;,, C, und Ö,, während das Band sich 
an den ventralen Flächen der Querfortsätze von S, und C, ansetzt. Bei 
Bradypus habe ich den Ursprung des Muskels nicht bestimmt. 


664 W. A. MYSBERG, 


doch bildet ab und beschreibt bei einem Cercopithecus cyno- 
molgus einen „M. tuberosocaudalis“, der vom Sitzbeinknorren 
entspringt und sich an den (Querfortsätzen des zweiten und 
dritten Schwanzwirbels inseriert. Holl \5, S. 173) erwähnt 
beiläufig, dass bei einem von ihm zergliederten Cercocebus 
sinicus sich an der Stelle des menschlichen Lig. tuberoso- 
sacrum ein Muskel gefunden habe. In der reichhaltigen Pri- 
matenliteratur sind mir keine anderen Mitteilungen über das 
Vorkommen eines solchen Muskels begegnet, auch fehlte der 
Muskel bei einem von mir zergliederten Cercopithecus ceyno- 
surus. Unzweifelhaft ist der M. tuberosocaudalis Kohl- 
brugges und Holls als eine Variation zu betrachten. Das 
variationsweise Auftreten eines normaliter fehlenden M. tube- 
rosocaudalis ist auch beim Kaninchen beobachtet worden: ge- 
wöhnlich fehlt diesem Tier jegliche tuberososacrocaudale Ver- 
bindung, jedoch berichtet Lubsen (12, S. 95): „Daneben“ 
ıd. h. neben dem M. spinosocaudalis) „fand Prof. Bolk bei 
Untersuchungen, deren Ergebnisse er mir freundlichst zur Ein- 
sicht überliess, einen M. tuberososacrum, der am Tuber ischi 
zur Anheftung kam.“ »— Über das Vorkommen eines Lig. 
tuberososacrocaudale und ın Zusammenhang damit über die 
Beschaffenheit des caudalen Randes des M. glutaeus maximus 
kann folgendes bemerkt werden: Unter den Platyrrhina fand 
vandenBroek (2) bei Cebus apella kein Lig. tuberososacro- 
caudale, der caudale Rand des M. glutaeus maximus war nich! 
verdickt oder verstärkt. Bei dem von mir zergliederten Cebus 
capucinus aber ist dieser Rand von der Wirbelsäule an eine 
kleine Strecke entlang fibrös. Ateles ater besitzt nach van 
den Broek ein kräftiges Lig. tuberosocaudale zwischen den 
Querfortsätzen einiger Caudalwirbel und dem Sitzbeinknorren 
ausgespannt; die caudalen Fasern des M. glutaeus maxımus 
entspringen vom Bande. Unter den Katarrhina beschreibt 


Keith /6, S. 159) bei den UCynomorpha das Band als den 


Über d. Verbinduneen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 665 


verdickten unteren Teil der Fascie des M. glutaeus maxımus. 
Beim von mir zergliederten Cercopithecus eynosurus fehlte das 
Band und zeigte der Rand des M. glutaeus maximus keinen 
besonderen Bau; über einen Macacus rhesus berichtet van 
den Broek (2, S. 97): ‚Zwar waren im unteren Rande 
des M. glutaeus maximus, welcher von den Schwanzwirbeln 
seinen Ursprung nimmt, die Fasern etwas fester gefügt, aber 
von einem richtigen Ligamente konnte eigentlich nicht ge- 
gesprochen werden.“ Bei Hylobates fand er ein kräftiges Lig. 
tuberosocaudale, das sich am ersten Schwanzwirbel ansetzte. 
Orang Utan und Schimpanse besitzen nach diesem Autor ein 
Lig. tuberosocaudale, dessen craniale Fasern das Kreuzbein 
erreichen. Beim von mir präparierten Simia satyrus konnte 
das Band nicht scharf abgegrenzt werden: es verlor sich ın 
das Perimysium externum des M. glutaeus maxımus in der 
Gegend des dritten Schwanzwirbels. Beim Menschen heftet 
sich das Band am Seitenrande des Kreuzbeines und an den 
oberen zwei Steissbeinwirbeln an. 

Die gesammelten Daten können folgenderweise zusammen- 
oefassit werden: 

1. Wenn bei den Primaten eine Bandverbindung zwischen 
dem Sitzbeinknorren und der Wirbelsäule ausgespannt ist, zeigt 
sie sich nach ihrem Wesen als ein Lie. tuberosocaudale; beı 
den Anthropomorpha erreichen nur die cranıalen Fasern das 
Kreuzbein; beim Menschen jedoch ist die Hauptmasse des 
Bandes am Os sacrum befestigt. 

2. Die Bandverbindung findet sich beim Menschen, bei 
den Anthropomorphen und den Hylobatiden, nur ausnahms- 
weise bei den niederen "Affen \Ateles); wohl aber ist bei 
ihnen der caudale Rand des M. glutaeus maxımus je nach dem 
Repräsentanten mehr oder weniger fibrös verstärkt. 

3. Ist ein Lig. tuberososacrocaudale anwesend, so ent- 
springen vom Bande die caudalen Fasern des M. glutaeus maximus. 


666 W. A. MYSBERG, 


Die Befestigung des Bandes ausschliesslich oder doch 


fast ausschliesslich an der Schwanzwirbelsäule an einem 
Puncto mobil also ‚die starke Ausbreitung des mensch- 


lichen Bandes den Kreuzbeinseitenrand entlang ist wohl sekun- 
där) macht eine Entstehung durch fibröse Umwandlung der 
Fasern des M. tuberosocaudalis sehr unwahrschemlich, denn 
ausser Verlust der Beweglichkeit liesse sich keine andere Ür- 
sache einer solchen Umwandlung denken. Gegen diese Ent- 
stehungsmöglichkeit spricht auch die Tatsache, dass niemals 
Reste eines M. tuberosocaudalis neben dem Bande vorhanden 
sind, was doch mit Rücksicht auf die Beweglichkeit der In- 
sertion erwartet werden (dürfte. Hingegen zeugen diese Er- 
wägungen für eine andere Auffassung, nämlich diese, dass 
das Band entstanden sei durch fibröse Verstärkung des 
caudalen Randes des caudalen, von Schwanzwirbeln ent- 
springenden Teiles des M. glutaeus maxımus vielfach als 
M. femorococeygeus unterschieden  , ein Prozess, der schon 
bei den niederen Affen anfängt und fortschreitet bis die fibrösen 
Fasern einen Ansatz am Sitzbeinknorren gewinnen. Aus 
welchem Substrat die Fasern hervorgehen, lässt sich nicht 
so leicht feststellen: dass fibrös umgewandelt gewordene Fasern 
des M. glutaeus maximus einen neuen Ansatz am Tuber ischia- 
dieum gewinnen dürften, erscheint mir sehr unglaublich; 
wahrscheinlicher ist, dass die Bandfasern sich aus dem Binde- 
voewebe der Umgebung differenzieren. Keith spricht sich be- 
züglich dieser Frage folgenderweise aus: „Es kommt mir vor, 
dass das Substrat, aus welchem das Band hervorgegangen ist 
(the real basis of the ligament), das grosse laterale intermusku- 
läre Septum ist. Die Tatsache, dass das Band von den 
Spitzen der Querfortsätze entspringt und dass es durch die Lige. 
sacroiliaca in dieses Septum der Lumbalregion sıch fortsetzt, 
heweist einen solchen Zusammenhang“ !). Meines Erachtens 


Fur S 
I) Die Übersetzung ist von mir. 


Über d. Verbindungen zwischen d. Sitzbeine u. d. Wirbelsäule ete. 667 


liegt die Sache viel einfacher und ist es das Perimysium 
externum des M. glutaeus maximus, welches selbstverständ- 
lich mit dem Tuber ischiadieum mittels lockeren Bindegewebes 
verbunden ist, aus welchem das Band hervorgegangen ist. Die 
oben erwähnten, von mir beim Orange Utan angetroffenen Ver- 
hältnisse des Bandes stützten diese Annahme. 

Die Anatomie des Ligaments beim Igel dürfte zu der 
Annahme einer der bei den Primaten dargetanen analogen Ent- 
stehungsweise berechtigen. Bei den übrigen Säugetieren ist die 
Entstehungsweise einstweilen nicht festzustellen. 

Aus unseren Untersuchungen ergeben sich folgende Re- 
sultate: 

l. Das Lig. spinososacrocaudale ist dem M. spinoso- 
caudalis homolog und entstand durch fihröse Umwandlung 
von Muskelfasern infolee Immobilisation ihrer Insertion. 

2. Das Lie. tuberososacrocaudale ist bei einigen Tieren 
(Bradypus, Manis) dem M. tuberosocaudalis homolog und ent- 


stand in einer Weise der Bildungsart des Lig. spinososacrocau- 


dale analog; bei anderen (Primaten, Erinaceus| ? |) entstand es 
durch fibröse Verstärkung des caudalen Randes des M. glu- 
faeus maxımus \M. femorococeygeus); bei einer dritten Gruppe 
lässt sich die Entstehungsweise nicht feststellen, dürfte je- 
doch eine der beiden eenannten sein. 

3. Die knöcherne Verbindung zwischen Sıtzbein und 
Wirbelsäule entsteht durch Bandverknöcherung (Talpa), oder 
sie kommt dadurch zustande, dass Sıtzbein und Wirbelsäule, 
welche einander dicht genähert sınd, sich erst knorpelig, dann 
knöchern mit einander verbinden (Xenarthra, Chiroptera |? |). 

Über den Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit 
der Sitzbeinwirbelsäuleverbindungen und den statischen Ein- 
flüssen, denen das Becken ausgesetzt ıst, hoffe ich bald ın 
einer Abhandlung zu berichten, welche ausser obenerwähnten 


auch die übrieen Beckenverbindungen berücksichtigen soll. 


18. 
. Weber, M., Die Säugetiere. Jena 1904. 


16. 


Literaturverzeichnis. 


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Van den Broek, A. J. P., Studien zur Morphologie des Primaten- 
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1894. 

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Leche, W., Zur Anatomie der Beckenregion bei Inseetivora. Kon. 
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Derselbe, Über die Säugetiergattung Galeopitheeus. Kon. Svenska 
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Abt. III 1900. 

Derselbe, Idem (zweiter Beitrag). Ibidem. Bd. 110. 1901. 
Derselbe. Idem (dritter Beitrag). Ihidem. Bd. 117. 1908. 


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